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WILHELM GRÖNBECH

K U LT U R U N D R E LI G I O N DER G E R M A N E N
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt

Umschlagabbildung: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

Herausgegeben von Otto Höfler. Ins Deutsche übertragen von Ellen Hoffmeyer unter Zu­
grundelegung der dänischen Originalausgabe >Vor Folkært i 01dtiden<, Kopenhagen 1909/12,
und der erweiterten englischen Bearbeitung >The Culture of the Teutons<, 1931. Mit dem Vor­
wort zur 5., unveränderten Auflage 1954 von Otto Höfler.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahm e

G rønbech, V ilhelm P.:


Kultur und Religion der Germ anen / Wilhelm
Grönbech. [Hrsg, von Otto Höfler. Ins Dt. übertr.
von Ellen Hoffmeyer. Mit dem Vorw. zur 5.,
unveränd. Aufl. 1954 von Otto Höfler]. -
12., unveränd. Aufl. - Darm stadt: Prim us Verl., 1997
Einheitssacht.: Vor folkært i oldtiden (d t. )
ISBN 3-89678-033-6

Lizenzausgabe 1997 für den Primus Verlag, Darmstadt

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

12., unveränderte Auflage 1997


© 1961 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier
Printed in Germany

ISBN 3-89678-033-6
Vorwort

Wilhelm Grönbechs Darstellung der frühgermanischen Kultur


und ihrer religiösen Grundlagen gehört zu den Werken der
Wissenschaft, denen eine stetig wadisende Wirkung beschieden war.
Die vier Bände der dänischen Urfassung, „Vor Folkeæt i O ld­
tiden“ , waren schon 1909-1912 erschienen, eine erweiterte eng­
lische Auflage kam 1931 heraus, die erste deutsche Ausgabe 1937.
Ihr folgten rasch drei weitere.
Als Grönbech am 21. April 1948 als Fünfundsiebzigjähriger
starb, war er nicht nur in seiner dänischen Heimat, die ihm eine
der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen gewährte, als
Historiker von fast unerhörter Spannweite anerkannt. Sein Ge­
samtwerk, dessen Verdeutschung nun Hans Heinrich Schaeder in
Angriff genommen hat, reicht von einer Darstellung der alt­
indischen Kultur seit den Upanishaden über die griechische Reli­
gions- und Geistesgeschichte, über Arbeiten zum Frühchristentum
und zur mittelalterlichen Mystik bis in die Gegenwart, zur Dich­
tung und Glaubensgeschichte des letzten Jahrhunderts.
Erst im Zusammenhang dieses Lebenswerkes läßt Grönbechs
Germanenbild seinen vollen Sinngehalt erkennen. Denn er hat
verwandte Fragen, wie er sie an unsere Frühgeschichte stellt, auch
an jene Epochen des Abend- und Morgenlands gerichtet.
Er hat als Religionshistoriker gefragt, wie religiöse Erfahrun­
gen und numinose Mächte in die Wirklichkeit der Geschichte hin­
eingewirkt haben. Und er glaubte zu erkennen, daß sie es waren,
denen die ursprünglichen Ordnungsformen der Kultur entstam­
men. Dies hat er, in jahrzehntelanger Stoffdurchdringung, am
germanischen, am indischen und am griechischen Altertum sichtbar
gemacht.
Es ist fest ausgeformten alten Kulturen eigen, daß ein System
von anerkannten Wertungen über dem einzelnen steht und daß
auch starke und selbständige Charaktere sich in einem unverbrüch­
lichen Gefüge von Normen und Gesetzen bewegen, die keineswegs
als Willkürsatzungen gelten.

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Woher diese Normensysteme stammen, ist eine Grundfrage der
Geisteswissenschaft. Sind sie als „Konventionen“ zu verstehen, als
freie Abmachungen, deshalb geschlossen, weil man sich Vorteil von
ihnen versprach? Oder erwuchsen sie aus dumpfen Instinkten, den
blinden, wenn auch noch so zweckmäßigen Trieben der Tierwelt
analog? Die ältere Spekulation hat beide Thesen oftmals ver­
fochten.
Grönbech sucht die Antwort als Historiker. Er hat zu ergründen
gestrebt, was jene Menschen selber als die Normen ihrer Lebens­
führung anerkannt haben, welche Werte und Mächte ihre Sprache
als die wesentlichen bezeichnete: wie also ihr Bewußtsein sich zu
jenen Gesetzlichkeiten verhielt.
Doch er hat nie verkannt, daß das reflektierende Bewußtsein
nur einen Teil der Seele bildet und daß nicht alles, was den
Völkern Wert, Gesetz und Norm ist, von jedermann bewußt be­
gründet und in Worten ausgesprochen werden kann. Aber es
manifestiert sich in Wertung und Sitte, im praktischen Verhalten
und in der Auswahl des Sehens und Aufnehmens, in Pathos und
Abwehr, in Brauch, Tradition und heiliger Handlung.
Grönbech hat beide Sphären, die sprachgewordene bewußte und
die dunklere der wortarmen Lebensnormen, zusammengefaßt. Die
erste Hälfte des vorliegenden Werkes hat die großen Leitideen der
frühgermanischen Kultur —wie Friede, Ehre, „H am in gja“ , Heil —
zum Mittelpunkt, die zweite eine Reihe von Lebensformen, in
denen sich jahrhundertelang wichtige Begehungen wie Namen-
und Erbverleihung, Gabentausch, K au f oder Tischgemeinschaft,
O pfer und Fest vollzogen haben.
Alle diese Gebilde, von jenen Menschen nicht als ihre eigene
Erfindung angesehen, sondern als Soll-Gebot hingenommen, prüft
er auf ihren geistigen Gehalt. Und mit einer unvergleichlichen
Kunst des Einfühlens gelangt er, auch bei Formungen, die bisher
nur Seltsamkeiten schienen, bis auf den Grund, wo der Mensch
vom Heiligen getroffen wird.
Er geht immer wieder vom Konkreten aus — vor allem von
solchen Formen, die dem modernen Menschen unbegreiflich schei­
nen. Denn gerade in ihnen, wenn sie sich als typisch erweisen,
stellt sich das Eigentümliche des entschwundenen Geistes am greif­
barsten dar. Er sucht das Fremdartige, Paradoxe an der Vergan­
genheit auf, um jenes verfälschende Nachfühlen zu verhindern,
das aus der Geschichte nur das auf nimmt, was unseren eigenen

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Denkgewohnheiten gemäß ist oder gemäß zu sein scheint, den
Rest aber beiseite schiebt. Diese Versuchung, das Leben der Ver­
gangenheit in moderne Begriffe zu pressen, bannt Grönbech, indem
er immer zuerst die schroffe Unzugänglichkeit der alten Formen
beleuchtet, ehe er es unternimmt, nach ihrem Sinn und gestalten­
den Geist zu forschen. Dann führt er uns Schritt um Schritt ins
Verstehen ein. Und es gelingt ihm immer wieder, Verhaltensweisen,
Institutionen, Sprachprägungen, die bisher verschlossen waren, so
von innen her zu erhellen, daß wir sie als konsequent und sinn­
voll verstehen. Darum hat er auch nie versucht, die Altertums­
kulturen zu verharmlosen oder zu beschönigen, sondern zeigt auch
das Urtümliche, das uns überrascht und erschreckt. Vielleicht hat
er gerade durch diese Strenge vermocht, uns das Lebendige der
Vergangenheit nahezubringen.
In die Mitte seines Germanenwerkes hat er die Zeugnisse der
Isländersaga gestellt, die uns durch ihre Wirklichkeitsnähe mit dem
nordischen Alltag so unmittelbar vertraut machen wie ihre gei­
stige Haltung uns scharfen Abstand gebietet. Um diesen Kern­
bezirk breitet er eine unermeßliche Fülle von anderen Belegen aus
allen germanischen Ländern auf - Rechtsvorschriften und Brauch-
tümer, Geschichtsereignisse und Wesensbilder der Dichtung, K ult­
formen und Mythensymbole, heimische Sprachzeugnisse und
Spiegelungen altgermanischer Lebensgestalt in den Literaturen der
Nachbarvölker, zumal der Antike.
Er webt diese von Byzanz bis Grönland verstreuten Reste eines
entschwundenen Lebens zu einer neuen Einheit zusammen, wie nur
ein Künstler es vermag. Doch will seine Synthese nicht unbefugt
verallgemeinern. Ein solches Mißverstehen seiner Darstellungs­
weise würde ihm unrecht tun. Indem er irgendeinen historischen
Einzelfall auf sein Typisches hin untersucht, werden plötzlich
auch andere, räumlich und zeitlich oft weit entfernte Dokumente
verwandten Charakters verständlich. Dies wird man vor allem
im II. Teil bei der lichtvollen Deutung symbolisch-sakraler Ge­
meinschaftsformen bestätigt finden.
Grönbech hat in diesem Werk allerdings darauf verzichtet, die
zeitlichen Schichten des germanischen Altertums voneinander ab­
zulösen oder die stammliche Eigenart der einzelnen germanischen
Völker zu charakterisieren, die schon damals in manchem bedeu­
tend hervortritt. Es kommt ihm hier vielmehr darauf an, die
großen gemeinsamen Grundkräfte und ihre Ausformungen sicht­

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bar zu machen. Er leugnet damit keineswegs (dies muß vielleicht
gesagt werden) die geschichtlichen Besonderheiten der einzelnen
Jahrhunderte, Völker, Länder, die er in den Kreis seiner Arbeit
zieht. So hat er durchaus nicht alle Charakterzüge der isländischen
Sagawelt als gemeingermanisch ausgegeben. Die Kultur Islands
unterscheidet sich nicht nur durch ihr unvergleichliches Schrifttum
von den Schwestervölkern. Diese Insel, die nie einen gemeinsamen
Krieg zu führen brauchte, hat u. a. keinen gemeinsamen Heeres­
verband besessen, und so waren hier die Sippen die obersten
Kampfeinheiten, was sich in den Sagas allenthalben bekundet.
Der Farbenreichtum von Grönbechs Vergangenheitsbild, die
Anschaulichkeit, die er liebt, sollten nicht zu der Meinung ver­
führen, daß er ein vollständiges System der altgermanischen
Kultur entwerfen wollte. Weder strebte er danach, sämtliche Ge­
schichtstatsachen einzufügen — so reich und wesentlich seine
Quellenzeugnisse auch sind - noch hat er alle Eigenheiten oder
auch nur alle charakteristischen dieser ein Jahrtausend erfüllenden
Kulturform in eine geschlossene Einheit zusammenbinden wollen.
So hat er die Besonderheiten der altgermanischen Staatlichkeit, die
in jenem Zeitraum Reichsbildungen vom Schwarzen Meer bis Eng­
land, von Spanien und Frankreich bis Rußland hervorgebracht
hat, nicht so eindringend beleuchtet wie das Wesen der Sippe, ob­
wohl jene Staatsgebilde gewiß mehr waren als bloße Summen von
Familien. Auch der geistige Raum der tragischen Kunst, die die
hohe Literatur von der Völkerwanderung bis zur Edda und zum
Nibelungenlied prägt, ist hier nicht so nach allen Seiten hin durch­
messen wie die Ordnungen des bäuerlichen Daseins, seine Ideale,
Symbole und Kulte.
Es ist ein Sinnbild für die unbeirrbare wissenschaftliche Redlich­
keit des Forschers, daß er in seinem Buch nur das zur Darstellung
gebracht hat, was sich ihm lebendig erschlossen hatte. Nie versucht
er, Synthesen zu erzwingen, wo die Vielheit der Zeugnisse sich
nicht zur höheren Einheit zusammenfügen will. Vor den Selbst­
täuschungen voreiligen Verknüpfens ist er streng auf der H ut.
Gerade darum aber verdient er unser Vertrauen, wenn er Zu­
sammenhänge zu sehen glaubt, oftmals dort, wo noch niemand sie
gesehen hatte. Immer wieder hat er zwischen scheinbar getrennten
Gebieten Brücken geschlagen, zwischen Sitte und Recht, Mythos
und Brauch, zwischen Dichtung und Alltag, Lebenspraxis und
Geist. Man wird kaum finden, daß ihn seine wache und so oft

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humorvolle Selbstkontrolle verläßt, auch wo er kühn ins Un­
beweisbare ausgreift.
Denn allerdings liegt sehr vieles von dem, was er historisch
begreifen und seelisch fassen will, oberhalb der Ebene des exakt
oder mathematisch Demonstrablen. N ur bedenke man, daß dies
jeder Charaktererfassung eigen ist, bis in die unentbehrliche
Menschenkenntnis unseres Alltags hinein. Wer auf sie nicht grund­
sätzlich verzichten möchte, muß nach der Schaukraft dessen fragen,
der in diesen Sphären erkennen will, und nach der Klarheit, mit
der er zwischen Durchschautem und Nichtdurchschautem scheiden
kann und will. Ob Grönbech ein guter historischer Charakterologe
war, mag die Zukunft entscheiden. An seinem Wahrheitswillen
wird niemand zweifeln. Irgendein geschwätziges oder eitles Wort
wird man im Werk dieses schwerblütigen Bornholmer Handwerker­
sohnes nicht finden. Manchmal reißt ihn der Strom seiner D ar­
stellung fort, so daß er apodiktisch zu reden scheint, wo er in
Wahrheit erwägt. Gewiß war es nicht sein Wunsch, daß man seine
Sätze als Thesen lese. Sehr viele sind weit eher Fragen.

Grönbech hat sich zu seiner Zeichnung der germanisdien Früh­


zeit auch noch bekannt, als ihn sein Forscherweg weit über die
Heimat hinausgeführt hatte.
D a der Umfang seines Lebenswerkes, das nun abgeschlossen
vorliegt, außerhalb Skandinaviens erst wenigen bekannt ist, so
mag in knappsten Strichen angedeutet werden, wie sein Germanen­
bild sich seinem geschichtlichen Gesamtwerk eingliedert *.
Begonnen hat Grönbech als Orientalist. Seine Erstlingsschrift
(1902) galt dem Türkischen. Es war der geniale dänische H isto­
riker-Philologe Vilhelm Thomsen, der ihn für die Wissenschaft
gewonnen hat. Als er Thomsen 1927 einen Nachruf schrieb, dankte
er ihm dafür, daß er ihn lehrte, Sprache als Ausdruck des Seelen­
lebens zu sehen und Sprachgeschichte als Menschengeschichte.
Diese Impulse waren es auch, die ihn vom Orient zum Studium
der eigenen Volksvergangenheit trieben. Hier hoffte er am ehesten
den Eingang in die Geheimnisse versunkener Geistigkeit zu finden.
Er stellte seine Anforderungen an ein wirkliches historisches Be­
greifen so hoch, daß er sich für ein Jahrzehnt ganz in die Rätsel
* Eine vollständige Bibliographie bis 1948, „Vilhelm Grönbech“ , gab
Poul Holst heraus (Poul Branners Forlag, Kopenhagen 1948). Dazu das
Lebensbild von Torkil Kemp (ebenda 1943).

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der nordischen Frühzeit vergrub. Die Frucht dieser Jahre war das
vorliegende Werk. Man wird nicht verkennen, daß eine Künstler­
natur es gestaltet hat. Grönbech hat damals als Organist gewirkt,
und seine Freunde berichten, daß er ein Meister der Orgel war.
(Wenige Jahre vor seinem Tod, 1943, schrieb er ein Buch über die
„Musik der Sprache“ , eine ebenso persönliche wie tiefe Philosophie
der Sprache als Kunst.)
Er schloß den letzten Band dieser Germanenarbeit als beinahe
Vierzigjähriger ab. D a er sich hier im wesentlichen auf die Zeit
vor der Bekehrung Skandinaviens zum Christentum beschränkt
hatte, fügte er im folgenden Jah r (1913) eine historische Studie
über den Religionswechsel im Norden (Religionsskiftet i Norden)
hinzu, die vor allem zeigt, wie die alten Formen vom neuen Geist
erfüllt und umgestaltet wurden. In Chantepie de la Saussayes Lehr­
buch der Religionsgeschichte gab er später eine knappe Zusammen­
fassung („D ie Germanen“ , 1925). Eine Wiedergabe nordischer
Sagen und Mythen (deutsch 1929) ließ diese Überlieferungen un­
mittelbar zu Wort kommen.
Nach seinen germanistischen Studien wandte er sich sogleich
neuen Zielen zu. H atte er im germanischen Altertum eine Ge­
meinschaftskultur zu erfassen gestrebt, deren objektivierte, über­
individuelle Gestaltungen er als Emanationen religiöser Erlebnisse
und Erschütterungen verstand, so richtete er nun seine Forschung
auf Zeiträume, in denen das Lebenssystem nicht mehr von numi-
nosen Gewalten geformt war, und fragte nun nach den religiösen
Erfahrungen des Einzelnen.
In den Jahren 1925-1934 erschienen die vier inhaltsschweren
Bände „M ystiker in Europa und Indien“ . Sie spannen über vier
Jahrtausende, von den altindischen Weisheitsbüchern über Heraklit,
Meister Eckehart, Ruysbroek zu Theresa de Jesus, zu John Donne,
Wordsworth und Herder.
Er wollte nicht eine Geschichte der Mystik geben, sondern
„eine Reihe charakteristischer Illustrationen von Mystik in allen
ihren Formen, um von da aus zu einem Verständnis des Wesens
der Mystik und ihrer Bedeutung für das Geistesleben als G anz­
heit zu kommen“ . Auch hier beginnt er mit einem Zeitalter, in
dem den mystischen Kräften der Seelen eine äußere Sakralordnung
entsprach, und führt dann die Reihe durch die wechselnden K ul­
tursysteme von Epochen, in denen diese Außenordnung angefoch-
ten war. Grönbech zeigt (und darin ist dieses tiefgründig seelen-

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kundliche Werk auch ein gesdiichtliches), wie die mystischen Geister
auf ihr historisches Schicksal antworten: die einen mit Weltflucht,
da sie in der Welt nichts Gottentströmtes wahrzunehmen ver­
mögen; die anderen, indem sie zwischen Schein und Sein zu schei­
den suchen und hinter der wesenlosen Scheinwelt eine wirklichere
glauben; die dritten aber wollen das Vergängliche als Abglanz, als
Gleichnis des Unvergänglich-Wahren begreifen.
Grönbech schließt diese Reihe mit Herder ab. Das ist kein Zu­
fall. Denn Herder war ihm im tiefsten verwandt.
Herder hatte, in einer Zeit rationalistischer Vergangenheits­
verachtung, den Glauben gewonnen, daß auch in der Geschichte,
so wie in der N atur, lebendige Gestalt-Kräfte am Werk sind, von
denen alles Echtgeformte gebildet wird. Wenn ihre Gebilde auch
stets von Zerstörung und Chaotik bedroht sind, so zeugt doch die
geheimnisvoll lebendige Schöpfungskraft immer neu. Und in ihr
hat Herder das Mysterium göttlicher Schaffensgewalt erschaut.
Darum sind ihm die Gebilde des Geistes in Sprache, Dichtung,
Gesittung, Kultur verehrungswürdig. Man darf Herder einen Ge­
schichts-Mystiker nennen.
Er scheidet schroff zwischen dem Lebendiggeformten und
menschlichem Willkürwerk, auch im Raum der Geschichte. Und
nur wo das Wunder echter Gestaltung wirkt, kann er bewundern
und verehren — sei es im schlichtesten Gebilde, sei es in höchsten
Schöpfungen genialer Geister.
Grönbech hat die geschichtliche Welt mit verwandten Augen ge­
sehen. Auch er hat das Gestaltend-Lebendige im Kosmos der Ge­
schichte gesucht, und hat es überall am Werk gefunden, wo sich
bindende Ordnungen entfaltet haben.
Die Gesamtheit dieser Ordnungen nennt Grönbech „K ultur“ -
und er prüft die Lebenssysteme der Zeitalter, wieviel Kultur
solcher Art in ihnen enthalten war. Wo immer er Kulturelles
findet, dort deutet er es - und darin war er sehr einsam - vom
Religiösen her.
Er ist in dieser Anschauung der Geschichte ein Antipode seines
großen Landsmanns Kierkegaard, der eine unüberbrückbare Kluft
zwischen Gott und aller geschichtlichen Wirklichkeit sah und die
Kultur als Widersacherin des Religiösen nahm, als Versuchung oder
A bfall vom Göttlichen, allein zu begreifen aus dem Spiel gott­
ferner Mächte.
Grönbech war frei von jedem Geschichtspantheismus, der alles

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Historische für göttlich hält. Doch glaubte er wahrzunehmen, daß
ebenso, wie alle Völker ein Religiöses kennen, sich auch überall
heilige Handlungen fanden, in denen die Menschensehnsucht nach
dem Göttlichen sich Gestalt schafft. Die Phänomene des Kultes,
für den modernen Forscher wohl der schwerstzugängliche, wenn
auch der sichtbarste Bezirk alter Religion, haben Grönbech un­
ablässig beschäftigt. In ihnen fanden die stärksten Aufschwünge,
deren die Gemeinschaften fähig waren, objektive, bindende Form.
Darum strömte in ihnen am meisten von dem Unsichtbaren ein,
nach dem die Geister sich sehnten. So sind die Kultordnungen
Manifestationen des intensivsten Lebens, und im Dasein der Völ­
ker strömende Quelle der Lebendigkeit. Solche Vollziehungsformen
entdeckte Grönbech allenthalben im Kulturgefüge der Völker und
in ihnen sieht er (darin weit über Herder hinausgehend) die
Lebenszentren der Geschichte.
Seit diesem Abschnitt in seiner Forschung, in dem er die Brücke
zwischen Mystik und Kultur, zwischen den Formen persönlicher
Inspiration und der Geschichtswirklichkeit geschlagen hat, schuf
Grönbech eine monumentale Reihe von Biographien.
Es entstanden seine großen Bücher über den englischen Mystiker,
Maler und Dichter William Blake (1933), über Friedrich Schlegel
(Î935), Goethe (zwei Bände, 1935/39, deutsch von Schaeder 1949),
über Dostojewski und sein Rußland (1947/48).
Diesen Lebensdarstellungen ist gemeinsam, daß Grönbech, bei
feinstem Spürsinn für das Einmalige der Charaktere und ihrer
Umwelt, die eigentlich prägenden Entscheidungen ihres Werdens
in den Seelenschichten sucht, in denen der Geist den höchsten
Werten und Mächten begegnet und sie annimmt oder abweist.
Dieses Schauen ins Menschlich-Letzte trägt auch die Trilogie
seiner Werke, die über das Historische hinausgreifen und auch in
seiner Heimat die unmittelbarste Wirkung ausgeübt haben: „Jesus
der Menschensohn“ (1936, deutsch von Schaeder 1941), „Paulus“
(1940), „Christus, der auferstandene Erlöser. Die älteste christliche
Gemeinde“ (1941). Es kennzeichnet Grönbechs wohl demütig zu
nennende Selbsteinschränkung, daß er auch hier seinen Blick zu­
erst auf das Menschliche gerichtet hat, nicht um zu verleugnen, was
darüber ist.
Neben den historischen Arbeiten hat Grönbech seit den Jahren
seiner Reife eine bedeutende Reihe von Schriften zum Zeitgeschehen
herausgegeben. Sie zeigen den leidenschaftlichen Mann in ganz per­

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sönlicher Unmittelbarkeit. In wechselnden Formen, polemisch und
mahnend, oft mit hintergründigem Humor, manchmal in durch­
brechendem Pathos, hat er unerschrocken zu den Schicksalsfragen
des modernen Geistes Stellung genommen. So in der sehr ernsten
Selbstbesinnung über die Stellung der Wissenschaft im Volksleben
(1922), in seinem Buch über religiöse Strömungen im 19. Jah r­
hundert (1912) und den beiden Bänden „Der Kam pf um den
Menschen“ (1930/1943) und „Der Kam pf um eine neue Seele“
(1940/47), um hier nur Wichtigstes zu nennen. Sie alle sind ge­
boren aus dem Gefühl, in einer Krise zu leben, die bis an die
Wurzeln unserer Existenz greift. An einem Gegenwartsgeschick
zeichnet er diese Bedrohung in einem Roman „Sejersen inVariager“
(1940). Drei Gedichtbände, als Privatdrucke erschienen, stammen
aus denselben Jahren.
Das letzte Jahrzehnt seines Lebens hat Grönbech dem Studium
der Griechen gewidmet. Er begann, sehr bezeichnend, mit der grie­
chischen Spätzeit, denn sie stehe uns mit ihrem Auseinandergehen
von Begriff und Leben, von Wert und Wirklichkeit, nicht nur zeit­
lich am nächsten. In einem zweibändigen Werk setzte er sich mit
dem Hellenismus auseinander (1940). Dann erst wandte er sich
der Früh- und Blütezeit Griechenlands zu. Die vier Bände „H ellas
Kultur und Religion“ (1942/44) bilden den gewaltigen Schlußstein
seiner Lebensarbeit, zugleich das imposante Gegenstück zu seinem
Germ anenw erk*. Im Kontrast zu diesem bietet er hier eine Ge­
schichte der Entwicklung - von der Adelszeit über die Epoche der
Revolutionen bis zum Zeitalter der Bürgerkultur, der Denker und
der großen tragischen Dichtung. Er sieht auch hier das gesamte
geistige Geschehen mit seiner Fülle einander drängender Gebilde
und Ideen unter der Herrschaftsgewalt des Numinosen - in Hin­
gabe und Widerstreit, in Ahnung und Ekstase, Aufruhr und Sehn­
sucht. Alle die griechischen Geistgestalten, so oft ästhetisch und
begrifflich gedeutet, erblickt er in hundertfältig wechselnder, aber
immer lebenbestimmender Beziehung zur Religion. Er hat sie das
Mächtigste in der Welt genannt.
Nach seinem Tod, 1950, erschien als Abgesang der Band „Das
Licht von der Akropolis“ (Lyset fra Akropolis). Noch einmal läßt
er in einer Gesamtüberschau die hellenische Entwicklung vorüber­
ziehen, bis zur Zeit des Platon, der die Deutung der Welt im

* Ein 5. Band wird noch posthum erscheinen.

13
Außerweltlichen sucht und so zu einem neuen Zeitalter des Geistes
hinüberführt.
In dieses Riesenwerk geistesgeschichtlicher Arbeit gliedert sich
unser Buch ein, und es bildet seine erste Stufe. Es war die Schöp­
fung eines gereiften Mannes, der die Schule des streng exakten
Forschens durchlaufen hatte, aber hier nicht Forschung im geläufi­
gen Sinn des Wortes geben wollte. Weder seine Antworten noch
die neuen Fragen, die aus diesem Werk überall aufstiegen, sollten
in gangbare Münze verwandelt werden. Denn Grönbech wollte
kein Lehrsystem schaffen, sondern er hat gestrebt, zum Lebendigen
der Vergangenheit vorzudringen. Er war überzeugt, daß dies allein
durch eine Wiederverlebendigung im nachschaffenden Geist des
Betrachtenden geschehen kann. Aber er hat sich nie darüber weg­
getäuscht, daß eine nach-denkende Einfühlung, so lebensvoll sie
sein mag, doch niemals eine geschichtliche Neugeburt des Vergange­
nen bedeutet. Er, der wie wenige darum gewußt hat, daß der Kult
die Lebensmitte des geschichtlichen Daseins war, hat nie gewähnt,
daß aus solchem Wissen ein neuer Kult geschaffen werden könne.
Vor dem leistesten Versuch eines historischen Nachahmern wahrte
ihn seine Einsicht in die Objektivität aller echten religiösen Be­
gehung, die jeder angemaßten Willkür spottet. Er kannte die
Scheidewände, die jedes religionshistorische Wissen, auch das leben­
digste, von religiösem Glauben trennen.
In einer Zeit, der die Gefahren des Historismus drohend au f­
gegangen waren, hat dieser große Historiker daran geglaubt und
es ausgesprochen, daß uns das Eindringen in das Lebendige der
Geschichte reicher machen könne. Die unendliche Vielgestaltigkeit
des geschichtlichen Kosmos hat ihn nicht zum historischen R elati­
visten und Skeptiker gemacht. Denn er hat an die Einheit des ge­
staltenden lebendigen Geistes geglaubt.
Otto Höfler.

14
INHALT DES I. B A N D E S

Vorwort ............................................................................................. 5
Einleitung . . . . . . . . ............................................................................ 17
Friede ..................................................................................
E h r e ..................................... ............................................................. 74
Ehre als die Seele der Sippe .................................................... 114
Heil ........................................................................................................ 135
Heil als das Leben der S i p p e .......................................................... 163
Die Welt ............................................................................................... 183
Leben und S e e le .................................................................................. 213
Die Kunst des L e b e n s....................................................................... 236
Die menschliche S e e le ....................................................................... 256
Die Seele des Menschen ist die Seele der S i p p e ........................ 279
Geburt ................................................................................................... 293
Tod und Unsterblichkeit ................................................................ 319
Der Neiding ....................................................................................... 331
Das Reich der heillosen T o te n ....................................................... 343
Der Aufbau der S i p p e ..................................................................... 355
Genealogie .......................................................................................... 371

Nachwort ............................................................................................. 391


Schrifttum ............................................................................................. 393
Anhang ................................................................................................. 399
Anmerkungen ...................................................................................... 423
Seitenvergleich mit derdeutschen Originalausgabe ...................... 439

15
Einleitung

Unter dem Namen Germanen fassen wir den Volksstamm zu­


sammen, von dem die Skandinavier, Deutschen und Engländer
Abzweigungen sind. Der Nam e selbst ist vielleicht von außen ge­
kommen, uns von Fremden gegeben worden. Wir wissen nicht
sicher, was er bedeutet. Zuerst bezeichnete er wohl nur einen klei­
nen Bruchteil dieser Völker, den Saum, der den Kelten benachbart
w ar; aber im Lauf der Zeit ist er als Sammelname anerkannt wor­
den. Die Römer, die zwischen den Bewohnern Galliens und ihren
östlichen Nachbarn zu unterscheiden wußten, nannten diese letzte­
ren Germanen; mit Recht wurde dadurch die enge Verwandtschaft
hervorgehoben, die von den frühesten Zeiten an die Bewohner der
nördlichen und südlichen Ostseeländer mit den Flußufer- und
Waldvölkern in Norddeutschland verband, eine Verwandtschaft,
die sich nicht nur in der Sprache kundgibt, sondern noch weit mehr
in der Kultur bis in ihre innersten Verzweigungen hinein.
Die Germanen treten plötzlich auf den Schauplatz der Geschichte.
Sie erscheinen in demselben Augenblick, wo Rom im Begriff ist,
das Fazit seines langen tatenreichen Lebens zu ziehen und die Be­
strebungen und Errungenschaften der klassischen Welt zu derjeni­
gen Form zu kristallisieren, in der die alte Kultur den Nachkom­
men überliefert werden sollte. In dieses Licht treten sie ein und
nehmen sich, das läßt sich nicht leugnen, in seinem Glanze ver­
hältnismäßig roh und armselig aus. Es hat zunächst nicht den An­
schein, als ob bei ihnen viel zu rühmen gewesen sei.
Wir sehen sie zuerst von außen mit den Augen der Römer und
schauen zu ihnen hinein wie in ein fremdes Land. Und erst erblickt
das Auge eine große Sturzwelle von Männern, eine Woge von
Kriegern, die sich mit der elementaren Wucht des Meeres über Ost­
gallien ergießt, gegen Cäsars Legionen anprallt und nach einem
gewaltigen Rückschlag verebbt. So ungefähr nimmt sich die erste
Begegnung Cäsars mit diesen Barbaren in der eigenen Beschrei­
bung des großen Römers aus.

17
Und hinter dieser Brandung sehen wir in ein dunkles, ödes,
trostloses Land, das von rauhen Wäldern starrt und von Sümpfen
erfüllt ist. D a drinnen werden uns Gruppen von Männern gezeigt,
die in der Zeit, die ihnen zwischen wilden Kriegs- und Plünde­
rungszügen übrigbleibt, faulenzend auf Tierfellen liegen, am hell­
lichten Tage lärmend zechen und in bloßem Müßiggang ihr geringes
Eigentum verspielen, Pferde und Frauen, das eigene Leben und
die eigene Freiheit, ja sogar noch die Tierfelle auf ihrem Rücken.
Und durch diese Gruppen sieht man große, derbe Frauen schreiten
mit harten Augen und abweisenden Mienen.
Mitten durch all dieses Lärmen klingt hier und dort eine ge­
heimnisvolle Stimme: eine alte Frau kündet die Zukunft, von ehr­
erbietigem Schweigen umgeben; eine schwache Vermutung läßt
ahnen, daß diese dröhnenden Männer Augenblicke haben, wo sie
in atemloser Stille ihre Götter verehren. Aber was machen sie in
dem Dunkel ihrer geheimnisvollen Haine? Es werden wohl ein­
fach Menschen geschlachtet: entsetzliche Opfer und Trinkgelage,
denn das Johlen und Schreien kann man von weitem hören.
Für die Südländer waren diese Bewohner der nördlichen Ein­
öden einfach Barbaren. Die Römer und Griechen betrachteten ihre
Existenz als die bloße Verneinung des zivilisierten Lebens.
Sie betonten, wie geringe Ansprüche die Germanen ans Leben
stellten. Die wenigen Bedürfnisse dieser armen Menschen waren
bald befriedigt. Ein Fell um den Körper, ein wenig Farbe vielleicht
im Gesicht und dann irgendeine Waffe in der H and — damit ist
ihre äußere Erscheinung annähernd gegeben. Prächtig nehmen sie
sich in ihrer Halbnacktheit aus, das läßt sich nicht leugnen; denn
was die Menschen versäumen, hat die N atur ausgeglichen und ihnen
schöne Muskeln und prachtvolles rotes oder blondes H aar gegeben,
das der schönsten römischen Dame zur Zierde gereichen würde.
Der Germane ist ein Werk der N atur, und er gehört in eine natür­
liche Umgebung hinein, in die Wälder und auf die Berghänge. Dort
l e b t er, sei es nun in der Spannung der Jagd oder auf w ag­
halsigen Fehdezügen. Zu Hause verbringt er die Zeit in einem
Halbschlummer, in Müßiggang und Rausch; dort liegt er in Schmutz
und Ruß und Rauch an einem Ort, den er wohl sein Haus nennt,
der aber eigentlich nur ein Schuppen ist, ein Stall, wo Menschen
und Tiere gleich gut zu Hause sind. Den Drang, sich eine Umwelt
nach seiner Persönlichkeit zu formen, der wohl als der Adels­
instinkt der Zivilisation bezeichnet werden kann, hat er nie deut­

18
lieh gespürt. Er lebt in der Wildnis, und das H aus ist für ihn nur
ein Schutz gegen die Unbilden von Wind und Wetter, ein leicht
errichteter Verschlag, den er ebenso schnell wieder abbrechen kann,
um ihn an eine andere Stelle zu versetzen.
Wie der Germane in einem Naturzustand lebt und sich von den
Gaben der N atur erhält, so besitzt er auch im Innern die Wildheit
dieser N atur. Allerdings ließen die verwöhnten Beobachter aus
dem Süden eine gewisse Größe an ihm gelten. Er ist großer H in­
gabe fähig; er würde sein Leben aufs Spiel setzen für einen zu­
fälligen Gast, der keine anderen berechtigten Ansprüche an ihn
hat, als daß er gestern abend in die Hütte seines Wirtes trat und
die Nacht auf seinem Lager verbrachte. Die Frauen zeigen oft
einen instinktiven Abscheu gegen alles, was sie im geringsten er­
niedrigen könnte. In Wirklichkeit aber weiß der Barbar gar nichts
von solchen Eigenschaften wie Treue und Wörthalten. Die Fähig­
keit des Unterscheidens, die das Kennzeichen wirklicher Humani­
tät ist, fehlt ihm vollständig. Daß etwas gut ist nach ewigen Ge­
setzen, ist ihm nicht aufgegangen. Er hat keine Gesetze, und wenn
er das Gute tut, handelt er ausschließlich aus einem Naturinstinkt
heraus.
Diese Germanen leben und bewegen sich als Horden, Stämme,
oder wie man sie nun benennen will. Sie haben eine Art von
Königen und so etwas wie Volksversammlungen, wo alle waffen­
tüchtigen Männer erscheinen. Aber man muß sich hüten, dort etwas
zu vermuten, was wirklich einer Staatsinstitution entspräche, wie
man sie bei zivilisierten Völkern kennt. Der König hat keine wirk­
liche Macht: die Krieger gehorchen ihm heute und kehren ihm mor­
gen trotzig den Rücken; an einem Tage lassen sie sich vom „K önig“
zu verwegenen Taten anführen, und ein andermal gehen sie trotz
seines Verbotes und gegen alle politische Vernunft auseinander und
kehren heim, jeder in sein Haus. Und in der Volksversammlung ist
das Verfahren so einfach, daß, wer die überzeugendsten Worte ge­
brauchen kann, über alle anderen obsiegt. Die Krieger schlagen ihre
Waffen gegeneinander, und die Sache ist erledigt. Geschenken und
Überredungen gegenüber sind sie wie Kinder, aber launenhaft und
zügellos, sobald sie sich einer Verpflichtung gegenüber sehen, und
unwillig, irgendeine endgültige Regel oder Ordnung anzuerkennen.
Kurz gesagt, diese germanischen Stämme sind nach der A uf­
fassung der römischen Bürger ein Volk mit starken Licht- und star­
ken Schattenseiten in ihrem Charakter - denn solche Wörter wie

19
Tugend und Laster, gut und böse, kann niemand, der ein Sprach-
gewissen hat, auf sie anwenden. Der Römer mag von ihrem natür­
lichen Stolz, ihrem starren Trotz sprechen, den sie sogar in Ketten
beim Triumphzug ihres Besiegers bewahren; aber Ausdrücke wie
Majestät und Adel wird er unwillkürlich sich und seinesgleichen
Vorbehalten.
Hier und da bei den vornehmsten Vertretern der klassischen
Bildung findet man eine halb ästhetische, halb humane Sympathie
für diese Kinder der Wildnis; aber in ihrem Ursprung ist auch
sie identisch mit dem furchtgemischten Haß eines Durchschnitts­
römers, insofern sie ihren Gegenstand als ein Stück der wilden
N atur selbst betrachtet. Inmitten ihrer Zivilisation konnten die
Menschen angesichts der N atur krampfhaft von einer wehmütigen
Bewunderung gepackt werden für die ursprüngliche Gewalt des
Lebens, für die Kräfte, die dahinstürmen, ohne zu wissen, wohin.
Der Mensch auf dem Gipfel seiner Herrlichkeit sann schwermütig
über das glückliche Los der Naturkinder nach, die sich tief unten
im Sumpfe tummelten, ein Zustand, den man selbst - wohl oder
übel —nie erreichen konnte.
Tacitus, der Romantiker, sang das Lob des einfachen Lebens in
dem persönlichen Stil der Dekadenzzeit mit originellen Verrenkun­
gen im Satzbau und einer Sammlung der allerungewöhnlichsten
Wörter, die er finden konnte. Er stutzt seine Wilden nicht künst­
lich zurecht, macht keinen Versuch, sie klüger oder besser zu zei­
gen, als sie es in der Wirklichkeit waren. Im Gegenteil, er bemüht
sich zu zeigen, wie wenige und einfache Bedürfnisse das Leben des
Wilden hat. Seine Begeisterung findet die zartesten Ausdrücke. Bei
den Germanen, erklärt er, bedeuten gute Sitten mehr als gute Ge­
setze; „Zins und Wucher sind ihnen unbekannt, und deshalb ent­
fliehen sie den Lastern viel eifriger, als wenn sie ihnen verboten
wären.“ In ihren Bräuchen geben diese Wilden ihren stumpfen,
primitiven Gefühlen einen naiven und unbeholfenen Ausdruck. „Es
ist nicht die Frau, die eine Mitgift ins H aus führt, sondern umge­
kehrt der Mann, der seiner Braut Geschenke bringt . . . und diese
Geschenke bestehen nicht in Frauenputz . . . , nein, ein gezäumtes
Pferd, ein Schild, ein Schwert, das ist der Brautschatz. Als Entgelt
bringt sie einige Waffen mit für ihren Mann. Diese betrachten sie
als die stärksten Bindungen, als das Heiligtum des Heims, als die
Gottheiten der Ehe. Damit die Frau sich nicht als außerhalb der
männlichen Gedanken und der Wechselfälle des Krieges stehend

20
fühlen soll, wird sie gleich bei der Einweihung zur Ehe daran er­
innert, daß sie von jetzt ab Arbeit und Gefahr mit dem Manne
teilt . . . “ Und so auch unter Freunden: „Sie freuen sich über ihre
gegenseitigen Geschenke, sie geben und empfangen frei, ohne an
Gewinn zu denken; freundliches Wohlwollen ist es, was sie ver­
bindet.“ Mit anderen Worten: Keine Blässe des Gedankens, lauter
unmittelbare Gefühle.
Für Tacitus gilt es gerade zu beweisen, wie alles, „Tugend“ und
„Laster“ , bei diesen Menschen natürlich emporwächst. Er malt sie
mit so liebevoller H and und zugleich mit ungeschminkter Wahr­
heit in den Details, weil er sie als ein Stück unverdorbener N atur
ansieht. Er ist in dem Grade von dem Gefühl des Gegensatzes
zwischen sich und seinen Barbaren durchdrungen, daß er gar nicht
merkt, wie jede Tatsache, die er vorbringt, unweigerlich die
schwache Theorie zerreißt, in die er sie einzuspinnen versucht.
Das, was bei dem Kulturmenschen Abscheu und Entsetzen vor
dem Barbaren hervorruft, ist das Gefühl, daß er dem Unberechen­
baren gegenübersteht, dem Menschen ohne Gesetz. Sorglos, gedan­
kenlos, hält der Wilde seinen Eid, und ebenso sorglos wird er Eide
und Versprechungen brechen; er kann tapfer und edelmütig in sei­
ner unbeherrschten Weise sein und in derselben unbeherrschten
Weise brutal und tierisch. Jede grausame Handlung, jeder Treu­
bruch macht einen viel abstoßenderen Eindruck, wenn sie ohne Be­
ziehung zu etwas anderem sind, als wenn sie als Verletzung eines
geltenden moralischen Gesetzes, als Fehltritt, Vorkommen.
Die Barbaren haben keinen Charakter — das ist das endgültige
Urteil des Römers. Wenn der Kulturmensch das Böse tut, tut er es
schlimmstenfalls, weil es böse ist, und dieses Bewußtsein des Schur­
ken, böse zu sein, macht ihn zu einem menschlichen Wesen, mit
dem man verkehren kann. Aber einen Barbaren in seinem Bekann­
tenkreis aufzunehmen, wäre dasselbe, wie wenn man sein H aus in
nächster Nachbarschaft eines Vulkans baute. Was bedeutet es, daß
die Barbaren eine Art Häuser errichten, daß sie den Boden be­
bauen - weiß Gott, ihre Ackerbaumethoden sind höchst primitiv,
wenn sie die Oberfläche der Erde ein wenig aufreißen und ihr
einen elenden Ertrag abringen, um nächstes Jah r neue Äcker auf­
zusuchen; — was bedeutet es, daß sie Vieh halten, Krieg führen
und unter sich eine Art Justiz üben? Ja , zugegeben, sie hätten eine
gewisse Tüchtigkeit im Waffenschmieden - ein zivilisiertes Volk
sind sie trotz all dem nicht.

21
Es war um den Anfang unserer Zeitrechnung, daß die germani­
schen Völker zum erstenmal in der Geschichte auf traten; ein Jah r­
tausend später sah die Welt die altgermanische Kultur verschwin­
den. Für einen kurzen Zeitraum beherrschten die Nordländer den
europäischen Schauplatz und entwickelten ihre Rassenmerkmale
und Ideale in fieberhafter Eile, um sich dann schnell zu verwandeln
und in der europäischen Kultur aufzugehen. Ihr Verschwinden be­
zeichnet das Ende dieser germanischen Kultur als eines selbständi­
gen Typus.
Auch die Nordländer sind von Fremden gezeichnet worden, von
außen gesehen, und das Bild hat in gewissen Punkten starke Ähn­
lichkeit mit dem, das ihre älteren Verwandten hinterlassen hatten:
mit den Berichten der römischen Historiker. Wild, blutdürstig,
wenig zugänglich für menschliche Vernunft und menschliche Denk­
weise, ausgestattet mit „strahlenden Lastern“ und im übrigen Teufel
- so ist das Zeugnis, das ihnen von mittelalterlichen Chronisten
ausgestellt wird. Die zivilisierten Männer, die sie jetzt beurteilten,
waren Christen, die die Welt nicht nach Stufen der Kultur beurteil­
ten, sondern sie zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis
geteilt sahen, und nun muß das Unberechenbare notwendigerweise
auf irgendeinen Ursprung in tiefen Regionen zurückgeführt wer­
den. Den Barbaren der klassischen Zeit entsprechen die Dämonen
des mittelalterlichen Christentums. -

Das Bild steht aber diesmal nicht allein, ohne Gegenstück. Hier
oben im Norden hat ein germanisches Volk sich selbst ein Denk­
mal für die Nachwelt errichtet, sich so dargestellt, wie es in der
Geschichte gesehen werden wollte; und es hat sich enthüllt, ohne
an fremde Zuschauer zu denken, und doch von einem Drang nach
Selbstoffenbarung getrieben.
Äußerlich gesehen scheinen die Nordländer etwas von derselben
elementaren, unreflektierenden Gewaltsamkeit, derselben unsteten
Rastlosigkeit zu haben, die die gebildete Welt veranlaßt hatte, ihre
südlichen Verwandten als Barbaren zu stempeln. Überstürzt und
impulsiv, um nicht zu sagen störrisch in ihrer Selbstbehauptung,
handelnd unter dem Anstoß des Augenblicks, wechselnd von einem
Plan zum anderen - für den kühlen politischen Sinn besteht wohl
große Ähnlichkeit zwischen den deutschen Briganten und den nor­
dischen Piraten. Aber unsere vertrauteren Kenntnisse ermöglichen
es uns, die Anwesenheit eines beherrschenden und zusammenfassen­

22
den "Willens unter dem unruhigen Äußern zu erkennen. Was auf
dem ersten Blick als planloses Flimmern erscheint, zeigt sich bei
näherer Untersuchung als ein ruhigeres Licht. Tatsächlich haben
diese Wikinger sehr wenig von der Planlosigkeit, die als „natür­
lich“ bezeichnet werden kann. Es ist in ihnen mehr berechnendes
Haushalten als bloß verschwenderische Kraft. Die Männer sind
sich klar sowohl über Ziel und Mittel wie über Willen und Macht.
Wenn sie auch anscheinend ohne festes Ziel umherirren, haben sie
doch in sich einen Richtpunkt, der stetig ist und unveränderlich,
wohin sie sich auch wenden.
Die alte Vorstellung von den Wikingern, die wie ein Unwetter
über die Länder dahinfahren, die den Reichtum, den sie finden,
zerstören und doch selber arm bleiben wie vorher, diese Vorstel­
lung hat in unserer Zeit einem atemlosen Staunen über ihr Verlan­
gen nach Bereicherung weichen müssen. Das Gold, das sie fanden,
ist verschwunden. Aber wir wissen jetzt, daß ein Schatz von Wissen
und Gedanken, Poesie und Träumen, der aus dem Ausland heim­
gebracht sein muß, im Norden aufgehäuft war, obgleich solche
geistigen Reichtümer um ein vielfaches schwieriger zu finden, zu
rauben und heil heimzuführen sind als kostbare Steine oder kost­
bare Metalle. Die Nordländer scheinen unersättlich nach solchen
geistigen Kleinodien gejagt zu haben. Sie sind in unsern Tagen so­
gar beschuldigt worden, sich das ganze heidnische und christliche
Wissen des Mittelalters angeeignet zu haben, und wenn man die
norwegische Literatur der Wikingerzeit betrachtet, fällt es schwer,
diesen Vorwurf zurückzuweisen, obschon das, was von Bugge und
seinen Schülern vorgebracht wird, zu weit zu gehen scheint. Dann
fragen wiederum andere höhnisch, ob wir im Ernst glauben sollen,
daß unsere Nordländer in irischen Klöstern wie die Schuljungen
über ihren Schulaufgaben saßen, um klassische Schriftsteller und
mittelalterliche Enzyclopädien zu lesen. Dies würde ohne Zweifel
die natürlichste Erklärung sein für moderne Gemüter, die ihre
ganze Nahrung aus Büchern und Vorlesungen saugen; doch wir
müssen wohl annehmen, daß sie ihr Wissen auf weniger formale
Weise erworben haben. Wenn sie aber nicht den Vorteil einer syste­
matischen Erziehung genossen haben, so ist es um so unbegreif­
licher, daß sie in diesem Maße zu dem Wissen und der Kunst der
Zeit Zutritt erhalten haben. Sie hatten nicht nur einen leiden­
schaftlichen Drang, die Elemente fremder Kultur zu ihrer eigenen
Bereicherung zu verwenden, sondern auch eine geheimnisvolle

23
Fähigkeit, in die Kultur einzudringen und sie zur Herausgabe des­
sen zu zwingen, was unter ihrer Oberfläche lag.
Doch dieser Hunger nach Wissen ist noch nicht das Erstaunlichste
an diesen Menschen. Daß sie in hohem Maße gelernt und nach-
geahmt haben, ist deutlich zu sehen; aber noch heutigen Tages
grübeln wir ohne Erfolg und ohne Hoffnung auf Erfolg darüber
nach, was sie eigentlich gelernt und was sie aus ihrem Eigenen
hinzugefügt haben mögen. Es gibt keine Zauberformel, womit die
gesamte Kultur der Wikingerzeit in ihre ursprünglichen Bestand­
teile zerlegt werden könnte. So vollkommen haben sie das A uf­
genommene umgestaltet, daß sein Gedanke und Geist ihr eigener
wurde.
Die beiden Seiten müssen durchaus nebeneinander betrachtet
werden. Der Nordländer besitzt nicht nur einen mächtigen Drang
zur Erweiterung und Bereicherung seiner geistigen Sphäre, sondern
dieses Expansionsbedürfnis in ihm wird aufgewogen von einer
geistigen Selbstbehauptung, die nicht weniger ausgeprägt ist, und
ihm eine hartnäckige Treue zu dem halb unbewußten Ideal ver­
leiht, das den Kern seines Wesens bildet.
Er steht der Welt nicht mit offenen Armen gegenüber, nein, weit
entfernt, er ist vielmehr voll Mißtrauen und Zurückhaltung gegen
fremde Götter, Wege und Werte, die er als inkongruent mit seiner
eigenen Selbstachtung empfindet. Alles Fremde hält er fern, bis er
sein Geheimnis geprüft, oder bis er ihm ein Geheimnis abgerungen
hat, das ihn selbst befriedigt, und alles, was er nicht auf diese
Weise behandeln kann, schließt er aus und von sich ab, er wird sich
dessen eigentlich kaum recht bewußt. Aber überall, wo er sich zu­
erst einer fremden Atmosphäre hingeben und dann ihr Wesen für
den eigenen Gebrauch nutzbar machen kann, da nimmt er leiden­
schaftlich alles, was er vermag, in sich auf und läßt es in sich
weiterwirken.
Er besitzt die Festigkeit, die auf einem seelischen Gefüge beruht,
und die Geschmeidigkeit, die sich ergibt, wenn sich das Gefüge der
Seele in voller Übereinstimmung mit der Umwelt befindet, so daß
die Seele elastisch den Anforderungen nachgibt, die die Umgebung
an die Menschen stellt. Er ist Herr über seine Umwelt, da er sich
selbst beherrscht mit einer Kraft, die tiefer liegt als der Wille und
identisch ist mit dem Seelengefüge selbst.
Es sitzt zuinnerst in ihm ein zentraler Wille, der über alles ein
Urteil fällt, was sich von außen aufdrängt; ein Vorsatz, der jede

24
neue Errungenschaft ergreift, sie sich für einen bestimmten Zweck
unterwirft, sie zwingt, im Geiste ihres neuen Herrn zu arbeiten,
und ihr sein Bild aufdrückt; wo sich das nicht erreichen läßt, wird
der fremde Stoff verworfen und abgewiesen. Alles, womit er sich
befaßt, wird in Kraft umgesetzt, alle Kräfte werden der Zucht
unterworfen und dann als gesammelte Energie hinausgeschleudert.
Deshalb ist Gewaltsamkeit hier nicht bloß törichte Kraftverschwen­
dung. Der zentrale Wille gibt jeder Tat so viel Antrieb, daß sie
jedesmal übers Ziel hinausschießt und ein neues dahinter aufsteckt.
So steht das ganze Leben des Menschen unter einem solchen K raft­
druck, daß er selbst immer ferneren Zielen zugeschleudert wird.
Aber das Maß und der Maßstab für seine Taten liegen außerhalb
seiner selbst. Die letzten Normen, wonach sein Leben beurteilt
wird, sind das Urteil seiner Genossen und das Urteil der Nach­
welt —Normen, absolut und bedingungslos.
Die Gewaltsamkeit ist von der Tiefe der Seele aus organisiert.
Sie ist E n e r g i e , die das geistige Leben wach und hungrig
hält und dadurch die geschlossene, festgefügte Persönlichkeit des
Nordländers schafft. Ein solcher Mann ist nicht lediglich ein be­
seelter Augenblick, der sich in Zukunft und Vergangenheit nebel­
haft verliert; er ist Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu­
gleich. Der Mann befestigt sich in der Vergangenheit durch enge
Verknüpfung mit den dahingegangenen Generationen. Eine solche
Verknüpfung gibt es mehr oder weniger unter allen Völkern; aber
der Nordländer macht durch ständiges historisches Gedenken und
historische Spekulation, in welcher er seiner Verbindung mit frühe­
ren Generationen und seiner Abhängigkeit von ihren Taten nach­
spürt, aus der Vergangenheit eine lebendige und leitende Kraft.
Seine Zukunft ist mit der Gegenwart verkettet durch sein Ziel und
seine Ehre und das Urteil der Nachwelt. Der Mann befestigt sich
in der Gegenwart, indem er sich selbst in einem Idealtyp reprodu­
ziert, einem T y p wie z. B. dem des Häuptlings: freigebig, tapfer,
furchtlos, scharfsinnig, grimmig gegen seine Feinde, treu zu seinen
Freunden, offen gegen alle. Der T yp ist vom Leben und der Dich­
tung gemeinsam gebildet worden; er wurde erst gelebt, dann in
der Dichtung verklärt.
Die feste geistige Organisation, die den Nordländer als Persön­
lichkeit kennzeichnet, tritt in seinem sozialen Leben nicht weniger
klar an den Tag. Überall wohin er kommt, trägt er in sich eine
soziale Struktur, die sich in festen politischen Formen Ausdruck

25
verschafft, sobald er mit einer Anzahl Sprachgenossen zusammen­
geworfen wird. Er gehört nicht zu dem ungegliederten T yp, der
kaleidoskopartige Stammesorganisationen schafft. Wie klein auch
sein Volk und wie locker auch der Zusammenhang zwischen den
einzelnen Molekülen dieses Volkes sein mag, das soziale Gewissen
ist immer vorhanden und betätigt sich. Er ist ein Volk in sich, und
er braucht keine künstliche Einheit durch Anhäufung von zahl­
reichen Einzelmenschen aufzubauen. Sobald er sich an einem Ort
für kurze oder lange Zeit niedergelassen hat, schießt ein Gesetzes-
Thing aus der Erde und ringsum bildet sich eine Gemeinschaft.
Ob ein sozialer Ordnungssinn sich nun in Reichsgründungen Luft
machen kann, oder ob er in engere Rahmen hineingezwängt wer­
den muß, - es ist ein tief verwurzelter Trieb, ein integrierender
Bestandteil seines Charakters.
Kultur im wahrsten Sinne des Wortes ist eine elastische H arm o­
nie zwischen dem innersten Ich des Menschen und seiner Umgebung,
so daß er nicht nur imstande ist, die Umgebung seinen materiellen
Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch die Impulse der um­
gebenden Welt in geistige Ideale und Bestrebungen umzusetzen.
Der kultivierte Mensch besitzt eine instinktive Würde, die aus
Furchtlosigkeit und Selbstvertrauen entspringt, sich in Zielsicher­
heit kundtut und gleiche Bedeutung hat in Sachen des formalen
Auftretens wie in Unternehmungen mit weitreichenden Folgen. In
diesem Sinne sind die Wikinger Männer von Kultur; sie sind
Herren über sich selbst und ihre Welt mit dem stolzen Recht des
Entschlusses. Ihre Harmonie mag arm sein nach ihrem tatsächlichen
Inhalt gemessen, aber sie hat trotzdem Kraft und Tiefe.
Welch ein Unterschied zwischen diesen beiden Bildern - dem
Bilde, das südliche Federn von den germanischen Zeitgenossen ge­
zeichnet haben, und dem, das die letzten Altgermanen selbst in die
Geschichte geprägt haben! Nichtsdestoweniger fassen wir beide
unter einem Namen zusammen; und tun es mit reifer Überlegung,
mit vollem Bewußtsein dessen, was dieser Sprachgebrauch in sich
schließt. Man hat früh entdeckt, daß beide so eng verwandt sind,
daß es nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig ist, sie gemein­
sam zu behandeln. Die Andeutungen über frühgermanische Sitten,
Gesetze, ethische Wertungen, die uns erhalten sind, beweisen, daß
jene ersten Germanen mit ihren jüngeren Vettern die D e n k ­
w e i s e gemeinsam hatten, das, was Gedanken und Gefühle ver­
bindet und sie zu Trägern der Persönlichkeit macht.

26
ln diesem Lichte aus dem Norden können wir ferner sehen, daß
Sueben und Markomannen und wie sie alle hießen, nicht bloße
Geschöpfe des Augenblicks waren, bar jedes Charakters, wie die
Römer es sich gern vorstellten. Mit H ilfe der Nordländer können
wir alle oder beinahe alle die zerstreuten Notizen deuten, die uns
überliefert sind, und dort, wo unsre Gewährsmänner nur Sinn­
losigkeit sahen, etwas Menschliches finden. Wir bekommen z. B.
eine Ahnung davon, daß der Wechsel von Treue und Treulosigkeit
bei den germanisdien Stämmen, der die Römer so oft veranlaßte,
harte Maßregeln zu treffen, in Wirklichkeit in einem ethischen
System begründet war. Und wir sehen klar, daß hinter ihrem Ver­
halten, hinter solchen Tugenden und solchen Lastern ein C h a ­
r a k t e r stand, weit verschieden von dem römischen, aber weder
natürlicher noch unnatürlicher, im Prinzip ebenso konsequent,
ebenso verstandesbeherrscht und nicht weniger durch die Rücksicht
auf Erhaltung einer bestimmten Einheit in der Persönlichkeit ge­
bunden. Ein staatsmännisches Genie wie Cäsar erkannte auch sehr
wohl, daß seine Pläne in bezug auf diese Barbaren, wenn sie einige
Festigkeit besitzen sollten, nicht nur lateinisch von ihm ausgedacht
werden durften. Schon sein Eifer, die Gedanken der Germanen zu
durchdringen bis hinab in den Seelenzustand, der ihre Äußerungs­
form bestimmte, bezeugt die Tatsache, daß diese „Barbaren“ den
Stempel der Kultur und das Zeichen des Charakters trugen.
Wir haben vor den Römern voraus, daß wir dazu geführt wor­
den sind, das Leben der Germanen von innen her zu betrachten.
Die Römer hatten vorzügliche Beobachtungsmöglichkeiten; der
allergrößte Teil von dem, was Römer und Griechen über die Ger­
manen gechrieben haben, ist in seiner Art richtig. Aber jede ein­
zelne Bemerkung, groß oder klein, verrät ihren Ursprung als
Streifblick über die Grenze. Man merkt immer, daß der Bericht­
erstatter weit draußen gestanden hat; er hat gesehen, was diese
Menschen taten, aber er hat nicht verstanden, warum sie es taten.
Ihre Handlungen verlieren in seiner Erzählung Perspektive und
Verhältnis; und je korrekter die Einzelheiten sind, desto wunder­
licher wirkt die Zusammenstellung. Bestenfalls bekommt man von
der Schilderung denselben grotesken Eindruck, wie wenn man von
weitem Menschen reden und gestikulieren sieht, ohne zu ahnen,
was sie erregt. Es ist ein großer Unterschied, ob man wie die Römer
draußen mit einem Volk Bekanntschaft macht und es nach Hause
begleitet, um im besten Fall vor der Tür zu stehen und einen Blick

27
auf sein Alltagsleben zu werfen, oder ob man in die Mitte des
Volkes aufgenommen wird, die Männer sieht, wenn sie sich zu
Hause zur Fahrt bereiten, und sie wieder im Lande empfängt,
wenn sie zurückkehren.
Wir sind günstiger gestellt als die südländischen Schriftsteller,
aber sind wir viel klüger? Es besteht vielleicht die Gefahr, daß wir
z u leicht zu unserm Verständnis gelangen. Das Unvermögen der
Römer, die Handlungen der Germanen als menschlich zu erkennen,
enthält eine Warnung für uns, daß wir bei unserer Deutung nicht
über das wirklich Fremdartige bei unsern Vorfahren hinweggleiten
und ihnen fälschlich unsere eigenen Motive unterschieben.
Die Nordländer sind Kulturvölker im vollsten Sinne des Wortes.
Wir müssen sie als unsresgleichen anerkennen. Sie lebten ebenso
energisch wie wir, fanden nicht weniger Befriedigung am Leben
und fühlten sich in ebenso hohem Maße als Herren des Lebens und
zwar als Herren, die ihrem Leben selbst ein Ziel steckten und es
unerbittlich verfolgten.
Aber die Anerkennung dieser Tatsache betont gerade den Ab­
stand zwischen uns, weil sie noch schärfer den Unterschied hervor­
hebt zwischen alter und moderner Art, das Leben zu beherrschen
und zu genießen. Der Unterschied wird deutlich, sobald wir die
Germanen mit dem anderen nordeuropäischen Stamm der alten
Zeiten, den Kelten, vergleichen. Unsrer ganzen germanischen Ab­
stammung zum Trotz scheinen wir manchmal näher mit den Kelten
verwandt. Sie sind ein moderner Menschenschlag, möchte man
sagen. Es ist keine lange Bekanntschaft nötig, bevor man sich ihnen
innerlich nahe fühlt. D a steht ein Mann, auf dessen Gesicht sich
die ganze Welt, N atur und Menschheit, spiegelt. Die Schönheit der
Natur, die Schönheit des Menschen, der Heroismus des Mannes,
die Liebe der Frau - diese Dinge ergreifen ihn und bringen ihn in
Ekstase; er fühlt und fühlt, bis die Seele am Zerspringen ist - und
dann quillt es hervor in einem Strom von Lyrik, in Klage und
Jubel, in wehmütigem Sinnen und innigem Preisen dessen, was sein
Auge erfreut. Eine religiöse Ekstase überwältigt ihn, er gibt sich
dem Übersinnlichen hin, ergreift es und läßt sich davon ergreifen,
lebt das übersinnliche Leben wie eine Wirklichkeit mit wirklichen
Freuden und wirklichen Schmerzen; er schwingt sich in das volle
Erleben des Mystischen hinüber, aber ohne seinen Stand in der
sichtbaren Wirklichkeit zu verlieren - im Gegenteil, sein inneres
Empfinden sättigt sich an der Schönheit der N atur, an der Freude

28
über das Tierleben auf dem Felde und in der Luft. Auf die Ge­
waltsamkeit des Lebens antwortet seine Leidenschaftlichkeit; er
muß mitgehen, muß sein Blut in demselben eiligen Rhythmus pul­
sieren fühlen, der außer ihm und um ihn schwingt. Seine Bilder
werden ihm nie lebhaft genug, nie reich genug an Farben und
Schattierungen. Die Schönheit überwältigt ihn, und in fieberhaftem
Eifer, nichts zu verlieren, häuft er Bild auf Bild; das Grauen und
die Größe des Lebens erregen ihn so, daß er sich seine Riesen mit
einer Unmenge von Köpfen und allen erdenklichen Schrecken aus­
malt; seine Flelden sind von übernatürlicher Größe, gold- und
silberhaarig, und besitzen mehr als göttliche Macht.
Kein Wunder, daß der Kelte uns oft erschreckt und mit seinen
formlosen Übertreibungen abstößt. Er erfüllt uns zu Zeiten mit
Abneigung, aber nur um uns aufs neue anzuziehen. Die Übertrei­
bung ist die natürliche Folge einer Leidenschaftlichkeit, deren Stärke
und Wesen begründet ist in der Empfindsamkeit der Seele für alles
Außenliegende, ja für die kleinsten Regungen in der N atur und
im Leben des Menschen. Eine solche Fülle des Seelenlebens ist den
Nordländern unbekannt; nicht einmal als Ausnahme kommt sie vor.
Im Vergleich zu den Kelten ist der Nordländer schwer, ver­
schlossen, ein Kind der Erde, scheinbar nur halb erwacht. N ur
durch schwache Andeutungen kann er sagen, was er fühlt. Er ist
tief mit der Landschaft, die ihn umgibt, verbunden, ihre Wiesen
und Flüsse erfüllen ihn mit verborgener Zärtlichkeit, aber sein
Heimatsinn hat sich nicht in Liebe gelöst. Das Naturgefühl klingt
dumpf durch seine Sprache und seine Mythen hindurch; aber er
bricht nicht in Hymnen über die Lieblichkeit der Welt aus. Er hat
kein Bedürfnis, von dem Verhältnis zu den Frauen zu sprechen,
wenn nicht gerade etwas Praktisches mitzuteilen ist; nur wenn es
tragisch wird, kommt dieser Gegenstand in seine Dichtung hinein.
Mit anderen Worten, seine Gefühle werden nie offenbart, bevor
sie eine Begebenheit ausgelöst haben, sie erzählen uns nichts von
sich selbst außer durch die Schwere und Bitterkeit, die sie in die
entstehenden Konflikte legen. Der Mangel an Ereignissen wirft ihn
nicht auf seine inneren Quellen zurück, erschließt nie einen Strom
von Grübelei oder Lyrik - er stumpft ihn nur ab. Der Kelte tritt
dem Leben mit offenen Armen entgegen, für jeden Eindruck
bereit; ungern läßt er etwas tot vor sich zur Erde fallen. Dem
Germanen fehlt es nicht an Leidenschaftlichkeit, aber er kann nicht,
er will nicht so zügellos zulangen beim Festtisch des Lebens.

29
Er sieht den Menschen nur von einer Seite: den Menschen, der
sich selbst behauptet, seine Ehre behauptet, wie er es nennt. Alles,
was sich im Manne bewegt, muß, ehe er es fassen kann, so ge­
wendet sein, daß es auf die Ehre bezogen werden kann, und alle
seine Leidenschaft wird zurückgestoßen und aufgehalten, bis sie
sich einen Weg nach dieser Richtung bahnen kann.
Seine Freundschaft zum Manne und seine Liebe zur Frau finden
nie ihren Ausdruck um des eigentlichen Gefühls willen; sie werden
bewußt nur als eine Steigerung der Selbstachtung des Liebhabers
und infolgedessen als eine Erweiterung der Verantwortlichkeit
empfunden. Diese Einfachheit des Charakters zeigt sich in seiner
Dichtung, die im Grunde nichts ist als ein Singen und Erzählen
von großen Rächern, denn Rache ist die höchste T at, sie konzen­
triert sein inneres Leben und treibt es ans Licht. Seine Rache­
dichtungen sind immer stark menschlich, weil Rache für ihn keine
leere Heimzahlung getanen Unrechts ist, sondern eine geistige
Selbstbehauptung, eine Betonung von Stärke und Wert, und so
sind die Pein einer Beleidigung oder der Triumph des Sieges im­
stande, die verschlossenen Tiefen seiner Seele zu öffnen und seine
Worte mit Leidenschaft und Zartheit zu färben. Aber die Be­
grenzung, die die Schönheit und Stärke der germanischen Dichtung
ausmacht, offenbart sich in der Tatsache, daß nur die Gefühle und
Gedanken, die den Menschen zum Rächer machen und die Gewin­
nung der Rache fördern, ausgedrückt werden; all das andere wird
überschattet. Die Frau findet nur als Walküre oder wenn sie zum
Streite auf reizt einen Platz in der Dichtung, im übrigen gehört sie
zu dem gewöhnlichen Inventar des Lebens. Freundschaft, das Höch­
ste auf Erden für den Germanen, wird nur erwähnt, wenn der
Freund dem Freunde die H and reicht im Kam pfe für Ehre und
Wiederaufrichtung.
Es ist Überfluß an Leidenschaft in der Dichtung der N ord­
länder, aber sie erscheint nur wie ein Geysir, auf und absteigend,
sie bricht nie durch, um sich in lyrischem Strömen zu ergießen.
Imposant, aber grau; kraftvoll, aber nüchtern. Seine Dichtung ist
geprägt von zuverlässiger Schlichtheit und von Beschränkung der
Phantasie, die gut in die Grenzen paßt, die von dem großen Rea­
lismus des kriegerischen Lebens gezogen wurden. Seine Helden
sind an Größe meist mit den heroischen Gestalten des Alltags­
lebens vergleichbar, und ihre Kräfte übertreffen nur in sehr gerin­
gem Grade die gewöhnlichen Normen des Lebens. Es fehlt das

30
fiebrige Tempo, das für die Kelten so charakteristisch ist und das
der Uberempfindlichkeit entspringt, der Neigung, jeden Augenblick
im selben T ak t wie die Umwelt zu leben, oder der Unfähigkeit,
dem Rhythmus der Umwelt zu widerstehen. Die Reaktion des
Nordländers auf die Eindrücke von außen läßt so lange auf sich
warten, daß es beinahe aussieht, als ob seine Bewegungen ledig­
lich von innen her entstünden. Die Impulse der äußeren Welt
fallen nicht tot auf seine Seele, aber sie werden eingesperrt, ge­
fesselt, sobald sie auf seine massive Persönlichkeit stoßen. N ur
eine einzige Leidenschaft kann die aufgespeicherte Energie frei­
machen: seine Leidenschaft für die Ehre. Ob der Nordländer sich
von diesem oder jenem, was ihm begegnet, beeinflussen läßt, das
hängt von etwas Geschehenem, etwas Vergangenem ab, oder von
etwas Zukünftigem, von einem Ereignis, das ihm oder seinen V or­
fahren geschehen ist, oder von einem Ereignis, das zum Nutzen
seiner selbst und seiner Nachkommen ins Leben gerufen werden
muß. Er lebt nicht im Augenblick; er benutzt den Augenblick, um
zu berechnen, wie er ihm zur Erreichung seines Zieles dienen kann.
Er haßt keine Sache um ihrer selbst oder um seiner eigenen Person
willen; denn kann er sich eine Möglichkeit der Rache durch Auf-
geben seines Hasses erkaufen, so reißt er den Haß aus sich heraus,
und kann er eine solche Möglichkeit durch eine Feindschaft ge­
winnen, springt der Haß sofort mit unverhüllter Gewalt hervor.
Dies bedeutet nicht, daß der Nordländer zeitweise „außer sich“
ist, wenn er Wiedergutmachung für eine Unbill sucht. Ein Rächer
ist gewißlich immer Sohn, Gatte, Vater, Mitglied einer legalen
Gemeinschaft. Es ist keine Rede davon, daß er sich seiner Mensch­
lichkeit entkleidet, sondern umgekehrt: diese seine ganze Mensch­
lichkeit legt einen Racheharnisch an und verhält sich dement­
sprechend.
Gerade in diesen Augenblicken der erbarmungslosen Selbst­
behauptung erhebt sich der Germane zu moralischer Größe -
hierin liegt für uns der Prüfstein unseres Verständnisses. Es ist
etwas in der H altung des Nordländers dem Leben gegenüber, das
unsere Zutraulichkeit auf den ersten Blick erfrieren läßt, und
wenn dieser Kälteschauer heutzutage nicht mehr so tief empfunden
wird, ist es hauptsächlich die romantische Literatur des neun­
zehnten Jahrhunderts, der wir diese Gefälligkeit verdanken. M it
einer Liebe, die oft allzu entgegenkommend und allzu einsichtslos
war, haben die Dichter und Historiker die starken und eigen­

31
sinnigen Züge der Sagamänner und -frauen geglättet und diese
herben Gestalten zu allgemein anerkannten Helden und Lieb­
habern abgetönt. Die alten Charaktere sind unmerklich moder­
nisiert worden in der Absicht, sie angenehmer zu machen. Die
H ärte und Unversöhnlichkeit der Nordländer wird hier von ihrem
Heroismus und Edelmut überschattet und nur stillschweigend als
Begrenzung zugelassen, während in Wirklichkeit diese Eigenschaf­
ten in dem eigentlichen Wesen ihrer Kultur begründet waren.
Wenn wir plötzlich ihrem Alltagsleben gegenüberstehen, sind wir
geneigt, sie als eng und sogar als unmenschlich zu brandmarken,
und wir erkennen nicht gleich, daß das, was wir Beschränktheit
und Unmenschlichkeit nennen, nicht mehr und nicht weniger ist
als Stärke und Geschlossenheit des Charakters. Die Alten sind ge­
recht, fromm, barmherzig und durchaus von moralischer Festigkeit,
aber auf einer Grundlage, die heutzutage nicht allein ausreichen
würde, um ein Menschenleben zu tragen.
Wenn wir in die Seele anderer Völker eindringen wollen, müs­
sen wir bereit sein, unsere vorgefaßten Meinungen darüber, wie
die Welt und die Menschen sein sollen, abzulegen. Es genügt nicht,
eine Reihe von Vorstellungen als möglich oder sogar wahrscheinlich
zuzulassen: wir müssen uns bemühen, einen Standpunkt zu er­
reichen, von wo aus diese fremden Gedanken natürlich werden;
wir müssen, so weit es möglich ist, unsere eigene Menschlichkeit
ablegen und zeitweilig eine andere Menschlichkeit anlegen. Wir
müssen also still und bescheiden von Grund auf anfangen, als
wüßten wir gar nichts, wenn wir verstehen wollen, was die
Seelen dieser Menschen zusammenhielt und sie zu Persönlichkeiten
machte.

32
Friede

Die Geschichtsschreiber des siebzehnten und achtzehnten Jah r­


hunderts haben sich stets als Weltbürger gefühlt. Sie standen ihrem
Stoff nie als Fremde gegenüber und wußten nichts von der Scheu,
die der Fremde immer empfindet. Überall auf der Erde, wo Men­
schen wohnten, fühlten sie sich zu Flause, jedenfalls solange sie
rein körperlich in ihrem Vaterlande oder in den ihm benachbarten
Ländern verblieben und alle weiteren Reisen ausschließlich im
Geiste unternahmen. Sie betasteten nicht erst unsicher ihren Stoff,
sondern gingen unmittelbar auf die Personen los, mochten diese
nun der nächsten Vergangenheit oder der fernsten Vorzeit an­
gehören, mochten es Römer, Griechen, Franzosen, Engländer, H in­
dus, Chinesen oder Indianer sein. Der Forscher trat ohne Forma­
litäten an seinen Helden heran, drückte ihm herzlich die Hand
und sprach mit ihm, wie ein Freund zum Freunde spricht, oder
sagen wir: wie ein Weltmann zum anderen redet. Man hegte da­
mals keine Befürchtungen, daß Sprachunterschiede oder verschiedene
Zeitumstände dem rechten Verständnis Hindernisse in den Weg
legen könnten. Die Menschen waren erfüllt vom großen Glauben
an das allgemein Menschliche und von der Gewißheit, daß all das
Zufällige sich von selbst entwirren würde, wenn man nur einmal
das Menschliche zu packen bekäme. Alle Menschen waren sich ja
einig, was Gott sei, was das Gute und das Böse sei, sie waren sich
einig in Vaterlandsgesinnung und Bürgerpflicht, in Liebe zu Eltern
und Kindern, kurz einig in all dem wahrhaft Wirklichen.
Wenn je diese aufrichtige Unmittelbarkeit, die in dem allgemein
Menschlichen ihren zentralen Sammelpunkt sieht, ihre Berechtigung
hätte, dann gewiß in bezug auf die Germanen. Hier haben wir
eine Gemeinschaft, die auf allgemeine Eintracht, wechselseitige
Selbstaufopferung und Selbstverleugnung, auf Gemeinschafts­
gesinnung gegründet ist. Eine Gesellschaft, in der jedes einzelne
Glied von der Geburt bis zum Tode durch Rücksicht auf den
Nächsten gebunden ist. In dieser Gemeinschaft zeigt der einzelne in
seinem ganzen Tun, daß er von e i n e r Leidenschaft beherrscht
ist: dem Wohl und der Ehre der Verwandten, und keine Ver­

33
lockungen dieser "Welt können ihn auch nur für einen Moment
dazu bewegen, die Augen davon abzukehren. Die Alten sagen
selbst, daß diese Leidenschaft Liebe ist. Was ist denn natürlicher,
als daß wir, die wir aus unserem eigenen Leben die Liebe und ihre
Macht kennen, mit dem beginnen, was wir mit diesen Menschen
gemeinsam haben. Bei einer solchen Übereinstimmung im wesent­
lichen muß dann all das anscheinend Fremdartige einfach und ver­
ständlich werden.
Bergthora, N jals Gattin, war recht eine Frau vom alten Schlag,
ehrliebend, unbeugsam, unversöhnlich. Den Schlüssel zu ihrem
Charakter finden wir in den berühmten Worten: „Ju n g wurde ich
N jal gegeben; das habe ich ihm versprochen: e i n Schicksal soll
uns beide treffen.“ In diesen Worten ist etwas allgemein Mensch­
liches, etwas, dessen wahren Wert wir verstehen können. Auf der
Mannsseite können wir eine noch altertümlichere Gestalt als Bei­
spiel aufstellen. Egil Skallagrimson, den markantesten Vertreter
der Sippenliebe in der Wikingerzeit. Wir sehen ihn reiten, den
Leichnam seines ertrunkenen Sohnes vor sich im Sattel, er führt
ihn selbst in seine letzte Wohnung, während seine Brust so vor
Schmerz schwillt, daß sein Wams zerreißt. Alles ist so unmittelbar
ergreifend, so einleuchtend und natürlich, daß man es unwillkürlich
empfindet, als könne man Egils ganze Seele in diesem einen E r­
lebnis durchschauen. Lebensnormen und Gesellschaftsbräuche, Moral
und Selbstbeurteilung, die einer so elementaren seelischen Regung
entsprungen sind, sind wohl nicht schwierig zu verstehen?
Die Probe läßt sich schnell machen.
In der Geschichte der Färöer steht ein Frauenpaar an hervor­
ragender Stelle, Thurid und Thora, Sigmund Brestasons Gattin
und Tochter. Beide sind kräftige und entschlossene Charaktere, so
wie Bergthora, und beide werden in all ihren Handlungen von
„Liebe“ zu Sigmund und seinem Geschlecht geleitet. Sigmund war
ein H äuptling von dem Idealtyp der christlichen Wikingerzeit:
ehrliebend, niemals einen Strohhalm seines Rechtes aufgebend und
immer imstande, seine Sache durchzufechten, offen, tapfer, ge­
wandt — recht ein Mann zum Bewundern und Gedenken. Nach
einem Leben in ununterbrochenem Kam pfe um die Vorherrschaft
auf den Färöern wird er, nachdem er mit Mühe und N ot einem
nächtlichen Überfall entkommen ist, ermordet. Die Zeit vergeht,
und eines Tages erscheint in Thurids H aus Thrond von G ata, der
für seinen Ziehsohn Leif um Thora wirbt. Thrond war ein Mann

34
von anderem Schlag, einer von denen, die zum Dreinhauen bereit
sind —wenn sie erst das Opfer in ihre Ränke eingesponnen haben,
die mit Verschlagenheit Pläne schmieden und immer andere dazu
bringen, die Gefahr und die Schande bei der Ausführung auf sich
zu nehmen; durch Zwang Christ geworden, war er ein Abtrünniger,
der nicht nur die Bräuche des alten Glaubens in seinem täglichen
Leben ausübte, sondern sich noch mit der schwarzen Kunst be­
sudelte. Thrond war Sigmunds erbittertster Gegner gewesen; er
war es gewesen, der die Tötung von Sigmunds Vater bewirkt
hatte, und auch der Überfall, der mit Sigmunds Tode endete, war
von ihm geleitet. Und doch stellt Thora Leif, dem Bewerber, in
Aussicht, daß sie seinen Antrag annehmen will, wenn er und sein
Ziehvater ihr eine Möglichkeit der Rache für den Vater schaffen.
Und sie hält ihr Versprechen, sie heiratet Leif und sieht als Lohn
drei Männer getötet, ihrem Vater zu Ehren.
Noch einmal treten diese beiden Frauen in der Geschichte der
vornehmen Färöer auf. Es geschieht, daß Sigmunds Vettersohn bei
einem Aufenthalt bei Sigurd Thorlakson, einem Verwandten von
Thrond, getötet wird. Sigurd hat den Mörder sofort nieder­
gehauen, und da in dem unglücklichen Augenblick nur diese drei
anwesend waren, fällt ein Schatten von Verdacht auf den Wirt.
Die bloße Möglichkeit, daß einer von Sigmunds Verwandten er­
schlagen und ungerächt liegt, genügt, um Thurid und Thora Tag und
Nacht in Unruhe zu halten. Der arme Leif, der in der Sache nichts
unternehmen will oder kann, hört daheim nichts als Hohn und
Spott. Als dann Sigurd Thorlakson in seiner Verblendung für
seinen Bruder um Thurid wirbt, gibt ihre Tochter ihr den guten
R at: „Wenn ich Euch raten soll, gibt es hier keine Ablehnung;
wenn Ihr an Rache denkt, könntet Ihr keinen besseren Köder
bekommen.“ „Ich brauche meiner Mutter nicht Worte auf die
Lippen zu legen“ , fügt sie hinzu. Das Geplante geht seinen Gang.
Sigurd wird zu einer Besprechung mit Thurid eingeladen. Sie
begegnet ihm vor dem H ofe und bietet ihm einen Sitz neben sich
auf einem Baumstumpf. Er will das Gesicht dem Hofe zu kehren,
sie setzt sich entschlossen umgekehrt mit dem Rücken zum Hofe
und mit dem Gesichte nach der Kapelle des Hofes. Sigurd fragt,
ob Leif zu Hause sei - nein, er sei nicht zu Hause; ob Thurids
Söhne zu Hause seien —ja, sie seien zu Hause; und es dauert nicht
lange, bis diese und Leif sich zeigen und Sigurd mit einer tödlichen
Wunde heimschicken.

35
Das waren Thurid, „die große Witwe“ , und Thora, „von allem
Volke als die edelste Frau gepriesen“ . Ihre Größe lag nicht so sehr
in ihrer aufrichtigen und treuen Liebe, sondern darin, daß sie ver­
standen, was diese Liebe forderte, und daß sie diese Forderungen
allem zum Trotze durchsetzten. Die Frage, die an uns gerichtet
wird, ist nicht, wie uns diese beiden gefallen, sondern ob wir im­
stande sind, uns das lobende Urteil über die Liebe der beiden
Frauen zu eigen zu machen, ohne Vorbehalt, so wie es dasteht.
Bei einer näheren Betrachtung von Egils Liebe und Schmerz
finden wir auch noch einige charakteristische Züge, die geeignet
sind, unsern ehrlichen Glauben an das allgemein Menschliche zu
trüben. Von Egil wird erzählt: Nachdem er für die Zukunft seines
Sohnes gesorgt und ihm einen Sitz in einem Hügel bereitet hatte,
mit dem er wohl zufrieden sein konnte, habe der alte Streiter nun
selber sterben wollen; aber seine kluge Tochter, Thorgerd, gab ihm
seine Lebenslust wieder, indem sie ihm vorhielt, daß nichts den
Jüngling so ehren würde wie ein Ruhmesgedicht, und sie ermun­
terte ihn auf diese Weise, ein Klagelied zu dichten. Zum Glück ist
dieses Lied, worin Egil die Schmerzenslast von sich warf, uns er­
halten geblieben.
Es liegt ein tiefer Sinn darin, daß dieses schönste Gedicht, das
uns die Vorzeit geschenkt hat, ein Gedicht von Sippe und Sippen­
liebe ist, und daß gerade Egil, der altertümlichste von allen H el­
den der Saga, sein Dichter ist. Leider erschwert uns die Form im
allerhöchsten Grade das Verstehen und den Genuß dieses Bekennt­
nisses. Egil war nicht nur als Charakter bedeutend, er war zu­
gleich das, was wir einen Dichter nennen, und seine Seele ergoß
sich unmittelbar in Verse. Die „Kenningar“ , Umschreibungen, die
ein wesentlicher Bestandteil der alten Poesie waren, fallen von
Egils Lippen wie Bilder, die des Dichters persönliche Stimmungen
und Gefühle offenbaren. Aber die poetischen Bezeichnungen der
alten Skalden sind unsern Ohren so fremd, daß es uns große
Mühe kostet, uns in ein solches Verhältnis zu ihm zu setzen, daß
seine Bildersprache Leben und Bedeutung gewinnt. H at man aber
die Geduld aufgebracht und sich so weit mit den verkünstelten
Metaphern des Skalden vertraut gemacht, daß man verstehen
kann, was sich so schwer der Seele des Dichters entringt, so wird
man fühlen, wie sich das Leid dieses beraubten Vaters hart und
dumpf von Vers zu Vers weiterschleppt.
Er klagt, daß der Schmerz seine Zunge bindet. „Wenig Aussicht

36
ist da, Odins Raubgut zu finden, schwer läßt es sich aus dem Ver­
ließ des Schmerzes hervorholen - so geht es dem Trauernden.“
Egil wendet das Bild von Odin, der mit unsagbarer Mühe aus der
Felsenkammer des Jöten den Skaldentrank - den Met der Inspi­
ration - holte, auf sich selbst an, der mit hartem Kam pfe durch
die Wände des Schmerzes seinem Ausdruck einen Weg erzwingt.
„D as Meer rauscht vor der Tür da unten, wo das Helschiff des
Gesippen angelegt hat.
Mein Geschlecht neigt sich zum Falle wie des Waldes sturm­
gepeitschte Bäume . . .
Grimmig war die Lücke, die die Woge brach in den Sippschafts-
zaun meines Vaters; ungefüllt, weiß ich, und offen steht die Sohnes­
bresche, die die See mir schlug.
Vieles hat mir Ran 1 geraubt. Und ich stehe arm an Herzens­
freunden. Meiner Sippe Bande hat die See zerrissen, einen straff
gedrehten Strang aus mir selber.
Und ich sage dir: könnt ich meine Sache mit dem Schwert ver­
folgen, da wäre es um den Metbrauer 2 getan. Könnte ich . . . , da
ginge ich zum K am pf mit Ägirs Dirne 3. Doch zu rechten mit des
Sohnes Mörder, fühlt ich, hatte ich keine Macht. Alle Welt sieht,
wie leer es geworden hinter dem alten Manne, wenn er einher-
sdireitet.
Mir hat das Meer vieles geraubt — bitter ist es, gefallene Ge­
sippen aufzuzählen —seit er, der als Schild des Geschlechtes stand,
aus dem Leben entwich auf die Wege der Seelen.
Selber weiß ich’s: In meinem Sohn wuchs kein schlechter Mannes­
keim heran.
Was sein Vater sagte, hielt er in Ehren, wenn das ganze Volk
auch anderen Sinnes war. Er hielt mich aufrecht in meinem Heime,
stärkte meine Kraft gewaltiglich. Oft kommt mir in den Sinn, daß
ich bruderlos bin. Wächst der Kam pf, so sinne ich, spähe aus und
denke, welcher andere Mann mir wohl zur Seite stehe, mit Mut
zu kühner Tat, wie es so oft mir not tut . . .
Zaghaft wird zum Flug, wem Freunde fehlen.“
Das sind Worte, die in ihrer großen Schlichtheit zu allen Zeiten
wiederholt werden können - jedenfalls so lange das Leben noch
ein Kam pf bleibt; und ein höheres Lob gibt es wohl nicht für ein
solches Gedicht.
Die folgenden Verse bestehen - soweit sie noch verständlich
1 Göttin des Meeres. - 2 Agir, der Gott des Meeres. - 3 Ran.

37
sind - aus Variationen über diese Grundgedanken: Auf niemanden
ist Verlaß, denn die Menschen von heute erniedrigen sich und las­
sen sich willig mit klingender Münze für erlittene Kränkungen
bezahlen, anstatt Radie zu fordern für das Blut des Bruders. „Wer
einen Sohn verloren hat, muß einen anderen zeugen - kein ande­
rer kann den verlorenen Sprößling ersetzen. Mein H aupt ist ge­
beugt“ , sagt er, „seit er, der zweite meiner Söhne, vor dem Brand
der Krankheit fiel, er, dessen R uf unbefleckt war. Ich hatte Ver­
trauen zu dem Gotte, aber er brach seine Freundschaft, und jetzt
ist meine Lust, ihn zu verehren, gering.“ - Trotz dieser Bitterkeit
bleibt er doch eingedenk, daß er die Gabe der Dichtkunst erhalten
hat und eine Seele, die die Ratschläge der Feinde zu entdecken
weiß, und er vergißt nicht, daß diese Herrschaft über das Wort,
sein Trost in manchem Unglück, eine Gabe des Gottes ist, der ihn
verraten hat. Finster blickt er in die Zukunft: „Ich bin dicht um­
ringt, Hel steht am Vorgebirge, aber gutwillig mit heiterem Sinn
will ich sie erwarten.“
Im Grunde ist die erste Hälfte des Gedichts vollkommen zeitlos;
der Leser braucht, um es zu verstehen, nicht an eine ferne Epoche
und eine ferne Kultur zu denken. N ur die Form, die Form allein,
verknüpft es mit Egil, der Skaldendichtung und der Exegese der
Gelehrten. Sogar Egils leidenschaftlicher Ausbruch gegen die hohen
Mächte, die die Herrschaft in dieser Welt an sich gerissen haben,
berührt uns kaum als fremd. Im Gegenteil, wir werden vielleicht
diese Worte als echt menschlich preisen und ihnen die ehrenvolle
Bezeichnung „Modernen Geistes“ verleihen.
Aber unsere Schwäche für alles, was nach Tltanentrotz klingt,
darf unsere Augen nicht blind machen für die eigentümlichen Aus­
drücke, in welchen dieser bei Egil hervortritt. Seine Verse äußern
keine instinktive Auflehnung gegen das Schicksal, sondern tiefe
Sehnsucht nach Rache und Wiederaufrichtung. Er beklagt, daß er
außerstande ist, seine Sache zu verfolgen, sein Recht durchzusetzen.
Ist das wirklich so zu verstehen, daß Egil nur, weil er allein in
der Welt steht, ohne Gesippen und Gefolge, seine Rachegedanken
aufgibt? Wenn man im Innern die Kraft vermißt, gegen einen Gott
zu kämpfen, hat es dann einen Sinn, mit einigen treuen Freunden
und Verwandten als Rückendeckung aufzutreten? So mögen oder
müssen wir fragen, und indem wir diese Frage stellen, wird unsre
Sympathie einer weichen, poetischen Stimmung Platz machen, die
Verzicht auf jedes Verständnis bedeutet.

38
Der Schmerz kann den Menschen immer so in die Extreme
seines Wesens hinaustreiben, daß seine Worte sich scheinbar wider­
sprechen, aber der Widerspruch des Gefühls ist nicht Sinnlosigkeit,
sondern hat seine Erklärung darin, daß die beiden einander wider-
streitenden Richtungen sich an irgendeinem Punkt der Seele kreu­
zen. Manchmal werden die Gefühle in so hohem Grade gesteigert,
daß sie miteinander unvereinbar erscheinen, aber der mitfühlende
Zuhörer versteht, daß er kein Recht hat zu kritisieren, bevor er
die Richtungen bis zu ihrem Kreuzungspunkt verfolgt hat. In Egil
besteht ohne Zweifel eine sehr enge Verbindung zwischen den
scheinbaren Widersprüchen. Die beiden Verse folgen nicht geistes­
abwesend aufeinander. Es ist ein innerer Zusammenhang zwischen
dem Trotz den Göttern gegenüber und dem Ausbruch der
Schwäche beim Anblich der eigenen Vereinsamung, aber wir kön­
nen sinnen und grübeln, solange wir wollen: wirkliches Verständ­
nis für Egils Gedanken - daß er sich dem Tod überlegen fühlen
würde, wenn er einen großen Kreis von Verwandten um sich hätte
- läßt sich nicht durch einfache Vertiefung in diese Zeilen ge­
winnen; das läßt sich nur gewinnen, wenn Egil und seine Zeit­
genossen uns die Lösung in die H and geben. Für Egil scheint das
Leben sich als ein Rechtshandel darzustellen, wo der Mann mit
den vielen Verwandten zu seinem Rechte kommt, weil er eine
Schar eidesbereiter Männer hinter sich hat, deren Eide schwer
genug wiegen, um seinen Gegner zu Boden werfen zu können.
Wir wollen uns einmal vorstellen, daß sein Ausdruck: „seine Sache
verfolgen“ - nicht nur ein poetisches Bild darstellt, sondern daß
das ganze Leben mit all seinen Aufgaben einem Rechtshandel glich,
wo ein Mann mit einer großen und starken Sippe seinen Willen
und sein Glück körperlich und geistig fördern und Macht über
seine Umgebung nicht nur durch Kam pf, sondern auch durch Eide
gewinnen konnte, vermöge der Sippenmacht, die er und die Sei-
nigen besaßen. Wir wollen uns weiter vorstellen, daß dieses Ver­
trauen in die Macht der Sippschaft und die H ilfe der Verwandten
so stark ist, daß es über das Leben hinausgreift und den Tod in
seine Gewalt mit einschließt, daß es sich zumutet, Götter zum
Gericht laden und sie niederschwören zu können, ja, Himmel und
Erde zu erschüttern. Dann gewinnen Egils Worte einen neuen
Sinn; sie verlieren nichts von ihrem Gewicht, aber sie werden alles
andere als „modern“ . Der 'Htanentrotz schwindet —oder schwindet
nahezu - und anstatt dessen tönt ein halb verzweifelter Schrei aus

39
einer unglücklichen Menschenseele. Dann liegt das Paradoxon nicht
dort, wo wir es zuerst vermuteten, sondern in einer ganz anderen
Richtung.
Und lesen wir nun von diesen Worten vorwärts und rückwärts,
so erhalten die anderen Verse, die uns zuerst so glatt auf der
Zunge lagen, eine fremdartige Kraft und Gewaltsamkeit — nicht
nur, wo die Rede davon ist, daß ein Strang aus ihm gerissen, eine
Lücke gehauen worden ist, sondern auch, wo er der H ilfe des
Sohnes gedenkt und seinen eigenen Mißmut verrät, wenn er im
Kam pfe nach einem späht, der helfen soll. Es wäre sehr merk­
würdig, wenn wir nicht an Stelle des ruhigen Genießens der Worte
eine Unsicherheit in uns spürten, die uns bei jeder Zeile zögern
läßt. Die Worte verflüchtigen sidt, weil wir selbst unsern Stand
verloren und keinen neuen gewonnen haben. Herausgerissen sind
sie. Unsere Phantasie flattert unsicher fort von der übertragenen
Bedeutung, die uns zuerst als die einzig mögliche erschien, und
umschwirrt den Gedanken einer wirklichen Verblutung — doch
ohne einen H alt zu gewinnen. Und unsere Unsicherheit muß an-
wachsen, wenn wir entdecken, daß Egils Bilder von der Sippe als
einem Zaun, wo Pfahl an Pfahl steht, vom Tode als einer Lücke
in der Sippe und in den Nachlebenden, daß diese Bilder alltäglich
sind, gewöhnliche Illustrationen, man möchte beinahe sagen: tech­
nische Hilfsmittel. Wir können uns der mächtigen Stimmung des
Gedichtes nicht ergeben, bevor wir genau erfassen, worin die
Lücke, die Bresche besteht; welche Bedeutung hat das Wort „hel­
fen“ ? Wir ahnen nun, daß wir die Bedeutung aller Wörter aufs
neue lernen müssen.
Hier bricht unser Glaube an das ursprüngliche allgemeine Ge­
fühl als Verständigungsmittel zwischen Menschen verschiedener
Kulturen für immer zusammen. Durch bloße Sympathie oder durch
Intuition können wir uns den Weg zum Verständnis nicht er­
zwingen. Es bleibt uns kein anderer Ausweg, als umzukehren und
von dem Äußeren n a h innen zu dem allgemein M enshlihen vor­
zudringen.
Kurz gesagt, wir müssen mit der Sippe anfangen, mit dem
Stamm, dem G e sh le h t: einer Sammlung von Individuen, die in
dem Grade zu einer Einheit verbunden sind, daß sie ansheinend
gar n ih t selbständig handeln können. Was das für ein Gefühl ist,
das sie so vereinigt, muß eine spätere Frage werden; die H aupt­
sache ist hier, daß der einzelne n ih t handeln kann, ohne daß alle

40
in und mit ihm handeln; ein einzelnes Individuum kann nicht
leiden, ohne den ganzen Kreis in Mitleidenschaft zu ziehen. So
absolut ist der Zusammenhang, daß der einzelne gar nicht für sich
existieren kann; sobald das Band gelockert wird, sinkt er abwärts
als das unglücklichste aller Geschöpfe.
Wir können uns mit dem einzelnen Menschen gar nicht ver­
ständigen. Hier liegt der Unterschied zwischen der hellenischen
und der germanischen Kultur. Der Hellene steht uns näher, weil
wir unmittelbar zu ihm gehen, mit ihm über das menschliche Leben
von Mensch zu Mensch sprechen können, uns von ihm in die —wie
es uns scheint - fremdartige Welt, in der er lebt, einführen lassen;
und aus seinen Äußerungen und Ausdrücken können wir uns einen
Begriff davon bilden, wie er auf das, was ihm begegnet, reagiert.
Der „B arbar“ rührt sich nicht. Er steht starr und abweisend. Wenn
er spricht, haben seine Worte keinen Sinn für uns. Er hat einen
Mann getötet. „Warum hast du den Mann getötet?“ fragen wir.
„Ich tötete ihn aus Rache.“ „Wieso hatte er dich beleidigt?“ „Sein
Vater hatte meinem Vaterbruder ein häßliches Wort gesagt, da
forderte ich die Ehre, die er uns schuldig w ar.“ „Warum hast du
nicht dem Beleidiger selbst das Leben genommen?“ „Dieser war
ein besserer M ann.“ Je mehr wir fragen, je unverständlicher wird
er uns. Er erscheint uns wie eine Maschine, die durch Prinzipien
getrieben wird.
Der Hellene existiert als einzelner, als Individuum innerhalb
einer Gesellschaft. Das germanische Individuum existiert nur als
Repräsentant, nein, als Personifikation eines Ganzen. Man könnte
sich vorstellen, daß eine starke seelische Bewegung das Individuum
aus dem Ganzen herauszerren, es sich selber fühlen und aus sich
selber reden lassen müßte. Aber gerade das Umgekehrte geschieht:
je mehr die Seele in Bewegung gesetzt wird, desto mehr geht die
Persönlichkeit in die Sippe auf. Im selben Augenblick, wo der
Mensch am leidenschaftlichsten und rückhaltlosesten seinen Ge­
fühlen nachgibt, nimmt die Sippe den einzelnen ganz und gar in
ihren Besitz. Egils Klage ist keine Klage eines Vaters über seinen
Sohn; ein Geschlecht klagt stöhnend durch die Person des Vaters.
Aus dieser Breite des Gefühls steigt das überwältigende Pathos des
Gedichts empor.
Wenn wir zu einem wirklichen Verständnis von Männern wie
Egil gelangen wollen, müssen wir fragen: Was ist es für eine ver­
borgene Kraft, die Verwandte untereinander unzertrennlich macht?

41
Zuerst erfahren wir dann, daß sie einander „Freund“ 1 nennen,
und eine sprachliche Analyse dieses Wortes sagt uns, daß es be­
deutet: „Die (einander) lieben“ 2; damit ist uns aber nicht ge­
holfen, denn die Etymologie sagt uns nichts davon, was „lieben“
bedeutet. Wir kommen ihnen vielleicht näher, wenn wir den ety­
mologischen Zusammenhang beachten zwischen dem Wort „Freund“
und den beiden anderen Worten, die in der alten Gesellschaft eine
große Rolle spielen: „frei“ und „Friede“ . In „Friede“ haben wir
die eigene Definition der alten Verwandten („Freunde“ ) von der
Grundstimmung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Mit „Friede“
meinen sie etwas in ihrem Innern, eine Kraft, die sie zu „Freun­
den“ untereinander und zu „Freien“ der übrigen Welt gegenüber
macht. Aber natürlich können wir auch hier nicht die Bedeutung
des Wortes als unmittelbar gegeben hinnehmen, denn die Jah r­
hunderte sind nicht spurlos über dieses kleine Wort dahingegangen.
Während Wörter wie „R oß“ , „Wagen“ , „H au s“ und „Kessel“
einigermaßen unberührt von allen kulturellen Wandlungen be­
stehen können, erfahren alle Bezeichnungen von geistigen Werten
in ihrem Verlauf dieselben geistigen Umgestaltungen, die im letzten
Jahrtausend hier im Norden in den Seelen der Menschen statt­
gefunden haben. Und je näher ein solches Wort in seinem U r­
sprung am Mittelpunkt der Seele liegt, um so durchgreifender wird
es seinen Sinn ändern.
Wie kaum ein anderes Wort trägt „Friede“ das Zeichen des um­
formenden Einflusses von Christentum und Humanismus. Wenn
wir den alten Ton des Wortes untersuchen, werden wir darin
etwas Strenges finden, eine Festigkeit, die sich jetzt in Weichheit
verwandelt hat. Der Friede früherer Zeiten war nicht so passiv
wie unser jetziger Begriff, er enthielt weniger Unterwerfung, mehr
Wille. Er barg auch ein leidenschaftliches Element in sich —
„Freude“ 3 - , das jetzt in Quietismus untergangen ist. Aber soviel
sagt das Wort unzweideutig, daß die Liebe, die diese Verwandten
verband, nicht im modernen, gefühlsvollen Sinne aufzufassen ist;
der Grundton der Verwandtschaft („Freundschaft“) ist Sicherheit.
1 Anm. d. Übers.: Dänisch F r æ n d e , ein Wort, das sonst mit „Ver­
wandter“ übersetzt werden muß. Isländisch fr œ n d i, angelsächsisch fre o n d ,
mittelhochdeutsch v riu n t.
2 Anm. d. Ubers.: Wahrscheinlich altes präsentisdies Partizip, wörtlich
„liebend“ ; ähnlich „Feind“ (englisch fien d ) = hassend.
3 Anm. d. Übers.: Dänisch G am m en , meist altertümlich für Festfreude
unter Freunden gebraucht.

42
Friede herrscht unter den Verwandten (Freunden). Das bedeutet
in erster Linie gegenseitige Unantastbarkeit. So stark auch die ver­
schiedenen Gesippenwillen aufeinander prallen und miteinander
ringen mögen, so hartnäckig die einzelnen Köpfe, je nach dem
Maß ihrer Weisheit, sein mögen, nie kann von Streit in anderem
Sinne die Rede sein, als daß Gedanken und Gefühle sich zum
Gleichgewicht durcharbeiten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
gute Verwandte gründlich uneinig werden konnten; wie aber auch
die Sache lag, die Entscheidung konnte — sollte — mußte not­
wendigerweise in Frieden und zum Frieden ausfallen.
Jeder Zwist war ohne Stachel. Zwei Verwandte konnten nicht
die H and gegeneinander erheben.
Sobald ein Mann Verwandtschaft witterte, fielen seine Arme
nieder. Der Schluß der Saga von Björn Hitdoelakappi erhält einen
gewissen heroisch-komischen Anstrich gerade durch diese Tatsache,
Björn fiel gegen Thord Kolbeinson und seine Begleiter nach einem
heldenmütigen Kam pf. Die Ursachen der Feindschaft zwischen den
beiden waren viele und vielerlei, man kann gleichwohl ruhig sagen,
daß Björn alles getan hatte, was er nur konnte, um Thords ehe­
liches Verhältnis zu erschüttern. Unter den Gegnern spielt Thords
junger Sohn, Kolli, eine hervorragende Rolle. D a sagt Björn in
dem Augenblick, wo er auf den Knien liegend sich verteidigen
muß: „Du gehst heute hart vor, K olli.“ „Ich weiß nicht, wen ich
hier schonen sollte?“ antwortet der Jüngling. „D as mag sein. Deine
Mutter hat dir wohl eingeschärft, mich nicht zu schonen; aber es
scheint mir, daß du nicht gerade in Sippenkunde deine Stärke hast.“
Und Kolli antwortet: „Ziemlich spät kündigst du es an, daß wir
zwei nicht frei zueinander stehen“ , und mit diesen Worten gab er
jede Beteiligung am Kam pfe auf.
Selbst in den isländischen Sagas aus der Verfallszeit haben wir
sehr wenige Beispiele dafür, daß ein Verwandter sich auf Unter­
nehmungen einläßt, die zu Sippenkonflikten führen können. Der
keineswegs sympathische Färöerhäuptling Thrond von G ata wird
mit Geld verlockt, sich gegen seine Vettern zu stellen; aber bevor
er sich dazu hergibt, opfert er dem Rechtsgefühl seinen Tribut,
indem er dem Versucher sagt: „D as kannst du nicht im Ernst
meinen.“ Wenn wir an einer anderen Stelle lesen, daß ein Mann
schwer verblendet gewesen sein muß, weil er sich an einem Kam pf
beteiligte, wo seine eigenen Söhne sich auf der Gegenpartei be­
fanden, kommt in den Worten eine Mischung von Staunen und

43
Unwille deutlich zum Vorschein, die stärker spricht als die schärfste
Verurteilung, denn hinter diesem Staunen liegt der Gedanke: Wie
k a n n er so etwas tun?
Es ist schwierig, einen wahren Eindruck von den tiefsten Grund­
gesetzen im Menschenleben zu erhalten, die den eigentlichen Kern
des Gewissens bilden; noch schwieriger aber,diesen Eindruck ande­
ren lebendig zu vermitteln. Durch bemerkenswerte Beispiele läßt
sich nichts erläutern. In Büchern über große und gute Taten wird
eine Eigenschaft wie der Friede niemals ihrer Bedeutung gemäß
vertreten sein; sie liegt zu tief. Sie äußert sich nicht unmittelbar in
den Gesetzen, sie ist die Grundlage aller Sitten und Gebräuche,
tritt aber nie selbst ans Tageslicht.
Will man im Ernst wissen, was das Stärkste in den Menschen
ist, so muß man das tägliche Leben mit all seinen Hemmungen,
mit all seiner Zurückhaltung in kleinen Dingen abtasten. Ist man
aber dann einmal der ununterbrochenen Kette von Selbstbeherrschung
und Selbstbeschränkung gewahr geworden, die in dem Leben arbei­
tender Menschen den Zusammenhang bildet, da mag es wohl Vor­
kommen, daß man fast erschrickt vor der Macht, die zutiefst in
uns sitzt und uns nach ihrem Willen lenkt. H at man sidi durch den
geistigen Nachlaß unsrer Vorfahren durchgearbeitet, so wird man
unweigerlich, scheint mir, eine beklemmende Ehrfurcht vor diesem
„Frieden“ mitnehmen. Die Nordländer erzählen immer von K am pf
und Streit, Zank und Scherereien - bald gilt der Streit einem
Königreich, bald einem Ochsen, bald ist es der ungebändigte Über­
mut eines einzelnen, dann schonungslos vom Schicksal verknüpfte
Zufälligkeiten, die die Menschen in einen chaotischen Streit ver­
wickeln - aber wir merken, daß selbst im leidenschaftlichsten A uf­
ruhr jeder einzelne an einem bestimmten Punkt seine Feinfühlig­
keit bewahrt: jede Begebenheit hat Beziehung zum Frieden.
Hinter jeder Gesetzesbestimmung steht deutlich eine Furcht —
eine heilige Scheu - davor, an einer bestimmten Sache zu rütteln,
nämlich an den Banden der Verwandtschaft. Wir fühlen, daß alle
Gesetzesparagraphen aus der Voraussetzung herauswachsen, daß
Verwandte nicht gegeneinander Vorgehen wollen und können, son­
dern einander stützen müssen.
Als die Kirche die Gesetzgebung in ihre Beaufsichtigung ein­
bezog, mußte sie als erstes einen wesentlichen Mangel des alten
Rechts feststellen: dieses kannte keine Bestimmungen betreffend
Mord unter Verwandten. Dieses Verbrechen wurde deshalb der

44
geistlichen Jurisdiktion unterstellt; die Kirche schuf Strafbestim­
mungen, so wie sie auch durch Anpassung lateinischer Wörter Be­
zeichnungen für das Verbrechen schuf.
Als die Gesetzgeber im Mittelalter mutig dem altertümlichen
Frieden auf den Leib zu rücken begannen, um modernen Rechts­
prinzipien einen Platz zu erkämpfen, mußten die Angriffe zuerst
in der Form von Vergünstigungen geführt werden: es wurde einem
Mann erlaubt, sich als unbeteiligt an der Sache seines Verwandten
zu betrachten; es wurde gesetzlich für angängig erklärt, eine Be­
teiligung an der Entrichtung der Geldstrafe, die Verwandten auf­
erlegt war, zu verweigern. Eine jahrhundertelange Arbeit war
nötig, bevor man die stillschweigende Voraussetzung dieses all­
gegenwärtigen Friedens aus dem Gesetz entfernen und erreichen
konnte, daß als Grundlage der Gerechtigkeit die Menschlichkeit
anerkannt wurde.
Eigentümlich genug, gerade in der Übergangszeit, als der Friede
im Begriff war, aus seiner Machtstellung als das eigentliche Ge­
wissen verdrängt zu werden, bekam er einen endgültigen gesetz­
mäßigen Ausdruck, nämlich in den Statuten der mittelalterlichen
Gilden, einer Fortsetzung nicht gerade der Sippe, sondern dessen,
was im Prinzip mit der Sippe identisch war: der alten freien
Friedensgemeinschaffen. In den Gildegesetzen heißt es, daß die
Gildebrüder keinen Streit miteinander haben dürfen; aber für den
bedauerlichen Fall, daß zwischen zweien aus derselben Gilde doch
Zwist entsteht, darf keiner der Streitenden, bei Strafe, aus der
Bruderschaff ausgestoßen zu werden, seinen Bruder vor einen
anderen Richtstuhl als den eigenen der Bruderschaff laden; nicht
einmal im fremden Lande darf ein Mitglied einer Gilde seinen
Handel irgendeiner Obrigkeit oder irgendeinem Richter unter­
breiten.
Die friesischen Bauerngesetze aus dem Mittelalter haben es auch
für nötig befunden, die gegenseitigen Pflichten der Verwandten
in harten und festen Geboten niederzulegen, indem sie vorschrieben,
daß nahe Verwandte - Vater und Sohn, Brüder, Vaterbrüder,
Mutterbrüder, Vaterschwestern oder Mutterschwestern - ihre gegen­
seitigen Streitigkeiten nicht vor Gericht bringen dürfen; sie dürfen
nicht Eid oder Rechtszweikampf zwischen sich aufkommen lassen;
können sie sich aber über Güter und anderes nicht einigen, da soll
einer der nächsten Verwandten zwischen ihnen richten.
Die Bestimmungen der Gilden nähern sich so sehr dem un­

45
geschriebenen Sippengesetz, wie ein lebloses äußeres Gebot sich
dem Gewissen nähern kann, das das Leben in sich trägt. Und sie
geben uns wirklich von dem absoluten Charakter des Friedens,
von seiner Unbedingtheit, einen knappen Begriff. Aber sie können
nicht den seelischen Gehalt des „Friedens“ geben, denn dann hätten
sie, anstatt darauf zu bestehen, daß kein Streit zwischen Brüdern
geduldet werden sollte, einfach bestätigen müssen, daß es nie und
nimmer möglich wäre, daß ein solcher Streit entstünde. Mit ande­
ren Worten: an Stelle eines Verbotes würden wir die Anerkennung
einer Unmöglichkeit haben. Die Gestalten der isländischen Sagas
befinden sich noch in diesem Zustand, obschon wir fühlen, daß der
Zusammenhang der Sippe im Begriff ist, sich zu lockern. Sie be­
sitzen noch, mehr oder weniger unberührt, die unwillkürliche Ehr­
furcht solchen Angelegenheiten gegenüber, die die Sippe als Ganzes
angehen, und eine hochentwickelte Vorsicht und einen Vorbedacht
bei allen Unternehmungen, die nicht mit Sicherheit als außerhalb
der Belange aller Verwandten liegend gedacht werden können.
Selbst die unbesonnensten Charaktere zögern bei Versprechungen
und Verbindungen, wenn sie befürchten müssen, den Interessen
eines Verwandten Abbruch zu tun. Sie schrecken vor solchen Kon­
flikten immer zurück. Der „Friede“ zeigt seine Stärke darin, daß
er keine Tugend ist, keine außerordentliche Anforderung, sondern
gerade eine alltägliche Notwendigkeit, das Selbstverständlichste
von allem, gleich für hoch und niedrig, für heroische und un­
heroische Charaktere. Deswegen erscheinen die Ausnahmen als
etwas Abscheuliches, Unheimliches.
Die Verwandtschaft war nicht die einzige Form von Beziehungen
zwischen Individuen, und, wie klug und behutsam ein Mensch
auch sein Leben einrichtete, er konnte doch nie sicher damit rech­
nen, jedes schmerzliche Dilemma zu umgehen. Er kann denn auch
in eine Lage geraten, wo die Macht des Friedens in ihm augen­
scheinlich auf eine Probe gestellt wird.
So Gudrun. Ihre eigenen Brüder, Gunnar und Högni, haben
ihren Gatten gefällt. Sie klagt ihren Harm in ergreifenden Worten.
Der Dichter der G u d ru n ark v id a läßt sie sagen: „A uf der Bank
und im Bette entbehr ich, den Freund zu sprechen - das wirkten
Gjukis Söhne. Gjukis Söhne wirkten mein Elend, wirkten die
schweren Tränen ihrer Schwester.“ Die nordischen Lieder legen ihr
auch unheilverkündende Worte in den Mund, ja, es klingt wie eine
Verfluchung, wenn sie sagt: „Dein Herz, Högni, sollten Raben zer­

46
reißen auf weitem Felde, wo du vergebens nach Menschen um
H ilfe riefest.“ Aber die Sage hat keinen Platz auch nur für die
kleinste Handlung Gudruns zum Nachteil der Brüder. Mit R at
und Tat sucht sie Atlis Rachepläne gegen Gunnar und Högni zu
hindern, und da alle Warnungen vergebens sind, läßt sie Atli
schwer für die Tat büßen. Die nordischen Dichter, die ihren
Schmerz so stark hervorheben, lassen diesen völlig tatenlos bleiben
- sie versuchen nicht einmal, den Gegensatz durch irgendwelchen
Seelenstreit in Gudrun zu mildern; hier ist kein Bedenken, kein
Wägen. Der Friede war ihnen das eine Unbedingte. Der Dichter
läßt Högni auf Gudruns leidenschaftlichen Ausbruch mit den tie­
fen Worten antworten: „Und zerrissen die Raben mein Herz,
desto tiefer würde dein Kummer.“
Die Sigurdlieder sind Dichtungen nordischer Männer über einen
alten Stoff; sie geben uns germanische Gedanken, so wie sie in
norwegischen oder isländischen Seelen wiedererlebt wurden. Durch
und durch isländisch im Stoff wie im Wort ist die Tragödie, die zu
Gisli Sursons unglüddicher Friedlosigkeit führt. Die beiden Brüder,
Gisli und Thorkel, die Sursöhne, werden vom Erzähler als recht
verschieden im Charakter dargestellt, und in ihren Sympathien
gehen sie auch auseinander. Thorkel ist ein naher Freund von
Thorgrim, dem Gatten ihrer Schwester; Gisli fühlt sich innerlich
mit Vestein verbunden, dem Bruder seiner eigenen Gattin Aud.
Zwischen den beiden Halbschwägern ist das Verhältnis augen­
scheinlich von früher Zeit her ziemlich gespannt gewesen, und
schließlich wird Vestein von Thorgrim getötet. Gisli übt heimlich
Rache, indem er nachts in Thorgrims Haus geht und ihn im Bett
durchbohrt. Die Rachewalter Thorgrims folgen einem natürlichen
Verdacht und besuchen Gisli, noch bevor er aufgestanden ist;
Thorkel, der bei seinem Schwager wohnt, geht zuerst hinein, sieht
den Schnee auf Gislis Schuhen, die auf dem Fußboden stehen, und
schiebt sie mit dem Fuß schnell unters Bett. Die Schar muß un­
verrichteter Sache wieder davonziehen; aber später einmal verrät
sich Gisli in einem übermütigen Vers als Täter, und man reitet zu
ihm mit der Thingladung. Thorkel ist wiederum mit in der Schar;
aber unter einem falschen Vorwand verläßt er seine Genossen,
lange genug, um Gisli warnen zu können. Unterwegs kommt die
Schar zu einem H ofe, wo er ein Guthaben eintreiben zu müssen
behauptet, und er benutzt die Gelegenheit, seinen Schuldner zu
mahnen. Aber während sein Pferd gesattelt vor der T ür steht und

47
seine Begleiter denken, daß er in der Stube sitzt und das Geld
zählt, reitet er auf einem geliehenen Pferd in den W ald hinauf,
wo sein Bruder sich versteckt hält, und als er nun endlich seine
verschiedenen Geldsachen geordnet hat und den Weg fortsetzt,
wird er auch noch von verschiedenen kleinen Reiseunfällen be­
troffen, die genügen, um das Unternehmen sehr zu verzögern.
Gislis Hieb war für Thorkel eine ernste Sache. Er sagt selbst zu
Gisli: „D u hast mir keine kleine Kränkung zugefügt, als du Thor-
grim tötetest, meinen Schwager und Genossen, meinen vertrauten
Freund.“ Die großen Verpflichtungen, die Sitte und Brauch den
Freunden untereinander auferlegten, sind ein Zeugnis davon, wel­
chen Ernst man in solch nahes Verhältnis hineinlegte, in wie hohem
Grade man sich selbst und den eigenen Willen in der Freundschaft
aufgehen ließ. Thorkels Lage ist deshalb bitterer, als sie uns jetzt
unmittelbar erscheinen mag. Aber die Freundschaft muß dem
„Frieden“ weichen, Thorkel hat keine Wahl. Hier finden wir den­
selben Gegensatz wie in den Gudrunliedern. Thorkels Bitterkeit
und sein Friede stehen einander unvermittelt gegenüber; sie kön­
nen einander nicht so nahekommen, daß sie in Streit Zusammen­
stößen; sie gehören verschiedenen Schichten der Seele an. Uns mag
es vielleicht scheinen, daß ein Glied in dem nüchternen Bericht der
Saga fehlt; aber gerade so, wie die Worte stehen, zeigen sie gute
isländische Psychologie.
Der Friede ist etwas, was unterhalb von allem liegt, tiefer als
alle Neigungen. Er beruht nicht auf dem Willen, in dem Sinne,
daß die Friedensgenossen sich immer wieder entschließen, das Ver­
wandtschaftsgefühl allen anderen Gefühlen vorzuziehen. Weit eher
ist er der Wille selbst. Er ist mit dem Verwandtschaftsgefühl selbst
identisch und nicht bloß etwas, was dieser Quelle entspringt.
Thorkel hat seinen Schmerz, wie Gudrun den ihrigen; aber die
Möglidikeit, daß der Schmerz zweischneidig werden könnte, der
bloße Gedanke, daß man hier Partei ergreifen könnte, ist aus­
geschlossen. Es kann daher nie ein Problem entstehen. Den Zu­
stand, daß Verwandte gegen Verwandte auf treten, kennt die Dich­
tung nur als Rätsel oder Grauen, als eine Folge von Irrsinn oder
als etwas Dunkles, Unbegreifliches, etwas, das nicht einmal Schick­
sal ist.
Die Gedanken der Menschen haben von alters her jenes Faktum
umkreist, daß es durch den Zufall geschehen kann, daß ein Mann
seinen Verwandten tötet. In dem Bilde vom Vater und Sohn, die,

48
ohne sich zu kennen, sich im Kam pfe treffen und gegenseitig ihr
Blut vergießen, ist diese traurige Möglichkeit schon früh poetisch
behandelt worden. Einen großartigen Überrest - leider nur einen
Torso - von diesen Dichtungen haben wir in dem deutschen
Hildebrandslied, wo der Vater bei der Heimkehr von einem lan­
gen Aufenthalt im fremden Lande seinen Sohn trifft und von ihm
gegen seinen Willen zum Zweikampf gereizt wird. Wir begegnen
dem Paare wieder bei Saxo als zwei Brüdern, Elalfdan und Hil-
diger. Im Hildcbrandsliede ist es die Ungläubigkeit des Sohnes
gegenüber der Verwandtschaftserklärung des Vaters, die das Unheil
herbeiführt; der Vater muß den K am pf aufnehmen oder ehrlos da­
stehen. Bei Saxo wird die innere Kraft des Auftrittes dadurch ge­
schwächt, daß Hildiger gänzlich unbegründet sein Wissen von ihrer
Verwandtschaft für sich behält, bis er tödlich verwundet am Boden
liegt. Übrigens geht Saxos Sage deutlich auf dieselbe Situation
zurück, die in dem deutschen Liede bewahrt worden ist. Hildiger
versucht durch List, das Schicksal abzulenken, indem er stolz den
Holmgang mit einem unerfahrenen Kämpen ablehnt. D a aber
H alfdan unverdrossen seine Herausforderung wiederholt und eine
Reihe von Gegnern nach der anderen fällt, bringt Hildiger, der
seinen eigenen Ruf durch H alf dans Taten gefährdet sieht, es nicht
länger fertig, die Forderung abzulehnen. Eine isländische Version,
in der Saga von Asmund Kappabani enthalten, stimmt im ganzen
so genau mit Saxos Erzählung überein, daß man eine nahe Ver­
wandtschaft zwischen den beiden annehmen muß; der eine der
Brüder trägt da noch den alten Namen Hildebrand, der andere
ist mit dem Helden der Saga, Asmund, verschmolzen worden. Der
Unterschied zwischen der schlichteren Darstellung des Hildebrand­
liedes und der dramatischen Künstelei in den nordischen Varianten
beruht wesentlich darauf, daß die Sagamänner so viel Wirkung
wie möglich für die Klage am Schluß aufsparen wollten.
Die Erzählung von der schicksalschwangeren Begegnung der bei­
den Verwandten ist, als epischer Stoff betrachtet, nicht spezifisch
germanisch; er läßt sich gegen Westen bei den Kelten und gegen
Süden bis nach Asien hinein verfolgen. Vielleicht, oder sagen wir
wahrscheinlich, stammt er, literarhistorisch gesehen, aus dem Süden
- wichtiger ist es jedoch, zu beachten, daß das Thema stets aufs
neue w i e d e r g e b o r e n worden ist, bei dem einen Sippen­
volk nach dem anderen, ein Beweis dafür, daß dieselben Gedanken
überall auf den Gemütern lasteten. Die Menschen grübelten und

49
forschten über das Rätselvolle in der Weltordnung, daß ein Mann
gegen seinen Willen gezwungen sein konnte, seinem Verwandten
Böses anzutun. Im Germanisdien wird die Frage klar und einfach
gestellt: der Friede war unverletzlich, aber auch die Ehre hatte
ihre absolute Gültigkeit, und die beiden konnten so hart auf­
einanderprallen, daß sowohl Friede wie Ehre zerbrachen und der
Mensch selber mit ihnen. Leider fehlt der Schluß des Hildebrands­
liedes, gerade der Teil, der die gemeinsame Klage der Recken ent­
halten haben muß. Der Verlust ist doppelt schmerzlich, weil diese
gerade den Schwerpunkt des Gedichtes bildete. Saxos Umdichtung
und noch mehr die modernisierte Elegie der isländischen Saga
geben uns nur einen matten Nachklang. Aber selbst in diesen spä­
teren Nachdichtungen meint man ein Pathos ganz anderer Art als
das gewöhnliche zu empfinden: nicht den unerbittlichen Ernst des
Todes, sondern ein tiefes Staunen, das sich zum Grauen steigert;
keine mutige Anrufung des Schicksals mit einem Gefühl von Trost
in der sicheren Überzeugung, daß es für alles eine Genugtuung gibt,
und daß auch für dieses eine Genugtuung kommen wird, wenn die
Nachlebenden etwas taugen, sondern nur Ratlosigkeit, Hoffnungs­
losigkeit. Und dieselben Tone klingen an anderen Stellen durch, so
in der H ervararsaga, wo Angantyr, als er den Leichnam seines
Bruders auf der Walstatt findet, sagt: „Der Fluch ist über uns, ich
bin dein Toter geworden; dessen wird man ewig gedenken; böse
ist der Richtspruch der Nornen.“ In diesen Worten drückt er sein
Gefühl aus, ein Schreckbild zu sein, so verzweifelt sinnlos ist sein
Schicksal, daß es die Gedanken der Nachfahren zwingen wird,
darum zu kreisen, so daß er „zum Lied kommender Geschlechter
werden wird“ . Der Schluß der Hildebrandsklage klingt in Saxos
Umdichtung ungefähr so: „Ein böses Schicksal, das Unglücksjahre
auf die Frohen lädt, begräbt das Lächeln in Schmerz und zermalmt
das Schicksal. Denn klägliches Elend ist es, ein Leben in Kummer
dahinzuschleppen, unter dem Druck sorgenschwerer Tage zu atmen
und von dem Wahrzeichen (om en) geängstigt zu werden. Aber
alles, was die prophetische Bestimmung der Parzen fest knüpft,
alles, was im Rat der hohen Vorsehung geplant wird, alles, was
einmal durch Blide in die Zukunft in die Kette der Schicksale ein­
gegliedert wurde, das wird durch keine Veränderung in den Dingen
der Zeitlichkeit von seiner Stelle gerückt.“
Etwas diesen Zeilen Entsprechendes gibt es nicht in der Saga.
Der erste Teil dieses Gedichts besagt dasselbe wie Saxos Para-

50
phrase: „Niem and weiß im voraus, wie sein Tod werden wird.
Dich gebar Drot in Dänemark, midi in Schweden. Mein Schild
liegt zersplittert an meinem H aupte; da stehen auf gezählt, die ich
tötete; d a“ - gemeint ist vermutlich: auf dem Schilde- „liegt der
Sohn, den ich zeugte und wider Willen ums Leben brachte.“ Wor­
auf dieses anspielt, wissen wir nicht recht. Und dann schließt das
Gedicht mit der Bitte an den Überlebenden, zu tun, „wozu sonst
nur wenige Toter sich bereit finden“ , nämlich den Toten in seine
eigenen Kleider zu hüllen, ein Ausgang, der in seiner romantischen
Sentimentalität gänzlich unnordisch klingt. Hier hat Saxo un­
zweifelhaft eine andere, ursprünglichere Version vor sich gehabt.
Seine Ausmalung der bösen Tage, die in Ängsten verbracht werden,
schließt sich ziemlich eng an alte Gedanken an: eine solche Tat
begräbt alle Hoffnung für die Zukunft und verbreitet unter den
Nachlebenden eine immerwährende Ängstigung. Wie die Worte
ursprünglich in der nordischen Version fielen, darüber Mutmaßun­
gen anzustellen, hat keinen Zweck; aber gerade in Saxos omen
scheint eine echte nordische Vorstellung eingeschlossen zu sein,
nämlich die, daß eine solche Tat ein unheilverkündendes Wahr­
zeichen bildet. Sonst waltet das Schicksal: was geschehen soll, das
wird geschehen; aber hier ist etwas, das außerhalb des Schicksals
fällt: man kann und konnte wirklich sagen, daß das Schicksal der
Verwandten zersprengt war.
Dieselbe hoffnungslose Grundstimmung durchzieht die Beschrei­
bung des Beowulfliedes von dem Schmerz des alten Vaters, als
einer seiner Söhne durch U nfall seinen Bruder in den Tod schickt.
Der Dichter vergleicht ihn mit einem alten Mann, der seinen ge­
liebten Sohn jung am Galgen baumeln sieht — ein verzweifeltes
Bild für einen Germanen - : „D a erhebt er seine Stimme in
Jammersang, als sein Sohn da hängt, den Raben zur Lust, und er
ihm nicht helfen kann, alt, betagt, ihn nicht retten kann. Morgen
um Morgen, immer gedenkt er des Hingangs des Sohnes; einen
Erben an seiner Statt mag er nicht in der Burg erwarten . . . Von
Kummer gequält, sieht er den Weinsaal öde, die Kammer von
Winden durchstrichen, an Freuden leer, im Hause des Sohnes. Der
Galgenreiter schläft, der Held im Grabe. Kein Harfenklang, keine
Festfreude ist im H ofe wie einst. Er geht zu seinem Lager, singt
ein Trauerlied, einsam dem Einsamen; überall auf den Feldern wie
im Hause ist ihm der Raum zu weit. So brauste der Schmerz in
dem Wederfürsten, die Trauer über den Sohn Herebeald; in keiner

51
Weise vermochte er sich durch den Tod des Töters Buße für den
Mord zu verschaffen, auch nicht durch bittere Tat dem jungen
Helden zu vergelten, doch lieben konnte er ihn auch nicht. Kum­
mer band ihn von dem Tage an, wo ihm die Wunde geschlagen
wurde, bis er die fröhliche Welt der Menschen verließ.“

Aber dem Frieden ist dadurch noch nicht Genüge geleistet, daß
die Verwandten einander schonen.
Thorkel Surson war ein schwacher Charakter. Es genügte ihm,
eine schiefe Stellung einzunehmen und unter den Rachewaltern des
Schwagers zu verbleiben. Er sagt zu Gisli: „Ich werde dich war­
nen, wenn ich Kunde erhalte von Anschlägen gegen dich, aber
irgendwelche H ilfe, die mir Unannehmlichkeiten schaffen könnte,
werde ich dir nicht leisten.“ Gisli betrachtet offenbar eine solche
Vorsicht als unehrliches Feilschen mit dem Gewissen. „So wie du
mir hier antwortest, könnte ich dir nie antworten, und so könnte
ich nie handeln“ , erwidert er. Ein Mann reitet nicht mit in der
Schar der Gegner seines Verwandten. Er legt sich nicht auf die
faule Seite, während der Prozeß seines Verwandten stattfindet,
und der Umstand, daß derselbe Verwandte seinen Schwager in der
Nacht ans Bett festgespießt hat, wiegt offenbar nach Gislis Ansicht
nichts. Er geht nicht Schleichwege und läßt dem Verwandten ein
wenig H ilfe zukommen - nein, wenn dieser schließlich gar friedlos
geworden ist, muß er doch mindestens auf einen Zufluchtsort rech­
nen können - scheint Gisli im Ernst zu denken.
Und Gisli hat recht. Der Friede ist etwas Aktives, das Ver­
wandte nicht nur dazu bringt, einander zu schonen, sondern sie
zwingt, sich gegenseitig ihrer Sachen anzunehmen, einander zu hel­
fen, für einander einzustehen, sich auf einander zu verlassen. Unsre
Worte sind in ihrem Gewicht viel zu abhängig von sentimentalen
Assoziationen, um die volle Bedeutung des Verwandtschaftsgefühls
auszudrücken. Die Verantwortlichkeit ist absolut, weil unter Ver­
wandten buchstäblich einer des andern Taten tun muß.
Die Statuten der Gilden lauten so: „Geschieht es, daß ein Bruder
einen Mann tötet, der nicht von St. Knuds Gilde [d. h. von unserer
Gilde] Bruder ist . . . da sollen ihm die Brüder helfen in seines
Lebens N ot, wie sie es am besten können. Ist er am Wasser, sollen
sie ihm helfen mit Boot, Rudern, Schöpfkelle, Feuerzeug und
Axt . . . braucht er ein Pferd, sollen sie ihn mit einem Pferd ver­
sehen.“

52
„Welcher Bruder, da er helfen kann, es aber nicht tut . . . der
soll aus der Gilde heraus und ein Neiding genannt werden.“
„Jeder Bruder soll seinem Bruder in allen Rechtshändeln helfen.“
Das heißt: Wenn ein Bruder eine Sache vor Gericht hat, sollen
zwölf Gildebrüder gewählt werden, ihm dorthin zu folgen und
ihm Beistand zu leisten; die Brüder sollen auch eine bewaffnete
Leibwache um ihn bilden und ihn zu und von der Gerichtsstätte
begleiten, wenn es not tut. Und wenn ein Bruder vor Gericht
einen Eid leisten muß, da sollen ihm durch das Los zwölf Eides­
helfer in der Gilde erkoren werden, und die, die das Los trifft,
sollen ihm männiglich beistehen. Ein Mann, der seinen Bruder nicht
mit dem Eide unterstützt oder der Zeugnis gegen ihn ablegt, muß
großer Geldstrafen gewärtig sein.
Es gibt zwei Arten von Sachen. Zwei Arten von Tötungen, z. B.:
1. Ein Gildebruder tötet einen Fremden. 2. Ein Fremder tötet
einen Gildebruder. Im ersten Fall sorgen die Gildebrüder dafür,
daß der Mörder in Sicherheit davonkommt, zu Pferde oder auf
dem Schiffe. Für den zweiten Fall heißt die Bestimmung so: Kein
Bruder ißt und trinkt oder hält Umgang mit dem Toter seines
Bruders, weder auf dem Lande noch auf dem Schiffe. Die Gilde­
brüder sollen den Erben des Toten zu Rache oder Genugtuung ver­
helfen.
Es ist vielleicht schwierig zu verstehen, daß diese doppelte Ein­
schätzung in bürgerlichen Gesellschaften und nicht in irgendeinem
Freibeuterlager zu finden ist; sie gilt als höchstes Gesetz für an­
ständige, konservative Fortschrittsmänner, Männer, die in jenen
Zeiten sozusagen den Fortschritt in historischer Kontinuität dar­
stellten. Diese Partei-Solidarität im Frieden ist ihre stärkste Ver­
knüpfung mit der Vergangenheit, und der kulturelle Wert dieses
Parteigeistes zeigt sich in der Tatsache, daß er als die treibende
Kraft hinter den Reformbewegungen des Mittelalters stand. Wie
hier die Brüder in den Gilden, waren die Verwandten in dem
Grade von „Liebe“ erfüllt und so eifrig zur Hilfeleistung bereit,
daß sie nicht leicht die Energie erübrigen konnten, um über Recht
und Unrecht zu urteilen. Sie waren nicht von N atur und aus Prin­
zip ungerecht, parteiisch; der Friede und das Rechtsbewußtsein
können ganz gut zusammen gedeihen; aber diese gehören, um ein
Wort zu wiederholen, verschiedenen Schichten der Seele an und
greifen deshalb aneinander vorbei.
Der unnachgiebige Charakter des Friedens wird scharf beleuch-

53
tet durdi das letzte Auftreten des großen alten Egil auf dem
Thing. Es geschah einmal, als Egil alt und etwas beiseite gescho­
ben worden war, daß zwischen seinem Sohne Thorstein und önund
Sjonis Sohn Steinar ein Streit über ein Stück Land ausbrach. Steinar
weidete in seinem Trotz sein Vieh darauf, Thorstein hieb seine
Hirten immer wieder nieder. Steinar verklagte Thorstein, und
jetzt waren die Parteien auf dem Thing. Dann sieht die Thing­
versammlung, daß eine Schar herauf geritten kommt, voran ein
Mann in voller Rüstung: der alte Egil mit achtzig Mann. Er steigt
bei den Thinghütten ruhig vom Pferd, ordnet, was notwendig ist,
geht zum Thinghügel und ruft seinem alten Freund önund zu:
„Geschieht es mit deinem Willen, daß mein Sohn verklagt wird
auf Friedlosigkeit?“ „Nein, gewiß nicht“ , sagt önund, „das ist
nicht mein Wille, dazu schätze ich unsre alte Freundschaft zu hoch;
es ist gut, daß du gekommen bist . . . “ „Wir wollen sehen, ob du
in Wahrheit meinst, was du sagst; nun wollen wir zwei lieber die
Sache in die H and nehmen, als daß die beiden Kampfhähne sich
von eigener Jugend und dem Ratschlag anderer gegeneinander­
hetzen lassen.“ Und als die Sadie dann Egils Schiedsspruch unter­
worfen worden ist, verurteilt er seelenruhig Steinar, auf Buße für
die getöteten Knechte zu verzichten und seinen H of zu verlassen;
vor den Ziehtagen noch soll er aus dem Bezirk sein.
Es liegt etwas Vornehmes, etwas Stilvolles über dem letzten
öffentlichen Auftreten Egils, die Vornehmheit eines edlen, ein­
fachen Charakters. Er nimmt den Ruf zum Schiedsrichter an und
entscheidet die Sache - wie wir ja sehen können, gegen alle ver­
nünftige, wahrscheinliche, berechtigte Erwartung -, als ob nur seine
eigene Partei existierte, und tut dies mit einer Überlegenheit, die
keinen Zweifel übrigläßt, daß er die volle Billigung seines Ge­
wissens hat. Hier steht Egil als der monumentale Ausdruck einer
sterbenden Zeit.
Dieselbe N aivität spricht unmittelbar aus einem anderen alter­
tümlichen Charakter, H allfred mit dem Beinamen der Schwierig­
keitsskalde, dessen Leben aus lauter schwierigen Situationen be­
stand. Er sagte bei einer Gelegenheit, als sein Vater mit seltenem
Takt in einer „Schwierigkeit“ gegen ihn entschied: „Auf wen kann
ich mich verlassen, wenn der Vater versagt?“
Die unmittelbare Aufrichtigkeit, die mit Selbstverständlichkeit
den einseitigen Standpunkt einnimmt, stellt H allfred sowohl wie
Egil außerhalb jedes Vergleichs mit großen oder kleinen Beispielen

54
von Eigennutz und Ungerechtigkeit und macht sie zu Typen, und
nicht nur zu Typen ihrer Zeit, sondern zu Typen einer bestimm­
ten Kultur. So dachte, so handelte —nicht die Ausnahme, nicht die
ausgeprägte Individualität, nicht der etwas über dem Durchschnitt
Stehende - so dachte m a n . Der Friede liegt so tief unter allen
persönlichen Charakterzügen und allen individuellen Neigungen,
daß er sie nur von unten beeinflußt und nicht wie die eine Neigung
oder das eine Gefühl das andere beeinflußt. Die Charaktere mögen
höchst verschieden sein; aber die Abzweigung der Charaktere be­
ginnt erst oberhalb von diesem Urkern der Seele. Egil war ein
Starrkopf, unumgänglich in und außer dem Hause; zu Hause
wollte er befehlen, und einen Friedensschluß, bei dem nicht er die
Bedingungen diktierte, wäre er nicht geneigt gewesen gutzuheißen.
Ein anderer Mann mochte umgänglicher, friedliebender, vergleichs­
williger sein, mochte Zusammenstöße geschickt vermeiden und
Steine des Anstoßes eifrig aus dem Weg räumen; aber er konnte
nur auf der Grundlage des Friedens, der Verwandtschaft, so sein,
wie er war.
Vielleicht ist Askel, der rechtdenkende, friedenstiftende Gode
aus Reykdal, ein etwas zu moderner Charakter, um recht in Egils
Gesellschaft zu passen; aber seine Geschichte, wie sie in der Saga der
Leute aus Reykdal erzählt wird, gibt uns jedenfalls ein anschau­
liches Bild von den Grundregeln der Versöhnung im alten Brauch.
Askel hat das Unglück, einen Schwestersohn zu haben, für den
Streit ein Lebensbedürfnis zu sein scheint, und es wird die Lebens­
aufgabe des Reykdalgoden, diesem Vemund auf den Fersen zu
folgen und seine Händel wieder in Ordnung zu bringen. Er geht
getreu seiner Obliegenheit nach; stets ist er zur Stelle, sobald
Vemund einen seiner großen Tage gehabt hat, um eine Versöhnung
zustande zu bringen und den Schaden, den sein Verwandter an­
gerichtet hat, wiedergutzumachen. Vemunds Taten im großen be­
ginnen damit, daß er sich mit einem reichen, aber schlechten Men­
schen, H anef in Othveginstunga, anfreundet und sich an ihn bindet,
indem er sein Angebot, Vemunds Kind großzuziehen, annimmt.
Natürlich benutzt H anef diese guten Verbindungen, um seine
Schurkereien in größerem Stil als bisher zu betreiben. Er stiehlt
Vieh. Trotz Askels dringendem Ratschlag nimmt sich Vemund der
Sache seines Freundes an; ja, er nutzt verschlagen den hochgeachte­
ten Namen seines Oheims aus, um Männer um sich zu sammeln.
Das Resultat ist ein Kam pf, worin H anef und zwei gute Männer

55
auf der einen Seite, ein freier Mann und ein Knecht auf der ande­
ren Seite fallen. Askel kommt dazu und stiftet einen Vergleich
auf die Weise, daß H anef und der Knecht einander aufwiegen,
ebenso Mann gegen Mann von den anderen, und schließlich soll
die Gegenpartei für den Überschießenden büßen. So richtet der
unbefangenste Mann auf Island, wenn er das Unrecht seines Ver­
wandten wiedergutmachen soll. Vemunds nächste Großtat ist die,
daß er einen norwegischen Schiffer überlistet, ihm eine Ladung
H olz zu verkaufen, die schon an Steingrim von Eyjafjord ver­
kauft war. Steingrim antwortet, indem er Vemunds Knechte töten
und seinen Teil des Holzes zu sich nach Hause fahren läßt. Askel
muß kommen und die Sache in Ordnung bringen, und als Vemund
findet, daß dieser Schiedsspruch ihm keine Genugtuung für die
Knechte gebracht hat, bietet Askel ihm volle Zahlung aus seinem
eigenen Beutel an. Das will Vemund nicht annehmen; er behält
sich in aller Stille vor, selbst bei Gelegenheit die Rechnung abzu­
machen. Er versucht vergebens, das Mißverhältnis auszugleichen,
indem er ein paar Ochsen raubt, die Steingrim gekauft hat - daß
er seinen eigenen Nutzen bei dem Unternehmen nicht sucht, bezeugt
er dadurch, daß er sie Askel als Geschenk anbietet - , aber er hat
auch hier keinen rechten Erfolg, es gibt nur ein paar Morde und einen
Vergleich, den natürlich Askel zustande bringt. Das einzige, das
Vemund an diesem Vergleich auszusetzen hat, ist, daß Askel wieder
den früheren Knechtsmord aus der Rechnung gelassen hat. Er pro­
biert nun den Ausweg, einen Schurken dazu zu kaufen, Steingrim
eine raffinierte Verhöhnung zuzufügen, und diesmal scheitert Askels
Vergleich an der Erbitterung der Gegenpartei; erst als ein Rache­
zug damit geendet hat, daß Vemunds Bruder H erjolf getötet wor­
den ist, gelingt es dem rechtdenkenden Goden, einen Vergleich her­
beizuführen, worin bestimmt wird, daß —H erjolf gebüßt werden
soll, zwei von Steingrims Begleitern das Land für immer verlassen
und zwei andere zwei Jahre im Ausland sein sollen. So wird das
Spiel fortgesetzt mit Übergriffen von Vemunds Seite - der stets
gleich übelgesinnt bleibt - und Vergleichen durch Askel - stets in
voller Übereinstimmung mit dem „Frieden“ - , bis das Maß end­
lich voll ist; und als dann Steingrimm mit einem Gefolge sich
Askel und Vemund und ihren Männern in den Weg stellt, nimmt
der Reykdalgode ohne Lust, aber auch ohne Murren den K am pf
an. Das war das Ende von Askel und Steingrim.
Schlauheit und Diplomatie waren nach altem Brauch keine ver-

56
botenen Eigenschaften. Es stand jedem Mann frei, sich mit List
durch die Welt zu winden, und zwar auch bei Sachen, die un­
mittelbar das Verhältnis zu Brüdern und Verwandten betrafen. Er
konnte mit dem Frieden spielen, solange er nur dafür sorgte, ihm
nicht den geringsten Bruch zuzufügen. Aber er mußte immer dar­
auf vorbereitet sein, daß der Friede jeden Augenblick unbeugsam
vor ihm aufsteigen konnte. Man konnte sehr wohl seine Verwand­
ten wissen lassen, daß man für seinen persönlichen Teil eine andere
Lebensweise der vorziehe, der sie nachhingen, und daß man sich
freuen würde, wenn sie den gleichen Grundsätzen huldigten, wie
man selbst - das konnte man jedenfalls auf Island in der Sagazeit
tun, und ich glaube nicht, daß diese Freiheit neu gewonnen war
aber der Friede stand gleich fest wie immer. Von den Taten seiner
Verwandten Abstand zu nehmen und einen persönlichen, neutralen
Standpunkt zu behaupten, davon konnte keine Rede sein.
Ein Mann wird nach Hause gebracht, leblos. Die Frage, was er
getan habe, überhaupt nach seiner Vergangenheit, sinkt weit zurück
in den dunkelsten Hintergrund. Die Tatsache steht fest: er ist
unser Verwandter. Die Untersuchung fragt: Von Menschen erschla­
gen oder nicht? Wunden? Und welche? Wer war der Toter? Und
darauf wählen die Verwandten ihren Führer oder sammeln sich um
den geborenen Rachewalter und geloben ihm alle H ilfe bei der
Verfolgung der Sache mit Waffen oder mit Prozeß. Die Verwand­
ten des Töters wissen sehr gut, was es gilt; sie wissen, daß die
Rache nach ihnen fahndet. So einfach und geradlinig ist die Idee
des Friedens. Er rechnet nur mit Tatsachen, nicht mit Erwägungen
über die persönlichen Voraussetzungen, die diese gewaltsame Fol­
gerung nach sich gezogen haben.
In der ganzen altnordischen Literatur mit ihren unzähligen
Tötungen, unberechtigten oder wohlbegründeten, gibt es kein ein­
ziges Beispiel dafür, daß Menschen im Hinblick auf den Charakter
des umgekommenen Verwandten freiwillig auf Rache verzichtet
hätten. Sie können genötigt werden, ihn so liegen zu lassen wie
er liegt, sie können die Hoffnungslosigkeit der Bemühungen um
Genugtuung einschen; aber für sie alle paßt die Äußerung, die ab
und zu vorkommt: „Ich würde nichts sparen, wenn ich wüßte, daß
es die Rache fördern könnte.“ Freilich, das ist viel gesagt: kein
einziges Beispiel; es könnte Tötungen geben und es gibt wohl solche,
über deren weitere Geschichte wir in Unwissenheit gelassen wer­
den. D as positive Zeugnis liegt darin, daß der Sagaverfasser es

57
selten unterläßt, die verzweiflungsvolle Bitterkeit hervorzuheben,
die den Männern zuteil wurde, wenn sie die Rache aufgeben muß­
ten. Von der Bitterkeit des erzwungenen Selbstverzichts sprechen
auch die Verbote, die in den südlichen wie in den nordischen ger­
manischen Ländern ab und zu erlassen werden gegen das R adie­
nehmen für einen gesetzlich gerichteten und gesetzlich gehängten
Verbrecher.
Auf der anderen Seite kommt der Toter nach Hause und teilt
kurz mit, daß dieser oder jener getötet ist, „und seine Verwandten
werden kaum finden, daß ich ganz unschuldig daran bin“ . Die un­
mittelbare Folge dieser Worte ist, daß seine Verwandten sich dar­
auf vorbereiten, sich selbst und ihren Mann zu behaupten. Wenn
sie während der Vorbereitungen dieses oder jenes Wort fallen­
lassen über die Ungelegenheit eines solchen Benehmens, so sind das
Worte, die neben der Handlung herlaufen, ohne jede Neigung, in
sie einzugreifen; sie dienen nur dazu, den Eindrude der Entschlos­
senheit zu verstärken.
Ein Isländer begegnet seinem Verwandten in der Tur mit dem
aufrichtigen Wunsch, daß er entweder seine Lebensführung etwas
ändern oder einen Ort finden möge, wo er sich lieber aufhielte -
und darauf gehen sie zusammen hinein und besprechen, was als
Folge seiner letzten Tötung geschehen soll. Oder der Tater ant­
wortet wie Thorvald Krok, der einfach einen Mord auf dem Ge­
wissen hatte, auf die Vorwürfe seines Verwandten Thorarin: „Es
hat keinen Zweck, das Geschehene zu beklagen; du schaffst nur dir
selbst noch größere Schwierigkeiten, wenn du dich unser nicht an­
nimmst; wenn du in der Sache mit H and anlegst, lassen sich schon
Leute finden, die Beistand leisten wollen.“ Und Thorarin antwor­
tet hierauf: „Mein R at ist der, daß ihr mit all eurer H abe hierher
zieht und daß wir Leute um uns sammeln . . . “
Ein grelles, aber nicht ganz alleinstehendes Beispiel für die
zwingende Macht des Friedens ist H rolleifs Geschichte in der Vats-
dœlasaga. Dieser Taugenichts segelt mit seiner zauberkundigen
Mutter nach Island, erscheint auf dem H ofe seines Vaterbruders
Saemund und verlangt dort aufgenommen zu werden, da doch ver­
wandtschaftliche Bande zwischen ihnen bestehen. Sæmund bemerkt
scharf, daß er wohl leider seiner Mutter mehr als seinen väter­
lichen Verwandten ähnlich sehe, aber H rolleif geht über den Vor­
wurf hinweg mit der Antwort: „Von bösen Wahrsagungen kann
ich nicht leben.“ Als das Zusammenleben mit ihm im H ofe un­

58
erträglich wird und Sæmunds Sohn Geirmund sich bei seinem Vater
über diesen widerspenstigen Menschen beklagt, meint H rolleif, es
sei eine Schande, über Kleinigkeiten zu nörgeln und seine Ver­
wandten zu mißachten. Er bekommt ein Pachtgut, verübt eine
Tötung, für die Sæmund Buße leisten muß, und als er zuletzt das
Werk krönt, indem er Ingimund, Sæmunds Ziehbruder, tötet, der
aus Freundschaft zu Sæmund H rolleif ein Stück von seinem Land
abgetreten hatte, reitet er geradewegs zu Geirmund und erzwingt
sich Schutz mit den Worten: „H ier lasse ich midi töten, dir zur
Schmach.“ - Zu Sæmund kommt einmal ein Nachbar mit wohl­
begründeten Klagen über das Benehmen seines Brudersohnes dort
im Bezirk. Wir wundern uns nicht über Sæmunds Seufzer: „Es
wäre nur gut, wenn dergleichen Männer aus der Welt geschafft
würden.“ Aber was sagt der Nachbar? „Du würdest schon auf
andere Gedanken kommen, wenn jemand Ernst damit machte.“
Darin liegt die größte Schwierigkeit, daß Sæmund in Wirklichkeit
genötigt ist, H rolleif so weit wie möglich beizustehen, nicht nur
ihn zu decken, sondern ihn seinen Gegnern gegenüber zu stützen.
Hierher gehört auch ein Auftritt aus der Saga von Vallaljot,
wo hauptsächlich Ljots Äußerungen charakteristisch sind. Es sind
Tötungen und andere Sachen zwischen Ljot und seinen Verwandten
auf der einen Seite und den Sigmundsöhnen H rolf und H alli auf
der anderen Seite vorgekommen. Jetzt ist aller Zwist durch recht­
mäßigen Vergleich beigelegt, dank der redlichen Schlichtung Gud-
munds des Mächtigen. Bödvar, ein dritter Sigmundsohn, ist in­
zwischen im Ausland auf Reisen gewesen; jetzt kommt er nach
Hause und ist genötigt, während eines Unwetters in dem Hause
Thorgrims, eines Bruders von Ljot, Schutz zu suchen. Gegen Thor-
grims Willen und trotz seines Versuches, zu verhindern, daß jemand
vom Hausstand den H o f verläßt, während die Gäste sich dort auf­
halten, entwischt ein Mann, Sigmund, und eilt davon, um Unfrie­
den zu stiften. Ljot will keinen unbeteiligten Mann töten und den
vereinbarten Frieden brechen - sich auch nicht an den Gästen
seines Bruders vergreifen. Aber es sind andere da, in denen die Er­
innerungen noch brennen, und Bödvar wird auf der Weiterreise
von Thorgrims H of erschlagen. Was sollen die fleißigen Rächer
nun anderes tun, als sich zu Ljot, dem besten Manne des Geschlechts,
zu begeben. „M ag es auch ein paar starke Worte geben, bei ihm
sind wir doch sicher!“ „Er war es, der von der Rache abriet“ , be­
sinnt sich einer, aber er erhält die Antwort: „Je mehr wir seiner

59
bedürfen, um so standhafter wird er uns beistehen.“ Sie melden
also Ljot, daß sie jetzt Verwandtenrache genommen haben, und die
Saga erzählt nun weiter: Ljot sagt: „Es ist nicht gut, böse Ver­
wandte zu haben, die einen nur in Schwierigkeiten hineinziehen;
hier sind gute Ratschläge teuer.“ Sie machen sich auf, um Thor-
grim zu treffen - die Saga braucht nun nidit hinzuzufügen: und
Ljot mit ihnen! - Ljot sagt: „Warum hast du unsere Feinde auf­
genommen, Thorgrim ?“ Er antwortet: „Was sollte ich sonst tun?
Ich tat mein Bestes, wenn es auch nicht geholfen hat. Sigmund tat
sein Bestes, alles in allem ging es nicht, wie ich wollte.“ Ljot:
„Besser wäre es gewesen, wenn deine Pläne befolgt worden wären,
aber . . . jetzt wäre es gut, wenn wir nicht zu sehr auseinander­
liefen . . . Es steht wohl mir zu, Beistand zu leisten, und ich werde
die Führung übernehmen; es gelüstet midi nicht nach großen
Unternehmungen; aber ich möchte doch keines Mannes wegen
etwas von dem meinigen aufgeben.“ Thorgrim fragt, was aus
Eyjolf, einem freiwilligen und eifrigen Teilnehmer des Rachezuges
werden soll; Ljot will für ihn sorgen und ihn ins Ausland schicken.
„Aber Björn“ , sagt Ljot, „soll bei mir bleiben, und ein Schicksal
soll uns beide treffen.“ Björn war Ljots Schwestersohn und der­
jenige, der Bödvars Tötung geleitet hatte.
Einen tönenden Nachhall von diesem aktiven Charakter des
„Friedens“ hören wir im Heliand, wenn der alte Deutsche die
Bergpredigt umschreibt. Als er Jesu Forderung unbedingter Selbst­
verleugnung verdeutschen soll, wo es heißt: „Wenn dein Auge dich
ärgert, deine Hand dich ärgert, dann trenne dich von ihnen“ - da
sagt er: „Folge nicht dem Freunde, der zum Frevel dich lockt, zur
Schuld, der Gesippte. Und sei er dir durch Sippe verwandt auch
noch so stark . . . besser ist es, den Freund ferne von dir zu stoßen,
ihn meidend, Minne nicht mehr ihm zu zeigen, daß du allein auf­
steigen darfst zum hohen Himmelreich.“
Natürlich können auch persönliche Sympathien und Antipathien
sich gegenüber der Macht des Friedensgefühls nicht geltend machen.
Das Verhältnis zwischen Thorstein und seinem Vater war nie sehr
herzlich gewesen; dieser Sohn war Egil immer zu weich gewesen,
zu sehr ein Mann der Vorsicht. Egil fühlte sich nicht wohl in sei­
nem Hause, sondern zog in seinen hohen Jahren zu einer Stief­
tochter; aber seine persönlichen Gefühle dem Sohn gegenüber ließen
ihn keinen einzigen Augenblick bei der Überlegung zögern, ob er
in dessen Händel eingreifen sollte oder nicht.

60
In der Bandamannasaga haben wir eine kleine Geschichte über
dieses Thema, einen Sohn und einen Vater, die nie miteinander
auskommen konnten, die aber in einem gemeinsamen Gefühl allen
Außenstehenden gegenüber einander finden. Der Sohn ist der wohl­
habende O dd; Ufeig, sein Vater, ist arm. Odd wird in einen Pro­
zeß verwickelt, den seine Neider ausnutzen, um ihn vollständig
einzukreisen. Sie haben sich mit Eiden verschworen, ihn nicht los­
zulassen, bevor er gerupft ist. D a meldet sich der alte schlaue
Ufeig, und im Schutz seiner notorischen Unfreundschaft mit dem
Sohne tritt er unter die Verschworenen und öffnet etlichen von
ihnen die Augen für das Unsichere in dem Unternehmen. „Ebenso
sicher wie mein Sohn Geld im Kasten hat, hat er Verstand im
Kopfe, um Rat zu finden, wenn d a s nötig ist - wißt ihr eigentlich,
wieviel von der Beute auf jeden Mann kommt, wenn ihr es zu
acht teilen müßt? - , denn ihr sollt nicht glauben, daß mein Sohn
zu Hause sitzt und auf euch wartet; er hat ja ein Schiff, und so­
viel ich weiß, kann der Reichtum, den einer besitzt, auf dem
Wasser schwimmen, mit der einzigen Ausnahme von H of und
Boden“ , und darauf ist der Alte nahe daran, einen mit Geld ge­
spickten Beutel zu verlieren, den er unter seinem Mantel versteckt
hat, und den er sich vorher als Preis für die H ilfe von seinem
Sohne ausbedungen hatte. Auf diese Weise tat er unverdrossen die
Werke des „Friedens“ , so gut er es verstand, und triumphierte aus
einem vollen und guten Herzen über seines Sohnes Sieg bei der
großen Abrechnung.
Alles tritt hinter dem Frieden zurück, jede Verpflichtung, jede
Rücksicht auf sich selbst, ja sogar die Sorge um die Wahrung der
persönlichen Würde, wenn eine solche vom Sippengefühl isoliert
denkbar ist.
Das große Sagenbeispiel von Tochtertreue und Schwestertreue
ist Signy. Die Völsungasaga erzählt ja, vermutlich durchgehends
auf älteren Dichtungen aufbauend, wie eine Uneinigkeit zwischen
Völsung und seinem Schwiegersohn Siggeir, Signys Gatten, zu der
Tötung des ersteren führt. Der einzige überlebende Sohn Völsungs,
Sigmund, muß in den Wald flüchten, wo er auf Radie für den
Vater sinnt. Signy schickt den einen nach dem anderen von ihren
Söhnen als Helfer zu ihm und opfert sie schonungslos, als sie sich
feige und untauglich zeigen. Schließlich geht sie verkleidet und un­
kenntlich zu Sigmunds Verstedc hinaus, und ihr eigener Bruder
zeugt mit ihr einen Vaterrächer vom rechten harten Schlage, voller

61
Sippen-Gesinnung. „Der kampffrohe Jüngling schloß mich in seine
Arme; Wonne war in seiner Umarmung, doch leidig war es mir
auch“ , sagt der ergreifende alte englische Monolog. Und als dann
schließlich die lang erwartete Rache gekommen ist und das Feuer
König Siggeir umzüngelt, tritt sie selbst in die Flammen mit den
Worten: „Alles habe ich getan für König Siggeirs Tod, so viel habe
ich getan, damit die Rache hervorginge, daß ich nicht länger leben
will; ich will jetzt mit Siggeir ebenso gern sterben, wie ich ungern
mit ihm gelebt habe.“
So weit treibt sie der Friede. Sie kann an keiner Stelle vor
irgendeinem Grauen haltmachen, solange ihre Schwersterliebe un­
befriedigt ist. Sie wird über das Muttergefühl und das Entsetzen
vor der Blutschande unaufhaltsam hinweggehoben. Denn es ist in
der Saga nicht die geringste Andeutung, daß Signy als einer der
harten Charaktere auf gef aßt würde, in denen die Leidenschaft
alle anderen Gefühle an der Wurzel abschnürt.
Man fühlt sich versucht, diese Episode für eine Studie zu halten,
für eine Problemdichtung, einen bewußten Versuch, die Macht des
„Friedens“ über den Charakter zu zeigen. Ich glaube, diese Be­
trachtungsweise hat einige Berechtigung. Die Erzählung, wie sie
dasteht, hat ihre Idee. Bewußt oder unbewußt ist dem Dichter und
den Zuhörern daran gelegen gewesen, daß der Friede nach der
einen Seite und der Friede nach der anderen Seite - das Verhältnis
zu dem Gatten ist auch eine Art des Friedens - so gegeneinander­
gepreßt wurden, daß sie ihre Kraft bewiesen, indem sie die Men­
schen zwischen sich erdrückten. Signy m u ß den Tod ihres Vaters
an ihrem Gatten rächen, der Menschlichkeit selbst zum Trotz, und
sie m u ß sich an sich selbst rächen; ihre Worte: „So viel habe ich
getan, damit die Rache zustande kommen sollte, daß ich nicht
länger leben will“ , kommen nicht als leeres Schlußwort, sie ver­
klingen als Thema des Gedichts. Gudrun mag über ihren Gatten
trauern, aber ihre Brüder zu kränken vermag sie nicht; Signy
muß mithelfen, die Rache für ihren Vater zu fördern, wenn sie
auch ihren Gatten und ihre Kinder opfern soll - und noch einiges
mehr.
Der „Friede“ der Gildengesetze, die den Brüdern befehlen, ein­
ander beizustehen mit ausschließlicher Rücksicht auf die Person
und ohne Rücksicht auf die Sache, enthält also keine Übertreibung.
Und eins hat der Verwandtschaftsfriede, das niemals durch einen
Gesetzesparagraphen ausgedrückt werden kann: die Unmittelbar-

62
keit, die Selbstverständlichkeit, das Unreflektierte: „Wir können
nicht anders.“
Aber woher kommt dieses „wir können nicht anders“ , als aus
Tiefen, die unterhalb von jeder Selbstbestimmung und jedem Sich-
selbstbegreifen liegen? Wir können dem Frieden folgen, von seiner
Entfaltung im Selbstbewußtsein des Mannes an, durch alle seine
Abstufungen hindurch und tiefer hinab, bis er in der Wurzel des
Willens verschwindet. Wir ahnen, daß nicht der Mensch es ist, der
den Frieden will, sondern der Friede, der ihn will. Der liegt auf
dem Grunde seiner Seele als das große Grundelement, das die
Blindheit und die Stärke der N atur besitzt.
Der Friede bildet, was wir den Grund der Seele nennen. Er ist
kein mächtiges Gefühl unter anderen Gefühlen bei diesen Men­
schen, sondern der eigentliche Kern der Seele, der alle Gedanken
und Gefühle gebiert und sie mit Lebensenergie versorgt - oder er
ist das Zentrum im Ich, wo Gedanken und Handlungen den Stem­
pel ihrer Menschlichkeit erhalten und mit Wille und Richtung er­
füllt werden. Er entspricht dem, was wir bei uns selber das Mensch­
liche nennen. Das Menschliche hat bei ihnen immer das Gepräge
der Verwandtschaft. In unserer Kultur wird eine empörende Un­
tat als „unmenschlich“ gebrandmarkt, und umgekehrt drücken wir
unsre Freude über edles Benehmen aus, indem wir es wahrhaft
„menschlich“ nennen; bei den alten Germanen wird das erste als
zerstörend für das Sippenleben verurteilt, das letzte, weil es die
Friedensgesinnung stärkt, gepriesen. Deshalb ist die Tötung eines
Verwandten im höchsten Grade Schrecken, Schande und Unglück
in einem, während eine gewöhnliche Tötung bloß eine Handlung
ist, die je nach den Umständen verwerflich sein mag oder nicht.
D a unten auf dieser Stufe der Unmittelbarkeit gibt es keinen
Unterschied zwischen mir und dir, so weit die Verwandtschaft
reicht. Wenn der Friede den Grund der Seele bildet, da ist es ein
Seelengrund, den alle Verwandten gemeinsam haben. Dort grenzen
sie aneinander, ohne daß irgendwie Wille oder Reflexion als Stoß­
kissen dazwischenlägen. Die Verwandten verstärken einander; sie
sind nicht wie zwei oder mehr Individuen, die ihre Kräfte zusam­
mentun, sondern sie handeln in gleichem Takt, weil tief in allen
ein Geheimnis sitzt, das für sie weiß und für sie denkt. Ja, noch
mehr, sie sind so verbunden, daß der einzelne von seinen Gefähr­
ten Kraft an sich ziehen kann.
Diese Eigentümlichkeit des Menschen kennt der Bär sehr wohl,

63
nach dem, was man im nördlichen Schweden erzählt. „Lieber mit
zw ölf Männern als mit zwei Brüdern kämpfen“ , lautet ein Sprich­
wort, das man dem klugen Tiere zuschreibt. Von zwölf Männern
kann er den einen nach dem anderen gründlich beseitigen; die zwei
aber kann er nicht einzeln erledigen. Und wenn der eine fällt,
geht seine Stärke auf seinen Bruder über.
Diese Solidarität - wie sie in den Rachegesetzen zum Ausdruck
kommt - ruht auf der natürlichen Tatsache der psychologischen
Einheit.
Durch die Kanäle der Seele brechen Tat und Leid des einzelnen
hervor, verbreiten sich über alle, die demselben Stamme angehören,
so daß sie im wirklichsten Sinne jeder der Täter der Taten des
anderen werden. Wenn sie ihrem Mann zum Richtstuhl folgen und
ihn bis an die Grenzen des Möglichen unterstützen, da handeln sie
nicht, a l s o b seine Tat die ihrige wäre, sondern weil sie es i s t .
Solange die Sache nicht beigelegt ist, stehen alle Verwandten unter
permanenter Herausforderung. Nicht nur der Toter ist in Gefahr,
durch das Schwert zu fallen, das er züchte, der Rache kann ebenso
gut und ebenso voll an einem seiner Verwandten Genüge getan
werden, wenn die Gekränkten finden, daß dieser leichter zu tref­
fen ist, oder wenn sie ihn als einen würdigeren Gegenstand der
Rache betrachten. Steingrims Worte klingen so natürlich, als er zu
E yjolf Valgerdson kommt und ihm erzählt, daß er auf der Suche
nach Vemund gewesen ist, aber gehindert wurde und deshalb sei­
nen Bruder H erjolf genommen hat (aus der Saga ist nicht zu er­
sehen, daß H erjolf etwas mit Vemunds Taten zu tun gehabt hatte).
„E yjolf gefiel es nicht recht, daß es nicht Vemund oder (dessen
Bruder) H als geworden war; aber Steingrim sagte, sic hätten
Vemund nicht treffen können; ,doch hätten wir am liebsten gesehen,
daß er den Hieb bekommen hätte*. E yjolf hatte dann auch nichts
dagegen einzuwenden.“ — Der Klang der Worte, der leidenschaft­
losen, praktischen, selbstverständlichen Rede und Gegenrede, sagen
uns gleich besser als viele Umschweife, daß wir hier vor einem Er­
lebnis stehen und nicht vor einer Reflexion oder vor einem her­
kömmlichen Brauch. In einer anderen Saga muß ein Mann mit
seinem Leben für die verliebten Abenteuer seines Bruders büßen.
Ingolf hatte Ottars Tochter durch seine aufdringlichen Besuche in
ihrem Heim gekränkt, und ihr Vater behauptete die Ehre seiner
Tochter, indem er Ingolfs Bruder Gudbrand töten ließ. Ingolf
selbst war zu wachsam, um den Beschützern des Mädchens Ge­

64
legenheit zu geben, sein Leben zu nehmen; so hatten sie keine
andere Wahl, als ihn durch den Körper seines Verwandten zu
treffen.
Ebenso leiden alle, die durch die Bande der Verwandtschaff ver­
bunden sind, unter einer Verletzung, die einem einzelnen ihrer
Sippe zugefügt wird; sie fühlen alle die Wunde gleich schmerzlich;
alle sind sie gleich fähig, Radie zu suchen. Wird eine Buße ver­
hängt, so haben alle gleichen Anteil an ihr.
So bezeugen die Verwandten ihre Einheit an Seele und Körper,
und diese gegenseitige Identität ist die Grundlage, worauf die Ge­
sellschaff und die Gesetze der Gesellschaft beruhen. In allen Ver­
hältnissen von Menschen zueinander wird nur mit dem Frieden,
nie mit Individuen gerechnet. Was der einzelne getan hat, bindet
alle, die im selben Friedenskreise leben. Die Verwandten des Ge­
töteten treten in pleno als Kläger auf. Es ist die Sippe des Ge­
töteten, die die Buße empfängt, und die Summe wird so geteilt,
daß sie an jedes einzelne Mitglied der Gruppe gelangen kann. Die
beiden Sippen geben einander, als Körperschaft gegen Körperschaft,
das Versprechen des Friedens und der Sicherheit für die Zukunft.
Wenn eine Sache, die Körperverletzung oder Kränkung betrifft,
vor Gericht gebracht wird, so muß der Richtspruch sich in den
Grenzen halten, die durch die Verwandtschaft gezogen sind. Der
Friedenskreis bildet ein Individuum, das nur durch Amputation
geteilt werden kann, und sein Recht bildet ein Ganzes, das kein
Urteil zergliedern kann. Die germanische Rechtslehre hat nirgends
bei der Bewertung der Tat Raum für ein „einerseits - anderer­
seits“ ; sie kann lediglich der einen Partei volles Recht und der
anderen Partei volles Unrecht geben. Wenn ein Mann erschlagen
wird und seine Freunde auf ihr Recht auf sofortige Rache verzich­
ten und die Sache vor das zuständige Gericht bringen, muß die
Gerichtsversammlung den Klägern entweder ihr Recht und ihren
Frieden zusprechen oder sie als der Genugtuung unwürdig erklären.
Im ersten Fall stellt die Gerichtsversammlung ihre Gewalt hinter
die gekränkte Partei und entzieht damit dem Angeklagten jedes
Recht; im anderen Fall, wenn die Tötung in der Selbstverteidigung
oder nach Herausforderung geschehen ist, sagt das Gericht zu den
Klägern: „Euer Friede soll daniederliegen, ihr habt kein Recht auf
Rache.“
Wir haben von Kindheit an gelernt, die Geschichte vom Stab­
bündel als Beispiel für die Wichtigkeit des Zusammenhalts anzu­

65
sehen. Die alten Germanen nehmen in ihrer seelischen Haltung
einen ganz anderen Standpunkt ein. Sie betrachten die Einheit
nicht als durch Addition entstanden. Die Einheit ist das zuerst
Gegebene. Der Gedanke an gegenseitigen Beistand spielt bei die­
sen Männern keine hervorragende Rolle; sie sehen es nicht so, als
käme Mann zu Mann mit seiner Stärke, als würde das Ganze zu­
sammengetan, als läge die Kraft in dem, was es verbindet. Für sie
ist die ganze Gemeinschaft zerbrochen und mit ihr die Kraft aller
Männer, sobald nur eins der einzelnen Glieder herausgerissen wird.
Und so vergleichen sie die Gruppe der Verwandten mit einem
Zaun, wo Stab an Stab steht und sie ein heiliges Feld umschließen.
Wenn einer von ihnen gefällt wird, entsteht eine Lücke in der
Sippe, dann liegt ihr Feld offen und wird zertreten.

So ist also der „Friede“ , der in alter Zeit die Verwandten mit­
einander verband: eine Liebe, die sich nur als „Einsgefühl“ charak­
terisieren läßt, und die so tief liegt, daß weder Sympathien noch
Antipathien noch irgendeine Stimmung des Tages irgendwie Ebbe
oder Flut in ihr hervorrufen kann.
Kein Erlebnis ist mächtig genug, um in diese Tiefe hinunter­
zureichen und sie zu stören. Nicht einmal die stärksten Gefühle
und Verpflichtungen Nicht-Verwandten gegenüber können durch­
dringen und irgendeine innere Tragödie, irgendeinen Seelenkonflikt
hervorrufen. Signy, um den typischen Fall zu nehmen, wird dazu
getrieben, das zu tun, was sie am liebsten unterlassen hätte; die
ergreifenden Worte: „Wonne war darin, doch leidig war es mir
auch“ , geben unzweifelhaft auch ihre Gefühle wieder, so wie sie
nach der vollzogenen Rache dasteht. So nahe können die N ord­
länder der Tragödie kommen, daß sie einen Menschen darstellen,
der an seinem Handeln leidet. Aber von einem inneren Streit in
dem Sinne, daß sie in Angst überlegt, was sie wählen soll, ist auch
bei Signy keine Rede. Das Tragische kommt von außen; sie han­
delt natürlich und ohne Überlegung, und ihre Handlung zieht sie
bis auf den Grund. Wenn die Uneinigkeit unter Verwandten erst
als dichterischer Stoff bewußt ausgenutzt wird wie in der Lax-
dcelasaga, wo die beiden Vettern einer Frau wegen gegeneinander
kämpfen, da befinden wir uns auf der Schwelle zu einer neuen
Welt.
Die Laxdcelasaga handelt von dem tragischen Widerstreit in der
Seele eines Mannes, der durch den Ehrgeiz einer Frau mit seinem

66
Vetter in Feindschaft gerät. Die charakterfeste, hochmütige Gudrun
kann nie vergessen, daß sie K jartan geliebt hat, aber von ihm ver­
gessen wurde, und als sie Kjartans Vetter Bolli heiratet, macht sie
diesen zum Werkzeug ihrer Rache. Endlich kommt der Tag der
Abrechnung: sie erfährt, daß Kjartan auf einem einsamen Ritt an
dem H ofe Bollis vorüberkommen wird. Gudrun stand auf mit der
Sonne, erzählt die Saga, und weckte ihre Brüder: „Wie ihr geartet
seid, hättet ihr irgendeines Bauern T ö c h t e r sein müssen - ihr
tut ja weder Nutzen noch Schaden. Nach all der Schande, die
K jartan euch zugefügt hat, schlaft ihr gleich gut, ob er am H ofe
vorüberreitet mit einem Manne oder mit zweien . . . “ Die Brüder
zogen sich an und bewaffneten sich. Gudrun bat Bolli, mitzugehen.
Er machte Einwendungen wegen der Verwandtschaft mit Kjartan.
„M ag sein; aber es wird dir doch nicht gelingen, es allen recht zu
machen; wir trennen uns, wenn du nicht mitgehst.“ Aufgestachelt
von diesen Worten nahm Bolli seine Waffen und ging hinaus. Die
Schar legte sich bei der Kluft H afragil in den Hinterhalt. Bolli war
schweigsam an jenem Tage und lag oben am Rande der Kluft,
aber es gefiel seinen Schwägern nicht, daß er da oben lag und Aus­
guck hielt, im Spaß packten sie ihn an den Beinen und zogen ihn
herunter. Als K jartan durch die Kluft kam, begann der Kam pf.
Bolli stand müßig da, das Schwert Fußbeißer in der H and. „Nun,
Verwandter, warum bist du eigentlich hergekommen, wenn du als
untätiger Zuschauer dabeistehen willst?“ Bolli tat, als höre er K jar­
tans Worte nicht. Schließlich bringen die anderen Bolli zum H an ­
deln, und er stellt sich Kjartan in den Weg. D a sagt K jartan:
„Jetz t hast du dich wohl zum Neidingswerk entschlossen ; ich will
aber lieber den Tod von dir nehmen, als ihn dir geben.“ D arauf
w arf er seine Waffe weg, und ohne ein Wort tat Bolli den tödlichen
Hieb. Er setzte sich gleich nieder und stützte K jartan, der in seinen
Armen starb.
Dieses: ja — nein, ich will - ich will nicht, liegt ganz und gar
außerhalb des Bereichs des Friedens; in diesem Kapitel finden wir
die Spuren von dem Interesse des Mittelalters an geistigen Proble­
men; aber die alte trostlose und deshalb im Grunde poesielose
Tragik klingt noch durch. Es ist weniger Tragik als moralische
Verzweiflung in den Worten Bollis an Gudrun, als sie ihn bei der
Heimkehr beglückwünscht: „Dies Unglück wird mir spät genug
aus dem Gedächtnis schwinden, auch wenn du mich nicht daran
erinnerst.“

67
Der Friede ist also das Verwandtschaftsgefühl an sich; er ist ein
für alle Male bei der Geburt gegeben. Die Sympathie, die wir als
das Resultat eines Bestrebens, uns auf den andern einzustellen, be­
trachten, war eine natürliche Voraussetzung, war ein Charakterzug.
Mit der Liebe unserer Zeit verglichen trug das alte Familien­
gefühl einen Stempel beinahe nüchterner Zuverlässigkeit. Nichts
von dem Hochdruck des Gefühls, den moderne Menschen anschei­
nend als für die Liebe lebensnotwendig empfinden, nichts von dem
Schmerze der Zärtlichkeit, die heute der dominierende Ton in der
herzlichen Sympathie zu sein scheint - sowohl zwischen Mann und
Mann wie zwischen Mann und Frau. Der christliche Liebesheld
wird von seinem Brand verzehrt, er steht in Gefahr, zu bersten
durch seinen Drang zur Hingebung und Aufnahme. Die Menschen
der Vorzeit wuchsen sich stark und gesund in der Geborgenheit
ihrer Freundschaft; der Friede ist durchaus inneres Gleichgewicht
und Nüchternheit.
Es ist dann natürlich, daß in den Wörtern, die der Germane
von sich selber am liebsten gebraucht, Wörtern wie „Sippe“ und
„Friede“ , die Geborgenheit die innerste Bedeutung ist. Geborgen­
heit, aber mit einem deutlichen Klang von etwas Aktivem, etwas
Wollendem und Handelndem oder jedenfalls von etwas, was
immerfort auf dem Sprunge zur Handlung sich befindet. Während
ein Wort wie das lateinische p a x in erster Linie - wenn ich midi
nicht irre - den Gedanken hinlenkt auf Niederlegung der Waffen,
auf einen Gleichgewichtszustand, der der Abwesenheit störender
Elemente seine Entstehung verdankt, bedeutet F r i e d e etwas
Bewaffnetes, Schutz, Verteidigung - oder auch eine Friedenskraft,
die die Menschen in freundlicher Gesinnung hält. Selbst wenn der
Germane davon spricht, Frieden zu sdiließen, ist die Grundvor­
stellung nicht die, daß unruhige Elemente entfernt und alles zur
Ruhe kommen muß, sondern die, daß eine Friedenskraft zwischen
den Streitenden eingeführt werden soll.
Der Übersetzer angelsächsischer Gedichte hat unzählige Schwie­
rigkeiten zu gewärtigen, weil kein modernes Wort den Sinn er­
schöpfen kann von Wörtern wie freodu und sib, die „Friede“ be­
zeichnen sollen. Wenn er sich damit begnügt, immer wieder in jeder
Verbindung das Wort „Friede“ zu wiederholen, wird er dadurch
gerade die Bedeutung verwischen, die die betreffende Zeile ver­
ständlich macht; und fängt er an, abwechselnd verschiedene andere
Ausdrücke einzusetzen, so vermag er nur den obersten Ausläufer

68
seiner Bedeutung wiederzugeben; er zieht dann einen kleinen
Büschel vom Wort ab, aber die Wurzel hat er nicht mitbekommen.
Die Energie des Wortes, seine lebendige Kraft, geht verloren. Wenn
an einer bestimmten Stelle Feinde oder Verbrecher um Frieden
bitten, da bedeutet das Wort voll und ganz: Aufnahme in einen
verzeihenden Willen, Zutritt zur Unverletzlichkeit; und wenn
Gott in der Genesis dem Patriarchen „Friede“ zusagt, da hat es
die volle Bedeutung von Gnade, es ist der aufrichtige Wille, mit
ihm zu sein und ihn zu schützen, für ihn zu kämpfen und, wenn
es not tut, zu seinem Vorteil ein Unrecht zu begehen. Es sind denn
auch nicht nur Menschen, sondern zum Beispiel befestigte Stätten *,
die bedrängten Menschen „Frieden“ gewähren können.
„Friede“ ist auch noch der gegenseitige Wille, die Einträchtigkeit,
Milde, Treue, worin Menschen innerhalb ihres Kreises leben. So
war n a h der Darstellung in der angelsähsishen Genesis „Friede“
der Zustand, in welhem die Engel mit ihrem Herrn lebten, bevor
sie sündigten. Dieser Friede war es, den Kain d u rh seinen Bruder­
mord zerriß: „Indem er Minne und Friede verwirkte.“ Und eben­
so sagt M aria zu Joseph, als er daran denkt, sie zu verlassen: „D u
willst unsern Frieden zerreißen und unsre Liebe preisgeben.“
Als Beowulf Grendel und dessen Mutter getötet hat, sagt der
Dänenkönig in dankbarer Hingebung: „ I h will dir meinen Frie­
den geben, wie wir es vorher verabredet haben“ , und etwas Höhe­
res kann er n ih t geben. Aber derselbe volle Sinn von Hingebung
und Verpflichtung ist vorhanden, wenn die beiden Erzfeinde Finn
und Hengest n a h einem verzweifelten Kam pfe ein festes Friedens­
bündnis shließen - wenn a u h kurz darauf der Wille d o h versagt.
Aber damit ist der Inhalt der Wörter n ih t erschöpft. Sie be­
zeichnen n ih t nur den redlihen, entshlossenen Willen zur Treue.
Unbeshränktes Vertrauen bildet den Kern, aber d ih t darum liegt
ein Reichtum von Gefühlsabtönungen: Freude, Lust, Hingebung,
Liebe. Ein großer Teil der oben zitierten Stellen, wenn n ih t alle,
sind nur halb verstanden, wenn diese Töne n ih t mitshwingen.
Im A ngelsähsishen umspannt sib — oder Friede - die Bedeutungen
von Erleihterung, Trost - wie wenn es heißt: sib folgt auf Trauer
- bis zu Liebe. Und wenn der Nordländer von dem „Frieden der
Frau“ spricht, glüht das Wort von Leidenshaft.
Wir brauhen n ih t daran zu zweifeln, daß das Friedensgefühl1

1 Anm. d. Übers.: einge-„friedigte“ Plätze.

69
Liebe enthielt, daß die Verwandten einander l i e b t e n , und
zwar stark und innig. Es ist die Liebe, die das kleine altnordische
Wort sváss, angelsächsisch svœs, von seinem ursprünglichen Sinn
abgewandelt hat. Es bedeutet wohl von vornherein am ehesten:
eigen, nahe angehörig; aber in der angelsächsischen Poesie zeigt es
eine Neigung, sich an Benennungen von Verwandten anzuklam­
mern, und gleichzeitig ist sein Inhalt immer inniger geworden: ver­
traut, lieb, geliebt, froh. Im Nordischen hat es sich ganz um diese
Bedeutung verdichtet, und dort ist es ein sogar sehr starkes Wort,
um Liebe zu bezeichnen. Soweit wir sehen können, ist das Ver­
hältnis zwischen Brüdern und ebenso zwischen Brüdern und
Schwestern bei den Germanen, wie im allgemeinen bei den kultur­
verwandten Völkern, ein sehr inniges gewesen. Das Geschwister­
verhältnis hat eine Macht wie kein anderes, den Willen, die Ge­
danken und Gefühle zu verinnerlichen. Die Verwandtschaft hat
sowohl Tiefe wie Reichtum besessen.
Außer Liebe hat „Friede“ auch eine starke Betonung von Freude.
Das angelsächsische Wort liss stellt eine besonders charakteristische
Verschmelzung von Zärtlichkeit und Festigkeit dar, die bewirkt,
daß es oft mit Verwandtschaftsgefühlen verbunden wird. Es be­
zeichnet die Milde und Rücksichtnahme, die Verwandte einander
gegenüber fühlen. Es drückt die Huld des Königs gegen seine Ge-
folgsmannen aus; in dem Munde christlicher Dichter tritt es gern
als Bezeichnung für Gottes Gnade auf. Dann ist liss aber auch
Freude, Lust, Glück, gerade die Lust, die man in seinem Heim,
unter seinen nächsten, treuen Freunden empfindet. Diese beiden
Tone - die in Wirklichkeit natürlich nur einer waren - klingen
durch Beowulfs Worte: „All meine liss ist in dir, nur wenige Ver­
wandte habe ich außer d ir!“ so grüßt er seinen Oheim Hygelac
und begründet hiermit, daß er seinem Verwandten seine Sieges­
trophäen anbietet. „Aller Friede ist zerstört durch den Fall des
furchtlosen Tryggvason“ , diese einfachen Worte offenbaren den
bodenlosen Schmerz, den H allfred bei dem Tode seines geliebten
Königs fühlte.
Die Freude war ein charakteristischer Zug beim Manne, ja sie
war das Zeichen seiner Freiheit. „Froh-M ann“ mußte man gehei­
ßen werden können, wenn das Urteil ganz lobend sein sollte. Die
Verse der H avam al: „Froh soll ein Mann zu Hause sein, freigebig
gegen den Gast und milde“ , zeigen uns, was von einem Manne
verlangt wurde, und sie stimmen überein mit dem Geiste, der aus

70
dem folgenden Beowulf-Vers spricht: „Sei freudig den Geaten
gegenüber und vergiß nicht, sie zu beschenken“ , so ermahnt die
Königin den König der Geaten. So wie „kühn“ und „wohlgerüstet“
zu den immer wiederkehrenden Adjektiven gehören, womit der
H eld eingeführt wird, muß „froh“ hinzugefügt werden, um an­
zugeben, daß nichts fehlt an seiner vollen Männlichkeit; wenn
Beowulf uns also erzählt, daß Freawaru mit Frodas frohem Sohne
versprochen war, beabsichtigt der Dichter nicht, die Stimmung des
Prinzen zu schildern, er beschreibt ihn nur als den vollkommenen
Kämpen.
Freude war ein wesentlicher Zug an der Menschlichkeit und des­
halb eine Eigenschaft des Friedens. Der Zusammenhang zwischen
Freude (Lust) und Freundschaftsgefühl war so innig, daß die bei­
den gar nicht einzeln existieren konnten. Alle Freude ist an Frie­
den gebunden, außerhalb seiner gibt es nichts und kann es nichts
geben, was diesem Namen entspricht. Wenn der Genesisdichter die
aufrührerischen Engel von Lust, Friede und Freude abfallen läßt,
gibt er in dieser Wortzusammenstellung nicht so nebenbei eine
Aufzählung der zwei oder drei wichtigsten Güter, die ihnen der
Aufruhr kostete, sondern er gibt in einer Formel einen Ausdruck
für das Leben selbst, von seinen zwei Seiten gesehen.
Unsre Vorfahren waren sehr gesellig in ihrer Freude. Zusam­
mensein und Wohlsein war eins bei ihnen. Wenn sie um den Tisch
oder ums Feuer sitzen, je nachdem, müssen sie immerfort Iahen
und lärmen - sie fühlen Freude, gam an. Dieses gam an ist ein
Wort mit einer umfassenden Bedeutung, und es re ih t weit über
die Freuden des Tisches und des G esprähes hinaus; aber eigentlih
ist es Gesellschaft - mit anderen Worten, es ist das Gemeinschafts­
gefühl, das die Grundlage ihres Glücksgefühls bildet. M anndreám —
„M annesfreude“ - Freude an dem Zusammensein mit Männern,
ist der angelsähsische Ausdruck für Leben, Dasein und Sterben
heißt, den m anndreäm oder gum dreám ( gum a = Mann) aufgeben,
die Freude an M enshen, die Freude am Leben, die Freude an der
H alle; es ist der V erziht auf Freude an der Verwandtschaft, an
der Ehe, an der Erde, an dem Familienerbe, an dem fröhlihen
Heim.
Nun sind wir in der Lage zu verstehen, daß Lust oder Freude
keine dem geselligen Verkehr entspringende Fröhlihkeit ist; sie
holen ihre erheiternde Kraft daher, daß sie mit Frieden identish
sind. Der Inhalt der Freude ist ein Familiengut, ein Erbgut. Das

71
angelsächsische Wort feasceaft bedeutet wörtlich: der kein Los, kei­
nen Anteil hat, der Friedlose, der keine Sippe hat, aber zur glei­
chen Zeit enthält das Wort unser „unglücklich, freudlos“ ; nicht,
wie wir glauben möchten, weil solch ein Vertriebener notwendiger­
weise ein trauriges Dasein führen muß, sondern weil er der Freude
den Rücken kehrte, als er fortging. Die bestimmte Form, „die
Freude“ , muß in individualisierender Bedeutung aufgefaßt wer­
den als eine Freudensumme, die an das Haus gebunden ist, und die
der Mann zurücklassen muß, wenn er sich in das Leere hinaus­
begibt; es gibt keine Freude ausgestreut draußen in der Wildnis.
Derjenige, der aus der Freude der Seinigen und des Seinigen aus­
gestoßen ist, hat alle Möglichkeit verloren, das Wohlbehagen der
Fülle in sich zu empfinden. Er ist leer.
Die Verwandtschaft ist die unerläßliche Vorbedingung, um das
Leben als ein menschliches Wesen leben zu können; daher ist das
Leid, das irgendein Friedensbruch hervorruft, so entsetzlich., so
ohne Seitenstück in der Erfahrung, so unerträglich und brutal,
allen höheren Inhalts bar. Uns will es scheinen, daß ein solcher
Konflikt, wie Gudruns, als ihr „Sprechfreund“ getötet ist und sie
ihre Brüder als die Tater sieht, die tiefste Bitterkeit enthalte, daß
er die Seele zerreiße. Aber unsere Vorfahren kannten etwas Schlim­
meres als Zerreißung, nämlich die Auflösung. Ein Friedensbruch
ruft ein Leiden hervor, das tiefer liegt als jede Leidenschaft: es ist
die Verwandtschaft selbst, die erstickt wird, und damit folgt das
Aussterben aller menschlichen Eigenschaften. Was der Elende leidet
oder was er genießt, kann keine eigentlichen Gefühle mehr in ihm
hervorrufen. Die Kraft zur Freude selbst ist gestorben. Die Fähig­
keit zum Handeln ist getötet. Die Energie wird aufgelöst und
weicht einem Zustande, den der Nordländer mehr als alles fürch­
tete und mehr als alles verachtete: der Ratlosigkeit.
„Bußloser K am pf, vermessene Sünde, wie Finsternis überHredels
Seele fallend“ , sagt der Beowulf über den Brudermord; in diesen
Worten wird die ratlose, energielose Angst zusammengefaßt, die
eine Folge des Friedensbruches ist.
Hiermit ist uns eine neue Aufgabe gestellt worden. Die Freude
ist etwas Wesentliches für die Menschlichkeit. Sie ist unzertrennlich
mit dem Frieden verknüpft, eine Summe und ein Erbe; aber außer­
dem hatte diese Freude einen eigenen Inhalt.
Im Beowulf wird von der Heimkehr des Helden von Streit
und Mühen so gesungen: „Von dort aus zog er nach seinem teuren

72
Heim, lieb seinem Volke, heim zu der holden Friedenshalle, wo er
seine Kam pfgefährten, seine Burg, seine Schätze hatte.“ Was be­
deuteten denn diese Zeilen den ursprünglichen Zuhörern? Was
riefen die Worte „teuer“ und „lieb“ und „hold“ in ihnen hervor?
Was wir bisher gesehen haben, zeigt uns nur annähernd die Stärke
dieser Worte und was wir nicht in sie hineinlegen sollen. Was waren
es für Vorstellungen, mit denen diese Freude verknüpft war?
Die Antwort gibt das alte Wort E h r e .

73
Ehre

Friede und Ehre, sie sind die Summe des Lebens, der Inbegriff
dessen, was ein Mann zu einem vollen und glücklichen Leben
braucht.
„Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde*, läßt die
Genesis Gott zu Noah beim Verlassen der Arche sagen; und das
heißt bei dem angelsächsischen Genesisdichter so: „Seid fruchtbar
und mehret euch; lebt in Ehren und Frieden mit Freuden.“
Es lebte einmal auf Island an dem Isfjord ein alter Mann, der
Flavard hieß. Er war zu seiner Zeit ein wackerer Mann gewesen,
aber er war nicht reich und hatte keinen großen Einfluß. Sein ein­
ziger Sohn O laf erregte wegen seiner Beliebtheit und Keckheit den
Neid des Goden des Isfjord, des mächtigen und schroffen Thor­
björn von Laugabol. Thorbjörn wollte mehr sein als der erste, er
wollte der einzige Mann von Ansehen im Orte sein, und das er­
reichte er, indem er O laf tötete. Als die Botschaft H avard gebracht
wurde, sank er laut stöhnend zusammen und blieb ein ganzes Jah r
im Bett liegen. Niemand glaubte auch im Ernst, daß ein alter, ein­
samer Mann von den übermütigen Leuten auf Laugabol Genug­
tuung würde eintreiben können. H avards tapfere Frau hielt den
H of in Ordnung, fischte am Tage mit dem Knecht und verrichtete
ihre übrige Arbeit in der Nacht; am Ausgang des Jahres brachte
sie den Alten dazu, sich zusammenzuraffen und sich auf den Weg
zu machen, um Buße zu fordern. Er begegnete großem Hohn —er­
hielt nicht einmal eine abschlägige Antwort; er könne außerhalb
des Geheges nachsehen, dort würde er einen Gaul finden, der eben­
so alt, hinkend und lahm wie er selbst wäre; das Pferd hätte lange
Zeit zappelnd dagelegen, jetzt hätte es Krätze bekommen, es könne
vielleicht noch auf die Beine kommen; dieses arme Tier könne er
gern mitnehmen und behalten, wenn er Trost brauche für den Tod
seines Sohnes. H avard torkelt heim und liegt noch ein Jahr im
Bett.
Noch einmal fügt er sich der Gattin und macht einen Versuch;
er geht ungern, aber „wenn ich wüßte, daß es noch Rache gäbe für

74
meinen Sohn O laf, da sollte es mich nie gereuen, wie teuer ich sie
kaufen müßte.“ Also reitet er nach dem Thing. Beim Eintreten des
Alten in die Thinghütte kann Thorbjörn sich nicht gleich darauf
besinnen, was sein Geschäft sein könne. H avard sagt: „Die Tötung
meines Sohnes O laf steht immer vor mir, als sei es eben geschehen,
und mein Geschäft hier ist also, dich um Buße zu bitten.“ Er be­
kommt weiter nichts für seine Bemühungen als neuen Hohn, blu­
tigen Hohn. Gebeugt geht er aus der Hütte und bemerkt kaum,
daß der eine und andere nicht unbedeutende Mann ihm ein Wort
gönnt. Seine Bettlägerigkeit im dritten Jahre wird durch Glieder­
reißen noch schwerer erträglich. Bjargny, seine Frau, verrichtet
weiter die Arbeiten auf dem H ofe und findet dazwischen Muße,
sich bei ihren Verwandten H ilfe zu sichern und sich über Thor­
björns Reisen und Wege Nachrichten zu beschaffen. Dann kommt
sie eines Tages wieder ans Bett, als es zum dritten Male Sommer
geworden ist: „Jetzt hast du lange genug geschlafen; diese Nacht
soll die Rache für deinen Sohn O laf vollbracht werden; nachher
ist es zu spät.“ Das war etwas anderes als die trostlose Aussicht,
wieder ausreiten und um Buße bitten zu müssen. H avard sprang
aus dem Bette, eilte, seine Rache vor Tagesgrauen zu vollbringen,
und kam am Morgen zu Steinthor auf Eyri, um den Tod von vier
Männern zu melden und ihn an einen Wortwechsel auf dem letz­
ten Allthing zu erinnern: „Es kommt mir nämlich vor, als ob du
sagtest, wenn ich ein wenig Beistand brauchte, könne ich ebensogut
zu dir wie zu anderen Häuptlingen kommen.“ „Den Beistand
sollst du haben“ , sagte Steinthor, „aber ich möchte wissen, was du
unter großem Beistand verstehst, wenn der, den du jetzt brauchst,
nur wenig ist.“ Und nun setzte H avard sich breit und sicher in
den zweiten Hochsitz auf Eyri, lachte über die Zukunft mit ihren
Schwierigkeiten und scherzte mit allen, die in seine Nähe kamen,
„denn jetzt hatte aller H arm und aller Gram ein Ende“ .
H avard erlitt eine Schmach, einen Ehrverlust. Es erschüttert ihn,
bis ins Mark. Das Übel rüttelt ihn, den alten Mann, daß er ge­
lähmt niedersinkt. D a liegt er, während ein einziger Gedanke so
hartnäckig an ihm nagt, daß er meint, die drei Jahre nicht ge­
schlafen zu haben. Auf dem Thing geht er einher, wie ein Zu­
schauer ihn beschreibt, „ungleich den anderen, groß an Wuchs und
etwas bejahrt; er schleppt sich vorwärts und sieht doch aus wie
ein rechter Mann; er scheint von Kummer und Unruhe erfüllt“ .
Als aber dann die Wiederaufrichtung kommt, da schießt die

75
Ehre wiederum durch seine Adern, neugeboren, neues Leben ge­
bärend. D a strecken sich alle Glieder, die Lungen weiten sich. Mit
einem Seufzer des Erwachens fühlt der Mann das Leben noch ein­
mal durch sich und aus sich strömen. Die Kräfte schwellen an. Das
Herz wird jung, so jung, daß es wieder lernen muß, was Gefahr
ist, was Schwierigkeiten sind; es wird voll übermütiger Lebens­
freude, voll wahrer Lebenslust, die sich keinen Deut um den Tod
kümmert.

Paulus Diaconus erzählt von einem alten Langobarden, Sig-


valde, der ebenso wie H avard hart geprüft wurde und ebenso
mannigfaltige Freude aus seiner Trauer erntete. Er hatte zwei
Söhne im K am pf mit den einfallenden Slawen verloren. In zwei
Schlachten rächte er sie mit großem Eifer, und als eine dritte
Schlacht vor der Tur stand, wollte er trotz aller Warnungen mit
in den K am pf, „denn“ , so meinte er, „jetzt, da ich volle Genug­
tuung für meine Söhne erhalten habe, kann ich froh dem Tod
begegnen, wenn es so sein soll“ . Und damit ging er in den Tod aus
lauter überströmender Lebenskraft.
Die Ehre ruft gleich die Rache ins Gedächtnis. So muß es sein;
wer an Ehre denkt, muß Rache sagen, nicht nur, weil die beiden
immer in den Erzählungen verbunden sind, sondern vielmehr,
weil man nur durch die Rache hindurch die Ehre in ihrer ganzen
Tiefe und Breite sehen kann: Die Rache ist die Verklärung und
die Erklärung des Lebens; so wie das Leben sich in dem Rächer
betätigt, ist es am wahrsten und am schönsten.
Das Leben erkennt man an seiner Ekstase. Es gibt eine Art Ver­
zückung, in welcher Menschen aus sich herausgehen und sich ver­
gessen, um im Unendlichen, im Zeitlosen zu versinken. Aber es
gibt auch eine Ekstase, wo Menschen aus sich herausgehen, ohne
ihren festen Stand in der Zeit zu verlieren, eine Verzückung, wo
sie das Höchste und Tiefste - ihr Höchstes und Tiefstes - wie in
einem Kraftgefühl erleben, wo sie eine Weile im Genuß des An­
wachsens ihrer Stärke verharren und darauf weiterstürmen, stär­
ker und mutiger.
An dieser lebensvollen Verzückung soll man das Leben erkennen.
In ihr offenbart die Kultur ihr Wesen und ihren Wert. Um ein
fremdes Zeitalter gerecht zu beurteilen, müssen wir erst teilhaben
an der Ekstase jener Zeit. Das Erlebnis dieses einen Augenblicks
gibt mehr als die Erfahrung vieler Jahre, weil die ganze Ge­

76
dankenfülle und Gefühlsfülle der Kultur dort in der höchsten
Potenz verdichtet ruht. Im großen Erlebnis sollen die gebrochenen
Lichtstrahlen des Alltagslebens verklärt werden; die Freude des
Lebens, das Leid, die Schönheit, die Wahrheit und das Recht offen­
baren uns hier ihr innerstes Wesen. Was ist der Inhalt von Freude
und Leid eines Volkes? Die Beantwortung dieser Frage zwingt uns
weit in die Kultur des Volkes hinein. Aber ebenso wichtig ist es,
den Stärkegrad der Freude zu messen; was ist die höchste Stei­
gerung bei jenen Menschen: Jubel, Lust, seelische Erquickung, lär­
mendes Lachen, Lächeln oder was? Und was ist ihnen das Leid?
Etw as, das sie genießen können, wenn nicht anders, so doch in der
Dichtung veredelt, oder eine Pestilenz, etwas an sich Fürchterliches
und Verächtliches?
Was Christentum war, damals, als das Christentum eine „K u l­
tur“ bildete, eine geistige, lebenspendende und lebensnotwendige
Atmosphäre, das fühlen wir, wenn wir uns, so weit es möglich ist,
das Erlebnis eines Vaters vergegenwärtigen, der Gott preist, weil
seine Kinder für würdig gehalten werden, für Jesu Namen zu
leiden. Der Jude offenbart sich in dem Augenblick, wo er einen
neugeborenen Sohn auf sein Knie setzt und ihn mit seinem Segen
zum Erhalter seines Stammes weiht. Hellas muß man durch den
alten Diagoras erleben, als er nach dem Sieg seiner Söhne in den
Wettspielen auf ihren Schultern sitzt, umjubelt und „in seinen
Kindern glüddich gepriesen“ .
Die Ekstase der Germanen wird im Augenblick der Rache er­
reicht.
H avard und Sigvalde stehen auf heiligem Boden. So sehr wir
auch davon entfernt sind, ihre Gründe und Erwägungen zu ver­
stehen, werden wir doch von Ehrfurcht vor diesen Gestalten ge-
padet. Nicht ihre Männlichkeit, ihre Gewaltsamkeit, ihr Humor,
ihr Scharfsinn sind es, die unser Interesse erregen; wir fühlen un­
deutlich, daß die Rache der höchste Ausdruck ihrer Menschlichkeit
ist, und so werden wir genötigt, unsre Ehrfurcht in mitfühlendes
Verständnis für die Ideale zu verwandeln, die ihre Taten hervor -
rufen.
Die Rache macht sie groß, weil sie jede Möglichkeit in ihnen
entfaltet - nicht nur einige wenige blutdürstige Eigenschaften. Sie
spannt ihre Unternehmungslust beinahe über die Kraft, macht, daß
sie sich stärker, mutiger fühlen. Aber sie lehrt sie auch warten, sich
besinnen, berechnen; jahraus und jahrein kann ein Mann warten

77
und wägen, alle seine Pläne darauf einstellen, die flüchtigste Ge­
legenheit für eine Ehrenabrechnung zu ergreifen; ja sogar seine
täglichen Verrichtungen in der Wirtschaft, wenn er sein Heu und
sein Vieh besorgt, werden so zurechtgelegt, daß er immer nach den
Wegen Ausschau halten und jeden Augenblick sehen kann, ob der
erwünschte Mann vorüberreiten sollte. Die Rache lehrt ihn, mit
Zeit und Raum wie mit Kleinigkeiten zu rechnen. Er wird von
der Erinnerung durch die Zeit getragen, und er kann über Land
und Meer getrieben werden nach einem Ziel, das er vor sich sieht.
Ein sechsjähriger Knabe, der seinen Vater vor seinen Augen ge­
tötet sieht, findet gleich das rechte Wort: „Nicht weinen, sondern
erinnern.“
Die Rache hebt ihn empor und verklärt ihn. Sie hebt ihn nicht
nur, sondern hält ihn schwebend, läßt ihn auf einer höheren Ebene
fortleben. Dies kann geschehen, weil das Verlangen nach Genug­
tuung nicht nur die erhabenste von allen Empfindungen ist, son­
dern zugleich die alltäglichste, die allgemeinste menschliche. Welche
Unterschiede sonst zwischen Menschen auch bestanden, in einem
begegneten sie sich: sie mußten, sollten und konnten nicht anders
als Genugtuung suchen.
Was war denn Rache?
Sie war k e i n Ausschlag eines Gerechtigkeitsgefühls. Es gibt
Völker, die in der Gerechtigkeit das Lebensprinzip des Daseins
erblicken, das Grundgesetz, das die Welt zusammenhält und be­
wahrt. Zwischen dem Betragen der Menschen und dem Gang der
Gestirne besteht für sie eine Art direktes Verhältnis, so daß ein
ungesühntes Verbrechen wie eine Gefahr über der Menschheit brü­
tet. Um Hungerjahre, Niederlagen oder überhaupt Störungen
der Weltordnung zu vermeiden, muß man daher nötigenfalls die
Söhne für das Verbrechen der Väter richten und umgekehrt. Zu
diesen Völkern gehören die Germanen nicht. Diese Gerechtigkeit
erfordert eine ganz andere Art von Gewissen als das, womit unsre
Vorfahren ausgestattet waren.
Auch verstanden diese Menschen nicht die symmetrische Moral,
diejenige, die das Gleichgewicht wiederaufrichtet, indem sie ein
Auge für ein Auge ausschlägt. Die Germanen begriffen das Wort
Vergeltung ebensowenig wie das Wort Strafe.
Wenn mit Rachedurst der Wunsch bezeichnet wird, durch Ver­
nichtung der Feinde seiner Lust zu genügen, dann paßt das Wort
nicht auf die Germanen. Die Rache wird mit aller Sorgfalt ge-

78
plant, mit der größten Kaltblütigkeit ausgeführt, man möchte
sagen mit geschäftsmäßiger Kaltblütigkeit. Der Rächer schlägt sein
Beil in den K opf des Gegners, wischt das Blut im Grase ab, „ver­
hüllt“ die Leiche, wie es die Sitte verlangt, und reitet davon. Er
hat keine Lust, sich weiter mit dem Gefallenen zu befassen - Ver­
stümmelung einer Leiche ist in der Geschichte des Nordens etwas
so Vereinzeltes, daß es den Täter als eine Ausnahme stempelt, das
heißt als einen geringeren Mann. Schlimme Erinnerungen können
ein seltenes Mal einen Mann aus der Fassung bringen. H avard
hieb Thorbjörn einen Hieb quer übers Gesicht, nachdem er ihm
die Todeswunde zugefügt hatte, denn Thorbjörn hatte ihn einmal
ins Gesicht geschlagen mit einem Beutel, in welchem O laf H avard-
sons Zähne seit dem Tage, wo sie durch den Todeshieb heraus­
fielen, aufgehoben gewesen waren. Aber H avards Tat rief sofort
bei seinem Gefährten Hallgrim die Frage hervor: „Warum be­
handelst du einen toten Mann auf diese Weise?“ Sogar wenn der
Mann noch nicht gestorben war, wenn er tödlich verwundet da­
lag, wurde es als unmännlich angesehen, ihm noch einen Hieb zu
versetzen. Die Tat kann Neidingswerk genannt werden.
N ur selten frohlockt ein Sieger über den Getöteten, und wenn
es einmal vorkommt, ist es deutlich nur eine zufällige Begleit­
erscheinung, nicht das Zentrale im Gefühl der Befriedigung. H in­
ter der äußeren Stille der Rache brandet die Seele in Jubel, in
Stolz; die Vollführung der Tat vermag besser als irgend etwas
anderes begeisterte Worte hervorzupressen zum Preise der Tat,
zum Preise desjenigen, der die Tat übte, desjenigen, um dessent-
willen sie ausgeführt wurde, oder der Sippe, der sie beide an­
gehörten. Aber diese Ausbrüche kommen aus der Tiefe; aus ihnen
spricht die Ekstase des Lebens.
In dem Strafenden wie in dem Rachegierigen kreisen alle Ge­
danken um jenen anderen, um das, was mit ihm geschehen soll,
ob er richtig und fühlbar getroffen werden kann. Der Rächer da­
gegen hat das Zentrum seiner Gedanken in sich selbst. Es kommt
alles darauf an, was e r tut, nicht, was der andere leidet. Der
Rächer h o l t etwas. Er n i m m t Rache.
Zwei Dinge sind für eine rechte Radie erforderlich: daß der
Kränker durch Waffen fällt, und daß die Waffe von dem Ge­
kränkten geführt wird. Wenn der Toter vor dem Ausgleich der
Sache auf andere Art umkam - eines natürlichen Todes starb oder
verunglückte - , so hatten die Gekränkten nicht weniger Anspruch

79
au f ihre Rache; sie mußten sich dann an die Verwandten des
Kränkers halten und so auch, wenn er ihnen lebendig entwischte,
zum Beispiel diesen Zeitpunkt wählte, um zu verreisen und sich
in der Welt umzusehen, etwa bei Königen fremder Länder gute
Sitten zu lernen. Audi empfand die gekränkte Sippe es nidit als
Genugtuung, wenn der Tater von der H and eines unbeteiligten
Dritten fiel; ihre Rache stand noch aus, denn sie hatten nicht „für
ihren Verwandten Ehre erhalten“ .
D a mußte aber auch der Gegner notwendigerweise eine Ehre
haben, sollte die Kränkung an ihr wiedergutgemacht werden kön­
nen. Der unglücklichste Tod für einen Mann war, von Unfreien
getötet zu werden, und besonders dann, wenn diese auf eigene
Faust handelten und kein Mann von Ansehen als Anstifter da­
hinterstand; denn bei Unfreien war keine Rache zu holen. Einer
der ersten Landnahmemänner Islands, H jörleif, wurde von seinen
Knechten überfallen und getötet. Als sein Ziehbruder Ingolf spä­
ter die Leiche fand, brach er in die klagenden Worte aus: „Unheil­
volles Schicksal für einen tapferen Mann, daß Knechte seinen Tod
wirkten.“ Als H avard die Tötung seines Sohnes rächte, ließ er die
Knechte unbehelligt; die Tat würde dadurch nicht „mehr gerächt“
sein, daß er auch noch ihnen ihr elendes Leben nähme. Ähnlich
dem Tod von Knechteshand war das Schicksal dessen, der von
einem Landstreicher getötet wurde, von einem Mann, der keine
Genossen der Ehre, keine Ziehbrüder oder Kampfgefährten auf
der Welt hatte; nicht nur konnte die Rache leicht durch ein Miß­
geschick verlorengehen, da sie an einem einzigen Individuum hing;
auch die Ehre, die man von einem solchen „Einzelgänger“ eintrieb,
war an sich nur mäßig.
Aber auch unter echten Verwandten konnte es in der Bewertung
der Rache Unterschiede geben. Empfand die Sippe ihre Kränkung
sehr tief, etwa weil der Getötete einer ihrer besten Männer ge­
wesen war oder weil seine Verwandten überhaupt ihre Ehre hoch
einschätzten, da zogen sie es vielleicht vor, gleich nach einem bes­
seren Mann in der Familie des Kränkers zu zielen. Dieser Drang,
seine Rache an einem Verwandten des Kränkers zu befriedigen,
der als ein „würdigerer“ Gegenstand der Rache betrachtet wurde,
stirbt im Norden erst spät aus.
In der Einleitung zu dem norwegischen Frostathinggesetz muß
„K önig H akon, der Sohn König H akons, der Sohnessohn König
Sverris“ sich noch tief beklagen über „die böse Unsitte, die lange

80
in diesem Lande gewesen ist, daß allwo ein Mann umgebracht
wird, die Verwandten des Toten denjenigen der Sippe des Töters
nehmen wollen, der als der Beste angesehen wird, auch wenn er
weder wissend, noch wollend, noch bei dem Totschlag anwesend
war, und sie wollen sich nicht an dem rächen, der getötet hat, ob­
schon sie dazu Gelegenheit haben“ , und folglich gedeihen die
Bösen, und die Guten bekommen keine Belohnung für ihre Fried­
fertigkeit, „und wir sehen uns der besten Untertanen des Landes
beraubt“ , seufzt der Landesvater.
Die Bitterkeit im Ton deutet darauf, daß der Trost vorläufig
ziemlich fern ist. Gewiß wollten die freien Bauern gern in Sicher­
heit im Lande wohnen, und wenn der König ihnen zu einem
solchen Frieden verhelfen konnte, dann sollte dies oder jenes Ver­
bot und Gebot willkommen sein; aber ebenso sicher wie die Unter­
lassung des Totens den Landfrieden gebessert hätte, ebenso sicher
war es, daß der Mensch nicht davon leben konnte, nicht getötet
zu werden. Und wenn nun N ot am Mann war, was gab einem da
der König? Den Gewinn der Heilung ihrer verwundeten Ehre, den
die guten Untertanen des Königs sich auf die alte Weise verschaff­
ten, konnte er ihnen durch kein neues Rechtsmittel ersetzen. Und
solange die Ehre als ein Grundfaktor in der moralischen Selbst­
achtung des Volkes, ja als der eigentliche Zweck des Gesetzes da­
stand, konnte man ihr nicht mit einer scharfen amtlichen Ver­
fügung ein Ende abkappen. Verbote und Gesetzesbestimmungen
von oben sind im besten Falle nur Vorläufer, Herolde einer Sinnes­
änderung, die Jahrhunderte braucht, um sich durchzusetzen, und
solange „Gesetz“ und „Recht“ einander nicht in neuer Einheit
gefunden hatten, solange war der „Mißbrauch“ des Volkes, sein
Mißverstehen des eigenen Nutzens, stärker als Königsmacht und
Vernunft. „Kein anderer Mann im Lande hat eine so wackere
Rache wie er erhalten - für keinen anderen sind so viele als Buße
gefällt worden“ — das war und blieb der beste Beweis dafür, daß
der Gefallene der Größte unter den Männern seiner Zeit gewesen
war.
Die Rache besteht also darin, daß man dem anderen etwas weg­
nimmt. Man erwirbt sich Ehre von ihm. Man will seine Ehre
wiederhaben.
Durch die Kränkung ist dem leidenden Teil ein Verlust zu­
gefügt worden. Er hat etwas von seiner Ehre verloren. Aber diese
Ehre ist nicht etwas, was er zur N ot entbehren kann, etwas, was

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er nur als Luxus braucht, und ohne das genügsamere Charaktere
schließlich auskommen können. Er kann sich nicht einmal mit dem
Teil, der ihm bleibt, vertrösten; denn die erlittene Kränkung ist
mit einer Wunde zu vergleichen, die sich von selber nicht schließen
will und die unaufhörlich weiterbluten wird, bis all sein Leben
ausgeronnen ist. Kann der leere Raum nicht wieder ausgefüllt
werden, so wird er nie mehr er selber. Die Leere kann auch
Schmach genannt werden, sie ist ein Leiden, ein schmerzhafter
Krankheitszustand.
N jal, der friedfertige, friedenstiftende N jal, verliert nicht viele
Worte darüber; aber die menschlichen Gefühle sind in ihm ebenso
unverdorben wie in dem tapferen Recken Egil. Er w arf einen
Blick auf seinen alternden Körper und sagte: „Ich kann meine
Söhne nicht rächen, und ich will nicht mit Schanden leben“ , und
damit w arf er sich auf sein Bett mitten in den Flammen. In einem
solchen Charakter wie Kveldulf brach das Leiden in gewaltigen
Krampfeszuckungen aus. Sein SohnThorolf war in nahezu offener
Fehde gegen den König H arald selbst gefallen; es schien hoffnungs­
los für einen einfachen Bauern, von Norwegens mächtigem König
Ehre zu erhalten. Er selbst war alt und verbraucht; aber der
Hunger nach Ehre wirkte in seinem alten Körper als ein Stimu­
lans, das die letzten Reste von Kraft sammelte, um jemanden um­
zubringen, „den zu verlieren für König H arald übel sein wird“ .
So verschieden die beiden Männer an Naturell sind - sie repräsen­
tieren wohl die beiden äußersten Pole der isländischen Kultur - ,
sie denken und fühlen doch gleich und handeln von derselben
Voraussetzung aus: der Unentbehrlichkeit der Ehre und der Un­
umgänglichkeit der Rache. Solange die Menschen noch das alte
Leben lebten, gleichgültig ob die äußeren Formen heidnisch oder
christlich waren, konnte ein Mann unter keiner Bedingung die
Rache darniederliegen lassen; es war für ihn nicht möglich, sich
über die Forderungen der Ehre hinwegzusetzen, weil sie von innen
kamen und sich als ein quälendes Angstgefühl meldeten.
Es war einmal ein Isländer, der etwas Großes, fast Über­
menschliches tat. Nach dem Volkskampf auf dem Allthing im
Jahre 1012, als die Aussichten auf Vergleich trübe waren und alles
auf eine schicksalschwere Sprengung des Freistaates zu deuten
schien, erhob sich der mächtige Häuptling H all von Sida und
sagte: „Alle Männer wissen, von welchem Schmerz ich getroffen
wurde, als mein Sohn Ljot fiel. Der eine oder andere mag wohl

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denken, daß er einer der Teuersten werden würde von allen, die
hier gefallen sind (d. h. einer von denen, dessen Tod die höchste
Buße kosten würde). Aber dies will ich tun, damit Männer sich
vergleichen: ich will meinen Sohn ungebüßt liegenlassen und mei­
nen Gegnern doch vollen Frieden und Vergleich geben. So bitte ich
dich, Gode Snorri, und mit dir die Besten hier, daß ihr durchsetzt,
daß ein Vergleich zwischen uns zustande kommt.“ D arauf setzte
H all sich nieder. Und bei seinen Worten klang lautes Beifalls­
murmeln, alle priesen laut seine gute Gesinnung. „Und darüber,
daß H all seinen Sohn bußelos liegenlassen wollte und so viel für
den Vergleich tat, ist noch zu erzählen, daß die ganze Thingver­
sammlung Bußen für ihn zusammenlegte, und das Zusammen­
gelegte war nicht weniger als acht Hundert in Silber; aber das war
vierfache Mannesbuße.“
Das Leben ist aber nicht nur gefährdet, wenn Blut fließt. Die
Ehre versickerte ebenso verhängnisvoll durch die Wunde, die mit
einem Stock oder mit einem scharfen Wort oder bloß mit einer
höhnischen Zurücksetzung zugefügt wurde. Und das Heilmittel ist
in allen Fällen dasselbe.
Wenn ein Mann dasitzt und im Gespräch seinen Worten mit
einem Stecken Nachdruck verleiht und dann leider die Nase seines
Kameraden trifft, sollte dieser vielleicht lieber berücksichtigen, daß
der Gestikulierende kurzsichtig war und sich warm geredet hatte.
Jedenfalls kann es wohl nicht als ganz guter Ton betrachtet wer­
den, gleich aufzufahren und zu versuchen, dem anderen die Axt
auf die Nase zu pflanzen; findet man aber den kurzsichtigen und
eifrigen Erzähler einige Monate später in seinem Bett getötet, so
weiß man, daß da einer gewesen ist, um „den Steckenhieb zu
rächen“. Niemand wird prinzipiell der Tat die Bezeichnung Rache
verweigern. Und war der Getroffene ein Mann von Ehre, dann
würde kein Außenstehender ihm das Recht aberkennen, so zu han­
deln, wie er tat; umgekehrt, sie würden sofort einsehen, daß der
Nasenstüber für ihn ebenso verhängnisvoll werden konnte wie ein
abgehauener Arm oder ein abgehauenes Bein. Wenn keine Ehre für
die Kränkung geholt würde, könnte in der kleinen Wunde sozu­
sagen eine Blutvergiftung entstehen.
So geschah es dem Isländer Thorleif Kimbi. Er hatte auf einer
Auslandsreise an Bord eines norwegischen Schiffes das Mißgeschick
gehabt, sich seinem Landsmann Arnbjörn gegenüber etwas hitzig
zu benehmen, als die beiden beim Kochen waren. Arnbjörn fuhr

83
auf und versetzte Thorleif mit seinem warmen Löffel einen Schlag
an den H als. Thorleif würgte die Schande hinunter: „D ie N or­
weger sollen nicht ihren Spaß an uns beiden Isländern haben und
uns wie ein paar Köter trennen, aber ich werde daran denken,
wenn wir uns auf Island treffen.“ Thorleifs Gedächtnis scheint in­
dessen schwach gewesen zu sein. Als er aber eines schönen Tages
auf Freite geht, bekommt er vom Bruder des Mädchens die Ant­
wort: „Ich werde dir meine Meinung sagen; bevor ich meine
Schwester mit dir verheirate, mußt du sehen, daß du die Brei­
schrammen am H alse geheilt bekommst, die du vor drei Jahren in
Norwegen erhieltest.“ Und jener Schlag mit dem Löffel und die
mit den Schrammen begründete Ablehnung brachten zwei ganze
Bezirke miteinander in Fehde und führte zu tiefen und dauern­
den Entzweiungen der beteiligten Geschlechter. Vom Standpunkte
des Frühgermanentums aus betrachtet ist hier kein Mißverhältnis
zwischen der Ursache und ihren Folgen.
Wurde ein Mann Dieb oder Feigling genannt - was er nicht
war - oder bartlos - was sich vielleicht tatsächlich nicht leugnen
ließ - in jedem Fall mußte er, wenn er seine Würde behalten
wollte, vollen und ganzen Ersatz für die Anschuldigung eintreiben.
Es ist bekannt, daß N jal den Mangel hatte, daß ihm kein Bart
wuchs. Gunnars Gattin H allgerd sah es und verschwieg es nicht:
„Daß ein so kluger Mann, der für alles einen R at weiß, nicht auf
den Gedanken gekommen ist, dort Mist anzufahren, wo es am
meisten not tut! Der bartlose Greis soll er heißen, seine Söhne
können dann den Namen Mistbärte erhalten. Du aber, Sigmund,
du solltest es in Verse setzen; laß es uns zugute kommen, daß du
dichten kannst.“ Sigmund tut alles, was ihm die Bewunderung der
schönen H allgerd sichern kann und ihre Beifallsausbrüche: „D u
bist ein Kleinod, so wie du mir Freude machst“ . Die Beschimpfung
tat ihre Wirkung nicht nur bei den jungen heißblütigen Njalsöhnen,
sondern ebensosehr bei N jal selbst. Die Verse kamen Bergthora,
N jals Gattin, zu Gehör. Und als sie bei Tische saßen, sagte sie:
„Ihr seid durch Geschenke geehrt worden, sowohl du, Vater, wie
deine Söhne; ihr zeigt euch als schlechte Ehrenmänner, wenn ihr es
nicht lohnt.“ „Was sind das für Geschenke?“ fragte Skarphedin.
„Ihr Söhne bekamt alle zusammen ein Geschenk, man nannte euch
die Mistbärte; der H ausvater wurde der bartlose Greis genannt.“
„Wir haben doch nicht der Weiber Art, daß wir uns über alles
erzürnen“ , sagte Skarphedin. „Erzürnt hat sich Gunnar in eurem

84
Namen, und wenn ihr nicht hier euer Recht betreibt, da werdet
ihr nie einen Schimpf rächen.“ „Es scheint der Alten Spaß zu
machen, uns aufzuhetzen“ , sagte Skarphedin und verzog den Mund
zum Lächeln; aber Schweiß sprang ihm aus der Stirn, und er be­
kam rote Flecken auf den Backen, und das war etwas Ungewöhn­
liches. Grim schwieg und biß auf seine Lippen, und Helgi war
nichts anzuseherx. Höskuld folgte Bergthora nach, als sie hinaus­
ging. Sie trat wieder herein, schäumend vor Zorn. N jal sagte: „N a,
na, Mutter, man kommt zum Ziel, auch wenn man sich Zeit nimmt.
Und so geht es in vielen Sachen, mögen sie einem auch ans Herz
greifen, es erntet nie eitel Lob, wenn Rache genommen wird.“ Am
Abend aber hörte N jal eine A xt gegen die Wand klirren. „Wer hat
unsre Schilde heruntergeholt?“ „Deine Söhne gingen mit ihnen
fo rt“ , sagte Bergthora. N jal zog Schuhe an und ging hinaus, ums
H aus herum; da sah er sie den Hügel hinaufstreben. „Wohin?“
„Nach Schafen“ , antwortete Skarphedin. „Gegen die trägt man
keine Waffen; ihr dürftet ein anderes Geschäft Vorhaben.“ „Dann
wollen wir Lachse fischen, wenn wir die Schafe nicht finden.“
„Wenn das so ist, wäre es zu wünschen, daß euch der Fang nicht
entginge.“ Als er zu seinem Lager kam, sagte er zu Bergthora:
„Alle deine Söhne sind bewaffnet fortgegangen; es scheint, daß
deine scharfen Worte ihnen ein Ziel aufgesteckt haben.“ „Danken
werde ich ihnen von Herzen, wenn sie wiederkehren und mir Sig­
munds Tod melden.“ - Sie kehren heim mit der guten Botschaft
und sagen es N jal. Und er antwortet: „Viel Glück zur T at!“
Es gab für alles nur eine Rache, die Rache in Blut. Wäre nur
von Vergeltung oder Selbstbehauptung die Rede gewesen, hätte
man ohne Zweifel mit gleicher Münze zahlen können. D a die
Menschen einen solchen Glauben an die Macht eines Hohnworts
über die Ehre hatten, sollte man meinen, daß sie auch den eigenen
Spottworten einige Wirkung zutrauten. Aber böse Worte für böse
Worte geben, brachte nicht die Ehre zurück; der Stachel aus den
Worten des anderen blieb stecken, und die Rache konnte verloren­
gehen. Ein Mann würde es kaum wagen, einen Feind gefangen­
zunehmen und ihn zu verhöhnen, anstatt ihn sofort zu töten, man
fürchtete sich davor, Erniedrigung an Stelle der Genugtuung zu
holen, und so wurde es als unmännlich betrachtet, einen Feind zu
demütigen, anstatt ihn zu töten. Die Rache war eine zu teure
Sache, als daß man mit ihr spaßen konnte.

85
Die Ehre machte, daß der Mensch rädien m u ß t e , nicht nur,
daß er rächen k o n n t e . Die Gilden lebten ebenso wie die alten
Verwandtenkreise in Frieden und Ehre, und in ihren Statuten
sind die Grundsätze der alten Gesellschaft in Paragraphen zusam­
mengefaßt. Ein Mann wird aus der Gilde .ausgestoßen und für
einen Neiding erklärt, wenn er seinem Bruder den „Frieden“ bricht
in irgendeinem Streite, der zwischen ihnen entstand, gleich wo sie
sich begegnen, zu Hause, in der Gildehalle, in den Gassen der
Stadt oder draußen in der Welt; er zieht sich denselben Richtspruch
zu, wenn er sich der Sache seines Bruders nicht annimmt, wo dieser
in Händeln mit Leuten außerhalb der Bruderschaft H ilfe braucht;
aber nicht weniger vergeht sich ein Bruder, wenn er eine Ent­
ehrung erträgt, ohne die H ilfe der Brüder herbeizurufen; rächt er
nicht mit H ilfe der Gildegenossen die Beleidigung, so wird er als
„N eiding“ aus der Bruderschaft ausgestoßen.
Obschon der Friede keinen unmittelbaren Ausdrude in den Ge­
setzen erhalten hat, ist er doch in ihnen vorhanden. Seine Macht
war so selbstverständlich, daß die Gesetzgeber ihn erst dann ge­
wahr wurden, wenn sie begannen, in Opposition gegen ihn zu ge­
raten. Die Ehre aber ist in den Gesetzesparagraphen in hohem
Grade berücksichtigt.
Für die Friedensgenossen ist die Rache eine P f l i c h t ; das
Gesetz sanktioniert diese Pflicht als ein R e c h t . Die isländischen
Gesetze erlauben Tötung auf der Stelle als Vergeltung für einen
Angriff oder für einen Hieb, auch wenn dieser keine Spuren an
der H aut hinterläßt. Im Falle von tieferen Hieben und Wunden
und von Beschimpfungen ernsteren Charakters kann der Kränker
frei niedergehauen werden, wo und wann er vor der nächsten A ll­
thingsversammlung angetroffen wird. So lange ist die Rache zu­
lässig. Geht man aber nach H ause und läßt die kleine Kränkung
an sich haften oder läßt Herbst, Winter und Frühling über die
größere Kränkung verstreichen, so hat man sein Recht auf eigen­
händige Abrechnung verspielt, und dann kann man seinen Gegner
nur durch das Gesetz belangen. - So lautet ein Gesetz, das mit sich
selbst im Streite ist. Die Entwicklung geht in der Richtung der
Einschränkung des Racherechts; aber solange die Notwendigkeit
der Rache im Prinzip anerkannt wird, werden die Grenzen auf
rein äußerliche Weise gezogen. Kein Wunder, daß diese lose errich­
teten Schranken sich als zu schwach erweisen, den Verfolger zu­
rückzuhalten.

86
In den norwegischen Gesetzen ist die allmähliche Einschränkung
einen Schritt weitergekommen. Dort ist die Rache im wesentlichen
nur bei den allerernstesten Kränkungen anerkannt. Man mußte
sidi selbstverständlich vor der Rache beugen, die ein Mann für
Tötung eines Verwandten oder für Entehrung eines Angehörigen
nahm; eine solche Rache in die Rubrik Verbrechen hineinzuzwän­
gen, und wäre es von der mildesten Art, das ließ sich im frühen
M ittelalter nicht machen. Das norwegische Königsgesetz will aber
auch hier am liebsten jeder Selbsthilfe Einhalt gebieten. Vor den
allergrößten Schimpfwörtern mag es vielleicht ein wenig zögernd
stehen; - kann man einem Mann das Recht verweigern, mit der
Axt zu antworten auf eine Anrede wie die folgende: „Du Vettel,
du Petze, du Aas, ein Knecht bist du !“ ? - Aber eine Wunde oder
einen Hieb, einen Puff und ein Spottwort sollen Männer auf das
Thing tragen.
Nichtsdestoweniger sieht man deutlich den echten Untergrund
durchschimmern. H akon Hakonson kann in seinem großen Gesetz­
entwurf aus der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, der als Ein­
leitung zum Frostathinggesetz dient, nicht umhin, zu sagen, daß
Rache für Wunden und echte Kränkungen Gültigkeit haben soll,
wenn sie genommen wird, bevor von der Gegenpartei Buße an-
geboten wird. Die leise Willkürlichkeit in dem Zusatz: „Wenn nicht
der König und andere verständige Männer anderer Meinung sind“ ,
ist charakteristisch für alles hilflose Reformieren von oben; man
gibt dem alten Regime seinen Segen und fügt eine Redensart hin­
zu, die als Reform gelten soll. Wiederholte der Kränker im Ver­
trauen auf sein Vermögen, seine Macht oder auf einflußreiche Ver­
wandte seine Kränkung, so mußte es dem Verletzten anheimgestellt
bleiben, ob er Vergleich annehmen wollte oder nicht.
H alb humoristisch ist eine Verbesserung, die man seiner Zeit als
vielversprechend angesehen zu haben scheint: daß ein Mann, der
rächt, gerichtlich nicht zu belangen sein soll, wenn die Rache die
Kränkung nicht an Größe übertrifft. Der eventuelle Überschuß
soll beim Vergleich nach seinem wahren Wert abgeschätzt und die
Wiedergutmachung dementsprechend entrichtet werden. Ein gut
gemeinter Gedanke, wenn man sich nur einigen könnte, welche Strafe
dem Vergehen entspräche, und was das Überschießende, wenn vor­
handen, wert sein könnte. Der Gedanke nimmt sich besser aus in
der Form einer milden Ermahnung als Leitfaden für das Gewissen
der Gefolgsmannen: „N im m keine zu schnelle Rache und laß die

87
Radie nicht gar zu groß sein“ . So steht es in König M agnus’ H o f­
gesetz vom Jahre 1274.
Alle diese Einschiebungen tragen den Stempel der Schwäche und
Unentschlossenheit; gerade an den Verbesserungen merkt man, wie
klar und einfach der alte Brauch im Bewußtsein ruht: daß K rän­
kung dieser oder jener Art Heilung erfordert, und daß Heilung
in der Rache sicher zu finden ist. Freilich, neue Gedanken sind im
Anzuge; aber vorläufig haben die Reformatoren nichts, womit sie
einen neuen Grund legen können, und deshalb müssen sie auf dem
alten weiterbauen und Verbote gegen Rache damit begründen, daß
Rache etwas ist, was kein Mann entbehren kann.
Freilich ist zwischen Gesetz und Leben ein Gegensatz zu erken­
nen. Der Gesetzgeber scheint einen feinen Blick für Grade und
Abtönungen bei Beleidigungen gehabt zu haben, von denen prak­
tische Leute gar nichts wissen wollten, oder die sie nur solange
anerkannten, als sie sich in juristischer Gesellschaft befanden. D a
saßen die braven Norweger auf dem Thing und hörten es sich mit
Interesse an, wenn die Gesetzeskundigen den Unterschied ent­
wickelten zwischen der Wunde, die den Knochen bloßlegte, sich bei
geeignetem Heilverfahren aber wieder ganz schließen konnte, und
dann dem juristisch bösartigen Fall, wo ein so und so großes Stüde
Fleisch herausgeschnitten und zu Boden gefallen war. Die Zuhörer
merkten sich in ihrem Gedächtnis, wieviel für die erste und wie­
viel für die zweite Sorte bezahlt werden sollte. Oder sie hörten
sich an, wie Schimpfwörter klassifiziert wurden. „Volle Buße soll
gezahlt werden, erstens: Wenn man zu einem Mann sagt, daß er
im Wochenbette gelegen hat, zweitens: Wenn man sagt, daß er un­
natürliche Gelüste hat, drittens: Wenn man ihn mit einem Aas,
einer Petze oder einer Dirne vergleicht.“ Es ist auch ein voll zu
büßendes Wort, ihn Knecht oder Hure oder Hexe zu nennen, im
übrigen gibt es nur Scheltwörter, für die man eine kleine Buße
fordern kann, oder die man mit einem: „D as bist du selbst“ ,
rächen kann. - Dann wurde das Thing aufgehoben und die guten
Männer zogen heim und rächten große wie kleine Beleidigungen
in Blut, als hätte es nie irgendwelche Abstufungen gegeben. Oder
die Isländer, diese harten Köpfe, die sich stritten, sich schlugen und
sich rächten in der ganzen Einfachheit der Ehre, sie zogen auf das
Allthing und hörten den Gesetzessprecher den Totungsabschnitt mit
all seiner kunstfertigen Umständlichkeit vortragen, wo Voraus­
setzungen und Möglichkeiten und Umstände endlos aufgetrennt

88
und verwoben wurden. Niemand ladite, nein, alle folgten mit
tiefstem Interesse.
Dieses Bild ist im höchsten Grade humoristisch. Wüßte man es
nicht besser, so möchte man eine Spaltung in der Gesellschaft ver­
muten. Doch nein. Auf Island jedenfalls gibt es keine Spur von
Trennung in eine gesetzgebende Kaste und eine gesetzlose Menge.
Dieselben starrköpfigen Bauern, die sich im Gau miteinander her­
umschlugen, waren in hohem Grade Juristen mit Neigung und
Begabung für die Verwicklung der Gesetze. Ja , es sind gerade
diese Bauern, die isländisches Gesetz zu einem kleingemusterten
Gewebe von Kasuistik gemacht haben. Das Recht hat auf der
Sagainsel durch ständige Rechtshändel und fleißige Gesetzgeberei
ein besonderes Gepräge von nahezu raffinierter Systematik erhal­
ten wie fast nirgends sonst. Etwas Ähnliches gilt für Norwegen.
Wenn es auch überall Gesetzeskundige in engerem Sinne neben den
Nichtgesetzeskundigen gab, betrifft diese Unterscheidung doch nur
das Wissen des Volkes und nicht das Interesse.
Es läßt sich eine andere Erklärung geben, die durchschlagender
ist. Die Menschen bleiben nicht immer auf derselben Stufe stehen;
aber sie bewegen sich jedesmal nur mit einem Teil der Seele vor­
wärts. Ein und dasselbe Individuum hat in sich ein Zukunfts-Ich,
das sich triumphierend behauptet, wenn der Mann in einer öffent­
lichen Funktion auftritt oder in Zusammenarbeit mit den Seelen­
hälften anderer Gleichgesinnter; daneben ein altmodisches, konser­
vatives Ich, das die Führung zu Hause im Alltagsleben übernimmt,
und das überhaupt jede Gleichgewichtsstörung der Seele auszu­
nutzen weiß, um seinen Nebenbuhler zu überrumpeln und zu ent­
thronen. Die norwegischen und isländischen Gesetze stellen kein
Ur-Recht dar; im Gegenteil, sie sind beide Fortschrittserscheinun­
gen. Es ist das fortschrittliche Ich, das in ihnen spricht. Es ist
eigentümlich genug: während die Norweger eine Schätzungsskala
für Wunden kennen, die verschieden taxiert werden, je nachdem
sie in eine innere Höhlung gehen (das kostet V2 M ark alter Wäh­
rung) oder in der H aut bleiben (kostet 1 Öre), je nachdem die
Wunde ohne N arbe geheilt wird (Preis 1 Öre) oder mit N arbe
(6 Öre), sind die Isländer offenbar nicht darüber hinaus, eine
Wunde eine Wuunde zu nennen. Hätten wir die Möglichkeit, die
Gesetze Jahrhundert um Jahrhundert zurückzu verfolgen, würden
wir sehen, daß die Formen immer einfacher werden, daß sie sich
mehr und mehr der Einfalt des Alltagsdenkens nähern.

89
Aber daraus folgt keineswegs, daß die Vorfahren der Norweger
und Isländer gar keinen Unterschied gemacht hätten. Die Ab­
schätzung der Kränkung liegt so tief im Charakter des Gesetzes,
daß man annehmen muß, daß sie auch in der Volksseele tiefe Wur­
zeln hatte. Obwohl das isländische Gesetzbuch, „die Graugans“ ,
die Grenze für das Racherecht ziemlich tief nach unten verlegt, so
daß einfache Schläge mit eingeschlossen sind, so deutet doch das
Vorhandensein einer Grenze an, daß gewisse Kränkungen zu ge­
ring waren, um mit Blut bezahlt zu werden. Ohne Zweifel haben
unsere Vorfahren auf einem sehr frühen Stadium ihres Daseins die
Entdeckung gemacht, daß ein Mann manchmal mit Absicht, manch­
mal aus Mißgeschick Schaden stiftete. Oder die Beobachtung hat
sich ihnen aufgedrängt, daß gewisse Epitheta in ihrem Wortschatz
stärker waren als andere; und in ihrem täglichen Verkehr haben
sie sich zu diesem Unterschied bekannt.
D as Interesse für Abstufungen war tief und stark und un­
zweifelhaft alt. Eine bedingte Unterscheidung großer und kleiner
Kränkungen war wohl bekannt und anerkannt. Wir haben keinen
Anlaß, daran zu zweifeln, daß die Menschen vom ersten Anfang
an bei kleinen Wunden eher zu friedlichem Vergleich geneigt ge­
wesen sind als bei großen. Ob dieser möglich war, hing von der
Eigenart des einzelnen Falles ab: was in der Vergangenheit mit
der Kränkung zusammenhing, wie sie ausgeführt worden war und
nicht zuletzt, wer der Kränker war, ob er und seine Verwandten
solche Männer waren, daß ein Vergleich mit ihnen Ehre bedeutete.
Aber eins stand fest: der Wille zur Versöhnlichkeit wurde nicht
von irgendwelcher Neigung getragen, den unbedeutenden Schlag
unbeachtet vorübergehen zu lassen; wollte oder konnte der K rän­
ker die beschädigte Ehre nicht wiederherstellen, so mußte Rache
genommen werden, genau als wäre es eine Sache auf Leben und
Tod.
In dieser Beziehung war das Gesetz ebenso starr und unschmieg-
sam wie jedes private Gefühl, das unbedingte Wiederaufrichtung
verlangte. Daß der Kränker außerstande ist zu büßen oder daß er
nicht mehr existiert, das beseitigt nicht die Tatsache, daß der Geg­
ner bußebedürftig dasteht. Die Geringfügigkeit einer Kränkung
vermindert nicht die Notwendigkeit der Wiederaufrichtung der
Ehre. Vor diesem Grundsatz machen alle Fortschrittsbewegungen
halt. Die Gesetzesreformatoren in Norwegen schieben die Rache so
weit wie möglich in den Hintergrund. Sie betonen, daß die Gesetze

90
da sind für die, die ihrer bedürfen, und jetzt werde es außerdem
königliche Beamte geben, deren Lebensaufgabe es sein wird, den
Leuten die Genugtuung zu verschaffen, die sie früher selbst, so gut
es ging, haben suchen müssen; aber sie fühlen sich doch veranlaßt
hinzuzufügen, daß in dem Fall, wo der Gegner sich nicht beugen
will und der Wille des Beamten nicht durchdringt, derjenige, der
selbst seinen Schimpf rächt, Gegenstand äußerster Rücksichtnahme
sein soll; ja, wenn die Rache das verdiente Maß nicht übersteigt,
soll er nicht belangt werden können. „Bleibt das Wergeid aus, so
können die Verwandten den Toten rächen, und sie sollen in nichts
dadurch gehindert werden, daß der König dem Toter Frieden und
Erlaubnis, im Lande zu verweilen, gegeben hat“ , - so heißt es
wörtlich in König H akons großem Reformvorschlag, der die Ein­
leitung zum Frostathinggesetz bildet.
In diesem Gerechtigkeitsideal ist der augenscheinliche Widerstreit
zwischen der Theorie des Gesetzes und der Praxis des Alltags be­
rücksichtigt worden. Die Germanen hatten eine starke Neigung
für friedliche Beilegung von Zwistigkeiten, aber die Vermittlung
stand außerhalb und versuchte einen Vergleich durch gegenseitige
Übereinkunft zustande zu bringen, ohne im mindesten das Recht
des Friedens zu beeinträchtigen. Später spiegelt das Gesetz die
eigentümliche germanische Rechtsauffassung wider, nämlich wenn
es zwei verschiedene Tendenzen zu einem System zusammenarbeitet.
Die Gesetzgeber des Ubergangszeitalters möchten die Vermittlung
zu einem wesentlichen Bestandteil der juristischen Verhandlung
m ähen und nähern s ih also einem Gesetzessystem, das auf Wagen
und Sh ätzen der Kränkung aufgebaut ist, während sie gleihzeitig
für Abschaffung des alten R eh ts auf private R a h e arbeiten. D u rh
diese Ausgleihsprozeßvorgänge wurde das germ anishe R e h t all­
mählich in Übereinstimmung mit dem röm ishen R e h t gebraht,
aber es dauerte lange, bevor es die Idee der absoluten Wiedergut­
machung als oberste R ihtlin ie von R e h t und G erehtigkeit aufgab.
Der A n spruh auf persönlihe Genugtuung wird n ih t bloß
äußerlih vom Leben und der Gesellschaft anerkannt, er ist viel­
mehr das allerinnerste Geheimnis, das Tragende in der nordishen
Gesetzgebung. Wenn das Gulathinggesetz herausplatzt mit einem:
„ . . . da ist es gut, wenn geräh t w ird“ , oder es heißt: „Niemand
kann mehr als dreimal Buße für Kränkungen verlangen, ohne da­
zwischen R a h e zu nehmen“ , so ist das keine Gesetzlosigkeit, keine
Herausforderung des Gesetzes, die s ih mutwillig die Perücke au f­

91
setzt und mit komischer Feierlichkeit Zynismen ausspricht. Diese
Sätze sind lediglich ein direkter Ausschlag der rechtf ordernden
Energie, die das ganze Netzwerk von Gesetzesbestimmungen ge­
schaffen und entwickelt hat, von welchem sie sich abheben, aus
welchem sie hervorspringen.
Der Geist des Gesetzes kann als juristisches Mitgefühl mit dem
Gekränkten und seinem Leiden charakterisiert werden. Das Thing
ist die Stätte, die er aufsucht, um Heilung zu finden. Mit anderen
Worten, jeder Angriff wird unter dem Gesichtspunkt: persönliches
Unrecht, betrachtet. Es ist gleich, ob ein Mann den Leichnam seines
getöteten Verwandten auf das Thing trägt, ob er einen auf frischer
Tat ertappten Dieb mit gefesselten Händen dorthin führt oder ob
er mit einem Schimpfwort beladen ankommt, der R uf ist immer
derselbe: „Gebt mir Genugtuung, gebt mir meine Ehre wieder!“
Eine Handlung ist an sich kein Verbrechen, sie wird erst Ver­
brechen (wenn wir dies Wort gebrauchen wollen) durch ihre Wir­
kung auf einen Menschen. Trifft sie einen frischen und gesunden
Mann, so ist ihm Schaden zugefügt worden, und der Schaden muß
ihm wiedergutgemacht werden. Die Buße, die die Gesellschaft für
ihn einzutreiben übernimmt, wenn er an sie appelliert, ist, über­
einstimmend mit der alten Terminologie, sein „Recht“ , - das heißt
ungefähr: sein Wert. Und hat er kein „Recht an sich“ , d. h., ist er
ein Mann ohne Ehre, so kann es kein Verbrechen geben.
Die rechtsbehauptende Energie, mit welcher der Richtstuhl dem
Kläger beisteht, ist keineswegs geringer als woanders, wo es die
Aufgabe des Richters ist, zu strafen und zu schirmen. Im Gegen­
teil. Sie ist stärker, da sie von dem Grundgedanken erfüllt ist: Es
muß, es soll Genugtuung geben, denn die Wohlfahrt des Klägers
steht auf dem Spiel; er ist ein gezeichneter, ein gefällter Mann,
wenn ihm keine „Ehre“ verschafft wird. Ist der Tater außer Reich­
weite, gut, da müssen seine Verwandten heran; es handelt sich nicht
darum, einen Tater zu finden, sondern darum, jemanden zu finden,
der Genugtuung verschaffen kann.

Unter den südlichen germanischen Stämmen ist das Racherecht


in der geschichtlichen Zeit überall in Auflösung begriffen.
Der äußerste Standpunkt wird wohl vom Gesetz der Burgunden
eingenommen, das Todesstrafe für Tötung bestimmt und damit
darauf zielt, jede eigene Rache aus der Welt zu schaffen. Die guten
Burgunden waren auf dem Wege zur Vollkommenheit doch nicht

92
weiter gekommen, als daß es für den Gesetzgeber notwendig war,
im gleichen Atemzug hervorzuheben, daß kein anderer als der
Schuldige verfolgt werden dürfe. Die übrigen Völker waren offen­
bar noch nicht über das Stadium der Einschränkungen hinaus, als
sie ihre herkömmlichen Bräuche aufzuzeichnen begannen. Leider
erlaubt der zufällige Charakter der Gesetze uns nur in einzelnen
kurzen Einblicken die Bewegung zu verfolgen. D as Alemannen­
gesetz scheint zwischen der Befriedigung der augenblicklich auf­
lodernden Rachelust und dem bedächtigen, planenden Rachewillen
unterscheiden zu wollen; wenn ein Mann mit den vorhandenen
Helfern sogleich einen Toter verfolgt und ihn in seinem Hause
niederhaut, so kommt er mit einer Mannesbuße davon; holt er
aber erst Beihilfe, steigen die Bußen auf den neunfachen Betrag.
Bei den Franken beginnen erst die Karolinger im Ernst zu refor­
mieren. Die Rache ist in den älteren Zeitläuften, jedenfalls für
größere Kränkungen, noch voll anerkannt. Das salische Gesetz er­
wähnt Strafen für den, der eigenmächtig den K opf herunterholt,
den der Racher als Kundgebung seiner Tat auf einen Pfahl ge­
steckt hat. Nebenher erfahren wir von einem tapferen Manne,
Gundhartus, daß er sich wegen drohender Rache daheimhalten
mußte. Er hat sich in seiner N ot an Einhart gewandt, und nun
schreibt dieser (wohl um das Jahr 830) einen warmen Brief an
Hraban, um diesen Diener Christi dazu zu bewegen, den Mann
von seiner Kriegspflicht zu befreien, da sie ihn unfehlbar in die
Gewalt seiner Feinde bringen würde. Die Reformbestrebungen der
Könige bestehen hauptsächlich in herzlichen und eindringlichen Er­
mahnungen an die Behörden, daß sie die Leute veranlassen sollen,
sich zu vergleichen und die Rache aufzugeben.
Außerordentlich lehrreich sind die Einschränkungen, die die
Rache im Recht der Sachsen erfährt. Fürs erste wird sie in den
Fällen ausgeschlossen, wo der Schaden von einem Haustier oder
von einem Gerät, das dem Eigentümer aus der Hand geflogen ist,
ausgeführt wird: der Besitzer soll büßen, aber gegen R a h e ge­
schützt sein. Weiter soll ein Mann nicht unschuldig für das haften,
was seine Hausleute begehen; hat er die Tat heimlich angestiftet,
so muß er natürlich büßen oder R ah e dulden; hat aber der Schul­
dige ta tsä h lih aus eigenem Antriebe gehandelt, kann man s ih
von ihm lossagen und ihn mit seinen sieben nähsten Verwandten
die Verantwortung tragen, d. h. das Ziel der Rächer sein lassen.
Schließlich wird, wenn es sih um Mord handelt, den Gesippen im

93
weiteren Sinne das Recht zugesprochen, sich mit einem Drittel einer
einfachen Mannesbuße Immunität vor der Rache zu erkaufen; der
ganze Rest des ungeheuren Wergeides (neunmal Mannesbuße) fällt
auf den Tater und seine Söhne, und sie allein müssen die Rache
tragen, wenn Zahlung ausbleibt.
In dem kurzgefaßten Friesengesetz erhalten wir folgende A uf­
klärung. Wer einen anderen zur Tötung verleitet — und hier muß
man wohl wiederum in erster Linie an das Verhältnis zu Unter­
gebenen denken - kann die Rache nur meiden, wenn der Tater
flüchtig ist; er zahlt dann ein Drittel der Buße. Verbleibt der Tater
im Lande, so muß es dem Gutdünken der Gekränkten anheim­
gestellt werden, ob sie die Rache an dem Anstifter aufgeben und
sich versöhnen lassen wollen. Kann ein Mann sich von Teilnehmer­
schaft an der Tat seines Knechtes freischwören, so entgeht er auch
der Rache; aber die volle Buße soll er doch zahlen.
Die Gesetzgeber der Langobarden beschäftigen sich viel mit der
Rache und bemühen sich, deren Wirkungskreis etwas einzuschrän­
ken. Die einzelnen Verfügungen gewähren einen interessanten Ein­
blick in die Stellung der Radie, sowohl im Gesetzesleben als auch
in den Fällen der Selbstrache. Durch zufällige Mannestötung, Un­
glücksfälle während der Arbeit, wo mehrere zusammen sind u. dgl.,
weiter in Fällen, wo unbeaufsichtigtes Vieh Schaden anrichtet, soll
die Rache ausgeschlossen sein. Für Kränkungen und Schläge darf
man sein Recht nicht selbst suchen, heißt es in Rothars Edikt; man
soll sich mit einer Geldbuße begnügen. D afür erhöht aber der König
die Preise: „Aus dem Grunde haben wir für allerlei Schläge und
Wunden höhere Bußen gesetzt als die, die unsere Vorfahren kann­
ten, damit die Buße die Rache verdränge und alle Sachen unter
vollen Vergleich gebracht werden.“
Aus einer Stelle in König Liutprands Edikt erhalten wir zu­
fällig einen Einblick in das Leben der Langobarden und sehen, wie
die Rache unter den Parteien hin- und zurückgeschleudert wird,
wenn sie erst einmal freigestellt worden ist. Der König hat von
einem traurigen Geschehnis Kunde erhalten: ein Mann hatte die
Kleider einer badenden Frau genommen und sie versteckt. Liut-
prand verhängt schnell eine sehr hohe Geldstrafe für eine solche Un­
ziemlichkeit. Dem Verbrecher muß in einem solchen Fall mit Recht
volle Mannesbuße auferlegt werden: „Denn“ , sagt er zur Begrün­
dung, „gesetzt der Vater der Frau oder der Bruder oder der Mann
oder ein anderer Verwandter wäre dazugekommen, so hätte es

94
einen K am pf gegeben. Ist es dann nicht besser, daß der Sünder
Mannesbuße zahlt und lebt, als daß die Radie sich über seine
Leiche zwischen den Geschlechtern erhebt und größere Bußen dar­
aus hervorgehen?“
Die langobardischen Gesetzgeber appellieren übrigens an die
Vernunft ihrer Untertanen; es gilt, unmerklich eine höhere Moral
in die altmodischen Köpfe hineinzubringen und die Rache behut­
sam von Gesetzlichkeit und Schicklichkeit zu trennen. Die lango­
bardischen Mädchen scheinen der guten alten Sitte entwachsen, in
Zucht und Ehren mit dem Gatten zufrieden zu sein, den die Familie
gewählt hatte. Es kommen ständig Fälle vor, wo ein verlobtes
Mädchen mit dem von ihr selbst Auserwählten davonläuft, und die
Entführung bewirkt natürlich jedesmal Rache und Fehde. Jetzt
versucht Liutprand, ob nicht das Mädchen durch die Aussicht, ihre
gesamte Aussteuer zu verlieren, veranlaßt werden könnte, die Ver­
lobung zu respektieren. Sie soll ihr Teil verlieren und nackt und
mit leeren Händen von ihrem Heim fortgehen. Er verbietet streng
dem Vater oder Bruder, hier milden Gefühlen nachzugeben, „d a­
mit die Streitigkeiten auf hören und die Rache fortfallen möge“ .
Von den nördlichen Völkern sind die Dänen — und die Angel­
sachsen — einigermaßen würdig, an die Seite der Burgunden zu
treten. Nominell ist alle Rache verworfen. Aber die Gesetzgeber
können ihre Sprache schlecht den neuen Gedanken anpassen. Wenn
sie die Unfähigkeit der Frauen und der Geistlichen, Bußen zu
geben und zu nehmen, begründen wollen, greift die Formulierung
unwillkürlich die alten Worte auf: „Weil sie an keinem Manne
Rache nehmen und kein Mann an ihnen.“ Oder ein Ausdruck wie
der folgende läuft mit unter: „Will der Verwundete die Tat nicht
einklagen, sondern will er rächen . . . " In der Verordnung Walde­
mars II. über Tötung herrscht auch der merkwürdigste Widerspruch
zwischen Inhalt und Sprache. Die Verordnung bezweckt, die
Verwandten von der Verpflichtung zur Zahlung eines Teiles des
Wergeides zu befreien. „Während der Toter im Lande ist, soll man
an keinem anderen Manne als ihm Rache üben.“ Flüchtet er —so
daß die Gekränkten mit leeren Händen dastehen —so sollen seine
Verwandten Buße anbieten, und tun sie dies nicht, so haben sie,
wenn einer von ihnen vom Rächer getötet werden sollte, es nur
sich selbst zuzuschreiben, da sie keine Mannesbuße angeboten haben.
Aber natürlich ist der Rächer nicht von der Buße befreit - er soll
sozusagen für sein Recht zahlen, genau wie der Burgunder, wenn

95
er, von Schmerz und Zorn getrieben, in sofortiger Erwiderung
seine Tötung begeht; das alte System ist also formell an der Wur­
zel gebrochen.
Die Schweden waren nicht ganz so weit fortgeschritten wie ihre
südlichen Nachbarn. Die Gaugesetze legen besonderes Gewicht dar­
auf, daß man nur an dem Tater Rache nehmen darf, nicht an sei­
nen Verwandten. Bruch an diesem Grundsatz fällt unter „Unrechte
Rache“ , ein Begriff, der auch in Dänemark bekannt gewesen ist, da
z. B. die Verordnung Waldemars II. über Abschaffung der Eisen­
probe zwischen Tötung eines unschuldigen Mannes und Tötung „als
rechte Rache“ unterscheidet.
Auf Gotland, wo die Entwicklung keineswegs rückständig war,
aber in vielen Beziehungen eigene Wege ging, hatte man eine be­
sondere Art, die Rache zu umgehen. Die Vorschriften des gotländi-
schen Gesetzes darüber, wie man sich verhalten soll, „wenn es der
Teufel will, daß ein Mann einen anderen Mann tötet“ , sind dop­
pelt interessant, weil sie einerseits die Schwierigkeiten, die sich der
Abschaffung der Rache entgegenstellen, hervorheben, andererseits
eine Lösung durch Ausnutzung altertümlicher Mittel geben. Es wird
vorgeschrieben, daß der Toter mit seinem Vater und Sohn und Bru­
der, oder, wenn diese nicht vorhanden sind, mit den nächsten Ver­
wandten fliehen und sich vierzig Nächte lang auf einer der drei
Kirchenfreistätten der Insel aufhalten soll. Von dort begeben sie
sich zu einem neuen Wohnort, fern von ihrem Heim; sie dürfen
sich ein Gebiet von drei Dörfern und dem umgebenden Wald bis
halbwegs nach der nächsten bewohnten Ortschaft aussuchen - doch
d arf in diesem Gebiet kein Thing, keine Stadt und nicht mehr als
e i n e Kirche liegen. Dort verbleiben sie. In drei aufeinander­
folgenden Jahren sollen sie Bußen anbieten; und auch wenn der
Gekränkte die Bußen gleich beim ersten Angebot annimmt, so soll
er doch nicht entehrt sein. Schlägt er die Bußen aus, wenn sie zum drit­
ten Male geboten werden, da soll das Volk über das Geld ver­
fügen und der Tater vor Rache geschützt sein.
Überall steht die Rache im Zeichen der B e s c h r ä n k u n g .
Erst wurde sie von dem Willen zum Schadenstiften abhängig ge­
macht; dann wurde sie auf große Kränkungen wie Tötung und
Ehebruch beschränkt, und schließlich war sie nur noch eine Art
Vergeltung gegen den Tater selbst unter Befreiung seiner Sippe von
jeder Verpflichtung, mit ihm zusammen Buße leisten zu müssen.
Überall Beschränkung. Und gerade dieser Abbau eröffnet den

96
Durchblick in eine Zeit hinein, wo die Notwendigkeit der Wieder­
aufrichtung der Ehre ganz und gar jede Erwägung in bezug auf
böse Absicht verdrängte, wo z. B. jede Wunde auf einen bestimm­
ten Verantwortlichen zurückgeführt werden mußte, sogar in Fällen,
wo die Waffe selbständig gegen den Willen des Besitzers gehandelt
hatte. Aber die benutzten Bemäntelungen weisen auf eine frühere
Zeit hin, wo der Leidende weit eher geistiger als körperlicher H ei­
lung bedurfte, eine Zeit, wo die Rache Universalheilmittel war.
Diese Überbleibsel von den Bemühungen des Königs und der
Kirche, die Selbstrache zu unterdrücken, besagen aber noch mehr;
die Rache wird offen als Notwendigkeit anerkannt, für die die
Reformatoren Ersatz schaffen müssen. Beschränkungen werden nur
unter der Bedingung eingeführt, daß die Wiederaufrichtung auf
andere Art erlangt wird, und unter der Voraussetzung, daß die
Verwandten, wenn der neue gesetzliche Weg nicht zum Ziel führt,
das Recht haben sollen, ihre Ehre lieber zu suchen, als sie zu ge­
fährden. Das war ja das letzte Wort in der Verordnung Waldemars
gegen die H ilfe der Verwandten: sie haben es sich selbst zuzu­
schreiben, daß sie die Rache über sich herriefen, da sie keine Buße
geboten haben. Auch die Angelsachsen müssen genau wie die Lan­
gobarden und Norweger das Racherecht als letzten Ausweg be­
stehen lassen, wenn der Kränker auf keine andere Weise Genug­
tuung schaffen will - oder k a n n .

In einigen ganz vereinzelten Fällen finden wir die Auffassung,


daß das Gesetz zum Zwecke der Bestrafung da ist, um die Bösen
einzuschüchtern und die Guten zu beschirmen; so in der Vorrede
zum Jütländischen Gesetz, im Burgundengesetz und hier und da in
Königsreskripten. Es steht da wie auswendiggelerntes Schulwissen,
vollkommen isoliert, ohne irgendwie auf die Rechtsbestimmungen
abzufärben; steht sozusagen da, um zu beweisen, wie unvereinbar
mit allem germanischen Denken dieses Prinzip ist. Solange die
Reformatoren die Tatsache nicht umstoßen können, daß Kränkung
einen Mann vergiftet, solange müssen sie von Zeit zu Zeit ihre
eigenen Worte im Munde umdrehen. Sie waren zu sehr Männer
ihrer Zeit, als daß sie sich hätten vorstellen können, ein Leiden sei
dadurch zu beseitigen, daß man das wichtigste Heilmittel dagegen
abschaffte.
In Dänemark wurde die Mannesbuße in drei Teile geteilt: einer
fiel an die Erben des Getöteten, einer an seine Verwandten väter­

97
licherseits und einer an die Verwandten mütterlicherseits. Aber
wenn es nun keine Verwandten mütterlicherseits gibt und wenn -
so sagt Eriks Gesetz - „derjenige, der von ihm abstammt, ent­
weder knechtischer Herkunft ist, so daß er nicht erben kann, oder
sich außerhalb des Reiches aufhält, so daß seine Verwandtschaft
nicht auffindbar ist, da sollen seine Verwandten väterlicherseits,
auch wenn sie den ersten und zweiten Teil schon erhalten haben,
den dritten noch dazu nehmen; denn ihr Verwandter darf nicht
ungebüßt bleiben, wenn er ein freier Mann ist; vollauf soll für
ihn gebüßt werden“ , — so fest sitzt die alte Begründung noch bei
diesen verhältnismäßig fortschrittlichen Gesetzgebern. Die Ehre ist
das Zentrale im Wesen des Mannes. Die Genugtuung ist ein Be-
tandteil eben dieser Ehre, den der Gekränkte um seines Lebens
willen haben muß und soll. Und dieses Seelenheilmittel müssen die
Gerichte dem Kläger verschaffen.
Im Gotlandgesetz heißt es von einem zum Pfarrer geweihten
Manne, der eine Kränkung zu rächen hat, dem aber die Buße ver­
sagt wird: er soll vor allem Volk auf das Thing gehen und seine
Sache Vorbringen, indem er sagt: „Ich bin ein gelehrter Mann, für
den Dienst Gottes geweiht, ich darf nicht schlagen, noch kämpfen;
Buße würde ich nehmen, wenn sie mir geboten würde, aber
Schande dulde ich ungern.“
D a haben wir in einem kleinen Bilde das Wesen des germani­
schen Rechtsgefühls. Schande wollen wir nicht dulden. Und von
den Richtstühlen kommt eine laute Antwort auf diesen R uf, weil
das Gesetz in Wirklichkeit mehr ist als eine Bestätigung, daß die
Rache für die Wohlfahrt des Mannes notwendig ist. Das Recht
muß sich der Sache des Gekränkten annehmen und sich mit all
seinem Gewicht und seiner Gewalt für ihn einsetzen, denn wenn
es seine Forderung nach Rache ablehnte, würde es ihn aus der Ge­
sellschaft ausstoßen. Das Recht ruht auf dem Grundsatz, daß ein
Individuum, das die Schande an sich haften läßt, nichts mehr unter
Männern gilt; es kann künftig nicht den Schutz der Gesetze for­
dern. Wird ein Mann feige geschimpft, und rächt er sich nicht durch
Herausforderung und Sieg, so ist er feige und rechtlos - so heißt
es sowohl im Süden wie im Norden. Es ist wohl wahr, daß die
Kränkung eine Privatangelegenheit ist, insoferne sie ein privates
Leiden ist, für welches der Mann selbst Heilung suchen muß; die
Öffentlichkeit ergreift nicht die Initiative zu irgendwelcher Verfol­
gung des Taters. Aber ebenso sicher ist, daß die öffentliche Mei­

98
nung den Gekränkten aus der Gesellschaft ausstoßen würde, wenn
er sich nicht rehabilitierte. Außerdem kann der Leidtragende,
wenn er klagt, gewissermaßen seinen Schmerz auf die Allgemein­
heit übertragen; er kann das Volk an der Schande und ihren Fol­
gen teilnehmen lassen. Das Thing muß ihm 'Wiederaufrichtung ver-
sdiaffen, soweit es sich mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung
stehen, machen läßt; das Thing muß sich mit dem Gekränkten
solidarisch erklären und seine Widersacher von sich stoßen —wenn
nicht eine Versöhnung und Wiederaufrichtung zustande gebracht
werden kann. Tut das Volk dies nicht, wird es vielleicht von
der Kraftlosigkeit angesteckt. Der Kläger hat gewissermaßen die
Macht über das Volk und sein Gewissen, aber nicht kraft der all­
gemeinen Gerechtigkeit, nicht etwa, weil ein Grundgesetz der Ge­
sellschaft „du darfst nicht“ sagt und Bestrafung fordert; nein, nur
auf Grund dieses einen: geschieht nichts, gehe ich zugrunde, und
ich kann euch mit mir ziehen.
Ein Mann, der es unterläßt, eine Kränkung zu rächen, ist ein
„N eiding“ und steht nicht mehr unter dem Schutz der Gesetze.
Aus dem Munde der Verwandten klingt der Schrei nach Ehre so
durchdringend, weil die Angst ihn hervorpreßt. Es war wohl im
wesentlichen eine Formsache, wenn in Friesland einer der Ver­
wandten des Getöteten sein Schwert zückte und dreimal aufs Grab
schlug, um in Anwesenheit des ganzen Geschlechts sein: „Rache!
Rache! Rache!“ auszurufen. Eine reine Formsache ist auch folgen­
der feierlicher Akt: Die Kläger ziehen das Schwert und stoßen den
ersten R u f aus, tragen die Leiche auf das Thing und stecken nach
zwei weiteren Rufen ihre Schwerter wieder in die Scheiden. Aber
die Formen sind nicht gewaltsamer, als es den Gefühlen entspricht.
Es war Spannkraft genug in den Männern, um den R uf weit
hallen zu lassen. Das Gesetz kennt keine solche unbeherrschte Ge­
waltsamkeit. Es spricht abgemessen und wortwägend, aber doch
eindringlich wie der, der einen Menschen in Lebensgefahr sieht,
und alles in allem betont das Gesetz die Unentbehrlichkeit der
Ehre ebenso eindringlich, wie es der R u f der Verwandten tut. In
dem deutlichen, formgebundenen Vortrag des Gesetzsprechers kann
die Forderung einem nicht derart entgegenspringen, wie in dem
wilden R uf der Sippe: „Rache! Rache!“ , und doch mag es sein, daß
wir, wenn wir den Sinn recht für das öffnen, was er in seinen
kurzen, gereimten Sätzen vorbringt, gerade durch dieses indirekte
Zeugnis den überwältigendsten Eindruck von der Energie der Ehre

99
erhalten, einen Eindruck, der um so gewaltiger ist, als wir hier die
Energie in eine die Gesellschaft tragende Kraft umgesetzt sehen.
Das germanische Gerichtsverfahren beruht auf dem Prinzip, daß
eine Anschuldigung - gesetzlich vorgebracht, natürlich - genügt,
um den Mann zu gerichtlicher Verteidigung zu zwingen. Jeder
muß bereit sein, die bloße unbegründete Bezichtigung mit seinem
Eide und mit dem Eide von Eideshelfern zu entkräften. Tut er es
nicht, so unterliegt er der Bezichtigung; nach alter Denkart ist die
Sache ebenso entschieden, als wenn er sich offen schuldig erklärt
hätte. Man kannte keine Furcht davor, daß ein Mann auf diese
Weise unschuldig verurteilt werden konnte, weil man das Schwei­
gen im Grunde nicht als ein stillschweigendes Bekenntnis nahm,
sondern eher die Bezichtigung als ein Verfahren auffaßte, die Schuld
in einen Mann hineinzulegen. Wer die Bezichtigung nicht zurück­
schleudert, läßt sie sozusagen in sich niedersinken und sich von
ihr brandmarken. Der Verklagte beweist nicht seine Reinheit, er
reinigt sich.
Das ist das tragende Prinzip im Gerichtsverfahren der Germa­
nen, das Band, das sie in einer Rechtsgemeinschaft zusammenhält.
Auch im täglichen Leben scheint es, daß der eine Mensch kraft
seines bloßen Wortes Macht hat über den anderen. Man kann einen
Mann dazu „hetzen“ , seine Stärke, seinen Mut, seine Tollkühnheit
auf die Weise zu zeigen, die man ihm vorschreibt. Man kann ihn
zwingen, indem man Zweifel an seiner Männlichkeit äußert. Die
Nordländer haben einen besonderen Ausdruck für solche zwingen­
den Worte; fry ju o rd nennen sie sie, das sind Worte, worin man
seinen Glauben an die Mängel des Betreffenden in dieser oder jener
Beziehung ausdrückt. D a war zum Beispiel ein Mann, der M ar
hieß. Diesen Mar wollten gewisse Leute gern für immer los wer­
den; infolgedessen kam eines Tages eine verdächtige Person auf
seinen H o f und erzählte ihm, daß sein Ochse draußen im Moor
liege. Mar weiß wohl, wo er seine Ochsen hat, da aber der andere
ein Wort darüber fallen läßt, daß es sehr merkwürdig sei, daß er
es nicht wagt, nach seinem Vieh zu sehen, muß der Bauer in das
Moor hinaus und seinen Tod dort finden.
„D u wagst es nicht“ : das genügt, um einen Mann dazu zu brin­
gen, sein Leben einzusetzen. Gregorius Dagson opferte seine Sache
und sein Leben, weil er der Macht eines Spottwortes nicht wider­
stehen konnte. Als er und H akon sich trafen, war zwischen ihnen
ein Fluß; das Eis w a r unsicher und H akon hatte, unter dem Schnee

100
verstedet, Waken hauen lassen. Gregorius traute dem Eise nicht, er
hielt es für besser, zur Brücke zu gehen. Aber die Bauern begriffen
nicht, daß ihm der Mut fehle, auf gutem Eise gegen die kleine
Streitmacht vorzurücken. Gregorius antwortete: „Selten war es
nötig, daß man mich wegen Mangel an Mut verspottete, es soll
auch jetzt nicht nötig sein; seht ihr nur zu, daß ihr folgt, wo ich
vorangehe; ihr seid es ja, die schlechtes Eis versuchen wollen; ich
habe keine große Lust, aber eure Sticheleien will ich nicht dulden.
Das Heerzeichen voran !“ Wohl an die 20 Mannen folgten ihm,
die andere kehrten um, sobald sie das Eis unter sich fühlten. Dort
fiel Gregorius. Und dies geschah noch im Jahre 1161.
Ein Mann hat Macht über seine Mitmenschen mit H ilfe der
fry ju o rd , weil diese Spottworte die Ehre seines Gegners gefähr­
den. Antwortet die Ehre nicht, indem sie sich erhebt und ihre
Stärke zeigt, wird sie von einer Lähmung beschlichen. Der Mann
sinkt abwärts und wird „N eiding“ . Wenn ein Isländer oder ein
Norweger seinem Gegner zuruft: „Sei du jedermanns Neiding,
wenn du nicht mit mir käm pfst“ , wirken seine Worte wie die
kräftigste Zauberformel; denn respektiert der andere die Heraus­
forderung nicht, bleibt er wirklich sein Leben lang ein Neiding.
Im Hildebrandslied ruft der Vater sein schmerzerfülltes Weh über
das Schicksal: „Jetz t soll mein eigenes Kind mich mit seinem
Schwert schlagen, mir mit seinem Beil den Tod geben oder ich muß
sein Toter werden.“ Aber was hilft es! „Der wäre am feigsten von
allen Ostmannen, der den K am pf jetzt ausschlagen wollte, wo dich
so sehr danach gelüstet . . . " So unwiderstehlich ist die Gewalt des
Spottwortes, daß es das entsetzlichste Unglück von allen hervor­
zwingen kann: die Gesippentötung.
Ebensosehr wie Schläge und Hiebe verbiegt ein Schmähwort
oder eine Anschuldigung etwas im Inneren des Mannes, etwas, das
Ehre genannt wird, etwas, das das eigentliche Rückgrat seines
Menschentums bildet. Auf diese Weise macht man seinen Nachbarn
vor Recht und Gesetz zu einem Geringeren. Das Upplandgesetz
hat ein Überbleibsel der alten Rechtsordnung aus der heidnischen
Zeit, eine Anschuldigung wegen Feigheit: Der eine sagt: „Du bist
kein Mann, du hast keinen M ut!“ , der andere sagt: „Ich bin ein
ebenso guter Mann wie d u !“ D a müssen sie sich auf einem Kreuz­
wege mit Waffen begegnen; wer sich nicht einfindet, ist Neiding
und rechtlos. Oder wie die Langobarden sagten: Schimpft man
einen anderen feige, muß man die Behauptung durch Rechts-Zwei-

101
kam pf aufrechterhalten können; unterliegt man dabei, soll man
gerechterweise für seine Falschheit büßen. Schimpft jemand ein
Weib Hexe oder Hure, sollen ihre Verwandten versuchen, sie durch
Rechtskampf zu reinigen, oder aber sie trägt die Strafe für Hexerei
oder Hurerei. Hier legt der Schmäher durch seine Behauptung
Feigheit oder Hurerei in den anderen hinein. Ebenso legt der
Kläger vor dem Gericht Diebstahl oder anderes Häßliche in seinen
Widersacher hinein und zwingt ihn, die Reinigung zu unternehmen.
Die Ehre, die in dem Bezichtigten verbogen worden ist, muß
aufgerichtet werden, ihr muß die Kraft, den Mann zu erfüllen,
zurückgegeben werden. Die Beleidigung ist als ein Gift zu betrach­
ten, das herausgeschleudert und auf den Absender zurückgeschleu­
dert werden muß. D arauf muß der Gekränkte zu voller und
ganzer Stärkung seines Menschentums vom Kränker Ehre zurück­
erstattet bekommen. Einfache Selbsterhaltung zwingt ihn, für jede
Kränkung Wiederaufrichtung zu suchen; denn ein Mann kann nicht
in Schanden weiterleben. Aus diesem Gefühl ist die Verfassung der
Gesellschaft hervorgegangen, ein Grundgesetz, hart genug, um
harte Naturen in einer geordneten Gemeinschaft unter der Zucht
der Gesetze zusammenzuhalten.
Wenn ein Mann zögerte, eine Beleidigung zu rächen, so traten
seine Verwandten auf und erklärten: „Wenn du es nicht wagst,
wollen wir Abhilfe schaffen, denn es ist eine Schande für uns alle.“
Aber auch wenn vom Gegner Wiederaufrichtung empfangen wor­
den war, war die Sache doch nicht ganz ausgewetzt. Der bitterste
Teil der Schande war noch geblieben, da einer der Verwandten
eine Kränkung auf sich hatte sitzen lassen, anstatt sie sofort ab­
zuschütteln, und auf diese Weise die Schande über sich und sein
Geschlecht gebracht hatte. Diese Wunde konnte durch kein Blut­
vergießen geheilt werden, und, was schlimmer war, es gab keine
Genugtuung dafür.
Die Kränkung, die Lästerung, konnte von innen kommen, wenn
ein Sippengenosse Feigheit oder Schlappheit zeigte, indem er eine
Gelegenheit vorübergehen ließ, sich durchzusetzen, sein Dasein in
Ehren zu behaupten. Oder er stempelte sich selbst als einen Sohn
der Unehre, indem er eine Tat ausführte, die nicht zu verantwor­
ten war, etwa, daß er einen Mann „ermordete“ . Schließlich konnte
die Sippe auch noch von einem blutigen Hieb, der unbüßbar und
bußelos war, getroffen werden: wenn derjenige, der den Hieb aus­
teilte, selbst einer der Gesippen war.

102
D a mögen von den Verwandten solche Worte klingen wie: Lie­
ber fort, als feige; lieber eine Lücke in der Sippe an der Stelle,
wo sein Platz ist. Wir wissen etwas darüber, was es gekostet haben
mag, dergleichen zu sagen; ein Mann muß seinem Friedensgefühl
Gewalt antun, um diese Worte über die Lippen zu bringen; er muß
erfüllt sein von einer Angst, die seine ursprüngliche Furcht, die
Zahl der Gesippen verkleinert und die Aussicht auf reiche Nach­
kommenschaft der Sippe vermindert zu sehen, überragte; es muß
so weit mit ihm gekommen sein, daß er vergessen hat, welchen
Schmerz es für jeden im Kreise persönlich bedeutete, wenn ein
Strang, ein straff gedrehter Strang, aus ihm herausgerissen wurde.
Wenn wir uns klar gemacht haben, was Friede bedeutet: die
Lebensfreude selbst und das Pfand eines Lebens in der Zukunft,
und wenn wir imstande sind, dieses Verstehen in Sympathie um­
zuwandeln, so müssen wir bei den Worten zittern: lieber eine
Lücke, wo sein Platz ist.
Wenn Schande von innen kommt und alle Wiederaufrichtung
ausschließt, ruft sie eine lähmende Verzweiflung hervor.
In der Prosa-Edda wird von Balders Tod erzählt: „Als Balder
gefallen war, verloren die Asen ihre Sprache, und die Hände ver­
sagten, als sie den Täter greifen wollten; der eine blickte den ande­
ren an; alle hatten sie e i n e Gesinnung gegen den, der dieses
Werk getan hatte; aber niemand konnte es rächen; der Friede der
Stätte war zu stark. Aber als die Asen ihre Sprache wiederfanden,
brachen doch die Tränen zuerst hervor, so daß niemand ein Wort
zum anderen über seine Trauer sprechen konnte. Odin aber emp­
fand das Unglück am schwersten, weil er am besten begriff, welch
großen Verlust die Asen durch Balders Fortgang erlitten. Als aber
die Götter wieder zu sich kamen, fragte Frigg, ob jemand unter
den Asen sich ihre Liebe und ihre Gunst erwerben wolle und den
Helweg reiten, um Balder zu suchen und Hel Lösegeld für ihn zu
bieten, wenn sie ihn heim nach Asgard ziehen ließe.“
Kein Leser zweifelt wohl daran, daß der Dichter bei dieser
lebendigen Schilderung aus wirklichem Erleben schöpft. Ohne
Zweifel war der Mythos noch aus früher Zeit überliefert; was er
aber in seiner volkstümlichen Form auch enthalten haben und was
sein Kern auch gewesen sein mag, bevor er seine endgültige Gestalt
erhielt, jedenfalls hat er im Dichter eine Angst herausgepreßt und
ausgelöst, die immer sprungbereit war. Durch das Gewicht des
inneren Erlebens ist dieser Augenblick ein schicksalhafter Wende-

103
punkt geworden. D a stehen die Götter, jung und froh, jubelnd in
ihrer Stärke und in ihrem Heil, und da fällt wie ein plötzlicher
Kälteschauer der grause Herbst plötzlich auf sie nieder. Sie haben
keine K raft zum Entschluß und zur Tat. Und während wir hin-
blicken, ballen sich die Schatten, sie werden länger und länger, und
weit draußen verschmelzen sie in unabwendbarer Finsternis. Durch
sein inneres Pathos ist der A uftritt als ein Wendepunkt in der Ge­
schichte der Menschen und Götter gekennzeichnet; es überkommt
uns das Gefühl, daß Balders Tötung den Untergang der Götter
und das Ende der Welt ankündigt.
Ein Mensdi konnte wirklich eine Katastrophe erleben, die eine
nicht wieder gutzumachende Zerstörung über einen ganzen Kreis
brachte, und aus einem solchen Erlebnis - des Friedensgefühls in
dem Augenblick vor seinem Zusammenbruch - hat der Mythos all
sein Leben geschöpft. Ich setze nicht im geringsten voraus, daß der
Dichter selbst in seiner eigenen Familie das Unglück gesehen hat;
es geschieht so leicht, daß sich die überwältigende Stärke des tief­
sten, allerelementarsten Gefühls in eine Vorahnung dessen ver­
wandelt, was der Verlust bedeuten würde, daß ein scheinbar sehr
kleiner Anstoß es zu tragischer Größe emporwachsen lassen kann.
Aus diesem Zusammenstoß zwischen dem Gegenstand der Dichtung
und der Erfahrung des Dichters, aus dieser Inspiration, wie wir es
nennen, ging das allgemeingültige Bild des Friedens, der sich selbst
verletzt, hervor. So stehen die Verwandten in ihrer N ot. D ie
H ände fallen ihnen nieder, sie blicken scheu vor sich hin aus Angst,
den Blick des anderen zu treffen; keiner kann ein Wort hervor­
bringen. Auf einmal ist alle Lebenskraft gebrochen. Niemand weiß
etwas; alle wanken zwischen zwei Möglichkeiten von einer Seite
zur anderen, wie es der Beowulf einmal treffend in der Zeile über
König Hredel ausspricht: „Dem Täter dieser Tat böse Worte zu
geben, vermochte er nicht, doch lieben konnte er ihn auch nicht.“
An die Stelle der alten Entschlossenheit, die immer nur zögerte,
um die rechten Mittel zu suchen, tritt blindes Tasten. Die Götter
wissen nichts Besseres, als einen Boten bettelnd zu Hel zu senden
und hinterher auch noch bei allem Leblosen und allen Lebenden
betteln zu gehen und sie anzuflehen, durch ihr Weinen Balder aus
dem Totenreich emporzuführen. Darin liegt keine Übertreibung,
wenn es auf menschliche Verhältnisse übertragen wird. Die Ver­
wandten, die die Schande gemeinsam tragen, haben kein Vertrauen
zu der eigenen Rache oder Abwehrkraft. Kränkungen von außen

104
werden ihnen zu stark. Sie bücken sich unwillkürlich, wo sie sonst
aufrecht ständen. Sie kämpfen ohne Hoffnung in der verzweifelten
Gewißheit, daß das Unheil nicht aufzuhalten ist. Dieser Jammer
ist recht eigentlich, was die Alten Ratlosigkeit nannten, die Un­
fähigkeit, einen Weg zu finden.
D am it ist der Untergang des Geschlechtes gewiß. Als Beowulfs
Gefolgsmannen ihren König in seinem Kam pf mit dem Drachen
verlassen, werden die Folgen ihrer Feigheit mit diesen Worten ge­
schildert: „Keiner eures Geschlechts soll jetzt jemals mit Freude
nach dem Golde greifen, das Schwert als Gabe dargereicht sehen;
verödet ist die Wohnstätte der Väter, verödet das Leben. Jeder
Mann aus eurem Geschlecht soll mit leeren Händen in die Fremde
wandern und sein Erbland hinter sich lassen, sobald tapfere Män­
ner weit und breit von eurer Flucht erfahren, von eurem Neidings-
werk. Besser ist der Tod, als ein Leben in Schande.“
Wir stellen uns bei diesem Satz des angelsächsischen Gedichtes
das Unheil zunächst wohl als bürgerlichen Tod vor; wir denken
uns das Geschlecht „verjagt“ , in Landflüchtigkeit als Folge eines
öffentlichen oder stillschweigenden Riditspruchs. Darin haben wir
bis zu einem gewissen Grade recht; aber die Verurteilung ist nicht
das Primäre, sie ist nur eine Folge tieferer Ursachen. Das Unglück
liegt nämlich nicht allein in der Verachtung der Menschen. Die
Schande macht die Verwandten nicht nur unwürdig zur Teilnahme
am Leben der Menschen, sondern auch und im eigentlichsten Sinne
untauglich dazu. Sie ist eine innere Störung. Wenn nicht die Feig­
heit der einzelnen Männer die Gefährten ansteckte und sie außer­
stande setzte, Männlichkeit zu beweisen, so würde die Sippe nicht
dermaßen wie ein welker Strauch werden, der sich mit einem Griff
herausziehen und aufs Feld werfen läßt. Die Friedlosigkeit ist
ihrem innersten Wesen nach eine Krankheit und mit Ehrlosigkeit
identisch. Diesen Zustand nennen die Nordländer Neidingschaft,
und darunter verstehen sie Auflösung der inneren Eigenschaft, die
das Individuum gleichzeitig zum Mann und zum Verwandten macht.
D as Wort Neiding begegnet uns jetzt auf Schritt und Tritt. In
ihm liegt die ganze Angst vor dem nicht wiedergutgemachten Ehr­
verlust. Und bei jeder neuen Begegnung bekommt das Wort einen
tieferen und unheimlicheren Klang. Neiding sein heißt, daß der
Mann sein Menschentum verloren hat. Er wird nicht als Mensch
angesehen, und der Grund ist der, daß er tatsächlich keiner
mehr ist.

105
Der Zustand, worin Hredel und seine Leidensgenossen sidi be­
finden, bildet einen diametralen Gegensatz zu H avards Lebens­
fülle. In den Ehrlosen geschieht eine Auflösung aller menschlichen
Eigenschaften. Vor allem wird der Friede der Verwandtschaft auf­
gelöst. Das innige Zusammenhalten schwindet, die Bedingung nicht
nur dafür, daß die Mitglieder in Übereinstimmung miteinander
handelten, sondern dafür, daß sie überhaupt handeln konnten. Die
Ehrlosigkeit frißt den Frieden durch, so daß die Verwandten ver­
dorren und auseinanderfallen wie verstreute Einzelmenschen, das
heißt wie Neidinge.
In dem Hause, wo ein Gesippe ungerächt liegt, herrscht kein
voller und wahrer Friede. Die Sippe lebt in einem Interregnum,
in einem unheimlichen und gefährlichen Zwischenzustand, wo alles
Leben gleichsam darniederliegt und auf Erneuerung wartet. Der
Hochsitzt steht leer; dort darf niemand sitzen, bevor die Ehre
wiederhergestellt worden ist. Die Männer halten sich fern von der
Umwelt, sie gehen zu keiner Männerversammlung. Ihre Menschen­
scheu beruht darauf, daß sie keinen Sitz haben, wo Menschen ver­
sammelt sind. Wo sie hinkommen, müssen sie es sich gefallen las­
sen, als Schatten betrachtet zu werden. Die Neidingschaft ist im
Anwachsen, und sie reißt eine neue Schicht der Seele an sich bei
jeder Gelegenheit zur Rache, die unbenutzt verstreicht. Freude gibt
es nicht. Wenn von einem Isländer berichtet wird, daß er zwischen
dem Fall seines Bruders und der Rache nicht gelacht habe, so
spricht sich darin etwas sehr Wesentliches aus, da doch die Kraft
zur Freude selbst erfroren war.
Der Zwischenzustand ist gefährlich; denn läßt die Wieder­
aufrichtung gar zu lange auf sich warten, so endet es damit, daß
die Kräfte zum Rachenehmen schwinden. Dann geht die E r­
wartung und die Entschlossenheit in Ratlosigkeit und Verzweiflung,
in Selbstaufgabe über.
Der Verlauf ist in allen Ehrensachen derselbe. Ob die Kränkung
eine Tötung, eine Lästerung oder etwas anderes ist - sie bewirkt
Leere in denen, die sie trifft. Erhalten sie nicht ihr Recht vor Ge­
richt entweder dadurch, daß sie über den Kränker obsiegen, oder
dadurch, daß sie sich von der Anklage reinigen —und sich Wieder­
aufrichtung verschaffen - , so gehen sie unter, und dann ist es
gleichgültig, ob die Niederlage aus Mangel an Willen, an Kraft
oder an Glück erfolgt ist. D as große Entsetzen kommt daher, daß
gewisse Handlungen von vornherein Wiederaufrichtung aus­

106
schließen, so daß der Leidende von jeder Hoffnung auf neue
Stärkung und Befreiung von dem Gefühl der Leere abgeschnitten
ist. Bei Tötung innerhalb der Sippe steigt die Ratlosigkeit, weil
etwas getan werden muß, das nicht getan werden kann. Die Arme
sinken, wenn die Verwandten versuchen wollen, den anzurühren,
der das Unglück verschuldet hat. Und wenn die Verwandten sich
auch überwinden können, sich an ihm zu vergreifen, so ist ja doch
in seinem Blute keine Genugtuung. Es kann nidit dazu benutzt
werden, die Ehre zu benetzen, damit sie sich zu neuem Leben er­
hebe.
Wir werden wohl an uns selber die Ratlosigkeit als einen Seelen­
kam pf nachempfinden können, in dem der Wille in innerer Zwie­
tracht sich selbst verzehrt. Ohne Zweifel können wir auf diese
Weise etwas von der Neidingangst der Alten erleben, aber es ist
eine Frage, ob wir auf diesem Wege in den Mittelpunkt des Lei­
dens eindringen können. Was die Alten am härtesten drückte, war
die Kraftlosigkeit; der K am pf in ihrer Seele wurde ausgekämpft
zwischen dem Willen zur Tat und der Unfähigkeit zur Tat; die
Symptome der Neidingschaft sind deshalb gleichzeitig Angst und
Dumpfheit. Wenn die Seele von innerem Streit zerrissen wird,
kann H ilflosigkeit Linderung bieten; der Germane aber erreichte
den Höhepunkt der Verzweiflung in den Fällen, wo die Tat aus­
geschlossen war, weil sie kein Ziel hatte. An einem Verwandten
konnte keine Rache genommen werden. Aber welchen Unterschied
machte es, ob der Toter ein Gesippe oder ein Fremder war, wenn
der letztere etwa ein Knecht ohne Ehre oder ein Landstreicher
ohne Verwandte war? Wenn man nicht hinter dem Knecht seinen
Herrn oder hinter dem Vieh den Besitzer oder hinter dem Ein­
samen einen Kriegerbund erreichen konnte, da hatte man seinen
Verlust zu ertragen, und der Verlust bedeutete in allen Fällen
Leere.
Jede Verletzung der Ehre erweckte dasselbe Angstgefühl. Im
Grunde gab es keinen „natürlichen“ Tod: in welcher Weise auch
die Verletzung beigebracht worden war, wurde sie als eine Gefahr,
als ein Schrecken und eine Kränkung empfunden. Egils verzweifel­
ter Ausruf gegen den „M etbrauer“ klingt ja gewissermaßen modern
- der Mensch behauptet sein Recht gegen jeden, sei er auch ein
Gott. Ihrer äußeren Form nach scheint seine Herausforderung wohl
eher einer Übergangszeit anzugehören, wo Götter und Menschen
ein wenig die Fühlung miteinander verloren hatten. Aber im

107
Grunde enthält diese Herausforderung ein sehr primitives Element.
Hinter der späten Form liegt ein altes Todesgefühl, die Urfurcht
und der Urtrotz. Der Tod war eine Anomalie, etwas Unnatürliches
und Unverständliches; man späht aus nach jemandem, der ihn ver­
ursacht hat, und findet man keinen Toter im Lichte, sucht man ihn
im Dunkeln. Man sucht vielleicht nach dem Urheber des „Z au­
bers“ . Die Beklemmung des natürlichen Todes ist im germanischen
Gemüt in der Sorge um die Zukunft des Toten untergegangen;
aber immer wieder kann die alte Verzweiflung neu auferstehen in
dem Gefühl, daß der Friede verletzt ist. Egil zeigt sich hier wieder
als die ursprünglichste, die antikste der nordischen Gestalten. Sein
Ausruf: „Könnte ich meine Sache verfolgen . . . " hat viel mehr
Hoffnungslosigkeit und Ratlosigkeit in sich als Trotz. Es ist ein
lauerndes Neidinggefühl, das seinen Worten ihre Bitterkeit ver­
leiht. Aber Egil ist stark genug, um die Ratlosigkeit zu über­
winden; auf dem Einsamkeitsgefühl schwingt er sich zu dem Trotz
der Resignation empor. Der Untergang des Friedens zwingt seine
geistige Persönlichkeit zur Selbstverteidigung. Er pocht auf das,
was seine Dichtkunst und sein Wille über Menschen vermögen,
wenngleich sie dem Gotte gegenüber machtlos sind; jetzt will er
ruhig auf Hel warten, unerschüttert derselbe sein, der er immer
gewesen ist. In dieser Ich-Behauptung greift Egil weit über die
Kultur hinaus, in der er seine geistigen Wurzeln hat. Solange der
Friede die unentbehrliche Grundlage für alles menschliche Leben
war, vermochten solche Heimsuchungen einen Mann nie empor­
zuheben. D a war die Trauer ausschließlich ein Gift, das den Frie­
den durchfraß, die Sippe zerstörte, ihre Ehre zersetzte und
Neidingschaft an die Stelle von Menschenwürde setzte. In dem
Augenblick, wo die Verwandten sich außerstande erklärten, jeman­
den zu finden, der ihnen als Ziel ihrer Rache dienen konnte, hat­
ten sie ihr eigenes Todesurteil besiegelt, sowohl geistig als auch
gesellschaftlich.
Wenn die Schande eine Folge von geistigem Selbstmord ist, so
gibt es im ganzen Universum keine Wiederaufrichtung. Der Ver­
lust bleibt unheilbar. N ur eine Möglichkeit ist vorhanden als ein­
ziger Ausweg zur Rettung der Sippe: Tilgung des Unglücksmannes.
Man kann die Ehrlosigkeit ausmerzen, bevor sie den ganzen K ör­
per vergiftet, aber eine furchtbare Selbstüberwindung ist erforder­
lich, um den Frieden zu durchbrechen und an sich selbst H and zu
legen.

108
Die Balderdichtung zeigt uns hier wieder in einem poetischen
Bild, welche Gefühle in den Verwandten stritten. Doch muß man
hier wohl sagen: die eine der Balderdichtungen; denn allem An­
schein nach hat es zwei gegeben. Auf der einen Seite steht die
Version, der der Verfasser der Prosa-Edda folgt, wo die Tötung
Balders mit Hermods Sendung in die Unterwelt zusammen­
geschweißt wird. Die andere Fassung scheint Balders Tod mit der
Sage von Odins und Rinds Sohn, Vali, in Verbindung gebracht zu
haben. Leider erhalten wir nie den vollständigen Zusammenhang,
sondern sind gezwungen, auf unseren eigenen Schlüssen zu bauen,
die sich auf zerstreute Andeutungen in der alten Literatur stützen.
Der Dichter der Völuspa hat in seiner anspielungsreichen D ar­
stellungsweise die ganze Episode in folgende Zeilen zusammen­
gefaßt: „Aus dem Baum, der so schmächtig schien, kam ein ge­
fährlicher Pfeil des H arm s; von Hödurs Bogen löste er sich.
Balders Bruder, schnell geboren, der Sohn Odins, vollzog, eine
Nacht alt, die Tötung. Er wusch seine Hände nicht, kämmte seine
H aare nicht, bis er den auf den Scheiterhaufen trug, der Balder
erschlagen.“ Und in einem anderen Gedicht der Edda, „Balders
Träume“ , wird die Rache für Balder so geweissagt: Rind gebiert
Vali in den Westsälen. Der Sohn Odins vollführt, eine Nacht alt,
die Tötung; wäscht nicht die H and, kämmt nicht das H aar, bevor
er Balders Erschießer auf den Scheiterhaufen trägt.“ Saxo hat die
Sage in dieser Form gehört. Er läßt dem Odin, der „wie alle un­
vollkommenen Gottheiten recht oft die H ilfe der Menschen be­
nötigt“ , von einem Lappen weissagen, daß er als Rächer für Balder
einen Sohn mit Rind, einer ruthenischen Fürstentochter, zeugen
soll. Saxo gibt uns außerdem eine nähere Beschreibung von Odins
Freiersnöten in den Westsälen, wie er sein Glück als Held, als
Goldschmied und, als weder heldische Taten noch goldene Ringe
au f das Mädchen einen Eindruck machen, als Arzt versucht, der
die Krankheit erst herbeiruft und sie dann heilt. Aber ob diese
Kalam itäten eigentlich hierher gehören, wo doch nur von einem
Rächer für Balders Tod die Rede ist, wissen wir nicht. Leider
haben wir gar keinen Anhaltspunkt dafür, ob und wo dieser
Mythos in der Sage von Balder wurzelte, aber es sieht freilich so
aus, als ob der Dichter, der die Geschichte erzählt hat, auf primi­
tive Vorstellungen anspielte. Er brauchte einen Rächer, der ein
Verwandter und doch kein Verwandter war. Der junge Held voll­
führt seine Tat, bevor er sich gewaschen und gekämmt hat - das

109
heißt, bevor er ein menschliches Wesen geworden ist. Jedenfalls,
auch wenn wir nichts Bestimmtes darüber sagen können, welche
Gefühle die Wikingerzeit erfüllten, als sie diese beiden Über­
lieferungen verknüpfte, so können wir doch die Geschichte hin­
nehmen als ein Symbol für die Hilflosigkeit der Verwandten,
wenn ihre Ehre durch einen der ihrigen verletzt worden w ar; sie
suchen sich von dem Gefühl der inneren H ilflosigkeit zu befreien
und den Schaden zu tilgen.
Eins können wir sicher sagen: wenn es die volle Tilgung der
Schande, des Urhebers der Schande, galt, haben die Verwandten
kaum je menschliche H ilfe herbeigerufen; sie haben ihm den Weg
in die Vernichtung oder den Weg in den Wald offen gelassen. Sie
haben ihn nicht eigentlich von sich gestoßen, ihn eher indirekt
gezwungen, sich loszureißen, und erst wenn der Friedensbrecher
sich selbst von der Sippe abgekehrt hatte, haben sie ihre H ände
erhoben und ihn feierlich für ausgeschlossen aus dem Bezirk des
Friedens und der Menschlichkeit und seinen Platz als leer erklärt.
Solange die geringste Möglichkeit bestand, die Lebensfähigkeit
der Sippe ohne gewaltsamen Eingriff in ihren Organismus zu er­
halten, hat man wohl die schmerzliche Amputation hinaus­
geschoben. Denen gegenüber, die durch Feigheit und Untätigkeit
mehr und mehr Ehrlosigkeit über die Verwandten brachten, hat
man es wohl zuerst mit aufreizenden, anstachelnden Worten ver­
sucht. H ier hatten die Frauen eine große Aufgabe und nach allem,
was wir wissen, waren sie der Aufgabe gewachsen. Wir besitzen
ja Illustrationen genug, um uns den Einfluß der germanischen
Frauen auf ihre Männer, Brüder und Väter zu veranschaulichen.
Sie konnten Strich um Strich das Bild von den Begleitumständen
der Kränkung einkerben, wie wenn Gudrun zu ihren Söhnen sagt:
„Eure Schwester - Svanhild war ihr Nam e - ließ Jörmunrek von
Rossen zertreten, von weißen und schwarzen Rossen auf der Straße
des Krieges, von grauen Rossen, eingefahren am Zügel, von Ros­
sen der Goten.“ Sie konnten lebendige Gleichnisse gebrauchen,
schlagender als die eines jüdischen Propheten, wie es die feurige
isländische Witwe Thurid tat, die ein Rinderbugstück nur in drei
Teile geteilt auf tragen und die Söhne selbst die Deutung finden
ließ: „In größere Stücke wurde euer Bruder zerhackt.“ Nach dem
Fleisch ließ sie einen Stein als Nachspeise folgen; das sollte be­
deuten, daß sie in die Welt paßten wie Steine auf einen Eßtisch,
„d a ihr es nicht gewagt habt, euren Bruder H all zu rächen, der

110
ein so trefflicher Mann war; ihr seid weit abgewichen von euren
Gesippen . . . " Sigrid, die Schwester von Erling Skjalgson, beglei­
tete ihren Schwager Thorir Hund ans Schiff, nachdem sie ihm die
Leiche ihres Sohnes Asbjörn gezeigt hatte, der in nahezu offenem
Aufruhr gegen König O laf umgekommen war, und bevor Thorir
an Bord ging, sagte sie frei heraus: „Sieh, Thorir, so hat mein
Sohn Asbjörn deine liebevollen Ratschläge befolgt. Er lebte nicht
lange genug, um dir nach Verdienst zu lohnen; aber wenn ich es
auch nicht so gut machen kann, wie er es gekonnt hätte, soll es
doch am Willen nicht fehlen. Ich habe hier ein Geschenk, das ich
dir geben möchte, und ich würde mich freuen, wenn es dir zum
Nutzen gereichte. Hier ist der Speer, der in seinem Körper aus-
und einging - das Blut sitzt noch daran. Er paßt in Asbjörns
Wunde, du siehst es wohl . . . “
Thorgerd, O laf Pfaus Frau, war eine Egilstochter, und sie hatte
den Sippenstolz ihres Vaters. Sie bat einmal ihre Söhne, ihr auf
eine Reise nach dem Westen zu folgen, und als die Gesellschaft vor
den H o f Tunga kam, wendete sie ihr Pferd und sagte: „Wie heißt
der O rt?“ Die Söhne antworteten: „D as weißt du doch, er heißt
Tunga.“ „Wer wohnt dort?“ „Weißt du das nicht, M utter?“
„Doch“ , antwortete Thorgerd mit einem tiefen Seufzer, „das weiß
ich freilich, dort wohnt der Toter eures Bruders. Ihr seid nicht wie
eure Gesippen geartet, daß ihr einen solchen Bruder wie Kjartan
nicht rächen wollt, - nie hätte euer Muttervater Egil so gehandelt;
schlimm ist es, tatenlose Söhne zu haben, - so wie ihr seid, hättet
ihr die Tochter eures Vaters sein sollen und hättet verheiratet
werden müssen. Wie sagt das Sprichwort, H alldor: ein Tropf ist
in jedem Geschlecht; darin war O laf unglücklich, das läßt sich
nicht leugnen: seine Söhne mißglückten ihm. Jetzt können wir um­
kehren; nur das war hier mein Geschäft, Euch daran zu erinnern,
wenn ihr es vergessen haben solltet.“ H alldor hat recht, wenn er
sagt: „D ir werden wir nicht die Schuld geben,Mutter, wenn es uns
aus dem Sinn kommen sollte.“
Die Frauen schreckten auch nicht davor zurück, vielsagende und
leichtverständliche Gebärden anzuwenden. Prokop erzählt, daß
die gotischen Frauen, als sie sahen, welchen kleinen Kerlen ihre
Männer sich ergeben hatten, den Männern ins Gesicht spuckten
und mit Hohn auf die triumphierenden Feinde zeigten.
Diese Beispiele bilden eine bedeutungsvolle Ergänzung zu dem
oben Gesagten. Aus den Worten und Taten dieser Frauen spricht

111
ein Gefühl von der gewaltigen Spannung, die durdi ein Leben in
der Ehre in den Menschen erzeugt wurde — und daher haben die
Worte Bedeutung über die einzelne Situation hinaus, auf die sie
sich in der Saga beziehen. Sie geben uns die Gewißheit, daß eine
solche Ehrennot die Menschen bis zum äußersten bringen konnte.
Es liegt in ihnen eine indirekte Andeutung von dem, was ge­
schehen konnte, wenn die Aufreizungen nicht halfen.
In einem Falle erfahren wir mit Gewißheit, daß die betroffene
Partei schnell zur Amputation schritt und die Schande von der
Erde austilgte. Wenn eine Frau entehrt worden war, gingen die
Bestrebungen ihrer Verwandten in erster Linie darauf hinaus, bei
dem Kränker Ehre zu holen. Aber das war gewöhnlich nicht der
Abschluß. Die entehrte Frau wurde als Schänderin der Sippe be­
trachtet; sie belastete ihren Stamm und brachte seine Ehre in die­
selbe Gefahr wie ein feiger Mann. Sogar wenn eine Frau ver­
heiratet war, hafteten ihre Verwandten für sie. Der Gatte legte
die Schande auf diese und bat sie, die Frau und sich zu reinigen.
Gregor von Tours gibt ein Beispiel davon, wie man zu seiner Zeit
eine solche Sache behandelte - ein Beispiel, das in allem Wesent­
lichen typisch für germanische Denk- und Handlungsweise ist. Von
einer Frau wurde gesagt, daß sie ihren Mann betrogen hätte. D ar­
auf gingen die Verwandten des letzteren zu dem Vater der Frau
und sagten: „Du mußt deine Tochter reinigen oder sie muß sterben,
damit ihr Vergehen unsre Sippe nicht beflecke.“ Der Vater erklärte,
von ihrer Unschuld überzeugt zu sein, und, um die Beschuldigung
niederzuschlagen, bot er an, sie durch Eid zu reinigen. - Wenn die
Verwandten sich aber nicht reinigen können, müssen sie mit ihr
zusammen die Schande tragen; sie müssen sich zu Neidingen
machen lassen oder die Schande ausrotten. Es war einmal ein Ge­
schlecht, erzählt Gregor, das in Erfahrung gebracht hatte, daß eine
seiner Frauen von einem Priester verführt worden w ar; alle Mann
eilten, die Schande des Geschlechts zu rächen, indem sie den Priester
fingen und das Mädchen lebendig verbrannten.
Das Geschlecht vollführte diese Ausrodung mit Rücksicht auf
die eigene Wohlfahrt, aus Selbsterhaltungstrieb. Die Notwendig­
keit der Tat hat ihre Spur in den Gesetzen hinterlassen, und wir
finden sogar Anzeichen davon, daß das Recht einmal Pflicht ge­
wesen ist. In Rothars Verfügung, daß die Öffentlichkeit eingreifen
soll, wenn die Verwandten keinen Gebrauch von ihrem Recht
machen, gegen eine Verwandte einzuschreiten, die sich mit einem

112
Manne vergangen oder einen Knecht geheiratet hat, spricht sicher
altes Rechtsempfinden. Schwedische Gesetze bezeugen das Recht
der Eltern, ihre Töchter zu verjagen.
Wenn eine Frau das H aus ihres Vaters oder ihres Mannes ent­
ehrt hat, wird sie mit Peitschenhieben von H of zu H of getrieben
oder gezwungen, sich selbst das Leben zu nehmen - so beschreibt
Bonifazius die Hauszucht der Sachsen in der heidnischen Zeit. Die
letzte Alternative weist von der Gesellschaftsjustiz auf das zurück,
was wir Sippenamputation genannt haben; die Schande wird ge­
tilgt ohne unmittelbare Verletzung des Friedens durch die Ver­
wandten.
Wenn die Sippe so unbändig hart gegen ihre weiblichen Mit­
glieder vorging, war der Grund nicht der, daß die Germanen
gering von dem „Frieden“ und der Unverletzlichkeit der Frauen
dachten. Nein, umgekehrt, weil die Frau sozusagen den aller­
innersten Platz im Frieden inne hatte, war die Gefahr des Unheils
beim Verfall ihrer Ehre um so größer. Deshalb mußte das Un­
glück, das durch eine Frau oder ein Mädchen entstand, sofort und
gründlich unterbunden werden. Aber wir besitzen genügend Hin­
weise darauf, daß Männer mit verhängnisvollen Fehlern mit der­
selben harten H and weggeräumt worden sind, doch auch mit der­
selben Behutsamkeit, um zu vermeiden, daß Blutschuld an den
Überlebenden haften blieb.

113
Ehre als die Seele der Sippe
Ohne Ehre ist das Leben unmöglich; es ist nicht nur wertlos,
sondern läßt sich nicht behaupten. Ein Mann kann nicht mit
Schande leben, das bedeutet in der alten Sprache viel mehr als
jetzt - dies „kann nicht“ ist dasselbe wie „ist nicht dazu imstande“ .
"Wie das Leben im Blute wohnt, so wohnt das Leben wirklich in
der Ehre: läßt man die Wunde offen, so daß die Ehre unaufhörlich
zur Erde sickert, so folgt Ermattung, Dahinsiechen, eine Störung,
die sich zu Angst, Verzweiflung, Atemnot, Todeskampf steigert.
Das Menschsein selbst hat zur Voraussetzung, daß Friedens­
ehre in den Adern pulsiert. Ohne sie welkt die Menschennatur
dahin, und in dem leeren Raum wächst eine Tiernatur auf, die
zuletzt vom ganzen Körper Besitz ergreift. Der Neiding ist ein
Wolf mann.
Es gab keine Ausnahme. Alles Menschenleben (bei „Menschen­
leben“ darf man natürlich nicht Unfreie und dergleichen Wesen
mitrechnen) war derselben Notwendigkeit unterworfen. Alle
stimmten darin überein, daß Schande ausgewetzt, Ehre aufrecht­
erhalten werden mußte. Und doch, wenn sich die Frage erhob,
worin Schande bestand, was die Ehre umfaßte, die die Verwandten
aufrechtzuerhalten verpflichtet waren, da waren die Menschen so­
fort durch Scheidewände getrennt. Eine Kränkung war eine K rän­
kung, sie rief dieselbe Wirkung im Bauern wie im Häuptling
hervor. Aber die Hochgesippten waren leichter verletzbar, emp­
findlicher als der kleine Mann, was zum Beispiel indirekte H int­
ansetzungen betraf. Und das Volk respektierte das Recht oder
vielmehr die Verpflichtung, so zu fühlen. Der Unterschied beruht
nicht so sehr darauf, daß jene gewisse Dinge, die einfachere N atu ­
ren nicht beachteten, als Beleidigung aufnahmen, sondern eher
darauf, daß ihre Gefühle feiner waren, ihre H aut zarter: sie
merkten Kränkungen, wo gröbere Naturen nichts fühlten. Noch
schärfer vielleicht tritt die Ungleichheit hervor auf der positiven
Seite der Ehre. Bei den Vornehmen setzte man ein höheres Gefühl
für das, was sich ziemte, voraus; geringere Leute konnten sich mit

114
Kniffen durchs Leben winden und doch Ehrenmänner sein. Aber
um die Unterschiede richtig auseinanderzusetzen, müssen wir das
Wesen und den Inhalt der Ehre näher untersuchen.
Der erste Teil der Egilsaga ist aufgebaut auf dem Gegensatz
zwischen Thorolf Kveldulfson, dem H äuptling auf Torgar, und
den Hildiridsöhnen, den Bauern auf Leka, die reich, aber niederer
Herkunft sind. In Thorolf hat der Sagamann das nordische Ideal
eines wohlhabenden, freien Mannes gezeichnet: mutig, unter­
nehmend, prachtliebend; innig in der Freundschaft, treu und offen
gegen die, denen er Treue versprochen hat, aber schroff denen
gegenüber, die nach seiner Ansicht keine Ansprüche an ihn haben.
Ränken und Verdächtigungen gegenüber ist er beinahe blind, das
heißt, er sieht nur wenig, und er kümmert sich nicht um das
wenige, das er sieht. Will der König sich von seinem offenen Be­
tragen nicht überzeugen lassen, so zeigt er höflichen Trotz und
Starrköpfigkeit: Wenn der König seine Lehen einzieht, so bringt
er es fertig, sein Häuptlingsleben mit H ilfe von Handelsreisen
und Wikingzügen fortzuführen, er beantwortet die Beschlag­
nahmen des Königs mit Küstenraub und hält, ohne nach links
oder rechts zu weichen, seinen Kurs gerade auf den K am pf mit
dem König von Norwegen. Die Hildiridsöhne haben ihren Namen
nach der Mutter erhalten, und damit ist ihre Geschichte angedeutet.
Ihre Mutter, die schöne, aber niedriggeborene H ildirid, fand ein­
mal Gnade vor den Augen des alten Björgulf ; er heiratete sie, aber
die Hochzeit fand unter solcher Vernachlässigung der Formen statt,
daß die Familie daraus den Vorwand nahm, den unbequemen
Nachkommen das Sippenrecht zu entziehen. Vergebens versuchen
die jungen Männer, sich Anerkennung zu erwerben und bei Bard,
Björgulfs Enkelsohn, ihrem gleichaltrigen Verwandten, ihre Erb­
ansprüche durchzusetzen. Nach Bards Tod wird Thorolf auf Grund
seiner H eirat mit der Witwe Vertreter des Björgulferbes. Auch er
weist höhnisch die „Kebssöhne“ zurück, die Nachkommen „eines
kriegsgeraubten Weibes“ . Dann wählen sie den Weg über den
Königshof, entfachen bei H arald Verdacht durch Hinweis auf
Thorolfs prächtigen Haushalt, erschleichen sich Thorolfs große
Lehen unter dem Vorwand, daß sie mehr aus ihnen für des Königs
Schatzkammer herauswirtschaften können, geben den Übergriffen
Thorolfs Schuld daran, daß ihre Versprechungen nichtig werden,
und bereiten schließlich den Fall des Empörers vor. Aber den jäm ­
merlichen Schurken ist es nicht vergönnt, ihren sauer erkauften

115
Sieg zu genießen; die Vergeltung erreicht sie vorher. Thorolfs
Freunde nehmen gründliche Rache.
Ruhig und sachlich erzählt der Sagamann diese Begebenheiten,
aber durch seine nüchternen Worte trifft das Urteil diese Männer
um so sicherer. Thorolf konnte nicht anders handeln, er war aus
vornehmem Geschlecht; er konnte dem Könige dienen, solange sein
Dienst ihm lauter Ehre brachte, aber er konnte sich von nieman­
dem, auch nicht von einem Könige, vorschreiben lassen, wie er mit
seiner Ehre haushalten sollte, mit wie vielen Hausleuten er sich
umgeben, in welcher Pracht er selbst und sein Gefolge auf treten
dürften; er konnte sich nicht so tief bücken, daß eine Anklage,eine
Verdächtigung zu ihm heraufreichte und er eine Verteidigung ver­
sucht hätte. Es stand für ihn fest, daß eine Einmischung des Königs
in seine Sachen eine Kränkung war, die ihn berechtigte, sich selbst
sein Recht zu verschaffen. H at der König sein Handelsschiff mit
Beschlag belegt, nun gut, „wir werden auf dem H ofe nicht Mangel
leiden, wenn wir mit König H arald Gütergemeinschaft haben“ ,
und sofort macht er Raubzüge an der norwegischen Küste. Die
Schlauheit, Lügenhaftigkeit, Verleumdung, Heuchelei, Schmiegsam­
keit der Hildiridsöhne waren natürliche, unvermeidliche Charakter­
züge bei Männern, die mütterlicherseits von dem klugen, schwer­
reichen, niedrig geborenen Högni auf Leka abstammten, der „aus
eigener Kraft groß geworden w ar“ .
Der Unterschied zwischen Thorolf und seinen niedrigstehenden
Verwandten zeigt einen Hauptgrundsatz der germanischen Seelen­
betrachtung: Hohe Geburt und edler Charakter sind ein und das­
selbe. Aber obwohl diese Worte eine direkte Wiedergabe der ger­
manischen Weisheit sind, hat der Satz doch seine genaue Bedeutung
verloren, wenn er auf moderne Verhältnisse übertragen wird; das
Spiel der Farben ändert sich, weil unsere moderne Kultur es in
einem anderen Lichte sieht.
Wenn die Geschichte in unserer Sprache wiedergegeben wird,
handelt sie von einem Helden, der über seinen eigenen Adel strau­
chelt, der vom Schicksal sozusagen durch seine eigenen Tugenden
bezwungen wird; aus seiner edlen Offenheit werden Scheuklappen,
so daß er die Verleumdung nicht sieht, seine Vorliebe für den
geraden Weg wird ihm ein Zaum, seine Selbständigkeit ein Zügel,
dem er gehorchen muß, und nun lenkt das Schicksal ihn selbst­
herrlich geradeswegs in den Untergang hinein. Andererseits hören
wir von zwei unedlen Strebern, die, als das Unglück völlig ent­

116
schieden ist, als Opfer an die Gerechtigkeit vernichtet werden.
Es ekelt einen an, sich selbst bei derartiger ästhetischer Wollust zu
ertappen. Läßt es sich aber anders lesen? Unser Interesse an den
intrigierenden Parvenüs ist ja in der Tat mit ihrer Rolle als Schur­
ken im Stücke zu Ende.
Hier stehen wir vor einem wesentlichen Unterschied zwischen
„alter“ Epik und „moderner“ Wiedergabe der Konflikte des
Menschenlebens in dichterischer Form. Unsere Epik ist von einer
Wülkürlichkeit getragen, die sich als Moral oder Idee oder künst­
lerisches Prinzip vermummt; schon bevor irgendeine der Personen
zur Welt kommt, hat der ordnende Gedanke des Verfassers ihr
Schicksal gesponnen, einzelne von ihnen vorausbestimmt, durch die
Idee verklärt zu werden, andere aber, die Idee durch ihren Unter­
gang zu verherrlichen. In so hohem Grade ist uns der Drang, eine
dichterische Vorsehung im oder richtiger über dem Stoff zu fühlen,
N atur geworden, daß wir unbewußt die alte Dichtung zurecht­
legen, um sie auf diese Weise zu genießen. Wir verlegen das Inter­
esse auf die eine Seite des Konfliktes, und damit haben wir das
herausgenommen, was für den ursprünglichen Zuhörer die Pointe
der Geschichte ausmachte. Die alte Dichtung kannte keinen höhe­
ren Gesichtspunkt, kein absolutes, im voraus gegebenes Resultat,
das in der Erzählung lediglich durchgerechnet würde, um bewiesen
zu werden. Der Schwerpunkt liegt immer viel näher an der Mitte
zwischen den beiden Parteien als unser ästhetischer und moralischer
Sinn es vertragen könnte. Die „M oral“ entsteht erst durch den Zu­
sammenstoß und die Abrechnung zwischen den beiden Faktoren. Es
ist oft unmöglich zu sagen, welcher Seite der Dichter bei der Schil­
derung von Sippenfehden seine Sympathie leiht, weil das Interesse
an der Erzählung sich nicht in ein „F ü r“ und „W ider“ spaltet.
Wer einmal isländische Sagas einigermaßen unvoreingenommen
gelesen hat, wird immer wieder eine Nachwirkung dieses Gleich­
gewichts an sich gespürt haben - vielleicht mit einer gewissen Ver­
wunderung oder sogar mit Unzufriedenheit. Die isländischen Sagas
sind arm, bettelarm an Schuften, - die sentimental umgearbeitete
N jalsaga lasse ich außer Betracht; als G a n z e s gehört sie in eine
andere Welt hinein. Aber gerade weil das Epos einen R i n g -
k a m p f zwischen Männern wiedergibt und keine Vorführung
mit vorher berechnetem Resultat, kommt der Triumph um so zer­
schmetternder und brutaler. Er folgt auf einen Kam pf, einen Sieg,
bei dem das Recht des einen das Recht seines Gegners niederschlägt

117
und es zu Staub zermalmt. So schwer es uns auch fällt, es zu ver­
stehen: die alte Dichtung war Ernst, war den Zuhörern ein Stück
Wirklichkeit von derselben handgreiflichen Realität wie die, die
unter ihrer persönlichen Mitwirkung vor sich ging.
Aus dem Gegensatz zwischen Thorolf und den Hildiridsöhnen
entsteht also ein wirklicher Konflikt. Der Charakter Thorolfs ist
durch seine Ehre bedingt; sein Edelmut zieht seiner Handlungs­
freiheit scharfe Grenzen; er kann nicht lügen, nicht Schleichwege
gehen, nicht Augendiener sein. Und wenn er seiner Prachtlust
weniger folgte, wenn er die Hälfte seiner Hausleute in die Welt
schickte, so daß sie den Leuten hätten melden können, daß Thorolf
auf Torgar es nicht mehr wagte, so große Mannschaft wie früher
zu halten, wenn er seine Zwistigkeiten mit geringeren Männern
einem Richtstuhl unterwürfe mit der Verpflichtung, sich dem Urteil
zu fügen, wenn er im Vertrauen auf seine gereckte Sache seinen
kleinen Widersachern entgegenkäme und demütige Beweise seiner
Redlichkeit anböte - dann wäre er von seinem Edelmut abgefallen,
und seine Ehre würde ihn richten.
Das Betragen und der Charakter der beiden Brüder ist nicht
weniger stark durch ihre Geburt bedingt, und daher haben sie das
Recht, so zu sein, wie sie sind. Sie kämpfen für die eigene Ehre
und die ihrer Mutter; ihre Handlungen sind von purem Ehrgefühl
diktiert. Sie haben keine anderen Mittel, ihre gerechte Rache durch­
zuführen, als die von ihnen verwendeten, und der Sagamann kann
ihnen den Teil Anerkennung nicht versagen, der ihnen ihrem vor­
nehmen, hochgesinnten Widersacher gegenüber gebührt, der ent­
sprechend der Art seines Blutes mit anderen Waffen kämpft und
kämpfen muß. Nichtsdestoweniger enthält die Schilderung ihres
Vorgehens eine Verurteilung ihrer Niedrigkeit. Ihre Zwangslage
rechtfertigt sie nicht, im Gegenteil. Sie haben schon recht, aber in
dem Widerstreit, in den die Ehre sie bringt, und durch ihn werden
sie zu Schuften.
Hier haben wir ein Dilemma, das uns weit auszuschauen zwingt,
wenn es gilt, die Ehre eines Volkes, seine Ethik, zu werten. Unsere
Aufgabe läßt sich nicht lösen, bevor wir nicht so tief eingedrungen
sind, daß dieser Gegensatz aufgehört hat, ein Widerspruch zu sein.

Ein hochgeborener, hochgesinnter Mann muß seinen Edelmut


nicht nur durch die Art zeigen, wie er sich Kränkungen gegenüber
verhält und wie sich sein Benehmen darstellt, sondern auch durch

118
die Art, wie er sidi der Angelegenheiten anderer annimmt. Mit
Sicherheit durfte man H ilfe in Schwierigkeiten bei den Vornehmen
des Gaues erwarten. Ein isländischer Vater, der seinen Sohn ver­
loren hatte und sich nicht in der Lage befand, mit eigenen Kräften
eine Rache oder eine Rechtssache durchführen zu können, ging zu
dem Bauern, der die Führung im Bezirk hatte, und sagte: „Ich will
deine H ilfe, damit du mir in der Sache mein Recht verschaffst“ ,
und er begründete seine Forderung mit einem: „Es gilt auch deine
Ehre, daß Übeltäter sich im Bezirk nicht breit machen dürfen.“ D a
mußte jener Vornehme die Rache übernehmen. Trieben Zauberer
ihr Unwesen im Gau, mußte der Häuptling „etwas dagegen tun“ ,
denn sonst hätte er kaum „seine Ehre aufrechterhalten können“ .
Ja , nicht genug damit, daß derjenige, der über Männer befehlen
wollte, sich der lebenden Friedensstörer annehmen mußte, es konnte
auch Vorkommen, daß er beim Umgehen von Gespenstern zuge­
zogen wurde und erfahren mußte, daß hier eine Ehrenaufgabe für
ihn läge. Der Mann war gezwungen, jeder Aufforderung, die an
ihn gerichtet wurde, nachzukommen und zwar mit Rücksicht auf
sein eigenes Wohl und Wehe. Ein Hilfesuchender mochte, wenn es
notwendig war, damit drohen, sich auf der Stelle niederhauen zu
lassen, und die Folge wäre Schande für den gewesen, der ihm seine
Tur verschlossen hatte.
Die persönliche Ehre des Häuptlings, seine Mannesehre, litt Ab­
bruch, wenn er es unterließ, seine ganze Kraft für die Erfüllung
seiner Standesverpflichtungen einzusetzen. Er hatte keine Beamten­
ehre, die er zuerst hätte drangeben können. Die Häuptlingschaft
sank in einem Zuge zur Neidingschaft hinab, ohne erst bei einfacher
bürgerlicher Achtung stehenzubleiben. Ein Mann von Häuptlings­
geburt und mit Häuptlingsansehen mußte offenes H aus halten für
die Leute, die seinen Schutz suchten. Er hatte kein Recht dazu,
nach der Würdigkeit des Bittstellers und seiner Sache zu fragen;
die Tatsache, daß dieser bei ihm Zuflucht suchte, genügte, um seine
Ehre der Welt gegenüber zu verpflichten. Gäbe der große Mann
den Flüchtling preis, anstatt sich der verzwickten und heiklen Sache
anzunehmen, die ein solcher Gast oft mit sich brachte, so würde
sein Benehmen nicht nur als Schwäche, sondern auch als Ehrlosig­
keit gestempelt werden.
Diese durchgehende Einheit ist ein echtes Kennzeichen der alten
Ehre; sie kennt keine Abstufungen, keine mehr oder weniger ver­
letzbaren Punkte, keine Kreise mit voneinander unabhängigem

119
Eigenleben - sie ist durch und durch sie selbst, vom allerinnersten
Kern im Mannesgefühl an bis zur alleräußersten Peripherie des
sozialen Einflusses des Mannes. Es gibt kein Körnchen Unterschied
zwischen dem, was der Mann seiner allgemein menschlichen Würde
schuldig ist, und dem, was er als Standesperson an Mehrverpflich­
tungen hat. Er kann also nicht sein soziales Ansehen fortwerfen,
ohne auch moralisch abzusterben.
Das Ansehen eines Edeln ist eine große, hochgewachsene Ehre.
In dem Appell an die Häuptlingschaft eines Mannes liegt nichts
Geringeres als ein Appell an die „Ehre“ , geschärft durch Anspie­
lungen auf die mehr als gewöhnliche Empfindlichkeit seiner be­
sonderen Ehre. „Sei du jedermanns Neiding, wenn du dich meiner
Sache nicht annimmst“ , sagt der Hilfesuchende mit demselben Ge­
wicht wie ein anderer: „Zieh deinen Weg als Neiding, wenn du
nicht rächst.“
Eine kleine Kulturgeschichte liegt in dem Worte „Tugend“ ver­
borgen; es bedeutete in alter Zeit soviel wie: taugen, sein, was man
sein sollte. „Tugend“ in modernem Sinne setzt, wenn ich so sagen
darf, eine Freimachung moralischer Kräfte zum ästhetischen Ge­
brauch voraus. Auf dem Hintergründe einer Durchschnittsmoral,
die ein jeder erreichen kann und mit der einem jeden gedient sein
kann, entfaltet die höchste Form der Tugend sich in voller Pracht.
Die „Barbaren“ kennen keine Tugenden, weil sie keine Minimum-
Moral besitzen. Wie hoch auch ein Mann sich über das Allgemeine
erhebt, er ragt nie über seine Pflicht hinaus; sie wächst mit ihm.
Wenn es im Isländischen von einem Bauern heißt: „E r war ein so
braver Mann, ein solcher þ e g n sk ap arm ad r , daß er jedem Mann
freie Beköstigung gab, solange er nur essen wollte“ , ist es au f­
fallend, daß das Wort, mit welchem er gepriesen wird, p e gn sk a-
p arm ad r, ganz einfach die Mannesehre, das „Gewissen“ bedeutet,
auf das sich jeder Mann beim Schwören vorm Gericht berief. Und
ebenso selbstverständlich, ohne irgendwelche symbolische Verzer­
rung des Wortes, heißt derjenige, der es sich wohl leisten könnte,
seine Mitmenschen zu beköstigen, aber seine Vorratskammer vor
ihnen verschließt: Kostneiding. Er war ebensosehr ein Neiding wie
ein Meineidiger. Der König war freigebig - und nun klingen die
Lobreden über ihn: er streute das Gold um sich, man sah es den
Männern und Frauen, ihrer goldfunkelnden Brust und ihren Armen
an, welch herrlichen König sie hatten; nie früher war ein solcher
König unter der Sonne geboren worden. Aber wehe dem Fürsten,

120
den die Freigebigkeit verließ! Der Geiz war ein Zeichen unter
anderen, daß er seinem Untergang entgegenschritt. Unheimlich
klingen die Worte des Beowulf über Heremod: „In Heremods
Seele wuchsen blutdürstige Gedanken, er gab seinen Dänen keine
Ringe, wie gute Sitte gebot. Freudlos erwartete er die Zeit, da er
die Ernte seiner Taten empfing: Langwährenden Krieg im Lande.“
Ein rätselhafter Fluch ruhte auf ihm und verdorrte seine Lust am
Geben: Neiding!
D as Außerordentliche bewundern, das können diese Vorzeit­
menschen, wie wir hier schon sehen. Ihre Lobpreisungen schwingen
sich hoch empor. Aber gerade das Leidenschaftliche in ihren H ul­
digungen macht einen beklemmenden Eindruck auf uns. Sie jubeln
dem König zu, wie sie dem Schwerttänzer zujubeln würden, wenn
er dem Tode näher und näher kommt, je wilder und kunstfertiger
er tanzt; greift er daneben, wird er unter einer Last von Hohn und
Verachtung erliegen. Durch Gedichte und Sagen geht ein Beifalls­
murmeln, bald deutlich ausgesprochen, bald meisterhaft angedeutet,
über die rechte Todesverachtung des Helden; aber jeder, der auch
nur ein wenig mit dem Geist dieser Gedichte vertraut ist, weiß
auch, daß es zu diesem Lob nur e i n e n Gegensatz gibt, und fühlt
instinktiv, wie das Urteil ausgefallen wäre, wenn der Held den
Schmerz nicht mit Lachen erstickt hätte. Der Dichter des Atliliedes
schildert Högnis trotzigen Hohn, als man ihm das Herz ausschnei­
det, und gibt der Todesverachtung des Helden einen Hintergrund,
indem die Henker seinem Bruder erst ein blutiges Knechtsherz vor­
legen, als wäre es Högnis; aber „da sagte Gunnar, der Fürst der
Männer: ,Hier liegt das Herz H jallis des Feigen, ungleich dem
Herzen in Högni, dem Kühnen; es zittert hier auf der Schüssel
doch nur halb soviel wie in der Brust . . .‘ “ „Hier liegt das Herz
Högnis des Kühnen, ungleich dem Herzen H jallis des Feigen; so
wenig es hier auf der Schüssel zittert, noch weniger zitterte es in
Högnis Brust.“ Ein moderner Leser wird zuerst von der Wucht des
Auftritts erschüttert, aber wenn er ihn zum zweiten Male liest,
könnte seine Bewunderung sich in erstauntes Nachdenken verwan­
deln über die Art, wie der Dichter die Unerschrockenheit des
Helden hervorhebt, indem er ihr die verächtliche Furcht eines
Knechtes gegenüberstellt. So arm an Abstufungen war bei den
Alten die Wertung von Männern und Männlichkeit.
Die Moral der Germanen läßt sich nicht in eine Hierarchie von
guten Eigenschaften einordnen. Es gibt bei ihnen nicht den gering-

121
sten Ansatz zu einem System, wo Tugend sich über Tugend wölbt
wie eine Reihe von Himmeln. Eine solche Rangordnung setzt Zen­
tralisation voraus: alle Menschen müssen unter dieselbe Verdamm­
nis gestellt werden, bevor sie klassifiziert werden können. Die
Germanen kennen kein gemeinsames moralisches Gehenna. Richti­
ger gesagt: das Böse, die Neidingschaft, hat gar keine Wirklichkeit,
sie ist etwas Negatives, ein gänzlicher Mangel an menschlichen
Werten. Die Neidingschaft ist der Schatten, den jede „Ehre“ ihrer
N atur entsprechend wirft. Deshalb steht die Grenze so scharf
zwischen Bewunderung und Verachtung, ohne Abstufungen, ohne
ein neutrales Grau. Und deshalb verläuft die Grenze so verschieden
bei den verschiedenen Menschen. Das, was einen Mann zum Nei-
ding, Verbrecher, Nichtswürdigen macht, ist bedingt durch das, was
ihn zum Ehrenmann gemacht hätte.
Für den Mann aus königlicher Geburt lag die Grenze sehr hoch
oben. Seine Ehre war, über ebenso viele Männer zu befehlen wie
seine Vorfahren oder über noch mehr; der Größte, der Tapferste,
der Klügste, der Freigebigste genannt zu werden innerhalb des Ge­
sichtskreises, der den Machtbereich seines Geschlechts gebildet hatte.
Und unmittelbar außerhalb dieser Ehre stand der Neidingstod.
Dies ist der geheime Gedanke, der alle germanischen Häuptlinge
kennzeichnet, ihr Schicksal entscheidet und sie für einen bestimmten
Lebensgang stempelt. Er hat einen typischen Ausdruck erhalten in
der Beschreibung der isländischen Saga von jenem berühmten Fami­
lienrat auf Vestfold, wo O laf, später der Heilige genannt, seine
Absicht kundtat, Norwegen zu fordern.
Drei Personen nehmen teil an der Beratung. Neben O laf sitzt
sein Stiefvater Sigurd Sau, der Bauernkönig. Er lauscht auf die
bedeutungsvollen Worte des jungen Thronforderers und folgt mit
einem weiten Blick dem kühnen Plan, der über Norwegen hinweg­
rollt; er sinnt nach, wie breit der Weg ist, sieht die harten Ecken,
gegen die das Unternehmen stoßen muß, er sucht die Hände, die
es durch die engen Klüfte zwängen sollen. Sigurd findet mehr
Jugendeifer als Voraussicht in dem Plan, aber er meint schließlich
doch: „Es ist leicht zu verstehen, daß ein Bauernkönig wie ich von
anderer Art sein muß als du; denn als du noch halb ein Kind
warst, warst du schon voller Wetteifer und wolltest der erste sein,
wo du nur konntest . . . Jetzt weiß ich wohl, da du dieses so eifrig
angefangen hast, daß es keinen Zweck hat, dir abzuraten, und es
nimmt nicht wunder, daß solche Ratschläge wie diese alle anderen

122
aus dem Nest werfen, vorzüglich in den Herzen draufgängerischer
Männer, jetzt wo sie H aralds Geschlecht und Königtum dahin­
sinken sehen.“ Auf der anderen Seite O lafs sitzt die Königs­
mutter Asta. Sie ist jetzt die pflichttreue Frau des Bauernkönigs,
aber sie kann nicht vergessen, daß sie die Mutter eines Abkömm­
lings von H arald Schönhaar ist. Durch so viele Jahre hat sie ihren
Ehrgeiz zügeln müssen; jetzt löst der Sohn alle Bande und ihr
Sippenstolz richtet sie auf und läßt sie den K opf höher tragen. D a
sie mitten in der Ehre steht, die Sigurd von außen betrachtet,
findet sie andere Worte: „M it mir steht es so, mein Sohn, daß ich
mich über dich gefreut habe, und wenn deine Macht am größten
wird, wird auch meine Freude am größten sein; ich werde mit
nichts zurückhalten, was ich tun kann, aber hier bei mir ist wenig
H ilfe zu holen. Lieber eine kurze Zeit König über ganz Norwegen
sein wie O laf Tryggvason, als das Leben in fetter Fülle vollenden
wie die Klein-Könige dieser Gegend.“ Und aus dem Allerinnersten
der Sippe kommen O lafs Worte: „Ihr werdet gewiß in der Rache
für diese Sippenschande nicht so saumselig sein, daß ihr nicht ailes
dafür einsetzt, den Mann zu stärken, der bei der Wiederaufrich-
tung unsres Geschlechts Führer sein will.“ Die Sippenschande, das
ist für den Sagadichter der springende Punkt in der Geschichte
Olafs. Seine Sippe war die erste in Norwegen gewesen, und die
Ehre des Geschlechts erforderte, daß sie diesen Platz über allen
Häuptlingen des Landes sich erhalten mußte.
Wenn wir jetzt die höchsten Formen der Ehre betrachtet haben,
so liegt der Gedanke nahe, nunmehr die niedrigsten Grade zu be­
trachten. Was war der geringste Lebensbedarf an Ehre für die
Menschen? In gewissem Sinne liegt die Antwort in den Gesetzen,
in ihrem Generalnenner für das Menschliche enthalten; wir könn­
ten den Wert des Mannes aus der Summe dessen berechnen, wofür
er Genugtuung suchen durfte; und indirekt haben wir etwas Ähn­
liches getan. Um das richtige Verhältnis herauszubringen, müssen
wir jedenfalls die aktive Seite der Ehre etwas stärker betonen, als
es in dem förmlichen Ausdruck der Gesetzesparagraphen geschieht.
Die nordischen Gesetze künden, wie wir gesehen haben, noch
Rechtlosigkeit bei mangelnder Männlichkeit, gleichgültig, ob die
Schwäche sich darin zeigt, daß der Mann keine Forderung an­
nimmt oder darin, daß er den kürzeren zieht; und sie zeigen, daß
es keine Etikettenphrase ist, wenn man es vorzieht, „lieber zu
sterben als ein Neiding zu heißen, weil man sich ohne K am pf er­

123
geben hat.“ In diesem Falle frißt die Friedfertigkeit sich ebenso
tief in den Mann hinein wie die Schande, die er auf sich zieht,
wenn er einen Bruder ungerächt läßt. Aber in ehrgeizigen Ge­
schlechtern, ja überhaupt in gesunden Geschlechtern, konnte die Ehre
sich nicht damit begnügen, still zu stehen und sich mit dem Schilde
zu decken - man konnte nicht warten, bis die Probe herankam,
man mußte Gelegenheit suchen, sich zu zeigen. Es gibt im A lt­
nordischen eine bezeichnende Redensart für einen jungen Mann,
der sich als würdiger Nachkomme eines würdigen Vorfahren ge­
zeigt hat. Es heißt von ihm, daß er seine Abstammung behauptet
hat, wörtlich: „sich in seine Sippe geführt hat.“ Als der Isländer
Glum auf seiner ersten Auslandsreise zu dem H ofe des Vaters
seiner Mutter, Vigfus, kam und an den Hochsitz trat, wo sein Ver­
wandter saß, „groß und breit, mit einem mit Gold eingelegten
Schwerte spielend“ , um zu grüßen und seine Verwandtschaft an­
zuzeigen, wurde ihm ein sehr kühler Empfang zuteil. Der Jüng­
ling erhielt einen Sitz ganz unten auf der unansehnlichsten Bank
und wenig Aufmerksamkeit. Der junge Mann wartete geduldig,
bis sich eines Tages Gelegenheit bot, durch Tötung eines Mannes zu
glänzen. D a taute Vigfus mit einmal auf. „Jetzt hast du den Be­
weis erbracht, daß du aus unsrer Sippe bist; ich wartete bloß dar­
auf, daß du dich mit Männlichkeit in die Sippe führen solltest.“
Denselben Ausdruck gebraucht Ja rl Hakon gegen Sigmund Bre-
stason, den Sohn eines färöischen Häuptlings, als dieser nach der
Tötung seines Vaters bei dessen Freunden in Norwegen Zuflucht
sucht: „Ich will an Kost für dich nicht sparen; aber du mußt dich
selbst in deine Sippe führen durch eigene K raft“ - nämlich indem
du die tödliche Wunde heilst, die dein Friede und deine Ehre er­
halten haben. Wenn Vigfus das Wort gebraucht, liegt also etwas
mehr als die bloße Bestätigung guter Gaben dahinter; es bedeutet
geradezu das Eintreten in den Frieden, den Übergang von dem
gefährlichen Schattendasein zu einem voll befestigten Leben in
Ehre. Und ohne Zweifel ist die Saga im Recht, wenn sie Vigfus so
feierliche Worte in den Mund legt.
Die Isländer haben einen charakteristischen Ausdruck für einen
Jüngling, der noch nicht gezeigt hat, daß er das Leben seines Vaters
als seine Norm und seinen Ansporn empfindet. Sie nennen ihn
v errfed ru n gr, das heißt einer, der schlechter ist als sein Vater. Der
berühmte Entdecker Leif begann seine Mannesjahre mit dem Ver­
sprechen, daß er kein v errfed ru n gr sein wollte. Hiermit wird die

124
Einstellung bei der Ausbildung der Jugend angedeutet. So früh
wie möglich wurde der junge Mann in das gemeinsame Ehrenleben
der Sippe hereingezogen, angeleitet, sich als Teilhaber an der Ver­
antwortung zu fühlen. Und es hat den Älteren wohl nicht an an­
stachelnden Worten gefehlt, wenn sie Schwerfällige anspornen woll­
ten. Der Anfang der Vatsdcelasaga entwirft ein Bild davon, wie
der alte Ketil Raum seinen Sohn mit steigender Mißbilligung be­
trachtet und den K opf über ihn schüttelt, bis er eines Tages nicht
länger schweigen kann, sondern zu moralisieren beginnt: „H eut­
zutage benehmen sich die jungen Leute ganz anders als damals,
als ich jung war. Damals wollten sie gern etwas für das eigene An­
sehen tun, entweder auf Wikingfahrt ziehen oder sich sonstwo in
gefährlichen Unternehmungen Gut und Ehre erwerben, aber jetzt
wollen sie nur mit dem Rücken am Feuer sitzen und mit Bier die
H itze kühien, und es ist schlecht bestellt mit der Männlichkeit und
der Kühnheit . . . Du besitzt freilich nicht viel an Stärke noch an
Größe, und das Innere wird wohl dem Äußeren entsprechen, so
daß du wohl kaum in die Spuren deiner Vorfahren treten wirst.
In alter Zeit war es Sitte bei Leuten unsrer Art, daß sie sich auf
Kriegszüge begaben, sich Gut und Ehre verschafften; und dieses
Gut wurde nicht vom Vater an den Sohn vererbt - nein, das nah­
men sie mit sich in den Grabhügel, so daß ihre Söhne es auf dem­
selben Wege erwerben mußten“ , und so eine ganze Weile weiter.
Leider scheint es, daß der Sagamann etwas von der glühenden Be­
geisterung für eine gute alte Zeit besitzt, womit man gewöhnlich
verrät, daß die gute alte Zeit unwiderruflich vorüber ist. Daraus
ergibt sich auch, daß er den alten Ketil etwas mehr rhetorisch be­
gabt und etwas mehr der historischen Belehrung ergeben darstellt,
als die Häuptlinge des neunten Jahrhunderts gewöhnlich waren.
Eine Aufmunterung wie die, die er seinem Sohne gibt, wäre in den
guten alten Zeiten in weniger gelehrten Worten, aber dafür ein
gut Teil schärfer ausgefallen. Es ist auch kaum ganz gute Historie,
wenn die Saga einen echt romantischen Wegelagerer im Walde lie­
gen läßt, so nahe an Ketils H of, daß Thorstein, der Sohn, seinem
Vater eine große Überraschung mit seiner Tötung bereiten kann,
ohne Gefahr zu laufen, sich durch viele und lange Vorbereitungen
zu verraten.
Die Vatsdcela gibt uns im folgenden noch einen ganz alltäglidien
Auftritt, der zeigt, wie ein Jüngling wirklich sein Recht auf An­
erkennung gefordert hat, in Tagen, wo das Leben keine roman­

125
tischen Wegelagerer zu bieten hatte, sondern nur seine eigene bru­
tale Prosa. D as Geschlecht der Leute aus Vatsdal, in erster Linie
durch Thorgrim von Karnsa vertreten, muß befürchten, das g o d o rd
(das Häuptlingtum) in Vatsdal zu verlieren und mit ihm seine
überlieferte Führerschaft. In der Versammlung, die den Goden
küren soll, sitzt Thorgrim im Hochsitz, und vor ihm auf der Diele
zwischen den Knechtsjungen steht der zwölfjährige Thorkel, sein
unehelicher Sohn, den er nie hat anerkennen wollen. Thorkel stellt
sich vor ihn hin und betrachtet ihn und die Axt in seiner H and.
Thorgrim fragt, ob ihm die Axt so gut gefalle, daß er gern einmal
damit schlagen möchte; es sei in der H alle ein Mann, in dessen
K o p f sie gut passen würde, und „das würde mir bedeuten, daß du
dir selbst einen Platz unter uns Leuten aus Vatsdal gewännest“ .
Der Knabe zögert nicht, die A xt wie angedeutet zu gebrauchen,
und Thorgrim hält sein Wort, weil „der Bursche sich selbst in
seine Sippe geführt hat“ .
Der Verfasser der Anfangskapitel der Vatsdoela steht, was Ver­
ständnis für die Vergangenheit und die Kunst betrifft, weit hinter
der Meisterschaft zurück, mit der der Familienrat auf Vestfold
nachgedichtet ist. Die Überlieferung war glücklicherweise stark
auf Island, und sie tritt in dem Wortschwall des Sagamannes deut­
lich hervor. Dieser Vater, der da wartet und wartet, daß der Sohn
seine Zugehörigkeit zu dem alten Stamme offenbare, er ist edit.
Seine Forderung, daß der Sohn sich selber seinen Platz erobern
soll, ist historisch berechtigt. Es mußte in dem Leben jedes jungen
Mannes ein Zeitpunkt kommen, wo er sich in die Reihen der Älte­
ren setzte. Die Alten warteten, ließen das Beispiel wirken; wenn
aber die Probe auf sich warten ließ, bekamen die Jungen zu hören,
daß ein solcher Zwischenzustand, wo ein Junger seine Ansprüche
auf Verwandtschaft noch nicht geltend gemacht hat, eine Gefahr in
sich birgt. Und wenn der Verfasser seinen Helden davon sprechen
läßt, wie die Vorfahren, ihre Taten und ihr Wandel verpflichten,
deuten seine blühenden Redensarten auch die Gewalt der Über­
lieferung an.
Eine eigentümliche langobardische Etiketteforderung, auf die
Paulus Diaconus hindeutet, scheint ebenfalls daraus hervorgegangen
zu sein, daß der junge Fürstensohn, um Sitz und Berechtigung zu
erlangen, wie sie ihm nach seiner Abstammung gebührten, durch
einen gewissen demonstrativen Ehrgeiz seinen Platz gewinnen
mußte. Paulus Diaconus erzählt: Einmal, als der Langobarden-

126
prinz Alboin sich in einer Schlacht gegen die Gepiden ausgezeichnet
hatte, baten die Krieger seinen Vater dringend, ihn durch einen
Platz am königlichen Tische zu ehren; aber der König antwortete,
indem er sie auf Sitte und Brauch hinwies, die es einem Königs­
sohn wehrten, mit seinem Vater am Tische zu sitzen, ehe er von
dem Fürsten eines fremden Volkes Waffen empfangen hatte. - Die
Auftritte im Beowulf scheinen nahezu ein Seitenstück zu dieser
kleinen Geschichte zu sein. D a zieht der Held hinaus und kommt
zum fremden Königshof, wirkt große Taten, empfängt mit Jubel
die herrlichen Waffen und Kleinode als Lohn und tritt mit Ehren
in die heimatliche H alle, um dem Verwandten im Hochsitz seine
Taten zu melden und seine Ehrengaben ihm zu Füßen zu legen.
Und obwohl Beowulf dem Anfang des Gedichtes zufolge schon ein
berühmter H eld war, als er die Fahrt zur H alle des Dänenkönigs
unternahm, klingen doch die Worte, mit denen die Beschreibung
seiner Jugend schließt, genau so, als ob diese Tat einen Wende­
punkt in der Geschichte des Helden gebildet hätte: „E r duldete
lange Geringschätzung; die Geatenknaben hielten ihn nicht für gut
genug; der Fürst der Mannen hatte ihn keines Sitzes auf der Bier­
bank für würdig befunden; sie glaubten gewiß, er sei ohne Keck­
heit, ein feiger Edeling; doch der Kummer des Kühnen wendete
sich.“ Und dann ergreift sein Verwandter die Gelegenheit, ihn mit
Land zu belehnen: „Sieben Tausend, H alle und Herrschersitz;
beide hatten das Erbrecht auf das Land, Sitz und Erbe, doch der
eine vor dem anderen; ihm, dem Treff liebsten, stand das Reich zu.“
Diese Zusammenstellung kann nach meiner Ansicht nur anzeigen,
daß im Dichter eine starke Ideenassoziation zwischen Jugendtat,
Sich-in-die-Sippe-Führen und Übernahme eines Erbsitzes herrschte.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Germanen, ähnlich wie
viele andere Völker auf entsprechender Kulturstufe, eine Mannes­
probe dieser oder jener Art verlangt haben, bevor sie ihre Jüng­
linge in den Männerkreis aufnahmen. Was für Fürstensöhne galt,
muß auch für die geringeren freien Männer Geltung gehabt haben.
Vielleicht liegt in Cassiodorus’ Epigramm: „Bei den Goten machen
die jungen Leute sich durch Männlichkeit mündig“ , mehr Wahrheit,
als man, da es von dem großen Virtuosen der Phrase stammt, von
vornherein glauben möchte.
Das Spiel der Knaben verrät die gegenseitige Wertschätzung der
Männer: der kleine Thorgils war ungefähr fünf Jahre alt ge­
worden, ohne etwas Lebendiges niedergehauen lvl haben, und nun

127
mußte er abseits schleichen, um den Speer im Blute eines Pferdes
zu röten, weil die Kameraden bestimmt hatten, niemanden als
Spielgenossen aufzunehmen, der nicht schon Blut vergossen hätte.
Die Männer achteten sorgfältig darauf, daß niemand mit jung­
fräulichen Waffen in ihren Bund trat. Natürlich muß die Bluttaufe
eine hervorragende Stellung in einer Gesellschaft wie der germa­
nischen einnehmen, wo K am pf und Krieg als das eigentliche H and­
werk des Mannes im Vordergrund stehen. Die Waffentat, die
Waffenprobe, ist durch den Nachdruck, womit sie blitzartig den
Ehrgeiz offenbart, wohl geeignet, ein Sakrament der Jugendweihe
zu sein; Beinamen wie Helgi Hundingstöter, H ygelac Ongen-
theowstöter enthalten ein ganzes Heldengedicht. In der alten A uf­
fassung des Blutes als eines kräftigen Lebenstaus sind krasser
Materialismus und Heldenidealismus natürlich und unzertrennlich
verschlungen.
Die Vaterrache oder die Verwandtenrache im weiteren Sinne
war sicher in unruhigen Zeiten oft das Berechtigungszeugnis des
jungen Mannes für einen Sitz im Vaterheim. Aber die Ehre allein
und ausschließlich im Zeichen der Tötung zu sehen, führt doch zu
einer gar zu einseitigen Beurteilung des Lebens. Es wurden größere
Anforderungen an den edlen Sprößling gestellt, als daß er bloß
ein Töter sein sollte. Er führte sich in die Sippe ein und hielt sich
in der Sippe durch seine Gastlichkeit, Freigebigkeit, Hilfsbereit­
schaft oder Bereitwilligkeit, sich der Sache seiner Bekannten und
der Flüchtlinge anzunehmen, durch Adel im Auftreten und durch
Prachtentfaltung. Und die Augen wachten von allen Seiten dar­
über, daß er in jeder Beziehung seinen Platz ausfüllte. Dieser
Platz war der breite, geräumige Sitz, den seine Väter für sich als
notwendig betrachtet hatten. Der Wandel, das Verhalten der Vor­
fahren sind für ihn maßgebend; hier spricht Ketil Raum als er­
fahrener Mann. O laf konnte sein Pflichtgefühl nicht näher um­
schreiben, als indem er „H arald Schönhaars Erbe“ sagte. Auch
geringere Männer konnten nicht anders bezeichnen, was für sie
gut und richtig war, als indem sie sagten: „So handelten unsre
Vorfahren nie“ , - oder - „So war es der Brauch unsrer Vorfahren.“
Die Geschlechtstradition allein ist der ethische Maßstab, der Gut
von Böse trennt. Eine feste Grenze kannte man sonst nicht. Man
hatte natürlich ein grobes Durchschnittsmaß, das haben alle Völker.
Die Germanen wußten, daß gewisse Handlungen, Diebstahl in
erster Linie, Mord und einige wenige andere Untaten einem Manne

128
Schande brachten, wer auch der Übeltäter sei, so wie sie auch
wußten, daß Tötung Tötung, Kränkung Kränkung sei; aber damit
war nicht gesagt, daß jeder, der sich von diesen Unehrenhaftig­
keiten frei hielt, als ehrlicher Mann betrachtet werden konnte. An
seiner Überlieferung mußte er ablesen, was für ihn böse oder was
gut sei - diesen Unterschied in ganzer und voller moralischer An­
passung genommen. Geldstrafen zu empfangen z. B. war für die
meisten ehrenhaft und ehrlich; gehörte man aber einer Familie an,
die sich etwas darauf zugute tat, daß sie niemals Verwandte im
Beutel getragen oder immer doppelte Mannesbuße verlangt hätte,
war ein Bruch mit der Überlieferung eine wirkliche Gemeinheit.
Die verfassungsmäßige Ehre der Sippe vertrug diese Abweichung
nicht. Das isländische Wort v errfed ru n gr verändert allmählich seine
Bedeutung in „Schurke“ , „unmoralische Person“ , also kurz: in
„N eiding“ . Diese Änderung hat wohl tiefe Ursachen, kann jeden­
falls solche haben; sie steht in vollem Einklänge mit dem Geist
der Verwandtenmoral. Die ethische Norm beruht nicht auf dem,
was für alle anwendbar ist. Das Unbestreitbare, in dessen Bezeich­
nung als Recht und Unrecht alle übereinstimmen, ist nur ein roher
Durchschnitt der nebeneinandergestellten individuellen „Ehren“ .
Jeder Kreis hat seine eigene Ehre, eine Erbschaft, die genau in dem
Zustand, worin sie weitergegeben wurde, bewahrt und ihrem
Wesen entsprechend behauptet werden muß. Die Ehre ist das Stüde
Land, auf dem ich und die Meinigen geboren sind, das wir be­
sitzen und von dem wir abhängen; so wie dieses ist, weit und
reich, voll Vieh und Korn, oder arm und sandig, so ist unsre Ehre.
Ehre ist das geistige Gegenstück zum Boden und Grundbesitz,
worin alle Kühe und Schafe, alle Pferde und Waffen, die zu ihm
gehören, vertreten sind, und zwar nicht als Zahlen oder Werte,
sondern als Individuen.
Und wie die einzelnen Glieder des Besitzes Stück für Stück ihr
Gegenstück in der Ehre haben, so sind natürlich die Verwandten
auch persönlich in ihr vertreten. Die Ehre bildet einen Spiegel, der
die Bilder derjenigen bewahrt, die sich in ihm gespiegelt haben.
D a stehen alle Verwandten in ihrem besten Schmuck und mit ihren
besten Waffen, und je kostbarer ihre Rüstung ist, um so kostbarer
wird die Ehre. D a stehen alle die Begebenheiten, die, soweit das
Gedächtnis reicht, innerhalb des Geschlechts geschehen sind: alle
großen Taten, alle üppigen Feste, alle kostspielige Gastlichkeit -
da stehen sie und fordern ihr Recht. Dort wird nun auch das Ent­

129
würdigende auftreten, und wehe den Verwandten, die es anstarren
müssen, ohne in mächtigen Wiederauf richtungstaten Trost für ihre
Augen zu finden. Die schwedischen Bauern sagten: „Wehe über das
Geschlecht, das einen der Seinigen außerhalb der Friedhofsmauern
begraben muß.“ Das war das größte Unglück, das einem Hause
widerfahren konnte; auch wenn der Tote seiner Sünden wegen
außerhalb in ungeweihter Erde lag, beruhigten die Verwandten
sich nicht, bevor sie ihm einen Platz innerhalb des Friedhofs ge­
kauft hatten, und dies nicht lediglich oder doch im wesentlichen
mit Rücksicht auf seine zukünftige friedliche Ruhe, sondern um
nicht die Sdiande an das kommende Geschlecht zu überliefern. So
fühlten die Bauern im Norden noch in späten Jahrhunderten die
Sippenschande als eine unerträgliche Last, als ein Erlebnis, das
Tag für Tag aufs neue durchlebt werden mußte.
Die Ehre ist so weit davon entfernt, ein unbestimmtes, ideales
Etwas zu sein, daß sie geradezu gezählt, befühlt werden kann. Die
Ehre ist der Besitz des Geschlechts, sein Einfluß, sie ist die Ge­
schichte des Geschlechts, eine Geschichte, die aus wirklichen Über­
lieferungen zusammengesetzt ist, und zwar aus überaus klaren,
minutiösen Überlieferungen vom letzten Geschlecht ab bis zurück
zum Großvater, vielleicht Urgroßvater und außerdem aus mythi­
schen Kristallisationen der Urzeit, das heißt aus dem ganzen Zeit­
raum, der hinter diesen Vorfahren liegt.
Die Ehre umfaßt das Vieh und die Vorfahren, weil beide eben­
sosehr in den Verwandten wie außerhalb von ihnen leben. Das
Vieh wie auch die Waffe und das Schmuckstück existieren in der
Verwandtenseele nicht nur als Gegenstände von diesem oder jenem
Wert; sie sind nicht durch ein Besitzgefühl äußerlich angehängt,
sondern liegen eingebettet in Gefühlen von weit innigerer Art. Die
Vorfahren füllen die Lebendigen aus; ihre Geschichte wird nicht
als eine Reihe von Begebenheiten empfunden, die einander auf den
Fersen folgen, die ganze Geschichte lag ausgebreitet vor den Nach­
kommen wie ein gegenwärtiger Zustand, so daß alles, was einst
geschehen war, immer wieder geschah. Jeder Verwandte empfand
es, als ob er das selbst erlebte, was einer seines Geschlechts einmal
in die Welt hineingelebt hatte; und er fühlte sich nicht nur im
Besitz der Taten der Alten, sondern erneuerte sie wirklich in seinen
eigenen Handlungen. Jeder Eingriff in das Erworbene und Ererbte,
wie Raub und Überfall auf das Vieh oder das Anwesen, mußte
mit Rache erwidert werden, weil durch den Hieb ein Feld im Bild

130
der Ehre zerschlagen worden war. Aber ein deutlich ausgesproche­
ner Zweifel, ob nun jener alte Großvater wirklich das getan habe,
was über ihn verlautet, ist genau so gefährlich fürs Leben, weil es
etwas aus den lebenden Verwandten herausreißt; der Hohn trifft
nicht nur jenen längst abgeschiedenen, sondern noch mehr den­
jenigen, der jetzt durch dessen Taten lebt. Die Kränkung ist ein
Schnitt in den Mann selbst, sie reißt ein Stück aus seiner Seele,
seinem Gehirn, und hinterläßt ein Loch, das nach und nach mit
Wahnvorstellungen gefüllt wird.
Durch eine Kränkung wird ein Stück Seele mit den anhaftenden
Gedanken und Gefühlen herausgerissen. Und die Wunde ruft das­
selbe Schwindelgefühl hervor, das eine Mutter empfindet, wenn ihr
durch den Tod ihres Kindes ein Teil ihrer Seele geraubt wird: eine
ganze Menge ihrer Gedanken und Gefühle wird überflüssig, ihre
Instinktbewegungen werden unnütz; sie streckt die Arme nachts
ins Dunkle, greift nach etwas, und ihre Hände bleiben leer. Der
H ohlraum in der Seele ruft eine vollkommene Unsicherheit hervor,
wie man es sich vorstellen muß, wenn die natürliche Anpassung
gestört ist, so daß die H and jedesmal ihr Ziel verfehlt, wenn sie
nach einem Gegenstand greift. Ein Hohlraum in der Seele weckt
die Angst in ihrer wildesten Gestalt. Wenn die Mutter sich ein­
bildet, daß jemand ihr Kind getötet oder daß sie es selbst umge­
bracht habe, oder wenn sie befürchtet, daß die Welt einstürzen
werde, wissen wir, daß diese Vorstellungen nur die Nahrung bil­
den, womit ihr Verstand die Angst zu sättigen sucht. Sie muß nach
allen Arten furchtbarer Phantasien greifen, um dieses Heischen
der Angst einen Augenblick nur annähernd zu stillen. Und, psycho­
logisch gesehen, besteht kein Mißverhältnis zwischen ihrem Em p­
finden und dem Gedanken an einen Weltuntergang. Wenn das Loch
sich nicht schließt, wenn sich kein neues Seelengewebe bildet, stirbt
die Seele an dem unleidlichen Hunger. Die Trauer endet mit Wahn­
sinn.
Dieser Vergleich zwischen dem Ehrverlust der Gesippen und dem
Kindesverlust der Mutter ist treffend, weil er denselben psycho­
logischen Vorgang wiedergibt, nur unter verschiedenen Bedingun­
gen. Die Mutter ist im Begriff, im alten Sinne des Wortes Neiding
zu werden - sie wurde in alter Zeit tatsächlich Neiding, wenn sie
nicht „Wiederaufrichtung erhielt“ - und das, was in dem Ehrver­
letzten vor sich geht, ist gerade eine solche Erschütterung der gan­
zen Seele, ein geistiges Erdbeben, das die Selbstachtung und die

131
moralische Haltung zerrüttet, dem Mann die Verantwortungsfähig­
keit für seine Taten nimmt, wie wir sagen würden.
N ur in den allerextremsten Fällen können wir in unsrer Kultur
etwas finden, das sich mit den alten Erfahrungen deckt. Denn die
bodenlose Niedrigkeit der Schande beruht darauf, daß das geistige
Leben damals von einer gewissen Menge und einer gewissen Art
von Vorstellungen abhängig war. Die „Bildung“ war ein Familien­
kleinod, viellei dit für unser Auge nicht sehr verschieden in den
verschiedenen Familien, aber in Wirklichkeit von frühester Jugend
an unterschiedlich gekennzeichnet, geprägt von Überlieferungen,
bestimmt durch Umgebungen und deshalb nicht leicht veränder­
lich. Die Persönlichkeit war lange nicht so beweglich wie heutzu­
tage, und es fiel ihr viel schwerer, das Verlorene neu zu bilden.
Wenn ein Verwandter eine Idee verloren hatte, konnte er den Ver­
lust nicht dadurch ausgleichen, daß er von anderer Seite her Ideen
holte; so wie er an den Familienkreis gebunden war, worin er auf-
wuchs, so war er von dem seelischen Inhalt abhängig, der in ihm
großgezogen worden war. Die Überlieferungen und Erinnerungen
seines Geschledits, die Freude am alten Erbe und Familienbesitz,
das Bewußtsein des Ziels, der Stolz auf das Ansehen und den
guten Leumund bei den Nachbarn, dies war seine Welt, und außer­
halb von diesen Dingen gab es keine geistigen Werte, aus denen
er für sein intellektuelles und moralisches Leben hätte schöpfen
können. Ein Mann kann in unsrer Zeit aus seiner Familie ausge­
stoßen werden, ob es sich um Vater, Mutter, Bruder und Schwester
oder um eine ganze Gesellschaftsschicht handelt, aber er braucht
deshalb nicht zugrunde zu gehen; denn keine Familie, auch nicht
die allergrößte, kann den ganzen Seeleninhalt eines einigermaßen
wohlausgestatteten Menschen absorbieren. Er hat Teile seines Ich
hier und dort untergebracht, sogar die N atur steht in geistiger Be­
ziehung zu ihm. Das Mitglied einer Sippe aber hatte einen leeren
Raum um sich; das braucht nicht zu bedeuten, daß der Verwandte
alle weiteren Interessen entbehren mußte, daß der Mann sich nicht
als Mitglied einer größeren politischen und religiösen Gemeinschaft
zu fühlen vermochte, aber diese Assoziationen waren erstens ver­
hältnismäßig schwach, so daß sie sich nicht neben dem Frieden
gehend machen konnten, zweitens konnte er eben nur auf dem
Wege über die Verwandtschaft oder über den Frieden an ihnen teil­
haben, und sie besaßen keine selbständige Existenz. Ein von der
Sippe Ausgestoßener kann nicht in der N atur Trost suchen, denn

132
ihre am meisten hervorstechende Eigenschaft ist Feindseligkeit -
außer wenn sie ihm vom Menschengeschlecht durchgeistigt, bebaut
und bewohnt, gegenübersteht. Und selbst unter solchen schönen
Gefilden begegnet ihm nur sein Heimatgau, sein „Erbland“ , ganz
und gar mit freundlichen Gefühlen. Dasselbe zeigt sich in den
Fällen, wo der Neiding dadurch für die Welt gerettet wird, daß
ein neuer Kreis, eine Sippe oder ein Kriegerbund ihn auf nimmt,
er geht dann nicht allmählich von seinem früheren Zustand in den
neuen über, sondern er springt über eine Kluft und wird ein ganz
neuer Mann.
Die Ehre ist dasselbe wie Menschentum. Ohne Ehre kann man
kein lebendes Wesen sein; verliert man die Ehre, so verliert man
das lebendige Element, das den Menschen zu einem denkenden und
fühlenden Wesen macht. Der Neiding ist leer und ständig von der
allesumspannenden Angst verfolgt, die aus der Leere hervorgeht.
Die verzweifelten Worte Kains klingen im Angelsächsischen beson­
ders bitter, weil sie der Angst des Germanen vor der Einsamkeit
entspringen: „Ich habe keine ,Ehre‘ in der Welt zu erwarten, da
ich deine H uld, deine Liebe, deinen Frieden verwirkt habe.“ Voll
Trauer wandert er fort aus seinem Lande, und von nun an gibt es
kein Glück mehr, er ist ohne Ehre und Gunst (árleas). Seine Leere
bedeutet, modern ausgedrückt, daß er keinen Lebenszweck hat. Die
Leiden, die er durchmachen muß, werden schwerer drücken als zu­
vor, da sie alle in ihm aufgehäuft werden, und sie werden gefähr­
lichere Wunden hervorrufen, da es kein Heilmittel für sie gibt.
So ist es also buchstäblich wahr, daß niemand ein menschliches
Wesen sein kann, ohne Gesippe zu sein, oder daß Gesippe dasselbe
bedeutet wie menschliches Wesen; diese Worte sind keineswegs bild­
lich gemeint. Friede und Ehre bilden die Seele. Von diesen beiden
Grundbestandteilen scheint der Friede tiefer zu liegen. Der Friede
ist die Grundlage der Seele, die Ehre ist all das Unruhige, das über
ihr liegt. Aber sie sind nicht von einander getrennt. Die Kraft der
Ehre ist das Gefühl der Verwandtschaft, und der Inhalt des Frie­
dens ist die Ehre. So ist es natürlich, daß eine Verletzung der Ehre
nicht nur als eine innere Schwäche, sondern auch als eine Lähmung
der Liebe empfunden wird. D a die Ehre eine so große Bedeutung
hat, beginnen wir nun auch die Art der Freude (g am an ) zu er­
fassen, die die Verwandten empfanden, wenn sie am Feuer zusam­
mensaßen und sich am Frieden erwärmten.
Wie Friede und Ehre sich gegenseitig durchdrungen haben, das

133
kommt unter anderem in dem Gebrauch des angelsächsischen Wortes
å r zum Vorschein. Wenn ein Flüchtling zu einem König kommt
und um å r bittet, so kann das Wort mit Gunst oder Schutz über­
setzt werden; aber wir müssen bedenken, daß die år, die der
König ihm gewährt, für ihn Friede und menschliche Würde bedeu­
ten. In der christlichen Sprache ist Gott der Spender von år, H uld,
indem er den Menschen das Leben gedeihen läßt, å r umfaßt also
Glück und Ehre und gegenseitiges Wohlwollen, und der Übersetzer
von alten englischen Dichtungen muß immerfort haltmachen, weil
es in seiner eigenen Sprache an einem entsprechenden Ausdruck
fehlt. So sagt Hrodgars Königin von dem Vetter ihres Sohnes,
H rodulf: „Ich kenne meinen H rodulf, den frohen, weiß, daß er
die Knaben in Ehren (å r) halten wird, wenn du, ScyIdingenfürst,
vor ihm die Welt verläßt. Ich glaube, daß er unsern Söhnen mit
Gutem vergelten wird, wenn er bedenkt, wie wir ihm å r gaben,
als er klein war, ihm zur Freude und Erhebung.“ Wenn Abrahams
und Lots Mannen sich streiten, wird die Friedensliebe des Patri­
archen vom angelsächsischen Dichter mit den folgenden Worten aus­
gedrückt: „Wir beide sind Verwandte, es soll kein Streit zwischen
uns sein“ , und der Angelsachse fügt erklärend hinzu: „ å r wohnte
in seiner Seele“ .
Der Einblick in das Wesen der Ehre eröffnet uns die Möglichkeit,
den Charakter der Freude zu verstehen. Die Aussprüche, die wir
angeführt haben und die sich auf das Leben der Männer in Glück
und Ehre bezogen, wenn sie mit glücklichen, furchtlosen Gedanken
im Kreis ums Feuer saßen, haben nun ihren vollen Sinn erhalten,
der nicht mit modernen Worten ausgeschöpft werden kann.
Die Ehre umfaßte in der alten Gesellschaft die Rache, aber die
Ehre, so wie wir sie bis jetzt gesehen haben, erläutert nicht, was
das Blutvergießen zu einem so kräftigen Heilmittel für geistige
Leiden machte. Ehre enthält vieles, das über die hier gezogenen
Grenzen hinausführt und das nur durch eine noch weitere Betrach­
tung des geistigen Lebens dieser Männer seine Erklärung finden
kann.

134
Heil

Wohin wir in die Welt blicken, begegnen wir der Macht des
Glückes, des H e i l s . Der letztere Ausdruck, der nicht den Glücks­
fall, die Zufälligkeit und die Abhängigkeit vom Äußeren ein­
schließt, deckt sich besser mit der Auffassung bei den Alten, und
doch müssen wir, um das Wort vollständig in seinem Sinne zu ver­
stehen, geduldig and ohne Vorurteile die altgermanischen Gedan­
kengänge rekonstruieren.
Das Heil bewirkt jeden Fortschritt. Wo es fehlt, siecht das Leben
dahin. Es scheint die stärkste Macht der Welt zu sein, die Lebens­
kraft selbst.
Wenn die Äcker eines Mannes gute Ernten trugen, wenn seine
Felder nur selten von Frost oder Dürre heimgesucht wurden, sagte
man, er sei ä r s a ll, das heißt: er besaß Ernteheil.
Wenn sein Vieh gedieh und sich vermehrte und immer wohl­
behalten und vollzählig von den Sommerweiden heimkehrte, war
er fé sa ll, das heißt: er hatte Viehheil.
Wer auf einem kargen Streifen Land an der Küste wohnte,
konnte ohne „Ackerheil“ auskommen, dafür hatte er wohl Fischer­
heil, oder er war vielleicht b y r sa li, das heißt: er hatte immer gün­
stigen Fahrwind. Die Sage erzählt von einem berühmten Geschlecht
im N ordland, den Hrafnistamännern, daß sich stets ein günstiger
Wind erhob, sobald sie die Segel hißten - auch, wenn das Wetter
unmittelbar vorher vollkommen windstill gewesen war. Auch
H adding hatte nach Saxo eine besondere Gabe, den Wind gut aus­
zunutzen; denn obschon seine Verfolger denselben Wind und eben­
so viele Segel hatten, konnten sie ihn doch nicht einholen. Dieser
Zug ist im Norden kein Märchenmotiv, keine phantasievolle Er­
findung eines Sagamannes - die O lafs von Norwegen standen auch
in dem R uf, „Wetterheil“ zu besitzen, und unzweifelhaft mit vol­
lem historischen Recht. O laf Tryggvason war soviel mehr b y rsa ll
als andere Männer, daß er in einem Tage so weit segelte wie andere
in dreien. Schweden hatte unter seinen Königen einen Erik Väder-
hat („ Wetterhut“ ), der seinen Beinamen daher haben soll, daß er

135
sozusagen den Wind in seinem H ut hatte; er konnte ihn wenden,
wenn er seine Kopfbedeckung herumdrehte.
Diese besondere Form von Heil ging nicht verloren, als die
Küstenbewohner des Nordmeeres nach Island zogen. Von einem
Isländer wird berichtet, daß er so b y r sa ll war, daß er immer be­
stimmen konnte, welchen H afen er anlaufen wollte; von einem
anderen, daß er in einem Tage so weit segelte, wie andere in dreien.
Bei anderen war wiederum das Kampfheil die hervorragende
Eigenschaft. Wenn berufsmäßige Krieger wie Arnijot Gellini ihren
Glauben in wenigen Worten ausdrücken wollen, wissen sie nur zu
sagen, daß sie sich auf ihre Stärke und ihr sigrsœli, ihr Siegesheil,
verlassen. Bei Häuptlingen tritt das Siegesheil in vollem Glanze
hervor. Unter ihnen gibt es geborene Kampfgenies, die überall, wo
sie hinkommen, den Sieg nach sich ziehen. Alle Könige Norwegens
aus dem Geschlecht H arald Schönhaars hatten das große Siegesheil,
und wenn Jarl Hakon eine Zeitlang den Platz als Herrscher über
Norwegen ausfüllen konnte, so verdankt er es nicht zum mindesten
seinem Heil im Siegen und im Verfolgen und Toten. Das band das
Volk an ihn, denn es meinte, kein anderer käme ihm in dieser
Gabe gleich. Mit diesem Ton beginnt auch im Beowulf die Erzäh­
lung von H rodgars Königstum: ihm war Kriegsheil, K am pf ehre,
verliehen, so daß die Verwandten ihm solange folgten, bis die
Jugend herangewachsen war und sich um ihn scharte.
Siegesfürst wird der König im Angelsächsischen öfters genannt,
und mit diesem Namen ist ausgedrückt, was die Germanen von
dem H äuptling verlangten und worauf sie sich verließen, nicht nur
bei dem großen Landesführer, dem König, oder bei den kleineren
Führern, den Gaufürsten, sondern auch bei den Freibeuterkönigen
ohne Land. Die Anwesenheit des Fürsten war dem Volke ein siche­
res Pfand für den Sieg im Kam pfe. Die Angelsachsen versammel­
ten sich mutig zum Widerstand gegen die fremden Wikinger, wenn
nur ein Mann von Häuptlingsrang sich an die Spitze stellte und
die Mannschaft der Gegend aufrief; solange er aufrecht stand,
kämpften sie mit Todesverachtung für Heim und Herd. Aber
ebenso störrisch blieben sie zu Hause, wenn der Heerpfeil ohne
Anregung eines geborenen Führers herumgeschickt wurde, um sie
zu gegenseitiger H ilfe aufzurufen, oder sie liefen in den Wald und
ließen die Fremden schalten und walten.
Einmal, als die Ostangeln von dem sieghaften und gefürchteten
Mercierkönig Penda angegriffen wurden, wußten sie in ihrer gro­

136
ßen N ot keinen anderen Ausweg, als zu ihrem alten König Sige-
berht zu gehen, der aus Liebe zum himmlischen Licht die Königs-
würde abgelegt und sich in ein Kloster eingeschlossen hatte. Sie
baten ihn und flehten ihn an, herauszukommen und die Schar zu
führen; und obschon er die angebotenen Waffen von sich w arf und
sich mit erhobenen Händen auf seinen Mönchseid an Gott Vater
im Himmel berief, zwangen sie ihn doch in die Schlacht. Das Bild
des Königs in der Mönchskutte, der, mit einer Weidenrute in der
H and, in den K am pf mit hereingezogen und dort niedergehauen
wird, ist so wehmütig, so ergreifend, weil es einen so tiefen histo­
rischen Sinn birgt.
„Und als sie sahen, daß ihr H äuptling gefallen war, flohen sie
alle“ , dieser Satz wiederholt sich ständig in den Sagas, und seine
Wahrheit wird immer wieder von der Geschichte bestätigt. Wenn
das Kam pfheil des großen Mannes versagte, was konnte da das
geringere Heil der geringeren Männer helfen? Gregor erzählt, daß
Chlodwig die entscheidende Schlacht gegen die Alemannen dadurch
gewann, daß er, als es am schwärzesten aussah, sich Christus ver­
sprach; kaum hatte er seinen Sinn in die richtige Richtung gekehrt,
da flohen die Feinde. Es heißt weiter: „Und als sie sahen, daß ihr
König gefallen war, ergaben sie sich und bettelten um Gnade.“ Der
Beginn der Geschichte stimmt nur wenig mit der Fortsetzung über­
ein. Die Sache ist die, daß die fromme Tendenz des Geschichts­
schreibers im Anfang obgesiegt hat, und für sic waren nur Chlod­
wig und Christus nötig; dafür siegte im Nachsatz die Geschichte
über den Kleriker, sie gibt dem Alemannenkönige, was ihm gehört.
Aber wenn wir auch zugeben müssen, daß der Mythos von Christus
als Siegesspender ungeschickt eingefügt worden ist, so hat der
fromme Verfasser doch im wesentlichen recht darin, daß er Christus
seine Glorie durch Absetzung des stärksten Machtgefühls unter den
Heiden, nämlich des Königsheils, behaupten läßt.
Durch diese kleinen Bilder aus dem Leben sind wir mit einem
Schlage in eine fremde Welt versetzt. Das Heil wirkt vor unsern
Augen mit der ganzen Macht, die es besaß, die Gemüter zu stär­
ken oder zu lähmen. In seinem höchsten Vertreter, dem Könige,
offenbart es recht sein eigentümliches Wesen. S e i n Siegesheil gilt
mehr als ein ganzes Heer. Wenn der König kommt, von seiner
kleinen Heerschar umgeben, zerstreuen sich die Bauern wie Läm­
mer, die den Wolf wittern. Dies war in einer Zeit, wo jeder Mann
von Jugend auf ein Krieger war, beständig der Fall. Es ist nicht

137
anzunehmen, daß das Königsgefolge an Waffentüchtigkeit und
Kam pfeslust so sehr der wohlhabenden Bevölkerung des Landes
überlegen war, denn das Gefolge des Königs bestand ja in Norwegen
und in älterer Zeit auch bei den übrigen Germanen hauptsächlich
aus jungen Freiwilligen, deren jeder eine gewisse Anzahl Jahre
diente, bis er einen solchen G rad von Ansehen und Ausbildung er­
reicht hatte, wie er es für seine Stellung in der Gesellschaft nötig
fand. Durch die ersten zwei Jahrhunderte der Geschichte N o r­
wegens, das heißt in den Kindheitsjahren des norwegischen Groß-
königstums, wo es buchstäblich keine zehn Jahre hindurch un­
bestritten dastand, nennt die Überlieferung kaum eine einzige
Schlacht, wo ein Bauernheer es vermocht hätte, einer Gefolgsschar,
die vom König selbst geführt war, wirksamen Widerstand ent­
gegenzusetzen. Die Schlacht bei Stiklastadir, wo die Bauern über
die Königsmänner, Kreuzmänner, Christmänner siegten, hat einen
besonderen Platz in der Geschichte: die Sieger flohen in panischem
Schrecken, und der geschlagene Fürst ging daraus hervor wie ein
H albgott. Als O laf sich in den Kampfreihen zeigte, „fielen den
Bauern die Arme nieder“ , die Gedanken verwirrten sich sogleich,
alle Mann waren im Begriff davonzulaufen. Angestrengtes A uf­
reizen und Anstacheln unter Hinweis auf die verhaßte Regierung
O lafs war nötig, um sie auf ihren Plätzen zu halten. Wenn wir der
Beschreibung in der Saga glauben können, so war die Tapferkeit
der Bauern eher eine Art rasender automatischer Bewegungen,
worin ihre Angst sich Luft machte, weil ihre Beine sie nicht aus
dem K am pfe tragen wollten. O lafs Fall entfesselte die Panik im
Bauernheer: die Bauern liefen auseinander und suchten zu Hause
Zuflucht, und ein halbes Jah r später wurde der König heilig­
gesprochen.
Ob man nun die Sagamänner als Verkünder der Tatsachen oder
als phantasievolle Dichter auf faßt, der Wert ihrer Berichte als
psychologische Dokumente bleibt doch unbeeinträchtigt. Für die
Seele der N ordländer waren die Schlacht bei Stiklastadir und die
Tage, die ihr vorausgingen, in mystischen Zauber gehüllt, und die
Erinnerungen verdichteten sich zu einem Bild, das zu gleicher
Zeit peinlich realistisch in den Details und mystisch im ganzen
war. In O laf wurde das alte Königsheil verklärt; durch die Kraft
seines Heils erhob er sich zu der Glorie eines Märtyrers, und seine
Verklärung als Heiliger überbrückt die Kluft zwischen dem alten
und dem neuen Glauben. Die christlichen Dichter preisen den hei-

138
ligen König, weil er allen Männern gute Erntejahre und Frieden
gab.
Um vollauf zu verstehen, was Königsheil war, müssen wir fra­
gen: Was gehörte in alter Zeit dazu, ein rechter König zu sein?
Das Siegesheil, die Kraft zu siegen, war nur eins der Kenn­
zeichen, die den mächtigen Mann von den alltäglichen Personen
unterschied. Durch und durch ist sein Wesen von höherer Kraft
und größerer Widerstandsfähigkeit. Das Leben sitzt fester in ihm,
ob es nun gegen die Waffen fest ist, oder diese sich von der Stelle,
wo er steht, zurückzubiegen scheinen. Zum ersten Male verfehlt
O laf Tryggvason sein Ziel, als er mit dem Bogen nach Jarl Erik
zielt. „D as H eil dieses Jarls ist freilich groß“ , ruft er. Es heißt in
der alten Art von H arald Kam pfzahn, daß Odin ihm Unverletz­
barkeit gegeben hatte, so daß schneidende Waffen ihn nicht an­
greifen konnten. Wenn aber auch eine so große Widerstands­
fähigkeit nur bei den ganz wenigen besonders Begünstigten vor­
kam, so dürfen wir doch annehmen, daß der König den Vorteil
vor gewöhnlichen Kriegern hatte, daß seine Wunden leichter und
vollständiger heilten. Jedenfalls besaß er eine heilende Kraft, die
sich anderen mitteilte. Der germanische Häuptling hatte eben
hierin die Voraussetzung für die Heiligenwürde, und zwar eine
Voraussetzung, die im frühen Mittelalter von großer Bedeutung
war, weil das Christentum sich zum großen Teil durch seine Macht
über die Krankheiten legitimierte. Es besteht kein Zweifel, daß
man eifrig, mit unbewußter Absicht, wenn man so sagen darf,
diese Keime des Heiligtums im Königstum gepflegt hat; die
Mirakelgeschichten und die Legenden aus dem südlicheren Europa
blieben leicht an O laf haften, und es war den Leuten natürlich, an
der letzten Ruhestätte des Königs Heilung zu suchen.
Zu der Zeit, als O lafs Bruder, H arald der Gestrenge, und sein
Sohn, Magnus, vereint über Norwegen herrschten, kam eine Mut­
ter mit ihrem Sohn, der das Gedächtnis verloren hatte, um bei
König H arald R at zu holen; der König meinte, daß der Kranke
an Traumlosigkeit litte und riet ihr, den Knaben von Magnus*
Waschwasser trinken und darauf auf M agnus’ Lager schlafen zu
lassen. Die Wirkung war eine augenblickliche: Beide Könige er­
schienen ihm im Traum, der eine sagte: „H ab Gesundheit“ , der
andere: „H ab Verstand und Gedächtnis“ , und nun erwachte der
Knabe lachend und hatte sein Gedächtnis wiedererhalten. Die
Könige der Franken besaßen diese H eilkraft nicht weniger: eine

139
Mutter heilte ihren Sohn mit einem Absud von Fransen, die sie
von König Gunnthrams Überwurf genommen hatte. In älteren
Zeiten war es wahrscheinlich allgemeiner Glaube, daß der König
heilende Hände hatte, wie es in Sigdrifas Anrufung der Götter
heißt: „Gib uns Edelingen beiden (ihr und Sigurd) Sprache und
Weisheit und heilende Hände, solange wir leben.“
Auch die gewaltigsten Angriffe der N atur prallten vom Heile
des Königs ab. „Könige ertrinken nie“, sagte der Sohn Wilhelms
des Eroberers, Wilhelm der Rote, als er sich während eines Ge­
witters in ein Boot warf, um über den Kanal zu fahren und einen
normannischen Aufruhr im Keim zu ersticken. O laf der Heilige
geriet während der Überfahrt nach Norwegen in große Gefahr
durch einen Sturm; aber „die gute Mannschaft, die er hatte, und
sein Heil halfen ihm unverletzt ans Land“ .
Mit demselben Redit hätte ein O laf wohl sagen können, daß
Könige nie von widrigem Winde aufgehalten würden. Jedenfalls
gehörte es mit zur rechten Häuptlingschaft, daß das Heil in der
N ot einen günstigen Wind schickte. Die Gewässer trugen Fisch­
schwärme an die Länder der Fürsten, wie wir vermuten dürfen
—von Jarl Hakon wird ja berichtet, daß die Fische zu seiner Zeit
in alle Föhrden hineingingen. Ernteheil herrschte auf seinen Fel­
dern und gab dicke und schwere Ähren. Ernteheilig und friedens­
heilig sind die Beinamen, die dem mythischen Idealkönig der
Schweden, Fjölnir Yngvifreyson, verliehen wurden; und wenn
wir sigrstell, siegesmächtig, hinzufügen, haben wir den Dreiklang,
der das ganze Leben umspannte. Ein König ohne Kriege mochte
zu den Ausnahmen gehören, aber er sollte fr id s a ll, friedmächtig,
in dem Sinne sein, daß er den K am pf außerhalb der Grenzen hielt
oder jedenfalls verhinderte, daß er die Felder verheerte. Die
Kriegsflut soll Ehre und Ruhm an ihn herantragen, Kleinode und
Beute aufhäufen, aber nicht zerstörend über das von Korn strot­
zende Land und über das von Fett schwellende Vieh hineinbrechen.
„Schwer ist es, gegen das Heil des Königs zu kämpfen“ , und
„Vieles vermag des Königs H eil“ , sind alte Sprichwörter, die die
H ärte und die innere Festigkeit der Häuptlingsgabe ausdrücken,
und die Weisheit, die in diesen Sprüchen enthalten ist, erhebt sich
zu so klugen Ratschlägen wie diesem: Man soll sich dem großen
Heil nicht in den Weg stellen, man soll sich von ihm tragen las­
sen. - Wenn man in die Heerschar des Königs trat und das eigene
Siegesheil von seinem höheren Heil beleben ließ, so wurde man

140
im allerbuchstäblichsten Sinne wertvoller. Der König war so voll
H eil, daß er es an alle in seiner Nähe ausstrahlen konnte. Wenn
man den Häuptling dazu brachte, sich für ein Unternehmen ein­
zusetzen und zu sagen: „Ich will mein Heil dazu tun“ , so trug
man sein Siegesheil mit in den Waffen, hatte sein Windheil mit in
den Segeln. Von einem solchen Manne kann man geradezu sagen:
„E r geht nicht allein, denn das Königsheil folgt ihm“ . Eine Auf­
forderung zu einer gewagten Unternehmung in der Sache des
Königs fand oft die Antwort: „Ich will es mit deinem Heil ver­
suchen.“ Ein Mann mit des Königs H uld wie z. B. H allfred der
Schwierigkeitsskalde lebt sein ganzes Leben im Schatten des Königs­
heils. Als er einmal von hinten überfallen wird, ruft er Christus
um H ilfe an, und es gelingt ihm mit „Gottes Beistand und Olafs
H eil“ , den Angriff zurückzuschlagen. Sogar sein erbittertster
Gegner, Gris, den er aufs blutigste gekränkt hat, ergreift mit
Freude die Gelegenheit, einen Zweikampf zu vermeiden; denn „er
möchte nicht gern gegen das Königsheil kämpfen“ .
Der Glaube daran, daß der König die Gabe besaß, anderen und
ihren Unternehmungen sein Heil einzuverleiben, ist von den
Isländern zu der spaßhaften Erzählung von dem armen Manne
Hroi, seinem Glück und Unglück, verarbeitet worden. Hroi war
ein tüchtiger Schmied und ein unternehmender Kaufmann, tapfer,
begabt („m it Witz geboren“ ), aber das Heil wollte sich ihm nie
recht zugesellen - wieviel Gold er auch im Handel zusammen­
brachte, es ging doch unter, sobald er in die See stach, und wenn
er durch seine Tüchtigkeit als Handwerker sich wieder in die Höhe
gearbeitet hatte, setzte er das Auf gesparte im Geschäft zu. D a kam
er auf den Gedanken, zu König Svein Gabelbart zu gehen und
ihm vorzuschlagen, Teilhaber zu werden. Als er mit seinen Ge­
schäftsplänen vor König Svein trat, rieten die Männer des Königs
stark davon ab, mit einem solchen Unglücksvogel einen Bund zu
schließen; aber Hroi erwiderte zuversichtlich: „Des Königs Heil
vermag mehr als mein Unheil“ , und der König war viel zu weit­
blickend, um nicht dieser Erwägung mehr Bedeutung beizumessen
als allen Bedenken. Von diesem Tage ab wurde Hroi vom Reich­
tum heimgesucht; auf friedlichen Kauffahrteifahrten gewann er
sich Gold an den Küsten der Ostsee, und kein einziges Mal verlor
er ein Schiff auf dem Meere; er teilte seine Beute mit dem König
und verwandelte dessen Freundschaft in Liebe. Und als die Krone
von allem gewann er noch die Prinzessin; denn obschon seine

141
Braut nur die Tochter eines schwedischen Vornehmen war, war sie
ebensoviel wert wie eine Durchschnittsprinzessin.
In der Tat ist es das Kennzeichen des Königsheils, daß es über­
fließt und andere mit seinem Reichtum erfüllt. Auf dem Schlacht­
felde fegt das Königsheil wie ein Sturm über die Feinde dahin; es
bahnt denen, die ihm folgen, den Weg und wirbelt sie mit empor
zum Sieg. Aber neben dieser Sturmmacht geht ein stiller, ununter­
brochener Strom von Heil, der Tragkraft hat und wirklich auch
das Volk emporhebt, seine Arbeit mit Segen füllt, sein Gedeihen
bedingt. Wir erfahren zufällig in bezug auf die Burgunden, daß
sie ihren Königen die guten Erntejahre des Landes zuschrieben,
aber sie umgekehrt auch konsequent für die Mißernten büßen
ließen. Genau so dachten die Nordländer. Den Sagen zufolge
sollen die Schweden sogar ihren König Domaldi „für gute Jahre
geopfert“ haben, als in seiner Regierungszeit eine hartnäckige
Hungersnot eintrat. Am Anfang der Geschichte Norwegens steht
H alfdan á rsx li, der größte Erntespender, den das Volk gekannt
hatte, als ein Urbeispiel für die Dynastie H arald Schönhaars. Eine
Zeit lang sah es aus, als ob das H eil des Halfdangeschlechts zer­
brochen wäre: in den Tagen der Eriksöhne gab es schlimme Miß­
ernten, und je länger diese Fürsten im Lande herrschten, desto
bitterer wurde die N ot, und „das Volk legte diesen Königen die
schlechten Ernten zur L ast“ . Dann erhob sich ein neues H äuptlings­
geschlecht, in dem der Segen voll und ganz war. Wahrend der
Regierung Jarl Hakons trat eine so große Änderung in den Ernten
ein, daß nicht nur „das Korn überall wuchs, wo es gesät war,
sondern auch die Heringe an allen Küsten ans Land kamen“ . Doch
in den anderen Zweigen des alten Stammes stand H alfdan der
Erntespender wieder auf, und in O laf dem Heiligen wurde seine
Erbschaft kanonisiert: „D er Mann Gottes gibt allen Männern gute
Jahre und Frieden“ , singt der Dichter Thorarin Loftunga zu
Ehren des heiliggesprochenen Königs.
Wir dürfen aber hieraus nicht voreilig schließen, daß das ger­
manische Königtum begründet war in der Zaubergabe gewisser
Personen, als Magiker aufzutreten. Von einem modernen Stand­
punkt aus mag es aussehen, als hätte ein König genug zu tun,
wenn er die Sonne und den Mond und einige Elemente so neben­
bei beherrschen mußte, und über diese meteorologische Befähigung
hinaus Ansprüche an ihn zu stellen, mag übertrieben erscheinen;
und doch waren noch andere Eigenschaften notwendig, um einen

142
Mann unter den alten Verhältnissen zur Häuptlingschaft empor­
zuheben. Um die Eigentümlichkeit des germanischen Königs zu
verstehen, müssen wir um ihn herumgehen und ihn auch noch vom
sozialen Standpunkt aus betrachten, und unser Verständnis wird
nun davon abhängen, ob wir die Kenntnisse zu verschmelzen ver­
mögen, die wir von diesen beiden Seiten aus gewinnen.
Wir brauchen nicht weit zu suchen, um festzustellen, wie der
König ausgesehen hat; sowohl Idealbilder wie wirkliche Porträts
sind uns überliefert. In dem Geschlecht H arald Schönhaars sieht
der Typus so aus: Groß (größer als die meisten Männer), stark,
schön (der schönste Mann von allen); kühn im Kam pfe, der Tüch­
tigste im Gebrauch seiner Waffen; geübt in allen Spielen, Bogen­
schütze, Schwimmer. Unter den Königen Norwegens ist O laf
Tryggvason die vollkommene Verwirklichung des Ideals: er hieb
gleich gut mit beiden Händen, w arf zwei Speere auf einmal und
konnte auf den Riemen gehen, während die Männer ruderten,
und dabei mit drei Schwertern in der Luft spielen.
Ehrgeizig und immer auf der Hut, daß niemand ihn in irgend­
einer Beziehung überholte; nie mit der erreichten Ehre zufrieden,
solange mehr zu gewinnen war.
Tief- und weitschauend in seinen Plänen; klug alle Mittel be­
nutzend, die zum Ziel führen konnten; redegewandt und über­
zeugend, so daß die Männer nur wollten, was er ihnen vor­
geschlagen hatte.
Fröhlich, lustig, freigebig zu seinen Männern, gewinnend, so daß
alle jungen, kecken Männer von ihm angezogen wurden.
Ein guter Berater und ein treuer Freund; grimmig gegen seine
Feinde und gegen die Feinde seiner Freunde; der vollkommene
Freund seiner Freunde.
Dies ist der germanische Königstypus, wie er in den unzähligen
Fürstenlobpreisungen der Literatur gestaltet worden ist, und so
spiegelt er sich auch in der Schilderung Offas durch den Dichter
des Beowulf: „Der speerkühne Mann, weit und breit durch
K äm pfe und Geschenke verherrlicht; mit Weisheit schirmte er sein
Erbland“ , - und weiter durch die nordischen Gedichte und Sagas
hinunter. Groß, schön, tapfer, tüchtig, freigebig - diese Worte
geben die Ganzheit der Tugenden, ohne die kein König aus-
kommen konnte; fehlt ihm eine dieser Eigenschaften, so fehlt ihm
alles.
Die Lobpreisungen bedeuten in Wirklichkeit eine Forderung,

143
eine Bestimmung dessen, was vom König verlangt wurde. Nicht
nur der König, der über große Reiche herrschte, mußte dem Ideal
genügen, sondern auch der Häuptling, dessen Machtbereich auf
einen kleinen Bezirk beschränkt war, mußte einen gewissen, nicht
unbedeutenden Teil all dieser Eigenschaften besitzen. Diese um­
fassende Vollkommenheit moralischer und physischer Art gehörte
zum Wesen der Häuptlingschaft. Vom kleinsten Gauführer wurde
verlangt, daß er das Recht seiner Freunde fest verteidigte und
niemandem erlaubte, ihnen zu nahe zu treten, daß er soviel Ehr­
furcht einflößte, um Fremden die Lust zu nehmen, sich einzu­
mischen. Jeder Mann im Gau hatte das Recht, die Kränkung, die
er nicht selbst bewältigen konnte, dem Häuptling vor die Tür zu
legen; und blieb sie dort ungcrächt liegen, rief sie unweigerlich die
Neidingschaft über das ganze Häuptlingsgeschlecht herab. Es ge­
hörte Kraft dazu, ein solches Erbe anzutreten. Wenn im Bezirk
Zwistigkeiten entstanden, war auch der H äuptling der nächste
dazu, um die Sache zu ordnen, die Schwierigkeiten zu lösen, so
daß „alle mit seiner Entscheidung zufrieden waren“ .
Wenn wir bedenken, daß der König in einem solchen Falle mit­
ten zwischen zwei „Ehren“ stand, die beide gleich empfindlich und
gleich unentbehrlich waren, so dürfen wir vermuten, daß er mit
einem sehr großen Schatz von Weisheit und Scharfsinn ausgestattet
gewesen sein muß - und mit Opferwilligkeit überdies, so daß er
sich nicht davor scheute, aus seinem Eigenem herzugeben, um eine
verwundete Ehre zu heilen. Wir finden eine Bestätigung unsrer
Vermutung, wenn wir bedenken, wie ein isländischer Gode, Thor-
kel K rafla in Vatsdal, einmal vorging, als auf dem Thing eine
Tötung begangen worden war. Er ging mit der rachebereiten
Partei zu der Hütte, wo der Toter sich aufhielt. In der Tiir be­
gegnete er der Mutter des Mannes. Sie hatte an Thorkel eine
Forderung, denn sie hatte einmal sein Leben gerettet. Sie versuchte,
ihren Einfluß geltend zu machen, aber er begegnete ihr mit den
Worten: „Jetz t steht es anders, als da wir uns zuletzt sprachen,
aber geh du hinaus, dann brauchst du nidit zu sehen, daß dein
Sohn niedergehauen wird.“ Sie handelte sofort nach seinem Wink,
kleidete ihren Sohn in ihre eigene Tracht und schickte ihn mit den
Frauen hinaus. Und als Thorkel ihn draußen in Sicherheit sah,
stellte er sich in die Tur und redete Vernunft: „Es geziemt sich
nicht für uns, unsre eigenen Nachbarn und Thinggenossen zu
töten. Vergleich wäre jedenfalls besser.“ Dies ist eine Episode aus

144
der späten Sagazeit, aber eine Episode der Art, wie sie häufig auf
den Steppen oder in den Bergen Vorkommen, wo der Stamm noch
in der alten Art unter der Herrschaft eines Häuptlings lebt.
Es war keine Sinekure, die königliche Würde zu erben. Das
Königtum erforderte ungewöhnliche Geisteskraft und große Be­
gabung, aber diese Eigenschaften waren ein Bestandteil des könig­
lichen Charakters. Daß der geborene Führer so große Dinge aus-
richten, seinen Untertanen Recht und Ehre verschaffen und, was
noch schwieriger war, ihre Ehren im rechten Verhältnis zueinander
behaupten konnte, das verdankte er eben der Tiefe und Macht
seines Heils. Es fiel ihm leichter als anderen, Männer zu ver­
gleichen, sie dazu zu bringen, ihm zu folgen; die jungen Männer
blickten zu ihm empor; sie wollten nur, was er wollte, die älteren
Männer kamen zu ihm mit ihren Schwierigkeiten - weil er vins& ll
war, das heißt, „Freundesheil“ hatte, weil er m annheil hatte, die
Gabe, mit Menschen umzugehen. Zur Erklärung dieser Beliebtheit
könnte man auch sagen, daß er frühzeitig die Hingabe der Leute
gewann „durch seine Schönheit und die Milde seiner Rede“ ( b lid -
la t i) . Von einem anderen König wird erzählt, daß er die Liebe
seiner Mannen gewann, „weil er mächtig und weise war und
Ernteheil hatte“ ; das Wort, das wir mit „weise“ übersetzen, ist
ein sehr bedeutungsvoller Ausdruck in der alten Sprache und sagt
soviel wie Klugheit, Schlauheit, Geschmeidigkeit, mit einem moder­
nen Worte: Diplomatie. Sein Freundesheil hing von verschiedenen
Faktoren ab, nicht am wenigsten von seiner Fähigkeit, Gold um
sich zu streuen; um den H of eines geizigen Königs scharte die
Jugend sich nicht. Alle diese Gaben gehören mit zum Königsheil,
die Diplomatie so gut wie die Freigebigkeit, die Schönheit so gut
wie die Beredsamkeit. Es gibt kein Auseinanderhalten der Eigen­
schaften, die wir als natürlich bezeichnen würden, von den ande-
den, so etwa von der Heilkraft oder von der Gabe, Fruchtbarkeit
zu spenden.
Es wäre töricht, die Überlegenheit der Königsgefolgschaft über
das Bauernheer mit einem abergläubischen, panischen Schrecken
vor der Person des Königs begründen zu wollen und abzuleugnen,
daß die schicklalschwere Bedeutung, die sein Fall für den Verlauf
der Schlacht hatte, in einem natürlichen Verhältnis zu seiner Be­
deutung als Leiter des Kampfes stand. Das wußte man wohl; der
„Führer im K am p f“ , der „Schlachtenlenker“ sind ja alte H äupt­
lings-Epitheta.

145
Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, diesen ehrenden
Bezeichnungen späteren Ursprung zuzuschreiben und die anderen
germanischen Völker der fehlenden Einsicht betreffs der Feld­
herrnbegabung des Königs zu bezichtigen. Ebenso sicher wie der
König den Sieg erzwingen konnte und sollte, indem er denen, die
ihm nahten, Mut und Stärke einflößte und die Augen der Feinde
verdunkelte, so daß sie über ihre eigenen Pläne strauchelten, eben­
so sicher hatte es für ihn große Bedeutung, ein wohldiszipliniertes
Heer zu besitzen und die taktischen Möglichkeiten eines Heeres­
verbandes ausnutzen zu können, der gewissermaßen von innen
heraus geschlossen war. All dieses: Die Disziplin des Heeres, die
Feldherrnkunst des Führers, die Stärke seines Hiebes, seine Gabe,
den Sieg zu erzwingen, gehören mit zum Königsheil. Ob wir sagen:
das Heil des Königs befähigte ihn dazu, Waffengebrauch und
Kriegskunst zu erlernen und mitten im Kam pfe unverwundet zu
bleiben - oder ob wir ihm die Begabung fürs Waffenhandwerk zu­
schreiben, eine Begabung, die mörderische Waffen von ihm ab­
gleiten ließ, das kommt auf eins hinaus. Der König war der „heil-
haffeste“ , d. h. unter anderem der tapferste, der tüchtigste, der
weiseste und erfindungsreichste Krieger.
Um es kurz zu sagen: das Heil ist in der Auffassung der Ger­
manen nicht etwas, was von außen kommt und Fähigkeiten und
Unternehmungen seinen Stempel aufdrückt. Damit ist der Unter­
schied von dem, was wir heute Glück nennen, gegeben, und doch
müssen wir gelegentlich das Wort Glück für Heil benutzen, wenn
wir die Gedanken der Alten wiedergeben, weil das Wort H eil
heute für uns den vollen, weiten Sinn verloren hat. So auch,
wenn die Rede ist von dem großen Unterschied zwischen den
Menschen, was ihr Heil oder Glück betrifft. Arme Leute haben
nur „ e i n Glück, und das ist dünn“ : sie mögen wirken und
werken, soviel sie wollen, sie erhalten doch nur den geringsten
Lohn für ihre Mühe. An anderen „klebt das Glück wie Dreck“ ,
wie das jütländische Sprichwort sagt; sie können es einfach nicht
los werden. Aber der Germane zog aus dieser Erfahrung nicht die
Folgerung, daß Wille und Erfolg, Begabung und Glück jedes von
einer besonderen Seite des Daseins kommen und miteinander
Blindekuh spielen. Er machte nicht den Mißerfolg zum Grund­
prinzip im Menschenleben, und er gab nicht dem Schicksal oder
den Göttern alle Gewalt und alle Verantwortung für einen
schlechten Ausfall.

146
Eines Mannes Ernteheil ist die Kraft, die ihn zu Wachsamkeit,
zu rastlosem Wirken antreibt, die seine Arme die Hacke schwingen
läßt, daß es eine Art hat, und Schick und Schneid in seine Arbeit
legt; es leitet die Hacke, so daß er sie nicht vergebens in einen
kargen, unnachgiebigen Boden einhaut, sondern gerade die Poren
der Fruchtbarkeit sich öffnen läßt; es schickt das Korn aus der
Erde empor, schärft den Sproß, daß er die Ackerkrume durch­
dringen kann, macht, daß die nackte Pflanze nicht schutzlos er­
friert und das ausgewachsene Korn nicht unempfänglich für Sonne
und Regen dasteht und vor lauter Hilflosigkeit zu nichts wird;
es begleitet die Ernte ins Haus, bleibt bei ihr beim Dreschen und
Zermahlen und gibt dem Brot oder dem Brei die Kraft des Näh-
rens, wenn das Essen aufgetragen wird.
So ist es mit dem Ernteheil, dem Jahrheil, und so auch mit
jedem andern Heil. Ein Mann hat Heil und Segen mit seinem
Vieh, wenn das Futter die Rinder dick und fett macht, wenn die
Kühe reichlich Milch in ihren Eutern haben, wenn sie auf der
Sommerweide sind, ohne daß Wolf und Bär ihnen schaden, und
wenn sie im Herbst vollzählig heimkommen; aber ebensosehr zeigt
sich sein Heil wohl darin, daß er, wenn sie verloren gegangen
sind, es versteht, sie aufzuspüren und dort zu finden, wo es kei­
nem anderen einfiele zu suchen.
Segeln heißt Schiffe lenken können, siegen heißt tapfer und ge­
wandt sein, Heil in Weisheit bedeutet Tüchtigkeit im „Pläne­
machen, wenn es not tut“ . Die Ingimundsöhne, die früher erwähnt
wurden, waren Männer von großem H eil; „schwer ist es, sich
wider das Heil der Ingimundsöhne zu stellen“ ; man fürchtete sich
von Jökuls Mut und seiner „Berserkerwut“ , aber ebensosehr vor
dem „Witz und H eil“ seines älteren Bruders Thorstein. Dieses
Heil zeigt sich darin, daß er immer im voraus weiß oder rät, was
seine Gegner im Schilde führen; er durchschaut jede Kriegslist,
auch wenn sie mit Zauberei ausgesonnen ist, so daß es nie mög­
lich ist, ihn und seine Brüder zu überraschen. Das Heil zeigt sich
darin, daß diese warten, die Zeit verstreichen lassen, alles vor­
bereiten oder auch ohne Zögern zuschlagen können, immer fällt
der Hieb gerade im rechten Augenblick. Als ihr Vater in ihrer
Abwesenheit getötet worden und der Toter, Hrolleif, glücklich zu
einem Verwandten entronnen ist, hält Thorstein seinen Bruder
zurück mit den Worten: „Wir müssen ihn mit Kunst suchen und
nicht mit Ungestüm“ ; er sucht darauf den Mann auf, der H rolleif

147
Unterschlupf gewährt hat, und durch sein kluges Auftreten er­
reicht er, daß Hrolleifs Verwandter den Unglücklichen aufgibt
und ihn von seinem H ofe fortschickt. „Du magst sagen, was du
willst“ , sagt Thorstein ruhig, „er ist selbstverständlich hier; aber
du hast größeren Nutzen davon, daß er unschädlich gemacht wird,
da er so viel Böses gegen euren Willen gestiftet hat; nicht nur
meines Vaters wegen bin ich hinter ihm her, er hat viel zu viele
Schuftereien begangen, als daß wir hier stillsitzen könnten; wir
können ihn ja außerhalb deiner Gemarkungen ergreifen, so daß
es dir keine Schande macht; sag ihm nur, daß er hier nicht sicher
ist; und ein Hundert in Silber kann ich gut entbehren.“ Ebenso
ruhig, wie Thorstein hier verhandelt, verweilt er auf dem H ofe
bis zum nächsten Tage, und auf dem Heimweg eröffnet er seinen
Brüdern, daß Hrolleif wohl zu seiner Mutter, dem Zauberweib,
nach Hause gegangen sei und nun dort festgenommen werden
müsse, bevor sie Zeit gewänne, ihren Zauber an ihm auszuüben.
Nach einem schnellen Ritt überraschen sie die Leute mitten in der
Vorbereitung zu ihren Schwarzkünsten, durch welche die alte
Hexe ihren Sohn gegen die Gefahr gefeit machen will; sie fügen
alles so geschickt, daß die Hexe ihren Blick nicht auf die Brüder
richtet, bevor diese selbst ihre Augen auf sie gerichtet haben —
sonst hätte das Weib über sie Macht bekommen - sie sehen durch
alle Sinnesverblendungen durch und erkennen die Vettel trotz
aller Kniffe, und sie hat gewiß recht, wenn sie sagt: „Es war nahe
daran, daß ich meinen Sohn hätte rächen können; aber die
Ingimundsöhne sind große Heilinge.“
So ging es allen, die mit Thorstein Händel hatten; wie sie auch
vorgingen, ob sie Zauberei oder einfache Menschenlist verwende­
ten, immer trafen sie ihn vorbereitet. Er durchschaute alles von
vornherein, und wenn er erschien, „half keine Augenverblendung,
denn er sah alles, wie es war“ - in seinem „rechten Wesen“ , wie
es in einer anderen Saga heißt.
Selbstverständlich durfte ein Häuptling nicht mißtrauisch sein
und immer Gefahr wittern - eine solche feige Vorsicht wäre ja
ein unverkennbares Zeichen gewesen, daß er kein Weisheitsheil
hatte, sondern im Dunkeln tastete. Nein, der König sah einfach
durch die Schale der Dinge hindurch und wußte, was hinter ge­
heuchelter Freundlichkeit verborgen war, und deshalb saß er sicher
und ruhig, wo alles gut und schön war, ohne sich durch Vor­
ahnungen sein Behagen trüben zu lassen. Als H arald Schönhaar

148
bei dem prächtigen Gelage Thorolfs auf Torgar gewesen war,
kamen die Hildiridsöhne zu ihm und beglückwünschten ihn zu
seiner glücklichen Fahrt, indem sie hinzufügten: „Es ging ja, wie
zu erwarten war, du warst doch der klügste und glücklichste
(h am in gjum estr), denn du hast gleich geahnt, daß alles nicht so
aufrichtig gemeint war, wie es aussah . . . und da können wir dir
denn auch erzählen, daß es die Absicht war, daß du umgebracht
werden solltest; aber die Bauern kriegten Stechen in der Brust, als
sie dich sahen.“ Man muß es den beiden lassen, daß sie wußten,
wie man Königen schmeichelt.
Wenn wir sehen wollen, was Mangel an Heil (gœ fuleysi) ist,
finden wir ein Beispiel in der Saga, die von den Händeln zwischen
H rafnkel Freysgode und seinem Widersacher Sam berichtet. Durch
Mut und recht viel freundschaftliche H ilfe bekam Sam die Ober­
hand über den mächtigen und hochfahrenden Häuptling H rafnkel;
aber als er seinen Feind unterworfen hatte, begnügte er sich trotz
aller wohlmeinenden Ratschläge damit, ihn zu demütigen und ihn
zu zwingen, seinen H o f und den Bezirk zu verlassen. H rafnkel
baute sich einen neuen H of und arbeitete sich langsam wieder in
die Höhe. Als sechs Jahre um waren, war er so stark geworden,
daß er an die vergangenen Zeiten denken konnte, und als er eines
Tages erfährt, daß Sams Bruder von einer ruhmvollen Auslands­
reise zurückgekehrt ist, legt er sich in den Hinterhalt und erschlägt
ihn sogleich auf seinem ersten Ritt von der Landungsstelle. Sam
sucht seine alten Freunde und Helfer auf, aber sie begegnen ihm
mit kühlen Worten: „Wir haben einmal alles für dich zurecht­
gelegt, so daß du dich mit Leichtigkeit behaupten konntest. Aber
es kam, wie wir es ahnten, als du H rafnkel das Leben schenktest,
daß du das bitter zu bereuen haben würdest. Unser R at war es,
ihn zu töten, aber du wolltest deinen Willen durchsetzen. Man
braucht nicht sehr genau hinzusehen, um den Unterschied an
Klugheit bei euch beiden, dir und H rafnkel, zu erkennen: er ließ
dich in Frieden sitzen und gebrauchte erst seine Kraft dazu, den
aus dem Wege zu schaffen, der ihm der Bedeutendste zu sein
schien. Wir wollen nicht, daß dein Mangel an Heil uns zu Fall
bringen soll.“
Der norwegische Thronforderer O laf Ugaefa - der Heillose —
erhielt seinen Beinamen wegen der Halbheit seiner Pläne, als ein
nächtlicher Überfall auf Erling Skakki ihm fehlschlug. Erling
hatte weniger Männer als er, wurde überrumpelt und erlitt einen

149
großen Verlust; aber die Dunkelheit verbarg ihn, und im Schutz
eines Zaunes gelangte er zu seinen Schiffen. „Und das sagten die
Leute, daß O laf und die Seinigen im Kam pfe nur ein geringes
Heil offenbart hatten, so sicher wie Erlings Partei ihnen doch in
die Hände gefallen wäre, wenn sie nur mit mehr Klugheit vor­
gegangen wären.“
Der ganze Unterschied zwischen rede, guten, klugen und erfolg­
reichen Plänen, und unrede, schlechten Plänen, die wohl aus­
gezeichnet aussehen mochten, aber doch im Grunde fehlerhaft
waren, liegt im Heil. Ein weiser Mann bereitet seine Unter­
nehmungen vor in Übereinstimmung mit den Zeiten und den Um­
ständen, worunter sie zur Ausführung gelangen sollen. Er ver­
steht Umschau zu halten und alles, was er sieht, zu deuten. Er
läßt sich nicht von Möglichkeiten verwirren, sondern versteht die
wirkliche Lage mit strenger Logik zu erkennen. Als Thorstein
fand, daß die Zeit gekommen war, den Tod seines Vaters zu
rächen, begab er sich geradewegs zu dem Gehöft, wo der Toter
versteckt war, und forderte dessen Beschützer auf, den Elenden
auszuliefern; als der Verwandte sich unschuldig stellte, sagte er
ruhig: „Du, Geirmund, bist Hrolleifs einziger ansehnlicher Ge-
sippe, also ist er hier bei dir und nirgendwo sonst“ , und diese
Folgerung hatte die ganze Sicherheit des Heils in sich; sie war
nicht aus Verdacht, Vermutung, Wahrscheinlichkeit hervorgegangen,
sondern aus Einsicht und Wissen. Aber der Weise kann noch mehr:
er beurteilt Menschen von vornherein so, daß er nicht durch
schicksalsschwere Verbindungen mit Männern, deren Ratschläge
unfruchtbar sind, auf Irrwege geführt wird. Aus sicheren Kenn­
zeichen in Gesicht, Gebärden und Betragen schließt er, was in dem
Fremden steckt, ob er ein Heiling ( h am in gju sam ligr) ist, einer, der
zu Freude und Nutzen für seine Umgebung wird, oder ob er ein
Mann ist, den man lieber meiden muß. Der sehr Kluge kennt sich
sogar auch noch in der Welt aus, die außerhalb des Menschen­
lebens liegt, und kann den Zusammenhang zwischen Erscheinungen
und Taten erraten; er kennt das Wetter und versteht, was die
Tiere sagen, oder jedenfalls, was sie sagen möchten. Er besitzt viel
„altes Wissen“ über Dinge und Begebenheiten der Vergangenheit,
ein Wissen, das ihm nicht nur Würde und Ansehen verleiht, son­
dern zugleich Sicherheit in der Einschätzung dessen, was jetzt
geschieht, und Einsicht in das Wesen der Dinge. Er sieht die Ver­
gangenheit ebenso wie die Gegenwart um sich ausgebreitet: die

150
beiden durchdringen einander und erklären einander. Aber seine
Weisheit müßte nur armselig sein, könnte er nicht mit Vergangen­
heit und Gegenwart zugleich ein Stück des Ungeborenen beherr­
schen. Scharfsinn und Zukunftssinn waren identische Bezeichnungen
bei den Alten. Das Unbekannte gelangte auf mancherlei Wegen
zu dem Heiling. Er war vielleicht ein starker Träumer, sah die
Dinge, bevor sie Gestalt annahmen, sah im voraus Männer ihre
geplanten Wege dahinziehen. H allfred, der Vater des Freysgoden
H rafnkel, zog ja mit seinem ganzen Gehöft um, weil ein Mann
im Traume zu ihm sagte: „D ort liegst du unvorsichtig, H allfred;
bau dein Gehöft wo anders auf, im Westen hinter Lagarfljot; dort
ist all dein H eil“ , - und am selben Tage, wo er all das seinige in
Sicherheit gebracht hatte, wurde der O rt durch einen Bergsturz
begraben. Auch Thorstein Ingimundson entgeht dem Anschlag
eines Zauberweibes auf Grund eines Traumgesichts, und als sie
ihn nicht in die Falle locken kann, mag sie wohl sagen: „Schwer
ist es, sich wider das Heil der Ingimundsöhne zu stellen.“ Zu
Traum und Hellsehen kommt noch das unmittelbare Wissen hinzu,
das mit den Worten ausgedrückt werden kann: „wenige Dinge
kommen ihm unerwartet, überraschen ihn“ , oder einfach: „mein
Sinn sagt mir . . . “ .
Deshalb kann der „Weise“ von vornherein seinen Plan durch
die Zeitläufte verfolgen, ihn prüfen und anpassen, bevor er in
Gang gesetzt ist, ihn zurückhalten, bis die Bahn frei ist. Wenn
aber die Weisheit nicht weiter reichte, würde der „R a t“ oder Plan
doch nur wie ein Boot sein, das ohne Bemannung aufs Wasser ge­
schoben und einem günstigen Strome oder einem günstigen Winde
anvertraut würde; aber das Heil des weisen und starken Mannes
folgte seinem Plane, lenkte, trieb vorwärts und hielt auf das Ziel
zu. Der Gedanke geht vorwärts und wirkt mit Kraft und Ge­
schicklichkeit das, was er vollführen soll. Es ist, als hätte er Augen
zu sehen und Verstand, der für ihn spräche; jedenfalls kann er sich
in den Sinn der Menschen hineinbohren und sie lenken, wie er
will. Von allem, dem er auf seinem Wege durch die Welt begegnet,
ergreift er Besitz und macht es zu seinem Werkzeug.
Der Erfolg eines Planes hängt ausschließlich davon ab, was die­
ser von Anbeginn an mitgebracht hat, denn er entsteht dadurch,
daß das Heil eine neue Möglichkeit befruchtet und mit Leben
erfüllt hat; je mächtiger das Heil ist, desto lebenstüchtiger ist
sein Nachwuchs. Die Pläne, die von den größten Geistern stam­

151
men, sind gleichzeitig die kühnsten und in der Ausführung die
sichersten. Das Königsheil erzeugt gewaltige Eroberungsgedanken
- wie damals, als H arald das Heil hatte, Norwegen zu sammeln
- und geniale Erfindungen, wenn z. B. ein Heerkönig den Ge­
danken faßt, sein Heer im „Keiler“ 1 aufzustellen, was, mythisch
ausgedrückt, heißt, daß der Plan eine Gottesgabe war.
H at man nicht selbst Heil genug, um einen so großen „R a t“ ,
wie man ihn braucht, großzuziehen, da geht man wohl zu einem
mächtigeren, zum Könige zum Beispiel, und bittet ihn, das Seinige
zu dem geplanten Unternehmen beizutragen. Und das war selbst­
verständlich: ging man zu einem Manne in einer schwierigen Sache
und bat ihn um einen Rat (in unserer Bedeutung des Wortes), da
erwartet man einen H eil-Rat (isl. heil rá d ) zu erhalten und keine
leeren Worte, in die man selbst Erfolg und Segen legen mußte.
Leere, heillose Menschen konnten mit geistigen Kleinodien übel
umgehen, weil sie sie nicht zu gebrauchen verstanden - das war
ihre eigene Schande; wenn man es richtig machte, mußte der Rat
Früchte einbringen. Natürlich enthält das alte Wort rede oder
Ratschlag verschiedene Bedeutungen, die in unsrer dualistischen
Kultur scharf abgegrenzt sind; Plan und Entschluß einerseits und
Ratschlag andererseits ist nichts als Heil in Verbindung mit den
eigenen oder anderen Angelegenheiten.

Wenn ein Plan wirklich Leben enthält, kann er nur durch ein
größeres Heil vernichtet werden. Ein Gedanke von höherer Weis­
heit kann auftreten und ihn zum Kam pf herausfordern. Die
höhere Weisheit braucht nicht zu warten, bis der „R a t“ erst in
Gang gesetzt worden ist, sie kann sich wie ein Alp auf das Heil
des geringeren Mannes legen und ihn unfruchtbar und verwirrt
machen. So geschah es, um ein Beispiel aus dem Leben zu nennen,
dem weisen Thorleif von den Opiändern, als O laf Tryggvason
aus rein christlichen Gründen dem aufsässigen Heidenführer nach
dem Leben trachtete und seinen treuen Diener, H allfred den
Schwierigkeitsskalden, hinschickte, um seinen Wunsch auszuführen.
Als der Dichterheld sich verkleidet auf Thorleifs H of zeigte,
fragte der alte Mann ihn, welche Neuigkeiten er brächte und be-

1 Anm. d. Übers.: Keiler (dänisch S v in e fy lk in g ) war die Schlachtord­


nung, die von Harald Kampfzahn und mehreren anderen Königen ver­
wendet wurde, wobei das Heer in der Form eines Keiles mit der Spitze
gegen den Feind aufgestellt wurde.

152
sonders, ob er etwas von einem gewissen H allfred wüßte, denn
„er zeigt sieb mir oft im Traum; nicht daß es merkwürdig wäre, daß
ich träume, aber es werden in Bälde Königsmannen hierher­
kommen und aus ihm, H allfred, kann ich nach den Erzählungen
der Leute nie recht klug werden, und das Heil ist mir entschwun­
den in den Dingen, die kommen sollen“ - mit anderen Worten:
ich kann von ihm träumen, aber ich sehe in Träumen nichts als
einen Schleier über der Zukunft.
Sobald ein Mann aus der Vorratskammer der Worte die Rede
hervorholte, konnten die Zuhörer bald erkennen, ob er ein H el­
ling war. Die Nordländer, und wohl die Germanen überhaupt,
fühlten große Bewunderung für die Wortkunst. Lobpreisungen der
Beredsamkeit finden sich häufig in ihren Dichtungen, und ihre
feine Fassung in Verbindung mit der sicheren Beurteilung der
Wirkung läßt uns das Wohlbehagen mitempfinden, womit die
Zuhörer sich niederließen, wenn ein Mann unter ihnen aufstand,
der Heil dazu hatte, seine Worte sicher in jeden beliebigen Hafen
zu führen. Der Heiling pflegte seine Rede in knappen, scharfen
Bildern zu gestalten, wie es die Nordländer liebten; der eine wohl­
geformte Satz zog den nächsten nach sich, genau wie beim Fechten
die einzelnen Bewegungen, Hieb und Parade, sich ineinander
fügen, wenn sie von einem „heilhaften“ Körper ausgeführt
werden; aus dem Heil heraus wurden Kraftsprüche geboren, die
eine Schwierigkeit im Kern trafen und mit einem scharfen Stoß
die umstrittene Frage entschieden. Das Heil inspirierte einen Mann
so, daß er noch im Augenblicke seines Falles Worte über die Zunge
gleiten ließ, die so scharf geprägt waren, daß man sie zu seinem
Ruhme im Gedächtnis behielt. Aber die Worte, die von einem
großen Heiling ausgingen, hatten dann auch die Zweischneidigkeit,
die für die Waffen siegreicher Männer eigentümlich war: sie schlu­
gen ein unter den Menschen, lösten den Zauber der Lauheit und
der Mutlosigkeit oder machten heimliche Hasser zu offenen Fein­
den, eine Fähigkeit, für die auch Egil den Göttern dankte. Es war
ein großer Unterschied zwischen den Worten eines Bauern und
denen eines Königs, auch wenn beide ungefähr dasselbe meinten.
Wenn O laf Tryggvason auf dem Thing aufstand, wo beredte
Männer sich versammelt hatten, um ihm zu widersprechen, wurde
alle Gegnerschaft von den Worten des Königs niedergeschlagen.
Worte waren gefährlich. Sie drangen durch das Heil hindurch
und setzten sich im Manne fest. Sie ließen sich nicht mit scharfen

153
Pfeilen vergleichen, die wohl verwundeten, aber doch heraus­
gezogen und zu Boden geworfen werden konnten. Denn sie waren
lebendig, sie krochen in ihrem Opfer herum und höhlten es aus,
bis keine Kraft mehr in ihm war, oder sie verwandelten es und
bildeten es nach ihrem eigenen Wesen.
Es war oft klug, seine Feinde mit Worten zu bearbeiten, bevor
man sie mit Waffen angriff; man konnte auf diese Weise die
Wachsamkeit des Feindes schwächen, seinen Mut, seine Geschmei­
digkeit und seine Unverletzlichkeit auflösen. In Saxos Bericht
über Fridleifs Kam pf mit dem Jöten beginnt der König den
K am pf mit Schmähungen; denn dem mittelalterlichen Mönch zu­
folge mußte der Jöte leichter zu besiegen sein, wenn man ihn erst
mit höhnenden Versen herausgefordert hatte: „Du drei-Ieibiger
Jöte, der du die Stirn beinahe gegen den Himmel schlägst, warum
läßt du das lächerliche Schwert am Schenkel baumeln? . . . Warum
schützt du deine kräftige Brust mit einem zerbrechlichen Schwert?
Du vergißt, wie groß du bist, und verläßt dich auf den kleinen
Dolch. Bald werde ich deinen Ausfall vereiteln, wenn du mit der
stumpfen Schneide haust.“ Jetzt ist zu befürchten, daß das Schwert
zu leicht wird, und daß seine Schneide sich außerstande zeigt,
durchzudringen. „D a du ein so ängstliches Tier bist . . . sollst du
auf die Nase fallen; denn in deinem stolzen Körper trägst du ein
feiges und furchtsames Herz, und dein Mut ist nicht deinen Glie­
dern gleich . . . Deshalb sollst du rühmlos fallen, nicht unter den
Kecken deinen Platz haben, sondern unter die, die niemand kennt,
eingereiht werden.“ Jetzt wäre es für den Jöten das Beste, sich
nach seinem Mut und seiner Ehre umzusehen und zuzuschlagen,
bevor das Wort gewirkt hat. Er „verliert den M ut“ , wenn die
fremde Kraft nicht so schnell wie möglich zurückgeworfen wird.
Als die Briten einmal von dem König der Northumberländer
angegriffen wurden, hatten sie ein ganzes Heer von Mönchen mit­
genommen und an einem sicheren Ort aufgestellt, damit diese
während des Kampfes beten sollten. König Æthelfrid ließ prak­
tischerweise zuerst diese Mönche von seinem Heer angreifen und
niederhauen, und darauf hieb er auf die Krieger ein. „Wenn sie
ihren Gott gegen uns anrufen“ , sagte er, „kämpfen sie ja gegen
uns, auch wenn sie keine Waffen gebrauchen, da sie uns doch mit
ihren Gebeten widerstehen.“ Es mag ja wohl sein, daß solche
„Gebete“ wirklich an Gott gerichtet waren, aber Æthelfrid wußte,
daß die „Neidw orte“ , wenn sie auch einen kleinen Umweg machen

154
mußten, dodi ganz sicher zuletzt die erreichen würden, denen sie
zugedacht waren.
Worte haben eine solche Kraft, daß sie einen Mann verwandeln
können, wenn sie in ihn eindringen, und aus einem tapferen Mann
können sie einen Feigling oder Neiding machen. Die Verleumdung
setzte ihn nicht nur in den Augen seines Nachbarn herab - nein,
umgekehrt, dessen Verachtung ist eine Folge davon, daß Hohn und
Spott in den Mann eingedrungen sind, seine Männlichkeit an­
gegriffen und ihn im buchstäblichsten Sinne zu einem geringeren
Wesen gemacht haben; der Hohn frißt sich durch die Ehre und
den Frieden hindurch und ruht nicht, bis das Menschentum an der
Wurzel zerstört ist. Je größer die Zusammenballung von Heil und
Ehre im Urheber ist, um so stärker ist das Wort, und um so
gefährlicher wird die Verwundung. Was kleine Leute sagten, die
nicht viel Geisteskraft übrig hatten, die sie in ihre Worte legen
konnten, das war ziemlich leicht zu nehmen, ja, gewisse Mächtige
konnten es ganz ignorieren. Aber wenn Heil hinter den Worten
stand, war es das klügste, sie schnell unschädlich zu machen und
sich durch Rache wieder Ehre zu verschaffen. Wenn norwegische
und isländische Gesetze gegen mildere, alltägliche Mißgriffe in der
Wortwahl den R at geben, sie zu erwidern, Wort um Wort, so hat
das nur eine sehr begrenzte Gültigkeit und muß mit größter Vor­
sicht aufgenommen werden; man darf nie vergessen, daß die Er­
widerung keine Genugtuung bringt, man muß sich wohl überlegen,
ob die Sache so ist, daß man auf eine Stärkung der Ehre ver­
zichten kann.
Aber Worte können natürlich ebensogut einen Segen in sich
haben. Ein gutes Abschiedswort ist eine Kraftspende für den Rei­
senden. Wenn der König sagte: „Glück zu, mein Freund“ , zog der
Mann davon - ein Stück von des Königs Kraft in sich. „Bis ans
Ziel der Reise wünsche ich dir Glück, darauf nehme ich es wieder
zurück“ , sagt man noch volkstümlich in Dänemark. Wurde einem
beim Em pfang am neuen Ort ein gutes Wort gesagt, war dieser
Wunsch eine wirkliche Zugabe zum Heil. Als O laf Pfau in seinen
neuen H of einzog, stand sein Vater, der alte Höskuld, draußen
und sprach „Worte des H eils“ ; er hieß O laf willkommen, mit
Heil, und er fügte bedeutungsvoll hinzu: „D as sagt mir mein
Sinn als gewiß, sein Name soll lange leben.“ O rdh eill, Wortheil,
ist die isländische Bezeichnung für einen Wunsch, der Macht hat,
entweder zum Guten oder zum Bösen, je nachdem der Sprecher

155
seinen guten Willen in die Worte legte und sie’ zu einem Segen
machte oder sie mit seinem Haß erfüllte, so daß sie als Fluch
wirkten. Mannesleben war in Worten sowohl wie in Plänen und
Ratschlägen. Gedanken und Worte sind einfach abgesonderte
Stücke der Menschenseelen, deshalb kann man sie in vollem Ernste
als lebendig betrachten.
Das alte Wort für Rat, rede (angelsächsisch ræd, althochdeutsch rät,
altsächsisch räd , isländisch rád ) bildet eine vollkommene Illustration
zu der germanischen Seelenverfassung. Wenn es anderen gegeben wird,
bedeutet es „R a t“ ; wenn es auf das Heil angewendet wird, das
in der Seele wirkt, bedeutet es „Weisheit“ oder einen guten Plan;
und von einem ethischen Standpunkt aus bedeutet es „gerechte
und aufrichtige Gedanken“ . Aber das Wort enthält natürlich auch
den Begriff des Erfolgs, der klugen und gerechten Plänen folgt,
und andererseits auch den der Macht und der Herrschaft, in denen
sich ein gesunder Wille auswirkt. Männer, die schwierige Sachen
besprechen müssen, brauchen „R at“ und Witz, sagt ein alter eng­
lischer Schriftsteller. Nach der Erzählung des angelsächsischen
Dichters kamen die abtrünnigen Engel zu Fall, weil sie nicht
länger ihren „R a t“ ausführen wollten, sondern sich von Gottes
Liebe abkehrten; sie taten, was sündig und zur gleichen Zeit „un­
geraten“ war und führten so ihre eigene Vernichtung herbei. Und
Satan klagt, daß Christus seinen „R at" unter dem Himmel ver­
mindert und ihn ratlos gemacht hat. Ein „ratloser“ Mann ist ge­
schwächt durch Mangel an 'Wille, Mangel an Macht und Mangel
an Selbstbehauptung. Der Dichter des angelsächsischen „C hrist“
benutzt diesen Ausdruck, um die Verworfenheit der Verdammten
auszumalen, die beim Jüngsten Gericht zur linken H and stehen
und den Befehl des Herren („Gehet hin, ihr Verdammten“ ) hören:
„Sie können dem Geheiß des Himmelskönigs nicht widerstehen,
des Rats beraubt, wie sie sind.“ Bevor wir das Wort in seiner
ganzen Bedeutung verstehen, können wir nicht die Tiefe im Aus­
ruf Satans erfassen: „Warum sollte ich dienen, ich kann mir einen
höheren Sitz als den Gottes errichten: starke Kampfgenossen,
ruhmreiche Helden von unbiegsamem Mut, die mich im Kam pfe
nicht verlassen werden, haben mich zu ihrem Herrn gewählt, mit
solchen läßt sich ,R at‘ finden.“
Um die Gewalt der alten Gedanken zu fühlen, müssen wir dar­
auf achten, daß unsre dynamischen Theorien nicht mit hinein­
schlüpfen; „R a t“ bedeutet nicht Energie, die in den Worten wohnt,

156
sondern die Worte selbst sowohl wie die Seele. Das Heil dehnt
sich in ununterbrochener Fortsetzung von der Seele des Mannes
bis zum Horizont seiner sozialen Existenz. Und auch dieses ist an­
gedeutet in der Bedeutung von „R a t“ , die auch noch den Zustand
oder die Lage des Mannes mit einschließt, seinen Einfluß und seine
Befugnis.
Der innere Zustand eines Heilings wird im Isländischen als „ein
ganzer Sinn“ beschrieben, heill hugr, was natürlich Weisheit sowohl
als Wohlwollen und Freundlichkeit umfaßt. Der Mann von „gan­
zem Sinn“ ist treu zu seinen Verwandten und seinen Freunden,
grimmig gegen seine Feinde und leicht umgänglich, wenn geringere
Männer seine H ilfe suchen. Sein Rat ist eine wirkliche, gute Gabe
für den Empfänger - ein ganzer Rat, im Isländischen heil rád.
Nach außen ist das Heil abhängig von der gegenseitigen Liebe
der Verwandten. Dem Blühen des Friedens folgten Heil und Wohl­
stand. Und im umgekehrten Falle, wenn die Männer sich nicht
einigen können, kränkelt das Leben und welkt, bis alles verödet
ist. Diese Regel gilt für alle Friedensgemeinschaften, nicht nur für
die Familie, sondern auch für zeitliche Verbindungen im Zeichen des
Friedens (und unter einem anderen Zeichen war kein Zusammen­
schluß möglich). Wenn Männer sich zu irgendeinem Unternehmen
zusammenschlossen, zum Fischen oder anderer Beschäftigung, hing
der Erfolg von der Kraft der einzelnen ab, freundschaftliche und
aufrichtige Beziehungen zueinander zu halten. In der Laxdoelasaga
erhalten wir zufällig die Aufklärung: „Kluge Männer legten gro­
ßes Gewicht darauf, daß man sich auf den Fischplätzen gut mit­
einander vertrug; denn man sagte, daß Männer weniger glücklich
beim Fang waren, wenn Streit entstand, und die meisten nahmen
sich daher in acht.“
Mit der Ehre steigt und fällt das Glück des Geschlechts. Wer sich
Ruhm verschafft, der erkämpft sich nicht nur die Vorteile, die ein
höheres Ansehen einem Manne verleiht - er mehrt den Segen, das
Wachstum, die Fruchtbarkeit seines Viehs sowohl wie die seiner
Felder; er legt den Grund zum Entstehen neuer Gesippen: die
Frauen werden leichter und häufiger gebären, die Kinder werden
besser und hoffnungsvoller gedeihen. Noch in späten Jahrhunder­
ten stand die wechselseitige Bedingtheit der Ehre und des Heils so
eingewurzelt im norwegischen Volksglauben, daß gesagt werden
konnte: Niemand hat das Heil, Reichtum zu sammeln, bevor er
zwei Menschen getötet und die Buße dafür an die Erben und den

157
König gezahlt hat. Und dieselbe Gedankenverbindung ist die U r­
sache des Vertrauens norwegischer Bauern auf das Heil und die
heilende Kraft in den Geschlechtern, die von harten und mörde­
rischen Männern abstammten, deren „Ehre“ durch zahlreiche
Tötungen bestätigt worden war.
Wenn der Friede und die Ehre dahinsiechen, folgt Abstieg in
allem, was das Geschlecht angeht. Abstieg und zuletzt Untergang.
Der Beowulf hat, wie wir sahen, schon eine Beschreibung der Fol­
gen des Neidingswerkes gegeben: das Aussterben des Geschlechts,
der Verfall seiner Güter. Ohne Zweifel zielen jene Verse, in wel­
chen der Feigheit Lohn aufgezählt wird, bewußt auf die Leiden,
die der Verachtung entspringen, die das Volk für den Verlust an
Ehre empfindet; aber die Schilderung kann Wort für Wort auf jene
ältere, ursprünglichere Anschauung angewendet werden, für welche
die sozialen Folgen der Schande nur ein Korrelat ihrer unmittel­
bar zerstörenden Wirkung waren: „N ie mehr soll jemand aus dem
Geschlecht froh das Gold ergreifen.“
Die nordische Darstellung der letzten Dinge ist nur eine ver­
größerte Form dieser Verwünschung: die Menschen werden ständig
elender, ihre Tatkraft, ihr Mut, ihre Zuversicht, ihr Gemeinschafts­
sinn und ihr Friedensgefühl werden verzehrt; „Brüder kämpfen
und bringen sich Tod, Bruderssöhne brechen die Sippe, arg ist die
Welt, Ehebruch furchtbar,. . . nicht einer will des anderen schonen“ ,
wie nahe verwandt sie auch seien; die Wärme der Sonne nimmt
ab, die Erde wird kalt und öde, früher Frost und später Frost zer­
beißen die Sprossen; ständig schwächer werden die Sommer und
ständig strenger die Winter.
Der Dichter der Völuspa ist sicher durch Berührung mit dem
Christentum zu dieser eschatologischen Vision angeregt worden;
aber es finden sich nur unbedeutende Spuren unmittelbarer Be­
einflussung durch christliche Gedanken. Die geistige Anregung, die
er vom Westen empfing, hat den Dichter so tief ergriffen, daß die
alten Sagen und Bilder wieder in ihm auferstehen und neue Be­
deutung gewinnen. Sein Glaube an die alten Ideale, seine Furcht,
sie im Strudel der Wikingerzeit verstümmelt zu sehen, befruchten
sich gegenseitig, und bei der Berührung mit dem Christentum ent­
steht aus dieser Verschmelzung von Ethik und Erleben kraft eines
leitenden Gedankens eine einheitliche Geschichtsbetrachtung. Der
Dichter, der die überlieferten Sagen zu seinem Zwecke gestaltet,
ohne auf irgend sichtbare Weise ihren Inhalt zu verändern, und

158
eine Menge widerstrebenden Stoffs in eine Einheit zusammenfaßt,
erblickt wie in einer Vision, die Anhäufung von Schuld, von der
die Götter, Untat an Untat reihend, ihrem Gericht entgegen­
getrieben werden. Für den Dichter ist Schuld identisch mit Bruch
von Frieden und Ehre. Die Stärke seiner Idee offenbart sich in der
Tatsache, daß er den Mythos von Balders Tod enge mit der Lehre
vom jüngsten Gericht verknüpft. Das Bild von den Göttern, die
einen ihrer Brüder töten, wird in den Mittelpunkt gestellt, so daß
es die mächtigen Wirkungen der vorausgegangenen Begebenheiten
zusammenfaßt und die Dämmerung der Götter und der Welt an­
kündigt.
Der Grundsatz, daß Heil und Fortschritt von Friede und Ehre
abhängig sind, war aus der Erfahrung hervorgegangen, aber der
Satz ließe sich mit derselben Wahrheit umkehren: D as Heil ist die
Bedingung, die Friede und Ehre bestimmt.
Zerbricht der Friede, so daß Verwandte sich gegeneinander ver­
gehen, da liegt der Fehler am H eil; es ist entweder beschädigt
worden oder war von Anfang an unzulänglich und läßt die Men­
schen ohne H ilfe und Hoffnung. Eine brave Frau namens Saldis
freute sich sehr über ihre beiden Tochtersöhne; sie waren beide viel­
versprechende Burschen, und außerdem hatten sie einander innig
lieb. Eines Tages kam die zukunftkluge Oddbjörg auf den H of.
Saldis stellte mit Stolz dem Gast ihre Enkelkinder vor und bat sie
zu weissagen, indem sie hinzufügte: „Sieh zu, daß deine Worte
Glück verheißen.“ „ Ja , vielversprechend sind die beiden Burschen“ ,
gab Oddbjörg zu, „wenn das Heil nur für sie reicht - aber das
kann ich nicht klar sehen.“ Kein Wunder, daß Saldis ihr hart zu­
redete; aber die andere antwortete bloß: „Ich habe nicht zuviel
gesagt - ich glaube nicht, daß ihre Liebe lange dauern wird.“ Als
sie noch mehr gedrängt wird, entfährt es ihr: „Sie werden einander
nach dem Leben trachten.“ Und so geschah es. - Als Sverrir die
Leichenrede über seinen Verwandten und Gegner, König Magnus,
hielt, fing er so an: „Der Mann, an dessen Bahre wir jetzt stehen,
war ein braver Mann, leutselig zu seinen Mannen - aber wir Ver­
wandten hatten nicht das Heil, uns gut miteinander zu vertragen“ ,
und dann weiter „mit vielen schönen Worten, derart, wie er sie
nach seinem Belieben zu drehen wußte.“ Es ist lehrreich zu sehen,
wie Sverrir, dieser hochbegabte und reflektierte Streber, bei seinen
wohlberechneten Versuchen, volkstümlich zu sprechen, immer wie­
der auf die alten Vorstellungen zurückgreift; er ist selbst durch und

159
durch modern, und absichtlich verknüpft er seine Sache mit dem
Christentum und den starken Kräften, die die Zukunft für sich
haben; aber um die Menschen im Gemüt zu packen, muß man
volkstümlich sprechen, das weiß er. Und er versteht es zu tun.
Braut und Bräutigam brauchen Heil, um ein glückliches Paar zu
sein. Hrut, ein Isländer von ungewöhnlichem Ansehen und hoher
Geburt, also ein Mann von großer Klugheit, heiratete spät; eines
Tages schlugen seine Freunde ihm eine Partie mit einer Frau aus
guter Familie namens Unn vor. Hrut ging auf den Plan ein, aber
recht zögernd, und er sagte. „Ich weiß nicht, ob wir beide Heil
miteinander haben werden “ H rut wußte zu der Zeit nicht, daß er
dem Zauber einer mächtigen Frau verfallen würde - auf einer
Reise nach Norwegen gewann er die Gunst der Königsmutter, und
dieses Verhältnis verbitterte später Hruts und Unns gemeinsames
Leben und zerstörte schließlich die Ehe.
Neidingschaft, die Tat und der Zustand des Neidings, ist mit
Unheil identisch. „Spät wird mir dies Unheil aus dem Gedächtnis
schwinden“ , sagt Bolli, als Gudrun ihn zu der Tötung seines Zieh­
bruders K jartan beglüdcwünscht; und in der Völsungasaga wird
Sinfjötli wegen seiner gewaltsamen Laufbahn mit diesen Worten
verhöhnt: „D ir geschah alles Unheil, du tötetest deine Brüder.“
Mit ergreifender Kraft bricht das Gefühl in K alf Arnasons Worten
nach der Schlacht von Stiklastadir durch. K alf und sein Bruder
Finn hatten in der Schlacht auf entgegengesetzten Seiten gekämpft,
da Finn ein eifriger Parteigänger des Königs war, während K alf
einen hervorragenden Platz unter denen bekleidete, die des Königs
Sturz herbeiführen wollten. Als der Kam pf vorüber war, suchte
K alf das Feld ab und bot seinem Bruder, der schwer verwundet
dalag, H ilfe an. Aber Finn hieb nach ihm und nannte ihn einen
treulosen Schurken und einen Verräter des Königs. Der Hieb traf
nicht, und K alf rief: „Jetzt hat dich der König behütet, er wünschte
dir kein Unheil, aber er wußte, daß ich Schutz brauchte.“ K alf,
der O lafs erbittertster Gegner gewesen war, preist jetzt das Heil
des gefallenen Königs als stark genug, um den unbändigen Schmerz
und Zorn eines Königsmannes davon abzuhalten, in Neidingschaft
umzuschlagen.
In Gislis Saga findet sich ein Wortwechsel, wo die Worte „U n­
heil“ und „Neidingschaft“ wechselweise mit gleicher Stärke benutzt
werden. Nachdem Gisli den Gatten seiner Schwester getötet hatte,
wurde er von einem Versteck zum anderen gejagt; aber die unauf­

160
hörlichen Verfolgungen seiner Feinde wurden lange Zeit glücklich
durch die Bemühungen seiner Frau Aud vereitelt. Bei einer Ge­
legenheit, als Eyjolf, der die Rächer führt, Aud dazu zu bringen
versucht, ihren Gatten aufzugeben, läßt sie ihren Hohn über ihn
aus und beleidigt ihn so tief, daß er schreit: „Tötet den Hund, mag
es auch eine Petze sein.“ Durch die Einmischung eines tapferen
Mannes unter den Rächern, H avard, entging E yjolf der Schmach,
H and an eine Frau zu legen; als H avard sah, daß E yjolf sich ver­
gaß, rief er: „Dieses unser Werk ist schmählich genug, auch ohne
daß wir eine solche Neidingschaft begehen; auf, laßt ihn nicht an
sie heran.“ Eyjolfs Zorn wandte sich nun gegen seinen Freund, und
er sagte: „Es ist ein wahres Wort: schlechtes Geleit hat man nur,
wenn man es von zu Hause mitbringt.“ Aber die Saga fährt fort:
„H av ard war sehr beliebt, und viele wollten ihm gerne folgen; sie
wollten auch gern E yjolf vor solchem Unheil retten.“
Wenn Neidingschaft Unheil genannt wird, ist diese Bezeichnung
nicht etwa als eine Entschuldigung aufzufassen; im Gegenteil, die
Worte enthalten eine strenge Verurteilung des Mannes, der als
„heillos“ verklagt wird. Wenn König H akon in der früher er­
wähnten Verurteilung des Rachenehmens am Unrechten Mann eine
solche Tat Unheil nennt, wählt er den allerschärfsten Ausdruck,
den er in seinem Wortschatz finden kann, das Wort, das der Tod­
sünde am nächsten kommt. Unheil ist Frevel und ein „heilloser“
Mann ist dasselbe wie ein Neiding oder, in gewissen Fällen, ein
angehender Neiding. Die gröbste Art, einen Mann abzuweisen,
der sich um Freundschaft bewirbt, ist, ihm zu sagen: „Du siehst
nicht aus wie ein Heiling (úgœ fusam ligr), und es ist das klügste,
nichts mit dir zu tun zu haben“ ; diese Worte enthalten böse Be­
fürchtungen sowohl in bezug auf die Moral wie auf die Klugheit.
Um die volle Bedeutung dieses Satzes zu erfassen, müssen wir zwei
parallele Lesarten anführen: du hast kein Heil in deinem Tun und
kannst deiner Umgebung nur Unheil bringen, - und: man kann
sich nicht auf dich verlassen, von dir kann man alles erwarten.
Auch wenn N jal von seinen Söhnen sagt, daß sie keine Heilinge
sind, hatten die Worte vielleicht zu der Zeit einen bittereren Unter­
ton, als wir jetzt spüren; sie besagen, daß den jungen Männern
Witz und Scharfsinn fehlt, und sie bedeuten ferner, daß es ihnen
an Selbstbeherrschung und moralischem Rückhalt mangelt.
Die unheimlichen Symptome der Neidingschaft beruhen darauf,
daß Heil und Ehre identisch sind. D as Heil ist die Verbindung

161
von Frieden und Ehre von einer anderen Seite aus gesehen, und
Unheil im alten Sinne ist ganz einfach die Kehrseite des Verwandt­
schaftsgefühls, das wir nun zu verstehen gelernt haben.
Das Heil bewirkt, daß die Menschen ihren Frieden, ihre Freund­
schaft, ihre Versprechungen zu halten vermögen, und daß sie es
unterlassen, unehrenhafte Handlungen zu begehen. Aber das Heil
ist mehr. Es gibt den Menschen den Willen, moralisch zu handeln,
oder richtiger, es ist der moralische Wille selbst. Als Hrut die Be­
fürchtung äußert: „Ich weiß nicht, ob wir beide Heil miteinander
haben werden“ , da denkt er an die Kraft, gegenseitige Liebe zu
haben und zu hegen, an die Fähigkeit, in ihrem Heim den Frieden
zu schaffen, und auch an die Kraft, sich über einander freuen zu
können und Nachkommen zu haben.
Im germanischen Denken ist die moralische Wertung immer be­
reit, an die Oberfläche zu steigen. Für das, was wir unter gut,
fromm, rechtschaffen verstehen, haben die alten Germanen keine
besseren Ausdrücke als glücklich, h e i 1 h a f t (das Wort „heilig“
hat heute eine spezifisch christliche Bedeutung gewonnen, so auch
„selig“ , das dem altnordischen s a l i , dem gotischen sels entspricht).
Ursprünglich enthalten diese Wörter die Begriffe: Reichtum und
Gesundheit, Glück und Weisheit. In späteren Sprachperioden hat
die ethische Seite des Gedankens oft die Oberhand gewonnen und
den Gebrauch des Wortes in christlichen Schriften bestimmt. So
waren sels und der Gegensatz unsels für den gotischen Bibelüber­
setzer die beste Äquivalente für das „gut“ und „böse“ im Neuen
Testament.

162
Heil als das Leben der Sippe

Heil ist der letzte und tiefste Ausdruck für das Wesen des Men­
schen und zugleich der umfassendste. Man kann nicht weiter ge­
langen; wie tief man auch in die Menschenseele eindringt, nie wird
man hinter das Heil blicken. Vor allem ist das Verwandtschafts­
gefühl eine Äußerung des Heils, und wenn Bosheit und Neiding-
schaft hervorbrechen, ist es ein Zeichen, daß das Herz dieser Sippe
zerstört ist, und wir können dann mit Gewißheit Voraussagen, daß
auf dieses erste Neidingswerk andere folgen werden, und daß das
Wirken dieser Sippe keine Frucht tragen wird. So urteilten die
Leute ganz natürlich über Sigurd Slembi, als er nach der Tötung
seines Bruders den Königsnamen beanspruchte: „Wenn du wirklich
ein Sohn von König Magnus bist, da war deine Geburt heillos
(ú gip tu sam ligr: unheilverheißend), und so ist es ja auch gekom­
men, wenn du deinen Bruder ermordet hast.“ Das Unheil ist
keineswegs eine „Folge“ , die hinter den Untaten oder der Schande
nachhinkt. Die Germanen erwarten mit vollkommener Sicherheit,
sie rechnen geradezu damit, daß das Urteil früher oder später an
der Stelle erscheint, wo die Schande sich gezeigt hatte, und zwar
aus dem Grunde, weil die Verkettung der Begebenheiten nicht eine
Folge von Gottes strenger Abrechnung war. Vergehen und Ver­
geltung sind nicht durch ein Zwischenglied verbunden, das mög­
licherweise zerbrochen werden kann.
Heil ist also die Kraft, die einen Mann geistig trägt und die von
seiner Person ausgeht, seine Worte und seine Taten erfüllt; es um­
faßt alle Forderungen der Sippe, ihre Macht und ihre Möglich­
keiten, ihre Fertigkeiten und ihre Hoffnungen, ihre Eigentümlich­
keit und ihren Charakter. Heil enthält geradezu das Leben der
Sippe; das Geschlecht wird kynsœ ll , glücklich in Verwandtschaft,
genannt, wenn die Verwandten zahlreich sind und ständig neue
Mitglieder geboren werden, um die freiwerdenden Stellen auszu­
füllen. Im Heil liegt ferner das Leben als soziales Sein, das äußere
Ansehen, das die Familie genießt. Von glücklichen Verwandten sagt
man, daß sie Mannesheil (m an n h eill) haben, das heißt das Heil,

163
die Freundschaft und die Hingabe anderer zu besitzen, und R u f­
heil (ordheill), so daß die Leute Gutes über sie sagen, also mit
Wohlwollen und Ehrerbietigkeit von ihnen sprechen. In der angel­
sächsischen Genesis verspricht Gott Abrahams Sohn freo n dsp éd ,
Freundesheil oder, wie wir es ebensogut übersetzen können: Reich­
tum an Freunden. - Schließlich enthält Heil Ehre, sowohl die, die
in der Herrlichkeit des Ruhmes ausstrahlt, wie die, die, zur Spann­
kraft verdichtet, in der menschlichen Seele ruht.
Das Heil prägt das Äußere des Mannes. Woher hatten die N ord­
länder die Scharfsicht, daß sie mit einem Blick den Mann erkennen
konnten? Bei der ersten Begegnung konnten sie entweder sagen: Er
ist ein Mann, der Heil und Ehre verspricht (sa m ilig r und ham ing-
ju sam ligr), einer, von dem Heil zu erwarten ist (giptuvœ n ligr),
oder: Er trägt das Zeichen des Unheils (ú gip tu b ragd ). Zum Teil
geschah es durch Intuition, wie wir sagen würden, oder, wie die
Alten gesagt hätten: der Sinn des Beobachters sagte ihm, was er
vom Fremden denken sollte - zum Teil aber auch mit H ilfe von
äußeren Kennzeichen; das Heil drückte sich ja deutlich aus in den
Mienen, dem Gang, dem Benehmen und dem Auftreten des An­
kömmlings und nicht zum wenigsten in seinem wohlgenährten
Aussehen, seiner Gesundheit, seiner Tracht und seinen Waffen. N ur
ein Geschlecht von Reichtum und Erfolg vermag seinen Jüngling
in bunten Kleidern und mit einer prachtvollen Axt, einem „Erb­
stück“ , hinauszuschicken.

Als die Njalsöhne mit ihren Freunden ihren berühmten Gang


rund durch die Hütten am Allthing machten, um Freunde für den
entscheidenden Prozeß zu werben, brachte Skarphedin es fertig,
bei einem mächtigen Mann nach dem andern das keimende Wohl­
wollen zu töten, weil er sein ironisches Lächeln und seinen bitteren
Spott nicht dämpfen konnte. Der scharfsichtige Häuptling, Snorri
der Gode, entdeckte den geheimen Grund von Skarphedins Miß­
erfolg und sagte: „Gewaltig siehst du aus, Skarphedin, aber jetzt
ist dein Heil bald zu Ende, und ich möchte glauben, du hast nicht
viel mehr übrig vom Leben.“ In früheren Zeiten, als die Worte
noch die ursprüngliche Kraft bewahrt hatten, war das Urteil über
einen Mann in dem einfachen Satz enthalten: Sein Heil versagte.
Dieses Heil - oder die h am ingja, wie das nordische Wort heißt —
umfaßt alles, was das Menschentum eines Mannes ausmacht, K ör­
per wie Seele; um den vollen Wert des Ausdrucks zu erfassen,

164
müssen wir bedenken, daß diese H am ingja eine Einheit bildet und
durch und durch homogen ist. Audi wenn sie sich in verschiedenen
Formen offenbart, je nachdem sie nun durch die Augen, die Hände,
den K opf, durch die Waffen oder das Vieh in Erscheinung tritt, ist
sie eins und unteilbar. Hinter dem sichtbaren Mann oder genauer
hinter dem sichtbaren Kreis von Verwandten steht eine gesammelte
geistige Kraft, deren Verkörperung die Verwandten sind. Bei einer
Stärkeprobe wird die ganze H am ingja eingesetzt, und aus der Ent­
scheidung geht sie noch stärker hervor und noch schöner an allen
Gliedern —oder ganz und gar verkrüppelt.
Diese geschlossene Stärke ist es, die für gewöhnliche Menschen
das Königsheil so unüberwindlich macht. „D u hast nicht Heil, dich
mit dem Könige zu messen“ , mag es heißen, und damit ist gemeint,
du hast nicht Verwandte genug, nicht Witz, Mut, K am pf heil genug;
dein Siegesheil ist zu klein, dein Fruchtbarkeitsheil ist zu schwach,
usw. Während du schläfst, wird die H am ingja des Königs die
deinige überrumpeln, sie blenden und verwirren; seine Ham ingja
wird in den Seelen anderer Männer mit der deinigen kämpfen und
sie zum Krüppel schlagen, und bevor ihr noch im offenen K am pf
miteinander steht, wirst du ein gelähmter Mann sein. Die N ord ­
länder haben den Ausdruck et ja h am ingju, wörtlich: das Heil mit
einem Mann zusammenhetzen, genau so wie man mit ihm Rosse
zusammenhetzen mochte, um seinen Streithengst mit dem des ande­
ren sich beißen und eine Kraftprobe ausführen zu lassen. Tatsäch­
lich war jede Kraftprobe zwischen Männern ein K am pf zwischen
zwei Heilsmächten, ein Geisterkampf. Der Ausfall des Streites be­
ruhte in hohem Grade auf der Schnelligkeit und Geschwindigkeit
des Mannes, so wie der Erfolg des Pferdes von der Geschicklich­
keit seines Besitzers abhängig war, es zu stützen, anzutreiben und
mit der Roßstange hochzuhalten; aber außerdem erfüllt doch etwas
Stärkeres den Schauplatz, der K am pf zwischen den Gegnern war
nur ein Teil von einem Streit, der auf einem größeren Schlachtfeld
von Mächten ausgefochten wurde, die nie schliefen.
„D u hast nicht das Heil, dich mit dem Könige zu messen“ , sagte
K veldulf zu seinem Sohne Thorolf, als die Beziehungen zwischen
dem Könige und dem jungen H äuptling sich mehr und mehr einem
offenen Streit näherten. Aber lange vor dieser Zeit hatte der Greis
seine Söhne davor gewarnt, überhaupt etwas mit H arald zu tun
zu haben. „Mein Sinn sagt mir, daß wir Verwandten kein Heil mit
diesem König haben werden, und ich will nicht zu einer Begegnung

165
mit ihm ziehen.“ Die Saga läßt Thorolfs Bruder in seiner E r­
klärung an den König denselben Ausdruck benutzen, als dieser ihn
später nahezu in seinen Dienst pressen will: „Thorolf war ein viel
bedeutenderer Mann als ich, und er hatte nicht das Heil, dir zu
dienen. Ich will dir nicht dienen, denn ich weiß, daß ich kein Heil
haben werde, dir solche Dienste zu leisten, wie ich möchte, und wie
man sie mit Recht erwarten könnte.“ Die Sache war die, daß diese
Großbauern nicht die Anlagen für eine solche Stellung besaßen,
oder, was dasselbe ist, sie hatten nicht den Willen, sich ihr anzu­
passen.
Und hier stehen wir vor einer tief verwurzelten Eigentümlich­
keit in der Psychologie des alten Charakters. Der Gedanke, daß
die Kraft kommt, wenn man bloß ernsthaft will, oder umgekehrt,
daß die Kraft vielleicht vorhanden ist, daß aber der Wille fehlt,
hatte keine Geltung für den Nordländer. Alle seine Eigentümlich­
keiten rühren von der Art seines Heils her: Halsstarrigkeit und
Mut, Stolz wie die Neigung, dem Größeren zu dienen, Gewalt­
samkeit und Unumgänglichkeit wie auch Furchtlosigkeit. Das Heil
ist die Sinnesart, der Charakter und der Wille. Mit unsern Vor­
stellungen von der Wechselwirkung zwischen Lust und W^ille
werden wir bei den alten Sagas immerfort vor unlösbaren R ät­
seln stehen. Oft scheint es, als ob Menschen gern Verderben brin­
gende Unternehmungen aufgeben möchten, als ob sie gern Miß­
verständnisse und Feindseligkeiten aus der Welt schaffen möchten,
aber etwas Unsichtbares lenkt alle ihre Bestrebungen vom Ziele
ab. Wir mögen sagen, sie können nicht, weil sie nicht wollen, oder
sie wollen nicht, weil sie nicht können, denn beide Sätze sind wahr.
Wenn wir in solchen Fällen Schicksalsglaube und Schicksalsgebun­
denheit heranziehen, übersehen wir leicht den eigentlichen Grund
dafür, daß diese Männer dem Schicksal nicht haben widerstehen
können: nämlich, daß sie ihr eigenes Schicksal wollten. Der Wille
in ihnen ist es, der sie gegen Lust und Berechnung aufhetzt und
ihre ernstesten Pläne zunichte macht, weil der Wille sein eigenes
Gesetz hat und nicht außerhalb der ihm durch sein eigenes Gesetz
gezogenen Grenzen wirken kann. Das Heil der Kv<*ldulfsöhne
war ein für allemal so beschaffen, daß es sich nicht dem Königs­
heil fügen konnte; und daher war es am besten, die beiden ge­
trennt zu halten. Es war nicht so sehr der Unterschied an Stärke,
der das gegenseitige Verhältnis der Menschen in der Welt bedingte,
sondern vielmehr die Ungleichheit in ihrem Charakter.

166
D as H eil des Häuptlings hatte weit größeres Gewicht als das
des Bauern. „Du bist reich an H eil“ (wörtlich: dein Heil ist aus­
giebig) und „alles gelingt in deiner H an d“ , sagt Sæmund bezeich­
nenderweise zu dem alten Vatsdcelahäuptling Ingimund, als er
selbst mit seinem unbotmäßigen Verwandten H rolleif nicht mehr
fertig werden kann und Ingimund bittet, ihn zu sich zu nehmen.
D as Geheimnis, daß der Häuptling Macht hat, das Unmögliche zu
tun, liegt aber nicht in der Schwere, sondern in der Eigenart seines
Heils.
Diese Eigenart des Heils bildet die natürliche Grundlage für die
Macht und den Einfluß des germanischen Königs. Seine formelle
Macht ist sehr gering oder kaum vorhanden; ob die Männer sei­
nem Gebot folgen wollen oder nicht, hängt von ihrem augenblick­
lichen Gutdünken ab.
Die Südländer beobachteten die Anarchie, die sich in den ger­
manischen Heerscharen entfaltete, und gaben es ganz auf, in den
monarchischen Prinzipien der Germanen nach Vernunft zu suchen.
Diese Barbaren zeigen ihrem Fürsten keine Ehrfurcht, sie grüßen
ihn nicht, sagen klassische Schriftsteller; mißfallen ihnen die Be­
schlüsse des Königs, umzingeln sie sein Zelt und zwingen ihn mit
lauten Rufen, seine Pläne zu ändern; sie setzen Krieg durch, wenn
er Friede will, und Friede, wenn es ihn nach Krieg gelüstet; es
mag geschehen, daß sie ihn in einem Anfall von Unzufriedenheit
einfach fort jagen. - Man merkt hinter den Worten das Achsel­
zucken und Kopfschütteln ernster Männer und glaubt eine un­
hörbare Frage aufzufangen: Wozu in aller Welt halten diese
Menschen sich denn Könige? Wir haben keinen Grund, die Be­
obachtungen unserer Gewährsmänner anzufechten; sie sind meist
aus der Intelligenz eines gebildeten Geistes hervorgegangen und
mit dem wachsamen Interesse dieses Geistes für das Näherrücken
der Barbaren an die Grenzen der Zivilisation angestellt worden.
Es besagt nichts, daß der Beobachter nur die äußeren Bewegungen
sah und gerade durch seine Kultur verhindert war, das Nerven­
system zu erkennen, von dem sie ausgelöst wurden. Diese Fest­
stellungen müssen in irgendeinem Verhältnis zu der nicht weniger
unanfechtbaren Tatsache stehen, daß die germanischen Königs­
familien eine ungewöhnliche Zähigkeit besaßen. Wir sehen, wie
die alten Volksstämme unter wechselnden Schicksalen und Verhält­
nissen den größten Teil von Europa durchstreifen, bald um ihr
Leben kämpfend, bald breit und behaglich in eroberten Ländern

167
sitzend, aber immer, Jahrhunderte lang, unter demselben Königs­
geschlecht.
Prokop gibt einen köstlichen Bericht von den rastlosen Königs­
experimenten, in dem sowohl die Vorderseite wie die Kehrseite
der Loyalität der Barbaren mit karikaturenhafler Schärfe abge­
zeichnet sind. Die Heruler, so berichtet er, kamen eines Tages auf
den Gedanken, daß sie erproben wollten, wie es wohl wäre, ohne
König zu leben; also töteten sie ihre einzige königliche Persönlich­
keit. Doch kaum hatten sie die Süßigkeit der Freiheit gekostet, da
entdeckten sie, daß dies nichts für sie war. Sie bereuten, was sie
getan hatten, und fühlten, daß sie um jeden Preis den alten Zu­
stand wieder herbeiführen mußten, und da schickten sie eine Ab­
ordnung aus den Mittelmeerländern nach dem Norden hinauf, um
einen König aus dem alten Stamm zu holen. Die Sendboten durch­
traben Europa und finden in Skandinavien einen Prinzen; aber
leider stirbt er ihnen auf dem Rückweg unter den Händen. Un­
beirrt kehren sie um und holen einen neuen Vertreter, den sie nun
glücklich nach dem Süden bringen. In der langen Zwischenzeit, wo
reichlich Zeit zum Nachdenken war, war es den anderen zu H ause
eingefallen, daß man in einer so wichtigen Frage doch nicht Ju sti­
nian übergehen dürfe; und richtig, der wußte zufällig einen ein­
geborenen Heruler, der am H ofe von Byzanz lebte, und den er
deshalb besonders empfehlen konnte. Doch wie gerade alles aufs
beste geordnet ist, kommt die Nachricht, daß der herbeigeholte
Skandinavier im Anmarsch ist. D a die Heruler Justinian und seine
guten Mannen so bemüht haben, wollen sie nun auch zeigen, daß
sie des ihnen bewiesenen Vertrauens würdig sind: sie folgen mit
Begeisterung ihrem Oberhaupt ins Feld, bereit, dem Spätgekom­
menen den Garaus zu machen. Unglücklicherweise haben sie in­
zwischen eine ruhige Nacht, in der sie sich die Sache überlegen
können, und die benutzen sie dazu, zur Partei des Weithergekom­
menen überzugehen und es dem kaiserlichen Kandidaten selbst zu
überlassen, den Weg nach Byzanz zurückzufinden. — So weit die
Schilderung des antiken Historikers.
Eine höchst kuriose Geschichte, die jedoch durchaus den Stempel
der Wahrscheinlichkeit trägt. Derartige kaleidoskopische C harak­
tere finden ihresgleichen nur in den Berichten der Europäer über
das, was sie bei wilden und barbarischen Völkern erlebt haben.
Die Analogie mit den Untersuchungen moderner Ethnologen er­
höht die Wahrscheinlichkeit, daß Prokop einfach notorische Tat-

168
Sachen berichtet; aber dieser Vergleich läßt auch die Möglichkeit
zu, daß Prokop eine verborgene Regel, auf die sich die Taten der
Barbaren bezogen, nicht gesehen hat. Die Erklärung liegt zum
Teil in den politischen Beziehungen zwischen den Herulern und
dem Kaiser in Byzanz, zum Teil auch, und zwar hauptsächlich, in
der geistigen Abhängigkeit des Volkes von dem rechten König,
dem König von Gottes Gnaden, wie wir sagen mögen, oder aus
des Heils Gnaden, wie die Heruler hätten sagen können. Jordanes
hat das monarchische Prinzip in seiner schlichten, mittelalterlichen
Art so formuliert: Die Goten sahen in ihren Adelsfamilien etwas
Höheres als Menschen, nahezu H albgötter, „die, in deren Heil sie
gleichsam siegten“ .
In Schweden lebten der König und sein Volk offen und ehrlich
zusammen, ohne Illusionen. Die Grundparagraphen des Westgöta-
gesetzes, die sich auf die Gerechtsamen und Pflichten des Königs
beziehen, sagen: Die obersten Schweden sollen den König fest­
nehmen und ihn fortjagen. Und wenn wir diese bündige Be­
stimmung mit Snorris Beschreibung der Thingversammlung bei
U psala vergleichen, finden wir hierin eine eindrucksvolle histo­
rische Illustration zu dieser Regel. Bei dieser Gelegenheit redet
Thorgny, der Gesetzessprecher, den zornigen König wie folgt an:
„Jetz t wollen wir Bauern, daß du dich mit O laf dem Dicken ver­
söhnst und deine Tochter mit ihm verheiratest . . . Aber wenn du
nicht nach unsern Worten handeln willst, werden wir alle gegen
dich aufstehen und dich töten und keine Ungesetzlichkeit und kei­
nen Unfrieden von dir dulden. So taten unsre Vorfahren vor uns;
sie warfen fünf Könige in einen Brunnen, weil sie vor Übermut
strotzten, wie du jetzt uns gegenüber. Nun sage gleich, welches
Schicksal du wählst.“
Es ist keine große Herrlichkeit in einer Königsmacht, deren
Vertreter sich in diesem Ton anreden lassen muß. Indem der
Gesetzessprecher aber den historischen Präzedenzfall für einen
solchen Gehorsam seitens des Königs erwähnt, zeigt er unabsicht­
lich die Beziehungen zwischen König und Volk von einer anderen
Seite. Thorgny läßt König O laf wissen, welche Vorfahren er ge­
habt hat, Männer, die jeden Sommer auf Kriegszügen draußen
waren und sich die östlichen Länder unterwarfen: noch sind die
Erdwälle zu sehen, die sie drüben in Finnland, Estland und K ur­
land errichtet haben; diese Helden, fährt er fort, waren nicht zu
stolz, um dem R at anderer Männer zu lauschen. Thorgny hat

169
ganz redit. Aber wenn O laf von Schweden, der arme Schlucker,
seinen Vorfahren ähnlich gewesen wäre, hätte er ruhig andere um
einen Rat bitten können, ohne Furcht, in einen Frieden hinein­
gezwungen zu werden, der gegen seinen Willen ging. Leider wis­
sen wir von diesen Vorfahren O lafs nicht viel mehr, als was
Thorgny uns hier erzählt; soviel aber ist ziemlich sicher: die
Bauern waren es nicht, die diese Kriegszüge und Heerfahrten in
andere Länder hinein planten; es war der König. Erik der Sieg­
reiche, Björn und wie sie alle hießen, diese schwedischen Eroberer­
könige, ernteten sowohl Ehre wie Vorteile aus den Kriegszügen.
Die Bauern erhielten ohne Zweifel ihren Anteil an der Ehre und
vielleicht auch ihren Teil der Beute, aber die Vorteile des Land­
gewinnes können in der Wirtschaft des Bauernhofes nie so voll­
ständig wie am Königshofe ausgenutzt werden. Der König ver­
säumte zu Hause keine täglichen Pflichten, wenn er auf Zügen
abwesend war, aber die Bauern hatten wohl eigene Arbeit genug,
um im Sommer vollauf beschäftigt zu sein. Wenn also die Könige
die Worte der Bauern nicht haben vernachlässigen können, so
werden auch die Bauern die Worte des Königs willig gehört
haben, so viel dürfen wir wohl daraus schließen.
Diese Kraftprobe zwischen dem Sprecher der Bauern und dem
Upsalakönig steigert sich zu einem Symbol des germanischen
Königtums, worin sowohl seine eigentümliche Stärke wie seine
eigentümliche Schwäche scharf gekennzeichnet ist. Hier wie über­
all bei den nördlichen Völkern war es die Initiative des Königs,
die dem Volke die Aufgaben stellte. Er steht, und nicht nur vor
den Augen der fremden Chronisten, als der Eroberer da, von dem
die Pläne ausgehen, und zwar in der Form eines Befehls. Er
befiehlt, aber er hat über das hinaus, was wir seine Persönlichkeit
nennen könnten, nichts, worauf er sich stützen könnte, um seine
Befehle durchzuführen. Keine Statuten und keine Königspräro­
gative halten ihn aufrecht, wenn er anfängt, „Ratlosigkeit“ zu
zeigen. All seine Macht sitzt im festen Griff des überlegenen Heils,
versagt der einen Augenblick, dann kommt das Volk mit seinem:
„Wir wollen keine Ungesetzlichkeit von dir dulden“ , und in die­
sem Fall kann der König nur wenig unternehmen, das nicht unter
den Begriff Ungesetzlichkeit fiele. Aber solange die Pläne des
Königs mit der Kraft des Heils hervorgebracht werden, folgen die
Männer, führen seine Pläne aus, unterwerfen sich ohne hörbares
Murren Willkürlichkeiten und Beeinträchtigungen ihrer Freiheit.

170
Dann gibt es im Grunde nur wenig, was nicht unter den Begriff
Recht oder Gesetzmäßigkeit fiele.
Es kann auf den ersten Blick so aussehen, als wäre die Königs­
macht nicht fest im Volksleben verankert. Und doch ist die Wahr­
heit die, daß das Königtum eine Institution ist, die, von vorüber­
gehenden Launen abgesehen, durch keine Umwälzungen erschüt­
tert werden kann. Wer den Königssitz innehat, hat es in seiner
Macht, sich selbst zum Staat zu machen, und umgekehrt kann er
sich zu einem willenlosen Schatten des Staates umbilden; aber sich
selbst auslöschen kann er nicht. Während die Gesetze wachsen und
welken, steht das Häuptlingtum fest, weil das Geschlecht, dessen
Vertreter der König oder Häuptling ist, ein Heil von ganz un­
gewöhnlicher Art besitzt, nicht nur stärker und vielfältiger, son­
dern im Wesen grundsätzlich verschieden von dem aller anderen
Geschlechter.
Wenn das Volk den König wegfegt, dann ist die Ursache die,
daß es das Schwinden seines sa li, seiner Sieghaftigkeit, spürt, aber
das H eil selbst, das Heil eines Geschlechts, woraus sein persön­
licher Einfluß hervorquillt, das kann es nicht entbehren. Es weiß,
daß es gefährlich ist, den König zu verstoßen; er hat etwas Be­
sonderes in sich, das nirgendwo sonst im Lande zu finden ist, ein
Heil, auf das es sich verlassen kann, und zwar mit einem Ver­
trauen, das ganz unten in den tiefen Schichten der Seele verwurzelt
ist, wo nicht nur der Lebensmut sitzt, sondern auch die Lebens­
furcht. Mag auch der einzelne Inhaber des Titels degenerieren: an
seinem Geschlecht hält das Volk doch fest. Es muß einen Vertreter
dieser außerordentlichen Ham ingja im Kampfe dabei haben, sonst
ist all seine Tapferkeit vergebens. Ein Kind aus dem Königs­
geschlecht konnte mehr ausrichten als eine Schar von mutigen und
tüchtigen Kriegern. Der kleine König Ingi, das arme Kind, wurde,
zwei Jahre alt, in die Falten von Thjostolf Alasons Mantel ge­
hüllt und unter dem Banner in der Schlacht vorangetragen, die
sein Recht auf Norwegen entscheiden sollte. Das Heil wohnte
offenbar in ihm, denn die Männer, die ihn trugen, siegten an
jenem Tage; aber es war doch zu zart, um alle Püffe und Stöße
zu vertragen: seine Beine und sein Rücken waren nachher nie mehr
gesund.
Auf dieselbe Weise benutzte die fränkische Königin Fredegunde
ihren kleinen Sohn, Chlotar, als Schild gegen das Unheil. Sie hatte
ihren Mann, König Chilperich, töten lassen, um ihren Sohn an

171
seine Stelle zu setzen. Jetzt kam als Rächer König Chilperichs
Bruder über sie, der zahlreiche Verbündete hatte. Fredegunde
setzte alles auf einen Wurf, wagte einen Überfall bei Tagesgrauen
und siegte; aber sie hatte auch während des ganzen Kam pfes
selbst den kleinen Chlotar mitten im Heer auf dem Arm getragen.
Wenn wir nun aber die Sonderstellung des Königsheils derart
hervorheben, werden wir mit unsern modernen Vorstellungen, die
immer Kategorien bauen, unweigerlich die germanischen Könige als
eine Gattung zusammenfassen und das Königsheil als etwas Ab­
solutes in der germanischen Kultur hinstellen. Und so verlieren
wir das eigentliche Geheimnis aus den Augen, daß das Heil jedes
Königs etwas ganz Besonderes war, das seine Bedeutung eigenen
individuellen Kräften verdankte.
Die Geschichte des norwegischen Königtums, sein jahrhunderte­
langes Ringen mit dem alten Häuptlingstum, das durch die H er­
sen oder Gaukönige vertreten wurde, kann als eine großartige
Erläuterung der Individualität des Königsheils dienen. Die Könige
in Norwegen waren ihrer Macht und Stärke wegen berühmt. O laf
Tryggvason regierte, scheinbar, als Selbstherrscher: er „zwang
Norwegen, das Christentum anzunehmen“ ; die nicht wollten wie
er, verstümmelte er, tötete er, oder er schickte sie H als über K opf
aus dem Lande; er konnte auf den abenteuerlichen Zug nach
Wenden hinausziehen von den Mächtigen Norwegens mitsamt
ihren Flotten begleitet. Aber in den Sagas steht O laf bei weitem
nicht immer als derjenige da, der über den Willen des Volkes und
der Volkshäuptlinge triumphiert.
Sobald der König sich in die Länder hineinwagt, die nicht im
engsten Sinne zu seinem Erbgut gehören, treten die Großbauern
des Bezirks als seinesgleichen gegen ihn auf und stellen Bedingun­
gen. Als O laf Tryggvason mit seinem Bekehrungsvorschlag auf
dem Gulathing erscheint, erhält er von ölm od dem Alten die
Antwort: „Wenn du vorhast, uns zu zwingen, unsre Rechte zu be­
einträchtigen (das heißt: den Rechtszustand, in dem wir leben)
und uns zu unterjochen, dann wollen wir mit all unsrer Macht
widerstehen, und der Sieg mag dann den Ausschlag geben. Aber
wenn du es uns Verwandten lohnend machen willst, dann könntest
du dir unsere Dienste gewinnen.“ Sie setzen keinen geringeren
Preis für ihre Loyalität als eine Heiratsverbindung mit dem könig­
lichen Hause Norwegens und verlangen die Schwester des Königs
für ihren Verwandten Erling Skjalgson. Der König sieht gleich das

172
Ehrenvolle in diesem Vorschlag. O laf hält nun mit den Bauern ein
neues Thing ab, um die Religionsfrage zu erörtern, und als ölm od
und der neue Schwager des Königs, Erling Skjalgson, mit ihrem
ganzen Sippenkreis den Vorschlag des Königs unterstützen, „da
traute sich kein Mann zu widersprechen, und das ganze Volk
wurde christlich gemacht“ . Bei dieser Gelegenheit war es, daß
Erling Skjalgson die Jarls würde mit diesen berühmten Worten aus­
schlug: „Meine Verwandten sind Hersen 1 gewesen.“ Später war
O laf der Heilige auf ähnliche Weise genötigt, zu einem Vergleich
mit Erling zu gelangen, und was dieser Vergleich bedeutete, zeigt
sich bei einer späteren Gelegenheit so deutlich, wie man sich es
wünschen kann, indem Erling tatsächlich ein Heer auf die Beine
stellt und an der Spitze von ein paar tausend Mannen erscheint,
um seine Ansprüche geltend zu machen.
Was wir hier sehen, ist die Kraftprobe zwischen dem alten G au­
königtum und dem neuen Reichskönigtum. Und die Kleinfürsten
sind, wo sie auf eigenem Boden stehen, die stärkeren. Das Volk
folgte ihnen scheinbar blind, „wollte nichts anderes, als was sie
sagten“ , stemmte die Schultern fest unter die Forderungen, die der
Häuptling stellte, und oft setzte es sie wirklich durch, denn die
Männer taten, was sie taten, in vollem Vertrauen auf das Heil,
das ihren H äuptling beseelte. Die Großbauern verließen sich auf
sein Heil, weil sie seine Kraft in sich selbst gefühlt hatten. Diese
Fürsten gehörten einem Geschlecht an, das Generation um Gene­
ration den Mittelpunkt im Leben des Gaues gebildet hatte: das
Geschlecht hatte Reichtum und Heil genug gehabt, um einsame
Abenteurer aufzunehmen, ihnen einen Platz an seinem Tisch zu
geben und sie so mit Kraft zu erfüllen, daß sie seine Kämpfe aus­
fochten; es hatte Macht genug gehabt, um Heil auszustrahlen über
die, die auf eigene Kosten das Feld bebauten und das Vieh hüte­
ten; Fruchtbarkeit und Fülle sickerte aus seinen Äckern auf die
der anderen hinüber, in dem Kielwasser dieser Verwandten segel­
ten die anderen mit gutem Fahrwind, in der Kraft dieses Hoch­
geschlechts siegten sie, im Zeichen ihres Heils und ihrer Klugheit
versöhnten sie sich. Der Herse war ebensowenig wie der Landes­
könig ein unumschränkter Herrscher, vielleicht sogar noch weni­
ger; er hatte nicht viel zu befehlen. Aber im Grunde war er mäch­
tiger als ein Despot. Das Heil seines Geschlechts war mit den

1 Anm. d. Übers.: Kleinkönige.

173
alltäglichsten Handlungen der anderen Geschlechter vielfach ver­
schlungen, mit ihrer friedlichen Arbeit und mit ihrem Zwist. Er
sprach Recht unter ihnen und konnte das tun, weil er die alten
erprobten Worte des Gesetzes und dessen Geist als lebendige Kraft
in sich trug. Er war die Verkörperung des Gemeinschaftsgeistes,
würden wir vielleicht sagen; aber jetzt fühlen wir ja deutlich, daß
diese moderne Formel zu flach ist, um seinen ganzen Einfluß aus­
zudrücken, sie muß ersetzt werden durch die alte Wendung: er
hatte Rechtsheil in sich. Er war Gegenstand einer Abhängigkeit
von solcher Tiefe, daß sie in dem Selbständigkeitsgefühl der A b­
hängigen verankert war.
H arald Schönhaar hatte Norwegen zu einem Königreich ver­
einigt und die Gaufürsten unterworfen. Aber weder er noch seine
Nachfolger vermochten diese zu vernichten; das Heil der U surpa­
toren vermochte nicht einmal durch das Heil der Hersen durch­
zudringen und im Volke selbst Wurzeln zu schlagen. D as alte \fer-
hältnis zwischen der Gaubevölkerung und ihren Häuptlingen
mußten die Haraldsprößlinge unangetastet lassen, so daß sie über
einen großen Teil von Norwegen in Wirklichkeit nur mittelbar
herrschten. Lange Zeit hindurch verblieb Norwegen eine Sammlung
von Ländern, und die „Völker“ bewahrten die alten Verbindun­
gen mit ihren Häuptlingen: erst durch diese bekamen sie Fühlung
mit dem Großkönig. Immer wieder zeigt sich ein Zug von Fremd­
heit, ja sogar von Gleichgültigkeit in ihrer Haltung dem „aus­
ländischen“ König gegenüber. Was war er den Bauern? Sie fühlten
nicht sein Heil den Boden unter ihren Füßen bewegen, das Heil
ihrer Hersen aber bestätigte sich in ihren Ernten.
Das Selbständigkeitsgefühl der Länder und Völker unter H arald
und seiner Dynastie bis in die Zeit der großen Thronkäm pfe
hinein kann nicht leicht stark genug betont werden. Aber je mehr
wir es hervorheben, desto schärfer beleuchten wir die Macht eines
Königs wie O laf Tryggvason. Sein Siegeszug durch Norwegen
und seine Fahrt zu den Wenden, wo er sich die Mitgift seiner
Königin sicherte, treten vor diesem Hintergrund in ihrer wahren
Großzügigkeit hervor. Auf andere Weise, aber nicht weniger deut­
lich, offenbart die Macht des Königs sich in der Schlacht von
Stiklastadir, wo das Großkönigtum trotz des Falles O lafs des
Heiligen, trotz des Sieges der Bauern, seine Apotheose feiert. Ver­
gleichen wir dieses Treffen zwischen König und Hersen mit jenem
anderen A uftritt zwischen O laf Tryggvason und Erling auf dem

174
Gulathing, können wir nicht umhin, zu sehen, daß die politischen
Verhältnisse in Norwegen sich verändert haben; dies große Ereig­
nis kann nur verstanden werden unter Berücksichtigung des Ein­
flusses der europäischen Geschichte auf das Wachstum der Königs­
macht. Aber O lafs des Heiligen Überlegenheit ist von weit größe­
rem Maß, als es irgendeine Generation aufbauen könnte, auch
wenn sie mit der Eilfertigkeit einer Übergangszeit Revolution auf
Revolution häufte. Um fest begründet zu sein, muß die historische
Erläuterung dieser Jahre unterbaut werden von einfühlendem
Verständnis für die instinktive Ehrfurcht des Volkes vor dem
Großkönigsheil und für das unreflektierte Vertrauen des Groß­
königs in sein eigenes Heil. Durch das Ineinandergreifen dieser
Tendenzen und religiöser und politischer Ideen, die von auswärts
kamen, verwandelte Norwegen sich von einem germanischen
Königtum in einen mittelalterlichen und christlichen Staat. Der
Tod O lafs bildet einen Wendepunkt in der norwegischen Geschichte,
weil alle Strömungen der Zeit, nationale wie kosmopolitische, in
O laf zusammenliefen und ihn zu einem königlichen Heiligen er­
hoben.
Snorri Sturlusons Beschreibung des Streites zwischen O laf und
und den Bauern ist ein würdiges Gegenstück zu seiner Schilderung
des Auftrittes auf Vestfold. Die Worte und die Begebenheiten
jener denkwürdigen Tage haben eine Schwere, die weit über den
Augenblick hinausweist, als fänden die großen M äh te, die die
Geschichte vorwärts steuern, Ausdruck durch Menschen und
Menschenmassen. Die Schilderung vereinigt eine innere Wahr­
haftigkeit, die nur aus naher Vertrautheit hervorgehen kann, mit
einer Genauigkeit in der Ausführung der äußeren Tatsahen, wie
sie bloß ein treues Referat zu bewahren vermag. Das erste, was
uns auffällt, ist die vollkommene Hilflosigkeit der Bauern und
ihrer Führer: die Männer laufen hin und her, fragend, tastend,
keiner der Häuptlinge wagt es, die Führung zu übernehmen, der
eine sh iebt die Verantwortung auf den andern. Auf der Seite
O lafs dagegen trägt alles den Stempel der Ruhe, des vertrauens­
vollen Abwartens, der Ordnung, des Gemeinschaftsgefühls. O laf
besitzt die sammelnde geistige Kraft, die das ganze Heer in einem
elastishen Griff trägt. Den gegnerishen Häuptlingen fehlt Sicher­
heit, und sie fühlen deutlih ihre S h w ä h e . Im Bauernheere droht
die Spannung des Heils jeden Augenblick zu erschlaffen. Jeder
einzelne der kleinen Häuptlinge k ö n n t e wohl für s ih allein

175
stärker sein als der König, aber gesammelt können sie nicht gegen
ihn aufkommen. Zu Hause in ihrem Gau mögen sie wohl alles
mögliche leisten können, aber außerhalb sind sie nicht viel wert.
Hier zeigt sich das Geheimnis von O lafs Abstammung: das Heil
des Herrschers war von solcher Ausdehnung und Größe, daß es
seine Strahlen über ganz Norwegen hinwegschicken und auf ein
ganzes Heer verteilen konnte, ohne abzunehmen. O lafs Heil war
nicht von einem besonderen Boden oder von einem besonderen
Bund von Männern abhängig, es war überall siegreich, wo der
König sich zeigte.
Es scheint ein "Widerspruch darin zu liegen, daß des Königs Heil
ganz Norwegen umfassen konnte, aber plötzlich seine Kraft verlor,
wenn es auf einen engen Bezirk Anwendung finden sollte. Aber
der Widerspruch besteht nur für uns, weil wir die beiden Arten
von Heil nur nach ihrer Kraft beurteilen und nicht sehen, daß der
entscheidende Unterschied in ihrem Wesen liegt. Das Heil des
lokalen Häuptlings war absolut, konnte aber nur der Seele des
Tals, des Bezirks und des Stammes entsprechen; es konnte natür­
lich auch hinreichen für die Fischgründe außerhalb des Territoriums
des Gaues oder für die Seefahrten der Männer des Gaues; aber
um andere „Länder“ und andere Thingbezirke zu umspannen,
müßte es wohl erst eine Verwandlung durchmachen, es müßte erst
die fremde Kraft in sich aufsaugen und sie assimilieren. Jedes Heil
hat seine eigene Art. Mit einem ausgeprägten Viehheil auf Fisch­
fang zu ziehen, würde dasselbe Resultat zeitigen, als wenn man
versuchte, Dorsche mit einer Pflugschar zu angeln. Im Osten herr­
schen und Fruchtbarkeit spenden zu wollen mit einem Heil, das
im Westen zu Hause war, war ebenso verdreht und ebenso un­
möglich; um Norwegen zu verteidigen oder zu erobern, war das
Heil eines H arald notwendig. Jarl Hakon, der dem mächtigen
Geschlecht angehörte, das am Ende des zehnten Jahrhunderts auf
H ladir in der Nähe von Drontheim saß, hatte, als H aralds D yna­
stie in Verfall kam, die Königsgewalt in Norwegen an sich geris­
sen, und er brauchte seine Macht mit ziemlicher H ärte und beging
viele Übergriffe, so daß das Volk sich empörte. Sein Griff um
Norwegen war unsicher, denn es war nur zusammengehalten von
seiner persönlichen Verschlagenheit und der Stärke seines Charak­
ters; aber trotz aller Aufruhrlust waren die Norweger doch tat­
sächlich gezwungen, die Stunde abzuwarten, wo O laf Tryggvason
als würdiger Gegner sein Heil gegen das Heil der Jarle von

176
H ladir stellen würde. Als O laf nach Norwegen kam, wurde er,
wie die Saga erzählt, von den Bauern mit folgenden Worten emp­
fangen: „ . . . wir dachten nach der Schlacht mit den Jomsburg-
wikingern, daß niemand sich mit Jarl Hakon messen könnte in
Siegesheil und in vielen anderen Eigenschaften, die ihn zum H äupt­
ling geeignet machten; aber . . . jetzt haben alle seine Frechheit so
satt bekommen, daß er Reich und Leben verlieren soll, sobald wir
ihn auffinden. Wir glauben, daß dies mit deiner H ilfe und deinem
Heil geschehen soll, Heiling wie du bist, da du im ersten Anlauf
seinen Sohn Erlend überrannt hast. Deshalb bitten wir dich,
H äuptling zu sein für diese Schar.“ In dem Satze: „Wir glauben,
daß dies mit deiner H ilfe und mit deinem Heil geschehen soll . .
finden wir ungefähr hundert Jahre norwegischer Geschichte er­
klärt. Sollen wir aber genauer bestimmen, was H aralds Stammes­
heil war, können wir nur sagen: Die H am ingja eines norwegischen
Königs besteht darin, König von Norwegen zu sein, fähig zu sein,
bald in Viken, bald in Drontheim zu sitzen, fähig, mit einem Heer
von Viken-Kriegern ebensogut wie mit einem Heer von Dront-
heim-Kriegern siegen zu können, fähig, durch Norwegen zu
ziehen, von Landschaft zu Landschaft, von einem Thing zum
anderen, in einer Art von friedlichem Erobererzug, so wie es sein
Stammvater einst in vollem kriegerischen Ernst tat, als er die
Gaukönige unterwarf. Und die einzige Erklärung für dies Heil ist
die Geschichte, die berichtet, wie H arald es geschaffen und seine
Söhne es behauptet haben.
Dieser Glaube an das individuelle Heil als etwas, das gleich­
zeitig Wille und Impuls, Notwendigkeit und Befähigung ist,
bricht besonders glanzvoll in dem letzten großen Repräsentanten
der Dynastie durch. Sverrir, der unbekannte Priester von den
Färöern, hatte einen doppelten K am pf zu bestehen, als er in
Norwegen landete, um die Krone mit der unbewiesenen Behaup­
tung zu fordern, daß er durch seinen Vater, Sigurd Mund, von
H arald Schönhaar abstamme. Die hingebende Treue, die jedem
Thronforderer entgegentrat, wenn er sich nur als Nachkomme
H arald Schönhaars vorstellen konnte, mußte in diesem Falle erst
vom Eroberer selbst im Volke aufgebaut werden. Durch seine
Siege mußte er in den Wankelmütigen Schicht um Schicht die Ge­
wißheit aufbauen, daß das Heil, das ihn trug, das einzige ent­
scheidende, O lafs eigenes Heil sein mußte. Seine Genialität zeigt
sich darin, daß er mit allen Mitteln der Rede, der List, der Ver­

177
schlagenheit, ja des Betrugs, die Bestätigung durch Tatsachen so
weit wie möglich auf seine Seite herüberzwingen und fest in das
Volksbewußtsein einzuhämmern versteht. Und dieser geistige
K am pf ist um so eindrucksvoller, als er nie klar vor das Bewußt­
sein tritt, sondern zwischen instinktiven Empfindungen im König
sowohl wie im Volke ausgefochten wird. Ob Sverrir selbst an sein
ererbtes Heil glaubte oder nur mit einem wirksamen Glauben ope­
rierte, der schlummernd im Volke vorhanden war, ist eine über­
flüssige Frage. Es kommt in der Geschichte jedes „Glaubens“ ein
Zeitpunkt, wo er von starken Persönlichkeiten als Waffe benutzt
werden kann, von solchen, die scharfsichtig genug sind, um sich
nicht von seiner Begrenztheit Fesseln auf erlegen zu lassen; das
Geheimnis ihres Einflusses liegt darin, daß sie sich rein verstandes­
mäßig über ihre Umgebung erheben und zur gleichen Zeit aus
einem Glauben, der in seiner Art ebenso instinktiv und positiv ist
wie das blinde Vertrauen der Masse, Kraft zu ziehen vermögen.
Ein solcher Mann war Sverrir.
Sverrir ist die interessanteste Persönlichkeit in der Geschichte
Norwegens, weil er die alte Vorstellung vom Königsheil in moderne
Theorien über die Rechte und das Wesen des Königtums verwan­
delt. Seine eigentümliche Stellung als Vertreter einer Übergangs­
zeit offenbart sich in dem Widerspruch zwischen seinen deutlichen
Vernunftgründen und ihrer logischen Begründung. Sobald er an­
fängt, seine Ansprüche zu rechtfertigen, entgleist er und stellt eine
Erläuterung der Psalmen Davids als prophetische Voraussagung
seines eigenen Schicksals hin; er nennt sich selbst den Boten Gottes,
ausgesandt, um die Übermütigen zu züchtigen, die sich in den
Königssitz gesetzt haben, ohne königlichen Blutes zu sein; erst in
der Theorie von der ewigen Vorbestimmung des Königs nach Got­
tes R at, von seiner Berufung und von seiner Pflicht, der Berufung
zu folgen, seiner Bestimmung, eines Tages vor Gott Rechenschaft
ablegen zu müssen über das ihm anvertraute Pfund, findet er
einen festen Stand. Aber hinter diesem Theoretisieren steht die
Überzeugung, daß jeder Inhaber des Königsheils nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht hat, seinen Teil des Königtums zu
fordern, und daß alle Gesetze und jedes Recht im Lande vor dem
Machtanspruch des königlich Gebürtigen zurücktreten müssen.
„O lafs Gesetz“ ist das Symbol seiner königlichen Forderung. Mit
anderen Worten, Sverrirs Leben dreht sich noch um die Voraus­
setzung, daß in jedem H aralds- oder Olafssprossen eine Kraft

178
steckt, die ihn zwingt, König von Norwegen zu werden oder zu
sterben. Die königliche Geburt ist nicht Wille o d e r Pflicht, auch
nicht Wille u n d Pflicht, sondern gleichzeitig Pflicht mit der
Spannkraft des Willens und Wille mit der Unerbittlichkeit der
Pflicht. Die königliche Geburt ist eine Naturkraft von derselben
wesentlichen Zielstrebigkeit wie die, welche die Pflanze zwingt,
ihre Wurzeln in der Erde zu befestigen, nur daß die Pflanze ihre Be­
stimmung in mancherlei Boden erfüllen kann, das Heil aber nur
einen einzigen Platz hat, wo es leben kann. Der königliche Wille
kann nach Sverrir nur als Äußerung einer Kraft gedacht werden,
die Königstaten um sich streut, die von keinem anderen als nur
von diesem einen, dem Haraldssproß, ausgeführt werden können.
Der Färöer-Priester zwang das Volk zu sagen: „Sverrir ist
scharfsichtig, Sverrir hat Siegesheil“ - und die Gegenpartei konnte
als Erwiderung nun nicht sagen: „Viele sind scharfsichtig, viele
haben Siegesheil“ , sie mußten auf eine Schmähung seiner Religion
zurückgreifen, indem sie sagten: „M it des Teufels Kraft schmiedet
er seine Pläne und schlägt er seine Schlachten.“
H aralds Königtum zeigt uns das Wesen des Heils und der mit
dem Heil verbundenen Eigenschaften deutlich erkennbar im Lichte
der Geschichte; es zeigt uns die absolute Individualität des Heils,
die auf keine andere Weise erklärt noch charakterisiert werden
kann als durch Erbschaft: was wir von unsern Vätern erbten; was
sie die K raft hatten, zu sein, zu tun. Der Unterschied zwischen
arm und reich beruhte nicht darauf, daß jene nur eine kleine
Menge H eil bekommen hatten, sondern darauf, daß ihr Heil arm
und wenig dehnungsfähig war, nur wenige Möglichkeiten besaß,
und diese waren auch noch begrenzt und schwach. Das Heil des
Großbauern war wie er selbst, breit und sicher, reich an Vieh und
Korn, strahlend in prächtigen Kleidern und Waffen; das Heil des
Häuptlings fügte noch die größere Macht hinzu, die Prachtlust,
die K raft zum Siegen. Aber hiermit ist noch nicht das Entschei­
dende gesagt, nämlich, daß das Heil jedes Bauern, jedes H äupt­
lings, eine Persönlichkeit war mit besonderen Eigentümlichkeiten,
ihrer Stärke und Schwäche, ihren Absonderlichkeiten und durch
und durch an einen bestimmten Besitz gebunden. Wir müssen
wiederum die Einzahlform mit ihrer stillschweigenden Annahme
der Gemeinsamkeit in menschlichen Dingen aufgeben und statt
Heil die Mehrzahlform H e i l e setzen, um zu betonen, daß diese
Persönlichkeiten nicht Ausstrahlungen irgendeines Urprinzips sind.

179
Oder wir können an Stelle des Wortes Erbe das Wort Ehre
setzen. In Ehre haben wir genau das, was das Heil zu vollführen
imstande sein muß, um sich zu behaupten. Von den Vorfahren hat
die Sippe ihr Ansehen erhalten, von ihnen ihre „Ideale“ , die Norm
jedes Betragens: wie kühn, unternehmend, unbiegsam, edelmütig,
unversöhnlich, freigiebig die Verwandten sein sollten, wieviel Vieh­
heil, Ernteheil, Fahrwindheil sie haben sollten. Von ihnen hatte
die Sippe auch den Bestandteil des Heiles geerbt, der Freundschaft
und Feindschaft genannt wird. Die Ehre, und mit ihr das Heil,
geben, wir wir gesehen haben, ein Bild von der Welt der Sippe.
Das Heil trägt als Gegenbild seiner Umwelt auch deren scharf­
geschnittene Züge.
Der Satz, daß Verwandtschaft mit Menschentum identisch ist,
der erst eine zweckmäßige Umschreibung zu sein schien, entpuppt
sich mehr und mehr als die buchstäbliche Wahrheit. Alles, was im
menschlichen Wesen vorhanden ist, trägt den Stempel der Ver­
wandtschaft. Rein äußerlich gesehen kann ein Mensch überhaupt
nur als Mitglied einer Sippe einen Platz in der Welt finden - nur
Neidinge sind freie und einzelne Wesen. Und der allerinnerste
Kern im Menschen, sein Gewissen, sein moralisches Urteil sowohl
als auch seine Weisheit und Klugheit, seine Fähigkeiten und sein
Wille haben ein besonderes Sippengepräge. Sobald der Mann aus
dem „Frieden“ heraustritt und sich von dem Kreise, in welchen er
hineingeboren wurde, losreißt, hat er keine Moral, weder Rechts­
empfinden noch Richtlinien für sein Denken. Außerhalb der Sippe
oder in dem Zwischenraum zwischen den Sippen ist alles leer. D as
Heil, oder, wie wir vielleicht sagen würden, die Vitalität, ist keine
gleichmäßig verbreitete Energie; sie ist an gewisse Zentren ge­
knüpft und erfüllt das Dasein als Ausstrahlungen von diesen vita­
len Zentren der Sippen.
Die Kraft zum Leben kommt von innen, quillt aus einer Quelle
inmitten des kleinen Kreises hervor und überflutet von dort aus
die Welt. Um seinen Platz als Mann ausfüllen zu können, muß
der Germane zuerst Verwandter sein. Die Moral, das Gefühl für
Recht und Gesetz, das ihn in einer Staatsgemeinschaft, einem
Kriegerbund, einer religiösen Gemeinschaft als Mitglied auf seinem
Platz hält, ist durch seine Gefühle als Verwandter bedingt. Je
sippschaftgebundener er ist, desto fester wird sein Gemeinschafts­
gefühl sein; denn seine Loyalität kann nichts anderes sein als das
Friedensgefühl, auf einen größeren Kreis ausgedehnt.

180
Vergleichen wir die alte Kultur in dieser Beziehung mit der
Zivilisation unserer Zeit, so zeigt sich das Wesen des Heils, sowohl
in seiner Expansion wie in der Konzentration. Wir unsrerseits
müssen immer erst Menschen sein, bevor wir Verwandte werden
können. Unser Glück im engeren Kreise ist von einem umfassen­
deren Leben außerhalb von ihm abhängig, und wir müssen in die
Welt hinaus, um Nahrung für unser Heimleben zu finden. Wir
können keine Fortschritte in der Welt machen, weder unserm
Beruf nachgehen noch unsren Egoismus oder unsre Familienvorur­
teile pflegen, ohne mit der übrigen Menschheit in Konflikt zu
geraten, wenn wir uns nicht bis zu einem gewissen Grade dem,
was wir Menschheit nennen, assimilieren. Bei uns ist das Familien­
leben nur möglich, wenn die Individuen die Güter der Menschheit
nach Hause schleppen und ihnen den Familienstempel aufdrücken,
und es ist das Zeichen einer egoistischen Natur, Gedanken und
Ideale auf dem größeren Felde der Gesellschaft aufzulesen und
dann nach Hause zu eilen, um sie in Familiensegen umzusetzen.
In unsrer Kultur bedeutet das einseitige Familienleben eine Ver­
engung und eine ständige Verminderung jedes geistigen Wertes; es
kann nur zur Verarmung der Gedanken und Erschlaffung der Ge­
fühle führen. Der Familienegoismus ist aus dem einfachen Grunde
ein Frevel, daß er in sich unmöglich ist; er kann nur ein Schma­
rotzerdasein führen. Er trägt sein eigenes Urteil in sich; denn eine
logische Durchführung seiner Grundsätze führt zum Selbstmord,
gerade wie ein Staat von Amazonen oder ein Staat von Männern
ohne Frauen sich selbst aufheben würde.
Für den alten Sippenmann gehen die Linien in der entgegen­
gesetzten Richtung. Es ist der Friede, der seinen Charakter bildet,
und eine Verinnerlichung des Friedens bedeutet eine Vertiefung
seines Charakters. Stärkung der persönlichen Behauptung von Ehre
und Sippe bringt größere Tiefe und größere Spannung in die
moralischen Gefühle und den moralischen Willen, weil sie eine
Bereicherung des Bewußtseins bedeuten. Je mehr in sich konzen­
triert und sui generis ein Sippenmann ist, um so stärker ist seine
Persönlichkeit und um so größer sein Wert als Mann.
Das Sippengefühl ist die Grundlage alles geistigen Lebens und
das einzige Mittel, mit einer größeren Welt in Verbindung zu
kommen. Dieselbe Macht, die das germanische Individuum zu
einem Familienmitglied werden läßt, hindert es daran, lediglich
ein Familienmitglied und nichts weiter zu werden. Durch die

181
Stärke und Tiefe des Friedens und der Ehre werden die Sippen
in Bündnisse verschmolzen und größere Gemeinschaften ins Leben
gerufen. Die Thinggemeinschaften zum Richten und Schlichten und
das Königreich oder der Staat für gemeinsame Unternehmungen
sind Institutionen, die das Wesen des Heils erfordert. Wer die
Stärke und Tiefe des Friedens und der Ehre jener Männer emp­
funden hat, läuft nicht Gefahr, die Sippe bei seiner historischen
Betrachtung zu benachteiligen; aber er wird auch nicht in die Ver­
suchung geraten, sie als d i e Einheit des Daseins aufzustellen, als
das Geheimnis, das alles in der Gesellschaft und im Leben unsrer
Vorfahren erklärt.

182
D ie W elt

Wenn man einen Gegenstand lange und aufmerksam betrachtet


hat, spürt man das Bedürfnis, ihn gegen seinen rechten Hinter­
grund zu sehen. Die äußeren Maße des Gegenstandes müssen als
relative Dimensionen ausgedrückt werden, damit er als ein Teil
in die Wirklichkeit der Welt eingehen kann.
Demjenigen, der vorurteilsfrei die Rache, wie sie war, und die
Ehre als eine die Menschen bewegende Kraft nacherlebt, so roh
und erhaben, wie sie wirklich gewesen sind, dem werden unsre
Vorfahren im Lichte neuen Lebens erscheinen. Wenn es uns ge­
lingen könnte, diese Männer, deren Leben in Ehre und Heil wir
kennengelernt haben, als einen Teil der Welt, und das Heil als
wesentliches Glied unter den menschlichen Begriffen vom Leben
überhaupt zu sehen, dann würden uns sowohl die Menschen wie
ihr Heil eine tiefere Realität gewinnen.
M idgard - altisländisch m id gard r - wurde die Welt genannt, in
der die Menschen leben, und sie dehnte sich weit nach allen Seiten.
In der äußersten Ferne, wo der Himmel sich auf die Erde hin­
untersenkt, auf die die Menschen treten, oder auf das Meer, in
dem sie fischen, hat die Menschenwelt ihre Grenzen. Der Weg
dorthin ist weiter, als der Heimsasse gewöhnlich glaubt. Man kann
Tag auf Tag, fünf oder vielleicht mehr Tage nacheinander gehen
oder segeln, bevor man zu den Bergen kommt, die die Menschen
umschließen, oder zu dem tiefen Abgrund, in den die Gewässer
rauschend hinabstürzen.
Dort an den Grenzen Midgards treffen sich Wege von unten
und von oben. Einer wendet sich steil rückwärts, aber wohin er
führt, erfahren wir nie recht. Es scheint, daß nie einer den Weg
gegangen ist. Die Brücke - der Regenbogen - , die bald Bifröst,
bald Bilröst genannt wird - , brennt nämlich lichterloh, man sieht
von ferne ihre glühenden Farben - und sie ist ungangbar für alle
Wesen, die nicht im Feuer leben können. Aber sie führt doch wohl
zu einem höher liegenden Lande, zu einem, das zu den Häupten
der Menschen, die in M idgard wohnen, liegt.

183
Auf der anderen Seite führt ein Weg abwärts nach der dritten
Welt, die sich sowohl von M idgard nach außen hin als auch unter
Midgard hinein erstreckt; der Weg fällt durch tiefe, dunkle Täler,
die vom Tosen eiskalter, schäumender Ströme erfüllt sind. In den
Tiefen ist es naßkalt und hohldröhnend, aber der Boden ist fest;
der Weg trägt sterbliche sowohl als auch tote Männer, und er ist
oft befahren worden, so daß man nicht im unklaren darüber zu
sein braucht, wohin er führt, und was man am Ende des Weges
findet. Die dritte Welt ist, soweit man weiß, von unendlicher Aus­
dehnung. Nichts hindert einen kühnen Abenteurer daran, in das
Land vorzudringen, das sich von M idgard aus in die vereiste
Tiefe hinabsenkt, wenn er meint, genügend Mut zu besitzen, um
dem Unbekannten entgegenzutreten, genügend Stärke und K lug­
heit, um sich einen Weg zu bahnen durch Gefahren, Hindernisse
und Versuchungen ganz anderer Art, als sie auf der Erde Vor­
kommen. Er muß ein starker Mann sein, denn hier wird Stärke
nach einem vielfach größeren Maßstab gemessen - und doch, wie
groß seine Kraft auch sein mag, sie wird ihm nur bei untergeord­
neten Dingen nützen; im übrigen aber muß er sehen, mit Geschick
und Witz durchzukommen. Doch das menschliche Maß an Witz
genügt audi nicht, denn alles, was er nun sieht, ist von ganz
fremder Art - er muß ein großer Errater sein.
Es werden kaum sehr viele sich so weit vorwagen, und einige
dieser Abenteurer, die sich von nichts abschrecken lassen, werden
wohl nie zurückkehren. Aber immerhin sind so viele wieder­
gekommen, daß man von Augenzeugen weiß, wie U tgard - oder
Außengard, wie diese Welt im Norden genannt wurde -, aussieht.
Diese Augenzeugen haben berichtet, daß das Licht, das über der
Erde scheint, erlösche, wenn man über M idgards Grenzen hinaus­
komme. Der Tag vergehe in Dämmerung mit wildzuckendem A uf­
leuchten, das blende und verwirre, die Dunkelheit jedoch nicht
zerstreue. Der Weg führe über feuchttriefende, reifbedeckte Berg­
hänge, von denen eiskalte Winde herabfegen, durch Flüsse, die,
gefüllt mît Gift und Schwertern, dahinschäumen. Ringsherum
sitzen Unholde, Wesen, die weder Tier noch Mensch sind, mit
stechendem Blick. Aus ihren Augen schieße ein unheimliches Licht
wie eine Flamme; aus ihrem Rachen steige beißender Atem in
dicken Wolken, und er sei so scharf, daß er einem Manne die
H aare auf dem Kopfe absenge und die Augen blende. Sie sitzen
da, Äser in ihren Krallen haltend. Ganz weit draußen lebe —nach­

184
dem, was man erzählt, denn so weit scheint niemand gekommen
zu sein - der Adlerjöte Hræsvelgr: wenn er von einer Leidie hoch­
fliegt, um sich auf eine andere hinüberzuschwingen, geht von der
K raft seines Flügelschlages ein Sturm aus, der weit über die Erde
hereinbraust.
Alles sei häßlich, unheimlich, unglückverheißend; voll von
Tucken für den, dessen Augen nur an menschliche Maße gewöhnt
sind. Die menschenähnlichen Gestalten, die sich draußen in der
Nebelfinsternis bewegen, seien so ungeheuer, daß man sie kaum
als lebendig erkenne, bevor es zu spät sei. Was eine Kluft zu sein
scheint, zeigt sich vielleicht als das Tor eines Hauses, und mitten
in ihm stehe ein Jöte, die Beine übers Tal gespreizt. In der Höhle
sitzen seine Weiber, grau und zottelhaarig, und stochern in einem
Feuer herum, in Stellungen, die die Häßlichkeit aller Glieder ver­
raten. Die Ströme, die der Wanderer durchqueren muß, seien an­
derer Art, als die Gewässer in M idgard; denn wenn er in sie
hineingehe, schwellen sie um ihn und seien wie lebendige, haß­
erfüllte Wesen. Und so sei alles dort von einem fremden und
feindlichen Willen erfüllt. Nichts sei, was es zu sein scheine. Alles
sei Blendwerk und Sinnestäuschung. Dinge, die tot scheinen, werden
durch Berührung lebendig.
N ur ein ganz besonderes Heil, das sich nicht nur durchzuwinden
und durchzusetzen verstehe, sondern auch in allem, was ihm be­
gegne, die verborgenen Eigenschaften erraten und ihnen mit einer
List ähnlicher, unirdischer Art entgegentreten könne, nur ein
solches Heil könne den Mann retten.
So sind die Erzählungen der Norweger von ihrem Utgard.
Weiter südlich, in Dänemark und Schweden, wo Felsen und Berge
weiten Feldern und fast undurchdringlichen Wäldern Platz mach­
ten, muß diese Welt eine ganz andere Gestalt gehabt haben. Mag
sein, daß sie an manchen Orten wie eine große Lichtung ausgesehen
hat, wo die Dunkelheit sich ringsum in Stämmen und Zweigen, zu
einer dichten Mauer verflochten, erhob. Hinter ihr ist der Ort, wo
die Friedlosen mit den Wölfen zusammen herumschleichen. Auch
dort ist Nebel und Finsternis. D a sind Pfade, die keine Wege sind,
weil sie nicht so sind, wie Menschenfüße sie austreten. D a sind
große Moortümpel unter unruhigen, verzauberten Wäldern. Ge­
witter steigen aus den Seen, wenn der Wind das Wasser emporhebt
und es als Unheilswolken über die Erde hineintreibt, so daß der
Tag sich verfinstert. Im „Eisenw ald“ hausen mißgestaltete Jöten-

185
weiber mit ihrer Brut; ihre Nasen und ihre Krallen sind scharf wie
Schwerter und ebenso geeignet, Menschen zu zerfleischen. Brut auf
Brut setzen die Vetteln in die Welt, Wolfe und Unholde durch­
einander. In dem sumpfigen Dunkel, wo jeder Zweig sich wie eine
Eisenkralle im Wanderer festhakt, strauchelt er blind umher, bis
er sein Leben als Beute irgendeines Unholds beendet. Vieh, das sich
da hinein verirrt, kommt zurück mit Zeichen, daß es angehaucht
worden ist, und es ist verdorben.
Man möchte vermuten, daß es eine dritte Auffassung von
M idgard gegeben hat, die vielleicht auf den weiten Ebenen vor­
herrschte, deren Grenze von Himmel und Erde gebildet wurde, wo
sie sich unmittelbar berühren. Die Gesdiichte von H adding und
seinem Besuch in der Unterwelt, wie Saxo sie wiedergibt, mag
vielleicht aus einem Lande stammen, in dem der H orizont die
Wände der Welt bildete. Man ging dann - wie viele zu anderen
Zeiten es taten - durch den Himmelsrand wie durch eine dichte,
dunkle Wolke, eine festgefügte Finsternis, und kam auf weite
Ebenen hinaus, wo alles gut und erfreulich für das Auge war.
Wenn man dort nichts Erschreckendes und Erschütterndes antraf,
war es nur, weil die Gefahren noch tiefer verborgen lagen. Ge­
meinsam für alles Unterirdische ist die Unberechenbarkeit, das
Verwirrende für Auge und Ohr. Der Ast wird zu einer Schlange,
wenn man ihn ergreift, und wie eine Schlange tötet er durch seinen
Biß. D ort sind Wesen, die dem Fremden den H als umdrehen kön­
nen, wenn sie ihn bloß anblicken. Früchte und Flüssigkeiten haben
sinnverwirrende Kraft. Man kennt nicht das Wesen der Dinge und
kann deshalb nicht durch richtige Maßregeln böse Folgen abwehren.
Im scharfen Gegensatz zu der Furcht vor dem Ödland jener
Welt steht die Freude über Midgard. Hier blicken die Männer mit
frohen Augen über den Acker hin. Im Beowulf heißt es von der
Menschenwelt: „Einer, der die Vorgeschicke der Menschen, die in
ferner Zeit geschahen, gut kannte, hat gesagt, daß der Allmächtige
die Erde geschaffen hat, die strahlenden Gefilde, von Wassern um­
rieselt; der siegreiche Gott hat Sonne und Mond als Lichter für die
Völker der Erde gesetzt und den Schoß der Erde mit Zweigen und
Laub bedeckt“ - , im Gegensatz zu dem Reich der Unholde, wo
steile Klüfte nur einen schmalen P fad für einen einzelnen Mann
offen lassen, wo unbekannte Wege über jäh abstürzende Felsen
hinabführen, die ein Unterschlupf vieler Unholde sind; freudloser
Wald hängt über dem grauen Gestein; seltsame Schlangen winden

186
sich im Wasser, und Trolle liegen lang gedehnt auf den Landzungen.
Diese Bilder aus dem Beowulf charakterisieren den Unterschied,
den die Germanen zwischen Land und „U nland“ machen. Es be­
deutet in diesem Zusammenhang wenig, daß der Dichter „das
Land“ mit fremden Worten beschreibt und seine Milde verherr­
licht, indem er es als im Ratschluß eines außenstehenden Gottes
gegründet, durch den Abglanz seines Schöpf er willens verschönert
darstellt - hier ist nur von dem entscheidenden Unterschied di«
Rede: der eine O rt ist öde, die Heimstätte der Bosheit und des
Unheils, der andere ist die Wohnung des Volkes, das in Heil, in
Frieden, in Ehre lebt. An Stelle der „strahlenden Gefilde“ des
angelsächsischen Dichters können wir ja ganz einfach die nüch­
terne Bezeichnung der Nordländer fjö ln ý t fo ld , der „vielnützliche
Boden“ , setzen. Von jenem anderen Bereich lesen wir, daß sogar
der Hirsch, der vor den Hunden durch den Wald flüchtet, lieber
sein Leben läßt, als daß er in jenen See springt; denn der Ort war
nicht heore. Wir müssen lieber das alte Wort stehen lassen, wie es
ist, denn jeder moderne Ersatz verlangt nach einer Erklärung, um
das rechte Gewicht zu erhalten. Das Wort heore, altisländisch hýrr,
neuhochdeutsch „geheuer“ , bedeutet das Milde, Sanfte, Angenehme,
Sichere; der Gegensatz unheore, úh ýrr, „ungeheuer“ , ist nicht nur
das Barsche, Unangenehme, sondern das Unheimliche, Unheilver­
heißende; ein Ort, ein Zustand, eine Atmosphäre, die alles ver­
missen läßt, was Menschen brauchen, um zu leben; es ist die „heil­
lose“ Luft, die sie erstickt. „Geheuer“ ist mit anderen Worten
„glücklich“ , „heilhaft“ im alten Sinne, und damit ist wohl alles
gesagt. Jener Ort ist „ungeheuer“ , unheore; dieser Ort, die Wohn­
stätte der Menschen, ist „die freudvolle Heimstätte“ . Der Wald,
der den Sumpf überschattet, wird freudlos genannt, bar jener Lust,
die das Kennzeichen des Menschenlebens ist.
Sonderbar genug, mag man denken. Es fehlte ja hier in M idgard
nicht an unheimlichen Dingen. Trolle und Zauberei machten sich
oft genug bemerkbar. Mitten hinein in die liebliche Erde, in das
herrlichste Leben, in die schönste und größte aller Königshallen,
wo der Jubel am lautesten tönte, unter die tapfersten Männer, die
das Leben am höchsten liebten und den Tod verachteten, sdiießt
eines schönen Tages gerade das „Ungeheure“ in Grendels Gestalt.
D a steht die Zauberei, die Teufelei mit allem, was die Tapferen
vor allem anderen fürchten: dem Tod in Unehren, in feiger Angst,
in Häßlichkeit, nämlich ohne K am pf und ohne Leichenfeier.

187
Die Alten haben in ihrer Weise recht, wenn sie sagen, daß die
Welt groß ist, daß man Tage und Nächte reisen muß, um an die
Unheimlichkeit selbst und an das Totenreich heranzugelangen; aber
sie wissen auch sehr gut, daß diese Grenzmächte es zu Zeiten wohl
vermögen, in diese Welt herüberzugreifen. Die meisten Völker
haben ihre Hadeshelden, die so weit fortziehen, daß sie ganz von
der Jötenwelt verschlungen werden, und nachher in die Heimat
wie in ein fremdes Land zurückkehren; die Norweger waren wohl
kaum das einzige germanische Volk, das solche Langfahrtmärchen
erzählte. Aber diese Sagen erhielten ihre anregende Kraft und ihre
Wirklichkeit aus der alltäglichen Erfahrung. Schon eine Meile oder
zwei von der Heimat konnte ein Mann mit jenem „U nland“ Be­
kanntschaft machen, und gerade die Tatsache, daß jeder Zuhörer
etwas von unheimlichen Mächten erlebt haben mußte, ermöglichte
es ihm, das Tatsächliche im nüchternen Bericht des Entdeckers zu
würdigen.
Es gehört etwas mehr als einfache Phantasie dazu, sich in die
alte Welt mit ihrem Midgard als Zentrum des Universums hinein­
zuversetzen und sich dort heimisch zu fühlen. Man kann aus den
gegebenen Überlieferungen kein Bild rekonstruieren - wie es die
zahlreichen vergeblichen Versuche, vom Kosmos der Nordländer
eine Karte zu zeichnen, zeigen. Freilich wohnten die Jöten unter
dem Horizont, aber wie läßt sich das damit vereinigen, daß sie
nachts dicht an die Haustür schlichen? M idgard ist eigentlich nur
die Welt des Tages; sobald die Sonne sinkt und die Menschen sich
in ihre Häuser zurückziehen, ist die Erde rauhen und wilden Din­
gen überliefert. In Wirklichkeit ist die Welt nicht bei Tag und bei
Nacht dieselbe, so wenig wie ein Neiding, der am Tage ein mensch­
liches Antlitz trägt und allen anderen Menschen gleicht, sich aber
in der Nacht im Wolfspelz davonstiehlt und wie ein reißendes
Tier herumstreift. All das „Ungeheure“ , das am Tage vom Licht
in Fesseln geschlagen ist, erhebt sich, sobald die Sonne schwindet,
und schweift in seiner Jötenmacht umher. „Alle feindlichen Toten
werden stärker in der Nacht als am hellen Tage.“ Vielleicht gelingt
es, das Verworrene zu entwirren und das System zu retten, wenn
man den Gedanken an eine Schichtung der Welt festhält. U tgard -
ich gebrauche dieses spät-isländische Wort aus Mangel an einem
besseren, da Wörter wie „Wüste“ , „Wildnis“ , „Totenreich“ jedes
nur eine Seite des Unbekannten bezeichnen - U rgard erstreckt sich
ja unter die Erde hinunter, wie wir wissen, und kann zu jeder Zeit

188
durch unzählige Öffnungen mitten in die Welt emporschießen. Hier
und dort, mitten auf den lieblichen Feldern sind Tore, die in das
Heim der Ungeheuer hinunterführen. Vielleicht war es ein solcher
Zugangsweg, auf dem dieser und jener Held in das Innerste des
Totenreiches drang; jedenfalls konnte man auf diesem Wege eben­
soweit gelangen, als wenn man über den Horizont dahinwanderte.
Aber dieses Jötenland unter unsern Füßen ist keine Provinz des
hinter dem Horizont liegenden Hauptlandes. Ob man in die Erde
hineingehen und über die Erdgrenze wieder heimkehren kann -
wer weiß? Niemand leugnet es, weil niemand es behauptet hat.
Ware die Frage gestellt worden, würde man sie sicher bestätigend
beantwortet haben. Aber diese Bestätigung wird aus den Über­
legungen, die das Problem hervorruft, geboren, sie ist nicht von
vornherein gegeben. Die Höhle in der Erde ist Utgard selbst,
identisch mit dem Orte jenseits des Gesichtskreises. Und die Brut
der Unholde im Walde draußen ist nicht durch eine unterirdische
Verbindung mit einer unteren Welt emporgekommen. Die alte Vor­
stellung von der Welt stimmt nicht mit unsern geographischen
Karten überein, auf welchen die verschiedenen Länder mit ihren
Grenzlinien sauber Seite an Seite liegen, denn die alte Welt wurde
nicht rein als ebene Fläche ohne Tiefe nur mit dem Auge gemessen.
Es gehört etwas mehr als Phantasie und etwas mehr als Kon­
struktionsgabe dazu, Midgard und Utgard ins rechte Verhältnis
zueinander zu bringen. Nacherleben ist notwendig. Wir müssen
die Welt aufs neue aufbauen unter Weglassung alles Angelernten,
unter Weglassung von Atlas und Topographie. Bei uns wird die
Welt dadurch gebildet, daß die Beobachtungen nach Meßschnur
und Kompaß eingeordnet werden; wollen wir aber auch M idgard
und Utgard aufbauen, so müssen wir unsere Erfahrungen als eine
schwerwiegende Masse betrachten und dann auch noch bedenken,
daß hier keine Waage und keine Gewichte nützen; alles muß in
der H and gewogen werden. Die Erfahrungen sind zu vielseitig
und vielgestaltig, als daß sie in Zahlen und Maßen ausgedrückt
werden könnten. Sie bestehen nicht nur in den Eindrücken, die
das äußere Auge treffen, sondern sie haben zugleich eine innere
Wirklichkeit. Wenn wir hören, daß die Alten sich das Ende der
Welt dicht außerhalb ihrer Ortschaft dachten, möchten wir uns
wohl ihren Gesichtskreis als sehr eng vorstellen; aber das Ent­
scheidende in ihrer Weltbetrachtung liegt eher in der Tatsache, daß
der Inhalt ihres Gesichtskreises viel tiefer war, als wir denken.

189
Wie groß ist die Ortschaft? Wenn wir diese Frage mit unsren
Werten, jedoch möglichst nahe an die Gedanken der Alten heran­
gebracht, beantworten, muß die Antwort lauten: Sie umschließt
uns Menschen, sie ist voll Ehre, Heil, Fruchtbarkeit - und dies
bedeutet: sie ist die Welt. Ja , die Ortschaft ist M idgard selbst.
Wir können auch so fragen: Wie groß ist der heilige Baum, der
in der Mitte der Ortschaft steht, der Stammbaum der Sippe? Kraft
seiner Heiligkeit und seiner segnenden Gabe trägt er die Welt auf
seinen Wurzeln und überschattet die Welt mit seinen Ästen. Dann
ist er ja der Weltbaum selbst, und was macht es dann, daß sein
sichtbarer Schatten mit einem Blick umfaßt werden kann?
Durch die Untersuchung des Heils und der Ehre haben wir uns
die Erfahrungen der alten Germanen angeeignet; wir brauchen
sie nur noch in ihrer vollen Schwere auf uns wirken zu lassen.
Auf der einen Seite die Menschen und das Menschenleben, so tief,
wie es in seiner Intensität reicht; auf der anderen Seite die Jöten,
die heillosen Neidinge, das heillose Land. Der Teil, der uns am
nächsten liegt, der Tummelplatz der Menschen, ist ganz von Heil
durchdrungen, von heore, während jenes unheore an Dichte und
Unheimlichkeit zunimmt, je mehr wir uns von der Heimat der
Menschen entfernen. Am äußersten Ende erfüllt es alles, so daß
es sich in greifbaren Gestaltungen gaukelnder Sinnestäuschungen
verkörpert, ganz wie man es in der Nacht oder im Walde erlebt.
Wer kennt nicht die Grenzen seines Landes, wo sein Heil aufhört?
Stehen wir nicht jeden Augenblick mitten in unserm Heil und
sehen nach allen Seiten, wo das „Ungeheuerliche“ wie eine Mauer
vor unserer Ehre, unserm Willen steht?
Solche Erfahrungen, die ebensosehr nach Tiefe und Art wie nach
Dimensionen messen, Erfahrungen, welche die Nacht als eine
Grenze gleicher Art, wie die durch eine Bergkette auf gebaute emp­
finden, konnten sich mit einer Geographie, die auf Flächenmessung
beruht, nicht begnügen. Die topographische Wirklichkeit wird nicht
willkürlich beiseite gestellt, um einer Phantasielandschaft Platz zu
machen, aber, um eine wahre Abbildung des germanischen Univer­
sums zu erreichen, muß sie sich anpassen und auch der geistigen
Wirklichkeit ihren Platz einräumen - wenn wir ein solches Wort
wie „anpassen“ gebrauchen können, ohne notwendigerweise an
eine bewußte Umgruppierung von Beobachtungen zu denken. In
der Frage nach dem Verhältnis der beiden Reiche zueinander und
nach der Beschaffenheit ihrer Grenzen tritt jede unwesentliche

190
Lokalisierung vor der überwältigenden Bedeutung der Wesensver­
schiedenheiten zurück. Das Heilsland ist eine Einheit, die von „un­
heilvollen“ , „nicht geheuren“ Enklaven nicht gebrochen wird und
es nicht werden kann. Und alles „Ungeheure“ gehört zusammen
als ein Ganzes, außerhalb Liegendes, als etwas, was nur durch
Überschreitung der Grenzen Midgards erreichbar ist. Es ist bei
weitem nicht so, daß eine unterirdische Verbindung notwendig ist
zwischen der Höhle in der Erde und dem Lande hinter dem H ori­
zont; die beiden sind vielmehr in der Vorstellung der Germanen
ein und derselbe Ort, auch im geographischen Sinne. In die Nacht
hinausgehen bedeutet, ins Dämonenland reisen.
Trotz aller Macht, die die Dämonen und U tgard besitzen, bleibt
doch die Wahrheit bestehen, daß M idgard den Menschen gehört,
und zwar weil sie die stärksten sind, die Sieger. Wenn die Zau­
berei es wagt, in das Gebiet der Sonne einzudringen, kommt sie
nur, um sich vernichten zu lassen und durch ihre Niederlage das
Licht zu verherrlichen. Der Beowulf wurde nicht zu dem Zwecke
geschrieben, um arme Schlachtopfer ein für allemal durch ein Über­
maß von Grauen und Schrecken abzustumpfen. In den Erzählun­
gen und Liedern der Germanen machen die Menschen der Zauberei
gründlich den Garaus, sie hauen sie kurz und klein, verbrennen
sie, begraben sie unter schweren Steinhaufen - und freuen sich über
den Ruhm.
Zwischen dem Sonnenreich und der Frostfinsternis besteht der
wichtige Unterschied, daß hier die Menschen als diejenigen stehen,
die auf eigenem Boden mit einem Heer von Verbündeten kämpfen:
Bäume und Steine, Tiere, Waffen, das Land selbst ist für sie da.
Sie kennen alles um sich herum, wissen, daß es ist, was es zu sein
scheint, wissen, daß eine Ordnung da ist, auf die sie sich verlassen
können. Sie besitzen das Geheimnis der Dinge, so daß sie die
N atur zwingen können, ihnen Beistand zu leisten. Straucheln sie
als Folge einer Unvorsichtigkeit, können sie wieder auf die Beine
kommen, sie können Rat, H ilfe für geschehenen Schaden und im
N otfall Wiederaufrichtung finden; aber dort draußen fallen sie
durch den kleinsten Fehltritt den unbekannten Mächten in die
Hände. Der Baumstamm, auf den sie fallen, hält sie fest und wirft
sie dem Stein zu, der Stein wiederum seinem Nachbarn, und der
Nachbar wirft sie einem Vampyr vor die Füße, und dort enden sie
als blutleere, ausgesogene Äser. Draußen befinden sie sich mitten
unter Horden wilder Tiere, die sie jeden Augenblick fest im Auge

191
behalten müssen, und doch ahnen sie nicht, welche Gefahr ihnen
droht; hier aber tritt die N atur ihnen freundlich auf Schritt und
Tritt entgegen und stellt sich ihnen zur Verfügung.

Die Menschen kennen das Wesen aller Dinge, besitzen ihr Ge­
heimnis oder noch mehr: sie halten die Seele aller Dinge in ihrer
H and. Sie kennen ihre „Welt“ bis in die innersten Winkel, so daß
sie mit all dem vertraut sind, was da kreucht und fleucht und die
vielen Wohnungen bevölkert. Wenn ein Tier über den Weg läuft,
wissen sie mit ziemlicher Sicherheit, woher es kommt, wohin es soll
und weshalb es in jener Richtung sprang. Ihr Wissen ist mehr eine
Art persönlicher Vertrautheit mit der N atur als irgendwelche
Naturkenntnis.
Es gibt natürlich eine Unmenge von Dingen, die der Mann sehen
und wissen m u ß , solange er der N atur von Angesicht zu An­
gesicht gegenübersteht, solange er Tribut von ihr erpreßt und für
sich nimmt, was er braucht. Er muß wissen, und er weiß es auch,
wo die Tiere und Pflanzen zu finden sind, die ihn mit Nahrung
und Gerät versehen; er muß den größeren Tieren auf den Fersen
folgen und ihre Klugheit mit List überbieten können. Und er muß
über die Launen und Gewohnheiten der N atur genau Bescheid
wissen, um sich danach einrichten zu können. Oft genug müssen
die kleinen und die weniger reichen Leute darben - die ältesten
Götter haben unter vielen anderen gnädigen Geschenken den Men­
schen auch einen Gürtel gespendet, der enger geschnallt werden
kann, um die Qualen des hungrigen Magens zu beschwichtigen —
und hätten es diese Streiter nicht verstanden, sich auf die N atur
einzustellen, ihre geheimsten Hilfsmittel auszunutzen und den
rhythmischen Gang des Jahres zu berechnen, wäre ihre Saga früh­
zeitig zu Ende gewesen. Jagd und Schonungsgesetze z. B. rühren
in ihrem Ursprung ganz gewiß von denselben Göttern her, die den
wunderbaren Gürtel gespendet haben.
Aber die Menschen achten natürlich auf viel mehr als nur auf
das, was sie, streng genommen, zur Selbsterhaltung brauchen. Sie
begnügen sich nicht mit oberflächlicher Beobachtung der Tatsache,
daß gewisse Insekten Pünktchen auf den Flügeln haben, sondern
sie zählen die Pünktchen nach Art der schlichten nordischen Bauern,
merken sich die Ungleichheit an Zahl bei den verschiedenen In­
dividuen und treffen ihre Vorkehrungen für die kommende Zeit
nach dem Wink, den ihnen die Zahl der Pünktchen gibt. D as

192
Wissen von der N atur, das diese Menschen besitzen, hat keine
Lücke, weil die Beobachtungen nicht aufs Geratewohl, sondern von
vornherein unter der Leitung der Überlieferung gesammelt wer­
den. Die Sinne der Jugend werden nicht nur zur Höchstleistung
angespornt, sondern diese werden auf Zusammenwirken eingestellt.
Die jungen Leute werden nicht nur dazu angelernt, auf der Lauer
zu liegen, sondern sie müssen selbst auf Raub ausgehen und das
schnellste, das seltenste Tier im Fluge fangen. Natürlich reichen die
Kenntnisse des Naturmenschen nur so weit, wie Auge und Ohr
mitmachen; wo die Beobachtung aufhört, enden seine Kenntnisse
unmittelbar. Wenn die Zugvögel im Winter davongezogen sind
und das kleine Getier sich in die Erde verkriecht, da können nur
Mutmaßungen über die Lücke in der natürlichen Beobachtung hin­
weghelfen. Dann setzt der Mensch seine Hypothese ein - und ver­
spielt das ganze Prestige, das seine Erfahrung ihm bei modernen
Wissenschaftlern verschafft hatte. Wir kommen mit der ganzen Un­
wissenheit der Stadtbewohner, um den Mann zu bewundern, der
die ihn umgebende N atur kennt, aber auch mit einem Gehirn, das
nach Studien von Hand- und Lehrbüchern schnell bereit ist, die
Resultate jedes Wissens abzuschätzen, und so sind wir fähig, das
Wissen des primitiven Menschen zu verkennen. Obschon wir aber
als wahr zugeben müssen, daß die Hypothesen des Naturmenschen
sich nicht gegen die empirische Wissenschaft behaupten können, ist
es doch nicht weniger wahr, daß seine Mutmaßungen den Stempel
seiner Vertrautheit mit der N atur tragen, und je mehr wir uns von
der Herrschaft unsrer Zeit frei machen und den Mut fassen, ihre
Weisheit als relativ zu betrachten und nicht als die Norm, wonach
alles andere beurteilt werden soll, um so leichter fällt es uns, die
einfältigen Mythen und den relativen und vorwärtsstrebenden
Charakter, den sie oft besitzen, zu respektieren. Genau besehen,
bergen sie Tiefen von Wissen und Einsicht in sich.
Es muß so sein; „N aturvölker“ - in dem Sinne von Völkern, die
täglich mit der N atur ringen, nicht in dem mythischen Sinne, den
das Wort in der modernen Wissenschaft erhalten hat - Naturvölker
m ü s s e n ihre Umgebung durch und durch kennen. Solche Volker
dürfen nicht nur nach dem literarischen Ausdruck ihrer N atur­
kenntnisse beurteilt werden. Ihre Vertrautheit mit der N atur gibt
sich ja deutlich in ihren Erzählungen und erklärenden Mythen zu
erkennen: woher die verschiedenen Vögel ihren besonderen Schrei
haben, warum das eine Tier eine ganze Brut gebiert oder das Nest

193
voll Eier legt, während das andere mit einem einzigen, häßlichen
Jungen herumtrabt; so auch in ihren Rätseln, z. B. in dem der
Nordländer von der Spinne: ein Wunder mit acht Füßen, vier
Augen und mit Knien, die höher sind als der Bauch; oder in dem
von den Schneehühnern: Spielschwestern, die übers Land ziehen,
zur Winterszeit mit einem weißen Schild, im Sommer mit einem
schwarzen. Doch solche Mythen und Rätsel schwimmen schließlich
im Wissen der Menschen ganz auf der Oberfläche, und nur ganz
ausnahmsweise lassen sie erraten, wie tief es bis auf den Grund
ist; sie deuten hier und da an, was gesehen wurde, geben aber
keine klare Anschauung davon, wie die Menschen es sahen. Ja g d ­
geräte und Jagdmethoden der Völker, ihr Ortssinn und ihre Scho­
nungsmaßnahmen für das Wild sind Zeugen ihrer Vertrautheit
mit den geheimsten Gewohnheiten der Natur. Vielleicht auch ihre
Spiele. Wollen wir die unendlidie Feinfühligkeit des Gehirns eines
„Wilden“ kennenlernen, müssen wir ihn spielen sehen, müssen ihn
sehen, wenn er eine mimische Darstellung seiner Umgebung gibt;
die Bewegungen der Tiere und Vögel, ihren Gang, ihre Angst, ihre
Klugheit, ihre Elternsorgen - das alles ahmt er mit höchster Kunst
oder höchster Natürlichkeit nach.
Der europäisdie Beobachter sieht immer wieder mit Erstaunen,
daß die Vertrautheit des Naturmenschen mit den Vorgängen in der
N atur sich selten oder nie als impressionistische Beschreibung oder
Darstellung verkörpert. Es scheint, daß die Kunst der realistischen
Erzählung bei den unliterarischen Völkern der Erde, deren Lieder
und Geschichten von den Missionaren und Ethnologen der moder­
nen Wissenschaft gesammelt worden sind, weit eher eine Ausnahme
bildet. Und unsre Vermutung, daß der Mensch sehr langsam die
Fähigkeit erworben hat, die Dinge so zu malen, wie sie gesehen
werden, wird bestätigt durch die epische Poesie der Völker wie die
der Griechen und Germanen, die imstande waren, ihre Volkspoesie
in Literatur zu verwandeln, bevor ihre Gedanken in philosophische
und theologische Kanäle abgeleitet worden waren. Nach Homer,
dem Beowulf und der Edda zu urteilen, dürfen wir mit vollem
Recht behaupten, daß es unsern Vorfahren an realistischer Un­
mittelbarkeit gefehlt hat.
In der Volkspoesie finden wir kein Spiegelbild des wechselnden
und schillernden Lebens ringsum, alles ist hier Kunst, Stil. Die
Erde wird vielleiht die breite, die weitpfadige genannt, und diese
Beiwörter werden dann mit ermüdender Ausdauer jedesmal wie­

194
derholt, wenn die Erde in der Dichtung erwähnt wird; der Tag
bricht immer so an, daß die Morgenröte ihre rosenroten Finger
über den Horizont breitet. Wenn unsre Vorfahren ihre Schlachten
beschreiben sollen, wissen sie nur zu sagen, daß der Wolf voller
Erwartung dem kommenden Krieger, dem Bewirter des grauen
Untiers, entgegenheulte; der Rabe flatterte in der Luft und schrie
zu seinem grauen Bruder hinunter, und schließlich kam die Stunde,
wo der Leichenvogel sich auf seine Atzung hinunterschwang und
das graue Untier, im Blute watend, herumlief. Dieses Schema wird
ohne Rücksicht auf Art oder Verlauf des Kampfes verwendet.
Wolf und Rabe bedeuten K am pf und Tötung, ob nun Heere auf-
einanderstoßen und die Heerführer die Tiere mit Atzung füllen,
oder ob ein paar Männer einen dritten überfallen und „ihn den
Wölfen geben“ ; „da hörst du Raben krächzen, Adler krächzen,
froh über Atzung; da hörst du Wolfe heulen über deinen Gatten“ , -
so verkündigt der Dichter den Mord Sigurds durch seine Schwäger.
Die Volksdichtung drückt sich durch feste, gleichsam ausgemünzte
Formeln für die verschiedenen Taten im Leben, für K am pf und
Jagd , Fest und Schlafengehen aus. Personen, Tiere, Dinge sind
durch feststehende Adjektive bezeichnet, in welche ein für allemal
der Stempel ihrer Eigentümlichkeit eingeprägt ist.
Die Ochsen kommen stets „schleppenden Fußes“ , ob der Zu­
schauer nun Gelegenheit hat, ihren Gang zu sehen oder nicht - ja,
sie müssen den schleppenden Fuß haben, auch wenn sie in Situatio­
nen erscheinen, die sie daran hindern, die Beine zu rühren. Zer­
störten nicht die Bewerber Penelopens den Besitz ihres Gatten,
indem sie täglich seine Schafe und seine fußschleppenden Ochsen
abschlachteten? Wenn ein Mann in einer Versammlung aufsteht,
um zu sprechen, steht er da als der fußflinke oder der wagen­
lenkende Held. Das Schiff eines Mannes ist schnellsegelnd, see­
fahrend, oder auch gebogen, gerade gebaut, mit zahlreichen Ruder­
bänken; und er kann, auch wenn er sein Fahrzeug aufs Land
gezogen hat, sich neben den Anker seiner meerspaltenden Schute
hinsetzen und dort die Fremden empfangen, die zu seinem schnell­
segelnden Schiffe herunterkommen. Es ist ebenso natürlich für
Beowulf, sein seekreuzendes Schiff klar zu machen, wie für die
Wellenrosse in der isländischen Poesie, übers Meer zu galoppieren.
Da^ Schiff, das Skjölds Leichnam auf die See trug, wird eisbedeckt
genannt, wenn aber ein moderner Leser daraus schließen würde,
daß diese Begebenheit zur Winterzeit stattgefunden hätte, würde

195
er mehr Kenntnis der Sadie für sich beanspruchen, als der Dichter
des Beowulf besessen hat.
Ein altenglisches Gedicht schildert malerisch, wie die Rechen in
die Schlacht eilen: „Die Recken eilten heran, die Edelgesinnten, sie
trugen Banner, die Schilde klangen. Der magere Wolf im Walde
freute sich und der schwarze, walgierige Rabe; sie wußten beide,
daß die Heermänner sie zum Fest auf Kosten der Todgeweihten
laden wollten; ihnen flog, lüstern nach Atzung, der taugefiederte,
schmutzigfarbige Aar nach.“ Bei näherer Betrachtung entdeckt
man, daß die Konvenienz aus jedem Wortgefüge hervorlugt: so
und nicht anders hat ein Dichter den Auszug des Heeres zu schil­
dern. Die so breit ausgemalte Erwartung der Tiere soll nicht an­
deuten, daß dieser K am pf härter, die Zahl der Erschlagenen größer
sein soll als bei anderen Kämpfen - nein, Wolf und Aar freuen
sich immer auf den kommenden Fraß. Der Aar ist hier nicht des­
wegen „taugefiedert“ , weil der K am pf an einem frühen Morgen
eingeleitet wird, auf betauten Flügeln kommt er herangesaust in
der heißesten Mittagszeit - der Tau gehört mit zu dem Bild eines
Adlers.
Im Isländischen kann der „in der Tanne wachende“ Aar trotz
seines hohen Sitzes doch die Leihen der Gefallenen zerreißen,
wenn es not tut. A stshüttler oder Astverderber wird der Wind
sehr passend genannt in Gudruns Klage über ihre Einsamkeit,
wenn sie sagt: „Einsam bin i h wie die Espe im Hain, der Ge-
sippen beraubt wie die Föhre des Reisigs, leer an Freunden wie der
Baum an Laub, wenn am sonnigen Tag der Astverderber naht.“
Aber in alter Zeit war n ih ts Ungereimtes darin, den Wind mit
demselben Namen, den „Astverderbenden“ , zu nennen, wenn er
übers Meer fegte und die Wellen hohtürmte.
Bei den Germanen wird der König Ringbreher, Sh atzver-
shw ender oder Kam pfförderer, Wölfeätzer genannt; die Männer
sind Biertrinker, Ringempfänger und Brünnenträger - und brün­
nenbekleidet sind sie, ob sie nun gerade in Rüstung sind oder
n ih t. So finden wir vielleiht: „den kampfberühmten, shatzspen-
denden König, der es mit Freude anhört“ , daß Beowulf einen
K am pf mit Grendel anbietet, und ein andermal sehen wir den
„kam pffördernden“ Fürsten zu Bett gehen.
Wie die Walküre zu Helgi sagt: „ I h meine, i h habe Besseres zu
tun als Bier zu trinken mit spangenbrehenden Fürsten“ , - so ruft
Helgi zu seinem Bruder: „Es geziemt den ringbrechenden Fürsten

196
übel, sich mit Worten zu streiten, auch wenn sie Fehde miteinander
haben.“ Die Meisen in den Büschen stellen nach Fafnirs Tötung
Betrachtungen an über Sigurd und Regin, und die eine drückt sich
so aus: „Wäre er klug, der spangenverschwendende König, dann
äße er das H erz des Wurms.“ Nach der U ntat an ihren eigenen
Söhnen spricht Gudrun zum unglücklichen A tli: „D u, schwerter­
spendender König, hast die blutigen Herzen deiner Söhne in H onig
gekaut . . . N ie mehr wirst du sie sehen, die goldspendenden Für­
sten, wie sie ihre Speere schäften, die Mähnen der Rosse schneiden
und davonsprengen.“ Derselbe Verfasser, der Gudrun diese Worte
in den Mund legt, rühmt die Kaltblütigkeit Gunnars im Schlangen­
hof, als er das Versteck des Nibelungenhortes nicht verraten will,
denn „so soll der ringverschwendende H äuptling sein Gold im
festen Griff halten.“
Kein Wunder, daß die Leser der Gegenwart mit ironisch erhobe­
nen Brauen um sich blicken und sagen: „Wo ist die vielgepriesene
Ursprünglichkeit, wo ist die natürliche Unschuld, von der man
reden hörte, und w on ah die Volkspoesie im Gegensatz zur Kunst­
dichtung ihren Namen erhielt? Wenn in allen diesen Gedichten
überhaupt noch N atur vorhanden ist, müssen jedenfalls die Eigen­
shaften, an denen wir natürliche U n sh u ld erkennen, auf traurige
Weise aus ihnen vertrieben worden sein.“
Stil oder rih tiger Stilisierung ist gerade das bezeihnende Wort
für diese D ih ter und ihre Tehnik. Wie soll man wohl in irgend­
einer modernen Sp rah e die Beshreibung des Beowulf von der
Rückkehr der Krieger in die Königshalle wiedergeben? „Sie gingen
dorthin, wo sie erfuhren, daß der Sh ü tzer der Helden, der Toter
Ongentheows, der junge, der gute Kriegerhäuptling, in der Mitte
der Burg Ringe ausstreute.“ Der Leser darf aus diesen Worten
n ih t den kalten logishen Sh lu ß ziehen, daß ein an gelsähsisher
H äuptling den ganzen Tag in seinem H o h sitz saß wie ein Säe­
mann, so daß ein Fremder n a h dem unaufhörlihen Klingen des
Goldes den Weg dort hinein finden konnte. Der Satz taugt a u h
n ih t als Grundlage für die Hypothese, daß H ygelac eben von
einem Zug heimgekehrt war und jetzt Auszeihnungen verteilte,
oder daß es Lohntag war. Andererseits enthalten die Verse mehr
als einen poetishen Hinweis auf den Ort, wo er seine Freigebig­
keit auszuüben pflegte, es liegt w irk lih in ihnen, daß Hygelac
jetzt in diesem Augenblick im H o h sitz in seiner H alle sitzt. Der
Satz kann in keiner andern Sp rah e, als in der, worin er geschrie-

197
ben wurde, wiedergegeben werden. Der König ist der, der Ringe
verteilt, und die H alle ist der Ort, wo er durch Geschenke und
Gastfreiheit die Männer an sich bindet.
Und doch, wenn man das Stilisierte in der alten Dichtersprache
lange betrachtet, muß man die Entdeckung machen, daß sich etwas
dahinter bewegt. Durch nähere Bekanntschaft gewinnt man den
starken Eindruck, daß gerade hinter dieser stilisierten Kunst
eine reiche und lebendige Erfahrung steht, vollgeladen mit Leben.
Diese Gedichte lassen sich nicht in dieselbe Klasse einordnen wie
Werke von Epigonenschulen, die eine Sprache handhaben, in der
literarischer Geschmack Sinn und Kraft ersetzt. Wir fühlen, daß
die Augen der Männer, die so schrieben, voll von Erinnerungs­
bildern waren. Sie besaßen eine reiche Phantasie, die in den Sin­
nen wurzelte. Ihr Wortschatz ist davon geprägt, daß diejenigen,
die diese Worte gebrauchten, ein Leben in unmittelbarem Erleben
führten. Diese Menschen sprechen nicht wie Künstler, die mit be­
wußter Feinheit des Geschmacks die Ausdrücke der Sprache wählen
oder verwerfen; sie wählen unbewußt, denn sie stehen selbst in
der Gewalt ihrer eigenen Erinnerungsbilder.
Jeder, der von Xenophon zu Homer kommt oder von den Sagas
zur Edda, wird sich wahrscheinlich immer seines ersten Staunens
erinnern - wenn er nicht das Unglück hatte, den Übergang auf
einer verhältnismäßig niedrigen Schulstufe zu vollziehen, wo alles
Griechische einigermaßen gleich, nämlich wie ein willkürliches
Muster von Vokabeln, aussieht, mögen die Zeilen nun in ihrer
vollen Länge auslaufen und Prosa genannt werden oder kurz ab­
brechen und Poesie heißen. In dem Augenblick, wo er das eine
Buch zumachte und das andere auf schlug, überschritt er eine ge­
heimnisvolle Grenze, um in eine Welt einzutreten, die ganz anders
beleuchtet war. Die Sagas und die Werke der Geschichtsschreiber
handeln von Königen und Bauern und Kriegern, und sie erzählen
von diesen Personen genau mit dem Grade von Vertrautheit oder
Fremdartigkeit, den man n a h der langen Zeit, die zw ishen uns
und ihnen liegt, erwarten mußte. Aber die anderen? Wo finden
wir den Grundton, der diese verstreuten Tone zu einem Ton­
system vereinigt? Der Inhalt ist es n ih t, der Shwierigkeiten
m äh t. Homers Seele ist uns verwandt genug. Aber die Worte
haben oft etwas Fremdartiges, beinahe M ystishes an sih , als ge­
hörten sie einem anderen Zeitalter an. Fühlt der Neuling n ih t,
daß diese „seltenen“ Vokabeln, deren Bedeutung zum Teil un­

198
bekannt ist, bloß Wrackteile einer untergegangenen Sprache sind?
Es wird ihm kaum klar werden, daß das, was ihn stutzig macht,
das Uneinheitliche ist: diese archaischen Worte verlangen eine voll­
kommen andere Umwelt als die gemeinsame und allgemeine hel­
lenische und skandinavische, aus welcher sie emporragen, sie wei­
sen zurück auf eine Zeit, wo sie nicht in einer fremden Welt allein­
standen, sondern einen Kreis von Verwandten und Bekannten um
sich hatten, die alle denselben Stempel der altertümlichen Würde
und der Gewichtigkeit trugen. - Der jugendliche Leser bewegt sich
einige Zeit unter ihnen mit einem Gefühl des inneren Widerstreites,
bis die Gewohnheit mit ihrer Linderung kommt und ihn aus der
qualvollen Erwartung einer Deutung befreit, die die gewöhn­
lichen Grenzen der Exegese überschreiten würde.
Der junge Schüler wußte nicht, was seine Unruhe bedeutete, er
konnte sie nicht in Fragen umsetzen, noch weniger in Gedanken.
Aber nichtsdestoweniger hatte er recht, wenn er die Anwesenheit
von Geistern spürte, wo sein Lehrer scheinbar nichts sah oder
hörte. Viele der Vokabeln, bei denen er verwundert haltmachte,
sind tatsächlich Überreste einer Zeit, wo die Sprache anders aus­
gemünzt wurde als heute. Bei aller Achtung vor der Majestät des
Zufalls darf man doch ruhig behaupten, daß die Angelsachsen
z. B. nie eine solche Heerschar vor Wörtern für „Meer“ erfunden
hätten, wenn sie keinen Gebrauch für sie gehabt hätten. Eine Reihe
wie die folgende hat etwas Ehrfurchtgebietendes an sich: brim ,egor,
flod, flot, geofon, h a f, härn, holm , lago , mere, stream , sund, sœ.
Oft genug werden die Dichter beschuldigt, mit halb unerlaubten
Mitteln eine falsche Pracht erschaffen zu haben, indem sie aus
Drang nach Variation inhaltsarme Wörter nehmen und sie für
mehr stehenlassen, als sie eigentlich besagen. Versuchen wir einmal
die imponierende Phalanx zu verkleinern, indem wir z. B. stream
herausnehmen und sagen: es ist eigentlich Strom und nur in wei­
terer Bedeutung Meer, oder wir sagen von brim , daß es eigentlich
Brandung bedeutet und nur im Notfälle für „Meer“ verwendbar
ist. Aber dieser Trost ist eitel. Gewiß hatte jedes dieser Wörter
seine eigene Bedeutung, aber nur in dem Sinne, daß es dazu diente,
eine Einheit zu bezeichnen, unter Hervorhebung einer besonderen
Eigenschaft an ihr, oder die Einheit im Lichte einer solchen Eigen­
schaft gesehen. Die Dichter sind nicht immer so schuldig, wie wir
sie hinstellen, denn ihre Methode kann, auch wenn sie zu willkür­
lichen ästhetischen Tricks degenerieren mag, durch alten Brauch

199
gestützt und durch den ursprünglichen Charakter der Sprache ge­
rechtfertigt sein. Die alten Wörter hatten immer einen tiefen
Hintergrund. Das, was wir unter Sinn verstehen, ist eigentlich
durch Spezialisierung entstanden, indem eine bestimmte Eigenschaft
oder eine Seite aus der Einheit losgerissen und zu einem abstrak­
ten Begriff gemadit wurde. In unsrer anders abgestimmten Aus-
drudtsweise, grob ausgedrückt, können wir z. B. sagen, daß stream
nicht Strom bedeutete, sondern Meer in Strömung; die abstrakte
Vorstellung von einer Bewegung ohne einen bewegten Gegen­
stand ist den Alten nicht in den Sinn gekommen.
Dieser Reichtum an Ausdrücken ist ein Beweis unter anderen
dafür, daß die Menschen in alter Zeit klare, genaue und treffende
Vorstellungen von der Welt und den Dingen in ihr hatten und nur
in scharfbezeichnenden Worten von ihnen sprechen konnten. Eben­
so zeugen ja die kennzeichnenden Adjektive bei Homer von einer
bestimmten und vorherrschenden geistigen Sehkraft. „D ie fuß­
schleppenden Ochsen“ , oder richtiger: „die Ochsen, die während
des Ganges das eine Bein gegen das andere drücken“ , einen solchen
Ausdruck wird man kaum gebrauchen, wenn man es nicht nötig
hat, wenn man nicht in sich ein Bild hat, das dieses Wort hervor­
bringt. Der gleiche Realismus ist zu spüren im dichterischen Wort­
schatz der Nordländer und überhaupt bei den Germanen. Hier
im Norden werden substantivische Ausdrücke bevorzugt, wo der
Südländer verschwenderisch mit Adjektiven umgeht; hier sagt
man: „der Astschädiger, der Ringbrecher, der K am pfförderer“ ,
während man im Süden den Wind oder den Fürsten beim Namen
nennen und die Eigenschaft in ein Adjektiv kleiden würde. Wie
bedeutungsvoll dieser Unterschied auch sein mag, wenn es gilt,
den Charakter der Sprache und dadurch indirekt den des Volkes
zu beurteilen, offenbart er doch keine tiefere Ungleichheit in der
Art des Denkens. Ich habe oben absichtlich mit Adjektiven über­
setzt, um etwas von der Feinhörigkeit für den Wert von Zu­
sammenstellungen zu erwecken, die durch überliterarische Nach­
dichtungen altisländischer Poesie abgestumpft worden ist. Ring­
brecher, Heerwalter z. B. sind keine Titel, wie man uns hat lehren
wollen. Diese Wörter degenerieren wie alle anderen durch den
Mißbrauch der Skalden; aber es ist kein Grund vorhanden anzu­
nehmen, daß sie in den Eddagedichten und übrigens auch bei den
älteren H o f dich tern ohne Bedeutungskraft stehen. Gerade die
Variationen sprechen gegen eine solche Annahme; wenn wir z. B.

200
bald hringbroti, „Ringbrecher“ , bald hringdrifi , „der, der Ringe
um sich wirft“ , finden und bald auch andere Wortverbindungen,
haben wir nicht das Recht, den Dichter zu beschuldigen, daß er in
prosodischen Nöten sei. Und jedenfalls müssen die Worte einmal
suggestive K raft besessen haben.
Von dem poetischen Wortschatz der Germanen können wir uns
nur annäherungsweise eine Vorstellung machen. Seine ursprüng­
liche Fülle und Kraft, sein allgemeiner Charakter kommen in den
ziemlich späten Nachdichtungen, die jetzt die einzigen Vertreter
der großen poetischen Kultur Nordeuropas sind, nicht unmittelbar
zu ihrem Recht. Hier im Norden müssen wir oft die alten Wort­
bilder aus einer Unmenge halb mißverstandener und ganz un­
verstandener Wörter hervorholen, die in irgendeinem Skalden­
handbuch Aufnahme gefunden haben, als die Gedichte verschwun­
den waren, in welchen die Wörter lebendig gewesen waren. Manch
ein epischer Ausdruck wurde nur vor der Vergessenheit bewahrt,
weil er als Nam e an einem mythischen Wesen haftete. In Snorris
Anleitung für höfische Dichter finden wir z. B. den kurzen H in­
weis, daß man die Art, einen Bode zu erwähnen, dadurch variieren
kann, daß man das Tier hornum skvali nennt, „der, der mit den
Hörnern rasselt“ oder „der mit den nach hinten gebogenen H ör­
nern“ . Auf dieselbe Weise kann ein Bär als iugtann i bezeichnet
werden, ein Wort, das irgendeine Eigenschaft an den Zähnen der
Bestie enthalten muß, oder als „blauzahnig“ ; einer seiner anderen
Namen ist „Schritterweiterer“ , was auf den charakteristischen
Gang des Bären hinweist oder auf seine Fußstapfen, in ähnlicher
Weise, wie wenn man von ihm als „Breitweg“ spricht. Wir finden
den Raben „taugefiedert“ und „Frühflieger“ genannt, den Habicht
„Wetterbleicher“ - „Bleicher“ passiv oder richtiger neutral ver­
standen wie oben bei „Schritterweiterer“ . Dieselbe suggestive
Kraft liegt in dem Namen dun eyrr , der für Hirsche verwendet
wird, und dessen eigentliche Bedeutung ist: „der mit rasselnden
Hufen über Kiesel springt“ .
Von der scharfen Charakterisierung, die in diesen alten Epithe­
ten steckt, können wir uns heutzutage nur einen mangelhaften
Begriff machen. Die Vokabeln unsrer Wörterbücher sind immer zu
umfassend in ihrer Bedeutung, verglichen mit den Verben und
Substantiven, die den Alten zur Verfügung standen. Wir haben
kein Wort, das die Genauigkeit besitzt, um jenes sk v ali wiederzu­
geben, das gebraucht wurde, um ein Zusammenstößen der Hörner

201
zu bezeichnen, und dieser eine Fall mag genügen, um zu zeigen,
wie lose alle unsre Übersetzungen sich mit dem ursprünglichen
Sprachgebrauch decken. Die Etymologie ist ein viel zu grobes
Hilfsmittel, als daß sie einen Anhalt bieten könnte, sobald nicht
nur von toten Vokabeln, sondern von lebenden Gedanken und
Gefühlen die Rede ist, so wie diese einst die Sprache durchgeistig­
ten und die Worte mit feinen Assoziationen erfüllten. Wir mögen
durch Analyse feststellen, daß das Wort slithherde - im Angel­
sächsischen vom Eber gebraucht - mit „grimmig“ wiedergegeben
werden kann, aber der Etymologe weiß so viel und so wenig von
seinem wirklichen Leben wie derjenige, der das Wort bloß aus­
sprechen hört. Unsre Beispiele können also nur schwache Andeu­
tungen von einer Welt geben, die reich an gesehenen, gehörten und
gekosteten Dingen war, und die jetzt für immer verschlossen ist.
Homers Werke sind keine Volkspoesie, die Ilias und die Odyssee
tragen hinlänglich deutliche Zeichen, daß sie aus einer zusammen­
gesetzten Kultur herrühren. Die Edda und der Beowulf sind
keineswegs urtümliche germanische Poesie; wir finden sowohl Ver­
feinerung wie Verfall in ihnen. Ohne Zweifel ist sowohl hier wie
dort eine nicht unbedeutende Stilisierung erkennbar, eine not­
wendige Folge der Tatsache, daß die Form einer früheren Zeit
angehört als der Inhalt. Der Stil der Skalden, ob angelsächsisch
oder isländisch, kann nicht von Manieriertheit freigesprochen
werden, aber seine Steifheit ist nur die alte poetische Sprache in
ihrer äußersten Konsequenz und zeigt also in hohem Maße die
natürliche Neigung des primitiven Denkens. Die Strenge des Stils
ist eine Erbschaft aus den frühesten Zeiten, und die innere Un­
gleichartigkeit, die wir bei Homer und in geringerem Grade im
Beowulf und in einigen der Edda-Dichtungen spüren, ist eine
Folge der Einmischung einer späteren Kultur, die in ihrer Art des
Erlebens realistischer und impressionistischer war. Wir würden sehr
im Unrecht sein, wenn wir die Rhapsoden einer späteren Zeit für
den Widerspruch dieser Bilder tadeln wollten: die Poesie, die
hinter Homer und der Edda liegt und die diese Ausdrücke als ihre
Form schuf, war um kein Jo ta natürlicher. Es ist fraglich, ob der
Verfasser des Atliliedes, der den „Ringverschwender“ preist, weil
er „sein Gold im festen Griff hält“ , und Högni „den kühnen
Reiter“ nennt, in dem Augenblick, wo er an H and und Fuß ge­
bunden liegt, dieser Zeilen wegen in die Schar der Epigonen
gewiesen werden muß.

202
Wie diese Poesie spricht, so sprach das Volk, aus dessen Mitte
das Epos entstand. Die dichterisdien Bilder, in welchen scharfe
Beobachtung auf eigentümliche Weise mit der Neigung zu Ideen­
assoziationen verbunden ist, sind keine Stilprodukte, sondern un­
vermeidlicher Ausdruck der Denkart dieser fernen Menschen, und
sie spiegeln das Urteil des Volkes über sidi selbst und seine H el­
den wider. Die äußere Erscheinung der Menschen, ihre Bekleidung,
ihre Art, sich zu bewegen, wie auch ihre Art, sich auszudrücken,
sind in der heroischen Dichtung durch ein gewisses poetisches
Dekorum festgelegt; ein Held, der seine Gefühle nicht in dem
überlieferten Wortgefüge ausdrückt, ein Held, der es sich gefallen
läßt, ohne seine Titel „bewaffnet“ oder „kühn“ oder „langlockig“ ,
genannt zu werden - alles Attribute, die jeder freie Mann fordern
muß, wenn er irgendwelche Achtung vor sich selbst hat — ein
solcher Held sieht einem König ähnlich, der in bloßem Hemde auf
seinem Throne sitzt. Der germanische Fürst muß froh, heiter und
milde sein, wie auch die Verhältnisse faktisch sein mögen; als
Grendel Heorot heimsucht, ist H rodgar nichtsdestoweniger der
frohe H rodgar, der gute König, der in all seinem Schmerz sich
selbst nichts vorzuwerfen hatte. Ein Mann mußte e ad ig , fest in
seinem Heil, sein; und als Hredel aus Trauer über das Neidings-
werk seines Sohnes stirbt, kann der Dichter ihm doch nicht den
Beinamen ead ig entziehen, so wenig wie Noah aufhören kann,
der glückliche Mann zu sein, als er trunken von Wein daliegt und
in Gegenwart seines Sohnes beschämt wird. Es liegt in der N atur
gesunder Männer siegreich zu sein, und keine Gefahr kann sie
ihrer menschlichen Charaktermerkmale berauben. Wenn die H el­
den Israels auf der Mauer sitzen, in banger Erwartung, was der
morgige Tag bringen werde, und nach dem drohenden Lager der
Assyrer starren, kann der angelsächsische Dichter es nicht unter­
lassen, Judith als die abzubilden, die „dem Siegervolk gute Bot­
schaft brachte“ und ihm später zurief: „Ihr siegreichen Helden,
seht Holofernes’ K o p f.“ Das Dekorum geht viel tiefer als alle
poetische oder soziale Etikette. Es ist eine Folge der Gewichtigkeit
der Personen, die es ihnen unmöglich macht, ihr Benehmen den
Ansprüchen einer einzelnen Situation anzupassen.
Die moderne Dichtung geht aus von dem Bruchstückhaften in
der menschlichen Erscheinung. Ganz gleich, womit die Menschen
untereinander beschäftigt sind, ob sie die tiefsten Angelegenheiten
des Herzens - und der Leidenschaft - erörtern oder ein Alltags­

203
gespräch führen, ob sie kämpfen oder lieben, sie zeigen einander
immer nur einen kleinen beleuchteten Abschnitt der Seele; der
größere Teil ihres Seelenlebens liegt im Dunkel, wird nur geahnt
oder von Streiflichtern kurz aufgehellt. Aber die alten Helden
sind immer in voller Ansicht zu sehen. Sie sind wie jene wohl-
bekannten Figuren auf vorzeitlichen Gemälden, die dem Zuschauer
die Seite zukehren und ihn doch mit beiden Augen anblicken. Sie
können uns nicht gestatten, eine Sache nur durch Schlüsse zu ver­
stehen, denn dazu sind sie selbst außerstande; das Bewußtsein
ihres ganzen vorhergehenden Lebens, der Verpflichtungen und
Vorrechte ihrer Stellung, ebenso des ganzen früheren Lebens ihres
Stammes, befindet sich ständig im Vordergründe ihrer Seele. Wenn
ihre Gespräche miteinander so unverhältnismäßige Tiefen er­
reichen, auf Familiengeschichte und Familienverhältnisse zurück­
greifen und weit die Grenzen der Situation, die den Gedanken­
austausch veranlaßt hatte, überschreiten, so ist dies nur eine unter
vielen Äußerungen ihres Gefühls der Einheit. Wenn das Gefolge
des Königs die Braut des Herrn zur Brautkammer geleitet, fühlen
sie sich alle als Schildträger, obschon ihre Schilde aus Lindenholz
über ihren Sitzen in der H alle hängen. Wenn die Männer Stein
auf Stein legen und die Mauer allmählich wachsen sehen, fühlen
sie doch den Schwertgriff in ihrer H and; es sind die Schwert­
träger, die bauen. Wenn sie sich hinsetzen, um zu essen und trin­
ken, können sie keinen Augenblick, selbst bei dieser allgemein
menschlichen Tätigkeit, ihre Tapferkeit und ihren Ruhm ablegen.
Audi wenn sie ihre ganze Rüstung ablegen und zu Bett gehen,
muß es doch immer noch der gepanzerte, schwertschwingende, roß­
bändigende Held sein, der unter die Felldecke kriecht. Und jedes­
mal, wenn sie einen Hieb tun, müssen die Zuhörer verstehen, daß
alle Überlieferungen eines Geschlechts in diesem Hieb vorhanden
sind, das Ungestüm eines Helden, der unbezähmbare Rachedurst
eines Sohnes oder richtiger: die Wucht des Hiebes zwingt den
ganzen Titel des Helden mit Vater und Vorfahren in die Verse
hinein.
Es sind nicht nur die Männer, die bei jedem Schritt, den sie tun,
den Zuhörern ihre ganze Persönlichkeit aufzwingen. Homer weiß,
daß die Königin, die mit ihrem Gatten auf dem Hochzeitslager
ruht, die Schleppkleidtragende ist. Als Judith das Lager der
Assyrer verläßt und den K opf ihres Feindes trägt, geht sie in all
ihrer Königinnenwürde einher als die Kluge, die Tatkräftige, die

204
Weißwangige, die Ringgeschmückte; aber weder sie noch irgend­
eine germanische Frau von hoher Geburt würde jemals anders
erscheinen, welches auch ihr Ziel und was auch ihre Aufgabe sein
mochte. Wealhtheow, die Königin der Dänen, schreitet gold­
geschmückt durch die H alle, die Männer grüßend; die edle Frau
reicht erst dem König den Becher, zuletzt kommt sie, die ring­
bedeckte Königin, die seelenstarke, zu dem Platz, wo Beowulf
sitzt, und grüßt den Geatenfürsten, weise in Worten.
Und so wie die Männer und Frauen sind, so ist die Welt, in und
mit welcher sie leben. Dieselbe Schwere kennzeichnet alles, was
sich Gedanken und Sinnen darbietet. Das Pferd, das an seinen
Ketten kaut, steht da als der hurtige Renner, und das Pferd, das
über die Ebene springt, läuft als das schönmähnige, einhufige, das
es immer ist. Kommt man von ferne, so sieht man nicht nur die
Tür und die Vorderseite des Hauses, sondern zugleich die ganze
Einriditung, die Pracht und das Leben darin. Die Burg, der der
Reisende sich nähert, ist nicht nur hoch-dachig - so daß die auf
den Bänken Sitzenden die Decke nicht dicht über ihren Köpfen
fühlen - sie ist nicht nur weit - mit Plätzen auf den Bänken für
eine große Schar - ; sondern sie strahlt im Leuchten und Wider­
schein der Waffen, und sie ist voll von Gold und Kostbarkeiten.
Der Wanderer erblidct schon von weitem, vom Wege aus, die
hochgemauerte Burg, er sieht - vom Wege aus in weiter Ferne -
Hallen sich über Schätze erheben, Häuser über das rote Gold ge­
wölbt. Anders verhält es sich wohl nicht, müssen wir annehmen,
mit den Hügeln, die wie blaue Wolken am Horizont stehen; für
den, der sie von vielen Wanderungen her kennt, würden sie, wenn
auch in Nebel gehüllt, die vielfach zerklüfteten Hügel, die Hügel
mit den schattigen Wegen sein. Wenn der Norweger an sein fernes
Heim atland dachte, würde er wahrscheinlich seine Worte ähnlich
denen des homerischen Helden formen: „Zwischen Troja und
Phtia sind sowohl dunkle Berge wie ein lärmendes Meer.“ Wenn
ein Mann auf die Erde springt oder auf den Rücken fällt, ist der
Fleck, den sein Körper deckt, immer noch: die Erde mit den vie­
len Wegen, die korntragende, die vielernährende, oder die breite.
So sprechen die Griechen, und die Nordländer sagen von der
Schlange, daß sie auf ihrem Bauche die breite Erde bekriecht.
Diese Fülle und Ausdehnung des Gedankens gehört nicht aus­
schließlich der poetischen Sprache an; sie haftet der Sprache über­
haupt an und zeigt in der Rechts-Phraseologie ihre Spuren weit in

205
das Mittelalter hinein. Der Gesetzgeber, der „Rasen“ sagt, muß
„grün“ hinzufügen; Mörder, Diebe und dergleichen Leute sollen
am Strand begraben werden, „wo das Meer dem grünen Rasen
begegnet“ , wie das norwegische Gesetzbuch anordnet. Er kann
nicht Gold nennen, ohne es als rot oder strahlend zu bezeichnen
und Silber nicht, ohne „weiß“ hinzuzufügen; in der präzisen
Sprache des Gesetzes ist der Tag der helle Tag und die Nacht die
dunkle oder finstere Nacht.
Bei Homer gibt es zwei Schichten, die leicht voneinander unter­
schieden werden können. Auf der einen Seite stehen Ausdrücke,
die durch Vergleich gebildet werden, die reichen Bilder, die mit
einem „gleich wie“ eingeleitet sind. „Gleich wie der Ost und der
Süd wetteifernd in den Klüften des Gebirges den dichten Wald
schütteln, und Buche und Esche und die schlankborkige Kornelle
mit furchtbarem Lärm einander mit ihren hervorstechenden Zwei­
gen peitschen, während es von zersplitterten Stämmen kracht, so
stürmten Trojaner und Achaier aufeinander los und hieben auf­
einander ein; keiner dachte an Flucht.“ Der Mann, der so spricht,
hat die Seele erfüllt von einer Situation, von einem Augenblicks­
bild; der Auftritt, der vor seinem inneren Auge steht, erweitert
sich nach allen Richtungen und eröffnet ringsum einen Ausblick
auf andere Bilder. Der Dichter heißt alle Ideen-Assoziationen
willkommen und folgt in ruhigem Genüsse dem breitesten der
Wege, den die Situation ihm eröffnet. Anders verhält es sich mit
den Bildern, die in solchen Ausdrücken enthalten sind, wie „die
fußschleppenden Ochsen“ , „die vielwegige Erde“ , „die blaue
Woge“ ; sie sind keine Schöpfungen des Augenblicks, sondern um­
gekehrt, Produkte vieljähriger Erfahrung. Hier ist es nicht der
Dichter, der folgt, sondern die Vorstellung, die ihn zieht und
zwingt, weil sie in der Tiefe seiner Seele verwurzelt ist. Die Um­
schreibung ist älter als der Vergleich. Sie erinnert an eine Zeit, wo
die Seele niemals von individuellen Sinneseindrückten lebte, wo
sie vielleicht ebenso wach wie jetzt alles empfing, was sich den
Sinnen darbot, aber nicht bei dem isolierten Eindrude haltmachte,
sondern vielmehr die Erfahrungen zu einer einheitlichen Vor­
stellung zusammenschweißte. Von dem Mann der Umschreibung
kann man sagen, daß er sich mit allen seinen Sinnen erinnere,
aber alle seine Erfahrungen von einem bestimmten Gegenstand
üben eine gegenseitige Anziehung aufeinander aus und gehen eine
unauflösliche Verbindung ein. Jede neue Beobachtung wird von

206
den vorhergehenden aufgesogen und bildet mit ihnen eine Ein­
heit, so daß die Bilder, die mit all ihrer natürlichen Wahrhaftig­
keit, ihrer Genauigkeit und Stärke in der Seele leben, keine indi­
viduellen Vorstellungen, sondern allgemeingültige Ideale sind,
ebenso inhaltsreich, schwer und beharrlich wie die Heldendichtung.
Diese Denkart ruft die Menschen jeden Augenblick zur Rechen­
schaft für ihre Handlungen und ihr Wesen, ohne den Unterschied
zwischen verschiedenen offiziellen und privaten Ichs zu kennen -
dessen wir uns jetzt erfreuen. Die Gestalten, denen wir in der
alten Dichtung und in der alten Geschichte begegnen, lassen sich
nicht in die öffentliche und die private Persönlichkeit, in den
feierlichen und den alltäglichen Menschen, in König, H ausvater,
Mann, Riditer, Ratgeber, Krieger einteilen. Man kann nicht
„M ann“ sagen, ohne „bewaffnet“ zu denken, und sagen wir das,
so baut der Gedanke auf diesem Grund das Ganze auf. Es ist
deshalb nichts Gekünsteltes in Cædmons Ausdruck: „D er Be­
waffnete und sein Weib, E v a.“ Es mag für unsere Ohren sonderbar
klingen, wenn Jesus der „Ringspender“ genannt wird und seine
Jünger als das Gefolge, die tapferen Krieger erwähnt werden.
Aber für den Germanen war es unmöglich, diese Ausdrücke zu
vermeiden, solange der alte Gedankenkreis noch nicht gebrochen
war. Es war keine wirkliche Vorstellung, daß Jesus auf Wiking­
zügen durch die Länder fuhr; der Dichter sagt auch nicht nur des­
halb „Ringspender“ , weil es Sitte war, den Mann als Freigebigen
zu besingen. Jesus war ein Heiling (Heiland), seine Jünger waren
Heilsempfänger, und das Verhältnis zwischen Herr und Mannen
war nicht in der Q ualität eines Bruchstücks zu verstehen; es mußte
die Vorstellung von der Einheit aufgreifen und alle Wörter in
seinen Dienst stellen.
Die Vorstellung von einem Wolf oder einem Adler wird von all
den gehäuften Erfahrungen gebildet, die zu verschiedenen Zeiten
über Leben und Charakter, Gewohnheiten und Aussehen, Wille
und Triebe der betreffenden Tiere gemacht worden sind. Und so
steht das Tier als ein untrennbares Ganzes da, es lebt sein Leben
ohne Rücksicht auf seinen Platz in einem klassifizierenden System,
es besitzt seine Glieder und ihre Eigenschaften auf eine weit un­
bedingtere Weise als heutzutage. Denn der Gedanke war so voll­
kommen von der Vorstellung der Einheit beherrscht, daß ihm jede
Neigung fehlt, die Welt im Querschnitt aufzufassen, indem er
z. B. das Tierreich als Köpfe, Körper, Beine, Schwänze analysierte

207
oder den Wald als Blätter, Zweige, Stämme, Wurzeln. Die ein­
zelnen Teile haben gar nicht die unabhängige Wirklichkeit in sich,
die erforderlich ist, um solche Wortformeln herzustellen wie „Bein“
oder „K o p f“ ; der K opf wird nur gedacht als der K op f eines be­
stimmten Tieres und ist dann entweder ein H undekopf oder ein
Wolfskopf oder irgendeine individuelle Varietät von K opf. Sogar
ein Huschen, das man vor sich auf dem P fad sieht, hat einen be­
sonderen Charakter, er wird das Laufen dieses oder jenes Tieres
sein, keine Bewegung im allgemeinen.
Es ist also nicht das Märchen allein, das die Kunst versteht,
einen ganzen Organismus heraufzubeschwören aus einer einzelnen
Klaue oder einem H aar oder einem Faden. Das alte Sprichwort:
„Wo ich die Ohren sehe, erwarte ich den Wolf“ , galt bei den
primitiven Menschen in einem weit buchstäblicheren Sinne als bei
uns; im selben Augenblick, wo die beiden Ohren hervorlugten,
sprang der Wölf empor, lief herbei, brachte eine ganze Atmo­
sphäre mit, setzte alle Sinne in Arbeit, so daß das Auge seinen
Lauf sah, seinen schielenden Blick nach rückwärts, das schmutzige
Gelb seines Fells; die Nase spürte ihn, die H and fühlte ein Kitzeln
von dickborstigen Haaren. Und er bringt nicht nur seine ganze
Atmosphäre mit sich, wenn er kommt, sondern er verbreitet ein
ganzes Milieu um sich. Er tritt auf wie ein Charakter und strahlt
seine Gewohnheiten, seine Lebensweise in eine eigene kleine Welt
aus.
Selten findet man in der Volkssprache solche generellen Begriffe
wie „Baum “ oder „Tier“ angeführt. Die Erde ist mit Eichen,
Buchen, Eschen, Ulmen, Föhren bewachsen; ihre Bewohner sind
Wolf, Bär, Hirsch, Adler, Rabe, Schlange. Der Bann der Fried­
losigkeit gilt im Nordischen, so weit wie F ö h r e wächst. D as
Sprichwort: „Des einen Tod, des anderen Brot“ heißt in der nor­
dischen Spielart: „Was der einen Eiche abgekratzt wird, kommt
der anderen zugute.“ „Die Kiefer, die allein auf dem Felde steht,
wird morsch“ , weder Rinde noch Nadeln können sie schirmen. Es
ist ein gutes Wahrzeichen, wenn man den Wolf unter den Zweigen
der Esche heulen hört. Der große Welt-Baum heißt nicht Yggdra-
sils B a u m , sondern Yggdrasils E s c h e . Die Poesie bewahrt
hier wie immer den alten Wirklichkeitssinn. Sigrun sitzt vergebens
wartend bei Helgis Grabhügel: „Jetzt wäre er gekommen, wenn
er zu kommen gedächte; jetzt ist keine Hoffnung mehr, denn die
Adler hocken schon in der Esche, und Schlaf ist in ihren Augen.“

208
„Einsam bin ich jetzt wie die Espe auf dem H ügel" (wenn ihre
Gefährtinnen, eine nach der anderen, dahingewelkt sind) - so
klingt Gudruns Klage.
In der Sprache, die auf den Steppen, auf der Heide, in den
Wäldern gesprochen wird, spielen ordnende und klassifizierende
Bezeichnungen nur eine untergeordnete Rolle. Die allgemeinen
Bezeichnungen stehen ganz im Hintergrund; sie bilden nur den
Schatten, nicht aber den Stamm der Wirklichkeit, wie sie es bei
uns tun. Die individuellen Erscheinungen stehen einander so
schroff gegenüber, erheben sich so unabhängig vom natürlichen
Boden, daß sie keine unmittelbare Berührung miteinander haben
können; und als Folge davon hat die systematische Einordnung
in Tiere und Pflanzen, in Arten und Klassen, die bei uns von
allergrößter Bedeutung ist, gar keine Anhaltspunkte.
Einheit und Unabhängigkeit, das sind die beiden Haupteigen­
schaffen der Bilder in der einfachen Denkart, die noch in den
Ausläufern der heroischen Dichtung durchblickt, und zu der wir
überall bei außereuropäischen Völkern Gegenstücke finden. Unsre
Wörter sind weit und unbestimmt, weil wir die Dinge nur lose
sehen und fühlen und uns infolgedessen mehr mit den Beziehungen
zwischen den Phänomenen als mit den wirklichen Gegenständen
befassen. Unsre Welt ist auf Verallgemeinerungen und Abstrak­
tionen auf gebaut, und die Wirklichkeiten des Lebens treten zurück
hinter die farblosen „Tatsachen“ (wie wir sie nennen) der Ursache
und Wirkung, der Gesetze und Kräfte und Neigungen. Die Wör­
ter der alten und primitiven Völkerstämme sind eng und treffend
und entsprechen der Erfahrung von Menschen, die ihre Augen
nicht über die N atur hinschweifen ließen, sondern genau jeden
einzelnen Gegenstand betrachteten und sich seine Kennzeichen
merkten, bis jede Einzelheit in ihrer vollen Gestalt als eine Ein­
heit vor ihrem inneren Auge stand. Diese Entschiedenheit der
Erfahrung hemmt in hohem Grade die Analyse und die Klassifi­
zierung; aber das bedeutet nicht, daß das geistige Leben sich auf
einfache Verifizierung des Tatsächlichen beschränkt oder daß die
Begriffe nur Bestätigung der Eindrücke sind. Im Gegenteil, die
Ideen haben bei diesen Denkern eine solche Stärke und Bedeut­
samkeit, daß bisweilen Fremde die Primitiven sämtlich als Philo­
sophen zu betrachten geneigt sind; die Wahrheit ist aber die, daß
sie sich gerade durch die Kraft und Wirklichkeit ihrer Ideen von
den Philosophen unterscheiden.

209
Die Begriffe, die den Inhalt unsres geistigen Lebens bilden, wie:
Farbe, Schönheit, Pferd, Mann, sie existieren für sich in den
Zwischenräumen zwischen den Dingen der Welt, und unsre Em p­
findungen sind nur die Haken, an denen sie auf gehängt sind. In
der primitiven Seele ist jede Vorstellung eng mit einem Gegen­
stand verbunden; das Ding wird gleichsam in seiner Perspektive
gesehen. Dem engen Spielraum des Wortes entspricht eine schwin­
delnde Tiefe seiner Idee, da diese in sich alles einschließt, was von
dem genannten Gegenstand gedacht werden kann. Die Bedeutung
beschränkt sich nicht darauf, nur den Körper des Gegenstandes
zu decken, sondern umfaßt ebensosehr seine Seele. In der Idee
von „Eiche“ liegt alles, was man von querem denken kann; von
der Eiche selbst, wie sie sich vor uns erhebt oder mit Händen ge­
fühlt werden kann, von ihrer Rede, ihrer Form, ihrer eigentüm­
lichen Art sich zu bewegen, ihrer Fruchtbarkeit und dergleichen
angefangen bis zur „Eichheit“ , dem Zustand, Eiche zu sein, der
Eigenschaft, die sie zur Eiche macht. So umfassend ist der Ge­
danke, so innig der Wirklichkeit angeschmiegt. Die volle Tiefe des
Wortes ist nicht erreicht, bevor wir beim reinen Sein stehen, einem
Sein, das in bezug auf Geistigkeit jeden Anspruch erheben darf,
in die Gesellschaft der höchsten Ideen aufgenommen zu werden,
das aber nichtsdestoweniger sich von unseren ehrwürdigen Ab­
straktionen dadurch unterscheidet, daß es einen ausgeprägten
Charakter hat; ein reines Sein, in welchem die Eigenschaften ge­
lappter Blätter, knorriger Zweige, breitkronigen Wuchses, eßbarer
Schalenfrüchte von Anfang an mit enthalten sind.
Wenn wir jetzt versuchen, diesen alten Gedanken nachzuspüren,
mag es sein, daß die Anstrengung, die wir bei der Arbeit emp­
finden, sich unwillkürlich unserer Beurteilung jener alten Denker
aufdrängt und uns veranlaßt, sie uns als tiefsinnige Grübler vor­
zustellen. Noch größer ist die Gefahr, daß die Bewegung unserer
Gedanken in die Gedankengänge, die wir verfolgen, eingeht, so
daß wir uns primitive Gedanken als etwas Verzwicktes und Aus­
geklügeltes vorstellen. Für uns, die wir uns bemühen, die fremden
Gedanken eines Fremden nachzudenken, liegt die Schwierigkeit
vor allem darin, die Einheit festzuhalten und jeden Verdacht der
Grübelei und Tiefsinnigkeit zu verbannen. Die primitive Vor­
stellung wird nicht durch eine Reflexion geschaffen, bei der etwas
aus der Wirklichkeit abstrahiert wird, noch durch eine Analyse,
die die einzelnen Elemente aus ihrer natürlichen Verbundenheit

210
löst und sie wieder in logische Kategorien einordnet - sie ist ge­
rade umgekehrt von einer vollen Übersicht abhängig, die - ihrem
Wesen nach - aller Analyse feind ist. Wir nennen die primitive
Vorstellung Eiche - Eichheit zweiseitig, aber mit bedingtem Recht,
insofern die Vorstellungen primitiver Völker nichts enthalten, was
mit Recht dualistisch genannt werden kann. Sie deuten gleichzeitig
auf etwas Geistiges und etwas Materielles, aber es gibt keine
N aht, wo Stoff und Geist sich treffen. Idee und Realität, was
empfunden wird und was gefühlt wird, sind identisch; sie sind so­
zusagen zwei entgegengesetzte Pole der Vorstellung. Wir können
mit dem Konkreten anfangen, mit einem Wolf, einem Stein; und
allmählich, durch seinen Charakter und seine Eigenschaften, durch
seine Bosheit und sein Wohlwollen, seine Beweglichkeit und seine
Schwere, gelangen wir zu den Eigenschaften der Wolfheit und der
Steinheit, die so subtil sind, wie es irgendein Philosoph ausspinnen
kann, und gleichzeitig doch so stark in ihrer Realität wie irgend­
ein Sinneseindruck. Und wir können mit einer Kraft anfangen,
mit der Kraft, ein Wolf, ein Stein zu sein, und durch die Wir­
kungen, die diese Kraft hervorruft, wiederum zu dem schweren
Gegenstand gelangen, der vor uns steht. Wir können uns von Pol
zu Pol hin- und zurückbewegen, ohne irgendeinen Purzelbaum,
ja, ohne den kleinsten Sprung. Die Verbindung ist ununterbrochen,
weil der Gedanke in keinem Punkt die Vorstellung von einer Um ­
grenzung in Form und Charakter verliert.
Die Dinge unsrer Welt sind in einem solchen Grade flach und
silhouettenhaft, daß sie einander überdecken und zu so unbestimm­
ten Wesenheiten verschmelzen wie „N atu r“ und „Welt“ . Tatsachen
sind bei dem primitiven Menschen plastische Gegenstände und
Formen, die sich frei vom Hintergründe abheben, und wenn unsre
umfassende Phrase „die ganze Welt“ ins Altnorwegische übersetzt
werden soll, bekommt sie folgende Form: „Soweit wie Christen
zur Kirche gehen, Heiden ihre Götter ehren, Feuer ausbricht, der
Boden Früchte trägt, der Sohn die Mutter ruft, die Mutter den
Sohn nährt, Männer Feuer anzünden, Schiffe fahren, Schilde
blitzen, Sonne scheint, Schnee treibt, Kiefer wächst, der Falke den
ganzen lenz-langen Tag mit vollem Wind unter den Flügeln fliegt,
der Himmel sich wölbt, die Erde bewohnt ist, der Wind heult, das
Wasser in die See fließt, Knechte Korn ernten.“
So gelangen wir zum Verständnis dafür, daß die ursprüngliche
Art, das Leben zu schildern, im wahrsten Sinne des Wortes rea-

211
listisdi ist. Die epischen Formeln, wie wir sie benennen können,
malen die Welt, wie sie ist, aber ihre Welt ist sehr verschieden von
dem Ort, wo wir uns bewegen und unser Dasein führen. Die pri­
mitiven Menschen unterscheiden sich von den modernen Europäern
nicht nur in den Theorien über die Wirklichkeit, sondern in der
Wirklichkeit selbst.

212
Leben und Seele

Es ist eine traurige Tatsache, daß die moderne Erforschung des


primitiven Denkens uns von jedem wirklichen Verständnis der
fremden Kulturen und Religionen weiter und weiter fortgeführt
hat. Die Ursache dafür ist nicht schwer zu finden. Der Europäer
wird behindert von seinem naiven Glauben an sein eigenes System
und an seine eigene Logik als Maßstab für alle Dinge; der Mis­
sionar und der Ethnologe versuchen andauernd Kulturen von voll­
kommen andersartigem Zuschnitt in ein fertiges System hinein­
zuzwängen, in ähnlicher Weise wie der Philologe früher alle
Sprachen nach dem System der lateinischen Grammatik ordnete;
genau so wie die Einführung von Gerundium und Supinum und
Ablativ die Struktur der indischen oder arabischen Sprache nur
verwischen konnte, so kann unser strenger Dualismus die primi­
tive Psychologie nur verwirren. Die Skandinavier, die Griechen,
die Hindus, die Israeliten sowohl wie die Inder und Australier
wurden nach diesem Katechismus examiniert: was denkst du über
die Seele? wie faßt du den Zusammenhang zwischen Seele und
Körper auf? was wird aus der Seele, wenn sie den Körper ver­
läßt? —als ob der hellenistische und europäische Dualismus, wie er
in den Katechismen und Handbüchern der Psychologie enthalten
ist, der Ursprung aller Weisheit wäre. Durch eine solche Exam i­
nation von außen mögen ohne Zweifel Tatsachen ans Licht ge­
bracht werden, aber die Tatsachen sind oft mehr als falsch, weil sie
aus ihrem natürlichen Zusammenhang herausgerissen sind. Ohne
die Auffassung des primitiven Denkens als einer festen Einheit
würden die Aussagen unsrer Vorfahren über Leben und Tod un­
verständlich sein.
Alle Völker erkennen einen Körper und eine Seele oder richtiger
eine materielle und eine spirituelle Seite bei allem, was existiert.
Der Vogel hat einen Körper, der in die Luft gehoben wird, und er
hat eine Seele, die es ihm ermöglicht, zu fliegen und mit seinem
Schnabel zu hacken. So ist auch der Stein ein Körper, aber in
diesem Körper ist eine Seele, die will, und die es dem Stein er­

213
möglicht, Schaden zu tun, zu schlagen, zu verletzen und zu zer­
schmettern; eine Seele, die ihm seine H ärte, seine rollende Be­
wegung, seine Gabe, das Wetter vorauszusagen oder den Weg zu
weisen, verleiht.
Bis hierher - wo Seele und Körper als zwei Hälften des D a­
seins aufgestellt werden - können wir unsere Analyse des alten
Denkens ruhig durchführen. Aber sobald wir versuchen, jeder
Hälfte ihren zugehörigen Teil zuzuweisen und ihre Einflußgebiete
abzugrenzen und voneinander zu trennen, fallen wir von einer
Schwierigkeit in die andere. Fangen wir damit an, im Körper
nach der Seele zu suchen, können wir ihn kreuz und quer zerlegen
und zerschneiden, nie können wir unsern Finger auf eine Stelle
legen, wo sie nicht ist, und ebensowenig auf eine Stelle, wo sie
ausschließlich ist. Und gehen wir nun dazu über, die Eigenschaften
eines Dinges, eine nach der anderen, einer Prüfung zu unter­
werfen, in der Hoffnung, das Ding in eine aktive, Initiative ver­
leihende Seite, den Teil der Seele, und eine träge, gehorchende,
ausführende Seite, den Teil des Körpers, teilen zu können, gelangen
wir ebenso sicher zu widersprechenden Definitionen; wir werden
uns sehr bald genötigt sehen, die Einteilung auf eigene Verant­
wortung vorzunehmen, wenn wir das System retten wollen. Es
gibt keine Naht. Ein zuverlässiges Kennzeichen dafür, was Seele,
was Körper ist, im Vogel und im Stein, wird man unmöglich ent­
decken können.
Dagegen ist es nicht schwierig, die Seele zu finden; wo wir auch
hingreifen beim Stein oder Tier oder Baum, bekommen wir sie zu
fassen. Sie tritt uns ihrer selbst bewußt entgegen als etwas, das
weiß und will, handelt und leidet —mit anderen Worten als eine
Persönlichkeit. Wir können, was die Germanen betrifft, hinzu­
fügen, daß der Körper der Sitz der Seele ist. Das heißt, daß in
seinem Innern ein kleiner Wicht sitzt, der ihn belebt und bewegt,
lenkt und leitet und ab und zu in Ungeduld über sein schwer­
fälliges Medium sich nacht in die Welt begibt und die Dinge auf
eigene Faust in Ordnung bringt. Es ist ohne Zweifel etwas daran,
daß hellsichtige Leute einen kleinen Wicht oder ein kleines Tier
gesehen haben, das den Körper verließ und wieder hineinschlüpfte,
wenn es dachte, daß niemand es sähe; und dieser kleine Wicht
war die Seele. Aber wenn wir versuchen, die Seele zu greifen und
sie ans Licht zu ziehen, so daß wir ihre Form und ihre anderen
Eigentümlichkeiten erkennen können, werden wir bald merken,

214
daß sie uns neckt und durch die Maschen jenes Netzes hinaus­
sickert, das sie selbst dadurch gesponnen hat, daß sie als persön­
liches Wesen, in menschlicher Gestalt oder im Bild eines Tieres
erschien. Die Seele, die eben so bestimmte Eigenschaften, so feste
Persönlichkeit besaß, löst sich in einen Hauch von Kraft auf; sie
nimmt die Form eines jeden Raumes an und erfüllt ihn, ja sogar
ohne die Begrenzung der Selbständigkeit, so daß sie von anderen
Seelen als Eigenschaft angenommen werden kann. Die Seele eines
Mannes kann in einem Stein oder in einem Schwert wohnen, sie
kann durch eine Berührung oder durch den Atem in einen seiner
Genossen übergehen und die Stärke oder Klugheit des Empfängers
vermehren. Die Seele, die eben so selbständig war, enthüllt sich
als etwas Neutrales, das der polare Gegensatz der Persönlich­
keit ist.
Aber sie ist mit ihren Künsten noch nicht zu Ende. Schritt für
Schritt oder ganz allmählich entw eiht sie unsern Fingern in mehr
und mehr geistige Formen des Daseins; Kraft, Eigenshaft, Wille,
Einfluß, - nirgends läßt sie sich greifen. Immer sind wir hinter
ihr her und fangen d o h nur ihre Wandlung; und wenn wir sie
durch alle Existenzen gejagt haben, von der Grenze zw ishen
Materie und Geist an und durch die mehr und mehr geistigen
Verfeinerungen hindurh, und nun meinen, ihr am Rande des
reinen N ih ts Einhalt gebieten zu können, geht sie in einen Zu­
stand über, den unsre S p rah e n ih t benennen kann, der aber am
n äh sten mit unsrem Wort Energie oder sogar Prinzip wieder­
gegeben werden kann. Sie offenbart s ih plötzlich als Leben. Sind
wir dann dreist und geschickt genug, sie zu fassen und sie aus
ihrem Körper zu reißen und festzuhalten, sie einzushließen, um
zu sehen, was aus dem Ding ohne sie wird, da zeigt es sich, daß es
die Existenz, das Dasein selbst ist, das wir ergriffen haben. Es war
die Seele, die den Stein hart und den Vogel fliegend machte, aber
es war auch die Seele, die Stein und Vogel erm öglihte, überhaupt
zu sein. Ohne Seele kein Stein; einem Stein das Leben nehmen,
heißt, ihn ins absolute Nichts verschwinden lassen.
Aber das geht über unsre Kraft. Die Existenz herausreißen -
das können wir nicht. Aber festhalten können wir sie. Trotz all
ihrer Wandlungen ist die Seele nicht so geistig geworden, daß
Menschenhände sie nicht anfassen könnten. Und drücken wir sie
nun in der H and, werden wir früher oder später spüren, daß es
weh tut. Nach einer Weile gebiert das Leben einen scharfen, har-

215
ten, eckigen Gegenstand zwischen unsern Fingern. Haben wir
Mut und Klugheit genug, der Seele durch alle ihre Wandlungen zu
folgen und sie unerbittlich festzuhalten, muß sie zu irgendeiner
Zeit ihre erste Gestalt annehmen und mit ihrer ganzen Persönlich­
keit antworten. D a muß sie hervortreten, nicht nur sichtbar und
materiell, sondern in der Form, in der sie als Teil der Welt erscheint.
Erst dann ist die Verwandlung vollständig. Jetzt haben wir das
Geheimnis des Lebens in der primitiven Erfahrung kennengelernt.
Die Seele ist mehr als der Körper, so wie dieser in raumfüllender
Wirklichkeit gesehen und gefühlt wird, aber sie ist nicht etwas
außerhalb des Materiellen Bestehendes. Wenn wir die Abgrenzung
zwischen Innerem und Äußerem nicht finden können, bleibt uns
nichts anderes übrig, als die Wahrheit in Ehren zu halten und zu
sagen, daß der Körper ein Teil der Seele ist oder sogar die Seele
selbst. In dem Augenblick, wo wir einen Stein fest mit der H and
greifen, haben wir die Seele des Steins angefaßt, es ist die Seele,
die wir fühlen. Die Möglichkeit besteht immer, daß der Körper
von der Seele auf gesogen wird und verschwindet, um nach einiger
Zeit wieder ans Licht zu treten. Das Geistige kann die Materie
verlassen, um sich in anderen Formen zu offenbaren; aber wenn
es erscheint und sich sehen, hören, fühlen läßt, da geschieht die
Offenbarung kraft der N atur, die die Seele besitzt. Wie weit es
sich auch fortbewegt, hat es doch immer den Stoff in sich ge­
bunden. Bis zu einem gewissen Grade ist es möglich, von Seele
u n d Körper zu sprechen, aber die Unterscheidung geht nicht so
tief, daß es möglich ist, die beiden auseinander zu reißen.
Eine Seele läßt sich nicht in eine unsrer engen Formeln ein­
fangen. Die Sprache gibt uns einen Wink, daß wir unsre Ge­
danken weit dehnen sollen, und warnt uns gleichzeitig davor, zu
viele der Unterscheidungen zu gebrauchen, die in unserer Welt so
nützlich sind. Wir müssen mit dem Materiellen beginnen, durch die
Persönlichkeit mit ihrem Willen und ihren Gefühlen hindurch­
gehen (nicht um sie herum), von ihr hinaus in das Neutrale, in
das, was wir Leben nennen, weiter durch das Leben in das Ideale,
in das Dasein, in die Existenz, und erst dort, im Urgrund der
Welt, erreichen wir die Grenze der Seele.
Aber wenn wir so weit auf den Grund der einzelnen Seele ge­
kommen sind, hört der Weg plötzlich auf, gerade an dem Punkte,
wo für unsre Vorstellung alle Wege sich treffen. Wenn wir in
unsrer Philosophie die Tiefe erreichen, die wir Leben oder E xi­

216
stenz nennen, fühlen wir, wie wir vor dem Eingang zum Ursprung
aller Dinge stehen, vor der Urquelle, die durch ein N etz von
Kanälen von Seele zu Seele fließt. Das Leben ist für uns eine farb­
lose Kraft, die jede Anzahl von ungleichartigen Formen belebend
zu erfüllen vermag, und unser Problem des Lebens besteht darin,
wie wir erklären sollen, daß das Ein und Alles sich in die mannig­
faltigen Gestaltungen der Welt verwandelt. Anders ist es mit dem
praktischen Denker. Für ihn hört jedes Denken an diesem Punkte
auf. Zwischen den Seelen ist die undurchdringlichste aller Scheide­
mauern befestigt: ein Schlund, eine Leere, ein Nichts. Die Tren­
nung ist so absolut aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht in
einer Mauer besteht, die der Gedanke selbst gebaut hat, sondern
in dem Fehlen jeder Vermutung und dem Fehlen jedes Anreizes
zum Nachgrübeln, weil alle Dinge der Welt in sich abgeschlossen
sind. Uns scheint es unwillkürlich, als ob in dem Worte Leben —
oder Dasein, wie wir lieber sagen sollten - eine Aufforderung
läge, über die gemeinsame Bedingung alles Existierenden nachzu­
sinnen. Aber in der primitiven Kultur kann eine solche Frage
überhaupt niemals eine Antwort verlangen, weil sie auf der ge­
gebenen Grundlage nicht Fuß fassen kann.
Leben, Dasein, so weit ist der Begriff der Seele, aber die Reich­
weite dieses Satzes wird uns erst klar, wenn wir ihn umkehren:
Seele, so eng ist der Begriff des Daseins. Leben ist nichts A ll­
gemeines, nichts Verbindendes, sondern eher das, was die größte
Trennung in der Welt bewirkt; nicht eine gemeinsame Grundlage,
sondern eine individuelle Eigenschaft. Das Leben ist immer als
Charakter bestimmt. Es erklärt, nein, es enthält alles, was den
Besitzer des Lebens vor allen anderen Wesen auszeichnet, alle seine
Eigenschaften und Fähigkeiten, alle seine Neigungen und Bedürf­
nisse, es enthält ihn selbst bis zu dem Bau seines Körpers.
Wie tief der Unterschied zwischen unsern Gedanken und jenen
anderen in diesem Punkte geht, wird uns wohl erst recht klar,
wenn wir sehen, daß die primitive Seele weiter reicht als die bloße
Person, so daß sie auch die Lebenssphäre einschließt. Nicht nur
die Lebensweise eines Tieres, sondern auch sein Lebensgebiet ge­
hört mit zu seiner Seele. Die Poesie hat eine deutliche Abspiegelung
dieses Einheitsbegriffes bewahrt. Der Rabe kann nicht auf treten,
ohne den Gedanken an Schwärze, an Taubeflügeltheit mitzu-
führen; aber ebenso sicher bringt er eine ganze Leichenatmosphäre
mit. Der Dichter der angelsächsischen Genesis steht in diesem

217
Punkt ganz und gar unter der Herrschaft der alten Denkart. In
jener Dichtung wird berichtet, daß Noah erst einen Raben von
der Arche ausschickte, aber der flog hin und zurück, bis die Erde
trocken wurde, und dies formt von selbst die folgende Erklärung
in seiner Seele: „N oah dachte, wenn er kein Land auf seinem
Fluge fände, würde er gleich über den breiten Gewässern zurück­
geflogen kommen, aber diese Hoffnung schlug fehl; er setzte sich
froh, der dunkelgefiederte, auf eine dahinschwimmende Leiche
und suchte nicht weiter.“ Schwärze und Leichengier, die Leichen­
verzehrung und sogar die Leiche selbst sind Teile der Rabenseele.
Wenn der Rabe walgierig, schlachtgierig genannt wird, dann be­
deutet es in Wirklichkeit, daß genau so wie der Rabe zum K am pf
gehört, der K am pf oder richtiger die Schlacht einen Teil vom
Leben des Raben bildet. Der Wolf hat auch Leichennatur, er wird
das Leichenungetüm genannt; aber hier muß noch etwas Wesent­
liches hinzugefügt werden, nämlich das, was durch „Heidegänger“ ,
„Heidetreter“ ausgedrückt wird. Die Wildnis ist ein Teil seiner
Seele. Auch die hinzugefügten Worte „im Walde“ folgen von selbst,
sobald das Tier genannt wird; der Wolf freute sich im Walde, der
Wölf heulte im Wald, ja sogar der „graue Wolf im Walde“ lief
auf der Heide über die Gefallenen.
Die Kluft zwischen den Seelen ist unübersteigbar, sie reicht bis
an die Wurzel der Welt hinab. Alle Wesen erheben sich direkt aus
dem Urgrund, völlig gesondert. Nirgends ist eine Brücke. Es liegt
etwas Irreführendes in der Vorstellung, daß alle Dinge, auch die
wir leblos nennen, eine Seele haben und infolgedessen ein Leben.
Es könnte für uns den Anschein haben, als ob der Abstand zwi­
schen den verschiedenen Existenzen damals eher geringer gewesen
sei als heute, da doch alle Dinge in dem Besitz von Willen und
Gefühl verbunden waren, ja sogar in Verstand und in der Gabe,
sich äußern zu können. Aber dieses Leben war nicht, wie wir es
uns natürlich vorstellen, ein gemeinsames Sein, und weit davon
entfernt, die tausend Dinge näher aneinander heranzubringen,
hielt es sie streng getrennt.
Leben ist Wille. Alles, was ist, handelt, weil es einen Drang
dazu fühlt, weil es Gefallen an diesen und Mißfallen an anderen
Dingen findet. Die Seele des Steins sowohl wie die des Baumes
oder des Tieres ist voll von Wunsch und Zweck und Gutdünken,
aber der Wille des Steins ist nicht der des Tieres, und der des
Menschen ist es auch nicht. Der Mensch mußte bald entdecken, daß

218
jedes Wesen seiner Umgebung auf seine eigene Weise liebt und
haßt, übereinstimmend mit seinen unverletzbaren Grundsätzen
- nach seiner eigenen N atur. Diese Entdeckung ist es, die den
Menschen so wach und so scharfhörig für alle Äußerungen der
Seelen rundum gemacht hat. Wehe dem, der glaubte, daß die
Dinge menschlichen Willen und menschliche Macht hätten! Wer
sich vorwärts kämpfen muß und imstande sein will, dem morgi­
gen Tage die Eroberungen von heute zu übergeben, der muß vor
allem begreifen, was seine Umgebung will; alle Erziehung geht
darauf hinaus, den Neulingen Seelenkunde beizubringen und sie
dadurch zu befähigen, den Weltkampf aufzunehmen. Dann wohnt
im Menschen ein starkes Gefühl von dem Unterschied zwischen
der Leidenschaft und der Selbstbeherrschung in ihm einerseits und
den geistigen Kräften, die von allen Seiten gegen ihn anstoßen,
andererseits. In seinen verschiedenen rituellen Gebräuchen offen­
bart der primitive Mensch seine Fähigkeit, zwischen den ver­
schiedenen Willensäußerungen, die in seiner Welt am Werke sind,
unterscheiden zu können. Die Zeremonien, mit denen er einen
ausgiebigen Regenguß erreichen will, sind nicht dieselben wie die,
welche er gebraucht, wenn er wünscht, sich das Wohlwollen des
Büffels zu sichern, und das Büffelritual unterscheidet sich wiederum
von seinen Bewerbungen um andere Tiere. Wir werden durch unsre
Sprache und durch unsre Neigung verleitet, alle abstrakten Wör­
ter im Singular zu benutzen; aber unsere Einzahlform „Wille“ ist
das Resultat einer Gedankenarbeit, die zu jener Zeit noch gar nicht
getan worden war, wo der Baum und das Tier und der Stein
Wirklichkeiten waren und nicht wie jetzt bloß Schatten auf dem
Hintergründe der N atur. Wir mißdeuten, was wir die Personifizie­
rung der N atur durch den primitiven Menschen nennen, weil wir
die Mythologie im Lichte der hellenistischen Philosophie sehen;
unsre poetische Sprache sowohl wie unsere wissenschaftliche Ter­
minologie ist aus alexandrinischem Anthropomorphismus abge­
leitet, und die ganze europäische Spekulation über Mythen und
Legenden hat unter der Herrschaft der M entalität der Stoiker und
Neuplatoniker gestanden, welche die ursprünglichen griechischen
Gedanken über N atur und Mensch in ein rationalistisches und
sentimentales System zu verwandeln suchten. Primitive Wörter, die
die Europäer mit „Seele“ übersetzen, besitzen zum großen Teil die
Bedeutung unserer Wörter „Existenz“ oder „D asein“ , aber anderer­
seits ist alle primitive Existenz Leben.

219
Wenn wir wissen möchten, wie despotisch das Leben in Mid­
gard ist, wäre es das Richtige, zu fragen, z. B. ob der Stein nicht
ein totes Ding sei. Nach allen Analogien bei anderen Völkern und
nach Andeutungen in der Dichtkunst und in den Gebräudien der
Germanen zu schließen, hätten unsre Vorfahren dieses Paradoxon
mit einer unwilligen Geste abgeschüttelt, nicht nur als etwas Müßi­
ges, sondern auch als etwas durchaus Sinnloses. „Tot“ hatte in
dieser Verbindung keinerlei Bedeutung für sie. Sie hätten sich nicht
gegen den Gedanken gewehrt, denn sie hätten einfach nicht ver­
standen, was in der Frage läge.
Es ist eine Aufgabe des Menschen gewesen, sich den Weg zu dem
Begriff „Leblosigkeit“ vorwärtszudenken, und er hat die Aufgabe
außerordentlich schwierig gefunden. Immer und immer wieder
offenbart er seine Verwunderung über die Phänomene, die der
Realität des Lebens zu widerstreiten scheinen. Er schlägt sich lieber
herum mit Hypothesen von Verwandlung, Metamorphose und
Übergang des Lebens in anders wirkende Formen. Und da sind die
Wege weit. Es dauert Jahrhunderte, bis er sie soweit durchforscht
hat, daß er gezwungen wird, umzudrehen und dem Problem als
einem unerbittlichen Feind in die Augen zu blicken. Je näher es
ihm auf den Leib rückt, um so mehr tritt er in harte Opposition
zu ihm; er leugnet den Tod, erklärt ihn für eine Unmöglichkeit.
Er will nicht einmal anerkennen, daß die Begrenzung des Lebens
einen Teil der Ordnung der Dinge bildet; angesichts der harten
Tatsachen fällt er auf die Behauptung zurück, daß „der Tod“ ein­
mal durch ein Mißverständnis in die Welt gekommen ist. Bald ist
es ein gewaltsamer Überfall durch etwas außerhalb der Heimat der
Menschen Befindliches, der diese Störung in dem ursprünglichen
Zustand der Dinge verursacht hat, bald ist es die eigene Dumm­
heit des Menschen, die zu tadeln ist, indem ein längst vergangenes
Geschlecht in einem kritischen Augenblick einen Fehler begangen
und durch Vernachlässigung einer Lebensregel der allgemeinen
Lebenskraft Eintrag getan hat. Und nur ganz langsam wird dieser
„Tod“ , der für ihn doch ein Schein ist und bleibt, in der Richtung
auf Vernichtung vertieft, das heißt, er schiebt das Leben über den
springenden Punkt hinaus und läßt es in ein Nichts hinunterfallen,
das er immer und immer wieder als etwas Positives auffaßt, als
ein seiendes Nichts, ein massives Loch. Den Tod selbst hat er nie
gefunden.
Also nicht infolge eines Schlusses von sich selbst auf andere weist

220
der Mensdi dem Dasein das Leben als Grundlage zu. Wenn er
Leben sagt, spricht er das Wort nicht als eine Entdeckung aus,
deren Um fang er erfaßt. Das Leben ist ja die Voraussetzung für
alles. Die Menschen haben ebensowenig das Leben entdeckt, wie
sie das Licht entdeckt haben. Im modernen Denken ist Leblosigkeit
stets noch eine bloße Modifikation des Lebens, welche erreicht wird,
wenn man allmählich die hervorragendsten Eigenschaften des orga­
nischen Daseins wie etwa Bewegung und Gefühl ausschließt; wir
versuchen, Leben auf Leblosigkeit zu reduzieren, aber alles, was
wir erreichen, ist eine Negation, wir vermögen nie eine Existenz
von anderer Ordnung zu gründen; und infolgedessen zeigen sich
die Charakteristika des Lebens, sobald wir anfangen, über Stoff
und Tod zu grübeln. Der große Unterschied zwischen der primi­
tiven Spekulation und modernem Denken besteht nicht darin, daß
wir Existenz sagen, wo die Schöpfer der Mythen Leben sagten,
s andern darin, daß wir e i n e Art von Leben auf alle Dinge aus­
dehnen und so das Leben zur Grundlage für eine Hypothese der
Einheit machen. Die europäische Philosophie hat so sehr das Den­
ken von der Erfahrung losgelöst, daß es möglich wird, die ganze
N atur im Gleichnis des Menschen darzustellen. Wir haben ent­
deckt - oder richtiger, wir haben von den Griechen gelernt und
die Entdeckung weitergetragen -, daß es menschliches Leben und
menschliche Existenz ist, die in Pflanze und Stein wohnt. In den
letzten drei Jahrhunderten ist es die Aufgabe der Philosophie und
der Wissenschaft gewesen, dem Leben und der Existenz die deut­
lichsten menschlichen Züge zu rauben und sie zu unbestimmten,
farblosen Begriffen zu reduzieren, die allen Organismen und im
weiteren Sinne allen Phänomenen angehängt werden; aber obschon
Leben und Existenz den Namen gewechselt haben und jetzt Kraft
oder Gesetzmäßigkeit genannt werden, haben sie doch nicht ihren
Charakter gewechselt, und in den Formeln der Entwicklungslehre
—um nur ein Beispiel zu nennen: in dem Kam pfe ums Dasein und
dem Seufzen der N atur - kommt reiner Anthropomorphismus an
die Oberfläche. Dieser Anthropomorphismus ergab die Konstruk­
tion einer inneren Verwandtschaft zwischen allen Dingen der Welt.
Alle Fragen sind auf diese Weise in einem Problem gesammelt: dem
Problem vom Ursprung und Wesen des Lebens, dem Sinn der Welt.
H ier zeigt sich der Unterschied, der es für moderne Menschen so
schwierig macht, die Gedanken und die Probleme der alten Kultur
zu verstehen. Leben, Existenz, Dasein, Seele, Stoff werden bei uns

221
natürlich in der Einzahlform gebraucht und enthalten eine Ver­
allgemeinerung der Erfahrung, die bei den Schöpfern der Mythen
kein Seitenstück hat. Für den primitiven Menschen ist das Leben
nicht eins, sondern Legion, der Seelen sind nicht nur viele, sondern
sie sind vielfältig.
Um die Gedanken fremder Völker zu verstehen, müssen wir
notwendigerweise ihre Selbst-Offenbarungen mit unsern Aus­
drücken wiedergeben; aber es kommt vor, daß unsre Worte eine
solche Last von vorgefaßten Meinungen mit sich führen, daß diese
Last den zarten Mythos oder den philosophischen Gedanken mitten
in der Erklärung zerdrückt. Wünschen wir eine wirkliche Verbin­
dung mit unsern Mitmenschen herzustellen, so müssen wir darauf
achten, unsre Worte umzuwerten, bevor wir sie auf seine Erfahrun­
gen übertragen. Wir müssen so weit wie möglich unsre festen For­
meln beiseite stellen, bis wir den Gegenstand, auf den sie ange­
wendet werden sollen, umschritten und von allen Seiten betrachtet
haben. Doch wird die Analyse uns nicht die ganze Strecke bis zum
engen Vertrautsein führen können. Kultur ist keine Masse von
Glaubensarten und Vorstellungen, sondern eine ausgeglichene H ar­
monie, und unser Verständnis hängt von der Fähigkeit ab, jeden
Begriff in seine rechte Umgebung zu stellen und seinen Einfluß auf
alle die anderen Begriffe zu bestimmen.
Die primitiven Begriffe von Leben und Existenz stimmen weder
mit unsern Begriffen überein, noch stehen sie im vollständigen
Gegensatz zu unserer Wissenschaft und Psychologie. Der Glaube
an Seelen schließt keine Personifizierung natürlicher Dinge ein,
andererseits schließt er auch nicht die Möglichkeit aus, daß Sonne
und Erde menschliche Gestalt annehmen können. In Skandinavien
ist die N atur von Mächten in menschlicher Gestalt bevölkert. Aus
der Erde und aus den Hügeln gucken Elfen und Zwerge, eine
Schar von Jöten brüllt in den Bergen, vom Meere antworten Rans
Tochter, die verführerischen und hartherzigen Wellenmägde und
ihre grausame Mutter, und daheim in der H alle der Tiefe sitzt der
ehrwürdige Agir. Über den Himmel gehen Sonne und Mond, ja
manche sagen, daß die beiden in Wagen fahren, mit geharnischten
Rossen als Vorspann; die Sonne wird von zwei Wolfen verfolgt,
die gierig nach ihrem strahlenden Körper schnappen. Von der
Sonne und dem Mond heißt es nicht nur, daß sie sich vermählt
haben, sondern auch, daß sie Nachkommen haben.
In der alten Reihe von kleinen norwegischen Gedichten, die die

222
Heidreks-Rätsel genannt werden, treiben die Wellenmägde ihr
Spiel mit annähernd der gleichen Freiheit wie Nymphen:
„Wer sind die Mägde, die wehklagend schreiten? Vielen Männern
haben sie Leid gebracht, so bringen ihre Zeit sie zu.
Wer sind die Mägde, die viele zusammen in Scharen schreiten,
helles H aar in weiße Tücher gehüllt? Keine der Mägde hat einen
Mann.
Wer sind die Witwen, die zusammen schreiten? Selten nur sind
sie mild zu Fremden; im Winde müssen sie wachen.
Wer sind die Mägde, die in Schaumhemden gehen zur Förde her­
ein? Ein hartes Bett finden die Weißhaubigen, und in der Stille
spielen sie nicht.“
Aber diese Verse drücken die Gedanken der Nordländer nur
halb aus; die andere Hälfte wird durch die Namen angedeutet, die
diese hellhaarigen, grausamen Geschöpfe tragen: eine der Mägde
wurde „Wallend“ genannt, eine andere „Himmelgleißend“ , eine
dritte „Stam pfend“ , eine vierte „K alte“ , eine fünfte „Blut-haarige“ .
Diese beiden Hälften müssen zusammengefügt werden, wenn wir
den wahren Wert der alten Beschreibung des Meeres erhalten wol­
len. Moderne Leser verwandeln unbewußt die Bilder des Rätsels
unter dem Einfluß der gegenwärtigen Natur-Poesie. Unsre Wieder­
gabe ändert die Perspektive des Bildes, weil unsre Wörter mit
anderen Assoziationen geladen sind, und, wenn sie zusammen­
gesetzt werden, eine Atmosphäre schaffen, die den alten Dichtun­
gen fremd ist. Wenn wir diese Schilderung der Wellen lesen, die
gegen die Küste branden oder in langen Reihen einander ver­
folgen, so genießen wir den Anblick scharfgeschnittener Formen,
und wir atmen die salzigen Spritzer der Brandung ein, aber diese
unsere Rekonstruktion ist gleichzeitig viel zu plastisch und viel zu
impressionistisch, weil es nach unserer Art des Erlebens der über­
wältigende Eindruck des Augenblicks ist, der sich in poetischen
Bildern einen Ausgang sucht. Die alten Worte geben nicht den Ein­
druck von Augenblicksstimmungen wieder, und um das alte Bild
in seiner Tiefe wiederzugewinnen, müssen wir die modernen An­
spielungen und ihre gefühlsmäßigen Werte durch die Andeutungen,
die in den Namen der Wellen-Mägde enthalten sind, ersetzen:
Stampfende oder Kalte oder Bluthaarige; sie zerstören das nied­
liche Bild der weißgliedrigen Nymphen und verbannen gleichzeitig
alle Gefühle, die von der augenblicklichen Schönheit des Meeres
emporgerufen werden. „Viel hat Ran mir abgezaust, meiner Sippe

223
Bande hat die See zerrissen“ , so klagt Egil, als sein Sohn ertrun­
ken war, und seine Worte können gedeutet werden, als hätte er
Ran aufrecht stehen sehen, ein furchtbares Weib, die Hände um
das gepreßt, was ihm gehörte. „Ägirs Dirne“ , schreit er ihr zu in
seinem herausfordernden Trotz. Aber die Dichter konnten noch
in späten historischen Zeiten von Ran und Agir als dem Meere
sprechen, das sie waren, ohne ihre Persönlichkeiten zu verschleiern.
„D as Roß der Seehügel reißt seine Brust aus dem Munde der
weißen R an “ , sagt ein Skalde vom Schiff, das durch die Wellen
fährt; ein anderer schildert das harte Stampfen eines Fahrzeugs
mit diesen Zeilen: „Die feuchtkalte Ran führt immer wieder das
Schiff in Ägirs Rachen hinab.“ Der Dichter des Helgi-Liedes hört
nun, wie lange Kiele mit dem Getöse der Brandung, mit der
Schwester der Kolga (d. h. die Kalte) Zusammenstößen, und sieht
im nächsten Augenblick, wie Ägirs furchtbare Tochter versucht, die
Schiffe zum Kentern zu bringen, sieht, wie die Tiere der Brandung
(die Schiffe) sich aus Ägirs H and losreißen.
Auf dieselbe Weise ist die Erde das eine Mal ein Weib, das
schreit und droht oder empfängt und Kinder gebiert, ein anderes
Mal ist sie imstande zu verwelken oder Männer in ihrem Schoß
zu begraben. In diesem Augenblick noch erhebt der Fluß sich gleich
einem Manne, um den Durchwatenden herauszufordern, im näch­
sten stürzt er sich wie eine Flut über seinen Feind und ertränkt ihn
im wütenden Schäumen seiner Gewässer. In einem Preislied auf
Ja rl Hakon versucht H allfred seinen Zuhörern einzuprägen, daß
der emporgekommene Häuptling aus dem Norden wirklich N or­
wegen erobert und durch seine Siege ein Recht erworben hat, das
Land zu beherrschen, den Erbansprüchen des gestürzten könig­
lichen Hauses zum Trotz; und er ist nicht zufrieden, bis er die
Sache so lange gedreht hat, daß er sie von vier verschiedenen Seiten
aus zeigen kann. D as Hauptthema ist, daß der Ja rl die Erde
erobert hat und eine feste Verbindung mit ihr eingegangen ist.
Der Krieger ließ nicht gern Auds schöne Schwester allein und
brauchte deshalb den Wahrspruch des Schwertes gegen die laub­
haarige Erde, Odins angelobte Braut. So wurde die Ehe gestiftet,
sie schlossen einen Vertrag, wonach der Jarl, der Ratkluge, die
einzige Tochter von Onar, die waldgekleidete Frau, als Braut ge­
wann. Er hat die breitzügige Tochter von Baleyg erobert mit den
bezwingenden Worten des Stahls. In seinem Eifer, die Macht und
das Recht Hakons zu preisen, erschöpft der Dichter die Um-

224
Schreibungen der Sprache und gibt uns unwillkürlich ein Verzeich­
nis über die Verwandtschaftsbeziehungen, die die Erde mit anderen
Mächten eingegangen war, und obschon Onar undA ud undBaleyg
nicht viel mehr als Namen für uns sind, braudien wir nicht daran
zu zweifeln, daß diese Personen und ihr Verkehr mit der Erde im
alten Glauben und in echten Mythen begründet waren. H allfred
tut der Sprache keine Gewalt an, wenn er Norwegen als eine
königliche Braut schildert, die es wert war, von einem ehrgeizigen
Ja rl wie H akon gefreit zu werden, aber die Attribute der Königin
sind nicht die einer menschlichen Frau. Onars Tochter ist die „w ald­
gekleidete“ , Baleygs Weib ist die „breit-geschnittene an Zügen“ ,
Odins Braut ist „laub-haarig“ , und in diesen Verzierungen nähert
H allfred sich auch den gebräuchlichen Wendungen der poetischen
Sprache.
Dieselbe Gewandtheit und Kunstfertigkeit im Spielen mit über­
lieferten Worten finden wir bei einem anderen Dichter, bei Eyvind
in den Spottliedern, die er über H arald Graumantel dichtete, den
geizigen König, der nach der Art kleiner Leute seine Schätze in
der Erde versteckte. In den Tagen des guten Königs Hakon, singt
er, funkelten die Ringe an den Armen seiner Krieger und Skal­
den; das Gold ist die Sonne, die auf den Habichtshügeln - die
Jagdfalken wurden ja auf dem Arm getragen - strahlen soll, und
dort leuchtete es zur Zeit Hakons des Guten; aber jetzt liegt es
im Leib von Thors Mutter verborgen.
Die höfische Dichtkunst in Norwegen kann uns kaum die alte
germanische Vorstellungskraft im allgemeinen erläutern; die Um­
schreibungen waren für Dichter wie H allfred und Eyvind mehr
wie Teile einer Rede, die von einem ehrgeizigen Skalden frei ge­
mischt werden konnten, wenn er seine Erfindungskraft zeigen
wollte. Es ist nicht nur so, daß die Kunst zur Kunstfertigkeit
herabgesunken ist; die Dichter verstellen oft die Wörter, bis sie
neue und eindrucksvolle Wirkungen ergeben. Der Gegensatz zwi­
schen der goldenen Sonne auf den Hügeln und dem dunklen Schoß
der Erde ist ein schöner Einfall, der beweist, daß Eyvind ein
moderner Dichter mit einer von der westlichen Kultur berührten
Vorstellungskraft ist. Aber diese mittelalterlichen Skalden in N or­
wegen können sich von der überlieferten Sprache, die von Män­
nern der Vergangenheit für sie vorbereitet worden war, nicht
befreien; sie versuchen ihre individuellen Vorstellungen und Ein­
fälle mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, auszu-

225
gestalten, und deshalb zeigen ihre Verse den Niederschlag der alten
Vorstellungen, in Redensarten und Wendungen verkörpert.
Wenn die Erde Odins Gattin, Thors Mutter, genannt wird,
wenn der Wind als Fornjots Sohn bezeichnet und das Meer als
Ran, Ägirs Weib, aufgefaßt wird, so sind die Mythen nicht Ver­
menschlichungen oder Personifizierungen im modernen und alex-
andrinischen Sinne. Die Menschenähnlichkeit wird den anderen
Eigenschaften der Naturerscheinungen hinzugefügt oder richtiger
ausgedrückt: menschliche Erscheinung tritt wie eine Eigenschaft
unter anderen Eigenschaften in die Seele von Erde, Wind und
Meer, aber sie behindert nicht im geringsten das unpersönliche
Wirken der Naturkräfte. Es besteht kein Widerspruch zwischen
Subjekt und Verbum in der Schilderung der Winterstürme bei dem
Skalden: „Fornjots Söhne begannen zu wirbeln“ , und es ist auch
kein Bruch mit dem gesunden Menschenverstand in einer Sturm­
schilderung wie dieser: „Die Regenschauer kardeten und zwirnten
die sturmfrohen Tochter des Ä gir.“ Der Mond gebiert, die Erde
ist eine Mutter, Steine setzen Junge in die Welt, und das heißt,
daß diese Wesen zeugen, empfangen und entbunden werden, denn
so geschieht alle Fortpflanzung unter der Sonne. Aber das besagt
nodi nicht, daß die Erde sich nun auch zu einem menschlichen
Wesen umbilden und ein Lager aufsuchen muß, um ihre Kinder
zu gebären. Das wenige, was wir von dem praktischen Verhältnis
unsrer Vorfahren zu der Welt um sie herum wissen, läßt, wie sich
bald zeigen wird, vermuten, daß sie sich nicht an die natürlichen
Dinge wie an Pseudo-Persönlichkeiten wandten; gleich ihren pri­
mitiven Brüdern auf der ganzen Erde versuchten sie die Freund­
schaft und die Kräfte von Tieren, Bäumen und Steinen durch viel
sicherere Maßnahmen zu gewinnen. Wenn der Dichter Frigg Boten
schicken läßt zu Feuer und Wasser, Eisen und allen Arten von
Erzen, zu Steinen, Erde, Bäumen, Krankheiten, Tieren und Vögeln,
um ihnen das Versprechen abzunehmen, Balder nie zu schaden,
stellt er sich eben nicht vor, daß diese Boten hinausgehen, um an
den Turen von Dämonen und Nymphen anzuklopfen; seine Zu­
hörer müssen vertraut gewesen sein mit einer Methode, nach der
sie sich unmittelbar an die Dinge selbst, an die Seelen wenden
konnten.
Um diese ganze Vorstellung, wie sie in der Seele der Germanen
lebte, zu erfassen, müssen wir versuchen, die Bestandteile zu ver­
schmelzen, die sich nach unserm Denken nicht miteinander ver­

226
einbaren lassen, und außerdem müssen wir unsre Gewohnheit, die
N atur im Lichte des Augenblicks zu betrachten, abstreifen. Das
Wort „sturm-froh“ auf Ägirs Tochter angewendet, das jetzt für
unsere Phantasie das Spiel der Wogen hervorruft, hatte einen tie­
feren Sinn und viel weniger Augenblicksbedeutung. Wir begreifen
das einigermaßen, wenn wir die Kriegsfreude der Helden in der
alten Dichtung zum Vergleich heranziehen. Die modernen Ersatz­
wörter können nie die Energie der germanischen Worte auf fangen;
es genügt nicht hinzuzufügen, daß die Adjektive früher kräftiger
waren oder daß die Kam pffreude heftiger war. Für unser Gefühl
entsteht die Ekstase des Kämpfens aus dem Zusammenstoß zwi­
schen den Kriegern; in der alten Psychologie sind Kampffreude
und der K am pf selbst eine dauernde Eigenschaft des Mannes oder
ein Teil seiner Seele. Auf dieselbe Weise ist Sturmfreude eine
Eigenschaft, die der Seele oder der N atur der Wellen innewohnt.
Wenn die Welle kalt oder Ran feuchtkalt genannt wird, bedeuten
die Adjektive nicht, daß das Weib kalt ist wie das Meer, sondern
daß sie die K älte des Salzwassers in sich hat; die eisige Kälte
gehört zu ihrer Seele genau wie das Alter oder die Langlebigkeit
zu der N atur des Bären gehört, aus welchem Grunde er im Angel­
sächsischen - und heute noch in der Volkssprache - „der Alte und
Furchtbare“ genannt wird.
Wir können die Seele der Alten zusammenflicken, aber es wird
uns nie gelingen, ihre lebende Einheit in unsrer Sprache auszu­
drücken, weil unsre Worte für vollständig andersgeartete Begriffe
geformt sind und jedem Versuch widerstehen, sie in eine neue
Ebene einzubiegen und nach neuen Mustern zusammenzufügen.
Um aber die Art des primitiven Menschen zu verstehen, müssen
wir uns bis zu einem gewissen Grade seine Erfahrung vergegen­
wärtigen können. Wir müssen sehen, daß die Seele oder die Idee
der Erde etwas Ganzes ist, das sich ohne Sprung von der Viel-
wegigkeit bis zur Mutterschaft spannt. Die nordische Hel ist der
Tod, und sie ist genau so neutral wie wir uns den Tod denken
können, aber H el ist auch ein Reich für die Toten und sie ist eine
wirkliche Person, (nicht nur eine blasse Personifikation) die als
Tod wirkt und die Fäulnis selber ist, die blau und schwarz von
Farbe ist. „H ild “ bedeutet Schlacht, nämlich den Lärm der Waffen,
die brandende Menge von kämpfenden Männern, und außerdem
bedeutet es Schlacht-Mädchen.
Der Anthropomorphismus wurzelt in der primitiven Erfahrung,

227
weil die Persönlichkeit von Anfang an im Wesen jeder Seele ruht,
aber sie kann nicht hervorbrechen, bevor der Gedanke sich von
der Erfahrung loslöst. Nicht bevor der Mensch so sicher an seinem
Platze steht, daß er nicht mehr nötig hat, seine Umgebung jeden
Augenblick mit einem gebieterischen Blick anzustarren, nicht bevor
er anfängt, seine eigene N atur bewußter ins Auge zu fassen und
über die Vorgänge in seinem Innern nachzudenken, äußert sich
die Neigung, das Universum zu vermenschlichen. Dann aber wird
er ein Naturdichter. Erst wenn dieser Standpunkt erreicht ist,
kann er es wagen, seine Umgebung als ihm ebenbürtig zu betrach­
ten und ihr dieselbe Behandlung angedeihen zu lassen, die er
selber schätzt und vor der er sich beugt. Vor dieser Revolution
weiß er nur zu gut, daß es notwendig ist, den Charakter der
Seelen zu erkennen, damit er das Wohlwollen der N atur genießen
und sich vor einer schädigenden Kraft schützen kann. Die richtige
und eigentliche Vermenschlichung wird dann geboren, wenn der
Mensch sich in Städte und Burgen verschanzt, die N atur mit H ilfe
von dicken Wällen ausschließt und sich auf gesellige Unterhaltun­
gen mit seinen Mitmenschen beschränkt.
Die große Veränderung geschieht in dem Augenblick, wo die
Persönlichkeit, die bis dahin von den natürlichen Kräften ab­
hängig war, nach rein menschlichen Vorurteilen zu handeln an­
fängt. Wenn die Seele befreit wird, so daß sie sich über ihre E r­
scheinung erhebt, dann - und nur dann - ist sie ein menschliches
Wesen. Wenn Nymphen nicht mehr dahinwogen, wenn die Erde
nicht länger ihre Kinder in sich verbergen kann, wenn die Sonne
auf einem Wagen steht und ein paar leuchtende Rosse lenkt, die
sie zusammen mit den gesamten Eigenschaften der Sonne in einen
Stall hineinstellen kann, dann ist die N atur zerbrochen, und die
Personifikation ist geboren worden.

Es ist für uns schwierig, unbedingte Begriffe wie Leben und


Dasein auf einen so kleinen Umfang zusammenzudrängen, wie sie
ihn haben müssen, um auf die Seele der Vorzeit Anwendung zu
finden, ohne daß gleichzeitig die Tiefe verschwindet. Wir kommen
den alten Gedanken vielleicht am nächsten, wenn wir sagen, daß
das Leben und das Dasein damals eine N atur war - N atur im
alten Sinne gebraucht als etwas, das von der Geburt oder vom
Ursprung ab da war, etwas, das unzertrennlich anhaftet und das
sowohl Wesen wie Charakterzüge bedingt. Eine N atur kann nur

228
ganz bestimmte Wirkungen zeitigen, nämlich die, die in ihr liegen,
wie z. B. vier Beine von der besonderen A rt des Wolfes, mit die­
sem und jenem Geruch zusammen, einen Rachen, der auf diese
oder jene Weise auf- und zuklappt, eine Neigung zum Raub und
zum Herumschleichen in der Einöde. Eine andere N atur kann nur
etwas Eckiges, Hartes, Schweres hervorbringen, das in gewissen
Fällen herunterrollen und einem Manne, der ihm im Wege steht,
die Zehen abbeißen kann. Aber dann hat die N atur es auch in
sich, daß sie es nicht unterlassen kann, ihre Wirkungen auszuüben.
Die Wolfheit mag wohl als Seele existieren, aber früher oder spä­
ter wird sie sich als eine reißende Bestie zeigen.
Überall wo der Charakter verschieden ist, sind die Beseelten
durch eine unüberbrückbare Kluft des Sonderlebens geschieden.
Die Unvereinbarkeit der N atur überwiegt und überschattet jede
äußere wie jede innere Gleichheit. Die N atur eines Baumes, sein
Charakter, wird an seinem Aussehen erkannt: ob er rauhe Rinde
hat oder glatte, ob seine Blätter rund oder länglich sind, ob er in
die Höhe oder in die Breite wächst; aber auch an seinem Verhalten:
e i n Baum hat Rinde, die bei schlechtem Wetter glänzt, die eines
anderen wird dunkel und drohend; an einem Baum raschelt das
Laub, auch wenn das Wetter still ist, ein anderer ringt die Arme
wild im Sturm, läßt sie aber sonst schlapp hängen. In dieser Ge­
wohnheit des Baumes liegt eine Offenbarung seiner innersten
Seele; viel Weisheitsheil hat, wer die Seele eines Baumes an seinem
Verhalten ablesen kann. Man weiß, daß der eine Baum Kenntnisse
und Wahrsagegaben besitzt, die der andere nicht aufweist oder
jedenfalls nicht auf so deutliche Art.
Und schließlich ist die Nützlichkeit eines Baumes ein Teil seiner
Seele. In der N atur der Eiche liegt es, das Meer zu befahren, wie
in der der Esche, Speerschäfte zu bilden. Die Arteinteilung von
Büschen und Bäumen in den alten Sprachen geschieht nach ihrer
Bedeutung für das menschliche Leben; sie werden in Bäume mit
hartem H olz und in Bäume mit weichem H olz geteilt, in die un­
fruchtbaren und in die fruchtbaren, die Menschen und Tieren
Nahrung geben; vielleicht auch in solche, die gut fürs Feuer sind,
und in schlechtbrennende. Aus dem angelsächsischen Runenverzeich­
nis erhalten wir ein Bild - wenn auch ein undeutliches und nur
bruchstückhaftes - von den Seelen der Bäume. Die Eibe ist „rauh
auf der Außenseite, hart, fest im Boden, Nährer des Feuers, tief­
verwurzelt“ - und noch etwas, was wir nicht verstehen. Die Birke

229
ist „ohne Frucht, trägt Äste, doch ohne Sprößlinge; sie ist schön
an Zweigen, heiter geschmückt bis in die Wipfel, schwillt von
Laub, Spielgenossin der Luft“ . Die Eiche dient „den Menschen­
kindern zur Erhaltung des Lebens; häufig fährt sie über die See,
und die Woge setzt ihre Kernfestigkeit auf die Probe“ . Die Esche
„ist sehr hoch, den Menschen teuer; sie hält ihren Stand fest im
Boden, auch wenn viele Männer einen Überfall auf sie machen“ ,
- und wir müssen hinzusetzen, wenn der Sinn ganz klar werden
soll: sie hält zähe ihren Stand, nicht nur, wenn sie ihre Wurzeln
zum Felsen hinabsenkt, sondern auch als Eschenspeer in den
Händen des Kriegers.
Auch die Steine haben ihre N atur, die ihnen ihre Trägheit und
ihre H ärte gibt, sowohl ihre Gabe, sich gelegentlich zu bewegen,
ihre Schärfe beim Schneiden, ihre Kraft im Zermalmen - jeder
Stein nach seiner Art. Der unbeirrbare Ortssinn jener Menschen
beruht darauf, daß sie von der Kindheit an jeden Baum, jeden
Stein, jede kleine Erhöhung des Erdbodens kennen; sie sind ge­
wohnt, das einmal Gesehene so genau im Gedächtnis eingeprägt
zu tragen, daß nicht die kleinste Veränderung ihnen entgeht. Sie
wissen also wohl, daß die Steine auf freiem Felde ihre ver­
schiedenen Charaktere haben, die sich nicht nur in ihren Formen
offenbaren, sondern auch in ihren „Gewohnheiten“ , vielleicht in
der Gabe, den Weg weisen zu können.
Die Berge und Hügel, die den Gesichtskreis bilden, haben, wie
der weiß, der sie jahraus, jahrein beobachtet, alle ihre Eigentüm­
lichkeiten; sie sind alle empfindlich für das, was in der Luft ge­
schieht, aber sie künden den morgigen Tag, sein Wetter und seine
Ereignisse nicht auf die gleiche Weise, vielleicht auch nicht mit der­
selben Weisheit. Etliche von ihnen haben die besondere Aufgabe,
die Tageszeit anzugeben; je nachdem die Sonne „a u f“ diesem oder
jenem Punkte im Gesichtskreis steht, teilen die Menschen ihr Tage­
werk und ihre Ruhestunden ein - und ihre N atur wird bezeichnet
durch solche Namen wie „Mittagshügel“ oder „Vesperspitze“ .
Es scheint, daß unsre Vorfahren mit besonderer Zuversicht den
Ratschlägen und Wahrzeichen folgten, die fließendes Wasser ihnen
spendete; es finden sich schwache Hinweise darauf, daß sie mit
scharfer Einsicht die Seele aus der Form und den Bewegungen der
Wasserfälle deuteten, vielleicht lauschten sie auch den Eigentüm­
lichkeiten in den Stimmen fallender Ströme. Ein Dichter, der sich
jenseits der Kinderweisheit der Welt stehend fühlte, der Bischof

230
Bjarni Kolbeinson, verwahrt sich in seiner Jom svikingadrapa aus­
drücklich gegen den Verdacht, daß er seine Weisheit „unter Wasser­
fällen“ geholt haben sollte; es ist, als ob sein Gewissen fast vor
all dem Heidentum zurückschreckte, das er über seine Lippen
bringen mußte, wenn er in der alten Form Gedichte machte. Was
Plutarch von den Sueben Ariovists erzählt, hat wohl weitere
Gültigkeit: sie wahrsagten aus den Wirbeln der Flüsse und aus
den Windungen und dem Rauschen der Ströme. In jedem Falle,
auch wenn der Satz als Ganzes in Plutarchs Gehirn geboren und
nicht Wort für Wort durch die Gedanken der alten Deutschen
bestätigt wäre, drückt er das aus, was den Germanen im wesent­
lichen erfüllte, wenn er mit gespannter Aufmerksamkeit unter
einem Wasserfall saß.
In unsrer Vorstellung sind die Tiere nach ihren Zähnen und
ihrer morphologischen Struktur eingeteilt, und wir führen unsere
zoologisdien und botanischen Systeme mit uns, wenn wir uns
hinausbegeben, um die Welt zu erforschen, wie sie von einem
Hindu oder Buddhisten, von einem Australier oder Indianer ge­
sehen wird. Mit reizender N aivität zerstückeln wir die Kenntnisse,
die wir von anderen Völkern erhalten, um sie fertigen Kategorien
einzuverleiben, und machen so alle Mythologien der Welt zu Unsinn
oder Aberglauben. Was in allen Weltteilen not tut, ist geduldige
Erforschung der primitiven, nichteuropäischen Erfahrung. Der
Ethnologe muß erst lernen, was er sehen soll und wie er es sehen
soll; er muß jedes Tier mit den Augen des Eingeborenen beobach­
ten, ohne sich auf sein eigenes Kompendium zu beziehen, und auf
diese Weise muß er eine neue Zoologie, Botanik und Mineralogie
zusammenstellen oder richtiger, so viele Zoologien und Botaniken,
wie es verschiedene Beobachter gibt. Auf den nordamerikanischen
Prärien muß er seine gewöhnliche Vorstellung von einem radika­
len Unterschied zwischen fliegenden und laufenden Geschöpfen
aufgeben, um zu lernen, daß die Krähe und der Büffel in der­
selben Weise verwandt sind wie der Wolf und die Heide im nörd­
lichen Europa, weil es ein wesentlicher Zug im Charakter der
Krähe ist, die Büffelherden zu umschwärmen und ihre Anwesen­
heit zu verraten. Bei den Skandinaviern muß er langsam seinen
Begriff vom Mond zusammenstückeln, indem er lernt, daß er
wandert, die Jahre zählt, Glück und Unglück entscheidet und
Krankheit sendet. Um zu verstehen, was ein Germane mit „Eiche“
meint, müssen wir einfach lernen, daß Seetüchtigkeit genau so gut

231
zu ihren Eigenschaften gehört, wie ihr knorriger Stamm und ihre
eßbaren Früchte. Wahrsagung ist fließenden Strömen so gut eigen
wie Schnelligkeit und Kälte.
Der Außenstehende muß die Tatsachen stückweise sammeln und
zu einer neuen Einheit verbinden; jede Andeutung, die von den
Lippen des Fremden fällt, während er die Dinge betrachtet, muß
ohne irgendwelche selbstherrliche Unterscheidung zu den Einzel­
beobachtungen gefügt werden, ob sie nun mit unsren Ideen zu­
sammenfällt oder aber unsrer Naturphilosophie widerspricht. Im
nördlichen Europa ist unser Stoff spärlich und bruchstückartig,
aber wir sind doch imstande, aus den Überbleibseln der poetischen
und juristischen Sprache ein Abbild zu gewinnen. Was die See
betrifft, so erfahren wir, daß sie kalt, salzig und weit w ar; ferner
wird sie bei den Isländern kohlen-blau genannt, bei den Angel­
sachsen fealu , fahl, in Worten, die andere Gedankenverbindungen
andeuten als die von bloßen Farben. F ealu enthält möglicherweise
eine Anspielung auf die Unfruchtbarkeit der Tiefe, so wie die
griechischen Epitheta. Sie ist grausam, und vielleicht enthält
kohlen-blau einen Hinweis auf ihre tödliche Macht. Sie ist der
Weg im Lande der Möwen, der Schwäne und Ganner, im Lande
der Seehunde, Wale und Aale, der Weg der Schiffe und Seefahrer.
Und zu diesen Epitheta muß noch das Bild Ägirs, des Meermannes,
und Rans, des Weibes der Tiefe, gefügt werden. Die Erde ist weit,
groß, gewaltig, weiträumig, ausgedehnt; sie behauptet sich als un­
beweglich fest. Sie wird die Grüne - sogar die Immergrüne —
genannt und die Wachstumspendende, die G ebärende, die E r­
nährende; „so weit die Welt wächst“ , ist ein nordischer Ausdruck
für: „über die ganze Welt“ .
Aber es gehört auch zu der N atur der Erde, wegsam zu sein;
weil sie den Füßen der Menschen Pfade bietet und Raum zum
freien Ausschreiten, erhält sie den Namen: Weg oder Wege; und
hier können wir mit eigenen Augen sehen, wie tief im Alltags­
gedanken die Worte verankert sind. Odin kann im Gedicht mit
einer Hindeutung darauf, wie er durch ein Loch in den Berg hin­
eingekrochen ist, um Gunnlöd, die Jötenbraut, zu freien, sagen,
daß „die Wege der Jöten “ über und unter ihm standen, und in
der alten Alltagssprache ist Norwegen einfach soviel wie „N ord-
Wege“ , und die „Ost-Wege“ bedeuten Rußland. „Grüne P fade“ ist
im Norwegischen ein Name, der M idgard im Gegensatz zu dem
öden U tgard bezeichnet; in der Zusammenstellung vereinigen sich

232
zwei Eigenschaften der Erde: ihre Fruchtbarkeit und ihre Wegsam­
keit — die Gebärende und die Weitpfadige. Hierzu kommen noch
die Andeutungen aus dem praktischen Leben. Wir erfahren, daß
die Menschen, wenn sie in N ot waren, die Kräfte der Erde an­
riefen, entweder um die Folgen starker Getränke abzuwehren
oder um sich vor schädlichen Einflüssen zu schützen. In einer angel­
sächsischen Formel wird eine Anweisung gegeben, Erde in die linke
H and zu nehmen und Erde unter den rechten Fuß zu legen und
zu sagen: „Erde hat Macht gegen alle Arten von Wesen, gegen
N eid und Vergeßlichkeit, gegen die Zunge eines mächtigen Man­
nes.“ Die Verse sind enthalten in einigen Anweisungen für Land­
wirte, beim Ausschwärmen der Bienen zu gebrauchen, aber ihr
Inhalt zeigt ihre Anwendbarkeit für viele andere Lebensumstände.
Möglicherweise begegnen sich die Vorstellungen von Festigkeit und
Fruchtbarkeit der Erde in dieser Beschwörung. Schließlich ist die
Erde ein Weib, das empfängt und gebiert, das Menschen und Dinge
in ihrem Schoße oder in ihrem Leib birgt.
In Bärheit, Wolfheit, Rabenheit, in Eidiheit, Buchheit, Ulmheit
endet die Seele nach der einen Seite zu. Aber kehren wir dann
um, um die Grenze der Seele nach der äußeren Seite hin zu suchen,
nach dem Lichte zu, so werden wir bald entdecken, daß der Weg
länger ist, als wir dachten. Die beiden Flügel der N atur, der eine,
der in das Dasein hinunterreicht, und der andere, der sich in die
Erscheinung hinausstreckt, müssen genau gleicher Länge sein; so
weit die N atur geht, das heißt solange Eigenschaften und äußere
Gestalt dieselben sind, ist das Leben identisch. Alle Wolfe, alle
Eichen, alle Steine haben dasselbe Leben. Und alle Mitglieder der­
selben Klasse sind nicht nur Teilhaber einer bestimmten Art von
Seele und eines bestimmten Vorrats an Lebenskraft, sondern sie
sind sowohl seelisch wie körperlich identisch, so daß sie gegen­
seitig ihre Leiden erleiden und gegenseitig ihre Kränkungen, ihren
Zorn oder ihr Wohlwollen empfinden. Das urtümliche Denken
betrachtet die räumliche Trennung als einen unwesentlichen, zu­
fälligen Um stand; man gerät in Versuchung, es so auszudrücken:
Es fühlt die Solidität des Stoffes, des Körpers, ist aber blind für
seine Ausdehnung im Raum ; und vielleicht ist dieser Ausdruck
mehr als ein paradoxes Bild.
Für die primitive Erfahrung des Lebens hat die Identität eine
tiefere Grundlage als bloße Fortdauer. Wir vereinigen unsre ge­
trennten Sinneseindrücke und machen ein Ganzes aus ihnen, in­

233
dem wir mutmaßen, daß die Welt voll ist von einzelnen Wesen,
und daß jedes einzelne Individuum ein eigenes geradliniges Leben
führt; wenn das Tier uns aus den Augen entschwindet, so stellen
wir uns vor, daß es irgendwo verborgen unter den tausend Din­
gen der Erde eine Daseinslinie zieht, bis es wieder auf unsrem
Pfade erscheint. Das Universum ist durchkreuzt von Millionen
und aber Millionen von Fäden, jeder von einem isolierten Indi­
viduum gesponnen. In der primitiven Erfahrung aber ordnen sich
die Tatsachen in einem anderen Muster. Alle Bären sind dieselbe
Seele und derselbe Körper, und jede neue Erscheinung eines Bären
- sei es nun derjenige, den wir gestern sahen, oder der entfernteste
von allen aus der ganzen Gattung, so würden wir denken - ist
eine neue Schöpfung der Seele. Ein Bär ist jedesmal eine N eu­
geburt, wenn er neu erscheint, denn die tiefe Verbundenheit im
Dasein der Seele ist eine dauernde Kraft der Wiedergeburt. Nach
unsrer Beobachtungsweise werden Here entweder gezählt oder sie
werden zu einer gemeinsamen Art oder Gattung vereinigt; wir
sprechen von einem Wolf, von Wolfen und von dem Wolfe; aber
in der ursprünglichen Sprache und Dichtkunst ist das Her weder
dieser besondere Wölf noch d e r Wölf, der die Kapitelüberschrift
einer Herkunde bildet, sondern einfach Wölf. Diese individuelle
und doch allesumschließende N atur ist es, die in den angelsäch­
sischen Lehrgedichten geschildert wird wie in dieser Beschreibung
des Bären: Der Bär soll alt und schrecklich sein, oder, in moderne
Worte übertragen: Hohes Alter und Schrecken sind seine N atur
oder Seele.
Die volkstümlichen Märchen haben die alte Art des Erzählens
bewahrt, und unter der Decke einer überlieferten Sprache erhalten
sich noch schwache Ausläufer der alten Vorstellung: der Wölf, der
das kleine Rotkäppchen verschlang, ist sicher kein bestimmtes Her,
das sich in diesem Teile des Waldes aufhielt, sondern der Wölf des
Waldes.
Die Sonne ist auch von Tag zu Tag dieselbe, denn es gibt nur
die eine Sonnen-Seele; aber wenn in der Rechtssprache von diesem
oder jenem bestimmt wird, daß es durchgeführt werden soll vor
der fünften Sonne oder an dem Tage, wo fünf Sonnen am Himmel
vorübergegangen sind, dann bedeuten die Worte wirklich, daß
heute e i n e Sonne kommt, morgen eine andere, und daß
schließlich eine fünfte über die Vollführung des Unternehmens
scheinen wird. Es liegt kein Grund vor, sich zu wundern, wenn

234
wir uns eines Tages plötzlich - in einem Ritual oder in einer Ge­
schichte - Angesicht zu Angesicht mit einer ganzen Reihe von
Sonnengöttern befinden. Jeder Tag ist eine neue Geburt, aber alle
Tage sind nichtsdestoweniger D agr, Dellings Sohn, um mit den
Worten des nordischen Mythos zu sprechen, genau wie der Winter
der Sohn von Vindsvalr und der Sommer der Sohn von Svasudr
sind. Die Mythen bestätigen einfach die Tatsachen, wenn sie, wie
sie es manchmal tun, ein großes Wesen schaffen, den Häuptling
aller Bären oder den Vater der Sonne und des Mondes, das das
Leben der Bärheit oder der Sonnenheit verkörpert und seine Boten
in die Welt schickt. Nähern wir uns aber von der Seite des poeti­
schen Denkens der mythischen Vorstellung, so brauchen wir nicht
daran erinnert zu werden, daß Vaterschaft himmelweit verschieden
ist von unsrer Zeugung, die das individuelle Leben als die Linie
voraussetzt, auf welcher das Dasein auf gebaut ist. Der „Wind-
K alte“ , des Winters Vater, und der „Luft-Süße“ , des Sommers
Vater, sind nichts anderes als die immerwährende Seele, die zur
rechten Zeit in Erscheinung tritt.

235
Die Kunst des Lebens

Kein Wunder denn, daß das Leben in M idgard trotz allen Ge­
fahren und unvorhergesehenen Ereignissen so sicher erscheint. Der
Mann steht fest und selbstsicher auf seinen Füßen, unerschrocken
all den Utgardwesen zum Trotz, die immer wieder Streifzüge über
das Ackerland machen; er kämpft auf dem eigenen Felde und mit
einem Heer von Bundesgenossen.
Wir sahen den Mann außerhalb der Grenzen der Welt blind
straucheln: jeder Schritt war ein Rätselraten, und es waren Rätsel
der Art, wie die Jöten sie auf geben, wenn das Leben von ihrer
Lösung abhängt. Dieser oder jener Held mag sich ausnahmsweise da
draußen wenige Tage durchschlagen und wohlbehalten heimkehren,
aber dort zu leben ist unmöglich. Wäre Midgard so beschaffen, daß
die Menschen gezwungen wären, sich so im Blinden vorwärts zu
tasten, da hätten die Jöten bis ans Ende der Tage über die Welt
geherrscht.
Nun gibt es aber kein solch unsicheres Tasten. Die Menschen
kennen die Seelen aller Dinge, sie wissen, was in jedem einzelnen
Wesen an Willen zum Guten wie zum Bösen liegt, sie kennen die
N atur des Hasses und die N atur der Liebe, sie können sich das
Wohlwollen zunutze machen und sich vor dem Übelwollen be­
hüten, sie können am rechten Platze abbiegen und zur rechten Zeit
zugreifen. K raft ihrer Weisheit können sie herrschen, und wo die
Macht nicht hinreicht, können sie ihre klugen Pläne mit Sicherheit
entwerfen, ohne befürchten zu müssen, das Ziel zu verfehlen wie
so oft in jenem Lande der Dämonen. Sie können die Seelen der
Dinge zwingen, ihnen zu dienen, indem sie sie freundlich stimmen.
Pflanzen, in denen ein feindlicher Wille wohnt, und die unweiger­
lich den Unwissenden von innen heraus auf fressen, können von
demjenigen, der ihre Seele kennt, durch verständnisvolle Behand­
lung während des Wachstums oder weise Zubereitung nach dem
Sammeln in nützliche Stärke- und Heilmittel verwandelt werden.
Der Mann hat die Steine in seinen Dienst gestellt und sie in Ge­
räte verwandelt, in welchen jeder schädliche und vernichtende Wille

236
nach außen gekehrt ist und alles Wohlwollen nach innen, nach dem
Besitzer zu, so daß er sie ruhig handhaben und durch sie seinen
Zweck erreichen kann. Er ist von gezähmten Seelen umgeben.
Es gibt wohl kaum eine Seele, die ein kräftigeres Zeugnis von
der Klugheit des Menschen ablegen kann als das Feuer. Was dieses
gewesen ist, und was es noch sein kann, erfahren wir aus den
Namen, die ihm gelegentlich gegeben werden. Es teilt den Namen
fre k r mit dem Wolf und ist also dem „frechen, gierigen“ Raubtier
zugesellt; grausam und gefräßig heißen andere seiner Eigenschaften.
Und nun, was ist das Beste auf der Welt? „Feuer ist das Beste
unter den Söhnen der Menschen, der Anblick der Sonne, Gesund­
heit und Leben ohne Tadel“ - in einer solchen Aufzählung, die
mit dem Größten der Welt, tadelloser Ehre, endet, behauptet das
Feuer seinen Platz. „Feuer schützt oder hilft gegen Krankheit“ ,
heißt ein anderer alter Spruch, und wer etwas vom Leben des
Volkes weiß und von der Bedeutung des Feuers für die Wohlfahrt
der Menschen und des Viehs, der ahnt, welchen tiefen Sinn dieser
kleine Satz in sich birgt. D as Feuer ist der Lebensernährer, sagt
die Dichtersprache. Und diese Umbildung des unruhigen Elementes
haben die Menschen selbst vollbracht; die Menschen bändigen die
Flamme stets aufs neue, weihen sie und widmen sie dem Dienst in
Midgard. Den Brauch bei der alten Weihe kennen wir nicht, aber
aus späterer Volkssitte können wir uns jedenfalls einen Begriff von
ihrer Art bilden. Bei bestimmten Feiern oder wenn das Schwinden
des Heils auf die Notwendigkeit einer Erneuerung hinwies, wurde
das Feuer auf allen Herden gelöscht; die Bewohner einer Ortschaft
versammelten sich und riefen neues Feuer ins Leben mit H ilfe
jenes altehrwürdigen Feuerzeuges, wo H olz an H olz gerieben
Feuer erzeugt; aus der neu entzündeten Flamme wurde Segen in
Stall und Scheune geholt, und auf dem Herde wurde neues Leben
entfacht.
Aber letzten Endes sind M idgards Bewohner nicht von dem
Wohlwollen der Seelen abhängig; sie sind nicht nur die Klugen,
die es verstehen, aus der Schwäche und dem Edelmut eines anderen
Nutzen zu ziehen; sie können ihn auch unter ihren Willen zwin­
gen. Der Jäger kann das Wild, das er jagt, in seine Gewalt be­
kommen, so daß es ihm nicht entspringt, sondern umgekehrt aus
eigenem, freiem Willen ihm in den Weg tritt, ihm nicht grollt und
nicht auf Rache für seinen Angriff sinnt. Der R uf dringt nur aus
der Ferne von Seele zu Seele, eine Kluft ist zwischen dem Men­

237
sehen und den Dingen um ihn befestigt, und niemand kann kraft
des Lebens, das in ihm ist, unmittelbar so auf ein anderes Wesen
einwirken, daß er aus seiner Seele Antriebe und Neigungen her­
vorgehen läßt. Aber um so leichter ist es, sich in eine fremde Seele
hineinzuschleichen und sie durch ihre eigenen Glieder und ihre
eigene Stärke in Bewegung zu setzen. Erscheinung und Eigenschaft
sind, wie wir gesehen haben, nicht zufällige Auswirkungen der
N atur. Nimmt man eine der Eigentümlichkeiten der Seele an,
nimmt man die ganze Seele in sich auf und macht sie zu dem eige­
nen Willen. Kann man bloß an einem einzigen Punkt mit der
Seele Verbindung anknüpfen, so hat man sie ganz; das Leben
wohnt ebenso voll und ganz in dem kleinen, abgerissenen Teil
wie in dem springenden, spähenden, wollenden Organismus, und
wenn man sich diesen kleinen Teil einverleibt, indem man ihn ißt
oder ihn an sich bindet, so saugt man die ganze Seele ein. Aber
der Zweck wird ebenso sicher auf geistigem Wege erreicht; durch
mimische Nachahmung der Bewegungen und des Verhaltens des
Körpers erwirbt man dessen N atur und setzt sich in den Besitz der
ganzen, großen, körperreichen Seele - oder zieht sie jedenfalls
halbwegs in sich hinein. Man kann in die N atur eines Tieres hin­
eingehen, indem man mit seinen Bewegungen sein Ziel verfolgt,
indem man sein Schleichen nach Beute, seinen Sprung, seine Art zu
fressen, vielleicht seine Paarung nachahmt. Und nun kann man
das Tier von innen heraus nach seinem Willen beugen. Eigentlich
genügte ja die Idee an sich, wie wir sagen würden, um einem H err­
schaft über die Seele zu verschaffen, wenn man nur die Idee in
einer handlichen Form festlegen könnte. Vielleicht ist der Name
ein solches wahres Symbol, in welchem die Seele eingeschlossen ist;
dann besitzt er einen Zauber, der den Feind überwältigt. Irgend­
ein gefährliches Wesen stellt sich dem Mann in den Weg, öffnet
seinen Rachen, um ihn zu verschlingen, starrt ihn an, als wolle cs
ihn in Stein verwandeln; aber er schleudert sein: „Ich kenne deinen
N am en!“ gegen den Unhold, und wenn es wahr ist, daß er seinen
Namen meistert, sinkt der Angerufene kraftlos nieder oder macht
sich böse schielend aus dem Staube. Meistern aber heißt alles wissen,
was der Nam e besagt: die Gewohnheiten der Bestie, ihre Wildheit,
ihre Kniffe; meistern heißt wirklich kennen und verstehen oder mit
anderen Worten: Macht haben.
Wer aber die N atur der Dinge kennt und es versteht, Streit zu
vermeiden, kann auch selbst eingreifen und die Welt ausnutzen.

238
Er kann nicht nur eine Zeitlang seine Umgebung binden und bän­
digen, er vermag auch ein dauerndes Solidaritätsgefühl zu er­
zeugen, so daß er „Friede“ zwischen sich und den Wesen um sich
her befestigen kann. Er kann sich mit einer Seele außerhalb des
Menschenkreises verbinden, ihr gewisse Verpflichtungen gegen sich
unter gegenseitiger Verantwortlichkeit auferlegen, Verpflichtungen,
die hinter der Ehre der Verwandten nicht Zurückbleiben. Aber das
kann nur dadurch erreicht werden, daß er mit dem Tiere „Seele
mischt“ , wie es in der alten Sprache heißt. Er pfropft sich Seele
von dessen Seele auf, so daß zwischen den beiden Arten Leben eine
ähnliche Identität entsteht wie diejenige, die alle Individuen der
Tiergattung in körperlicher Gleichheit zusammenhält. Eine solche
Vereinigung findet durch Übertragung von Seelenteilen statt, und
wo sie geschieht, muß sie eine volle und ganze Übertragung der
fremden N atur auf den Ziehbruder bewirken. Der Mensch eignet
sich die Seele eines neuen Verwandten an und erwirbt sowohl das
Recht als auch die Kraft, das Heil des Tieres zu gebrauchen, wenn
es not tut. Bei den germanischen Völkern finden sich nur wenige
verstreute Erinnerungen an die Zeit, wo die Menschen sich mit den
Tieren verbanden, aber bis in die historische Zeit hinein finden wir
Zeugnisse von einem sogar sehr starken Gefühl der Blutsbrüder­
schaft. In der Nähe des Hofes Eriks des Roten auf Grönland er­
schien eines Winters ein großer, weißer Bär, der ringsum sein U n­
wesen trieb, und als Thorgils, der sich zu der Zeit als Gast auf
Brattahlid auf hielt, das Tier erlegte, um das Leben seines kleinen
Sohnes zu retten, wurde er von allen Männern gepriesen. N ur
Erik schwieg, und wenn er auch nicht Widerspruch dagegen erhob,
daß das tote Tier, wie üblich, für nützliche Zwecke verwendet
wurde, so verstand man doch, daß er über Thorgils’ Tat erbost
war. Etliche sagten, daß Erik „alten Glauben“ an die Bestie gehabt
hatte, und die Saga deutet an, daß das Verhältnis zwischen den
beiden Männern von dem Tage ab noch kühler als vorher; Erik
versuchte sogar, Thorgils in Lebensgefahr zu bringen.
Der Wolf wurde allgemein als ein unheimliches Raubtier be­
trachtet, als ein Ungeheuer, das zu U tgard gehörte, aber als Teil
der Schlacht ging das Raubtier in die Seele des Berufskriegers ein.
Die Sprache gebrauchte zwei Wörter, v a rg r und ú lfr („W olf“);
v a rg r ist die Jötenbestie und kein Mann konnte v a rg r sein, ohne
daß er des Friedens beraubt und Trollen ausgeliefert war und
tierisch in den Wäldern herumstreifte. „W olf“ dagegen ist der

239
Freund des Königs, und oft tragen Männer seinen Namen. Um
dem alten Sinn gerecht zu werden, müssen wir lieber sagen, daß
die Sprache zwei Wörter gebrauchte, weil es zwei Wesen gab, das
Tier, das mit dem Manne ein Bündnis schließt, und die wilde
Bestie der Trolle. Der Gebrauch von Wolf als Ehrentitel für Krie­
ger und als Mannesname und noch mehr das Vorhandensein von
Y lfing oder W ylfing als Geschlechtsname besagt, daß die Menschen
einen Vertrag mit dem Tier schließen, die Fremdheit des Tieres
überwinden und ein enges Bündnis mit ihm eingehen konnten;
solche Wolf-Männer hatten sicher Wolf-Natur, die Stärke eines
Wolfes und Anteil an seinen Gewohnheiten. Nach den Andeutun­
gen der alten Literatur ist es leicht zu erraten, daß die Ylfinge
wirkliche Wolfs-Männer waren, und vielleicht weisen einige Sätze
in einem der eddischen Gedichte auf eine halb vergessene Wirklichkeit
zurück: in dem Lied von Helgi, der ein „Sprößling der Ylfinge“
war, spricht der junge Fürst einmal, als er sich verkleidet hatte,
von sich selbst als dem grauen Wolf. Ketil Lachshaken gehörte
einem Geschlecht an, das auf den Lofoten wohnte, wo die Leute
sich vorwiegend von dem Reichtum der See ernährten. Sein Name
wird durch einen Mythos in der Geschlechtssaga erklärt, ein ganz
sicheres Zeichen, daß irgendeine innere Verbindung zwischen dem
Mann und dem Fisch bestand. Vielleicht besitzen wir auch die
legendäre Abspiegelung einer wirklichen Tatsache in der Geschidite
von Otr, dem Fischer, der sich in einen Otter verwandeln konnte,
wenn er Fische für seine Mahlzeit fangen wollte. Die Worte, mit
denen die Völsungasage das Wesen dieses Otters beschreibt, gehen
viel zu sehr ins einzelne, um ganz aus späterer Romantisierung
hervorgegangen zu sein; wahrscheinlich hat der Verfasser sich auf
volkstümliche Weisheit, wenn nicht auf alte Überlieferung gestützt.
„O tr war ein großer Fischer, tüchtiger als andere Männer; er nahm
die Gestalt eines Otters an, tauchte in den Fluß und fing Fische
mit dem Maul . . . Er hatte in hohem Maße die Gewohnheiten des
Tieres und liebte es, in Einsamkeit mit geschlossenen Augen zu
fressen, um nicht zu merken, wie sein Futter verschwand.“ In die
Ynglingasaga hat der Verfasser zufällig ein merkwürdiges Bruch­
stück einer Familiensaga eingefügt, das sich auf einen Sperling be­
zieht. Wir hören, daß König D ag so klug war, daß er die Sprache
der Vögel verstand, und daß er außerdem einen Spatzen besaß,
der weit herumflog und seinem Herrn Nachrichten brachte. Auf
einem seiner Streifzüge setzte der Spatz sich auf ein Kornfeld, um

240
die Ähren zu picken, worauf der Bauer einen Stein aufnahm und
ihn tötete. Als D ag erfuhr, in welchem Lande der Vogel sein
Leben verloren hatte, machte er einen Rachezug dorthin und ver­
heerte grausam das Land des Töters.
K raft seiner Beherrschung der N atur kann der Mann auch die
Seelen verbinden und das Wesen der einen Seele der andern auf­
pfropfen. So beseelt er das Werk seiner Hände und stattet seine
Geräte mit den Eigenschaften aus, die sie für ihren Beruf nützlich
machen können. Wenn er ein Bündel Federn an seinen Pfeil bindet,
so gibt er seinem Fluge die Sicherheit des Vogels, vielleicht auch
etwas von der Kraft des Vogels, wenn er auf seine Beute nieder­
schießt, so wie er auch ganz gewiß sich selbst ein Stückchen Vogel­
natur verleiht, wenn er an seinem Körper Federn befestigt. Oder
er mag sich kraft seiner künstlerischen Fertigkeiten damit begnügen,
ein Stück N atur abzubilden. Er hämmert eine Schlange in sein
Schwert ein, legt „eine blutig bemalte Schlange an der Schneide
entlang“ , so daß sie „ihren Schwanz dem Schwert um den Nacken
schlingt“ , und dann läßt er das Schwert „beißen“ . Oder er ver­
wendet eine andere Kunst: er singt eine bestimmte N atur in seine
Waffe hinein. Er härtet sie im Feuer, schmiedet sie mit Kunst und
List, wetzt sie, schmückt sie und „legt das Wort auf sie“ , daß sie
eine beißende Schlange, ein verzehrendes Feuer sein soll. So zim­
mert er auch sein Schiff mit der Erfahrung eines Schiffsbauers, be­
malt es, setzt vielleicht ein Tier an den Vordersteven und heißt es
mit der Sicherheit eines Pferdes das Wasser treten. Natürlich ge­
nügen die bloßen Worte nicht, wenn kein „H eil“ an ihnen ist; sie
wirken nur, wenn der Sprecher sie „ganz“ , d. h. „heil“ machen
kann. Wie er das fertig bringt, ist eine Frage, die zu behandeln
hier zu weit geht; aber je besser wir unsre Vorfahren kennen­
lernen, um so mehr werden wir wohl ein kleines Geheimnis nach
dem anderen ergründen.
Der Dichter ist ein großer Heiling. Er hat mehr Wortheil als
andere Männer - das erkennt man deutlich nicht nur an dem
Wohlklang seiner Worte, sondern auch an ihrer Wirkung auf Men­
schen und Naturerscheinungen. Wir sind in unsrer Einseitigkeit ge­
neigt, nur das Ästhetische an seinen Schöpfungen zu betrachten. Als ob
seine ganze Kunst darin bestände, zu schildern, wie die Schlange
des Kam pfes von der H and des Kriegers geschwungen wird und
sich seinem Feind tief ins Gehirn bricht, wie das Feuer des Kam p­
fes geflammt und bei jedem Schlag einen Mann totgebissen hat, als

241
der H eld es schwang, wie die Vögel des Kam pfes singend vom
Bogen geschwirrt sind, wie die Meerrosse, die Wellentreter das
Fischfeld getreten haben. So leichthin dürfen diese Bilder nicht ab­
gefertigt werden. „Meerroß“ ist kein Vergleich; der Dichter sagt
nicht, daß das Schiff zu vergleichen sei mit - nein, das Schiff i s t ,
was er sagt; das Schiff geht nicht über die "Wellen, so wie ein Pferd
auf dem festen Wege trabt, sondern das Pferd des Meeres tritt die
Wellen mit sicherem Schritt. Die dichterische Abbildung des K rie­
gers als „Baum des K am pfes“ , die für den betriebsamen Skalden
in jedem zweiten Vers als Flickwort dient, scheint dem Norden
eigen zu sein; jedenfalls gibt es keine sichere Spur dieser Figur in
der Dichtung der anderen germanisdien Völker. Aber ob sie nun
speziell skandinavisch ist oder nicht, sie hat die Ehrwürdigkeit des
Alters. Die späteren Dichter ergehen sich in dem Bilde von den
Kriegern als Bäumen, die im Sturm des Streites wild ihre Arme
schwingen, während der Leichentau über den Stamm sickert;
die Umschreibung an sich sagt nur, daß der Krieger der dickstäm­
mige, festverwurzelte Baum ist, der manchem Hieb der A xt wider­
stehen konnte, ohne umzufallen. Die Schilderung der Esche im
Runenlied ist vielleicht hier der beste Kommentar: „fest im Boden,
standhaltend, auch wenn viele Männer angreifen“ , Worte, die be­
leuchtet werden durch das Hinundherschwingen des Gedankens
zwischen der zähen Esche als Baum und dem unüberwindlichen
Eschenspeer. Sicherlich war der Dichter ein großer Heiling, der als
erster seinen H äuptling mit einer Seele erfüllte, deren hervor­
ragendste Eigenschaft die zähschwingende Festigkeit der Esche war.
Die Schönheit der poetischen Figur liegt in ihrer Wahrheit, denn
wenn die Umschreibungen keine Wirklichkeit ausdrückten, so hät­
ten sie keine dichterische Berechtigung.

Durch unzählige Verwandtschaftsbeziehungen sind die Naturen


kreuz und quer verknüpft, bis die Welt in einem Friedensgewebe
hängt. So zieht der Mensch die Seelen in seinen Kreis. In unserem
Zeitalter ist der Kriegsruf: Herrschen! Sei H err über die Erde,
unterwirf dir die Schöpfung, ist die Losung des Tages, und es
scheint, daß dieses Gebot sympathetisch den Herzschlag unsrer
K ultur trifft und ständig den Takt angibt, nicht nur für ihre Taten,
sondern auch für ihre Spekulationen. Alle Hypothesen über ver­
gangene Zeiten in der Geschichte unsres Stammes gehen von der
Behauptung aus, daß der Mensch durch einen immerwährenden

242
K am pf vorwärtsgeschritten ist, und daß die Zivilisation der Erfolg
dieses Kam pfes des Menschen ums Dasein ist. Aber die moderne
Zivilisation mit ihrem Schrei nach Herrschaft und ihrer Betrach­
tung des Lebens als fortgesetzten Streites ist eine zu enge Basis für
Hypothesen, um die Geschichte glaubhaft zu machen. Die Ent­
wicklungstheorie des allgemeinen Kampfes ums Futter und die
Theorie vom Überleben der Besserausgerüsteten ist nur ein ätio­
logischer Mythos, wie die Ethnologen sie haben, eine einfache E r­
findung, um die moderne europäische Zivilisation zu erklären,
indem man unsere Geschichte, ihren Wettkampf und ihr ausschließ­
liches Interesse für materiellen Fortschritt auf den Schirm der Ver­
gangenheit projiziert. Wenn alte und primitive Kulturen im Lichte
der modernen ökonomischen Probleme gezeigt werden, müssen alle
ihre Größen- und Tiefenverhältnisse zerstört werden; einige Aus­
schnitte treten verschärft hervor, andere werden in den Schatten
gerückt, ohne Rücksicht auf die Harmonie, die dem moralischen
und intellektuellen Leben anderer Volker innewohnt; der Anblick
als Ganzes wird durch solch ein mutwilliges Spielen mit dem
Scheinwerfer noch viel mehr verfälscht als durch irgendwelche
eigensinnige Verdrehung der Tatsachen.
Der Grundton der alten Kultur ist nicht Streit und auch nicht
Herrschaft, sondern Versöhnung und Freundschaft. Der Mensch
bemüht sich, mit den Tieren, den Bäumen und den Mächten rings­
um Frieden zu schließen, oder noch tiefer, er wünscht, sie in sich
hineinzuziehen und sie zu Verwandten seiner Verwandten zu
machen, bis er es nicht mehr vermag, eine feste Linie zwischen
seinem eigenen Leben und dem der umgebenden N atur zu ziehen.
Die Kultur ist viel zu kompliziert - und wir können hinzufügen:
viel zu unnütz - , als daß sie ihre Erklärung finden könnte in der
harten Arbeit des Menschen für die Bedürfnisse und Genüsse des
Lebens. Und das Spiel der Intelligenz und der Vorstellungskraft
des Menschen ist nie —bis auf die letzte Zeit vielleicht - von dem
Verlangen nach Nahrung und Kleidung beherrscht worden. Der
K am pf ums tägliche Brot und um die Aufrechterhaltung des
Lebens bis zum morgigen Tage ist in der frühen Gesellschaft meist
sehr scharf, und es scheint, daß die Anstrengung ein Aufgebot aller
Fähigkeiten und Kräfte erforderte. Aber als Lebewesen, das für
seine Nahrung käm pft, ist der Mensch ein schlechter H aushalter;
jedenfalls versteht er nur schlecht, die Ausgabe an Energie auf den
Bedarf des Tages einzuschränken. Es ist mehr als Anstrengung in

243
seiner Arbeit; es ist eine überschießende Kraft, ein Beweis, daß die
Energie, die ihn antreibt, viel komplizierterer Art ist als der bloße
Instinkt zur Aufrechterhaltung des Lebens. Er wird von einem
unbändigen Drang dazu angetrieben, die ganze N atur in sich au f­
zunehmen, sie durch aktive Sympathie irgendwie menschlich -
„geheuer“ - zu machen.
Der primitive Mensch ist nie imstande gewesen, seinen Bedarf
auf das streng Notwendige zu begrenzen. Seine Freundschaften
unter den Seelen sind nicht auf die Geschöpfe beschränkt, die für
seinen Körper nützlich oder für sein Leben gefährlich sind. Wenn
wir sehen, wie der Mensch in seiner Dichtung, seinen Mythen und
Legenden ein Gegenstück zu seiner Umgebung aus der Phantasie
erzeugt, wie er seine Feiern, manchmal sogar sein ganzes Leben,
nach dem Flimmel und dem Gang der Gestirne einteilt, wie er an
seinen Festtagen die ganze Erschaffung seiner begrenzten Welt in
einer langen Reihe von kultischen Auftritten dramatisiert, dann
bekommen wir einen Eindruck von der Wichtigkeit, die die Unter­
mauerung seines geistigen Daseins für ihn besaß. Sein Freundes­
kreis reicht vom hohen Licht des Himmels bis zu dem Wurme, der
in der Erde wühlt. Er umfaßt nicht nur den K äfer, der sich viel­
leicht gut essen läßt, sondern auch harmlose Insekten, die nie in
seine Liste von Leckerbissen auf genommen wurden; er umfaßt nicht
nur die Giftschlange, sondern auch unschädliche, kriechende Dinger,
die nur von der Tatsache her, daß sie zu seinem Lande gehören,
einen Anspruch auf seine Aufmerksamkeit erheben können.
Die Spuren, die uns vom kultischen Leben unsrer Vorfahren
überliefert sind, sind spärlich, aber doch zahlreich genug, um uns
zu zeigen, daß die Alten Beziehungen zu hohen und niedrigen
Dingen unterhielten. Sie konnten, wie wir zu erkennen meinen,
mit den laufenden und wachsenden Wesen Freundschaft schließen.
Ihr Leben war sowohl ein Sonnenleben als auch ein Mondleben.
Die Sonne hatte so sehr in ihrer Seele Eingang gefunden, daß be­
stimmte Handlungen in der Richtung von Osten nach Westen aus­
geführt wurden. Wenn H eil in einem Unternehmen sein sollte,
mußte es der Sonne nach ausgeführt werden, vom Osten nach
Westen. Wenn der schwedische König seine E rik sg a ta ritt - eine
Art Huldigungszug durch die Ortschaften des Königreichs - , so
mußte er sich in der Richtung der Sonne durchs Land bewegen;
und mit der Sonne, können wir annehmen, trugen die Männer das
Feuer, wenn sie einen neuen H o f weihten und das öde Land ihrem

244
H eil unterwarfen. Als Island mit der Zeit dichter bevölkert wurde
und es keinen Überfluß an Land mehr gab, wurde beschlossen, daß
kein Mann mehr Land nehmen durfte, als er an einem Tage mit
Feuer umgehen konnte. Man sollte ein Feuer anzünden, während
die Sonne im Osten stand, dann weitergehen und in Sichtweite das
nächste anzünden und so fort, bis das letzte Feuer mit der Sonne
im Westen flammte. Bis in die alltäglichen Gewohnheiten gilt das
Gesetz von der Sonne. M it der Sonne soll das Trinkhorn von H and
H and zu H and um den Tisch gereicht werden. Es scheint, nach
einer Stelle in der Saga der Droplaugsöhne zu schließen, daß die
Männer unter gewöhnlichen Umständen mit der Sonne ums H aus
gingen. Grim und Helgi verirrten sich in einem Unwetter und
ahnten nicht, wo sie waren, als sie plötzlich zu einer Hauswand
kamen; sie gingen mit der Sonne um den Platz herum und ent­
deckten, daß es Spakbessis Opferhaus war. Daß sie so gingen, be­
wirkte nach Bessis Ansicht, daß der Sturm noch 14 Tage anhielt.
Wenn wir uns darauf verlassen können, daß der Sagamann Be­
scheid gewußt hat, muß es wohl die Bewegung ums Götterhaus
gewesen sein, die dem Wetter einen so kräftigen Antrieb gegeben
hat, daß es nur schwer wieder zum Stillstand kommen konnte.
Umgekehrt zwingt man, wenn man gegen die Sonne geht, die
N atur in sich zurück, so daß sie zerbricht und ausgerenkt wird.
Wir hören, daß die Zauberweiber auf Island verwüstende Berg­
stürze bewirken konnten, indem sie um ihr H aus herumgingen.
Die Zauberin Groa, die einen Groll auf die mächtigen Ingimund-
söhne hatte, bereitete ein Todesgastmahl vor und schickte eine
freundliche Einladung an ihre Opfer, aber wie gewöhnlich zeigte
das H eil und die Weisheit des Geschlechts sich als zu stark, und
die Gäste wurden durch Träume am Erscheinen verhindert. Nach
Sonnenuntergang ging Groa gegen die Sonne um ihr Haus, blickte
nach den Berggipfeln empor und schwenkte ein Tuch, in welches
ihr Gold eingebunden war, und mit einem Seufzer: „Es ist hart, dem
H eil dieser Ingimundsöhne zu widerstehen“ , und dem Wunsche:
„M ag nun geschehen, was vorbereitet wurde“ , schloß sie die Tur
hinter sich. D a ging ein Bergsturz über das Haus nieder und alle
kamen um. Dasselbe Mittel verwendete Audbjörg, um Rache zu
nehmen an Berg Kurzbein für die Demütigung ihres Sohnes. Sie
konnte in der Nacht vor Unruhe nicht schlafen. Es war stilles
Wetter mit klarem Frost. Sie ging hinaus und wandelte gegen die
Sonne um ihren eigenen H o f herum, hob den K o p f und witterte

245
nach allen Himmelsrichtungen. Sogleich schlug das Wetter um, ein
Schneetreiben setzte ein, der Wind brachte Tauwetter, und eine
Lawine ging über Bergs Wohnung nieder, wodurch 12 Menschen
den Tod fanden.
Für jemand, der das Geschäft kennt, mußte diese Bewegung
gegen die Sonne wohl nicht durchaus unnatürliche Folgen haben;
sie konnte sogar, wenn sie weise gegen ein bestimmtes Ziel gerichtet
wurde, Nutzen stiften. Jedenfalls lesen wir von einem Mann, der
ein Unwetter zum Aufhören brachte, indem er gegen die Sonne
um einen Kreis herumging, der von seinen Gefährten gebildet w ar;
daß er es für notwendig erachtete, dabei Irisch zu sprechen, beweist
wohl nur, daß die Kultur eigentlich schon zu Ende und die Zeit
für den Mystizismus gekommen war, den einfachen Sinn, den die
Kultur mit ins Grab genommen hatte, durch ihr praktisches oder
spekulatives Abrakadabra zu ersetzen. Die H andlung an und für
sich mag wohl ihr Ansehen noch von der Kultur gehabt haben.
Die engen Beziehungen zwischen dem Menschen und der Sonne
werden auch durch die Rechtsbräuche bestätigt. Gesetzliche Beschlüsse
und Kaufverträge waren nicht rechtskräftg, wenn sie nicht im
Lichte der Sonne oder bei vollem Tageslicht ausgefertigt worden
waren. Es ist ungesetzlich, bei Nacht, nachdem die Sonne hinter
den Wald gegangen ist, einen Eid zu nehmen, um ein schwedisches
Beispiel anzuführen. Tötung bei Nacht wurde als Mord verurteilt,
und der Grund ist nicht die Heimlichkeit der Tat. Was im Dunkeln
getan wurde, ist ganz und gar verschieden von dem, was im Bund
mit der Sonne oder im Geiste und in der Kraft der Sonne aus­
geführt wurde. Um die volle Schwere —oder sagen wir die psycho­
logische K raft - der Redewendung zu erfassen: „Nächtliche Tötung
ist M ord“ , müssen wir bedenken, daß Mord eine unehrenhafte Tat,
ein Neidingswerk ist, das die moralische Verfassung des Taters
unterminiert; es erzeugt irgendeinen krankhaften Zug in seinem
Charakter oder, wie die Alten sagen würden, eine Befleckung seiner
Seele. Infolgedessen fehlt bei Taten, die im Dunkeln ausgeführt
werden, die gesunde, ehrenhafte Initiative, für die das volle Heil
des Taters nötig ist, und bei der allmählich zunehmenden Schwäche
mag ein dämonisches Element sich einschleichen.
Vom Mond erfahren wir bei Tacitus, daß er die Volksversamm­
lungen regulierte; bei Neu- und Vollmond versammelte sich das
Volk auf dem Thing, „denn bei allen Unternehmungen betrachten
sie diesen als den besten A nfang“ . Auch Cäsars Bemerkungen über

246
die Wahl der Tage bei den Germanen haben offenbar tiefe Bedeu­
tung: „A riovist und seine Leute wußten aus den mahnenden Wahr­
sagungen der Frauen, daß sie nicht auf Sieg hoffen konnten, wenn
sie vor Neumond den K am pf eröffneten.“ Es ist lei dit, diese zu­
fälligen Andeutungen zu vermehren, und zwar aus dem modernen
Volksglauben mit seinen Hunderten von Regeln über das, was bei
zunehmendem Mond getan werden soll und was aufgeschoben
werden soll, bis der Mond im Schwinden ist; und soviel Weisheit
können wir mit aller Vorsicht aus dieser trüben Quelle schöpfen,
daß wir sagen können, daß der Einfluß des Mondes nicht auf
Sachen des öffentlichen Lebens beschränkt war, sondern das ganze
Leben, sogar das alltägliche, durchdrang. Aber leider ist die Ein­
sicht in das Wesen des Mondes verlorengegangen, und sein C harak­
ter steht jetzt vor uns wie ein dunkles Rätsel. N ur soviel wissen
wir, daß es der Mond war - der Jahrzähler - , der den Gang der
Zeit und der Tage bestimmte und also den Tagen ihre Kraft gab,
indem er ihnen seine Seele einflößte; das Heil der Zeit sank und
stieg wie Ebbe und Flut mit dem des Mondes.
Wir können nicht im Zweifel sein über die Bedeutung der sich
mit der Sonne bewegenden Gedanken; die Männer empfingen und
befestigten die Sonnennatur in sich. A uf diese Weise müssen sie
gewaltige Kräfte und viel H eil gesammelt haben; aber wenn sie
durch diese Freundschaft gutes Glück gewonnen haben, erwarten
sie notwendigerweise auch noch ein zweites, nämlich Seelenfrieden.
Daß die Alten Ehrfurcht vor der Sonne empfanden, daß sie sich
vor ihr fürchteten und versuchten, ihre Kräfte zu erwerben, daß
sie wünschten, Nutzen aus ihr zu ziehen, ihre Gunst zu gewinnen
und sie unter ihren Willen zu beugen —das ist alles wahr, denn es
ist alles ein und dasselbe; was Menschen erstreben und was sie
erreichen, ist Friede und gegenseitige Verantwortlichkeit. Ohne
gegenseitige Durchdringung der Naturen ist keine Verwandtschaft
möglich. Die Männer machen die N atur zu einem Teil von sich
selber, indem sie dem fremden Element etwas aus ihrem eigenen
Leben aufpfropfen oder, was für sie dasselbe ist, etwas von jenem
fremden Leben in sich hereinholen.
Aber der Mann sieht ein weiteres Ziel vor sich, wenn er Freund­
schaft schließt und mit den Seelen um sich seine Seele tauscht. In­
dem er ein N etz von Gemeinsamkeit webt, führt er Friede und
Ordnung in die Welt ein. Die N ordländer sagen, daß es einmal
eine Zeit gegeben hat, wo die Welt nicht geheuer war, wo die

247
Jöten nach Belieben herrschten und sich als Herren des ganzen D a­
seins ausbreiteten. Aber ein Stamm von mächtigen und klugen
Wesen fiel über sie her, und jetzt sitzt die Brut der Unholde an
den Grenzen, nagt an Knochen und beißt ihre Nägel. So ist das
Land von dem Unland gesondert, das heore von dem unheore.
Aber bis zum heutigen Tage kann die Grenze nur durch strenge
Wachsamkeit gehalten werden. Es heißt, daß die Götter das erste
große Blutbad unter den Ungeheuern veranstalteten, den Urjöten
töteten, so daß seine Brut haufenweise in seinem Blute ertrank,
und den Rest aus M idgard hinausfegten. Und immer noch macht
Thor, der Hüter M idgards, seine Vernichtungszüge; es ist noch
Gefahr, sogar für Sonne und Mond; bald versucht der eine, bald
der andere Bewohner Utgards, sie seinem Jötenwillen zu unter­
werfen. Die jetzige Ordnung und Schönheit dieser „lieblichen
Welt“ ist nicht von selbst entstanden; sie wird durch die sorgliche
Pflege irgendeines Gottes oder Helden bewirkt. Und in diesem
Punkte sind die Nordländer der gleichen Ansicht wie die Völker
in anderen Teilen der Welt. Der Verfasser der Völuspa, der ein
mittelalterlicher Philosoph mit selbständigen Gedanken war, aber
für seinen Stoff aus alten Mythen schöpfte, hat uns eine Schilde­
rung des Zustandes des Himmels bewahrt, wie dieser war, bevor
die ordnenden Mächte sich durchgesetzt hatten: „Die Sonne kannte
ihre Säle nicht, der Mond kannte seine Macht (d. h. Heil, Be­
stimmung) nicht. Die Sterne kannten ihre Stätte nicht.“
In der legendären Form, die die Mythen bekamen, als sie durch
die Philosophie einer neuen Religion zu Erzählungen reduziert
wurden, scheint es, als ob die schicksalhafte Stärkeprobe zwischen
Göttern und Jöten stattgefunden habe, während die Bewohner der
Erde in atemloser Spannung zuschauten. Der Dichter gibt seinen
Bericht in der Form der Vergangenheit, als wäre es etwas, das nun
überstanden wäre; aus der Gestaltung der Worte scheint hervor-
zu gehen, daß die Zuhörer ein gesteigertes Sicherheitsgefühl ge­
nossen haben, indem sie s:ch den Augenblick ins Gedächtnis zurück­
riefen, wo das Schicksal der Welt auf der Schneide gestanden hatte
und sich dann nach der rechten Seite neigte. Aber die literarische
Form, welche die Mythen in der Wikingerzeit und später in den
Händen der Dichter annahmen, verdunkelt den wirklichen Sinn,
der den Zuhörern geläufig war, wenn die Sagen bei den Feiern
rezitiert und durch Kult und feierliche Gebräuche erläutert oder
richtiger ergänzt wurden. Der K am pf wird Tag für Tag mitten in

248
der Menschenwelt geführt, niemand kann sicher sein, Licht und
Wärme zu erhalten, wenn nicht er und seine Genossen durch irgend­
eine feierliche H andlung häufig die Bande zwischen sich und den
hohen wandernden Lichtern stärken. Wenn das Bündnis nur einen
Augenblick versagt, verlieren die Himmelskörper ihren Weg, und
dann tritt der Zustand ein, den der Dichter der Völuspa noch
kannte und beschreiben konnte.
Die Gefahr, die so drohend am Himmel hängt, lauert ja tat­
sächlich auf jede Seele in M idgard. H inter aller Sicherheit steht die
ernste Tatsache, daß die Naturen Keime zur Feindschaft in sich
tragen; sie können sich verirren, sie können „ungeheuer“ werden.
Und manchmal tun sie das, wenn die Menschen nicht sich selbst
und ihr H eil bewahren und damit ihr Bündnis mit ihrer U m ­
gebung; da wird der feucht-kalte Boden unfruchtbar, da verliert
das Vieh die Gabe, Nutzen zu spenden, und die Bäume werden
Träger des Unheils; die Fische wandern in geschlossenen Zügen
nach dem Meer aus, während die See zerstörend das Land über­
flutet. Soll der Friede der Welt aufrechterhalten werden, so müssen
die Menschen große Selbstbeherrschung üben und gleichzeitig große
Achtsamkeit und Sorgfalt darauf verwenden, bei allen Festen und
kultischen Neuanfängen zu tun, was sich gehört.
Ohne diese innige Verbindung zwischen dem Menschen und den
anderen Naturen um ihn herum könnten weder er noch M idgard
existieren. Die Mythen erzählen uns, wenn sie richtig gelesen wer­
den, daß der Mensch eine wohnliche, wohlgeordnete Welt mitten
im Chaos geschaffen habe, und daß er, um zu leben und zu ge­
deihen, ständig seine Verbindung mit jeder einzelnen Seele auf­
rechterhalten und so unaufhörlich die feste Ordnung der Welt neu­
erschaffen müsse. Der primitive Mensch hatte nie daran gedacht,
triumphierend auf eine ewige Ordnung der Dinge zu verweisen;
er hatte das Gefühl der Sicherheit, aber nur weil er wußte, wie
die Gesetzmäßigkeit der Welt zustande gekommen war und des­
halb sagen konnte, wie sie aufrechterhalten werden sollte.
Der Mensch ist nie fähig, alle Wesen zu umarmen und den gan­
zen Kreis der Schöpfung in seine Sympathie und sein Verständnis
einzubeziehen. Die ausgeschlossenen Wesen drängen sich an die
Grenzen der Wirklichkeit als eine drohende und beunruhigende
Macht. Durch alle Kulturen geht eine Scheidelinie, die die warme
freundliche Wirklichkeit von den kalten strengen Tatsachen trennt
- das Bekannte vom Unbekannten oder das „Geheure“ vom „Nicht-

249
Geheuren“ . Und tief in allem Menschentum verwurzelt liegt die
Furcht vor dem Unbekannten, ein Gefühl, das, so einfach und klar
es scheinbar ist, doch bei näherem Zusehen von einer Tiefe zur
andern abwärts führt. Zuoberst liegt die Furcht vor dem Willen,
den keine Verpflichtung an Schaden und Zerstören hindert; kaum
verborgen unter dieser Oberflächenfurcht lauert die Angst davor,
was dem Fremden einfallen mag, zu welcher Tat es Stärke genug
haben mag, es lauert die rastlose Unsicherheit, die entsteht, wenn
man keine Möglichkeit sieht, die Gefahr abzuwägen. Aber diese
Furcht vor dem Unbekannten erstreckt sich in Wirklichkeit weit
über das Gefühl hinaus, daß eine Gefahr Leib und Leben bedroht,
sie führt zu einer qualvollen Vorahnung, wo die Verzweiflung
jeden Augenblick ausbrechen möchte; denn wo die Seelen nicht
irgendwie zusammengeschweißt sind, muß der Mensch darauf vor­
bereitet sein, katastrophalen Ereignissen ausgesetzt zu werden. Die
Kräfte, die von der fremden Seite ausgehen, sind von anderer Art
und wirken sich auf andere Weise aus, so daß der Leidende viel­
leicht die Wirkung nicht fühlt, bevor der Schaden geschehen ist,
und jedenfalls keine Verteidigungsmöglichkeiten besitzt, die zur
Abwehr des Einflusses geeignet sind.
Die Trennungslinie geht durch alle Kulturen hindurch, aber ihr
Verlauf ist bei jedem Volk verschieden, und es ist nie möglich,
eine Regel darüber aufzustellen, welche Wesen auf dieser oder
jener Seite der Grenze zu finden sind. Natürlich sind Wüste und
Saatland, rauhe Berge, wilde Wälder oder liebliche Wiesen mit
ihren Lebewesen durch eine scharfe Grenze getrennt. Aber die U r­
sache dafür, daß ein Tier in die Gemeinschaft hineingezogen und
ein anderes als „ungeheuer“ ausgeschlossen wird, muß in der indi­
viduellen Erfahrung jedes Stammes gesucht werden. An einem O rt
ist die Schlange ein heiliges Tier, an einem anderen ist sie ein böses
Untier, wie im nördlichen Europa, wo das sich windende, beißende
Reptil verwünscht und ins Dämonenland verwiesen wurde. Spätere
Mythologie vereinigt den Fenriswolf, die Midgardschlange und
Hel (oder Tod) zu einer Familie und nennt Angrboda, eine Jötin,
ihre M utter; diese Konstruktion ergibt sich aus der Tatsache, daß
Fenrir, der H auptw olf oder der Vater der Wölfe, und die große
Schlange mit dem Tode zusammen ihren Ursprung und ihr Heim
in der ungeheuren Welt der Jöten hatten.
Die Kluft geht bis in die Welt der Menschen hinein. Die Mensch­
heit besteht eigentlich aus all den Geschlechtern und Stämmen, mit

250
welchen unser Volk Verkehr hat, denn Genossenschaft bedeutet
dauernder Austausch an Friede, Ehre und H eil; außerhalb der
Umzäunung drängen sich die „Fremden“ , und die Fremden sind
eine andere Art von Menschen, weil ihre Art und ihre Gesinnung
unbekannt sind. Wenn sie Zauberer genannt werden, betont das
Wort nur die Tatsache, daß ihre Taten den Taten von Dämonen
und Unholden gleichen, finster und launenhaft sind und keine
sichere Berechnung erlauben. Das einzige Mittel, die Bosheit der
Fremden zu überwinden, ist, eine Verbindung mit ihrem Heil und
ihrer Ehre einzugehen und mit ihnen die Seele zu tauschen; da­
durch werden Wille und Gefühl in den beiden Parteien gleich­
gerichtet, und von da ab greifen ihre Taten ineinander, anstatt sich
zu durchkreuzen. Zwischen den Menschen mag K am pf sein, Ge­
meinschaft mag von Feindschaft abgelöst werden, aber der K am pf
ist menschlich und wird nach den Regeln der Ehre ausgefochten;
gegen Fremde haben die Menschen ständig Krieg, und die Kriegs­
führung muß auf die boshafte Erfindungsgabe der Dämonen ein­
gestellt werden. Gegen Ungeziefer oder wilde Bestien können
Menschen keine Verantwortlichkeit und keinen Edelmut empfinden.
Daß U tgard voll ist von Zauberei und Ungeheurem, wissen alle,
aber die Furcht, mit der der Mensch über die Grenzen des mensch­
lichen Lebens hinausspäht, ist doch anders beschaffen als seine
Furcht vor heimatlicher Zauberei. Denn wenn ein Mitglied der
Gemeinschaft sich vom geistigen Verkehr mit seinen Brüdern aus­
schließt, oder wenn der Anreger der ungeheuren Dinge sich inner­
halb der Grenzen zwischen Land und Unland niederläßt, liegt
seine Anwesenheit wie ein Alp auf allen Gedanken und lähmt
Wille und Kraft. Seine Handlungen, ja sogar seine Gedanken sind
eine dauernde Gefahr für das Heil der Bewohner; sie werden un­
weigerlich Streit zwischen den Nachbarn hervorrufen und die
Fruchtbarkeit des Landes verzehren. Ihre Anwesenheit ist ein Bruch
im Kosmos und ebenso zerstörend für die geistige Sicherheit, wie
die Sonne oder die Erde es sein würden, wenn sie aus der Freund­
schaft der Menschen ausbrächen und irregingen. Um die Welt zu
erhalten, muß der Mensch alle Zauberer mit ihren Häusern und
all ihren Gütern zerstören und vernichten. Die Grenze, die die
Zauberer von dem Menschengeschlecht trennt, ist so scharf, weil
sie unabhängig ist von jeder oberflächlichen Sonderung zwischen
Schwarz und Weiß; sie kann nie verwischt werden, wie sehr auch
die Taten und Kräfte der Zauberer denen der gewöhnlichen Men­

251
sehen gleichen, und sie kann nicht schärfer werden durch die Tat­
sache, daß die Künste des Zauberers weit ins Dunkle hineinreichen.
Wir sehen in der nordischen Literatur, daß die Künste der Zau­
berer sich nicht stark von den kultischen Handlungen gewöhnlicher
Menschen unterscheiden; wenn er sich verwandelt oder Dinge un­
kenntlich macht oder Sinnestäuschungen zustande bringt, mag er
vielleicht irgendeinen besonderen Trick kennen, von benachbarten
Völkern aufgeschnappt - z. B. von den Lappen - , aber im all­
gemeinen folgt er den Spuren, die durch das Erlebnis seines Stam­
mes vorgezeichnet sind. Er wird gehaßt, weil er seine Künste im
Geiste der Dunkelheit und Abgeschlossenheit ausübt; er ist ein
Fremder, der außerhalb der Umzäunung des Friedens steht, und
deshalb sind seine Taten jedenfalls voll von Ungeheurem, und
wenn sie außerdem eine unheimliche Grausamkeit bezeugen, so
sind diese Eigenschaften nur eine notwendige Offenbarung der
N atur seines Willens.
Es ist wahrhaft mühevoll, ein menschliches Wesen zu sein, weit
mehr als man von den menschlichen Bedürfnissen und menschlichen
Bedingungen aus glauben sollte. Der tägliche Bedarf an Nahrung,
Wohnung, Feuer, Bekleidung, Waffen zur Abwehr des Feindes,
notwendigen Geräten kann mit seinen unaufhörlichen Forderungen
die Menschen wohl votl in Anspruch nehmen; aber der K am pf ums
tägliche Brot kann nicht die H itze im Blut hervorrufen, die einen
Mann über sich selbst hinaustreibt. Es mag schon als eine schwie­
rige Aufgabe erscheinen, die Sonne und den Mond zwingen zu
müssen, ihrem Lauf zu folgen, die Schleusen des Regens in rechtem
Maße offenzuhalten, die Fische an die Küste zu binden, die Wäl­
der im Frühling mit Laub auszuschmücken und die Harmonie der
Welt zu erhalten; aber diese Aufgabe wird nichtsdestoweniger von
einer anderen überschattet, die weit schwieriger und unabweisbarer
ist: die Gedanken in ihren Bahnen zu halten und die Seele als Ein­
heit zu bewahren. Der Gott, der das Universum gestaltet, ist nur
eine große Maske; und hinter der Maske ist ein Mann, der an der
nicht weniger erhabenen Aufgabe arbeitet, eine klare und zusam­
menhängende Einheit aus der Masse seiner Erlebnisse zu schaffen.
Die Furcht, die den Menschen dazu bringt, die N atur mit seinem
eigenen Willen und Gefühl zu verknüpfen, ist tiefer als alle Furcht
um seine körperliche Sicherheit, denn sie ist die Furcht vor dem
inneren Chaos. Wir Europäer sind in dem Sinne Spätgeborene, daß
unsre sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften durch ver­

252
schiedene Stufen von dem direkten Erleben der Welt entfernt sind;
unsre Psychologie und unsre Philosophie sind aufgebaut aus schola­
stischen Modifikationen d e s Denkens, das von den ersten Grie­
chen, Israeliten und Germanen ausgeführt wurde, deren Nachfolger
und geistige Erben wir sind. Der moderne Mensch, der sich für viel
weiser als seine Vorfahren hält, leitet seine größte Stärke gerade
aus dem Teil seines geistigen Werkes her, den er am ehesten als
kindlich oder „abergläubisch“ verachten kann. Wir erwachen in
einer beleuchteten Welt, wo wir nur eine Kerze anzustecken oder
ein Licht anzuknipsen brauchen, wenn die Sonne nicht am Himmel
ist oder der Mond im dunklen Viertel; wir finden uns in einer
wohlversorgten Speisekammer sitzend, wo wir nur das Essen, das
wir benötigen, zu holen brauchen. Wir haben uns unabhängig ge­
macht von dem rhythmischen Schwingen der N atur zwischen Fülle
und Dürre, Wachstum und Welken, und die Launen der N atur be­
rühren uns nicht direkt, sondern treten in der Verkleidung von
ökonomischen Krisen, Stürmen auf dem sozialen Gebiete, auf. Wir
betrachten die Welt als eine richtige, gutgehende Maschine, und
diese ganze Ordnung der Dinge nehmen wir als eine Selbstver­
ständlichkeit hin. So wie wir hier im gemeinsamen Mittelpunkt
unzähliger Kreise stehen, in denen Sonne, Mond und Sterne, Som­
mer und Winter, Tag und Nacht, große und kleine Tiere, Vogel
und Fische sich ohne Unterlaß bewegen, ohne herausgeschleudert
zu werden, fällt es uns nie ein, diese Regelmäßigkeit den großen
Taten unsrer Vorfahren zuzuschreiben; noch weniger machen wir
uns klar, daß ohne sie hier ein Chaos gewesen wäre, das uns arme
Wichte verschlungen hätte.
Der Mensch wird in einen überwältigenden Ozean von Lauten
und Gesichten hineingeboren, die einzeln, ohne Verbindung oder
Einheit, auf ihn eindrängen, und es wird ihm überlassen, die
wogende Masse in Formen und Gebilde zu ordnen. Er muß Sonne
und Mond, Wolken und Regen, Tiere und Bäume zu zusammen­
hängenden Gestalten formen und allen diesen abgerissenen, augen­
blicklichen Erscheinungen eine Bahn schaffen, so daß sie sich zu
einer dauernd erkennbaren Form vereinigen. All dieses H ervor­
gucken von Köpfen, Schlagen von Schwänzen, Glänzen von Augen
und fließenden Bewegungen muß gesiebt, in Körper sortiert und
als Wolf, Fuchs, Dachs bezeichnet werden. Die Arbeit, Ordnung
und Harmonie herzustellen, verlangt Auswahl und Aussonderung
sowohl als auch Summierung; wir können keine Sonne und kein

253
Tier machen, die den ganzen Gegenstand der Erfahrung einschlie­
ßen; also ignorieren wir kühn einen Teil der Tatsachen oder schaf­
fen manchmal zwei Wesen, die einander decken, wie es die Ger­
manen mit dem Wolf machten, und wie wir es heute tun mit der
Blume der Schönheit und der Blume der Botanik. Um aber eine
Einheit zu schaffen, müssen wir auch notwendigerweise einige Ver­
bindungsglieder herbeischaffen, die Theorie genannt werden kön­
nen, für uns aber ein Teil der Erfahrung sind. Die dunklen Massen,
die an den Gipfeln der Berge hängen, können als zu den Bergen
gehörend, als ein Teil ihrer N atur oder Seele erkannt werden -
dies wird oft die primitive Anschauung sein; oder die Wolken
mögen von ihren Ruheplätzen getrennt werden und mit dem
D am pf, der aus einem kochenden Kessel steigt, kombiniert werden
zu einer besonderen, dem Wasser verwandten Materie, - so macht
es die moderne Erkenntnis, die einen sehr wichtigen Punkt der
Wirklichkeit opfert, um an einer anderen Stelle Übereinstimmung
zu erreichen. Nach unsrer Einteilung werden Feuer und Stoff ge­
trennt, und wir übersehen kühn die Tatsache, daß gewisse Steine
Funken schlagen und gewisse H olzarten, wenn sie gerieben wer­
den, Feuer hervorbringen. Die primitiven Menschen haben die
Tatsachen in ein anderes Muster geordnet, indem sie sagten, daß
Feuer zu der N atur oder zu der Seele von H olz und Stein gehört
- die Funken werden beim Feueranzünden gezeugt und empfan­
gen; infolgedessen besteht eine innige Verwandtschaft zwischen
Steinen und Bäumen einerseits und dem Feuer, das vom Himmel
herunterkommt, andererseits.
In unsrer Auffassung von Menschen und Tieren fußen wir auf
der äußeren körperlichen Übereinstimmung und Fortdauer und
schaffen so eine Menge von isolierten Individuen, wo der ursprüng­
liche Mensch Offenbarungen großer Seelen oder Ideen sieht. In
unsrer Welt ist die Realität des Menschen durch den begrenzten
und isolierten Gehalt seines Körpers bestimmt, und seine Seele be­
steht aus den Gedanken und Gefühlen, die auf sein isoliertes Ge­
hirn beschränkt sind. Die Abgesondertheit des Menschen ist so groß
in unsrer Kultur und so ausschlaggebend für unsre Erfahrung, daß
wir an allen anderen Tatsachen vorübergehen, nämlich an den gei­
stigen Wirkungen seiner Anwesenheit, der Macht seiner Worte und
der unvermeidlichen Verkettung des Schicksals zwischen Indivi­
duen, die eine Familie und oft einen noch größeren Verband von
Menschen, unter der Unklugheit und Schuld eines Sünders leiden

254
zu lassen. Für einen großen Teil der Neuzeit war das Individuum
die Realität, von welcher aus alle praktischen und theoretischen
Fragen gelöst werden sollten, man betrachtete alle die anderen
Tatsachen als sekundär, war bereit, in der Form von Problemen
mit ihnen zu ringen, und steigerte sie noch, indem man eine Lösung
auf die andere schichtete, auch wenn sie sich als unlösbar erwiesen.
Dagegen vereinigt die primitive Kultur die ganze Masse von Tat­
sachen zu der 'Wirklichkeit, die Mensch heißt, und baut eine „Seele“
auf, in welcher die Macht der Worte und der geistigen Ausstrah­
lung, die „suggestive“ K raft und die Berührung der Hände eben­
sogut enthalten ist wie Gestalt und Züge, eine Seele, in welcher die
gegenseitige Verantwortung der vielen genau so berücksichtigt ist
wie die Verantwortlichkeit des Individuums.

255
Die menschliche Seele

Mitten in der Welt von Seelen steht der Mensch, und er steht
da kraft einer Seele, eines Lebens. Diese Seele kann genau die­
selben Antithesen tragen wie die anderen Seelen oder Naturen in
Midgard. Man mag gern in der angelsächsischen Rätselsprache
beginnen und sagen: „Ich weiß ein merkwürdiges D ing; es ist un­
sichtbar, steht aber doch in der H alle vor aller Augen; es ist nicht
größer als sechs Fuß, und doch kann niemand mehr als ein Ende
von ihm sehen; es kann mit Händen und ohne H ände gefühlt
werden, und doch kann niemand es greifen und festhalten; es geht
über die Heide und durch die Brandung so schnell wie eine Wolke
im Sturm, und ein H und kann es einholen; es fliegt in der Luft,
und doch liegt es schlafend in der H alle.“ Es ist an den Stoff
gebunden und kann sich frei bewegen trotz Zeit und Raum und
Schwerkraft. Es ist formlos wie die Warme, wenn sie bei einem
Händedruck von dem einen Arm in den anderen hinübergleitet,
und unsichtbar, wenn es als eine Kraft von einem Krieger auf
seine ganze Schar überströmt und sie alle wie einen Mann erfüllt.
Und es ist gezwungen, früher oder später Gestalt anzunehmen.
Wenn wir wissen wollen, was menschliches Leben ist, so müssen
wir zuallererst unsre vorgefaßten Meinungen über den Gegensatz
von Seele und Körper ablegen und einfach nach den entscheiden­
den Kennzeichen der menschlichen N atur suchen oder, mit anderen
Worten, nach ihren Erscheinungsformen.
Wir können es mit dem Namen m egin bezeichnen; in diesem
Worte liegt die Vorstellung von einer Kraft, und in diesem Worte
begegnet sich alles Lebende. D ie Seele der Erde, ihr Megin, wird
oft als eine köstliche Essenz erwähnt. Ein Trank, dem Erdmegin
beigemischt wird, ist stärker als irgendeine andere Flüssigkeit, wie
Erdmegin andererseits eine geistige Stärkung zu erhalten scheint,
wodurch die gar zu mächtige Wirkung des Bieres aufgehoben wird.
„D as Wetter hat auch sein Megin, das Megin des Wetters sind die
Wolken“ , sagt man. In den frühesten Zeiten, bevor die Welt voll­
kommen geordnet war, existierten Sonne und Mond, aber sie

256
kannten nicht ihre Seele, ihr Megin, sie wußten nicht, was ihre
Kraft, ihre Bestimmung, ihre Laufbahn war.
Diese Andeutungen werden uns helfen, das Megin des Menschen
zu verstehen. Das Megin des Menschen ist seine Kraft - und vor
allem seine körperliche Kraft. Aber das Megin des Menschen ent­
hält noch etwas außerhalb des Menschen Liegendes; es enthält
Kraft, Tat, Sieg. Und schließlich reicht das Megin bis in die Seelen­
stärke hinauf, so daß der, der sein Megin verliert, bewußtlos um­
fällt, wie wir sagen würden.
Das, was den Gott - oder den Asen - von allen anderen Wesen
unterscheidet, ist natürlich die Tatsache, daß er ásm egin hat, die
Seele eines Asen oder eines Gottes mit ihren mächtigen Eigen­
schaften. „Wenn du wächst, Vimur, so wächst mein Asenmegin bis
in den Himmel“ , ruft Thor, als er mitten im Urgardflusse steht,
der anschwillt, bis er um seine Schultern schäumt. Thor hatte auf
seinen gefahrvollen Wanderungen reichlich Gelegenheit, sein volles
Asenmegin anzulegen, wenn die Jötenmächte sich um ihn verdich­
teten, und wir sehen, daß seine Gottheit nicht nur als wundervolle
Stärke und als Zorn hervorquoll, sondern auch als göttliche Größe
der Gestalt.
Wiederum wird die Seele fjö r genannt, ein Wort, das beinahe
vollständig mit der alten Welt untergegangen ist; fjö r ist Leben,
das, was bewirkt, daß der Mensch geht und spricht und im Lichte
daheim ist. Fjör ist auch die Seele, d i e Seele, die nach dem Tode
ihre eigenen Wege wandert. Fjör ist das Ich, das macht, daß ein
Mann Mann ist, es ist der Mann selbst und kann deshalb von
einem Körper gesagt werden, auch nachdem der Tod ihn berührt
hat. Und als Heil trägt es den Mann, gibt seinem Witz Flügel, gibt
ihm Gedanken, erhält ihn und bringt seinen Plänen Erfolg. Als
Hakon Æthelstansfostri als Thronforderer in sein Heimatland
zurückkam, schien es eine kurze Zeit, als ob die Naturkärfte ihn
überwältigen würden; seine Flotte wurde zerstreut, und das Ge­
rücht verbreitete sich, daß Hakon mit ihr untergegangen wäre.
König Erik empfing die Botschaft als eine willkommene sichere
Nachricht, aber Gunhild, die Königin, schüttelte den K opf; sie
war eine weise Frau und wußte, daß Hakon „F jör“ hatte - und
es zeigte sich denn auch, daß er samt seinem Schiff wohlbehalten
Norwegen erreichte.
Die Seele wird ferner hugr, altsächsisch und althochdeutsch hugi,
genannt, wodurch sie als Wunsch und Neigung, als Mut und Ge­

257
danke gekennzeichnet wird. Der H ugr inspiriert das Benehmen
des Mannes, seine Taten und seine Rede sind dadurch bestimmt,
ob sie aus einem ganzen Hugr, einem kühnen H ugr oder einem
betrübten H ugr hervorgehen. Es wohnt in ihm und treibt ihn vor­
wärts; so sdiließt Loki, als er vor den Göttern sein Herz erleich­
tert hat: „Jetzt habe ich gesagt, wozu mein Hugr mich trieb.“ So
sagt Sigurd, als er den Drachen getötet hat: „Mein H ugr trieb
mich.“ Er sitzt im Inneren und rät oder warnt. „Mein Hugr sagt
mir“ , ist ein gewichtiges Argument, denn wenn der H ugr etwas
gesagt hat, ist die Sache ziemlich erledigt. „Er scheint mir un­
zuverlässig, du sollst sehen, er wird bald die böse Seite hervor­
kehren; es ist mir nicht recht, daß er bei dir ist, denn mein Hugr
sagt mir Schlechtes von ihm“ , so warnt Ingolf seinen Bruder, da­
mit er einen Landstreicher zur Tür hinausjage. Ein Winter verging,
und Ingolf konnte sagen, daß alles gekommen war, wie sein H ugr
ihm vorausgesagt hatte. Und Atli Hasteinson, aus edlem Stamme,
bestellt zuversichtlich sein H aus nach dem K am pf mit H rafn :
„Du, mein Sohn, wirst deinen Vater rächen, wenn du nach deinem
Geschlecht artest, und mein Hugr sagt mir, daß du ein berühmter
Mann werden wirst und deine Kinder nach dir.“ Und wenn der
H ugr unruhig ist und man vielleicht mit Gudrun sagen kann:
„Lange zögerte ich, lange waren meine H ugar in mir geteilt“ , da
ist das Leben nicht gesund. Wenn aber ein Mann den guten R at
aus seinem Innern befolgt und sein Ziel erreicht hat, da entringt
sich seiner Seele ein Siegesschrei: es ist sein Hugr, der ihm im
Busen lacht. - Manchmal hat die Seele ihr Wissen unmittelbar er­
halten, wie wir sagen würden; manchmal hat sie es erworben,
indem sie das Land ausspähte, und dann mag es Vorkommen, daß
der Feind den H ugr seines Gegners auf sich zukommen sieht, ent­
weder in menschlicher Gestalt oder in der Gestalt eines Tieres. Er
träumt von Wolfen und wird belehrt, daß es die H ugar von Män­
nern waren, die er gesehen hat.
Schließlich begegnet die Seele uns als „M ut“ (altisländisch m ó dr).
Der Mut eines Mannes ist sein Sinn, das Wollende und das Starke,
das Lange-Erinnernde, das, was sowohl Kränkungen als auch
Freundschaft im Vordergründe seines Bewußtseins lebendig erhält,
und die Kühnheit, die nicht erlaubt, daß Wille und Erinnerung
einander in Unentschlossenheit aufzehren. Mut ist eigentlich die
Seele ganz und gar, in vollständig wachem Zustande. Wenn Thor
ganz er selbst ist, zeigt er sich in seinem göttlichen Mut (á sm ó d r);

258
die Jöten legen Jötenmut an, wenn sie ihr volles Wesen haben.
Dam als, als die Götter mit einem Baumeister einen Vertrag ge­
schlossen hatten, wonach er die Mauer um Asgard bauen sollte,
und ihm Sonne und Mond und Freyja obendrein für das Werk
versprachen, wenn es vor dem ersten Sommertag vollführt sei,
wußten sie nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Die Arbeit schritt
mit erschreckender Geschwindigkeit fort, der Hengst des Bau­
meisters schleppte in der Nacht ganze Felsblöcke zusammen, und
am Tage stapelte der Meister sie fest aufeinander. Als er Asgard
fast ganz eingekreist hatte, so daß man anfangen konnte, die
Maße für die Türöffnung zu nehmen, kamen die Götter zusammen,
um zu beraten, und da fiel es ihnen ein, daß Loki der Vermittler
gewesen war, als der Vertrag gemacht wurde. Und nun wurde
Loki gezwungen, ihnen zu versprechen, daß er einen Weg aus der
Schwierigkeit finden wolle. D a geschah es, daß der Hengst des
Baumeisters brünstig wurde und, von einem Wiehern im Walde
gelockt, fortsprang. Sein Herr lief die ganze Nacht, konnte ihn
aber nicht fangen, und am nächsten Tage stand er da und betrach­
tete die Lücke; jetzt fehlten nur zwei Tage, dann war es Sommer
- und er fuhr auf in Jötenmut. Aber als die Götter merkten, daß
es ein Bergthurse war, der gekommen war, ließen sie Vertrag Ver­
trag sein und riefen Thor, damit er mit einem Schlage seines
Hammers die Rechnung zahle. Wenn einer Jötenmut anlegt oder
anwendet, ist es so zu verstehen, daß in ihm alle solchen Eigen­
tümlichkeiten enthalten sind -G ew alttätigkeit und Grausamkeit - ,
wie auch Züge, die ihn als ein Wesen aus dem Dämonenland be­
zeichnen.
Wir werden näher und näher an das Allerheiligste im Mittel­
punkt der Seele herangeführt. D as Leben ist an der Ehre zu er­
kennen. Wir haben erfahren, wie innig das Heil und die Ehre
verbunden sind, oder richtiger, wir haben gesehen, daß beide nur
verschiedene Seiten derselben Sache sind. Die Alten waren fest
überzeugt, daß ihr Heil in dem Augenblick dahinsiechte, wo sie
ihr gutes Ansehen unter den Menschen verlorengaben, den Ruhm
ihrer Vorfahren vernachlässigten, ihren eigenen guten Ruf nicht
behaupteten oder irgendeine ehrlose Tat begingen. Ihre Gewißheit
war auf Erfahrung gegründet. Sie erkannten die Wichtigkeit einer
geziemenden Hochschätzung der Ehre an ihren Wirkungen auf
Gesundheit und Rührigkeit des kommenden Geschlechts, auf seine
Körpergröße, seine Muskeln, seinen M ut; ja, sie wußten, daß die

259
Schande ein Kind im Mutterleib töten und Frauen unfruchtbar
machen konnte. Die Ehre war nichts Geringeres als das Leben
selbst, und wenn ein Mann seine Seele in einem halberstickten Zu­
stande hielt, würden seine Nachkommen in ihrem Wuchs behindert
sein, als Schwächlinge zur Welt kommen, verkrüppelt und ohne
Kühnheit. Wenn ein Mann aber andererseits seine Seele genährt
und sein Leben bereichert hatte, indem er Herrschaft über die
Ehre anderer gewann, dann würden Helden in seinem Hause
geboren werden, Männer mit scharfen Augen und mächtigen
Kräften, Kinder, die nach den Waffen griffen, bevor sie noch der
Wiege ganz entwachsen waren. Eine Nacht alt, erscheint der H eld
im Ringpanzer - so durfte man von einem Ylfing sagen; in mehr
alltäglichem Stile heißt es vielleicht, daß der Knabe seinen Zucht­
meister tüchtig am Barte zupfte und seine erste Tötung in einem
Alter beging, wo andere Kinder sich in die Rockfalten der Mutter
verkriechen. Vielleicht waren auch solche Kräfte in den Kindern,
daß sie selbst das Leben forderten. Wir hören von einem Knaben
namens Thorstein, einem Sohn von Asgrim, der ein hervorragen­
der Mann in Telemarken war, daß er bei der Geburt ausgesetzt
werden sollte, um zu sterben; aber während der Knecht Vorberei­
tungen machte, das Kind fortzutragen und es zu begraben, hörten
alle Anwesenden das Kind singen: „Laßt mich zu meiner Mutter
hinein; es ist kalt hier auf dem Fußboden; welch anderer Platz
paßt für einen Jungen als der am Herde seines Vaters? H ört auf
mit dem Wetzen, laßt den Rasen sein - ich habe eine Zukunft
unter Männern.“
Aber obschon die Kinder ein sicherer Gradmesser für den Zu­
stand der Seele sind, besagt das doch nicht, daß man auf die
kommende Generation warten muß, um zu sehen, wie Schande
an der Lebenswurzel nagt. Für den Isländer sind die beiden Sätze:
„seine Ehre erhalten“ und „sein Heil erhalten“ synonym; wenn
er sagt: „Ich glaube nicht, daß ich meine Ehre behaupten kann,
wenn ich in dieser Sache stillsitze“ , haben seine Worte ein Ge­
wicht, das beweist, daß dieser Satz jedenfalls für das Herz, wenn
nicht für das Gehirn, gleichbedeutend ist mit der Meidung des
Todes, Erhaltung des Daseins.
Die Ehre hat die Realität des Lebens oder der Seele, und deshalb
wird die Bitterkeit des Todes durch eine Hoffnung auf A uf­
erstehung im Ruhme beseitigt. Der Held freute sich nicht nur bei
dem Gedanken, daß soundso viele der Nachwelt seinen Namen

260
nennen würde; sein sicheres Vertrauen in die Zukunft lag in der
Gewißheit, daß bei dieser Nennung des Namens und bei diesem
Lobe sein innerstes Ich sich ausbreiten, herrschen und genießen,
das Leben leben würde. Der Norweger sagt: „Besitz stirbt, Sippen
sterben, du selbst stirbst wie sie. Eines weiß ich, das ewig lebt:
des Toten Tatenruhm“ . Beowulf tröstet den trauernden König:
„Trauere nicht, weiser Mann, besser ist es, einen Gesippen zu
rächen, als sehr über ihn zu trauern; ein jeder von uns wird das
Ende sehen von seinem Leben in dieser Welt; mag, wer kann,
vor seinem Tode Ruhm gewinnen, das ist die größte Freude für
den Krieger, wenn das Leben zu Ende ist.“ Diese Worte bedeu­
teten zu der Zeit, wo sie ausgesprochen wurden, vielleicht nicht
mehr als wir ungefähr aus ihnen herauslesen, wenn wir die Zeilen
wiederholen; aber für jene Zeit haben sie ihre Kraft in einer Rea­
lität, die weit übertrifft, was wir uns unter Nachruhm vorstellen
können, einer Realität, die wir erst gebührend einschätzen lernen,
wenn wir das Wort Nachruhm durch ein Wort wie Wiedergeburt
oder Auferstehung ersetzen.
Im Nachruhm fortzuleben, am liebsten, solange die Welt steht,
das war der größte Ehrgeiz des Nordländers. Das Wort drängte
sich ihm in den feierlidisten Augenblicken des Lebens von selbst
auf die Lippen: Als Höskuld seinen Sohn mit einem Segen in
seinem neuen H o f willkommen heißt, formen seine Glückwünsche
sich schließlich so: „D as glaube ich fürwahr, daß sein Nam e lange
genannt werden w ird.“ Und dieser Durst nach Ruhm geht durch
alle germanischen Länder. Der Schrei nach Ehre über den Tod
hinaus, nach etwas, was über den Tag des Helden hinaus dauern
soll, klingt ebenso heischend durch die christlichen Verse im
Heliand wie je von den Lippen eines Heldendichters. „Es ist die
Freude des Mannes, fest zu seinem Herrn zu stehen, willig mit
ihm zu sterben. Das wollen wir alle, ihm folgen, wo er geht, unser
Leben für wenig erachten und mit dem Fürsten im fremden Lande
sterben. Dann wird uns doch wenigstens Ehre zuteil und Nach­
ruhm bei dem kommenden Geschlecht“ , - so ermuntert Thomas
die anderen Jünger. Der angelsächsische Seefahrer, der seinen
Christus nicht recht dazu bringen kann, den Wogen zu befehlen,
weder denen in ihm, noch denen außer ihm, klammert sich in
seinem Urteil über die Toten an denselben Glauben. Vor ihm liegt
die ganze Welt traurig und trostlos wie ein Chaos von Mühen,
Strapazen, Entbehrungen und Enttäuschungen, von Trennungen,

261
wo man Begegnungen erwartete. Er findet nichts, das Bestand hat.
Siechtum, Alter und Kam pf wetteifern miteinander, das Menschen­
geschlecht auszuplündern. Es gibt also nichts anderes, worauf man
bauen kann, als das Lob der Nachwelt. Sein R at ist: Gebraucht
die Zeit, bevor das Ende kommt, zu männlicher Tat gegen Feinde
und Teufel, damit die Kinder der Menschen dich preisen mögen,
und dein Ruhm unter den Engeln leben mag. Ein Spätling, der er
ist, betrachtet er das Mannesalter der Welt als abgeschlossen; die
Zeit, wo die Menschen lebten und dem Leben trauten, Kleinode
spendeten und im Heil gediehen, weil sie stark waren, die Zeit ist für
immer vorbei - so klingt sein Klagelied. Und mit der Inkonse­
quenz der Bitterkeit richtet er seine Anklage gegen das Dasein
selbst und macht ihm vor aller Augen den Vorwurf der grund­
sätzlichen Erbärmlichkeit. Aber obschon die Zyniker zu allen
Zeiten gleich sind, trägt ihre Resignation doch den Stempel ihrer
Zeit und ihres Aufenthaltsortes. Der eine sagt: Gut, laßt uns
essen und sterben, der andere: Lasset uns denken und sterben, der
Seefahrer sagt: Laßt uns sterben und im Gedenken fortleben.
Wenn wir das Wort Nachruhm als etwas auffassen, das aus­
schließlich auf den Lippen anderer liegt, etwas, was abhängig ist
vom Wohlwollen fremder Leute und von ihrer Gabe, einzu­
schätzen, was groß war, dann wäre es doch schließlich ein zu un­
sicherer Wert, um den Germanen mit dem Tod zu versöhnen oder
sogar den Tod zu einem Gewinn zu machen. Die Freude über einen
großen Ruhm hatte ihre unbezwingliche Stärke und ihren idealen
Wert in der Tatsache, daß sie auf einer Realität fußte. Das Ruhmes­
leben nach dem Tode war ein wirkliches Leben.
Es ist leicht genug für uns, die Begeisterung in dem Todesstolz
der Alten zu fassen. Wir haben ein offenes Auge für das Flam­
mende und Leuchtende in den Worten, aber wir sind jetzt kaum
imstande, nachzuempfinden, daß sie Wärme verbreiten konnten.
Der moderne Leser denkt wohl, daß er dem Dichter die aller­
größte Ehre antut, wenn er die Worte möglichst im geistigen Sinne
nimmt, aber tatsächlich tötet er durch seine ideale Bewunderung
nur ihr wahres Leben. Einen anderen Ausdruck für den Wert
eines Namens gibt die alte Ermahnung an die Krieger, die wir in
dem norwegischen h irdsk rå finden - dem Gesetz für das Königs­
gefolge - : „Bedenk, wer einmal als Neiding stirbt, wird nie ein
andermal (d. h. wieder) ein braver Mann, sondern so wie er mit
diesem Namen stirbt, so soll sein Andenken mit diesem Nach­

262
rühme leben.“ H ier spricht die alte R ealität noch eine deutliche
Sprache. Wenn es uns gelingen kann, diese Ermahnung buchstäblich
zu nehmen, wie sie da steht, während unsre Seele noch voll ist
von jenen Lobpreisungen des Ruhmes nach dem Tode, dann werden
wir selbst sowohl die Feierlichkeit als auch den Lebensernst im
Trachten der Alten nach großem Nachruhm fühlen.
Der Name geht also von seinem Träger aus wie ein Sieger und
legt die Welt zu seinen Füßen, er geht vorwärts ohne Furcht vor
Leben und Tod, weil er die Seele in sich hat, nein, an sich die Seele
ist. Wenn der Mann körperlich stirbt, konzentriert sich das ganze
Leben in seine Ehre, seinen Nachruhm, seinen Namen, und setzt
darin ungestört sein Leben fort; es kann jeden Augenblick einen
neuen Körper ausfüllen und ihn zu einem Leben in Ehre und H eil
anregen. Wird der Name einem Nachkömmling gegeben, dann
steigt die Seele wieder ans Licht, als wäre nichts geschehen. Er ist
wiedergekommen, sagen die Leute.
Ein anderes Wort, das die menschliche Seele bezeichnet, ist das
isländische a ld r, altsächsisch a ld a r, das vom Standpunkt unsrer
Sprachen aus an einigen Stellen als „Alter, Lebenszeit“ , und an
anderen Stellen einfach als „Leben“ wiedergegeben werden muß.
Die Textstellen sprechen von „Alter verlieren“ , „Alter aufs Spiel
setzen“ , „A lter von einem anderen nehmen“ . Ein Mann kann sein
Alter wagen und es verlieren, er kann das Alter eines anderen
Mannes in der Schlacht von ihm nehmen. Alter ist der Fjör, der
in der Brust sitzt, in welchen das Schwert eindringen kann, um zu
beißen. Aber diese Seele oder dieses Leben existiert nicht nur in
einer blassen Verallgemeinerung wie eine weiße Tafel, auf die die
Welt ihren Schatten wirft. Sie hat einen Inhalt, sie ist ein Schick­
sal. Nach dem Helgiliede kamen die Nornen zu dem H ofe, als
der H eld geboren wurde, und schufen oder bildeten sein Alter; sie
verhießen ihm, er solle der berühmteste König mit dem höchsten
Ruhm unter allen Fürsten werden.
Von der Geburt ab ist das Alter eines Mesnchen bestimmt, sagen
die Norweger, und meinen damit, daß seine Geschichte, wie wir
sagen würden, oder sein Schicksal, wie sie selber es ausdrücken
würden, etwas Gegebenes sei; durch solche und solche Geschehnisse
soll er seinem Ende zugeführt werden. Man kann in seinem Zeit­
genossen einen Helden aus der Vergangenheit wiedererkennen an
seinem Mut und an dem Inhalt und der Stärke seiner Ehre, aber
auch sein Lebenslauf legt, und vielleicht am deutlichsten, Zeugnis

263
ab von dem Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegen­
wart. Wenn wir wissen, welche Art Seele in einem Manne ist,
können wir mit unmittelbarer Sicherheit sagen, was ihn erwartet,
und wie sein Ende werden wird. Das Schicksal eines Mannes ist
vorausbestimmt und damit Freunde und Feinde, Bündnisse und
Streit, Überlieferung und Lebensziel; und mit den Eigentümlich­
keiten eines Geschlechtes folgt in rhythmischer Wiederholung die­
selbe Geschichte. Atli Hasteinson lehnte nach dem K am pf mit
H rafn eine freundliche Einladung von önund ab: er wollte lieber
nach Flause gehen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach folgte aus
seinem Namen, daß er an seinen Wunden sterben sollte, so wie der
Vater seines Vaters Jarl Atli tat, dessen Nam e und Leben er trug.
Den besten Kommentar liefert folgende Stelle in der jüngeren
Edda: „Gute Nornen aus edler Geburt schaffen einen guten Alter,
aber wenn Männer ins Unglück geraten, waren böse Nornen am
Werke.“ Die Nornen waren eigentlich nichts anderes als die Offen­
barung des Heils und der Geschichte des Geschlechts.
Unser Wort Schicksal kann man im Sinne unserer Vorfahren
kaum auf das Leben und seinen Gang anwenden, weil wir das
Schicksal im wesentlichen als eine geheimnisvolle und unberechen­
bare Macht auffassen; das Schicksal war bei unseren Vorfahren ein
Wesen mit Impulsen, Leidenschaften, Eigentümlichkeiten, mit der
Neigung, sich immer für eine bestimmte Seite einer Sache zu ent­
scheiden, K am pf und Entscheidung durch die Waffen der Unter­
handlung vorzuziehen — oder auch ständig nach Schlichtungs­
möglichkeiten auszuschauen; mit der Neigung, lieber einen Mann
zu viel als einen zu wenig zu töten oder immer das zu tun, was
einem am wenigsten frommt. Wir haben es immer mit einem indi­
viduellen Schicksal zu tun, mit einem, das einem einzelnen Manne
gehört und ihn von allen anderen unterscheidet, und dieses Schick­
sal hat einen Anspruch darauf, Seele genannt zu werden. Es kann
ausströmen und sich anderen einverleiben, es kann aber auch eine
individuelle Wiedergeburt erleben. Nach den Prosastellen im
eddischen Helgiliede wurden Helgi, Sigmunds Sohn, und seine
Geliebte, Sigrun, für Reinkarnationen von Helgi Hjörvardson
und Sv afa gehalten, und man glaubte, daß sie selbst darauf in
den Gestalten von Helgi H addingjaskati und K ara H alfdans-
tochter, wiedergeboren wurden. Wir haben hier drei gleichlaufende
Sagen von einem Helden, dessen mächtiger und hastiger Lebens­
lauf seine Ursache in dem Verhältnis zu einer halb überirdischen

264
Frau hat. Helgi H jörvardson wird von der Walküre Svafa zur
Tat geweckt und durch das frevelhafte Gelübde seines Bruders, ihn
von seiner rechtmäßigen Liebe zu verdrängen, dem Tode geweiht;
Helgi Hundingstöter gewinnt auf seinen Kriegszügen die Liebe
und den Schutz der Sigrun, einer Tochter Högnis, aber um ihret­
willen muß er Högni töten und dadurch seinen eigenen Fall vor­
bereiten. Die dritte Sage kennt man nur durch eine verblaßte An­
deutung in einer mythischen Saga, wo Helgi, zu hoch mit dem
Schwerte schlagend, die ihn schirmende Geliebte und Beschützerin
verwundet und dadurch selbst Heil und Leben einbüßt. Wie die
einzelnen Teile dieser Trilogie sich in Ursprung und Beziehung
zueinander verhalten, wissen wir nicht; wir können nur soviel
sehen, daß der Grund dazu, daß sie so miteinander verflochten
sind, in der Ähnlichkeit des Schicksals liegt, welches das P a a r
verbindet. Helgi und Svafa kehren nicht ins Leben zurück, aber
das Leben hat die Gruppe wiedergeboren: den Helden und die
Walkürenjungfrau und ihre Liebe mit dem tragischen Ausgang.
Derjenige, der in den Liedern diese Interpolationen vornahm,
wird kaum durch eine Spekulation zu dieser Hypothese der
Wiedergeburt gelangt sein; aber ob nun Keime für diese Ver­
knüpfung in den Sagen selbst vorhanden waren oder nicht - jene
Prosazeilen haben ihre Berechtigung in den alten Vorstellungen.
Das Leben erkennt man an seinen Taten. Die Seele hat einen ihr
zugehörigen Lebenslauf: das ist eine ihrer Eigenschaften. Das
Schicksal, oder, wie wir auch sagen können: die Geschichte, ist so
wenig wie das Heil etwas, was außerhalb des Menschen liegt; es
hängt auch nicht lose an ihm als eine notwendige Folge seines
Charakters. Es ist das Heil selbst, es ist seine N atur. Es wird aus
ihm geboren auf dieselbe Weise wie Fruchtbarkeit und Sieg. A uf
dieser Identität zwischen Schicksal und Wille beruht der kühne
Fatalismus der Nordländer.
Und so ist es auch keine Sprache der Resignation, die wir bei
einem Atli hören. Die Nordländer ließen sich nicht vom Schicksal
mitschleppen, sie gingen freiwillig, sie wählten selbst das, von dem
sie wußten, daß es ihre Bestimmung war, sie wählten das Un­
vermeidliche aus freiem Willen, so paradox das auch klingen mag.
Das Schicksal war für sie eine Notwendigkeit, der die Menschen
nicht entgehen konnten, aber sie empfanden es gleichwohl als eine
Sache des Willens. Sie nahmen die Pläne und Ratschläge der Ver­
wandten mit derselben Wärme in sich auf wie ihre eigenen, und

265
auf gleiche Weise durchlebten sie mit wachen Sinnen das Schicksal
ihrer Vorfahren. Sie griffen fest in ihre Bestimmung ein mit einem
Willen, der des Schicksals eigener Wille war - hier liegt das Ge­
heimnis ihres hartnäckigen Lebensgefühls, ihrer unerschütterlichen
Zufriedenheit mit der Sicherheit des Daseins. So ließen sie sich
aber auch abhalten, jemals in die Tiefe zu gehen, um nach Schätzen
zu suchen, während sie andererseits nie daran dachten, sich hin­
wegzuträumen und hinwegzutrösten über das, was ist und sein
muß.
Name und Schicksal durchdringen sich gegenseitig. Der Name
war eine mächtige Zauberkraft, weil er die Geschichte nicht nur
des Trägers, sondern seiner Vorfahren und des ganzen Geschlechts
mit sich führte. Taten liegen in seinem Klang verborgen und sie
können in einem Beinamen aufblühen, so daß der Name ein kur­
zes Heldengedicht wird. Solche Namen wie An Bogenschwinger,
Sigurd Fafnirstöter oder Hrcerek Spangenwerfer sind Kernstücke
von Familiensagen.
Aber eine ganze Seite der Seele ist noch nicht berührt worden.
Zur N atur gehört der Körper. Wenn die Mutter ihr Kind geboren
hatte, wurde es zu dem Vater getragen, damit er sehen sollte,
welcher der alten Verwandten hier wieder ans Licht gekommen
sei. Möglicherweise konnte sein scharfer Blick in den Bewegungen
des Kindes den Charakter des Verstorbenen erkennen. Manche
Kinder kamen mit geballter Faust zur Welt, andere ließen wohl
gleich am Anfang ihrer Laufbahn den Schrei eines Helden ertönen.
Das Kind sieht vielversprechend aus, sagen die Männer, er wird
ein harter Geselle werden, aber treu zu seinen Freunden. Aber vor
allem suchte doch der Vater in den Zügen, den Augen, der Gestalt
des neugeborenen Kindes nach Ähnlichkeit. Die Seele verändert
sich nicht. Kraftvolle Glieder, scharfe Augen, gelockte, helle H aare
waren keine zufälligen Eigenschaften der Heldenseele, so wenig
wie die H ärte und Kälte eines Steins zufällige Eigenschaften sind,
die eine Steinseele als Kleid anlegt. Es ist ein ständig wieder­
kehrender Ausdruck in den Sagas, daß der zukünftige Häuptling
an seinen Augen zu erkennen ist. Er hat scharfe Augen, er macht
die Augen scharf nach der Art der rechten Kampffürsten — so
lesen wir von Helgi Hundingstöter. Ebenso bei der Geburt von
Sigurd Fafnirstöter: Der König freute sich, als er die scharfen
Augen sah, die er im Kopfe hatte, und sagte, daß niemand seines­
gleichen sein würde. Die Augen sind in der Poesie der Adelsbrief

266
des Häuptlings: ein Blick, der sowohl Menschen als auch Tiere
einschüchtern und bändigen konnte. Sigurds Mörder mußten zwei­
mal unverrichteter Sache aus der Kammer hinausgehen, denn die
Augen des Völsungs waren so scharf, daß nicht viele es wagten,
seinen Blick zu erwidern. Die Pferde sprangen zur Seite und
wollten nidit auf Svanhild treten, solange ihre Augen offen waren.
Saxos Beschreibung von Olo Vigetus ist eine kleine Abhandlung
über den Heldenblick: Olos Augen waren so scharf, daß sie den
Feind härter trafen als die Waffen anderer Männer; die mutigsten
duckten sich unter seinem Blick. Er kommt unbekannt zu des
Königs H of. Die Tochter des Königs pflegte auf ihrem Rundgang
durch die H alle sich die Gäste anzusehen; an ihren Gesichtszügen
konnte sie ihre Eigenschaften und ihren Stand ablesen. Aber beim
Anblick von Olos Gesicht fällt sie dreimal ohnmächtig zu Boden.
„H ier ist ein Held aus königlicher Geburt“ , sagt sie, und alle rufen
ihm zu, daß er seine Kappe abwerfen soll. Als er ihren Wunsch
erfüllt, starren alle anwesenden Männer voller Bewunderung seine
Schönheit und seine goldenen Locken an, aber er hielt seine Augen­
lider tief gesenkt, „damit sie nicht die Augen sehen sollten und er­
schrecken“ .
Saxo verwundert sich als moderner Mensch über den Scharfblick
des Mädchens; jedenfalls findet er es richtiger, eine so scharfe
Unterscheidungsgabe sozusagen in Gänsefüßchen zu setzen mit
einem „man glaubte“ , daß sie den Stand und die Geburt des
Gastes aus seinen Zügen lesen konnte. Aber tatsächlich gehört
keine große Kunst dazu, einen König herauszufinden. Es ist für
ihn aussichtslos, sich verkleiden zu wollen. Mag er den Rock einer
Dienerin anziehen, sich ein Tuch um den K opf binden und die
Mühle drehen, man wird doch sehen, daß die Magd scharfe Augen
hat, dies junge Blut stammt nicht aus einer Hütte; er muß durch­
aus die Mühle so drehen, daß die Steine zerspringen und der
Mühlkasten auseinanderfliegt. Eine solche Erscheinung und solche
Kräfte gehören ein für allemal zu seinem Heile, zu seiner Natur.
Groß, stattlich, schön muß er sein, um ein Häuptling zu sein, und
anders konnte er als Häuptling gar nicht sein. Wenn die Seele
wiedergeboren wird, formt sie einen Menschen um sich mit solchen
Gliedern, solchen Augen, solchen Haaren, denn anders vermag sie
es nicht. Oder wir dürfen vielleicht eher sagen, daß die Seele selbst
hellhaarig, blauäugig und muskelstark ist - das ist doch schließlich
der wahre Sinn.

267
Alle diese verschiedenen Bestimmungen von dem Wesen einer
Seele verschmelzen in dem einen Wort: Heil. Die Seele ist Heil in
dem allumfassenden Sinne, der sich uns auftut, wenn wir geduldig
ihre Tätigkeit in ihrem ganzen Kreis verfolgen. Wenn das Heil zu
Ende ist, dann, das wissen wir, ist das Leben zu Ende, nicht weil
es von gewissen äußeren Bedingungen abhängig war, sondern weil
es das Dasein selbst war, das aufhörte, als das Heil abbrach. Im
Heil sein, sich im Heil zeigen, bedeutet dasselbe wie im Licht und
Leben hervortreten.
Diese belebende Kraft des Menschen, die sich unter verschiedenen
Aspekten offenbart, ist nach unserer Terminologie annäherungs­
weise als Seele zu bezeichnen, aber wir können sie auch Leben
oder Dasein nennen, ohne die Betrachtungsweise zu ändern. H ier
macht sich der gewaltige Unterschied zwischen der primitiven und
der modernen Erfahrung bemerkbar. Wenn wir versuchen, mit
unseren Gedanken die Voraussetzungen zu erforschen, die die
Grundlage bilden, wenn wir von der Kraft reden, die sich in uns
bewegt und uns bewegt, dann entsteht wohl die Vorstellung von
einem klaren, durchsichtigen Strom, der in seinen Lauf Gefühle
und Stimmungen aufnimmt; das Leben haben wir mit allen ande­
ren Geschöpfen gemeinsam, und es wird menschliches Leben, in­
dem es rein menschliche Elemente annimmt oder entwickelt. Anders
steht es mit dem Leben, das die Taten unsrer Vorfahren vorwärts
trug; das Leben war für sie rein menschlich; und nicht bloß eine
nur menschliche, sondern eine persönliche Sache, so persönlich wie
ein Spitzname. Kraft und Wirkung sind für unsre Erfahrung so
weit getrennt, daß wir die Frage einschieben können: wir wollen
sehen, welche Wirkung von dieser Kraft ausgeht; für das primitive
Denken sind Kraft und Wirkung eins, und sie wachsen gemeinsam.
Sobald wir unsre „Seele“ durch das Wort H a m i n g j a er­
setzen, wird der Gedanke aus unsrer blassen Lebensbetrachtung in
die vollblütige und körperhafte Betrachtung der Vorzeit über­
tragen. Ham ingja ist eine N atur, die nur auf ihre wesentlich be­
stimmte Weise wirken kann und nur zu dem Zweck, der in ihr
selbst liegt. H am ingja ist ein Charakter, der sich nur als dieser
oder jener bestimmte Mensch offenbaren kann, aber andererseits
seine vorbestimmte Wirkung hervorrufen muß: diese besondere
Ehre, diesen Willen und dieses Schicksal, ein Charakter, der auch
diese oder jene Persönlichkeiten schaffen muß in ihren eigentüm­
lichen Beziehungen nach außen und innen. Deshalb kommt sie bald

268
als ein Mann, bald als etwas Menschliches, hier als eine Persönlich­
keit, dort als eine Kraft — und immer ist sie sie selbst, nie mehr
und nie weniger. Ob sie nun in körperlicher Gestaltung irgend­
einer Art an der Spitze eines Heeres marschiert oder ob sie von
einem Manne ausgeht und in den Erdboden dringt und die Saat­
sprossen durch die Krume brechen läßt, das bedeutet keinen
Unterschied in ihrer N atur. Das Heil bildet, das wissen wir, eine
dichte Einheit, gleichartig durch und durch und unteilbar. Deshalb
besitzt jede einzelne Eigenschaft des Mannes die ganze Kraft der
H am ingja; Ruhm nach dem Tode trägt in sich eine lebende Seele
oder ein lebendes menschliches Wesen. In dieser Homogenität des
Lebens ist die notwendige Voraussetzung gegeben für solche Aus­
drücke wie das altenglische: „Die Heiden fielen friedlos auf dem
Schlachtfelde“ , und „es kam für ihn die Zeit, wo er eine Trennung
vom Frieden leiden sollte“ . Diese Stellen werden nicht verstanden,
wenn sie einseitig als Zeugnis genommen werden, daß das Leben
auf Erden für die Vorfahren der Angelsachsen in erster Linie ein
gemeinsames Leben, ein Friede war; sie können auch nicht als
Beispiele für einen poetischen Gebrauch von Friede im Sinne von
Seele genommen werden. Die Erklärung liegt tiefer: Friede war
wirklich eine Form des Lebens, und das bedeutet für das ger­
manische Denken die Seele selbst, und so hieß Friede und Heil
verlieren buchstäblich sterben.
Hier verlieren die Gegensätze, die für uns von größter Wichtig­
keit sind, ihre Bedeutung. Körper - Seele, neutral - persönlich,
Ganzheit - Bruchstück, diese Definitionen haben wohl einen Platz
in dem alten Denken, aber sie sind nicht grundlegend. Wenn wir
von dem Hugr eines Mannes lesen, daß er seinem Feinde in der
Gestalt eines reißenden Wolfes begegnet, dann wissen wir, daß er
eine persönliche Seele ist; wenn uns erzählt wird, daß ein Mann
einen kühnen Hugr hat, dann wissen wir oder wir glauben zu
wissen, daß von einer Charaktereigenschaft gesprochen wird. Aber
in anderen Fällen geraten wir doch in ernste Zweifel; wenn ein
Mann sich von seinem H ugr angetrieben oder gewarnt fühlt, ist
es dann der Geist - nämlich sein eigener Sinn, wie wir sagen
würden - oder ein Geist - etwa sein Schutzgeist -, der in ihm
spricht? Solange wir es für sicher halten, daß die beiden einander
ausschließen, können wir nur zögernd Für und Wider abwägen
beim Lesen eines Verses, wie z. B. desjenigen, den Gro über ihren
Sohn singt: „Wenn Feinde dir den Weg versperren und Böses im

269
Sinne haben, da andre sich ihr Hugr, dir zu dienen, und ihr Sinn
werde zum Frieden gewendet.“ Jetzt schwindet jedes Entweder —
Oder; Hugr ist überall ebenso persönlich wie er unpersönlich ist.
Das alte Denken schwingt nicht hin und her über dem Gegen­
satz zwischen Seele und Körper. Es besteht ein Gegensatz zwischen
der materiellen und der geistigen Existenz, und die Abweichung
zwischen den beiden Formen von menschlicher Offenbarung ist
groß genug, um die Gedanken in Bewegung zu setzen, aber doch
nicht weit genug, um sie in zwei feindliche Lager zu spalten.
Die Spannung zwischen der Existenz des Geistigen und der
Wahrnehmung des Handgreiflichen durch die Sinne ist noch nicht
so stark geworden, daß die beiden Pole jeder für sich Erfahrungen
an sich ziehen und sie in zwei Gruppen festhalten, wodurch ein
Bruch oder ein Problem entstünde. Für moderne Menschen, die
unter dem Einfluß hellenistischer Philosophie und Religion stehen,
sieht es aus, als ob die primitiven Menschen über ein Loch hin und
her springen, von Widerspruch zu Widerspruch, aber es war keine
Kluft und kein Widerspruch in ihnen. Die Verbindung besitzt eine
solche Solidität, daß sie jedem Druck, den die Tatsachen auf sie
ausüben mögen, standhalten kann. Solange wir den Körper ins
Auge fassen, können wir so anhaltend und einseitig, wie wir
wollen, bei der körperlichen Begrenzung des Menschen verweilen;
und wenn wir den Menschen vom geistigen Standpunkt aus be­
trachten, so braudien wir unsere Beschreibung der launenhaften
Seele nicht mit Beschränkungen zu umgeben - aus Angst, daß
unsere früheren Worte gegen uns zeugen möchten. Erst wenn wir
jedem das Seinige gegeben haben, und zwar voll und unbeschnit­
ten, was sie beanspruchen können, erst dann können wir das
Gleichgewicht zwischen den beiden aufrechterhalten.
Niemand wird der Seele die Kraft absprechen, sich vom Körper
trennen zu können, um ein freies, ungebundenes Dasein zu führen,
während der Körper scheinbar, und vielleicht auch in Wirklichkeit,
leer daliegt wie ein Haus ohne Bewohner. Die Seele kann gehen,
wohin sie will, ihre eigenen Geschäfte ausführen, ausspähen, vor­
bereiten und auch für die ganze Person handeln. Es gibt eine
Geschichte vom fränkischen König Gunnthram, die sich hierauf
bezieht. Es wird erzählt, daß er einmal, als er auf der Jag d war,
von großer Müdigkeit überfallen wurde und sich neben einem Bach
schlafen legte; als er aufwachte, konnte er sich noch erinnern, daß
er auf einer eisernen Brücke über den Fluß gegangen war und in

270
einen Berg hinein, wo große Schätze an Gold lagen. Die Seele
hatte richtig gesehen, denn als die Männer hingingen, um an der
Stelle, die der König angegeben hatte, zu graben, fanden sie un­
geheure Schätze. Aber derjenige, der den K opf des Königs im
Schoß gehalten hatte, hatte gesehen, daß eine kleine Schlange aus
des Königs Mund herausgekommen war, während er schlief, und
am Wasser hin und her gekrochen war, bis er ein Schwert über
den Bach gelegt hatte. D a war sie plötzlich über die Brücke und
in ein kleines Loch in der Bergseite hineingeschlüpft und kurz
darauf war sie denselben Weg zurückgekommen.
Wir wissen, daß die Seele - jedenfalls ab und zu - gehen kann,
wohin sie will; aber wir wissen auch, daß sie ihren Körper in sich
trägt. Wenn diese königliche Schlange unterwegs jemandem be­
gegnet wäre, der stark genug gewesen wäre, ihr zu schaden, so
hätte der König beim Erwachen die Spuren davon an seinem
Körper sehen müssen. Jeden Augenblick kann diese Seele sich zu
einem Körper entfalten, als ob sie das Innere nach außen drehte
und nun äußerlich den Stoff zeigt, den sie in ihrem ätherischen
Zustand nach innen trägt. Und dann erscheint sie nicht nur als
eine Vision, ein Abbild der Person, sondern als ein harter und
fester, kräftiger Körper, ein Corpus, das man durchaus nicht durch­
dringen kann, ohne es zu merken. Die Fylgja eines Mannes —so
wird die Seele in diesem Zustand bei den Isländern genannt —
kann sowohl mit ihren Waffen schlagen, als auch mit ihren Armen
pressen, daß einem der Atem vergeht. Es wird von zwei islän­
dischen Bauern erzählt, daß sie sich eines Nachts zwischen ihren
Höfen in Tiergestalt trafen und den Streit des Tages ausfochten;
und als sie am Morgen erwachten, lagen sie beide mit zerschla­
genen Gliedern und sannen über die Begebenheiten der Nacht nach.
Die nordischen Fylgjengeschichten deuten unverkennbar an, daß
die Seele einen Vorteil vor der Persönlichkeit in ihrer Gesamt­
heit hat: sie kann wählen, welche Gestalt sie annehmen will. Wenn
der Körper ruht, benutzt die Seele die Gelegenheit, eine andere
Form als ihre gewöhnliche anzulegen, eine, die besser für den
augenblicklichen Bedarf paßt. Wir hören von Männern, die die
Gestalt von Vögeln annehmen, um durch die Luft zu reisen oder
um sich Eingang durch Öffnungen zu verschaffen, die auf keiner
anderen Straße zu erreichen sind als auf dem „Weg der Bienen".
Als die Tötung Gunnars und Högnis drohend nabte, hatte Kost-
bera, Högnis Frau, warnende Träume von Atlis Seele, die in die

271
H alle kam. „M ir schien, ich sah einen Adler herein und bis ans
Ende der H alle fliegen; bitter ist, was uns jetzt erwartet; er troff
von Blut; ich sah an seinen drohenden Mienen, daß es Atlis Hugr
w ar“ , heißt der Vers in den Atlamal — und die Worte spiegeln,
so poetisch sie sind, eine alltägliche Realität.
Gunnhild, die Königin des norwegischen Königs Erik Blutaxt,
war eine kluge, unbeugsame Frau, deren starker H ugr die Vor­
stellungskraft ihrer Zeitgenossen so sehr erregte, daß sie als ein
halb übernatürliches Wesen in die Geschichte übergegangen ist. Es
geschah, daß Egil, der kein Freund des Königs war, an der Küste
Schiffbruch erlitt und die Gastfreiheit des Königs beanspruchen
mußte. Egil hatte keine andere Möglichkeit, das Wohlwollen des
Königs zu gewinnen, als daß er ein Loblied verfaßte. Aber in der
Nacht, als er an seiner Höfudlausn („H auptlösung“ ) arbeitete —
an dem Gedicht, das seinen K opf lösen sollte - , wurde er von
einem Vogel gestört, der ständig am Fenster zwitscherte. Späte
Sagaverfasser zweifeln nicht daran, daß der Vogel kein anderer
war als'der Hugr der unversöhnlichen Königin.
Wo Stärke not tat, pflegte die Seele in der Gestalt eines Bären
oder mit den Kräften eines Bären zu nahen. „D a sehen H jörvard
und seine Männer, daß ein großer Bär vor König H rolf und seinen
Männern geht und immer dem König am nächsten; er tötet mit
seiner Tatze mehr Männer als fünf von des Königs Recken.
Schwert und Pfeil gleiten an ihm ab, was ihm aber in den Weg
kommt, Roß oder Mann, schlägt er nieder und zermalmt es mit
seinen Zähnen.“ Der Bär war Bödvar Bjarki, dessen Körper
schlafend zu Hause in der H alle saß.
Ohne Zweifel ist diese Fähigkeit, eine andere Gestalt annehmen
zu können, etwas, was für die Seele eigentümlich ist, wenn sie
vom Körper getrennt ist. Trancezustand oder zeitweiliges Ab­
sterben des Körpers sind die Vorbedingungen dafür, daß die
Seele volle Freiheit erhalten und jene andere N atur entfalten und
alle die Eigenschaften verwerten kann, die in der angenommenen
Form liegen: ihre massive Erscheinung, ihre besonderen Gaben,
ihre Schnelligkeit und Wildheit. Sobald Bödvar aufwachte und
seinen Heldenkörper um sich zog, verschwand der Bär. Wir führen
aber unwillkürlich unsre Vorurteile mit uns, wenn wir diese Über­
reste des alten Denkens auf unsre Art zu denken übertragen. Der
H ugr hätte den Körper eines Bären nicht annehmen können, wenn
sein H eil nicht etwas von der Bärennatur in sich gehabt hätte.

272
Die Elemente, aus welchen die Seele sich einen Körper (alt­
nordisch: h am r , althochdeutsch: hamei) baut, werden nicht von
außen geholt; sie liegen in ihr und sind gleichfalls in dem all­
täglichen Körper vorhanden; wer wirklich als Wolf, als Bär, als
Ochse, als Adler erschien, hatte immer die Charaktermerkmale des
Wolfs, des Bären, des Ochsen oder des Adlers in sich. Sein Heil
war von der Art, daß ihm eine wesentliche Verwandtschaft mit
dem Tiere eigen w ar; er benutzte dessen Stärke und List, dessen
Mut, Ahnungsvermögen und Spürsinn auch bei Tageslicht und in
seinem eigenen Körper. Und wenn die menschliche Gestalt im
Schlafe gebunden liegt, können die anderen besonderen Gaben,
die in ihrem Wesen mit enthalten sind, äußere Gestalt annehmen.
Vielleicht sollte man lieber sagen, daß die menschliche Form ge­
zwungen ist, herrenlos zu verbleiben, wenn die anderen Kräfte
ihre formgebenden Eigenschaften entfalten. Und wenn wir einen
so ursprünglichen Vertreter von Seelenkräften wie Bödvar näher
betrachten, können wir, obwohl die Geschichte ihrem Mutterboden
entrissen worden ist, doch noch die Muttermale erkennen. Der
Nam e Bjarki bedeutet Bär und die Geschichte von seinem U r­
sprung enthält vielleicht noch den Schatten einer Spur, daß er
einer Bärensippe angehört hat, die eine Art Frieden mit dem
Bären geschlossen hatte —so wie die Ylfinge mit dem Wolf -, und
diesen Frieden als ihr gemeinsames Heil gepflegt hatte, indem sie
ständig etwas von der N atur des Tieres in sich aufnahm. Der
Nam e seines Vaters war Björn (Bär), seine Mutter hieß Bera, was
Bärin bedeutet, und sein Vater hatte zu der Zeit, wo der Sohn
gezeugt wurde, die Gestalt eines Bären. Die Geschichte von dem
unglücklichen Schicksal seines Vaters, der seiner Tugend wegen von
einer Stiefmutter verzaubert wurde, ist mit Romantik und E r­
findungen gewürzt, aber von den frühesten Zeiten an kommt ein
Bär in der Geschichte vor. Wenn die Form, in welcher sie uns
überliefert ist, nur ein mittelalterliches Märchen ist, so ist die
Geschichte über das Urbild einer Familiensage geformt, die unsern
Vorfahren bekannt war. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Bödvar
sein Zeichen irgendwo an seinem Körper gehabt haben mag, so
wie die Merowinger ihre Schweineborsten am Rücken entlang
hatten.
In späteren Zeiten, als die alte Wirklichkeit zu etwas halb Er­
fundenem abgeschwächt worden war und die Literatur dem Ein­
fluß der mittelalterlichen Poesie unterlag, wurde der H am r manch­

273
mal als ein Balg beschrieben, in welchen der hineinschlüpft, der
seine Gestalt ändert, und den er zurückläßt, wenn er zu seinem
eigenen Körper zurückkehrt. Aber dieser Einfall sitzt lose über
dem ursprünglichen Gedanken, der überall in der lebenden Sprache
zum Vorschein kommt. Ursprünglich war der Ham r, wie es dem
Verfasser der Atlamal noch halb bewußt ist, die Seele selbst, der
H ugr oder die Ham ingja. Der Mann, der an seinem Heil Schaden
erlitten hatte und also nicht mehr sein volles Megin hatte, ist
h am sto li , d. h. seines H am r beraubt; er kann sich nicht erinnern,
verstehen oder träumen. Wenn ein Mann seinen H am r anlegte,
zog er seine ganze Stärke an sich und nahm alle seine Kräfte in
Anspruch. Nicht alle hatten diese Kraft zu „hamen“ (h am ask ) im
gleichen Grade; der starke Mann, der viel und mächtiges Heil
hatte und deshalb seinen Willen sowohl als auch seinen H ugr in
mächtigen Gestaltungen herumschicken konnte, wurde h am ram r,
d. h. stark an Seele, genannt. Das niedere Volk hat in diesem
Punkte den alten Glauben bewahrt, daß starke Charaktere im­
stande sind, sich gleichzeitig an verschiedenen Stellen zu zeigen,
und nach dem unmißverständlichen Zeugnis der Wikingerzeit be­
zeichnet h am ram r die Kraft, eine andere Gestalt anzunehmen und
als Tier zu erscheinen. Dieses ist der höchste Grad der betreffenden
K raft - aber sicher war es eine Eigenschaft, die sich beim Manne,
auch wenn er in seiner normalen körperlichen Gestalt war, als
Ungestüm in der Schlacht bemerkbar machte, als Unverwund­
barkeit, als Unempfindlichkeit gegen Schmerzen und als vermehrte
körperliche Stärke. „Dann nahmen sie ihre Schwerter und bissen
in die Ränder ihrer Schilde, gingen um das Schiff herum, an der
einen Reling hin, an der anderen zurück, und töteten alle Männer;
später gingen sie heulend ans Lan d“ , - dies ist die Bödvar-N atur,
die im vollen Tageslicht auftritt. Solche grimmige Krieger wurden
b erserkir und u lfh ed n ar genannt, weil sie als äußere Tracht Bären-
und Wolfsfelle trugen, und diese Ausstattung hatte ohne Zweifel
mit ihrer Stärke und Wildheit zu tun. Von einem Mann, der Odd
hieß, wird erzählt, daß er in einer einzigen Nacht quer durch
Island vom äußersten nördlichen Punkt bis zum südlichsten ging,
da seine Schwester dringend seine H ilfe brauchte; ob er als Bär
dahingetrottet, ob er geflogen ist oder seine Beine gebraucht hat,
wissen wir nicht; eins genügt: es war die Tatsache, daß er h am ram r
war, was ihm die Schnelligkeit verlieh.
In christlichen Zeiten wurde das Wort h am ram r zu einem brand-

274
markenden Adjektiv degradiert, und in seinem Verfall hat es das­
selbe Schicksal wie fjö lk u n n igr, das später auf die Individuen an­
gewendet wurde, die zum alten Brauch hielten und also Zauberer
wurden. Eigentlich bedeutete fjö lk u n n igr oder „vielwissend“ bloß:
fähig sein, sein Heil auf mannigfaltige Weise zu benutzen, wie ein
Mann es unbedingt sein mußte, wenn er Kenntnis von den ver­
gangenen Dingen hatte und Einsicht und Einfühlung besaß, die
ihm ermöglichten, aus den Seelen um ihn herum Kraft zu holen.
Zu der Zeit, wo O laf Tryggvason das Land durchstreifte, um
Christi Licht in alle norwegischen Heime und Herzen zu tragen,
gab es einen Mann im äußersten Norden, Raud genannt, der sich
hartnäckig gegen die königliche Bekehrung wehrte, indem er die
Küste von Stürmen verteidigen ließ. Eine ganze Woche kämpfte
die Flotte des Königs gegen den Wind in der Mündung der Förde,
ohne vorwärts zu kommen, aber zuletzt wurden die heidnischen
Windstöße überwältigt durch reichliche Verwendung von Kerzen,
Kreuzen und Weihwasser, und es gelang dem König, Raud zu fan­
gen und ihn in die Hölle zu schicken, als er sich zu aufsässig
zeigte, um auf der Stelle seinen Glauben zu ändern. Der trotzige
Heide wurde vom Gefolge des Königs - oder von seinem from­
men Biographen - als fjö lk u n n ig r verspottet; aber O laf, der dem
Sturm trotzte, bis er ihm gehorchte, der sein Heil ausschickte, um
seinen Freunden H ilfe zu bringen und den Gedanken seiner Feinde
der Weisheit zu berauben, ja der sogar gelegentlich erschien, um in
Gefahr eine tödliche Waffe vom K opf seines Dieners abzuwenden,
muß h am ram r und f jö lk un n igr gewesen sein wie irgend jemand,
wie es bei einem Mann aus gutem königlichen Stamme ganz natür­
lich ist.
Die Widersacher des allerchristlichsten Königs gaben ihm mit
gutem Recht den Beinamen f jölkun n igr, wenn sie auf mystische
Weise von O lafs „H eil und H am ingja“ überwältigt wurden. Beide
hatten sie recht. In dem Fall von Fremden, deren Kräfte und Wege
anderer Art sind, muß f jö lk y n g i tatsächlich Zauberei sein, und es
ist also keine Verdrehung der Worte, wenn Christen und Heiden
einander der heimlichen Künste beschuldigten. Als die christliche
H am ingja und der christliche Gott das Feld behaupteten, da wen­
deten die Männer des neuen Glaubens natürlich das Wort ganz
gegen ihre Feinde und machten es zu einem vorwurfsvollen Bei­
namen für Leute des alten Glaubens.
So ist es klar, das kein Widerspruch besteht zwischen dem neu-

275
tralen Leben, der geistigen Kraft, die ein Mann auf seine Um­
gebung ausstrahlt, und der persönlichen Seele, die auf eigenen
Beinen herumspaziert und mit Händen nach den Dingen greift.
Die beiden sind nur gegensätzliche Pole desselben Heils. Wir haben
gesehen, wie die H am ingja eines Mannes ausgehen und sich wie ein
Nebel auf den Sinn eines anderen legen, seinen Weitblick beschat­
ten, seine Initiative ersticken und die K raft aus seinen Plänen
saugen kann; und wir brauchen uns den Handelnden durchaus
nicht als einen Mann zu denken, der mit den Händen würgt, mit
dem Munde saugt, mit den Füßen tritt. Die H am ingja des Königs
verpflanzt sich von seiner H and als Wärme in die des Kriegers,
wenn er dessen H and ergreift; seine H am ingja geht als eine Kraft
in die Männer ein und erfüllt ihre Körper, indem sie sie bis zur
äußersten Fingerspitze durchdringt und von dort in die Waffen
überspringt. Sogar das Voraussehen ist Ham ingja, die aus der Tiefe
der Seele steigt und sich in dem verbreitet, der prophezeit: „Ich
weiß kraft meines Voraussehens und von unserer œ ttarfy lg ja (das
ist: die H am ingja der Sippe), daß große Trauer aus dieser H eirat
für uns entstehen w ird“ , so warnt Signy in der Völsungasaga, als
ihr die H eirat mit Siggeir vorgeschlagen wird. Aber in jedem
Augenblick kann die H am ingja in ihrer vollen Persönlichkeit her­
vorspringen. N ur eine kleine Umstellung in der Beobachtung, und
sie wandelt sich aus einem Etwas in einen Jemand. Auf gleiche
Weise geht der H ugr des Nordländers oft von dem Begriff Sinn,
Wille, Lust, Gedanke in das über, was wir unter Seele verstehen
mitsamt allen ihren Nuancen, weshalb eine Erscheinung des Man­
nes außerhalb seines Ichs, wie die in der Sage von Gunnthram ge­
schilderte, wohl mit den Worten bezeichnet werden kann: „Es ist
ein Hugr, dem wir begegnet sind.“ „D as sind Menschenhugar“ ,
sagt ein Mann, der seine Feinde im Traum gesehen hat, und das
wird ja in nüchternen Worten heißen, daß die Seelen dieser Feinde
spähend, lauernd, vorbereitend um ihn herumschleichen.
Es besteht auch kein Gegensatz zwischen dem H am r und dem
Mut und dem Megin. Der Jöte wird sofort erkannt, wenn er seinen
vollen Jötenmut, die wilde, wütende Seele der Riesen, anlegt, genau so
wie Thor imstande ist, das gewaltige Anschwellen des Flusses zu
dämpfen, wenn er sein Gottes-Megin anlegt. Der metaphorische
Ausdruck, daß der Geist seinen Körper in sich trägt - wenn er
metaphorisch ist - läuft Gefahr, der Wahrheit einen Anschein von
Tiefsinnigkeit zu geben; wenn wir aber alles getan haben, um der

276
Versuchung zu entgehen, die Worte als modernen Witz aufzufassen,
enthalten sie allerdings gerade das, was gesagt werden muß. Wir
haben unzweifelhaft das Recht, gerade eine solche Redewendung
wie diese zu gebrauchen, daß das neutrale Heil Persönlichkeit als
eine Eigenschaft neben all seinen anderen Eigenschaften in sich
trägt, oder vielleicht noch besser, daß es mit einer Persönlichkeit
durchtränkt ist, genau wie es mit Sieg und Fruchtbarkeit und Weis­
heit durchtränkt ist.
Das Leben ist ein einheitliches Ganzes, aber es ist teilbar. Die
Seele kann in kleinen Bruchstücken herumgestreut werden. Wenn
jemand eine große Seele hat, eine solche, die einen Mann zum
König macht, so kann er seine Seele unter seine Krieger teilen, so
daß ein Teil nach dem Osten geht, um einen Aufruhr zu ersticken,
ein anderer Teil nach dem Westen auf eine Seefahrt, und ein dritter
irgendeinen friedlichen Auftrag an anderer Stelle besorgt. U n­
zweifelhaft hätte es das Volk als ein betrübliches Zeichen von
fehlender geistiger Kraft bei ihrem König betrachtet, wenn es einer
seiner ausgesandten Seelen —ob er nun zu der Zeit drei oder sieben
Heere im Felde hatte - an Sehen oder Hören, Weisheit oder Tat­
kraft gefehlt hätte. Jede von seinen „Reden“ , alle seine mächtigen
Gedanken und Ratschläge, müssen mit Augen und Ohren ausge­
stattet werden. Die ganze Seelenmasse ist auf dieselbe Weise mit
Menschentum durchtränkt, wie ein Stein mit H ärte, der Baum mit
Baumheit, so daß der Mann in jedem kleinen Teil seiner Ehre töd­
lich verletzbar ist. Es ist möglich, einen Mann körperlich zu töten,
indem man eine seiner „Ratschläge“ tötet. Wenn ein Häuptling
einmal in vier Teile geteilt wird, wird sein Körper unzweifelhaft
als Ganzheit bei einem dieser Viertelfürsten anwesend sein; aber
das schließt nicht ein, daß die anderen drei inkognito oder unsicht­
bar verbleiben müssen, oder daß sie im geringsten vor dem ganzen
Mann im Vollbesitz seiner Eigenschaften zurückstehen. Jeder von
ihnen kann sehr wohl das lockige H aar, die scharfen Augen, die
frische Gesichtsfarbe und die stattlichen Glieder des H äuptlings­
heils anlegen. Wir können, wenn wir wollen, dem Mann vier Seelen
zugestehen. Aber jede dieser vier Seelen enthält nichtsdestoweniger
jeden Augenblick die Mit-Seelen und ist in jeder Beziehung für sie
verantwortlich. Tatsächlich sind sie, wenn wir die Sache im tiefsten
Grunde untersuchen, gar nicht getrennt. Trennung im Raum be­
deutet nichts oder beinahe nichts.
Die Worte m egin, m ó d r , fjö r und andere dienen dazu, das Be­

277
tragen und die Bedingungen der H am ingja zu erläutern, aber es
würde völlig willkürlich sein, die Beschreibung der Seele auf die
Aufzählung einer Anzahl von beseelten Zuständen zu beschränken.
Dieselbe umfassende Bedeutung von „Leben“ als „Seele“ wohnt in
allen Wörtern, die seelische Vorgänge beschreiben. Isländisch heipt
bedeutet Feindschaft oder Haß, und zwar gefühlten Haß sowohl
als auch feindliche Gedanken und Wünsche, ausgeschickt, um als
niederdrückende Kraft in den Sinn des Feindes einzugehen, oder
um gegen den gehaßten Mann im Hinterhalt zu liegen; es offen­
bart sich als Schlacht und als mächtige Schwerthiebe. M unr (gotisch:
m uns) bedeutet Liebe und Freude, aber es ist Liebe als eine Offen­
barung der Seele; wenn der Held in seinem Grabhügel betrauert -
wie Helgi in dem Gedicht der Edda - , daß er der Freude und
Länder (m un ar ok la n d a ) beraubt ist, so ist m unr nicht als Freude
am Leben zu verstehen, sondern als Leben, das in sich freudvoll
ist. Auch an anderen Stellen können wir die Schwere des Wortes
nicht fassen, wenn wir es nicht als Seele oder Leben wiedergeben.
Idun, die die Äpfel der Jugend in Gewahrsam hatte, wird von
einem Dichter so bezeichnet: die Magd, die den m unr der Götter
vermehrte - die durch Darreichung der unsterblichen Nahrung die
Götter vor Alter und Schwäche bewahrte. In Wirklichkeit kann
kein einziges Wort, das einen geistigen Prozeß bezeichnet, in ent­
sprechenden Ausdrücken der modernen Psychologie wiedergegeben
werden, ohne entweder ungehörig erweitert oder ungehörig ver­
engt zu werden.

278
Die Seele des Menschen ist die Seele der Sippe

Die alte Lebensbetrachtung führt notwendig den Gedanken über


das Individuum hinaus; immer hält man innerhalb der Sippe Aus­
schau, um den Ursprung seines Willens und seines Schicksals zu
finden. Die Ehre, die das Individuum seinem Nachfahren mit der
Bitte überliefert, sie wie ein Banner hoch ins Licht aufzurichten,
ist schließlich nur ein Anteil des Individuums an jener Ehre, die
alle Verwandten vereint behüten und gemeinsam genießen. Diese
großartige Ausrichtung auf ein Ziel, ein Schicksal und den Willen,
nie mit weniger als einem Königreich zufrieden zu sein, sich immer
verpflichtet zu fühlen, den eigenen Ruhm als den größten inner­
halb des Gesichtskreises zu sehen, ist in der Tat - und nicht weni­
ger als die scharfen Augen - etwas, was einem ganzen Kreis von
Männern angehört. Es freut das Auge des Vaters, wenn er sich und
seine Verwandten in den Söhnen wiedererkennt, wenn er, wie es
heißt, „das Heil der Sippe“ in seinem Sohne sieht.
Sie hatten alle einen gemeinsamen Hugr, waren eines Sinnes.
Die Schädel wände bildeten für die Gedanken keine Grenzen; was
in der Seele eines Verwandten warm geworden war, erreichte die
Sippengenossen nicht als Kälte oder Fremdheit. Sie waren eines
Körpers, soweit ihr Friede und ihre Ehre sich erstreckten. Die Ver­
wandten waren identisch - so sicher wie der einzelne Hirsch, der
über den P fad springt, mit anderen Hirschen identisch ist und die
ganze Hirsch-Natur, die ganze große Hirsch-Seele in sich trägt.
Und der Schmerz, der durch die ganze Kette der Verwandten lief,
wenn ein Glied einen Schlag bekam, war mehr als ein geistiges
Leiden. Die Glieder und der H ugr meldeten es, wenn ein Unglück
geschehen war, lange bevor ein Bote die Neuigkeit brachte. Die­
selbe Todesgefahr drohte ihnen allen. Sie hatten ein Leben gemein­
sam. Man konnte von zwei Zeitgenossen, Vater und Tochter, sagen,
daß sie e i n Leben hatten und daher am selben Tage starben.
Diese Gemeinsamkeit des Lebens ist nur eine stärkere Form für
das, was unter allen Verwandten vorhanden ist. Freilich, die ganze
Familie wollte nicht mit dem Vater sterben, nicht sofort jedenfalls,

279
aber wir wissen schon zur Genüge, wie schicksalschwer der Fort­
gang des einen die Zukunft aller Familienmitglieder beeinträchtigte,
wie sorgfältig alle in bezug auf ihre geistige Gesundheit sein muß­
ten, wie eifrig sie alle nadi Verstärkung der Seele, nach Wieder­
aufrichtung verlangten. Die Friedensgenossen eines toten Mannes
waren „feige“ - todgeweiht - und ihr Leben konnte nur durch
energische Bekämpfung der Todeskeime im Organismus der Sippe
gerettet werden.
In einer wallisischen Geschichte sagt der König zu einem unbe­
kannten Verwandten: „Wer bist du, da mein Herz dir entgegen­
schlägt, und ich weiß, daß du von meinem Blute bist.“ Diese Worte
mögen der einfachste Ausdruck eines alltäglichen Gefühls sein, und
sie stammen sicher aus einer Zeit, wo jeder Verwandte aus Erfahrung
den besonderen Schlag des Friedens in seiner Brust kannte. „Der
H ugr sagte es ihm“ , hätte ein Norweger sagen können, denn er
fühlte an den Bewegungen des Heils in sich, daß Heil von seinem
Heil sich näherte, so wie er auch das Herannahen eines Feindes an
einem fremden Heil spürte, das auf dem seinigen „lag “ und es
unbrauchbar machte. Eine gute Frau, Orny, die Tochter des ange­
sehenen Häuptlings Geitir, war von einem norwegischen Gast ver­
führt worden, und als das Kind geboren wurde, befahl ihr Bruder,
daß es ausgesetzt und seinem Schicksal überlassen werden sollte.
Aber der Knabe wurde von einem Nachbarn gefunden und von
ihm an Sohnes Statt angenommen. Als er noch klein war, lief er
auf den Höfen herum und kam so auch als Gast nach Krossavik,
dem Heim seiner Mutter. Eines Tages kam er, wie Kinder es tun,
H als über K opf ins Zimmer gestürzt und fiel auf der Diele hin
so lang er w ar; da geschah es, daß sein Großvater in Gelächter
ausbrach, während Orny zu weinen anfing. Der kleine Thorstein
ging geradenwegs zu Geitir und wollte wissen, worüber er lachte.
Aber der alte Mann sagte: „D as war, weil ich etwas sah, das du
nicht gesehen hast; als du hereinkamst, lief ein weißer Bär vor
deinen Füßen, und über den bist du gestolpert, weil er plötzlich
stehenblieb, als er mich sah; ich glaube, du bist von höherer Ge­
burt, als man annimmt.“ - Daß er hier die Fylgja des Knaben
sah, genügte, um in Geitir das Verwandtschaftsgefühl zu erwecken,
und als der Knabe abends nach Hause gehen sollte, bat ihn der
alte Mann, oft wieder zu kommen, und fügte hinzu: „Ich möchte
glauben, daß du hier Verwandte hast.“
Die Verwandten bilden zusammen eine Seele - und doch waren

280
sie natürlich so und so viele Individuen. Die Sippe ist nicht eine
Einheit in dem Sinne, daß sie mit einem Wesen mit vielen Köpfen
verglichen werden kann. Die Verwandten sind auch nicht Inhaber
eines gemeinsamen Lebenskapitals, das sie gemeinsam verwalten.
Die Gemeinschaft liegt viel tiefer, so daß jeder Streit zwischen dem
Individuum und der Sippe als Ganzheit vollkommen außer Frage
gestellt ist. Wir finden die Wahrheit auch nicht durch ein Kompro­
miß, das die Forderungen auf der einen oder anderen Seite herab­
setzt. Die Individuen sind jedes für sich getrennte Individualitäten,
jedes ist eine Person, und sowohl Realität wie Persönlichkeit sind
so ausgeprägt, daß sie als Wille gegen Wille auftreten können.
Aber die Persönlichkeit, die den einen Verwandten zu einem Cha­
rakter macht, ist dieselbe, die seinem Bruder oder seinem Sohn die
silhouettenhafte Schärfe gibt. Die Verwandten besitzen einander,
sie existieren ineinander, jeder einzelne unter ihnen schließt die
gesamte Seele in jeder seiner Taten ein.
Der einzige Weg, die Eigentümlichkeiten dieser gemeinsamen
Seele nachzuerleben, ist wohl der, zu sehen, wie die Lebenseinheit
das praktische Verhalten der Menschen beeinflußt. Durch die gegen­
seitige Abhängigkeit der Verwandten wie auch durch ihre indivi­
duelle Selbständigkeit wird der Gedanke lebenswahr und treu er­
läutert. Die alte Gesellschaft erlaubt der Persönlichkeit nicht, in
sich irgendwelche Bedeutung zu besitzen. Ein Mann, der allein
denkt und handelt, ist ein moderner Begriff. In früheren Zeiten
hatte der Einsame keine Möglichkeiten. Seine genialsten Gedanken
würden in der Einsamkeit verschwinden, genau wie er selbst ver­
schwand, ohne eine Spur zu hinterlassen. — Die alleinstehende
Kiefer welkt dahin, keine Rinde und kein Grün bedeckt sie, sagen
die H avam al; und diese Worte haben die buchstäbliche Bedeutung,
daß der Baum, der allein auf dem Felde steht, nur welken kann.
Er verbraucht seine ganze Kraft, um die zersetzende Wirkung von
Wind und Fäulnis doch nur eine kurze Zeit aufzuhalten. Das In­
dividuum konnte für sich nur als Knecht oder Neiding existieren,
es konnte kaum noch den tierischen Teil des menschlichen Lebens
in sich bergen. Ein Freigelassener war deshalb ein so unvollständi­
ges Wesen, weil er keine rechte Sippe hatte. Der Sippenmann ist
frei; weil er im Gehege der Sippe steht, zermalmt ihn kein Gewicht
von oben. Anders ist es mit dem Freigelassenen, er steht allein und
muß daher eine Macht über sich haben.
Im Gehege der Sippe stehen bedeutet Glied einer festen Ordnung

281
sein, die von keiner Genialität und von keiner Seelenkraft geändert
werden kann. Wir haben eigentlich kein Wort, womit wir solche
Gewohnheiten messen könnten, die den Willen jedes Mannes dort­
hin biegen, wohin er nicht will, so als handle er aus freiem An­
trieb. Was wir brauchen, ist eine Bezeichnung für ein Gesetz, das
die Pläne des Individuums weder hindert noch unterdrückt, son­
dern sich als K raft und Initiative den Gedanken und Bestrebungen
jedes selbständig denkenden einzelnen Mannes beimischt, der unter
dem Einfluß dieser Regel steht. Der Friede legt Rücksicht auf die
Verwandten in Pläne hinein, die noch im Zustande der Em pfäng­
nis sind, und wenn es geschieht, wie es wohl Vorkommen kann,
daß ein Mitglied der Sippe vom Geiste der Aufsässigkeit gegen
seine nächsten Verwandten erfüllt wird, trägt sein widerspenstiger
Wunsch schon den Willen seines Widersachers in sich verborgen,
wenn er zur Welt kommt. Eine Veränderung an der ererbten Ehre,
an dem, was die Vorfahren als recht, nützlich und notwendig an­
gesehen hatten - gleichgültig ob diese Veränderung sich auf das
Verhältnis zu den Menschen bezog oder auf das, was wir Arbeits­
methoden, d. h. ehrwürdige Sitten, nennen - eine solche Verände­
rung ließ sich kaum mit dem Willen e i n e s Mannes durchführen.
Die Gesetze, die unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen be­
herrschen, sind gewissermaßen steifer und weniger biegsam als die
sozialen Regeln der alten Gesellschaft, aber dafür lassen sie auch
einen Weg offen für Kunstgriffe und verschiedene Ansichten. Wir
können das Gesetz umgehen, wenn es für das Gewissen zu eng ist,
wir können ihm mit dem Munde huldigen und unsere Seelen retten,
ohne es zu brechen; wir können unsere Stellung in der Menschheit
behaupten, indem wir ein äußeres offizielles Leben führen, uns auf
diese Weise vor geistiger Isolation retten und die Fühlung mit der
nächsten Umgebung gewinnen, die notwendig ist, wenn ein Mann
in Ruhe mit seinem Werk fertig werden will. Zu jenen Zeiten
konnte ein Mann weder mit List noch Trotz die Grundgesetze des
Lebens durchbrechen, ohne dadurch den K o p f in die Schlinge zu
stecken. Ein Mann stand fest im Sippengehege und nur, was sich
erreichen ließ, ohne diese Kette zu zerreißen, war überhaupt er­
reichbar.
Aber andererseits wäre es übereilt und gegen alle Erfahrung,
wenn wir hieraus schließen würden, daß der Sippenmann notwen­
digerweise stumpfer und weniger charaktervoll gewesen sei als die
isolierten Individuen der modernen Zeit, oder daß er weniger

282
Möglichkeiten gehabt hätte, das, was wir seine Persönlichkeit nen­
nen, zu entwickeln. Solange die Stärke nach außen gekehrt ist und
nidit den unverletzbaren Frieden und die Ehre angreift, hat die
Sippe keine Wahl, sondern muß entweder die widerspenstigen M it­
glieder schützen oder sie aus sich ausstoßen, und ein gesunder
Stamm wird nicht gern eigenes Blut vergießen. Solange die Unter­
nehmungen der Individuen von der Ehre und dem „Schicksal“ , das
in ihnen ist, inspiriert werden und ihr Ehrgeiz die Fortsetzung der
Taten ihrer Vorfahren ist, können sie sich gehen lassen und ihre
Verwandten nach sich ziehen. Der Friede liefert die Verwandten
der Gnade des Individuums - und seiner Initiative - aus. Er kann
die Ehre in die Höhe schrauben, so viel er will; die anderen haben
keine Wahl, sie müssen folgen; sie können ihn nicht herabzwingen,
sie haben kein anderes Mittel gegen ihn als die Macht der über­
redenden Worte; sie können versuchen, ihn zu überzeugen, wenn
er aber Vernunftgründen nicht zugänglich ist, sind sie gezwungen,
auf seine Unternehmungen einzugehen und sowohl an der Verant­
wortung wie an der Gefahr teilzunehmen. Die Tatsache, daß er
selbst ein Teil der Seele ist, befähigt ihn, die ganze Seele zu zwin­
gen. Der Mann, der eine zehnfache oder hundertfache Seele hat,
besitzt nidit nur eine innere Stärke, die in einem Manne fehlt, dessen
Leben auf seinen eigenen Körper beschränkt ist, sondern er hat
auch tiefere Möglichkeiten, ein reicher und vielseitiger Charakter
zu werden.
Der Friede war ein härteres Grundgesetz als wir heutzutage
leicht eins finden werden, aber anderseits war er auch eine Kraft,
die verwendet werden konnte, zum Guten wie auch zum Bösen.
Ein Mann kann sich seinen Weg bis in den Mittelpunkt des Heils
erzwingen und sich das Heil zu eigen machen. Er kann die Seelen
anderer der seinen angleichen und sie von seiner Seele abhängig
machen und dann die Menschen vorwärtsschleudern, gegen welches
Ziel er will, solange er seiner selbst und seines Heils gewiß ist. Es
gibt kaum eine formale Macht, die der starke Mann ergreifen und
mit seiner Begabung, seinem Mut, seiner Initiative, seiner Klugheit,
seiner List, seinem frechen Eigensinn inspirieren kann; aber er hat
etwas, was besser ist: er macht die anderen zu einem Teil seines
Gedankens und seines Willens und verleibt sie sich gleichsam seelisch
ein; der starke Mann benutzt seine Gefährten, wie er seine Glieder
benutzt.
Die Herrschaft in einer solchen Sippen-Gesellschaft ist von be-

283
sonderer A rt; sie ist hier und dort, sie ist überall und schläft nie.
Aber es gibt keine durchaus dominierende Gewalt. Der Kreis hat
vielleicht seinen Hauptführer, aber der kann niemanden nach sei­
nem Willen zwingen. Auf Island zeigt sich dieser Mangel an Sub­
ordination im schärfsten Licht. Island hatte Männer, die gern aus
ihrem eigenen Beutel für die Ausschreitungen ihrer unruhigen Ver­
wandten zahlten, wenn sie nur den Frieden erhalten und zukünf­
tiges Blutvergießen verhindern konnten; aber ihr Friedensstiften
war dauernd ein Flickwerk. Es gab keine Gewalt über die, die
nicht recht handelten. Fest gegen sie aufzutreten war etwas, was
sogar der Kühnste in der Verwandtschaft nie tun konnte, denn es
war ganz ausgeschlossen, daß die Sippe ihre eigenen unbotmäßigen
Mitglieder hätte verleugnen und sie ihrem Feinde auf Gnade und
Ungnade ausliefern können. Als Chrodin, ein Mann aus edlem
Stamme, wegen seiner Gewandtheit und seinem gottesfürchtigen
Betragen zum Majordomus von Austria erwählt wurde, lehnte er
es mit den bedeutungsvollen Worten ab: „Ich kann Austria keinen
Frieden bringen, weil alle Mächtigen des Landes meine Verwandten
sind. Ich kann sie nicht züchtigen und kann keinen mit dem Tode
bestrafen, sie werden sich vielmehr, gerade wegen ihrer Verwandt­
schaft mit mir, erheben und mir Trotz bieten.“
Die primitive Seele wird im allgemeinen von den europäischen
Historikern so geschildert, als gehörte sie ausschließlich der Mytho­
logie und der Religion an; aber um ihren wahren Charakter zu
begreifen, müssen wir bedenken, daß sie auch ein psychologisches
Wesen ist. Weit davon entfernt, aus dem Glauben und der Grübelei
abgeleitet zu sein, ist sie in allererster Linie ein Objekt der E r­
fahrung, eine alltägliche Realität. Der Unfreie hat keine Seele,
sagen unsere Vorfahren; und sie wissen es, weil sie gesehen haben,
daß sie in ihm fehlt. Wenn ein Unfreier sich in einer gefährlichen
Lage befindet, handelt er wie ein Blinder, er stürzt nieder und
tötet sich selbst aus lauter Furcht vor dem Tode. Wie ein seelen­
loser Mann sich benimmt, erfahren wir aus der Geschichte vom
K am pfe bei örlygsstad, wo der weise und edle H äuptling Arnkel
seinen Tod fand. Als Arnkel unerwartet von einer überlegenen
Macht angegriffen wurde, schickte er seinen Knecht nach Hause,
um H ilfe zu holen. Unterwegs wurde der Bote von einem anderen
Knecht angerufen - und fing bereitwillig an, ihm bei einer Fuhre
Heu zu helfen. Erst am Abend, als sie daheim fragten, wo Arnkel
sei, erwachte der Knecht und besann sich darauf, daß sein Herr

284
mit Snorri bei ö rly gsstad kämpfte. Man braucht keine Hypothese
über Seele und Leben, um die Tatsache festzustellen, daß dem
Knecht H ugr und H am ingja fehlten; seine Seelenlosigkeit ist er­
kennbar an dem fehlenden Glanz seiner Augen. Die einzige Mög­
lichkeit für einen Knecht, sich zu etwas Ähnlichem wie einem
menschlichen Wesen zu erheben, ist, sich von dem Heil und Leben
seines Herrn erfüllen zu lassen, und so sind Treue und Ergeben­
heit die edelsten Tugenden bei einem Unfreien.
Eine ausgezeichnete Erläuterung zu der Art, wie ein Knecht es
vermag, seinen Herrn ins beste Licht zu rücken, gibt eine kurze
Geschichte aus der Landnama. Einmal im Herbst suchte eine Schar
von Männern, die an der isländischen Küste Schiffbruch erlitten
hatte, Zuflucht auf einem abgelegenen H ofe, der Geirmund, einem
edlen H äuptling von königlicher Geburt, gehörte. Der unfreie Ver­
walter lud die ganze Gesellschaft ein, den Winter als Geirmunds
Gäste zu verbringen, und als er von Geirmund gefragt wurde,
wieso er es gewagt hätte, das H aus mit Fremden zu füllen, ant­
wortete er: „Solange Männer in diesem Lande leben werden, wer­
den die Menschen nicht vergessen, was du für ein Mann warst, da
dein Knecht es wagte, so etwas zu tun, ohne deine Erlaubnis ein­
zuholen.“
Eine absolute Einheit, eine Lebensgemeinschaft innerhalb der
Sippe, muß in der Ungleichheit, in dem Wesensunterschied allen
anderen Kreisen gegenüber begründet sein. „Unser“ Leben ist nicht
nur eigentümlich an Charakter, es hat seinen eigenen Stamm, seine
eigenen Wurzeln und trinkt aus seinen eigenen Quellen. Es scheint
nur die eine Folgerung möglich, daß unsere Vorfahren den Begriff
Menschheit auf ihren eigenen Kreis beschränkten und alle Personen
außerhalb ihres Friedens als nicht menschlich betrachteten; aber
diese Folgerung, die unsere blasse, aber ausgedehnte Kategorie
Menschheit zur Voraussetzung hat, ist nicht stichhaltig für die alte
oder primitive Kultur. Die Frage nach menschlichen Wesen oder
nicht-menschlichen Wesen, nach menschlichem Leben oder nicht­
menschlichem Leben lag außerhalb der Ebene, auf der sich ihre Ge­
danken bewegten; das Problem konnte in der Form, die es für uns
unwillkürlich annimmt, nicht gestellt, geschweige denn beantwortet
werden.
Die alte Welt war anders eingeteilt als unsere. Der Unterschied
liegt nicht so sehr in der Tatsache, daß die Grenzen anders ver­
liefen und daß sie anderer Art waren. Auf der einen Seite war der

285
Mensch von der N atur getrennt durch ein tiefes Gefühl der Fremd­
heit, das er wohl auf einigen Punkten durchbrechen, aber nie ganz
überwinden konnte. Auf der anderen Seite wird die Fremdheit,
wenn er die Kluft zwischen sich und den umgebenden Seelen über­
schritten hat, in enge Freundschaft verwandelt. Wenn er seine Ab­
neigung gegen dieses oder jenes Tier überwunden hat, geht er
gleich zu dem anderen Extrem über und nennt das Tier seinen
Bruder und zwar mit vollem Ernst, der deutlich zeigt, daß er die
menschliche Würde nicht als ein Klassenprivileg betrachtet, das ge­
wisse zweibeinige Geschöpfe als eine besondere Kaste abtrennt und
ihnen einen besonderen Stand über allen anderen Geschöpfen an­
weist. Er sieht den Abstand zwischen sich und dem Bären nicht
größer als den zwischen Bär und Wolf; jeder der drei ist ein un­
abhängiges Lebewesen und ihre Beziehungen zueinander können
also nie in einer bestimmten Stufenfolge ausgedrückt werden wie
bei uns, da wir immer den Menschen zuoberst und nicht zwischen
die beiden setzen. Die lebenden und nicht lebenden Dinge der Welt
bilden nicht eine Skala, die bei der anorganischen Welt anfängt
und alle Grade bis zum Menschen als Krone der Schöpfung durch­
läuft. Die N atur ist für den primitiven Menschen ein Reich voll
von freien, selbständig existierenden Seelen, menschlichen und
nicht-menschlichen, die sich alle auf derselben Existenzlinie be­
finden und durch Bande der Freundschaft oder Verwandtschaft alle
Arten von Verbindungen eingehen können. Bei den primitiven
Völkern ist ein Wurm dem Menschen nicht ferner und nicht näher
als ein Tiger - kein Wesen ist von vornherein als niedrig in der
Skala klassifiziert. Der Unfreie steht nicht in unserem Sinne des
Wortes außerhalb der Menschheit, er hat nur kein eigenes Leben
und wird also nicht als Seele gerechnet. Seine Existenz ist so
schwach ausgeprägt, daß er nicht einmal Unrecht tun und nicht zur
Rechenschaft gezogen werden kann, wogegen andererseits Tiere
nicht von der Ehre ausgeschlossen sind, zur Verantwortung ihrer
Taten aufgefordert und verurteilt zu werden.
Wenn wir die Grenze überschreiten, die unsre Zivilisation von
der primitiven Kultur trennt, treten wir in eine ganz und gar
andere Welt. Die Welt, die von Seelen bewohnt ist, bildet nicht
eine weite Ebene, auf der Geschöpf Geschöpf berührt, Seite an
Seite stehend wie in unsrem Universum, wo die Dinge und Wesen
hauptsächlich von außen als raumfüllende Körper betrachtet wer­
den. Der Gesichtskreis unsrer Vorfahren war scheinbar viel enger

286
als unserer, der Gedanke erreichte früher die Wände der Welt; aber
der kleinere Kreis enthielt viel mehr als wir auf ein entsprechen­
des Feld zusammendrängen könnten. Tatsächlich ist die Geräumig­
keit M idgards unbegrenzt, denn dieses Volk-Heim besteht aus
einer Menge von Welten, die Übereinandergreifen und deshalb in
ihrer Ausdehnung vom Raum nicht abhängig sind.
In M idgard laufen die Tiere nicht durcheinander aus und ein,
und sie stoßen und drängen sich nicht um einen Platz. Der Wolf
wird Heidegänger genannt, weil die Heide ein Teil seiner Seele
ist, aber er ist doch deshalb nicht notwendig mit dem Hirsch ver­
wandt, der den Namen Heidetreter trägt. Der Aufenthaltsort des
Wolfes ist nicht derselbe wie der des Hirsches, wie nahe sie auch
geographisch zusammenfallen. Die Heide als Heide war etwas für
sich, eine selbständige Seele und auch ein Raum; aber wenn wir
Heidegänger oder Heidetreter sagen, kommen wir zu ihr nur durch
das Tier, das den Vordergrund ausfüllt, entweder durch den grauen,
äserfressenden, „frechen“ Wolf - dann ist die Heide ein Unglücks­
attribut - oder durch den gekrönten, „eichenschutz-suchenden“ ,
„köpfzurückbiegenden“ Hirsch - dann ist die Heide eine Seelen­
eigenschaft.
In der Sphäre, die wir summarisch mit der Formel Tag und
Nacht abfertigen, war Platz für eine Menge Seelen, die einander
als unabhängige Wesen trafen, sich als Ganzheiten gegenüberstan­
den anstatt einander zu beschränken. Erst wohnen da Tag und
Nacht. Der Tag ist der helle oder strahlende und der schöne. Aber
er hat auch andere Charaktermerkmale, wie es die Angelsachsen
andeuten, indem sie ihn lärmend nennen oder die Zeit der Reg­
samkeit, die Zeit, wo die Menschen geschäftig sind.
Unabhängig von Tag und Nacht erscheint die Sonne unter den
Menschen, und ihre individuelle N atur wird ausgedrückt in den
Nam en: Immerstrahlende, Schrecken der Jöten, Flüchtige. Die
Sonne lenkt ihre Hengste, Frühwart und Allschnell mit demselben
Recht wie der Tag sein Roß Leuchtmähne - so betont die mythische
Sprache ihre gegenseitige Unabhängigkeit. Das Wesen der Nacht
ist Dunkelheit und Schwärze, Schlaf und Traum, aber ihre N atur
enthält auch Angst und Unheimlichkeit - daher stammt sie aus
Jötenheim. Doch ihre Seele reicht noch weiter: die Herrschaft über
die Zeit muß mit unter das Heil der Nacht gehört haben, da unsre
Vorfahren nach Nächten rechneten. Der Mond ist auch eilig, aber
er besitzt andere Kräfte: er zählt die Jahre und wehrt schlechte

287
Gedanken ab; er ist also gänzlich verschieden von dem anderen
Licht.
Diesen großen Göttern folgt eine Reihe von kleineren Gott­
heiten, die für uns mit Ausnahme einiger Überbleibsel aus Mythen
nur Namen sind. N y, der wachsende, klarscheinende Mond, und
N id, der abnehmende Mond oder die mondlose Nacht, leben als
„Zw erge“ in einem K atalog über kleinere mythologische Wesen.
Wir dürfen uns nicht darüber wundern, wenn wir die Phasen des
Mondes als vom Mond getrennte Wesen mit eigener N atur finden;
ihre frühere Unabhängigkeit hat schwache Spuren in den Versen
der Völuspa über die Götter hinterlassen, die Nacht und N id ihre
Namen gaben, und in der Lehre der eddischen Vafthrudnismal über
die Götter, die N y und N id hinaufsetzten, damit man nach ihnen
die Jahre zählen konnte. Von Bil und H juki, zwei Wesen, die mit
dem Mond verbunden sind, würden wir nichts wissen, wenn sie
nicht in die Geschichte mit hineingekommen wären, weil man sich
in den literarischen Zeiten einer Sage aus ihrer Vergangenheit er­
innern konnte, nach welcher sie zum Brunnen gingen und vom
Mond gestohlen wurden. Es ist möglich, daß Bil die Beziehung
zwischen dem Mond und dem Unwohlsein der Frau repräsentiert
- aber dies ist nur eine Ahnung, die durch die Mythen anderer
Völker angeregt wird.
Unter dem Himmel fahren heulende Stürme und treibender
Schnee, und sie sind nicht bloße Diener, die den Willen eines grö­
ßeren ausführen, so wenig wie N y und N id ; sie sind unabhängige
Seelen, deren N atur durch solche Namen gekennzeichnet wird wie:
Lärmender Reisender oder Baumbrecher, und sie haben ihren eige­
nen Ursprung, da sie Fornjots Söhne genannt werden. Nichtsdesto­
weniger hat der Himmel selbst sowohl Licht, weite Ausdehnung,
Wolken, Sturm und hartes Wetter, wie Klarheit, Wehen und
schwüle H itze als „M egin“ - wie wir aus den Namen ersehen, die
ihm in der Poesie beigelegt werden; möglicherweise bildete auch
die Sonne einen Teil seiner Macht. Und auf dieselbe Weise enthielt
der Mond als Zähler der Zeit die Stunden des Lichtes und des
Tages, ohne daß es der Unabhängigkeit dieser als Seelen Abbruch
tat; diese Seite an der Persönlichkeit des Mondes wird in einem
Mythos ausgedrückt, der den Tag zum Sohn der Nacht mit Delling
macht.
Für einen modernen Geist, der sich der Frage in der Voraus­
setzung nähert, daß die Teile des Daseins zusammengeschweißt

288
sind, ist es gefährlich, in M idgard hineinzugehen. Wenn man nicht
sein Wesen ändern und so werden kann wie die Naturen in diesem
Königreich, wird man zwischen den Seelenkolossen zermalmt, die
den kleinen Raum erfüllen. Die Seelen kommen, wachsen in unbe­
grenzter Fähigkeit, neuen Raum auszufüllen, und überwältigen
den Unerfahrenen von jeder Seite her. So groß ist die Unabhängig­
keit jeder Seele, daß die widerspenstigen Seelen nicht einmal da­
durch verschmolzen werden, daß sie einen gemeinsamen Ursprung
haben; wenn jemals etwas ins Dasein trat — und nicht vielmehr
alle Dinge schon von Anfang an da waren — dann sind Tag und
Sonne, Mond und Nacht gleich selbständig entstanden. Die un­
erläßliche Bedingung, wenn man sich in M idgard zurechtfinden
will, ist: alles, und jedes für sich, als weltformend und weltfüllend
zu sehen und nicht als Teil einer Welt. Weder Tier noch Baum,
Himmel noch Erde wird so betrachtet, als nähme es einen größeren
oder kleinen Raum im Dasein ein, sondern als eine große oder
kleine Welt.
Auf dieselbe Weise greifen die Seelen bei den Menschen über­
einander. Jede Sippe enthielt das Heil und die Seele der Nachbar­
sippen und war dafür auch in den Freunden enthalten, ohne daß
dadurch im mindesten die persönliche Unabhängigkeit beeinträch­
tigt worden wäre. Wo Volk dem Volke oder Stamm dem Stamme
begegnet, kommt es nicht auf die von Menschen angefüllten, von
einer politischen oder sprachlichen Grenze durchschnittenen Flächen
an. Wohl haben beide Kreise eine irdische Grenze zwischen sich,
aber diese Scheidelinie ist nur in die gemeinsame Oberfläche ein­
gekerbt. Unter ihr liegen Freundschaft und Feindschaft, Verkehr
und Streit mit all den Abschattungen, die der Charakter von Ehre
und Heil diesen Beziehungen verleiht. Für den, der, selbst Seele,
die anderen als Seelen empfindet, sind Freunde nichts außerhalb
von ihm Seiendes: ihre Persönlichkeit, ihre Ehre, ihr Werk, ihre
Vorfahren gehen in ihm auf als Teil seiner N atur. Und die anderen
besitzen wiederum ihn und das seinige, nicht als einen Tribut­
pflichtigen oder einen Untertanen, sondern als Inhalt ihrer Ehre.
Jedes V o lk - kleiner oder größer, der Intensität des Austausches
entsprechend - ist die Welt, seine Stämme bewohnen die Erde, teils
als bebautes Land, teils als ödes Land, und erfüllen sie bis an ihre
entferntesten Grenzen. Unser Volk ist M idgard, und was außer­
halb liegt, ist U tgard.

289
Außerdem ist die Erde selbst nicht eine Ebene, wo viele Stämme
sich drängen, sondern, wie wir gesehen haben, ein lebendes Wesen,
das vom Pflug und Säemann befruchtet wird, ein Weib - und doch
die breite, grüne Ausdehnung des Bodens und def „P fad e“ . Und
diese breite, schwangere, unbewegliche Erde ist ein Teil jeder Stam-
messeeie und nicht eine gemeinsame Mutter aller. Aus den Sagen
und aus dem Kult geht hervor, daß jeder Stamm seine eigene Ge­
schichte vom Ursprung der Erde erzählt hat, ohne zu fragen, ob die
Nachbarn nun ihrerseits auch das Redit hätten, zu berichten, wie
die Welt, oder richtiger: ihre Welt, entstand. So ist es unter primi­
tiven Völkern, deren Weltentstehungslehren näher bekannt sind,
und so war es unter den alten Völkern im Norden, wie der Geist
ihrer Mythen und die Vielfältigkeit ihrer Überlieferungen bezeugen.
Die Frage Mensch - Nicht-Mensch verschwindet also angesichts
der einfachen Tatsache, daß alles, was nicht unser Leben ist, eine
andere Seele hat, wir mögen sie nennen, wie wir wollen. Fremde
haben keinen Wert vor dem Gesetze. In späteren Zeiten wurde
ihnen eine illusorische Anerkennung in Gesetz und Urteil zuge­
standen, in älteren Zeiten war ihr Leben und Recht eine gleich­
gültige Angelegenheit. Man tötete kein Tier und fällte keinen
Baum rein aus Müßiggang ohne irgendeinen vernünftigen Grund -
mag dieser nun in der Schädlichkeit des Dinges bestehen, solange
es lebt, oder in seinem Nutzen, wenn es tot ist. Um diese Beschrän­
kung zu verstehen, müssen wir bedenken, daß primitive Menschen
viel sorgfältiger danach streben, keine Seelen zu zerstören, als die
Menschen der Zivilisation es tun, die keine Verantwortung gegen
die Geschöpfe um sich herum empfinden, weil sie nur ihren „Sach­
wert“ erkennen. So hätte man früher auch kaum einen Fremden
nur deshalb niedergehauen, weil er existierte. Aber die Tötung eines
Fremden unterschied sich prinzipiell nicht von der Zerstörung einer
der unzähligen nicht-menschlichen Seelen des Daseins.
Umgeben von einem nebligen Horizont von Horden lallender
oder sprachloser Menschen steht eine Gemeinschaft da, in der das
Individuum einen bestimmten Wert vor dem Gesetze hat und von
ihm als ein Wesen gleicher Art, wie der, der ihn angreift, bezeichnet
wird. Das Mitglied einer Gemeinschaft hat das Recht, seine H abe
in Frieden zu besitzen. Sein Leben ist teuer. Aber innerhalb des
engen Kreises, der von einem gemeinsamen Gesetzes-Thing zusam­
mengehalten wird, von einem gemeinsamen Häuptling, von ge­
meinsamem Krieg und Frieden, ist die Tötung eines Menschen

290
schließlich kein Verbrechen gegen das Leben selbst, kann nicht ein­
mal als etwas Unnatürliches angesehen werden.
Andererseits erhebt sich die Heiligkeit des Lebens in absoluter
Unverletzbarkeit in dem Augenblick, wo wir in die Sippe treten,
mit ihrem Urteil über Blutvergießen als Schändung des Heiligsten,
als Verblendung, als Selbstmord. Der Ausschlag kommt so jäh und
unverkennbar, wie wenn ein N erv von einer Nadel berührt wird.
Mit dieser kleinen Bewegung von der Gesellschaft in die Sippe hin­
über haben wir die tiefste Kluft im Dasein überquert.

So ist das Leben in der Erfahrung der Alten - es ist kein bloßer
Organismus, keine Sammlung von Teilen, die von einem verbin­
denden Prinzip zusammengehalten werden, sondern eine Ganz-
Seele, die in jeder seiner Erscheinungen hervortritt. Das Dasein ist
so gleichartig und persönlich, daß alle seine Teile sowohl wie alle
seine Eigenschaften und Charaktermerkmale die ganze Schöpfung
einschließen. Wenn ein Mann eine H andvoll Erde nimmt, hat er
in seiner H and die Ausdehnung, Festigkeit und Fruchtbarkeit der
Erde; die Tatsache läßt sich erklären, wenn wir sagen, daß jedes
Körnchen Boden dessen Seele und Wesen enthält; oder wir mögen
sagen, daß der Bruchteil das Ganze umfaßt - beide Ausdrücke sind
richtig und zugleich falsch, weil die Tatsache in unsrer Sprache nicht
ausgedrückt werden kann, sondern nur in der Wiederverlebendi­
gung einer uns fremden Erfahrung verständlich ist. Wenn ein Mann
ein Tier verzehrt oder sein Blut trinkt, nimmt er Bärheit oder
Wolfheit an, er nimmt durch seine Tat nicht nur die Wildheit und
den Mut des Tieres an, sondern auch seine Gewohnheiten und seine
Gestalt; die körperliche Form des Tieres geht in seine Konstitution
über und mag sich in gewissen Augenblicken hervordrängen, viel­
leicht sogar bis zu vollständiger Verwandlung. Man kann die
Sprünge eines Tieres nicht nachahmen, ohne daß eine innere An­
passung stattfindet, genau so wie man sich nicht wie eine Frau be­
nehmen kann, ohne gewissermaßen ein weibliches Gefühl zu er­
zeugen, denn bei der daramatischen Nachahmung ruft der Tänzer
das Wesen hervor, das sich in diesen Bewegungen ausdrückt, und
nimmt die Verantwortung auf sich, ihm die Kraft der Offenbarung
zu geben. Von einem Isländer wird erzählt, daß er einen menschen­
fressenden Bären tötete, um seinen Vater und Bruder zu rächen;
und um die Rache vollständig zu machen, verzehrte er das Tier.

291
Von der Zeit an war es sehr schwer, mit ihm umzugehen, und seine
N atur machte eine Veränderung durch, die nichts anderes war als
die Bärheit, die in ihm wirkte. Auf ähnliche Weise sind die Men­
schen durch Freundschaftsbünde innerlich mehr oder weniger stark
mit ihren Mitmenschen verbunden. So wie die Sippenbrüder nicht
nur eine Seele, sondern in einem buchstäblichen Sinne, der moder­
nen Gehirnen entgeht, ein Fleisch und ein Gebein sind, so ist die
Seele der Sippe wirklich in den Seelen der Freunde und der Seele
des „Nächsten“ mit einbefaßt, um einen Ausdruck aus dem Neuen
Testament zu gebrauchen, der jetzt die Kraft verloren hat, die er
ursprünglich bei den Semiten wie auch bei den Germanen be­
sessen hat.

292
Geburt

Im Kreise der Verwandten zeigt die Seele ihre Merkmale und


ihre Stärke, aber die H am ingja der Sippe ist nicht auf das
Menschengehege beschränkt, das das heilige Feld umschließt. Die
Seele ist nicht etwas, was mit jeder Generation geboren und mit
jeder neuauftretenden Geschlechterfolge erneuert wird. Sie dehnt
sich nach vorne; unzweifelhaft wird sie auch die Sohnessöhne, von
denen alle guten Verwandten hoffen und erwarten, daß sie ein­
ander folgen werden, durchfluten. Und sie erstreckt sich nach rück­
wärts über den allen bekannten Abschnitt der Vergangenheit hin,
umfaßt die früheren Verwandten und reicht hinter ihnen in das
Urdunkel hinein, aus dem die ältesten Ahnen hervorgegangen
sind.
Die Seele, die sich in der gegenwärtigen Generation unruhig
regt, ist ein Erbgut von den Vorfahren, die sie gestaltet haben,
indem sie ihren Willen immer erfüllten, sie niemals hungern ließen,
sondern gern und willig Ehre sammelten, so daß die H am ingja
immer weiter über ihre früheren Grenzen hinauswuchs.
Woher hatte H arald Schönhaar sein Königsheil und woher seine
Königsseele mit ihrer weitreichenden Ungenügsamkeit, mit ihren
Plänen von einem geeinigten Norwegen und mit der Kraft, seinen
Willen durchzusetzen? Die Frage ist in der Frühzeit gestellt
worden und ist —jedenfalls teilweise - beantwortet worden. Der
Sage zufolge wurde der Grund zu seiner Seele aus mancherlei Heil
gelegt. Er selbst war ein Sohn von H alfdan dem Schwarzen, einem
Fürsten, der sich in kleinerem Maßstab ziemlich ausgezeichnet und
Siegesheil und Ernteheil besessen hatte. H alfdan war zuerst mit
einer Tochter von H arald Goldbart in Sogn verheiratet, und bei
der Geburt des ersten Sohnes nahm der Vater der Mutter den
Jungen zu sich, gab ihm seinen Namen und sein Reich und zog
ihn auf. Dieser H arald starb jung, ungefähr zur selben Zeit wie
sein Verwandter gleichen Namens, und der Name ging dann —mit
der Seele zusammen - auf seinen jüngeren Bruder über, der Tat­
sache zum Trotz, daß dieser von einer anderen Mutter geboren

293
w ar, nämlich von einer Frau aus einem mächtigen Hersengeschlecht
auf H adaland. So wurden von mehreren Seiten her die Grund­
pfeiler für H aralds großes Königsheil errichtet. Wir können mit
vollem Recht sagen, daß der erste König Norwegens eine sehr
zusammengesetzte N atur war.
Das Halfdangeschlecht wurde das größte in Norwegen, weil seine
Mitglieder verstanden, andere Lebensquellen in die ihrige einzu­
beziehen und sich bis zum Überfluß mit Hamingja zu erfüllen.
Die alten Vorfahren lebten in ihren Nachkommen, erfüllten sie
mit ihrem Willen und wiederholten ihre Taten in ihnen. Eine
höhnische Erwähnung der Dahingeschiedenen trifft in Wirklichkeit
eine lebende Seele; denn während die Seele nach der Seelen­
wanderungslehre sich» nur wiederholt und sich rettet, indem sie
immer wieder ins Dasein tritt und von einem Körper in den ande­
ren huscht, s i n d die Verwandten tatsächlich ihre Väter und die
Väter ihrer Väter und erhalten diese durch ihr Sein. D a es die­
selbe Seele ist, die die Alten zu Menschen machte und die jetzt
aus der lebendigen Generation Träger von Ehre und Frieden
schafft, schließt das Gegenwärtige die Vergangenheit nicht aus. Die
Identität der Hamingja, die die Sippe trägt, schließt alle Verstor­
benen mit ein.
Hier ist tatsächlich keine Rede von Vergangenheit und Gegen­
w art in der schonungslosen Art wie bei uns, die wir immer das
Gesicht halb in einer dunklen Wolke begraben und ein feuchtkaltes
Gefühl im Nacken haben. Die Zeit lag rings um jene Menschen
ausgebreitet. Die Vergangenheit war ihnen Norden, die Zukunft
Süden, das Gleichzeitige Osten und Westen: alles gewissermaßen
gleich nahe, gleich anwesend. Und rechts und links, geradeaus und
hinter ihnen war der Gesichtskreis vom Heil des Geschlechts be­
grenzt; die Zeit war von der Strömung dieses Heils so durch­
drungen, wie es um die Menschen herum floß und sie durchflutete,
sie und den Raum zwischen ihnen erfüllend; immer und überall
mit der Kraft der Bewegung in sich, immer und überall mit der
Fülle der Erweiterung, immer wieder sich zu einem Menschen
kristallisierend, der seine Zeit im Lichte wohnte, um dann wieder
hinunterzusinken, für andere Zeiten bewahrt. Für die H am ingja
sind Gegenwart und Vergangenheit nicht übereinander gelagerte
Schichten, sondern ein Doppeldasein, durch dessen Geisterwand
der Mensch unbehindert hin- und hergeht.
Wenn ein neuer Mensch in die Familie trat, sagten die N ord­

294
länder ausdrücklich: Unser Verwandter ist wieder geboren, der
und der ist zurückgekommen. Und sie bekräftigten ihre Aussage,
indem sie dem Jungen den alten Namen gaben. Thorstein weiht
seinen Knaben dem Leben mit den Worten: „Dieser Knabe soll
Ingimund heißen und ich erwarte H am ingja für ihn wegen des
Nam ens.“ Die Seele und das Heil des alten Großvaters Ingimund
soll jetzt wieder ins Leben treten, zu neuer Wirksamkeit im Lichte.
Später in der Geschichte erfahren wir, daß dieser jüngere Ingimund
die Wiedergeburt seines Oheim Jökul bewirkt, indem er diese pro­
phetischen Worte über seinen zweiten Sohn ausspricht: „Dieser
Junge sieht tatkräftig aus: er hat scharfe Augen; wenn er lebt,
wird er sicher über manchen Mann die Oberhand gewinnen, und
er wird nicht leicht umgänglich sein, doch treu zu Freunden und
Verwandten - ein großer Recke, wenn meine Augen sehen können;
sollten wir nicht jetzt unseres Verwandten Jökul gedenken, wie
mein Vater mich gebeten hat - , er soll Jökul heißen.“
Die Festigkeit dieser Sitte der Namengebung beweist, daß die
Alten ernst meinten, was sie sagten. Namen wurden nicht achtlos
gegeben; die Sippe hatte einen Vorrat von gewöhnlichen Be­
nennungen, die der Reihe nach getragen wurden. Die Kinder
wurden nach einem verstorbenen Verwandten genannt und über­
nahmen den freigewordenen Namen. Es ist an und für sich sehr
glaubhaft, daß O laf Geirstadaalf auf Geirstad begraben wurde
und später, ums Jah r 1020, sein eigenes Grab besuchte, oder, wie
die Sache auch ausgedrückt werden kann, daß O laf der Heilige
einmal O laf G eirstadaalf geheißen hatte und, wenn er wollte, sich
an seine Wohnung auf Geirstad erinnern konnte. Die Leute frag­
ten O laf einmal, als er an dem Hügel seines Verwandten vorbei­
ritt, ob es wahr sei, daß er hier begraben sei; da soll er folgende
Worte geäußert haben: „H ier bin ich gewesen, und hier ging ich
hinein.“ Dieselbe unkirchliche Denkweise bestand auf Island.
„Kolbein ist wiedergekommen“ , hören wir die Leute mit inniger
Wiedererkennungsfreude sagen, als sie die Tapferkeit vonKolbeins
Neffen, Thorgils Skardi, sahen; hier hatten sie den ganzen so sehr
bewunderten Mann vor sich, seine Leutseligkeit, seinen Edelmut,
seine Freude an Festen - überhaupt seinen ganzen Häuptlingssinn.
Während die Nordländer, indem sie den neuen Verwandten
nach dem alten benennen, die Individualität des Wiedergeborenen
betonen, folgen die übrigen germanischen Völker einer anderen
Sitte, indem der Sprößling nicht direkt nach seinen Vorfahren

295
benannt wird, sondern einen Namen bekommt, der Teile aus dem
Namenmaterial der Verwandten enthält; und allem Anschein nach
beruht die nordische Sitte auf einer Verengerung des dahinter­
stehenden Prinzips. Das Geschlecht hatte zwei oder mehrere Be­
nennungen, in welchen es seinen Willen und seine Ehre ausgedrückt
sah; die Verwandten trugen das eine oder andere dieser Familien­
zeichen, erweitert zu einem Namen durch Hinzufügung eines
Wortes wie stark (b ald ), mächtig (rik ), heilhaft (altengl. red und
andere) oder ber ht, d. h. „strahlend“ , „von weitem zu erkennen“ .
Die Fürsten von Kent hießen Eormenric, Eormenred, Eorconberht,
Eorcongote und Æthelbeorht, Æthelred, ihre Frauen Eormen-
beorh, Eormenhild, Eormengyth; eormen und eorcon sind beides
Wörter, die etwas Großes und Ehrfurchtgebietendes im Heil des
Kentischen Stammes bezeichnen. Das stolze und alte Geschlecht,
das den Thron von Essex innehatte, nannte sich nach dem seax,
dem „Kurzschwert“ , nach sige, „Sieg“ und s a , was vermutlich ein­
fach „See, Meer“ ist; da waren Sæbeorht, Sæweard, Seaxred, Seax-
beald, Sigebeorht, Sigeheard, Sigebeald. Unter den Westsachsen
finden wir coen, cuth und ceol vorherrschend, sie bezeichnen Vor­
wärtsschreiten, Ruhm und Schiffahrt (ceol ist wahrscheinlich „K iel“
oder „Schiff“ ): Guthwulf, Cuthgisl, Cuthred, Cuthwine, Ceolric,
Ceolwulf, Ceolweald. Die northumbrischen Könige verkündeten
ihre Götter - os - und ihre heiligen Plätze oder Thinge - ealh -
in ihren Namen: die Männer hießen Oslaf, Oswulf, Oslac, Os-
weald, Ealhred, Ealhric, die Frauen Ealhfrith, Ealhfled. Im Beo­
wulf lebt die Erinnerung an die alten Skjoldunge: Heorogar mit
seinen Brüdern H rodgar und Helgi und der nächsten Generation
Heoroweard, Hredrek, Hrodmund und H rodulf; diese hatten als
Namenszeichen das Schwert, heoru, und Ruhm, hroth, hreth. Das
fränkische H aus der Merowinger war stolz auf seinen chlod und
seine child, „Ruhm“ und „Schlacht“ . Das Zeichen der Ostgoten
war, so weit man sehen kann, in erster Linie das alte heilige a m a l;
aber daneben gab es noch das Königszeichen theod, das nicht nur
Volk bedeutete, sondern im weiteren Sinne Größe bezeichnete, das,
was gewöhnliche Maße übertraf: Theodomer, Theodoric, Amala-
ric und Frauen wie Amalafred, Amalaberg. Aus dem ersten Jah r­
hundert, aus der Morgendämmerung der nordeuropäischen Ge­
schichte, werden uns durch südliche Annalen einige Namen über­
liefert, die in der königlichen Familie der Cherusker getragen
wurden: Segestes, Segimundus und Segimerus sind die Namen

296
dreier Verwandter in römischer Form; wir finden wohl in diesen
Namen das Wort „Sieg“ wieder.
Der Unterschied zwischen der alten allgemeingermanischen Art
der Namengebung und der der Nordländer deutet vielleicht auf
einen Bruch in der Denkart, auf eine Revolution, wobei das Indi­
viduum vorstieß und freie H and bekommen hat, um - im Laufe
der Zeit - das Bestmögliche aus sich zu machen. Aber bei allen
geistigen Entwicklungen ist das Neue ganz im Alten und das Alte
ganz im Neuen enthalten; der Unterschied besteht am Anfang in
einer kleinen Änderung des Akzentes. Der Gegensatz zwischen den
beiden Systemen bedeutet sicher nichts weiter als eine Ungleichheit
in der Betonung des Persönlichen und des Allgemeinen. Vor der
Periode, die das neue System der Namengebung erzeugte, hat es
kaum eine Zeit gegeben, wo man den verstorbenen Ahnen über­
haupt nicht im neugeborenen Kinde erkannt hätte. Damals sowohl
wie später glaubten die Menschen an das Fortleben nach dem
Tode; aber bei der Wiedergeburt der Sippe verweilte der Gedanke
mehr bei der Vorstellung von ihrer Wiedergeburt als von s e i ­
n e r Wiederkehr. Die Toten setzten ihr Leben fort, bis sie ver­
gessen oder sozusagen im Heil aufgelöst waren, und unterdessen
ging die Wiedergeburt des Unerschöpflichen weiter.
Bei der Geburt eines Kindes bricht das Heil der Verwandten
wieder in einem Individuum hervor. Vielleicht hatte das Ereignis
eine äußere Veranlassung darin, daß ein Anteil am Heil frei ge­
worden w ar; aber Tod und Geburt standen für die tiefere Einsicht
nicht in so unmittelbarer Beziehung zueinander. Der Lebende kann
nicht, indem er einfach in den Seelenborn springt, dessen Wasser
in einem Nachfahren hervorquellen lassen. Wenn jemand geboren
wird, so ist es ein Überfluten des Heilquells, und soll ein Toter
ein solches Anschwellen hervorbringen können, so muß es kraft
der ganzen Ehre geschehen, die er in sida trägt oder die die Rache
für seinen Tod mit sich bringt. Wenn das Geschlecht seine Ehre
vergrößert, dann stehen Verwandte auf und machen das Gehege
weiter. Der Wille wird nicht unter eine größere Anzahl Individuen
verteilt, sondern er wächst, so daß mehr Wille da ist und mehr
Geräte nötig sind, um sein Werk auszuführen.
Wenn die Männer eines Geschlechtes reich an Ehre und Heil
sind, gebären ihre Frauen Kinder. Das Heil muß durch die Mutter
gehen, um Stärke fürs Leben zu gewinnen; aber die Tatsache, daß
die Frau ihr Kind zur Welt bringt, genügt nicht, um es mit Leben

297
zu erfüllen und ihm einen Teil des Heils zu geben. Im Norden
wurde das Kind gleich zum Herrn des Hauses gebracht und von
ihm mit einem Namen aufgenommen. Wir lesen z. B.: „Dieser
Knabe soll Ingimund heißen, nach dem Vater seiner Mutter, und
ich erwarte Heil in ihm, wegen des Namens.“ Oder: „Dieser
Knabe soll Thorstein heißen, und ich wünsche, daß Heil dem
Namen folgen m ag.“ Die Bedeutung von diesem „erwarte“ ,
„wünsche“ liegt mitten zwischen einem „Ich weiß“ und einem
„Ich bestimme, ich will, ich gebe ihm hiermit einen solchen oder
solchen bestimmten Teil vom Heil, ich gebe ihm hiermit Geburt.“
Der Vater kann dieses sagen, weil er, mit dem Namen zusammen,
die Seele selbst auf den Lippen hat, und sie auf das Kind aus­
atmet; er inspiriert ihm das Heil, den Charakter und den Willen,
die Stärke und das Aussehen der Seele, die über ihm schwebt. Mit
dem Namen gingen Heil und Leben und also auch Friede und die
Würde eines Verwandten in das Kind ein. Erst dann hatte es eine
lebende Seele. Hier und dort in den Gesetzen finden wir Spuren
von einer Zeit, wo das Leben eines Kindes von dem Tag an ge­
rechnet wurde, wo es einen Namen bekam. In England mußte
man, sogar nachdem die Gesetzgebung soweit fortgeschritten war,
daß das kleine Kind mit dem erwachsenen Manne gleichgestellt
wurde, ausdrücklich alle früheren Unterscheidungen außer Kraft
setzen durch die Hinzufügung: ob es einen Namen hat oder nicht.
Bei den Franken wurde das Kind, das noch keinen Namen hatte,
in einer Kategorie für sich gehalten; auf seine Tötung stand eine
kleinere Buße als bei richtigen menschlichen Wesen.
Es würde als eine tiefe Kränkung betrachtet werden, wenn ein
anderer von sich aus dem Kind einen Namen gäbe und dadurch
seine Seele, seinen Körper und sein Schicksal prägte; und in dem
germanischen Rechtsgefühl liegt ein fest eingewurzelter Haß gegen
den, der es wagt, einem Mann einen Spitznamen zu geben und
dadurch neue Seeleneigenschaften in ihn zu pflanzen. Andererseits
kann gesagt werden, daß ein Beiname Heil bringt, da er ja die
rühmliche Auszeichnung des Empfängers vermehrt; die Tiefe dieses
Stolzes geht noch undeutlich aus dem „Aberglauben“ späterer
Zeiten hervor, nach welchem ein Mann mit zwei Namen länger
lebe als ein Mann mit einem.
Ein Knabe, der seine Laufbahn mit einem reichen und mächtigen
Namen anfing, mit einem, den sein Vater oder Großvater oder
ein anderer Verwandter mit Ehre und Erfolg erfüllt hatte, ein

298
solcher Knabe hatte von Anfang an einen großen Vorteil. A uf­
richtige Christen wie König Magnus und sein treuer Mann Thor­
stein Siduhallson haben nicht ein Jo ta von ihrem zuversichtlichen
Glauben an den Segen eines guten Namens verloren. Thorstein
kommt auf dem Heimweg von einer Pilgerfahrt zu seinem König,
als dieser im Sterben liegt und schon sein Haus bestellt und unter
seine Mannen Geschenke verteilt hat. Nichts ist für den Spät­
kommenden übriggeblieben, aber Thorstein macht sich auch nichts
aus solchem Besitz: „Aber das möchte ich, daß du mir deinen
Namen gibst.“ Der König antwortet: „Du hast in mancher Be­
ziehung von mir verdient, was das beste ist, und ich gebe dir gern
diesen Namen für deinen Sohn. Wenn ich auch kein sehr großer
König gewesen bin, so ist es doch auch keine Kleinigkeit für einen
einfachen Bauern, seine Kinder nach mir zu nennen, da ich aber
sehe, daß es dir etwas bedeutet, werde ich deiner Bitte willfahren.
Mein H ugr sagt mir, daß Schmerz und Ehre in dem Namen liegen
werden.“ Das Kind empfängt mit dem Namen ein Bruchstück vom
H eil des Königs, aber dies muß er wissen, daß das Königsheil
stark ist, so stark, daß ein gewöhnlicher Sterblicher kaum Kraft
hat, es sicher bis ans Ende zu tragen.
Die Handlung des Vaters ist ebensosehr wie die Niederkunft
der Mutter deutlich als ein Geburtsakt zu erkennen. Das kleine,
namenlose Etwas hatte an und für sich noch keinen Anteil am
Geschlecht, keinen Anspruch, Verwandter genannt zu werden; und
wenn es üble Neigungen zeigte, mit anderen Worten: ein Neiding
zu werden schien — wie es an solchen sicheren Zeichen wie Miß­
bildung oder stammfremden physischen Eigenschaften zu erkennen
war - da wurde ihm einfach nicht erlaubt, in das Heil hinein­
zugehen, sondern es wurde außerhalb des Lebens gestellt, bis jede
geringste Spur von Bewegung in ihm verschwunden war. Es wurde
ausgesetzt, um zugrunde zu gehen. Der germanische Vater würde
erstaunt eine so unsinnige Beschuldigung angehört haben, wie die,
daß er ein lebendes Wesen ausgesetzt hätte; und wäre die Sache
in einem Augenblick angeschnitten worden, wo er aufgelegt war,
sie zu diskutieren, hätte er ohne Zweifel die irrigen Vorstellungen
der Schwätzer mit einem Hieb seines Beils zurechtgerückt. Er
wußte schon, was das Leben wert sei. H ätte das Kind schon den
geringsten Teil am Frieden gehabt, wäre durch die Ausschließung
eine Lücke entstanden, die die sorgfältigste und genaueste Behand­
lung erfordert hätte.

299
Der Vater hat einen so entscheidenden Einfluß darauf, daß aus
dem Neugeborenen ein menschliches Wesen wird, daß man in
Versuchung kommen kann, die Weihung als die eigentliche Geburt
zu betrachten. Was ist der Wert des einfachen Geborenwerdens,
wenn das Kind, bis es vom Vater oder von männlichen Verwand­
ten aufgenommen wird, doch nur ein Ding ist, das man nicht
einmal zu töten braucht, sondern einfach hinaussetzen kann als
nicht zur Menschheit gehörend? Es mag für uns schwierig genug
sein, das absolute Veto des Vaters in Übereinstimmung zu bringen
mit der Lobpreisung der edlen Geburt bei den Alten und ihrer
schielenden Verdächtigung der Männer, die den Namen des Vaters
laut ausrufen mußten, damit nicht der ihrer Mutter genannt werde.
Für die Nordländer war hohe Geburt das einzige Anrecht auf
Ehre und Ruhm oder im tieferen Sinne die einzige Bedingung, die
dem Mann ermöglichte, jene Tüchtigkeit und jenes Selbstbewußt­
sein zu besitzen, die Ehre und Ansehen voraussetzten. Kein fal­
scher Thronforderer konnte lange unentlarvt bleiben; der Wechsel­
balg konnte die Tatsache nicht verbergen, daß er keine Seele hatte,
wie die Geschichte von dem vergeblichen Versuch der Königin
H agny beweist, die ihre beiden häßlichen, schwarzen Söhne mit
dem schönen Kinde eines Unfreien vertauschen wollte. Die beiden
untergeschobenen Knechtskinder lagen eines Tages auf dem Fuß­
boden und spielten im Stroh, während Leif, der Wechselbalg, im
Hochsitz saß und mit einem Fingerring spielte; da sagte der eine
der Brüder: „Komm, wir wollen ihm den Ring wegnehmen“ ; der
andere schwarze Knirps war gleich zur Probe bereit, aber Leif
weinte bloß. Diese kleine Szene genügt dem Skalden Bragi, um
den Zusammenhang zu erraten; er läßt die Königin wissen: „Zwei
sind hier, die mir gefallen, Hamund und Geirmund, König H jors
Söhne, aber dieser Knabe, Leif ist ein Sohn der Dienerin, nicht
deiner, hohe Frau - ein Lump wie nur wenige.“
In dieser Geschichte finden wir mit polemischer Kraft besonders
betont, was die stillschweigende Begründung für das Urteil der
Nordländer über Menschen war. Im Alltäglichen äußert es sich in
Spott über den Niedriggeborenen, Staunen über die Gaben des
Emporkömmlings und am allerstärksten in der unmittelbaren
Ehrerbietigkeit der Freien gegen Männer mit Tradition. So viel ist
gewiß: Kein Mann konnte mutig und tüchtig sein, ohne einem
mutigen und tüchtigen Geschlecht anzugehören. Wer aus einem
großen Heil geboren war, hatte eine Garantie fürs Leben, die

300
keiner haben konnte, der das Licht der Welt in ärmeren Verhält­
nissen erblickte; er konnte mit volleren Händen greifen, ohne
Furcht, etwas zu verlieren. Er war sicher, diese und jene Eigen­
schaften des Heils zu besitzen - die zu der Ham ingja seines Ge­
schlechtes gehörten - und er würde immer mit unfehlbarer Sicher­
heit die einzig richtige und mögliche Entscheidung in einer Sache
treffen.
Glum, der alte Heiling, hatte einmal ein Erlebnis, das ihm
zeigte, daß ein Mangel hinsichtlich der Geburt, wenn er auch gut
verborgen ist, doch im entscheidenden Augenblick hervorbrechen
und einem die Gedanken rauben kann. In das Thvera-Geschlecht,
das seine Herkunft direkt bis auf Wikingkari zurückverfolgte,
einen der großen Anfänge in der norwegischen Genealogie, und
das mütterlicherseits mit den Königen Norwegens verbunden war,
war ein Tropfen unedlen Blutes hineingekommen; ein Mann, dem
Glum die Freiheit geschenkt und der es irgendwie verstanden
hatte, sich zu Reichtum zu erheben, hatte eine Verwandte - ihren
Namen kennt man nicht - des Mannes geheiratet, der ihn frei­
gegeben hatte. Ihr Sohn ögm und war ein vielversprechender
junger Mann, den Glum in sein H aus nahm und als seinen eigenen
Söhnen ebenbürtig betrachtete. Als die Zeit gekommen war, ging
ögm und auch an Bord seines eigenen Schiffes ins Ausland, wie es
sich für den Abkömmling aus großem Hause geziemte; und in
ebenso geziemender Weise kündete er seine Ankunft in Norwegen
an, indem er ein Langschiff rammte und es auf den Grund des
Meeres schickte. Das Schiff gehörte Jarl Hakon, der natürlich bei
der Nachricht in Wut geriet und die Überlebenden vom Wrack zu
strenger Abrechnung mit den Zerstörern antrieb. ögm und erhielt
einen Hieb, der ihn den größten Teil des Winters ans Bett fesselte.
Und nun schien es, als hätte er plötzlich seinen ganzen Adel
verloren. Er sah seinen Verwandten Vigfus Glumson als einen der
Gefolgsleute des Jarls und wußte, daß der Ja rl sich an dem
rächen würde, wenn einem der Norweger etwas geschähe; und er
konnte es kaum mit seiner Pflicht gegen Glum vereinigen, Unglück
über Vigfus zu bringen. So dachte er und ließ den Hieb ungerächt.
Aber Vigfus dachte anders; seine Erwiderung dringt überögm unds
Rechtfertigungsversuch hinaus zum schwächsten Punkte: „Weder
ich noch mein Vater schätzen es, daß du mich behütest, wenn ich
es nicht selbst tue; es ist etwas anderes, was dich lehrt, so vor­
sichtig zu sein; wie zu erwarten war, artest du dem Knechts-

301
geschlecht mehr nach als den Männern auf T hvera.“ Und Glums
bitterer Ausruf gegen ögm und nach seiner Wiederkehr ist eine
verstärkte Gegenstrophe hierzu: „Wer hatte dich gebeten, ihn zu
behüten, wenn er sich nicht selbst behütete; lieber hätte ich euch
beide tot und dich gerächt gesehen.“ Und er besinnt sich auf die
alte Wahrheit: Unfreier Stamm hat Mangel an Männlichkeit. - Es
war das Merkmal knechtischer Abstammung, daß unwichtige Dinge
sich in seinen Augen vergrößerten, während die Männer vom ech­
ten Thvera-Stamm nur das sahen, worauf es ankam.
Die Nordländer hatten ein scharfes Auge für psychologische
Anzeichen der Mischrasse; eine Redensart, die sie oft auf den
Lippen hatten, war: „Wem artest du nach?“ und wir haben keinen
Grund anzunehmen, daß nur die eine Seite mitgerechnet wurde.
Thorolfs Gegner, die Hildiridsöhne, die schon erwähnt wurden,
kamen nie über den Mangel ihrer Abstammung hinweg; ihre
Mutter war von niedrigerer Herkunft als ihr Vater; es war ein
Fehler, den man in jedem Wort, das die sprachen, deutlich be­
merkte: so wenn sie von hinten in die H alle schlichen, sobald
Thorolf vorn hinausgegangen war, und die Taten ihres Gegners
auslegten, erklärten und deuteten, während Thorolf es seinen
Taten überließ, selbst für sich zu sprechen. Die Sagas bringen auch
die Behauptung, daß die Schurkerei eines Mannes aus dem mütter­
lichen Blute herrühre.
Bei den übrigen altgermanischen Völkern findet man nur wenig
Zeugnisse, die uns u n m i t t e l b a r das Urteil des Tages über
die Halbbürtigen zeigen. Doch kann noch in den Tagen König
Gunnthrams ein Bischhof, Sagittarius, wohl einsehen, daß Miß­
achtung der Geburt bei dem moralischen Verfall des Volkes mit­
wirkte: „Wie können die Söhne des Königs jemals herrschen, wenn
ihre Mutter von der Knechtsbank geradenwegs in das Bett des
Königs gegangen ist?“ Das war sein ständiges Thema, wenn von
ernsteren Dingen die Rede war. Die Erlebnisse des armen Sagit­
tarius waren dergestalt gewesen, daß sie ihm, wie es bei Schwer­
geprüften vorkommt, die Augen für die Schwächen seines Gegners
öffnen konnten; er war seines Amtes enthoben worden, ohne hin­
reichende eigene Verdienste zu besitzen, die er gegen die Un­
gerechtigkeit hätte stellen können. Gregor dagegen, der in seinem-
Panorama der fränkischen Gesellschaft einen Platz für seinen ex­
zentrischen Amtsbruder gefunden hat, betrachtet die Sache mehr
historisch: „Sagittarius hat sich nicht überlegt, daß heutzutage alle,

302
die den König Vater nennen können, als Söhne des Königs be­
trachtet werden, von welcher Herkunft auch ihre Mutter sei.“
Aber auch wenn wir nicht Gelegenheit hätten, das Urteil in lauten
Worten ausgesprochen zu hören, so könnten wir es aus dem prak­
tischen Benehmen der Menschen herauslesen. Man erkennt die
Wichtigkeit der Geburt auch außerhalb Skandinaviens deutlich
genug. Dieses Feingefühl mußte natürlich in seiner stärksten Form
als Abneigung gegen Heiraten mit Niedrigstehenden auftreten.
Und wir hören tatsächlich von den Sachsen, daß sie gleiche Geburt
als eine gesetzlich unerläßliche Bedingung für die beiden Ehe­
schließenden aufstellen; keine Ehe durfte die Kluft zwischen Edel
und Frei überbrücken, so wenig wie zwischen Frei und Frei­
gelassen, Freigelassen und Unfrei. Unsre Quelle dafür, eine geist­
liche Biographie aus dem neunten Jahrhundert, zusammengestellt
von einem Mönch, dessen ethnographische Kenntnisse sich auf etwa
eine Seite mit Excerpten beschränken, gehört zu den Quellen,
deren Sätze man nicht Wort für Wort ernst nimmt, sondern nur
in Bausch und Bogen benutzt; ob die Worte sich auf ein geschrie­
benes oder auf ein ungeschriebenes Gesetz beziehen, ob sie viele
Sachsen betreffen oder nur einen kleinen Kreis in einem bestimm­
ten Zeitabschnitt, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist eine
solche Klassenpedanterie kein allgemein germanischer Charakter­
zug. Aber das sächsische Kastengefühl mag vielleicht indirekt die
ausgeprägte Achtung unsrer Vorfahren vor der Bedeutsamkeit des
Blutes beweisen. Und die Sachsen zeigen sich sonst als sehr genaue
Formalisten, die sicher bereit gewesen wären, aus dem Feingefühl
ein tüchtiges Dogma zu machen.
Es sind zwei Dinge, worin alle guten germanischen Stämme
einig sind: daß eine freie Frau, die sich einem Unfreien hingibt,
der Unwirklichkeit des unfreien Daseins unterliegt und ihre Seele
verliert, und daß eine unfreie Frau ihren Kindern Geist aus ihrem
Knechtesgeist mitgibt. In Schweden hat die Kirche mit ihrem
H aß gegen die Kebsehe und ihrer Mißbilligung der Knechtschaft
gegen die vorherrschende Auffassung Protest erhoben. Dort kann
das Gesetz so lauten, daß rechte Ehe immer dem Kind die Frei­
heit sichert. Aber rings um den Paragraphen stehen die alten Be­
griffe vom Menschen als dem, der durch eine Sippe geboren wird
und seinen Wert aus einer Sippe und der Ehre einer Sippe hat.
Die Worte finden sich zufällig in demselben Kapitel wie ein alter
Satz, in welchem eine frühere Zeit ihre Verurteilung der Frau aus­

303
sprach: die Frau, die mit einem Unfreien eine Ehe eingeht, soll
rückwärts, oder richtiger: mit dem Rüchen nach vorne, aus ihrer
Sippe hinausgehen; das Wort rückwärts bedeutet eine schlimme
Art des Ausganges, es bedeutet Schande und Verlust des mensch­
lichen Standes.
Ein freier Mann hat natürlich das Recht, über seine unfreie
Dienerin zu verfügen, aber Kinder, die in der Ecke der Knechte
gezeugt werden, werden unfrei, ohne das Recht, wie die Kinder
der freien Frau zu gehen, zu sitzen und zu erben. Dieses Kind
sitzt in der Ecke und ißt aus seinem N a p f zwischen den Knechten,
heißt es in einem norwegischen Gesetz; dasselbe kann ausgedrückt
werden, wie es in Dänemark geschieht: H at ein Mann mit seiner
Dienerin ein Kind gezeugt, und ist das Kind nicht frei gemacht
worden, da soll der Vater nicht mehr für dessen Taten büßen als
für die irgendeines Knechtes. Es ist die Frau, die dem Kind das
Gepräge gibt; wir finden das auch in den Worten, in welchen die
Langobarden das Recht eines Mannes, seine eigene Dienerin zu
heiraten, festlegen: erst muß er ihr Freiheit geben und sie in den
Stand einer rechtmäßigen Ehefrau erheben; dann werden ihre
Kinder legitim und erbberechtigt; das Wort, das die Gesetze be­
nutzen, um ihren neuen Stand zu bezeichnen, sei es nun v ird ib o ra ,
edelgeboren, oder v id erb o ra, wiedergeboren, verkörpert deutlich
den Gedanken, daß sie von einer Existenz in eine andere hinüber­
geht, in eine, die wirklich Leben ist.
In allen germanischen Gesetzen, soweit wir Zeugnisse besitzen,
wird ein Unterschied gemacht zwischen Kindern, die in der Ehe
geboren sind, und den illegitimen, obschon die letzteren sowohl
freigeboren wie vom Vater anerkannt sein mögen. Bei den Lango­
barden wie bei allen Nordländern, Dänen, Schweden, Norwegern,
heißt die Regel für die illegitimen Kinder: nicht wie die anderen,
nicht berechtigt zum Anteil am Erbe, oder stärker: er mag ein
Geschenk von seinem Vater bekommen und damit gehen, wohin
er gehört. Welche Stellung nun auch der illegitime Freie bei den
verschiedenen Völkern in der Sippe gehabt haben mag, es besteht
ein tief eingewurzeltes Gefühl, daß ihm etwas fehlt, was die
anderen besitzen, oder eine Furcht, daß er nicht so stark sei wie
seine Verwandten, nicht ein Felsen, auf den man unbedingt ruhig
bauen könne, oder daß das Erbgut in seinen Händen nicht sicher
sei. Möglicherweise war ein solches Gefühl des Unterschiedes nicht
immer und überall als der ausschlaggebende Faktor bei der sozia­

304
len Regelung der Lage des Bastards anerkannt, aber es hat immer
zu dem Urteil, das über ihn gefällt wurde, beigetragen, wenn nicht
aus Furcht, so wenigstens aus Vorsicht. Es gibt in einer isländischen
Saga ein ganz alltägliches Ereignis und einige Worte, die auf die
wesentliche Schwäche bei einer illegitimen Tochter hinweisen, näm­
lich, daß sie möglicherweise nicht imstande sein werde, den vollen
Frieden und die volle Ehre ihres Vaters an ihren Gatten weiter­
zureichen. In dem letzten K am pf zwischen den beiden Helgis,
Helgi Droplaugson und Helgi Asbjörnson, wurde der letztere von
seinem Schwiegersohn H jarrandi treu unterstützt. Der andere
Helgi rief seinem jungen und frischen Gegner höhnend zu: „H a,
wie draufgängerisch wärest du gewesen, wenn es eine freigeborene
Tochter von Helgi Asbjörnson wäre, die du zur Frau hättest.“
Die Worte hatten sicher einen Stachel, den sie reizten H jarrandi,
so daß er noch hitziger loslegte. Obschon die Anrede in ihrer
Form ganz und gar isländisch ist und nicht zu unkritisch heran­
gezogen werden darf, ist sie doch eine Anspielung auf eine Un­
sicherheit, die hinter jenen gesetzlichen Vorkehrungen steht, die
dem Bastard einen Platz an der äußersten Grenze der Verwandten­
linie an wiesen. In diesem Punkte hatte die Kirche bei ihren Ver­
suchen, die Stellung des Bankerts herabzusetzen und so die Mono­
gamie zu stärken, einen Verbündeten in dem alten Denken, und
zwar einen mächtigen Verbündeten, der aus starken, halbempfun­
denen Instinkten heraus handelte und also imstande war, große
und schnelle Veränderungen herbeizuführen.
Freilich, ein Mann wird zu dem geboren, was er ist. Zwischen
Ehe und loseren Verbindungen, zwischen Kindern, deren Eltern
gleich waren, und solchen, deren Mutter keine rechtmäßige H aus­
frau war, zwischen Geburt und Halbgeburt, geht eine der schärf­
sten Trennungslinien in der germanischen Denkart, eine Grenze,
die nie verwischt wird. Wenn auch Tacitus sich auf eigene Faust
Gedanken gemacht haben mag über die Feierstimmung der Bar­
barenfrau, wenn sie ihrem Bräutigam die H and reichte und im
Geiste die Gefahren überblickte, die sie sich mit ihm zu teilen
entschlossen hatte, so stimmt seine Schilderung des Ehevertrags
doch jedenfalls mit allen späteren Quellen überein, wenn er die
Hochzeitsfeier als eine Haupthandlung im Leben unserer Vor­
fahren hervorhebt. Die „Ehe“ (vgl. althochdeutsch êw a, „Gesetz“)
war eine Begebenheit, deren soziale und juristische Reichweite
durch umständliche Zeremonien hervorgehoben wurde.

305
Sie wurde mit derselben wohlbedaditen Sorgfalt geschlossen wie
ein Friedensbund, wo die Grundlage durch Zusammenschweißen
von zwei ganzen Sippen und ihrem Heil befestigt wurde; sie
wurde behutsam vorbereitet durch eine Reihe von feierlichen
Handlungen, die in ihren Formalitäten der gesetzlichen 'Wichtig­
keit des Vorganges entsprachen.
Aber auch das Abwägen und Zurechtlegen der Tatsachen gibt
uns kein rechtes Verständnis. Immer wieder wird es sich zeigen,
daß unsere Wörter zu eng sind, und daß die Vorstellungen, die
die Worte in uns hervorrufen, nicht mit den Gedanken über­
einstimmen, auf denen die alten Einrichtungen beruhten. Wir
geben heute dem Geburtsakt einen absoluten Wert, den dieser
Augenblick in alten Zeiten nicht besessen hat, weil unser Begriff
vom Leben als etwas rein Physischem vollständig verschieden ist
von der primitiven Vorstellung von einem menschlichen Wesen.
D as moderne Wort „Geburt“ muß bis zu seinen äußersten Mög­
lichkeiten ausgedehnt werden, um den ganzen gewichtigen Begriff
von Stamm, Geburt und Familie zu umfassen. Geburt ist nicht
nur Gebären und nicht nur die Zeremonie der Namengebung, son­
dern etwas darüber hinaus - es ist die Vergangenheit, die wieder
hervorbricht.
Die soziale Stellung des Kindes beruht auf dem ganzen Vor­
gang seines Eintritts in die Welt und in die Welt seiner Sippe,
einem Vorgang, der mit den Wehen der Mutter anfängt und mit
der feierlichen Anerkennung durch den Vater und der Aufnahme
in die Sippe endet. Es ist unmöglich, unmittelbar aus dem Schrei
einer Frau zu schließen, daß ein Kind geboren worden ist; aber
hier muß nicht unterschieden werden zwischen Entbindung und
Verleihung der Seele, sondern zwischen dem doppelten Akt des
Gebärens und der Namensverleihung, wodurch ein menschliches
Wesen geboren wird, u n d der unwichtigen Entbindung, die
keine eigentliche Geburt ist. Der einzige Ort, wo man sehen kann,
was vor sich geht, ist in der Sippe selbst, und wenn wir dort als
Verwandte unter Gesippen stehen, haben wir in dem einen Fall
das Glück, einen Verwandten auf die Welt kommen zu sehen, im
anderen sind wir bloß Zuschauer bei einem Geschehnis ohne Be­
deutung, wobei ein Individuum an unseren Augen vorbeigeht ins
Nichts hinaus, in die Unwirklichkeit der Knechtschaft oder viel­
leicht in eine Wirklichkeit hinein, mit der wir nichts zu tun haben.
Der Sohn erbt Geburt und H eil von seiner Mutter, aber sein

306
mütterliches Geburtsredit wird nicht abgeleitet aus dem kurzen
Augenblick, wo die Mutter handelt und der Vater wartet; es hängt
ebensosehr von dem Leben ab, in das der Vater ihn hineinnennt.
Geht man in der Geschichte zurück, um den Augenblick zu finden,
aus welchem der Geburtsakt seine Bedeutung und seine Kraft
herleitet, müssen wir erst bei dem Abend haltmachen, wo das Paar
feierlich sein gemeinsames Leben beginnt; die Tatsache, daß sie sich
offen zusammen zur Ruhe begeben, ist mehr als ein bloß juri­
stisches Zeichen, daß ihre Verbindung alle Folgen einer Ehe haben
soll. Aber dann werden wir auch finden, daß das Zusammensein
vor der Brautbettführung, das „Bier“ , als ein sicheres Zeichen für
die Tiefe und Echtheit der Verbindung hervorgehoben wird. Vom
Bier kommen wir auf den K au f zurück, der vorhergegangen ist,
den gesetzlich bindenden Vertrag, der mit Geschenken bekräftigt
wird, die besagen sollen, daß dieser K au f das Zeichen ist, daß die
beiden in Wahrheit verheiratet sind; die hohe soziale Stellung der
Mutter ist davon abhängig, ob sie ehrenvoll mit Brautgeschenken
gekauft worden ist. Aber auch hier sind wir nicht mit der Sache
zu Ende, der Adel einer rechtmäßig verheirateten Frau glänzt am
Morgen nach der Brautnacht, wenn der Gatte seine Frau mit dem
Heiratsgut einer wahren Ehefrau ehrt. Mit vollem Recht wird die
„M orgengabe“ im Gesetz der Langobarden als der Schlußsegen
hingestellt, der die Frau aus ihrem unfreien Stande erlöst und sie
zur „geborenen“ H ausfrau macht. Jede dieser Zeremonien kann
für sich als die grundlegende und entscheidende genommen werden,
ohne im mindesten die Bedeutung der übrigen zu beeinträchtigen;
denn sie stehen alle als Beweise für die Tatsache, daß eine Ver­
änderung in den Seelen der Betreffenden bewirkt worden ist. Vor
der Heiratsverbindung waren die beiden Familienkreise sich fremd,
jetzt sind sie durch eine Verschmelzung von Heil und Wille ver­
bunden; von beiden Seiten ist Seele von der anderen Seele auf­
genommen worden, so daß beide Ham ingjas gestärkt aus der
„Ehe“ hervorgehen. In dem Augenblick, wo der Vater Heil aus
einem anderen Heil zu sich nimmt und es mit seinem eigenen ver­
einigt, wird die Grundlage zu dem Leben eines ehelichen Sohnes
gelegt. Und so kann der Knabe tatsächlich ein Strang, ein hart­
gedrehter Strang werden; aber er ist nicht aus zwei Strängen zu­
sammengedreht, die lose nebeneinander liegen; sein Heil ist ganz
und gar eins, das Heil des Vaters und der Mutter zugleich. Tat­
sächlich ist die Ham ingja, die nun den Sohn inspiriert, im Vater

307
vollauf tätig; der Vater ähnelt schon mit seiner Sippe der Sippe
der Mutter und artet ihr nach; und das muß er, so gewiß er so
viel von der Ehre der verschwägerten Gesippen in sich hat, daß
er mit ihnen leiden und mit ihnen unter einem Schilde stehen
kann. Das Prinzip der Geburt und der Namensweihe im Norden
wird also vollständig erklärt durch den einfachen Auftritt, wo
der Vater oder derjenige, der dem Kind den Namen gibt, sich für
irgendeinen seiner eigenen Vorfahren oder einen aus dem Kreis
seiner Frau entschließt und die Stellung des Kindes in der Sippe
befestigt, indem er den Segen ausspricht: „Laß den Knaben seinen
Namen und sein H eil nehmen!“
Aber um die volle Wirkung der gesetzlichen Ehe zu verstehen,
ist es notwendig, sich daran zu erinnern, daß das Recht und die
Befugnis zur Benennung eines Kindes nach den Magen nicht auf
den Mann, der wirklich eine Frau aus der anderen Sippe geheiratet
hat, beschränkt werden kann. Die Verschmelzung von Seele und
H eil und Geschichte, die bei einem der heiratenden Sippen­
mitglieder bewirkt worden ist, muß durch den ganzen Stamm
gehen und eine Veränderung in allen Mitgliedern, die eine Seele
gemeinsam haben, bewirken. Mit anderen Worten, das Kind wird
nicht nach seinem Muttervater oder -bruder genannt, sondern die
ganze Sippe erneuert in ihm die H am ingja ihrer Magen.

Daher kommt es ganz natürlich, daß die Stammtafeln der alten


Familien in sich Geschichte oder Epos sind und zugleich Abbildun­
gen eines Charakters. Und obschon die Namensverzeichnisse für
uns nur Kataloge sind, bar der reichen Erinnerungen, die mit den
Namen der ursprünglichen Träger verbunden waren, können wir
doch noch durch die alten und neuen Namen, die sich kreuzen und
häufen, Einblicke gewinnen in Leben und Wachstum, ja sogar etwas
von dem Ernst nacherleben, der für den Stamm selbst die A uf­
zählung gleichzeitig zu einem ernsten Geschäft und zu einer E r­
bauung machte.
Die Geschichte weiß nur wenig von König Penda von Mercia
und noch weniger von seinem Vater, König Pybba. Wir müssen uns
mit einigen Tatsachen aus den kirchlichen Geschichte begnügen, ge­
rade so viel, wie in einem Vers in den Büchern der Chronika über
einen König stehen kann, der das tat, was böse war vor den Augen
des Herrn. N ur einen einzigen menschlichen Zug trägt diese Larve;
als der Heide, der er war, benutzte er gegen die Christen, wenn

308
sie nicht nach ihrem Glauben handelten, keine andere Waffe als
Hohn. Dies erfahren wir, und an dieser höhnischen Fratze meinen
wir einen der ausgeprägten Charaktere zu erkennen, die mit Recht
einen Platz neben einem H arald, einem Jarl Hakon, einem Chlod­
wig erhalten sollten. Aber obschon Penda der Gründer eines König­
reiches war und einer, der gleich H arald eine Häuptlingschaft zu
königlichem Range erhob, ging er mit seinen Vorfahren unter; die
Kultur stürzte ihn mit ihrem unerschütterlichen Urteil, weil er sich
nicht von der Flut tragen ließ, sondern im Strom der Zivilisation
scheiterte. In England wurde die neue Zeit und der neue Geist
nicht wie in Norwegen in den alten Brauch hineingebaut; jeder
Pfahl, der dort eingerammt wurde, um das Neue zu tragen, diente
gleichzeitig dazu, das Alte zu bannen. Mit dem letzten Heiden fiel
das Königreich selbst, und als es wieder aufstand, geschah es durch
den ersten christlichen König von Mercia. Wenn aber das König­
reich von Mercia nach dem Untergang seines Königs und seiner
Kultur feststand, wenn es ohne Schaden die Krise durchmachte, die
auf eine schöpferische Zeit folgte, wo Erhaltung an die Stelle des
natürlichen Entwicklungsrhythmus treten muß, und wenn es sich
n a h der Krise als eine große M ä h t bewährte, so geshah das, weil
jene unbarmherzigen Krieger, Penda und seine Verwandten, a u h
ratkluge Männer gewesen waren, die die Grundlage zu ihrem
königlihen Heil fest und tief legten. Dieser Stamm besaß, gleich
dem von H alfdan dem Shw arzen in Norwegen und dem der Mero­
winger im fränkishen R e ih , die Klugheit, das große Heil der
umgebenden Welt in ihre eigenen Seelen hineinzuleiten und ihre
H am ingja immer wieder neu zu gebären, nicht nur stärker, son­
dern a u h reih er, indem sie ihr Haus durhtränkten mit dem
Siegesheil und dem H errsherheil neuer Gegenden. Ein siherer Be­
weis für das Talent dieser Fürsten von Mercia, ihr geistiges Wachs­
tum zu fördern, indem sie neues Heil von außen gewannen, ist
das Bündnis mit dem königlihen Hause der Westsahsen. Wann die
beiden Familien zum ersten Male Magen wurden, weiß man n ih t;
nur dieses ist siher, daß Pendas Schwester mit König Coenwealh
von Wessex verheiratet war. Und nun sehen wir, daß einer der
Brüder Pendas sh o n n a h seinem Schwager benannt ist; er wird
Coenwealh genannt, und obgleih der Friede bald gebrohen
wurde, da der W estsahse seine Frau verstieß, gebrauchte Coen-
wealhs Zweig der Familie weiter nur w estsähsishe Namen. Außer­
dem wurde die neue H am ingja auf zwei von Pendas Enkel über­

309
tragen, auf Wulfheres Sohn Coenred und Æthelreds Sohn Ceolred,
trotz der Tatsache, daß die Mutter des einen aus Kent, die des
anderen aus Northumberland war.
Auch gegen Norden können wir den Bestrebungen des Stammes
folgen. Pendas erbitterte K äm pfe mit den frommen Königen von
Northumberland, Oswald und Oswiu, stehen irgendwie mit der
Tatsache in Verbindung, daß zwei seiner Söhne Tochter von König
Oswiu geheiratet hatten. Und schon in derselben Generation er­
scheinen in der Mercia-Stammtafel die eigentümlichen northum-
brischen Namen, die von einer Sippe zeugen, die stolz auf ihre
Götter w ar; Pendas Bruder Eowa nennt seine Söhne Alwih und
Osmod. Auch das æthel, das in dem Namen eines der eigenen
Söhne Pendas, Æthelred, auftritt, ist lange in Northumbria im
Gebrauch gewesen, aber auf Grund seines allgemeinen Charakters
ist es kein unzweideutiges Familienkennzeichen.
Ein anderer ehrgeiziger Stamm, dessen Namensliste noch Zeug­
nis ablegt von der bereichernden Kraft des Heils, sind die Mero­
winger. Ihr erster geschichtlicher Name ist Childeric. Dieser König
könnte mit Recht der H arald Schönhaar der Franken genannt
werden, und ebenso wie der norwegische Reichsgründer hatte er
einen Teil seines Heils aus dem Nachbarreiche. Es wird in Form
einer Erzählung berichtet, daß er sich einige Zeit im Osten, in
„Thüringen“ bei König „Bisinus“ aufhielt, und daß die Königin
des Ostlandes aus Bewunderung für seine Männlichkeit ihm nach
Franken folgte und die Mutter des nächsten großen Mannes des
Geschlechtes, Chlodwig, wurde. Was dieser Mythos, in moderne
historische Proportionen übertragen, bedeutet, wissen wir nicht,
aber daß er großes Gewicht hat, zeigen uns die Namen von Chil-
derics Töchtern Audefleda und Albofleda, in denen wir ein alb und
ein au d finden, die auf dasselbe mystische Thüringen mit seinem
noch mystischeren König Bisinus zurückweisen. Später verband
Childeric sich mit Theodoric dem Großen und gab ihm eine seiner
Tochter zur Ehe; Chlodwig erwartete, wie ein Geschichtsschreiber
ausdrücklich feststellt, große Dinge aus diesem Bündnis und beeilte
sich deshalb, seiner Familie das Heil einzuverleiben, indem er
seinen Sohn nach dem großen König der Goten benannte. Die
folgenden Generationen zeichnen sich durch das Bündnis mit dem
königlichen burgundischen Hause aus; Namen mit gunth, wie
Gunthram, und chrote, wie Chrotesind, sind die Symbole der Ver­
einigung. Was die übriggebliebenen Namenverbindungen wie Ingo-

310
mar, Chramn oder Charibert in der Geschichte des Stammes be­
zeichnen, können wir nicht erklären; man möchte raten, daß sie in
den Annalen der Familie als Erinnerungen an die rivalisierenden
fränkischen Stämme auftreten, die allmählich von der Linie der
Sieger verschlungen wurden. Alle diese aufgenommenen Namen
bedeuten zuerst Magschaft, aber dann auch Aneignung von Heil
und Wille; wenn man soviel burgundische Seele in sich hatte wie
die Merowinger, konnte man sich getrost in den fremden Orten
niederlassen, ohne daß Gefahr bestand, daß einem das Heil im
fremden Lande ausgehen würde.
Diesen alten Realisten gegenüber, die fremdes Heil und fremdes
Redit in ihr eigenes Fleisch und Blut einsogen, reichen unsere
schwachen Begriffe von Erwerbungen durch Ehe und durch Ver­
erbung nicht aus. Unsere Wörter und Gedanken erlauben uns nur
auf sehr langen Umwegen die Art von Seelengeschichte zu erfassen,
die diese Familienverzeichnisse enthalten. Haben wir uns aber erst
einmal so weit führen lassen, so steht die Genealogie als ein Aus­
druck vor uns, der alles sagt und alles auf die richtige Weise sagt,
als die authentische Erläuterung der Geburt, die durch keine andere
vollständig ersetzt werden kann, und zwar aus dem Grunde, weil
die Reihenfolge von Namen eine Reihe von Landmarken bildet,
die der Strom des Lebens selbst abgesetzt hat. Und das Symbol,
das sie uns vor Augen stellt, ist nicht ein Vater, der von seinem Platz
in der Stammfolge aus einen suchenden Blick auf die zwei Wege
wirft, die sich in ihm treffen, in der Hoffnung, irgend jemanden
zu finden, der seinem Kinde einen Namen verschaffen kann; wir
sehen einen Mann, der von dem Heil inspiriert ist, das in Wahr­
heit das seinige ist, ob nun er selbst oder ein anderer die letzte
Vermehrung hinzugetragen hat, und der nun diese Ham ingja nimmt
und das „A lter“ —oder Schicksal - seines Sohnes bestimmt.
„Ich wünsche diesem Knaben Heil in dem Nam en“ : das ist ein
Wort, das gerade das zu bewirken vermag, was nach altem Sprach­
gebrauch darin liegt. Wer es sagt, weiß, daß er seine Worte „ganz“ oder
wirklich (h eil) machen kann. Das alte Denken hatte keine Achtung
vor halben oder bedingten Resultaten; wenn ein Vater seinem
Kinde kein wirkliches und unbeeinträchtigtes Leben geben konnte,
so hatte er nichts vermocht. Er konnte in der Tat etwas von sich
selbst und von seiner Seele nehmen, um einem Menschen, der schon
aufgewachsen war, Geburt zu verleihen. Wenn die Isländer die
tendenziöse Geschichte erzählten, wie H arald Schönhaar den König

311
Æthelstan zwang, einen seiner Söhne an Kindesstatt anzunehmen,
indem er seinen Boten das Kind auf das Knie des englischen Königs
setzen ließ, entschlüpfen dem Erzähler unwillkürlich die Worte:
„D as Kind ist jetzt auf dein Knie gesetzt worden, und du mußt
es jetzt fürchten und ehren, wie du deinen Sohn fürchtest und
ehrst.“ Was der Verfasser und sein Kreis sich auch bei diesen Wor­
ten gedacht haben mögen, jedenfalls holen sie ihre Kraft aus der
Erfahrung, daß eine solche Handlung wie die, zu der der N o r­
weger Æthelstan überlistete, wirklich einen Faden spann zwischen
dem Mann, der da saß, und dem Kind, das auf sein Knie gesetzt
worden w ar; diese feierliche Handlung konnte eine Veränderung
in den Beteiligten hervorrufen und nicht nur neue Verantwortung
schaffen, sondern auch vollkommen neue Gefühle von Frieden und
Verwandtschaft entstehen lassen.
Unzweifelhaft konnte die Seele in einem Mann erneuert werden,
so daß er in eine andere Sippe hineingeboren wurde als die, zu der
er ursprünglich gehörte. Bei einer solchen Adoption erhielt das neue
Mitglied ein neues Heil, neue Pläne, neue Ziele seines Lebens, es
hatte dann Erinnerungen und Vorfahren mit seinen neuen Ver­
wandten gemeinsam, empfing ihren Frieden in seine Seele, ihren
Willen zur Rache, ihre Ehre. Sogar durch das pompöse Latein von
Cassiodorus hören wir den Widerhall des germanischen Zutrauens
zu einem solchen Adoptivsohn; dieser Federfuchser Theodorics be­
rührt gelegentlich die Erinnerung an Gensimund — „ein Mann,
dessen Lob die ganze Welt singen sollte, ein Mann, der nur durch
Adoption in Waffen ein Sohn des Königs geworden war, der aber
eine solche Treue gegen die Amaler zeigte, daß er diese sogar auf
ihre Erben übertrug, obschon man ihn selbst suchte, um ihn zu
krönen. Deshalb wird sein Ruhm immer leben, solange der Nam e
der Goten genannt wird.“
Der Mann muß offenbar vollkommen neugeboren worden sein
und eine gänzlich neue Seele erhalten haben. Eine Veränderung
muß in ihm stattgefunden haben, eine Geburt, die nicht nur seine
Denkart beeinflußte, sondern auch das, was wir seinen Charakter
nennen mögen.
Der Halbbürtige war also nicht von der Möglichkeit ausgeschlos­
sen, vollkommen geboren zu werden, er konnte erneuert oder viel­
mehr geradezu geboren werden, so vollständig, daß tatsächlich
nichts übriggelassen wurde vom alten Körper oder von der alten
Seele. Eine solche Wiedergeburt lag in der H andlung der Adoption,

312
der Kniesetzung oder, wie die Schweden es nannten, Schoßsetzung.
Wenn das Upplandgesetz in einem Paragraphen illegitime Kinder
nach der späteren H eirat ihrer Eltern zu vollen Ehren zuläßt, sie
aber in der Überschrift zu diesem Paragraphen „Schoßkinder“
nennt, haben wir hier wiederum einen jener charakteristischen
Widersprüche zwischen den Wörtern der alten Zeit und den Ge­
danken des Mittelalters. In den norwegischen Gesetzen finden wir
die Adoption in ihrem vollen dramatischen Verlauf beschrieben:
Ein dreijähriger Ochse wurde geschlachtet, und ein Schuh wurde
aus dem Fell seines rechten Fußes gemacht; bei einem feierlichen
Gastmahl wurde der Schuh auf den vornehmsten Platz der Stube
gestellt, und ein Mitglied der Familie nach dem anderen setzte den
Fuß hinein; erst der adoptierende Vater, dann der adoptierte Sohn
und nach ihm die übrigen Verwandten. Von diesem Augenblick an
hatte der Sohn das ganze Leben der Familie in sich, wie deutlich
aus den gesetzlichen Folgen hervorgeht, die der Handlung zuge­
schrieben wurden; er erbt, rächt, führt Klage vor Gericht, ist einer
der ihrigen. Die Formel, mit welcher der Vater die Würde dieses
Verwandten bestätigt, enthält in alten Worten die Einheit der
Seele, die wir mit „H eil“ und „Ehre“ und „Friede“ ausdrückten:
„Ich führe diesen Mann zu den Gütern, die ich ihm gebe, zu Gabe
und Entgelt, zu Stuhl und Sitz, zu Buße und Ring und zu vollem
Mannesrecht, als ob seine Mutter mit Brautgeschenk gekauft wor­
den wäre.“
Dasselbe mag im Schwedischen gesagt sein, wenn es heißt: Bis
ein Mann adoptiert worden ist, darf er nicht unter Geschworenen
stehen, darf keinen K au f tätigen, und alles, was ihm getan wird,
ist, als wäre es einem Knecht getan; aber wenn er rechtmäßig
adoptiert worden ist, wenn die Verwandten ihr feierliches: „Wir
nehmen ihn in die Sippe zu uns“ , ausgesprochen haben, da darf er
vor Gericht sowohl angreifen als auch sich verteidigen und kann
unter Eideshelfern einen Platz haben, wenn die Familie in einem
Rechtsstreit zwischen Männern Zeugnis ablegt. Und wenn die
Adoption auf rechte Art ausgeführt worden ist, dann ist der
Adoptierte so vollständig geboren wie einer, der nackt und zap­
pelnd zwischen den Knien einer hochgeborenen Frau gelegen hat;
was er auch gewesen sein mag, Knecht oder freier Mann, niemand
kann zwischen ihm und anderen des Stammes einen Unterschied
finden. Er unterscheidet sich nicht dadurch von seinen Brüdern, daß
er, ohne eine Mutter zu besitzen, von einem Vater geboren wurde,

313
denn im Falle einer vollständigen Adoption war das Heil der Frau
und ihrer Verwandten in der Seele eingeschlossen, die der Vater in
ihn hineingenannt hatte. Das adoptierte Mitglied hatte eine ganze
Seele und eine Vergangenheit empfangen.
In Norwegen wurde verlangt, daß alle Verwandten bei der
Adoptionshandlung anwesend sein und in den Schuh treten sollten,
dam it sie einer nach dem anderen das Redit auf Leben und einen
Anteil an den Rechten des Lebens an den neuen Mann weiter­
reichen konnten; Kinder, die noch nicht alt genug waren, um selbst
an der Handlung teilzunchmen, bekräftigten die Adoption ihres
Bruders auf ihres Vaters Arm sitzend, wenn er in den Schuh trat.
Dieselbe Bedingung für die Gültigkeit der Adoption wurde wahr­
scheinlich von anderen germanischen Völkern verlangt, obschon wir
daraus nicht schließen können, daß sie das Recht des Vaters auf
dieselbe Weise beschränkten wie die Norweger. Der Hauptzweck
der Handlung ist nicht, die Veränderung im Stand des jungen
Mannes zu verkünden, sondern die Veränderung selbst wirklich zu
machen, so daß sie als eine Tatsache vor die Welt treten konnte, die
alle fühlen mußten. Das Kind saß nicht auf dem Arm des Vaters,
um als eine Bekanntmachung zu figurieren; es strahlte Heil in den
neuen Bruder hinein, und es würde, sobald es ein erwachsener
Mann wäre, die Verwandtschaft fühlen, die es, ohne es zu wissen,
gegründet hatte. Infolgedessen war die öffentliche Bekanntmachung
auf dem Gesetzes-Thing, die vom dänischen und schwedischen Ge­
setz verlangt wurde, an sich nicht wirksamer als die Handlung, die
ein Vater selbst unternahm, wenn er großes Heil in sich gesammelt
hatte.
Außer den wahren Verwandten scheint es eine Klasse von Män­
nern gegeben zu haben, die Leben hatten, die im Heil handelten,
deren Ehre von der Sippe behütet wurde, denen aber doch etwas
fehlte. Wenn die unfreie Mutter zur Zeit ihrer Niederkunft nach
dem Vater schickte, und er einwilligte zu kommen, um das Kind
aufzunehmen und ihm einen Namen zu geben, wie Höskuld es mit
seinem Sohn O laf tat, dann war der Knabe frei und konnte - wie
O laf - zu Ruhm aufsteigen; aber er war doch schließlich genötigt,
bei der Teilung des Erbes abseits zu stehen und sich mit einem Ge­
schenk zu begnügen, das der Vater ihm aus dem Ganzen zuerkannt
hatte.
So beschreiben die Gesetze faktisch die Stellung des illegitimen
Sohnes sowohl im Süden als auch im Norden. Der Vater konnte,

314
wenn er wollte, seinen Sohn ins Leben hineinführen; aber nach
seinem Tode hatte der Bankert keinen Anspruch auf den Besitz
der Familie. Vom germanischen Standpunkt aus gesehen, ist offen­
bar etwas Unnatürliches an dieser Klasse von Verwandten, die
nicht erben, aber doch einen Teil des Erbes als Geschenk erhalten
können; die Ehre genug besitzen, um zum Eide herangezogen zu
werden, die bei einer Gerichtshandlung auftreten und an Bußen
wie auch an der Verheiratung der Frauen ihrer Sippe beteiligt sein
können, aber schließlich doch, was sie selbst betrifft, immer mit
einer geringeren Beteiligung als die anderen dastehen; Verwandte,
denen man wohl die Aufrechterhaltung der Sippenehre anvertrauen
konnte, aber nur, wenn kein besserer Mann am Leben war. Ihre
Stellung ist ein Kompromiß, das dem Geist der Zeit widerspricht.
Wir müssen aber bei der Tatsache stehenbleiben, daß eine solche
Halbstellung möglich war innerhalb einer Gesellschaft, die auf der
alten Kultur und auf der alten Ehre als der Grundlage alles Men­
schentums fußte. Wir können vielleicht das Schicksal dieser H alb­
bürtigen und die Ursache ihrer Schwäche aus den alten Worten
lesen, die in Norwegen bezüglich des Adoptivsohns gebraucht wer­
den, wenn er die ganzen Gebräuche bei der Aufnahme in die Sippe
durchmacht: „Der Mann soll zum Schoße der Männer und Frauen
geleitet werden.“ Wenn dies bedeutet, daß er damit sowohl auf
väterlicher wie auf mütterlicher Seite vollständig eingesetzt wird,
dann deutet der Satz gewiß den psychologischen Mangel an, der
den Unadoptierten von seinen Brüdern trennte. In der Rechts­
sprache der Langobarden wird der legitime Sohn als voll geboren
(fu lb o rn ) vor dem illegitimen, aber anerkannten Sohn ausgezeich­
net, und da das Wort deutlich aus einer Zeit herrührt, wo der
Unterschied eine Wirklichkeit und keine juristische Unterscheidung
war, können wir um die buchstäbliche Meinung nicht herum­
kommen: vollständig geboren - im Gegensatz zu unvollständig ge­
boren. Die Worte: „zum Schoße der Männer und Frauen geleitet“ ,
enthielten vielleicht nicht gerade den Sinn, daß die Zeremonie der
körperlichen Mithilfe der Frau bedurfte, aber sie besagen, daß die
Adoptierenden die Zustimmung ihrer Schwäger eingeholt hatten,
den neuen Verwandten in das volle Recht einzusetzen, das die ehe­
liche Verbindung ihnen selber zu sein schien.
D a Geburt eine Verschmelzung von Hamingjas bedeutet, sind
verschiedene Grade von Geburt oder Adoption möglich. Die A uf­
nahme als Ziehkind in Skandinavien war ihrem innersten Sinne

315
nach eine Adoptionshandlung, obschon sie nicht so durchgeführt
wurde, daß sie die Verbindung des Kindes mit der Sippe des Vaters
und der Brüder durchschnitt. Der Ziehsohn hatte seinem Ziehvater
gegenüber das Gefühl von Frieden, so daß er eine Kränkung des
letzteren als eine Beleidigung gegen sich selbst empfinden mußte
und sein Recht behauptete, was andere auch über den Charakter
dieses Rechtes denken mochten. Vigfus Glumsons Ehrfurcht vor
einem H allvard, dessen Charakter man wohl als zweifelhaft be­
zeichnen muß, ist kein übertriebenes Beispiel von der Intensität
dieses Gefühls. H allvard wurde als ein gieriger Mann betrachtet,
und man munkelte, daß er in bezug auf die Wahl seiner Mittel
wenig Bedenken hätte; vieles ließ darauf schließen, daß ein D ut­
zend Schafe und ein fettes Schwein ihren Weg zu seinem H ofe ge­
funden hatten, und sicher ist es, daß sie nie mehr den Weg zu­
rückfanden. Sein Ende war schimpflich; als der Sohn des gekränkten
Besitzers in einer rechtlichen Angelegenheit zu ihm kam, sah er auf
den ersten Blick, daß der K opf des Diebes lose auf seinen Schultern
saß, und ersparte sich klüglicherweise die Mühe, ihn vor Gericht
zu laden. Glum ließ ihn liegen, wie er sich selber gebettet hatte,
ohne eine ehrliche Buße als Kopfkissen; aber Vigfus, der im Aus­
land gewesen war, als die Sache geschah, ruhte nicht, bis er dem
Toter H allvards begegnet war und seinem Ziehvater Rache mit ins
Grab gegeben hatte.
Wo der Friede eingezogen war, mußten H ugr und Sinn sicher
folgen; die Überzeugung oder richtiger die Erfahrung von diesem
Seelen Wechsel ist in dem Sprichwort erhärtet: ein Mann artet
seinem Ziehvater bis zu einem Viertel nach.
Die volle und ganze Adoption bewirkt eine grundsätzliche Ver­
änderung im Sohne, so daß alle seine Gedanken eine neue Richtung
bekommen und das Schicksal oder Alter (a ld r), das bei seiner ersten
Geburt in ihn gepflanzt wurde, mit dem seiner neuen Verwandten
vertauscht wird. Seine frühere Vergangenheit, sogar seine Vor­
fahren, werden ausgelöscht und eine neue Abstammung wird ihm
eingeflößt durch die Hamingja, die ihn jetzt einhüllt. Aber die
schwächeren Formen von Adoption bedeuten nur eine Zugabe von
Vergangenheit und Gegenwart zu der Ham ingja, die durch nor­
male Vererbung ihm überliefert worden ist. H akon Æthelstans-
fostri entsagt nicht seinem Recht auf das Heil der norwegischen
Könige, und wahrscheinlich war die Adoption von Gensimund in
die Familie der Amaler näher mit der skandinavischen Ziehkind­

316
schaft verwandt als mit der schwedischen Schoßsetzung oder der
norwegischen Schuhführung.
Wir müssen den Gedanken rückhaltlos gutheißen, daß ein Mensch
mehrere Male geboren werden konnte; es klingt zwar wie ein
Scherz, daß der einzelne dann zwei oder mehrere Väter erhielt,
aber greifen wir die Worte ohne Furcht an, sie brennen nicht. Der
Ziehsohn fühlte, daß der Mann, in dessen Hause er aufgewachsen
war, sein Vater war, und er fühlte, daß er in dem Heim, wo seine
Brüder waren, auch einen Vater hatte. Aber er betrachtete die Ver­
wandtschaft nicht auf dieselbe Weise wie wir; er sagte nicht, was
wir sagen, weil es ihm nicht einfiel, die beiden Väter zusammen­
zustellen und nun zu sagen: eins-zwei. Wenn wir wissen wollen,
wie sein Gedanke verlief, so brauchen wir nur mit Verständnis zu­
zuhören, wenn der Sohn seinen Vater und der Vater seinen Sohn
mit dem Namen frœ n di , Verwandter, ruft. Dieser Name war der
Grundton aller engeren Familienbezeichnungen, auf dieselbe Weise,
wie bei uns jetzt umgekehrt Vater, Mutter, Sohn, Bruder je nach
den Umständen der Grundton in dem Wort Verwandter ist. Sipp­
schaft besteht darin, einen Anteil an der H am ingja zu haben, nicht
darin, geboren worden zu sein, und deshalb war die Vaterschaft
vom Frieden überschattet und entnahm ihre Stärke dem Bande,
das alle Mitglieder der Sippe vereinigte; der Erzeuger zeugte kraft
seiner Verwandtschaft, und daher kommt es, daß „Verwandter“
einen Klang von Innigkeit hat und das beste und passendste Wort
ist, um das Gefühl von Vertrauen und Stolz auszudrücken, das der
Erzeuger gegenüber dem Gezeugten hatte. Ein isländischer oder
norwegischer Vater pflegte seine Ermahnung, seine Ermunterung
oder sein Lob mit dem vertrauten „Verwandter“ einzuleiten.
„Thorstein, Verwandter, geh mit deinen Brüdern, du wußtest
immer, wo ein sanftes Vorgehen das beste w ar“ , sagt Ingimund zu
seinem ältesten Sohn, als Jökul aus dem Haus hinausstürzt mit
Absichten, die keineswegs sanft waren.
In allem Äußeren ist Hakon Æthelstansfostris Leben eine kraft­
volle Erläuterung der Macht der Formen. H arald Schönhaar hatte
ihn mit Thora Mosterstang gezeugt, heißt es. Als die Mutter fühlte,
daß ihre Stunde gekommen war, eilte sie zu Schiff von Mostr
nordwärts nach Sæheim, wo der König sich aufhielt. Das Kind
sollte bei König H arald und in seine Hände geboren werden. Aber
sie kam nicht so weit, denn als das Schiff unterwegs anlegte, wie es
bei Küstenfahrten Sitte war, um die Nacht über am Strande zu

317
bleiben, gebar sie ihr Kind auf einem Stein an der Landungsbrücke.
Anstatt H arald war es der nahe Freund und Schwager des Königs,
Ja rl Sigurd, der den Namen in das Kind pflanzte, und er benannte
es nach seinem eigenen Vater, dem alten Jarl von Halogaland. D as
Kind wurde also direkt in die mütterliche Seite von H aralds
Familie hineingeboren und wurde vielleicht niemals richtig ver­
wandtschaftlich mit Thoras Familie verbunden. Später hat H arald
den Knaben unzweifelhaft als den seinigen anerkannt und ihn mit
voller Gültigkeit als seinen Gesippen angenommen, da er ihn mit
seiner Mutter an den königlichen H of kommen und dort groß­
ziehen ließ. Als der 15jährige Hakon als Bekenner des Christen­
tums von dem sagenhaften Aufenthalt bei seinem Ziehvater Æthel-
stan nach Hause kam, um sein Recht auf Erbschaft zu behaupten,
war sein erstes, geradeswegs zu Jarl Sigurd zu gehen, und seine
ganze mühevolle Regierungszeit durch war der Jarl von H ladir für
ihn alles, was ein Verwandter sein konnte. Sigurds Solidarität ist
unbedingt, sie ist unabhängig von Stimmungen, unangreifbar für
irgend etwas, das dazwischenkommen konnte, sogar noch in dem
Augenblick, wo Hakons neuer Glaube in scharfen Gegensatz zu
der alten Denkart des Jarls und seines Kreises kam; die H ilfe des
Jarls wird nicht begrenzt durch die etwaige Möglichkeit, daß er
eine andere Stellung einnehmen könnte, und als er dem jungen
König Vorwürfe macht, weil er sich die stolzen norwegischen
Bauern durch seinen übertriebenen Eifer für Christus zu Feinden
macht, tragen seine Worte nie den Stachel einer Andeutung, daß er
selbst zu den Gegnern des Königs übertreten könnte. Als der älteste
Sohn des Jarls geboren wurde, benetzte H akon ihn mit Wasser
und gab ihm seinen eigenen Namen; und der Knabe wuchs auf
und wurde jener Jarl Hakon, dem es gelang, sich eine Zeitlang
auf dem Throne H arald Schönhaars zu behaupten.

318
Tod und Unsterblichkeit

In der Einheit von Individuum und Sippe begegnen sich auch


alle Gedanken über den Tod. Für den Nordländer genügte der
Nam e, der Ruhm, um dem Tode alle Bitterkeit zu nehmen, denn
der Nachruhm war ein wirkliches Leben, ein Leben in dem fort­
geführten Heil und der Ehre der Verwandten.
Der Schrei nach Leben hat bei den Nordländern einen neu­
artigen Klang erhalten; wir fühlen durch ihn eine neue Zeit. Das
Wort Ruhm hat in der Wikingerzeit einen geistigen Ton ange­
nommen, und es läßt sich nicht leugnen, daß der Nachruhm seinen
lichten Schein auf Kosten des inneren, wesenhaften Lebens erkauft
hat; er ist so hoch gestiegen, daß er beinahe die Wurzeln zerrissen
hat, die ihm irdische Nahrung gaben. Und wie es immer geht,
wenn eine Kultur anfängt, ihre Werte zur Übergeistigkeit zu läu­
tern, endeten die Ideale in Überspanntheit und Haltlosigkeit: der
Schrei nach Ruhm klingt mehr und mehr angestrengt, als ob der
Rufende sich selbst übertäuben wollte. An Stelle der Ehrenhelden
der alten Zeit treten die Athleten auf dem Felde der Ehre auf, sie
hetzen im Lande umher, um Ruhm zu suchen und stöhnen vor
Lebensmüdigkeit, wenn sie niemanden finden können, mit dem sie
ihre Kraft messen können. Der angestrengte Klang in diesem Schrei
in den späteren Jahrhunderten, die ans Mittelalter grenzen, läßt
vermuten, daß die umherschweifenden Krieger teilweise die Ver­
bindung mit den Realitäten des Lebens verloren hatten. Und doch
waren sie nicht so modern, daß sie den Gedanken hätten fassen
können, daß die wahre und einzige Unsterblichkeit darin bestünde,
daß die Leute nach dem Tode vom Verstorbenen reden. Der Ruhm
und die Ehre, die einen sterbenden Mann trösten sollten, mußten
zwingende Kraft haben, so daß sie nicht nur Lieder zu erzeugen
vermochten, sondern auch einen Nachfolger, von dem die Ehre
aufs neue ausstrahlte.
Ein anderer Zug der Wikingerzeit ist die aufkeimende Sorge um
die individuelle Wiedergeburt. In der Einleitung zu der Vatsdoela-
saga hören wir, wie das berühmte Geschlecht Ingimunds gegründet

319
wurde durch die Verschmelzung einer norwegischen Sippe mit dem
Heil eines königlichen Stammes aus Gautland, das weiter nach dem
Osten zu lag. Die Verbindung stammt von einem K am pf zwischen
dem norwegischen Jüngling Thorstein und einem Nachkommen
der Gautland-Könige namens Jök ul; bevor er stirbt, bittet Jökul
seinen Töter, seine Schwester zu heiraten und den Namen in den
Sprößlingen aus dieser Verbindung zu erneuern, „und ich erwarte
Segen für mich daraus“ , fügt er hinzu. So kommt es, daß der
Name Jökul im Vatsdoela-Geschlecht geführt wird. Dasselbe Thema
kommt in einer anderen Saga vor, in der Svarfdoela, v/o Thorolf,
ein wackerer Jüngling aus Naum udal, der auf seinem allerersten
Wikingzug eine tödliche Wunde erhält, in dem Augenblick, wo er
stirbt, seinen Bruder bittet, seinen Namen auf die Nachkommen
zu übertragen: „Mein Nam e hat nur eine kurze Weile gelebt, also
würde ich vergessen werden, sobald du verschwindest; aber ich
sehe, daß du die Sippe vergrößern und ein großer Heiling werden
wirst. Ich möchte, daß du einen Sohn Thorolf nennst, und alle die
Heilseigenschaften (h eillir), die ich gehabt habe, werde ich ihm
geben; dann, glaube ich, wird mein Name leben, solange die Welt
bewohnt ist.“ Und Thorstein antwortet: „D as will ich dir gern
versprechen, denn ich erwarte, daß es zu unserer Ehre gereichen
wird, und gutes H eil wird deinem Namen folgen, solange er in
unsrer Sippe ist.“ Er hält sein Versprechen und der neue T horolf
wird seinem Verwandten gleich.
Diese Geschichten sind konventionell in ihrem Romantisieren
und, was die Vatsdoela betrifft, ist die Erzählung nichts als eine
nachträgliche Erklärung der faktischen Verbindung zwischen einem
norwegischen und einem gautländischen Hause. Aber dieses Roman­
tisieren spiegelt gewisse Neigungen der Sagazeit wider. In T horolfs
und Jökuls Sehnsucht danach, ihre Namen und ihren Ruhm im
Lichte wiedererrichtet zu wissen, ist unzweifelhaft eine egoistische
Leidenschaft enthalten, etwas, was dem angstvollen Hungern nach
einer Zukunft und nach einer Hoffnung nahe steht, das wir aus
anderen Zeiten und von anderen Ländern her kennen. Aber ihre
Lebensgier wird befriedigt durch die Versicherung, daß ihre Ehre
und ihr H eil nicht dahinwelken werden. Sie sind vollkommen damit
zufrieden, ihr Leben in einem anderen Manne erneut zu leben, und
die Frage nach ihrer eigenen Identität kann einfach nicht die Masse
der alten Voraussetzungen durchdringen. In Thorolfs Worten:
„Ihm (dem zukünftigen Namensbruder) werde ich all das Heil

320
geben, das ich gehabt habe; und ich glaube, daß mein Name dann
so lange leben wird, wie die Welt bewohnt ist“ , haben wir ge­
wissermaßen zwei verschiedene Denkarten, die eine über der ande­
ren: die alten Vorstellungen von Heil und Seele bildeten ein
Muster, in welches neue Gedanken über die persönliche Unsterb­
lichkeit des Helden, die Ausdruck heischen, unwillkürlich hinein­
gepaßt werden.
Unsterblichkeit besteht also darin, im Heil und in der Ehre zu
bleiben und sie gesichert zu wissen; mag der Gedanke an die eigene
Wohlfahrt sich so mächtig erheben, wie er will, er kann nicht die
Form annehmen: was soll aus m i r werden? Solange das Leben
unzertrennlich an eine Einheit geknüpft ist, so daß das Individuum
überhaupt nicht als Individuum existieren kann, fehlt der Stachel,
der den Gedanken an die eigene Inkarnation in Bewegung setzen
könnte. Der tote sowohl als auch der lebende Verwandte lebt in
seiner Sippe; er denkt ihre Gedanken und ihre Ehre, er will ihren
Willen, er fühlt ihre Gefühle, er ist ihr Körper. Er wird durch­
wärmt von der herzerfrischenden Ehre, zu der er selbst den Grund
gelegt hat, er nährt sich vom Heil, und er handelt, denkt und
plant mit den Verwandten. Und so ist die Frage: Sein oder Nicht­
sein, von Beginn ausgeschlossen.
Wenn ein Mann sich vergewissert hat, daß sein Heil und seine
Ehre in sicherem Verwahr sind, und er nun seine Augen schließt,
geht er fort zu dem Ort, wo seine Verwandten wohnen - „geht
fort, um seine Verwandten zu besuchen“ , wie Egil von seinem
Sohne sagt - und kommt dort an in seiner ganzen, vollen Person
mit Körper, Seele und vollständiger Ausrüstung. Nicht als ein
Geist, der seine Hülle abgelegt hat und sich mit klappernden
Zähnen den Weg zu Hel hinunterschleicht, sondern als ein mensch­
liches Wesen mit menschlicher Natur.
Der ganze Mann setzt einfach sein Leben unter etwas anderen
Umständen fort, aber immer im Heil, vielleicht ist es etwas weni­
ger als vorher, vielleicht auch in gewissen Beziehungen etwas stär­
ker. Er reitet sein Roß und trägt sein Schwert, das er auf dem
Waffenthing, wo die Toten versammelt sind, blitzen läßt, und für
seine unruhigen Fahrten braucht er eine dauerhafte Ausrüstung,
eine gut geschmiedete Waffe, die sich geschickt handhaben läßt, so
wie er es gewöhnt ist. Er ist eine solide Person, die man anfassen
und mit der man kämpfen kann. Wir dürfen ihn freilich nicht ganz
und gar nach den komisch-furchtbaren Wiedergängern charakteri­

321
sieren, die in einem Teil der isländischen Sagas umgehen, Kerlen,
die Leuten den H als umdrehen oder vielleicht sogar mit ihrem
eigenen K opfe in der H and herumlaufen, mit dem sie an die Türen
klopfen. Aber indirekt offenbaren sie doch etwas von der N atur
des Toten; jener Glam, der auf dem Dache des Hauses reitet, bis
alle Balken krachen, und der nahezu Grettirs Arme und Beine ge­
brochen hätte; jener Thorolf Bcegifot, der den Hirten nachläuft
und sie braun und blau schlägt, haben nicht viel Realität an sich,
aber sie haben eine Realität hinter sich; sie stammen von hand­
greiflichen Abgeschiedenen her, die wohl fähig waren, einen Ring­
kam pf mit Lebenden zu bestehen und vielleicht nicht eher nach­
gaben, als bis ihnen der Rücken gebrochen und der K op f abge­
schnitten waren.
Bei einer einzigen Gelegenheit - in der Geschichte von Hermod -
hören wir, daß die Toten viel leichter auf die Helbrücke treten, als
es die Lebenden tun. Als Hermod ausgeschickt wird, um den Gott
Balder von den Toten zu holen, erfüllt sein fester Schritt auf der
Brücke, die in das Tal des Todes führt, die Brückenwärterin mit
Staunen. „Gestern“ , sagt sie, „ritten vier Scharen toter Männer
über die Brücke, aber sie machten nicht soviel Lärm als der Schritt
deines Rosses. Dein Gesicht ist auch nicht wie das Gesicht eines
Toten.“ Aber diese Beobachtung hat vielleicht nur eine relative
Gültigkeit. Nach den Erfahrungen der Lebenden zu schließen, die
sich in die Unterwelt gewagt haben, waren sowohl Wege als auch
Brücken gut und haltbar, offenbar für kräftige, gesunde Schritte,
im Gegensatz zu der richtigen Geisterwelt, in der alles wankend
ist. Der Verfasser der Eireksmal erreicht seinen Eingangseffekt mit
voll erlaubten Mitteln, wenn er Odin aus dem Schlaf aufspringen
läßt bei den weithallenden Schritten Erik Blutaxts und seiner
Männer: „Was sind das für Träume? Ich dachte, daß ich im Mor­
gengrauen für waffentote Scharen in Walhall Platz machte; ich
weckte die Einherier und hieß sie aufstehen, die Bänke mit Stroh
decken und die Bierhörner spülen; die Walküren sollten Wein her­
umtragen, als wäre es ein König, der käme.“ Der Traum war keine
Täuschung, das merkt er daran, daß er sein H erz erwärmt, und er
ruft: „Was tost da, Bragi, wie der Heerschritt von tausend Män­
nern oder mehr?“ „D ie Winde dröhnen von Giebel zu Giebel“ ,
klingt die Antwort, „als kehre Balder heim in Odins Saal.“
In den Versen von dem toten Helgi, den Sigrun in seinem Grab­
hügel besucht, hat die Vorstellung der Wikingerzeit von der Realität

322
der Toten ihren idealen Ausdruck gefunden. Sigruns Dienerin ging
eines Abends an dem Hügel vorbei und sah Helgi mit vielen
Mannen in den Hügel reiten. Sie erzählte Sigrun, was sie gesehen
hatte. Sigrun ging in den Hügel zu H elgi: „Lebloser König, erst
ein Kuß, bevor du die blutbesprengte Brünne ab wirf st. Deine
H aare sind dick von Reif, Helgi. Durchnäßt bist du von Bluttau.
Deine H ände sind feucht und kalt. Sag mir, was ich tun soll.“ -
„Jetzt lassen wir uns den Trunk schmecken, obschon ich von Lust
und Land getrieben bin, und niemand singe ein Klagelied, wenn
mir die Wunden auch rot auf der Brust leuchten; jetzt ist das Weib
gekommen - und hat die Tür hinter sich geschlossen - in den Grab­
hügel zu mir totem Manne.“ — „H ier habe ich ein Lager bereitet,
Helgi, kummerlos; ich werde in deinen Armen schlafen, so fröh­
lich, als wärest du lebendig.“
Dieser Helgi und diese Sigrun personifizieren in poetischer Ver­
klärung die Gedanken der Wikingerzeit über die Beziehungen
zwischen Tod und Leben. Die Menschen stellten sich die Toten so
wie Helgi vor, und wie Sigrun standen sie zu ihnen, obwohl es
natürlich nur die Ausnahmen waren, die sich berufen fühlten, mit
ihnen zu Bett zu gehen. Alles, was diese beiden zueinander sagen,
ist geprägt von einer romantischen, durchaus nicht germanischen
Liebeszärtlidikeit. Es ist, sozusagen, ein neues Gefühl, das den
Worten Farbe gibt, aber was ihnen Leben verleiht und die Begeg­
nung des Paares so natürlich und selbstverständlich macht, sind die
unreflektierten Vorstellungen des Dichters über die Toten. Es ist in
diesen Versen nichts, was vermuten ließe, daß dieser ein auswendig
gelerntes literarisches Stück hersagt.
Der Mann blieb im Tode der Mensch, der er war, was sein
Äußeres und seine Gestalt betraf - ein wenig reduziert vielleicht,
aber nicht verändert. Ebenso mußte er natürlich die Frische seiner
Seele bewahren, so gewiß er ein ehrlicher Toter w ar; er blieb er
selbst, mit derselben vollen Ehre, denselben Vorurteilen, demselben
Familienstolz und derselben Familieneinseitigkeit wie auch der­
selben Ehrfurcht vor den Realitäten des Lebens. Hier liegt die
Schwäche der komischen isländischen Wiedergänger. Sie unter­
scheiden sich von ihren Vorfahren dadurch, daß sie etwas ver­
loren haben, und dies Etwas ist nichts weniger als das Menschen­
tum; die Ehre und das Heil, welche die Aktivität des Toten in
den Kreis einschlossen, wo nachlebende Verwandte sich bewegen
und die Taten der Toten nach dem Ehrgeiz der Lebenden stim­

323
men, sind in ihnen verwelkt. Der Verfasser der Eyrbyggjasaga
steht auf sicherem Grunde. Er erzählt, wie eine Schar Männer,
die draußen in der Förde ertrunken waren, die Lebenden be­
lästigte, indem sie in der Nacht herankam und sich ans Feuer
setzte. Zuletzt erdachte ein weiser Mann die List, die Macht
des Gesetzes gegen die Aufdringlichen zu benutzen. Die toten
Männer hörten in Ruhe den Sohn des Flauses zu Ende, als er
die Vorladung wegen Hausfriedensbruches vorbrachte, aber so­
bald das Urteil über sie gefällt worden war, stand einer nach dem
anderen vom warmen Feuer auf und ging in die Kälte hinaus. -
Der tote Mann bewahrte seine Anhänglichkeit gegen das Heim
und sein Interesse an allem, was auf dem H ofe geschah. Es war
ganz natürlich, daß er für sich selbst eine gute Wohnstätte aus­
suchte, mit einer freien, weiten Aussicht über die Nachbarschaft
und sein Heim. Oder er wünschte so nahe wie möglich bei dem
Hause zu sein, so daß er dauernd seine gewohnte Arbeit verrichten
konnte. Thorkel Farserk war ein sehr kraftvoller Mann, sowohl
an Geist als auch an Körper; er war mit Erik dem Roten nach
Grönland gefahren, und einmal, als Erik zu Besuch kam und kein
seetüchtiges Boot am Land war, schwamm er nach einer Insel in
der Förde hinaus und holte ein Schaf zum Schlachten. Kein Wun­
der, daß er nach seinem Tode friedlich auf seinem H o f herumging
und sich nützlich machte.
Eine gute Illustration der Einheit des Toten mit seiner Ver­
gangenheit erhalten wir in dem einseitigen, aber klaren Lichte der
Humoreske, wenn wir in der Grettirsaga von der Tätigkeit Kars
des Alten nach dem Tode lesen; er wohnte in einem tüchtigen
Grabhügel, der gut mit Balken verstärkt war, und von hier aus
führte er einen kleinen Feldzug gegen die Bauern der Gegend, so
daß er im Verein mit seinem lebenden Sohn, Thorfin, den Fami­
lienbesitz so erweiterte, daß derselbe nachher die ganze Insel H ara-
marsey dicht bei Süd-Mceri umfaßte. Natürlich erlitt keiner der
Bauern, die Thorfins Schutz genossen, einen Verlust. K ar trieb also
exklusive Familienpolitik, nur mit den höheren Mitteln, die ihm
jetzt zur Verfügung standen.
Auch das, was das Adelszeichen des freien Mannes war, seine
Fröhlichkeit, ging mit ihm in das höhere Dasein hinüber. Man
konnte den Toten in seinem Hügel oder auf seinem Schiff von
seinem Reichtum oder seinem Nachruhm singen hören, in Versen
wie die, von denen man weiß, daß sie von dem Hügelbewohner

324
Asmund von Langaholt gesungen worden sind. Dieser angesehene
Mann war in seinem Schiffe begraben worden, und die Familie
hatte ihm mit kluger Sorgfalt einen Knecht mit in den Hügel ge­
geben; da aber diese Gesellschaft durchaus nicht nach seinem Ge­
schmack war, bat er, man möchte diesen weinerlichen Kerl wieder
herausnehmen. Und nun hörte man ihn singen mit dem stolzen
Triumphieren des Lebens: „Je tz t bemanne ich allein das Schiff;
besser gefällt es dem K am pf gewohnten, Platz zu haben, als von
niedrigem Gefolge gedrängt zu werden. Ich lenke mein Fahrzeug,
und dessen werden Menschen lange eingedenk sein.“

Was das Leben eigentlich ist, erfährt man erst richtig, wenn man
seine Auflösung sieht. Es gehört zum Wesen der Gesundheit, kalt
ablehnend zu sein; aus Notwendigkeit und nicht aus Neigung geht
daher der Seelenforscher zum kranken Gemüt, um zu erfahren,
was im gesunden vorgeht. Wenn wir die Vorstellungen verschiede­
ner Völker vom Tode nicht kennten, würden wir in den meisten
Fällen ihre Gedanken über das Leben nicht verstehen. Die A u f­
lösung zeigt uns nicht nur, was ihnen das Leben wert ist, sondern
auch, worin dieses Leben besteht.
Wir finden bei unseren Vorfahren nicht die geringste Furcht vor
dem Lebensende. Wir hören, daß sie mit einem trotzigen Lachen
durch das Unvermeidliche gingen; oder sie begegneten dem Ge­
danken an ein irdisches Ende mit überzeugter Gleichgültigkeit, die
deutlich zeigte, daß sie dieser Begebenheit keine große Bedeutung
beimaßen. Das Leben war in seiner Realität so stark, daß der Tod
ihm gegenüber einfach nicht zählte und auch keinerlei Druck auf
seine Ansprüche ausüben konnte. Trotz war ein Teil der Ehre und
ein Teil dessen, was von einem Mann verlangt wurde, und wir
sind deshalb genötigt, die Wurzeln dieser Todesverachtung tief in
der Seele zu suchen. Die nordische Auffassung des Lebens wird
vollkommen klar in dem Bilde gezeigt, das Tacitus von den jun­
gen Männern gibt: „Wenn ihr Vaterland in langem Frieden und
Untätigkeit dahinfault, suchen die meisten der hochgeborenen
Jünglinge einen Weg zu solchen Völkern, die im Krieg sind, weil
diese Männer von N atu r aus nicht für Frieden und Stille sind,
und weil es leichter ist, Ruhm zu gewinnen, wo die Gefahren
gegeneinander spielen . . . “ - unzweifelhaft eine der echtesten und
am wenigsten romantischen Schilderungen des Tacitus. Diese „hoch-
geborenen Jünglinge“ haben kaum in einer Umgebung gelebt, wo

325
der Tod als ein Gegenstand der Furcht aufgefaßt wurde, als etwas,
was von hinten herangeschlichen kommt und einem kalt über den
Nacken haucht.
Wenn ein Mann seinen letzten Hieb bekommen und eingesehen
hatte, daß damit sein Leben zu Ende war, ging er mit festen
Schritten nach dem Hügel und ließ sich dort für die Zukunft
nieder, sehr zufrieden mit der Ausstattung, die die Verwandten
ihm mitgegeben hatten. Aber ist er schließlich nicht doch ein
geringerer Mann geworden, als er bei Lebzeiten war? Selbst­
verständlich mußte sein Heil wohlbehalten sein, damit er sein
Leben innerhalb der Tore des Grabes fortführen konnte; aber das
besagt nicht, daß er alles mit sich nahm. Wird er etwa schwächer
an Körperkraft? Sinkt seine Weisheit, seine Kraft des Vorher­
sehens? H at er weniger Aktivität? Die Antworten auf unsere Fra­
gen sind verwirrend widerspruchsvoll. Wir finden angedeutet, daß
der Tod einem Manne tiefere Weisheit und höhere Einsicht in die
Zukunft geben kann. Warum sollte Odin hinausgehen und die tote
Völva befragen, wie er es in dem Eddagedicht Vegtamskvida tut,
wenn nicht deshalb, weil die Toten manchmal auf der höchsten
Stufe der Einsicht standen? Und Odins Reise zu dem Königreich
der Toten hatte unzweifelhaft seine Vorbilder im wirklichen Leben.
Der alte K ar scheint seine Vitalität vermehrt zu haben, nachdem
er in sein Grab gesetzt worden war, aber zu anderen Zeiten ist es
deutlich, daß ein starker Mann nach seinem Hinscheiden einen
ziemlich ausgeprägten Rückgang zeigt. Manchmal erreicht das
Leben beim Hinübergehen eine entschieden geringere Höhe des
Glücks. Als Helgi im Grabhügel Sigrun begegnet, spricht er, als
wäre diese Begegnung mit all ihrer Freude etwas, was er dem
Leben raubt; er will Glück haben, gerade weil er von Lust und
Land vertrieben worden ist. Aber auf der anderen Seite bekunden
die Bilder aus Walhall eine Neigung, Leben und Tod zu ver­
tauschen und den künftigen Zustand als eine Erhöhung des Lebens­
gefühls zu betrachten. Auf den Feldern des Todes wächst eine un­
erschöpfliche Ernte an Ehre; das muß die tägliche Schlacht vor den
Toren Walhalls bedeuten. Das ist ein klarer und starker Ausdruck
für die Überzeugung, daß das Dasein nicht an Stärke verlor. In
den Hallen des Todes wird das fröhliche Beisammensein fortgesetzt,
Leben in Ehre und Friede mit Freude; - alles das, wovon nach
unserem Befund das Leben im höchsten Sinne abhing, nimmt der
H eld mit sich durch die Pforte des Grabes.

326
Walhall gehört in eine besondere Sphäre der Kultur. D as taten­
reiche, lärmende Leben der Einherier ist kaum denkbar ohne den
überschwenglichen und überhastigen Lebensrhythmus der Wikinger­
zeit, wo solche Ideale wie Ehre und Nachruhm in dem Grade ge­
steigert wurden, daß die Wurzeln sie nicht tragen konnten, und sie
sich zu Tode blühten. Aber Walhall konnte nicht lose auf die Erde
gebaut werden, es mußte seinen Grund tief in dem allgemeinen
Gefühl haben. Vor der poetischen Heiligsprechung eines Schlachten­
himmels muß ein unmittelbarer Glaube an die Zukunft dagewesen
sein, und zw ar nicht ein schwacher Glaube hoch in den Wolken,
sondern eine sichere Überzeugung, daß der Mann sich selbst im
Grabhügel wiederfindet. Aus der Geschichte in der Eyrbyggja von
dem Ende Thorstein Dorschbeißers können wir uns einen Begriff
machen, wie das Einherierdogma als Familienmythos ausgesehen
hat. Es wird erzählt, daß am selben Abend, wo Thorstein ertrank,
ein Schäfer den Helgaberg offen sah: Im Inneren des Hügels
brannten große Feuer - wie in der H alle natürlich - und man
hörte lustiges Lärmen und den K lang von Trinkhörnern; als der
Mann scharf lauschte, konnte er Stimmen unterscheiden, die Thor­
stein und seine Begleiter willkommen hießen und ihn auf forderten,
im Hochsitz seinem Vater gegenüber Platz zu nehmen. Dieser
Schäfer bringt uns Botschaft von einer Alltagswelt und von einem
alltäglichen Gedankengang, die ohne ihn spurlos verschwunden
gewesen wären. Er gibt uns zur gleichen Zeit die Möglichkeit, zu
verstehen, was es ist, das die Einherier zu so kraftvollen Gestalten
und ihr Leben mit Odin zum Mythos macht und nicht zur „Dich­
tung“ . Aber andererseits ist es leicht zu sehen, warum der Glaube
an Walhall etwas von seinen Voraussetzungen grundsätzlich Ab­
weichendes wurde. Der sichere Glaube ist seiner selbst bewußt
geworden. Bevor die Streit- und Trinklust der Recken in der H alle
des Todes - der nordischen „M annesfreude“ - ein erhöhter Lebens­
genuß werden konnte, mußte eine Reflexion kommen, durch welche
der Wert des Lebens vom Leben selbst losgelöst und unabhängig
betrachtet wurde. Die unerschrockene H altung dem Tode gegen­
über hat denselben Prozeß durchgemacht wie Ehre und Nachruhm:
sie waren erst Realitäten und wurden dann ideale Werte, um als
Eigenschaften der Virtuosität zu enden.
Und nun auf der anderen Seite H elgis ergreifende K lage über
das, was er verloren hat! Die Szene gehört mehr dem germanischen
M ittelalter als dem nordischen Altertum an, dürfen wir sagen. Die

327
Empfindsamkeit des Helden, sein wehmütiges Verweilen bei sei­
nem Verlust und bei seiner Sehnsucht ist mittelalterlich im Ton.
Aber die Wehmut ist trotzdem begründet in dem Denken der alten
Zeit. D as moderne Element liegt in der Tatsache, daß der Gegen­
satz zwischen Vergangenheit und Gegenwart in lyrische Stimmung
ausschlägt. Der Gegensatz ist nicht vom Helgi-Dichter eingeführt,
aber er bekommt ein neues Aussehen, weil die Männer sich ihrer
selbst und ihrer Gefühle bewußt werden. Wir können den Gegen­
satz nicht ganz und gar beseitigen, indem wir die Geschichten in
historische Perspektiven ordnen. Tatsächlich sind die hellere und
die dunklere Auffassung des Zustandes nach dem Tode nicht so
weit voneinander getrennt, daß sie sich feindlich gegenüberstehen
können; sie vervollständigen einander, gelegentlich greifen sie auf­
einander über. Die Schwierigkeit, die wir fühlen, liegt nicht in den
Antworten, sondern in der Frage. Es ist natürlich für uns, das
Problem im allgemeinen so aufzustellen: ist der Tod ein Vorteil
oder ein Unglück? Verbessert der Tod die Verhältnisse eines Men­
schen oder nicht? Und wir verlegen unser Problem in die Diskus­
sion über primitive und alte Völker und ihre „Ansicht über den
Tod“ . Die Germanen hatten keine ständige, immer gültige Lösung,
weil sie kein immerwährendes Problem hatten; der Tod ist für sie
nur eine Abart des Lebens, abhängig von den Kräften, die im Sonnen­
licht tätig sind. Der tote Mann lebt in seinen Verwandten in jeder
Bedeutung des Wortes: sein H eil ist verkörpert in denen, die ihn
überleben, und das Leben, das er im Grabe und in der N ähe des
Grabes führt, hat jetzt wie früher seinen Ursprung im H eil der
Verwandten. Es ist gewiß ein Unterschied, ob ein Mann „Land
und Lust“ sozusagen ohne Entgelt verliert und einfach in den
Schatten hinübergleitet, oder ob er sich umgekehrt gerade im
Augenblick seines Todes mit Ehre, Heil und Leben erfüllt, indem
er in einem Kreis von niedergehauenen Feinden fällt, sich mit
deren warmem Blut bespritzt und deren Ehre als Nahrung für
seine eigene verwandt hat. Aber schließlich kann der H eld, der
eine Schar von Feinden mit ins Grab nimmt, nicht selbst be­
stimmen, ob er sich seines Reichtums erfreuen soll. Seine Fähigkeit,
den gewonnenen Überfluß auszunutzen, hängt davon ab, wieweit
die überlebenden Verwandten den Uberschuß auf nehmen und ihn
retten können vor einem Verfaulen durch Brachliegen.

328
Ein Mann starb also so, wie seine Lebenskraft es ihm erlaubte.
Der große Heiling glitt mit einem kleinen Stoß über das Riff und
segelte weiter. Geringere, ärmere Leute strandeten vielleicht und
gingen unter, verschwanden. Wer einen großen Vorrat an Seele
hatte, konnte nach menschlicher Berechnung immer leben; der
Seelenarme war in der äußersten Gefahr, daß er seinen Vorrat in
dieser Welt aufbrauchte.
Der Glaube an das Heil, das sich in der Sippe vererbt, kann zu
einer Klassenorganisation führen, sobald äußere Umstände die
menschliche Neigung zu Folgerungen in der Richtung nach einem
sozialen System lenken. Die stolzen Heilinge finden sich vereinigt
in einem gemeinsamen Gefühl von Lebensverwandtschaft, die nied­
rigeren Typen versammeln sich zu einem geistigen Mittelstand
oder werden zu einem solchen zusammengeworfen, und mitten
zwischen diesen beiden mag vielleicht ein Pufferstaat von H alb­
adel entstehen, der aufwärts zielt, aber unweigerlich abwärts
gleitet. Und mit dieser Standesorganisation erfolgt hier und jen­
seits eine gerechte Verteilung des Lebens für hoch und niedrig —in
enger Übereinstimmung mit den Qualifikationen der Geburt. Auf
diesem Wege können Völker zu einem so klaren und festen System
kommen wie das, das bei gewissen Südseeinsulanern herrschte,
bevor europäische Demokratie störend eingegriffen hatte. Bei den
Tonga-Insulanern ging die Unsterblichkeit zwischen der ersten und
dritten Rangklasse zu Ende; das heißt: die erste Klasse, die die
Häuptlingsfam ilien umfaßte, war voll berechtigt zu einem Leben
in der Unterwelt; die zweite Klasse im Jenseits beruhte auf einer
A rt von persönlichem Adel des männlichen Oberhauptes einer am
H ofe wirklich diensttuenden Familie mit Nachfolge des ältesten
Sohnes nach dem Tode des Vaters - beinahe in englischem Stil.
Unser Berichterstatter sagt freilich, daß es Menschen unter den
Ausgeschlossenen gäbe, die das unsichere Vertrauen zu sich selbst
dem sicheren und geordneten Ausschluß vorzogen; das alte System
war also nicht ganz überwunden.
Die Nordländer gelangen nie zu einem System der Unsterblich­
keit, das nach so schönem Muster geordnet wäre. Wir finden hier
und da eine beginnende Klassenbildung, wie wenn zum Beispiel
gewisse Gesetze eine steigende Skala für Wergeid einsetzen, ent­
sprechend der sozialen Stellung des Getöteten; die Häuptlinge
mochten Männer göttlicher Abstammung genannt werden, aber die
Großen haben doch kaum irgendwo ihre Stellung kraft Zugehörig­

329
keit zu einer Kategorie eingenommen. Und die fortschreitende
Entwicklung war gewiß nirgends so weit gediehen, daß eine Staats­
kontrolle und Regulierung des jenseitigen Lebens eingerichtet
wurde, als diese Entwicklung selbst jäh aufhörte. Die in der
Wikingerzeit so häufige Einrichtung von Königshallen für die in
Waffen getöteten Männer, für ertrunkene Männer und für red­
liche Ackenbauern wurzelt im Volksglauben: es wurde als sicher
betrachtet, daß die Männer im kommenden Leben sich finden, ge­
meinsam trinken und richten würden, und daß sie das Bedürfnis
nach festen Formen und überlieferten Sitten nicht verloren hätten,
das die Versammlungen der Gesetzes-Thinge geregelt hatte; aber
der Begriff eines Reiches der Toten kam nie über die Vorstellung
von Dichtern hinaus, die durch Berührung mit der christlichen
Eschatologie angefeuert wurden. Jeder hatte für seine eigene
Zukunft zu sorgen und sollte im Jenseits entsprechend seinen dies­
seitigen Mitteln und Kräften seinen Lohn empfangen. Er mußte
weiter von dem Heil der Sippe getragen werden. Der König führte
ein königliches Leben im Hügel; die spärliche Existenz des Tage­
löhners würde vielleicht gerade genügen, um ihm eine kleine
Spanne Zeit eine Schattenexistenz im Grabe zu geben. Nach allem,
was wir aus den Gedanken des Alltagslebens im Norden ersehen
können, hatte jede Sippe ihren eigenen H ades; und wenn eine
Sippe nicht mächtig genug war, um eine passende Wohnstätte für
ihre Hingeschiedenen zu schaffen, standen gewiß keine öffentlichen
Hallen für heimatlose Seelen offen.
Der König sitzt als König in seinem Hügel und herrscht wahr­
scheinlich als König von dort aus, genau wie er im Leben in seiner
H alle gesessen und kraft seiner Verwandten von dort aus ge­
herrscht hat und gleichzeitig sein Sippenheil auf die Nachbarn
ringsum hat wirken lassen. Er ist im Tode König kraft dessen, was
er ist, nicht kraft dessen, was er war. Und was er ist, hängt voll­
kommen von dem Unternehmungssinn seiner Verwandten ab.

330
Der N eiding

Der Tod war nicht gefährlich - für die, die etwas hatten, wovon
sie leben konnten.
Der Tod enthielt mehr Möglichkeiten, als er je bei uns umfassen
kann; er eröffnete sowohl Ausblicke auf behagliches Wohlsein wie
auf jeden denkbar möglichen Grad von geistiger und körperlicher
Armut, er stellte sowohl Macht wie vollständige Vernichtung in
Aussicht. Man sollte meinen, einem so willkürlichen Herrn gegen­
über wäre P latz für viele Arten von Gefühlen, für das kühnste
Vertrauen wie für das kläglichste Versagen; aber alle Zeugnisse
deuten darauf, daß die Schwankungen nicht groß waren, und wir
sind vollauf berechtigt, von Gefaßtheit dem Tode gegenüber als
einem Kennzeichen der germanischen Kultur zu sprechen. Nichts
bekundet, daß das Gefühl jemals unter eine leidenschaftslose Ge­
lassenheit gesunken ist. In all den Urkunden, die erhalten sind,
findet man, soweit ich weiß, keine Spur von Furcht vor der Ver­
änderung, noch weniger einen Angstschrei. Von der Seelenruhe in
der germanischen Haltung, bei der Leben und Tod so nahezu
gleich wiegen, daß eine Umstellung kaum eine heftige Erschütte­
rung der Seele hervorrufen kann, ist also ein weiter Weg zu der
Furcht oder richtiger der starken Abneigung der großen Ver­
änderung gegenüber, die bei anderen Völkern so scharf hervortritt,
eine Abneigung gegen den Tod als etwas Unnatürliches, für das es
nur e i n e Erklärung gibt: daß es durch die Bosheit von anderen
Menschen oder von Geistern entstanden sei. Bei näherer Betrach­
tung besteht aber doch eine engere Verwandtschaft zwischen den
beiden Auffassungen des Todes, als es auf den ersten Blick scheint.
Sie können schließlich doch bis zur gleichen Seelenschicht zurück­
verfolgt werden. Die frohesten Kühnen gestehen den armen, die
um ihr Leben zittern, zu, daß der Übergang von dem einen Zu­
stand zum anderen eine gewisse Gefahr enthält.
Die alte Sprache hat ein besonderes Wort für einen Mann, der
schon den Keim zum Tode in sich trägt, einen, den der Tod schon
berührt hat: er wird „feige“ genannt (altsächsisch fê gi, isländisch

331
feigr). Ein feiger Mann ist kein guter Kam erad; es ist kein Heil
in ihm. Einen solchen erkennt man daran, daß seine Ratschläge
verdreht sind, sein Witz ihn im Stich läßt. Er kann nicht einmal
von der Weisheit anderer Gebrauch machen. Als N jals Feinde
herangeritten kamen und in Sehweite des Hauses erschienen, be­
fahl der Alte seinen Söhnen und seinen Anhängern, ins H aus zu
gehen. Skarphedin, der nicht gern in einem leicht entzündlichen
Gebäude eingeschlossen werden wollte, schüttelt den K op f über
den Befehl des Vaters: „Jetzt ist unserVater vom Tode gezeichnet“ ,
meint er, und er fügt resigniert hinzu: „Doch kann ich gern
meinem Vater in diesem willfahren und mit ihm im Hause sein,
denn ich fürchte mich nicht vor dem Tode.“ So weit kann es also
kommen mit einem, der so ratklug war, so weitsichtig, mit einem,
dessen Scharfblick noch nie versagt hat; der herannahende Tod
blendet seine Augen, so daß er nicht voraussehen kann, daß das
H aus über seinem Kopfe angesteckt werden wird. In einem frühe­
ren Kapitel ist erzählt worden, wie die stolze Frau Thurid, die
große Witwe, eine unwahrscheinliche Rache über den Toter eines
Verwandten ihres Gatten brachte; die vollständige Verblendung
ihres Gegners, Sigurd, leistete ihren tiefen Plänen Vorschub: er
wollte, daß sein Bruder Thord sie trotz aller Bedenken heiraten
sollte, und er wollte sie trotz allen dringenden Vorstellungen be­
suchen. „D u mußt feige sein, daß du so losstürzt“ , sagt Thord
resigniert. Der unheimliche Charakter der „Feigheit“ wird auch
deutlich durch die enge Verbindung, die diese mit Friedlosigkeit
hat —die beiden Wörter werden oft zusammengestellt. Feige nimmt
die Bedeutung von unselig, untauglich an - heillos mit anderen
Worten.
Der Tod ist Ernst, das lassen die Nordländer uns deutlich ver­
stehen. Und gerade die Lustigkeit beim Erbbier bezeugt, daß Ge­
fahr nahe ist. Die Zeit des Sterbens bezeichnet eine Krise, die
schlimme Folgen haben kann, wenn die rechten Maßregeln nicht
getroffen werden. Alle, die mit den Verstorbenen in Frieden ver­
einigt waren, stehen am Rande des Unglücks. Die Todesverachtung
entsteht ausschließlich aus der Gewißheit, über alle Maßnahmen
zu verfügen. Der Todesverächter ist mit dem, der den Tod fürchtet,
einig in der Auffassung des Todes als eines Einbruchs in das Heil,
einer Kränkung des Lebens, die so schnell wie möglich wiedergut­
gemacht werden muß. Und wenn niemand da ist, der zur Ver­
antwortung gezogen werden kann, mag es geschehen, daß die

332
Furcht in eine Wut übergeht, die sogar gegen das Unsichtbare an­
rennt. Egils Klagelied enthält ein erschütterndes Bekenntnis, daß
das Entsetzen direkt vor der Tur steht und sich jeden Augenblick
als das Überlegene geltend machen kann.
In normalen Fällen bedeutet der Tod ein Scheitern des Lebens,
und wenn der einzelne, der so getroffen wird, mit seinen Ver­
wandten wieder flott werden und ungeschädigt weitersegeln soll,
muß es eine Wiederaufrichtung irgendeiner Art geben, um die
Keime des Unheils auszurotten. Wenn es ein Todesfall war, der
Rache forderte, und die Rache ausblieb, da sah die Zukunft für
den Verstorbenen finster aus.
Die furchtbare Drohung, die im Tode lauert, wird bestätigt
durch die Geschichte von H jörleif, der von seinen eigenen Knech­
ten ermordet wurde, kurz nachdem er sich auf Island nieder­
gelassen hatte. Der norwegische Jüngling, der mit seinem Zieh­
bruder Ingolf in Island landete, kann beanspruchen, zu den großen
Heilingen gerechnet zu werden. Er stammte aus einer Familie von
hohem Ansehen und hatte sein Erbteil an Ehre auf alljährlichen
Fahrten in seiner Jugendzeit selbst vermehrt. Gleich nach der
Landung in der neuen Heimat baute er sich ein Haus und verblieb
den Winter über ruhig dort; aber beim Beginn des Frühjahrs fing
er an, das Land zu bebauen, und da er nur einen Ochsen hatte,
spannte er seine irisdien Knechte mit vor den Pflug. Sie hatten
aber die Arbeit satt und töteten den Ochsen in der Hoffnung, daß
ihr H err nun fortgehen und den Bären jagen würde, der vermeint­
lich das H aus heimgesucht habe. Als er allein im Walde war,
fielen sie über ihn her und töteten ihn; sein Leichnam blieb auf
dem Felde liegen, bis Ingolf im Frühjahr kam und ihm ein Grab
machte. „Elendes Schicksal für einen tapferen Mann, daß Knechte
seine Töter werden sollten“ : diese Klage Ingolfs sagt uns, daß ein
großes Unglück geschehen ist, aber wenn der Sagaschreiber hier
aufgehört hätte, würden wir kaum den vollen Umfang des Kum­
mers kennen, der auf Ingolf lastete. Das Land war öde, als Ingolf
es fand - die Knechte waren nach der Untat geflüchtet. Und öde
verblieb es lange Zeit; denn H jörleif suchte als böses Gespenst die
Nachbarschaft heim und machte sie unsicher - „nicht geheuer“ -
so daß niemand dort wohnen konnte.

Es mag sein, daß wir beim Gebrauch des Wortes Tod nicht ins
Zentrum getroffen haben, weil wir das Wort Tod in unserem

333
eigenen Sinne, als Stillstand des Herzens, gebraucht haben. Wir
haben nur die Möglichkeit des Todes getroffen, nicht den Tod
selbst. Mitglied einer Sippe zu sein bedeutete, Anteil an einem
individuellen Leben mit seiner Summe von Genuß und Tätigkeit
zu haben; und der gemeinsame Besitz des Lebens wurde also beim
Ende des Daseins in diesem Licht des Tages nicht zerstört, voraus­
gesetzt, daß der Tote Verwandte hinterließ, die seine Ehre auf­
rechterhielten und mit allen seinen Gefährten die Verbindung
bewahrten, sowohl mit denen hier wie mit denen anderswo. Aber
die Gemeinsamkeit konnte zerbrechen. Die Isolation des Neidings
war etwas, das die Lebensader zerriß und jede Hoffnung vertilgte;
und sehen wir jetzt genau hin, so werden wir bei unseren Vor­
fahren Todesfurcht genug entdecken, genug von jener welken
Todesfurcht, die alles, was an Adel im Manne ist, erstickt und nur
den panischen Aufschrei des Tieres in ihm übrigläßt, oder ihn viel­
leicht brutaler macht als irgendein Tier.
Der Neiding ist es, der mit Recht den Namen eines Toten tragen
sollte, denn er ist das genaue Gegenteil des Menschen. In seinem
Leben kehrt die menschliche H am ingja die falsche Seite nach
außen. Seine Waffen schneiden nicht. Sein Schiff hat nie guten
Wind. Der Kraftstrom, der seinen Äckern Erntesegen schenken
sollte, bleibt aus: seine Felder verdorren, sein Vieh stürzt.
In den Flüchen gegen die, die sich gegen das Leben vergangen
haben, finden wir das Bild des Neidings klar übertragen. „M ag
das Schiff nie fahren, das unter dir fährt, wenn auch der er­
wünschte Wind von achtern streicht. M ag das Pferd nicht springen,
das unter dir springt, wenn du auch Sprung auf Sprung vor Fein­
den fliehst. M ag das Schwert nicht schneiden, das du zückst, außer
wenn es über deinen eigenen K opf niedersaust.“ So sagt Sigrun zu
ihrem Bruder D ag, als er seinen Schwager erschlagen hat.
Eine entsprechende Weihe an die Mächte des Neidingslebens
findet sich verkleidet in dem ersten Buch von Saxo, wo der Fluch
von einem Weibe über H adding ausgesprochen wird, nachdem er
„mit vielen Schlägen ein Tier unbekannter Art getötet hatte“ : „Ob
du zu Fuße übers Feld schreitest oder Segel hißt auf der See, soll
der H aß der Götter dir folgen, und überall sollst du sehen, daß
die Elemente sich deinen Zielen widersetzen. Auf dem Lande soll
dein Fuß straucheln; auf der See sollst du herumgetrieben werden;
ein immerwährender Sturm soll um dich heulen, wo du gehst; nie
soll das Eis auf deinen Segeln tauen. Kein Dach soll dir Schutz

334
gewähren - verkriechst du dich unter eins, soll es im Sturme ein-
stürzen. Deine Herden sollen vor Frost umkommen. Alles soll
welken und sich beklagen, daß dein Atem es berührt hat. Du sollst
gemieden werden wie ein Pestkranker - keine Seuche sei stin­
kender als du!“
Die Geschichte, wie sie hier steht, ist uns nicht klar; vielleicht
war es so, daß H adding und das Tier, oder eher noch die Menschen­
gemeinschaft und das Tier, gegenseitige Verpflichtungen hatten;
H addings „Unheil“ würde dann darin bestehen, daß er mit oder
ohne Willen gewaltsam etwas überfallen hatte, von dem Leben
und Wohlfahrt im Lande abhing. Jedenfalls gibt die Beschreibung
der Folgen der Tat eine so gute Charakteristik des ewigen Fluches
des Neidingswerks, wie es überhaupt möglich ist: Heil im K am pf,
im Erwerb, Windheil, alles ist hin. Alles, was der Mann anfaßt,
zerbröckelt, denn anstatt Leben geht Tod von ihm aus.
Die Pläne des Neidings sind unfruchtbar. Wenn sie auch gesund
und weise genug aussehen und scheinbar mit aller Klugheit ge­
macht worden sind, hat die Spannkraft sie doch verlassen. Es wird
sich zeigen, daß sie, wie auch seine Waffen, gegen alle menschliche
Berechnung nach rückwärts in sein eigenes Gesicht statt nach vorn
schlagen. Diese Wirklichkeit des geistigen Todes ist der Stachel in
dem Fluch, den die alte Vettel Grettir in seiner Friedlosigkeit ins
Gesicht schleudert: „H ier sage ich dir, daß du vom Heil, vom
Glück und Segen und von aller schützenden K raft und Klugheit
verlassen sein sollst, um so mehr, je länger du lebst.“ Wenn Grettir
bei den Worten wie von einer Schlange gebissen hochgeht, so ge­
schieht es nicht deshalb, weil er weiß, daß man allerlei Künste von
solch einem Zauberweib erwarten kann, sondern eher, weil sie ihn
mit teuflischer Einsicht durch ihre mächtigen Worte an seiner wun­
den Stelle trifft und mit einem giftigen Stich seinen W derstand
gegen alle Zauberei lähmt. Sie beginnt damit, ganz nüchtern seinen
Zustand festzustellen: „Diese Männer [Grettir und sein Bruder]
dürften heillos sein in ihrer Kühnheit; hier werden ihnen gute
Bedingungen geboten, aber sie stoßen sie von sich, und nichts führt
gewisser zum Schlimmen, als Gutes nicht empfangen zu können.“
Kurz übersetzt in die moderne Sprache: „Ihr könnt ja sehen, wie
es um ihn steht; er ist ja nicht bei Sinnen, er ist gezeichnet.“ Hier
trifft sie den Ausgestoßenen, den Mann, den die Gesellschaft für
einen Neiding erklärt hat, und jetzt braucht sie nur die Worte in
der Wunde selber weiter wirken zu lassen. Wenn es in einer jün-

335
geren Saga von einem anderen Ausgestoßenen heißt, daß er alles
im voraus sah, aber nichts dagegen machen konnte, ist es ein neuer
Beweis dafür, welch instinktives und sicheres Verständnis die Men­
schen auf Island für das Überlieferte hatten: der Satz enthält das
negative Gegenstück zu dem Bericht von dem stolzen H eil der
Ingimundsöhne.
Vor den Augen des Neidings ist alles in Nebel gehüllt. Er weiß
nicht, was die Folge seines Tuns sein wird. Seine Taten sind nicht
geladen mit der glücklichen Willenskraft, die sie zu ihrem Ziele
führt. Das Zeichen des Neidings ist, daß bei ihm Kühnheit und
Heil, K raft und Erfolg einander nicht mehr begleiten. Wenn ein
Mann seinen Stand verliert und im Begriff ist, aus dem Menschen­
leben hinauszugleiten, da wird seine moralische Beschaffenheit
treffend mit den Worten ausgedrückt: „E r war tapfer genug, aber
kein H eiling.“
Aber der Zwiespalt im Neiding geht noch tiefer, er zerteilt die
Seele, so daß Wille und H ugr einander nicht erreichen können.
Wir lesen in einer isländischen Saga von einem Ausgestoßenen, der
selbst sagen konnte: „Es ist gegen meinen Willen, gemeinsam mit
diesen Übeltätern zu plündern und zu zerstören“ - und doch blieb
er bei ihnen. Die Quelle des Heils ist ganz und gar vertrocknet.
Der Neiding hat keine Macht über sich selbst. Er hat keine Ehre,
und so ist jede moralische Urteilskraft verschwunden. Er wird
feige, und er wird boshaft. Alles, was ein ehrlicher Mann verab­
scheut, wird beim Neiding Gewohnheit und Brauch: Eide und
Gelöbnisse zu brechen, Frauen und Waffenlose zu töten, im D un­
keln und in der Finsternis zu morden, den zu betrügen, der sich
als Freund auf einen verläßt, den Frieden zu brechen. Er ist fried­
los. Alle sind seine Feinde. Seine Freundschaft ist gleich der der
Wölfe, die in Rudeln zusammenlaufen, aber in der N ot einander
zerreißen. Die angelsächsischen Merkverse beschreiben seinen Zu­
stand und schildern mit einem merkwürdigen, aber doch natür­
lichen Mangel an Unterscheidung zwischen ausgestoßenem Mann
und ausgestoßener Bestie seinen Zustand so: „Freundloser, heil­
loser Mann nimmt Wolfe als Gefährten, die falschen Raubtiere,
oft zerreißt ihn der Genosse. Er begräbt tote Männer in sich und
heult vor Hunger. Er erhebt kein Klagelied, keine Wehklage über
den Tod, der graue Wolf; nein, er lechzt immer nach mehr.“ Oder,
wie es im Altnordischen mit noch stärkerem Nachdruck auf den
Mangel an Friedensgefühl heißt: „Sollen wir uns wie Wolfe be­

336
tragen, miteinander streiten, wie die Hunde der Nom en, die
gefräßigen, gezeugt von der öden Wildnis?“
Der Neiding haut in blinder Zerstörungswut um sich. A lt­
schwedische Niederschriften von Urteilen zeigen ihn noch in ail
seiner Entsetzlichkeit als die ethosverlassene Bestie, die er ist,
wenn er dem lebenden Gott voll ins Gesicht speit, flucht, als hätte
er allé Teufel zur Verfügung, und alle ohne Ansehen der Person
herausfordert. Es war einmal einer, der einen Pfarrer zwang, ihm
Bier zu geben, und mit dem Krug zum Friedhof ritt, um allen
Teufeln, die er bei Namen nennen konnte, zuzutrinken und sie
zum K am pf zu fordern. Von einem anderen wird erzählt, daß er
bei seiner Gefangennahme frei alle Missetaten gestand und nur
von dem Gedanken an das ungetane Böse, das er jetzt nicht be­
gehen konnte, geplagt war; wenn es ihm nur gelungen wäre, eine
einzige Woche seine Freiheit zu gewinnen, um die Sachen so zu
ordnen, daß er etwas gehabt hätte, wofür er hätte sterben können,
da wäre er zufrieden gewesen. Ein solcher Bosheitswahnsinn ist
die germanische Friedlosigkeit; mag sein, daß ihre Symptome bei
den Bauern in Småland im 17. und 18. Jahrhundert durch ein
wenig geänderte Verhältnisse reguliert waren - christlich geworden
sind, wenn wir wollen -, die Art des Wahnsinns ist doch dieselbe.
Verglichen mit der erstarrten Verzweiflung dieses „ungeheuren“
Neidingsschreckens sehen die isländischen Ausgestoßenen beinahe
verblichen aus. Es leuchtet ein, daß eine Saga nicht von einem
Auswurf der Menschheit handeln kann; aus Niederträchtigkeit
und bestialischer List läßt sich kein Pathos ableiten; das Pathos
des Lebens selbst ist, wie die Niederschrift der Urteile deutlich
zeigt, aus zu hartem Stoff, als daß eine Idealisierung damit arbei­
ten könnte. Die isländischen Räubergeschichten sind Verwandt­
schafts- und Freundschaftsgefühlen entsprungen; sie schildern oder
verherrlichen den Menschen in dem Ausgestoßenen und nähern sich
mehr und mehr dem modernen T y p von Räubergeschichten, in
welchen gerade der Ausnahme eine gewisse Romantik anhaftet.
Um so größer ist für den Leser die Wirkung der Entdeckung,
daß die Sagaerzähler ihre Helden nicht vom Kainszeichen frei­
machen k ö n n e n . So tief eingewurzelt ist das Gefühl, daß der
Übergang in den Zustand des Ausgestoßenen eine Veränderung im
Charakter ist, daß die Isländer, sogar in den romantischen Tagen
der Epigonenkunst, einen Charakter auf seinem Weg über diese
Grenze hinaus nicht unverändert erhalten können. Kein gesunder

337
Nordländer benimmt sich wie Gunnar von Hlidarendi, der als
Ausgestoßener, der seine eigenen Versprechungen gebrochen hatte,
auf Island umherwandelte: er nimmt die Einladung O laf Pfaus
an, auf seinem H ofe Zuflucht zu suchen, und bleibt, als die Zeit
kommt, zu Hause, einfach weil ihm der Wille zu gehen fehlt; oder
literarhistorisch ausgedrückt, kein Erzähler käme auf den Ge­
danken, einem Heiling die Wankelmütigkeit zuzuschreiben, die für
einen Neiding bezeichnend war. Und ein bewunderter, volkstüm­
licher H eld wie Grettir sinkt im Laufe seiner Friedlosigkeit ethisch
(dies Wort natürlich in der alten Bedeutung genommen). Im Lichte
des verschönenden Mitgefühls erscheint das tragische Element nur
noch bitterer, wenn ein Mann Räuberei und Neidingswerk mit
jenen gemischten Gefühlen treibt, in denen die beiden Komponen­
ten Selbstverachtung und Einsicht in die Vergeblichkeit des Wider­
standes sich wechselseitig hervorheben.
Selbstbewußtsein gibt es nur, wo Heil ist, wo es eine Ehre gibt,
für die gekämpft werden soll, und wo der K am pf zur Bereicherung
an Ehre führt. Beim Neiding, der nur ein Schein-Menschenleben
führt, sind Streit und Verteidigung nur ein blindes Beißen und
Schnappen und Knurren wie bei einer Bestie, oder richtiger wie
bei gewissen Bestien, den Neiding-Bestien. Je mehr er schafft, um
so größere Schande bringt er über sich selbst. Nicht einmal der
letzte Trost, der einem lebenden Mann offensteht, sich in seinem
Tode Ehre zu ertrotzen, ist ihm geblieben. Er besitzt nicht genü­
gend Ehre, um der Rache würdig zu sein. Ihn töten bedeutet nur,
ihn unschädlich machen.
Ohne Frieden und ohne Freude - das ist das Ende von der Saga
des Neidings; diese beiden „ohne“ reißen die Kluft zwischen Ver­
wandtschaft und Neidingschafl auf. Ohne das Leben, das im Ge­
fühl der Verwandtschaft besteht, in der stillschweigenden Erinne­
rung an die Geschichte des Sippenheils in einem selbst und in der
Sippe, ohne das Vertrauen des Sippenstolzes auf die Zukunft kann
niemand die Lebenszeichen haben: Das wohlige Gefühl des Ge­
sprächs, wenn man sich auf der Bank ausstreckt, und das halb
höhnische, halb jubelnde laute Gelächter, das scheinbar von der
Bewegung selbst hervorgerufen wird, wenn ein Mann „stolz auf
seine Stärke“ zum Laufschritt übergeht. Ein Mann kann nicht die
Lungen zu einem lauten Lachen füllen, wenn die Adern ihre
Ventile zuklappen. Im Neiding ist die Lebensader gestört, und
deshalb verebbt alle Kraft zur Freude schnell.

338
Der Tod bedeutet, richtig betrachtet, einen Zustand ohne Heil.
Wir müssen bedenken, daß das Wort absolut zu nehmen ist, so daß
kein Platz für Zwischenzustände bleibt und der Gedanke an eine
Ubergangsform sich gar nicht einschleichen kann. Die armen Leute
von niedriger Herkunft hatten ein sehr dünnes Heil, so dünn, daß
es vielleicht von oben gesehen überhaupt unsichtbar war, aber
niemand konnte ein Mann des Unheils genannt werden, solange er
H aus und Heim und Sippe besaß und sich noch als Verteidiger
einer Ehre fühlte. W i e arm man sein konnte, ohne aus der
Menschheit herauszufallen, weiß ich nicht; die Grenze lag mög­
licherweise bald höher, bald niedriger, je nach der Lage der Dinge
in der Gesellschaft. Aber sogar die Allerärmsten mußten, so sicher,
wie sie lebendig waren, ein Heil besitzen, in dem sie lebten, und
das sie in religiöser Innigkeit pflegten. Audi die Knechte können
nicht als eine Art Übergangsform betrachtet werden, denn sie
stehen voll und ganz außerhalb jeder Form von Heil. Sie haben
kein Leben in sich selbst, aber sie werden von der Kraft ihres
Besitzers erfüllt und werden im Gleichgewicht gehalten, solange
diese auf sie wirken darf. Es gibt keinen anderen Zwischenzustand
als den, in welchem sich junge Männer zwischen der Tötung des
Vaters und der Radie befanden; ein Zeitabschnitt, wo sie wie die
Schatten herumgingen, mit all der Unheimlichkeit eines Schatten­
daseins, und weite Umwege machten, um alle Männerversamm­
lungen zu meiden. Der Übergang, der sich mit der Sicherheit und
Unvermeidlichkeit der Zeit vollendet, wenn er nur sich selber
überlassen bleibt, ist der einzige Zwischenzustand zwischen Heil
und Heillosigkeit.
In den modernen Sprachen hat Unglück etwas Positives an sich.
Unsere Zivilisation hat das Unheil mit einer Art Adel durchtränkt
oder es wenigstens in sentimentales Pathos gekleidet. Aber in alter
Zeit war Unheil oder Heillosigkeit, wie die Isländer es nennen,
durchaus übel, eine Entblößung, ein Negativum, wo jede Idealität,
ohne festen H alt zu finden, unterging. Die Furchtbarkeit des Todes
besteht darin, daß er das Menschliche vernichtet und etwas anderes
an seine Stelle setzt. Der Neiding ist nicht ein bloßes Nichts, durch
das man heil durchgehen kann, wie man einen Geist zerspaltet.
Die Germanen verabscheuten ihn, er war für sie das verächtlichste
aller Wesen, aber sie fürchteten ihn noch mehr, als sie ihn ver­
abscheuten.
Mächtige Kräfte sind in ihm losgelassen. Er könnte sie nicht

339
bezähmen, auch wenn er es wollte. Aber er will nicht. Wer keine
Ehre besitzt, hat keinen Willen im menschlichen Sinne; aber dann
gibt es eine andere Art von Willen oder richtiger Trieb, der ihn
hält und ihn regiert. Unsere Vorfahren erblickten den Gegensatz
zum Willen nicht in Schlaffheit und Mangel an Willenskraft, son­
dern in etwas, das eher Zauberei genannt werden muß, die sinn­
lose, wahnsinnige Bosheit, die von geheimnisvollem Unheilswesen
begleitet sein kann. Wir wissen aus den Sagas, welche Atmosphäre
von Furcht von diesen wirklichen Zauberern und Zauberweibern
ausging; und wir wissen, daß das Dämonische in ihnen nicht in
solchen einfachen Kunststücken steckte, wie aus der Ferne zu wir­
ken, ihren Willen durch die Luft zu schicken, die Gestalt zu ändern
und durch Zeit und Raum zu wandern. Ob ihre Handlungen und
Bewegungen äußerlich mehr oder weniger denen der Menschen
gleichen, ist tatsächlich unwesentlich, weil sie auf alle Fälle in
anderen Dimensionen als den menschlichen stattiinden und von
anderen und fremden Beweggründen getragen werden. D as Cha­
rakteristische des Zauberers ist die boshafte Ziellosigkeit, die seine
ganze Handlungsweise kennzeichnet - im Gegensatz zu dem
Manne, der in allem, was er tut, zielbewußt ist, im Guten wie im
Bösen. Die Waffen eines Mannes mögen tatsächlich die Eigentüm­
lichkeit haben, daß keine Wunde, die sie schlagen, heilen kann;
aber das Heil ist es, das ihnen die Kraft gibt, und Heil ist aus dem
Blut des Besitzers zu gewinnen, wenn er aus Rache erschlagen
wird. Ein Zauberer aber hat Seelengift sowohl in seiner H and wie
in seinen Waffen, und sein Blut ist eine Pestilenz, vor der man
sich hüten muß, daß man sie nicht mit den Händen oder Kleidern
berühre. Deshalb sind seine Augen so böse, daß ein Blick von
ihnen genügt, um die Fruchtbarkeit einer Gegend abzusengen, und
diese Perversität seiner Seele ist es auch, die in allen Anwesenden
bei seinem bloßen Erscheinen Gesichtstäuschungen hervorruft. Er
kann ausgerottet werden, aber weil er so giftig ist, muß seine Zer­
störung mit der größten Sorgfalt vorbereitet und ausgeführt
werden, so daß man nach der Tat mit der Überzeugung nach Hause
gehen kann, daß man nichts von seinem Eiter an seinen Kleidern
hat, und daß er ganz und gar von der Erde ausgelöscht worden
ist. Die Menschen versuchen, ihn zu Staub zu verbrennen, einen
Steinhügel über ihn zu häufen, ihn mit einem Pfahl in die Erde
festzuspießen oder ihn weitab vom Lande zu ertränken - keine
Sicherheitsmaßregel ist zu umständlich.

340
Die Scheu vor dem Zauberer, die Art des Hasses, der Begier
nach seiner Vertilgung - dies alles läßt sich auf den Neiding be­
ziehen. Die Bauern haben noch ihre Furcht behalten vor den un­
heimlichen Landstreichern in der Menschenwelt, deren bloße An­
wesenheit Unheil bringt. Wenn ein Dieb, ein Mörder, eine Hure,
eine Zauberin - das heißt in der alten Sprache: Neidinge - die
nackte Brust eines zarten Kindes anblicken, wird das Kind die
Schwindsucht bekommen; oder, was dem alten Denken noch näher­
liegt, wenn eine Hure einen Mann schlägt, wird er nie mehr fähig
sein, sich gegen einen Feind zu wehren. Alles, was in ihm ist, wird
von dem Krebsschaden vergiftet. Der Fluch über H adding besteht
nicht nur darin, daß er überall, wohin er geht, das Unheil mit sich
trägt, das versehentlich andere trifft - er dünstet ja geradezu
Pestilenz aus. Die Giftigkeit des Neidings ist die Realität des
Lebens, die hinter dem Anathema des Gesetzes über den Aus­
gestoßenen steht. Keiner darf mit ihm verkehren, mit ihm im
selben H ause sitzen oder schlafen, und dieses Verbot ist aus der
tiefliegenden Ursache hervorgegangen, daß die Leute ihr Brot und
ihren Schlaf nicht durch seine Gesellschaft vergiften lassen wollen.
Das Hauptkennzeichen des Neidings ist, daß man nie weiß, was
er tun wird; in ihm zeigt sich dieselbe Unberechenbarkeit, die den
dämonischen Charakter des Jöten stempelt. Nichts in ihm, nichts
um ihn ist, was es zu sein scheint, sondern immer etwas anderes.
Ausgestoßener, oder Friedensbrecher, und Ungeheuer sind Wörter,
die einander folgen, wenn die Leute sprechen. Wenn der angel­
sächsische Dichter das Schicksal Ismaels, der ein Gegner seiner
eigenen Sippe war, beschreiben soll, nennt er ihn unheore und
kampfwild. Der Neiding wird mit derselben Mischung von Haß,
Verachtung und Entsetzen betrachtet wie die wirklichen Jöten in
U tgard, und aus keinem anderen Grunde als dem, daß er zu den
Horden der Ungeheuer gehört. Eine Veränderung seines Wesens
ist geschehen; das gesunde Blut ist verdorrt, und schädliche Flüssig­
keiten sind statt dessen hinzugekommen; Eiter fließt in seinen
Adern an Stelle von Blut, wie bei den Jöten.
Es wird von einem starken Mann, Thorstein Ochsenfuß, erzählt,
daß er eine garstige Balgerei mit einem Jötenweib hatte, und nach
der Zeit war er ein wenig wunderlich und hatte etwas Unheim­
liches an sich. Der Erzähler läßt die Frage offen, ob sein Unglück
daher rührte, daß er während des Kam pfes etwas von ihrem
Speichel geschluckt hat, oder ob es eine Krankheit war, die aus

341
seinen ersten Lebenstagen stammte, wo er als kleines Kind aus­
gesetzt worden war. Es ist interessant, zu sehen, daß der Zustand
eines Kindes, das nicht rechtmäßig in die Sippe hineingeboren
worden war, auf dieselbe Ebene gestellt wird wie die Mächte, die
bei Nacht in der Welt umgehen.
Utgard ist also eine Macht, die außerhalb steht und das
Menschenleben bedrückt; es schiebt sich in H aus und Heim hin­
ein, wenn die Menschen nicht Wacht halten. Kein Wunder, daß ein
K am pf gegen etwas so Furchtbares mit der größten Kraft geführt
werden muß. Wenn der Böse ein König ist, da ist die Gefahr für
seine Umgebung um so größer, weil er gerade im Mittelpunkt des
Heils liegt wie ein giftiger Wurm und auf den Schätzen der Könige
brütet. Es ist eine Sache, die alle angeht, wenn sein Heil aufgelöst
wird, und - wie wir in Buslas Fluch über König Hring lesen —
»Berge wanken, die Welt in Aufruhr gerät, das Wetter sich ver­
schlechtert und Dinge geschehen, die nicht geschehen sollten“ . Will
man vermeiden, von seinem Atem erstickt zu werden und all das
Seinige von Frost und Reif vernichtet zu sehen, so hat man keinen
anderen Ausweg, als ihn von der Erde zu vertilgen. Und er wurde
tatsächlich mit allen Wurzeln ausgerottet.

342
D as Reich der heillosen Toten

In der Schar der Toten stehen dann alle die, in welchen das
Leben sich fehlerhaft gezeigt hat. Es gibt solche, die von N atur
aus heillos sind - Krüppel, Feiglinge und Narren - , denn das erste
Kennzeichen des Heils ist ein gesunder Körper und ein gesunder
Verstand. Noch in der Neuzeit sind die Bauern des Nordens ge­
neigt gewesen, die Gebrechlichen in dieselbe Klasse zu setzen wie
heillose Diebe und Mörder; und wenn man in alter Zeit gewissen­
haft darüber wachte, daß der Eintritt solcher elender Wesen ins
Dasein überhaupt vermieden wurde, geschah es, weil jeder Mangel
am vollen menschlichen Charakter als Verbrechen und nicht als
Unglück im modernen Sinne betrachtet wurde. Andere wiederum
waren im Heil geboren, aber eines schönen Tages kam, ehe sie
sich’s versahen, der Jöte und steckte seinen K opf mitten durch ihr
Heil. Der Tod konnte plötzlich emporspringen, so daß ein Mann
ohne vorhergehende Warnung seine Seele bersten fühlte. Eine
Niederlage schon enthielt Gefahr. Wenn der starke Mann einem
stärkeren begegnete, der ihn plötzlich von Land und Heil ver­
trieb, dann sank er abwärts, sicher und rettungslos, und endete in
dem niedrigen Zustand eines Neidings; er verlor allmählich so­
wohl Willen wie Kraft, sich selbst zu behaupten. Bei Besiegten
und Gefangenen wurde durch die knechtische Furcht und Untätig­
keit jeder Adel ausgetrieben. Fafnirs Worte enthalten eine wirk­
liche Kraft, wenn er Sigurd daran erinnert, daß sein Vater un-
gerächt gefallen und seine Mutter gefangengenommen worden war:
„Wärest du im Kreise deiner Verwandten aufgewachsen, hätte
man dich viel mächtigere Hiebe austeilen sehen können; nun bist
du aber ein Knecht und ein Gefangener, und die Menschen wissen,
daß der Gefesselte ewig zittert.“ —Wenn der norwegische Dichter,
erfüllt von dem christlichen Gedanken an die Unsicherheit des
Irdischen, ein Beispiel aus dem Leben sucht, das die Falschheit des
Reichtums zeigen soll, sagt er: „Sie glaubten nicht, Unnar und
Saevaldi, daß ihr Heil sie verlassen könnte, aber sie wurden nackt
und aller Dinge beraubt“ ; und der Gedanke reißt ihn weiter,

343
kopfüber in die letzte Zeile hinein: » . . . und sie liefen wie Wolfe
nach dem Walde.“
Nun wundern wir uns kaum über den unruhigen Eifer, mit dem
Jarl H akon der Jüngere den Gedanken an Heillosigkeit beiseite
schiebt, als O laf auf geistigem Gebiete seinen Sieg über ihn bis ans
Ende verfolgt, indem er sagt: „Es ist wohl wahr, daß ihr Ver­
wandten schöne Männer seid, aber euer Heil ( h am in gja) ist zu
Ende.“ „N ein“ , antwortet H akon, „nein, dieses ist kein Unheil
(ó h am in gja), was über uns gekommen ist; es ist lange so gewesen,
daß Häuptlinge abwechselnd gesiegt haben; ich bin noch kaum
aus der Kindheit heraus, und wir waren nicht darauf vorbereitet,
uns wehren zu müssen; wir erwarteten keinen Streit, und es mag
wohl geschehen, daß wir uns ein andermal glücklicher zeigen.“
Die fieberhafte Atemlosigkeit dieser Worte verrät eine lauernde
Furcht, die die Erfahrungen der Vergangenheit in die Seele ein­
gepreßt haben. Und auf der anderen Seite, wenn der Schiffbruch
des Lebens keine so unbestreitbare Tatsache gewesen wäre, hätte
das Paradoxon keinen Raum gehabt, daß Menschen manchmal die
Freiheit verlieren und doch scheinbar etwas vom Frieden behalten
konnten. „Sie war die Waschmagd - oder die unfreie Dienerin —
der Königin und doch nicht ganz ohne H eil“ , sagt eine norwegische
Quelle über Alfhild, O lafs Kebse und die Mutter Magnus’ des Guten.
Der Fall eines Mannes konnte auch langsam angeschlichen kom­
men; es war dann, als ob Kräfte und Heil auf unerklärbare Weise
verwelkten, und der Mann fühlte, daß sein Sprung und sein Hieb
ihr Ziel verfehlten. In der Beschreibung König Heremods im
Beowulf fühlen wir die steigende Unruhe der Gefolgsleute, als sie
sehen, wie die Neidingsfratze sich täglich deutlicher in den Zügen
des Fürsten zeigt: „E r wuchs nicht heran zur Freude der Scyl-
dinge, sondern zur Schlacht und zum bitteren Tod für die Dänen.
In aufwallenden Zorn ließ er seine Tischgenossen niederhauen, die
mit ihm Schulter an Schulter Stehenden, bis der hohe König
e i n s a m aus der Menschenfreude fortging. Doch hatte der mäch­
tige Gott ihn hoch über alle Männer gehoben und ihn mit Macht
und wonniger Herrschaft gestärkt, aber in seiner Brust wuchsen
blutgrimmige Gedanken. Er gab seinen Dänen keine Ringe, wie es
sich geziemte. Freudlos erwartete er die Zeit, wo er die Früchte
seiner Taten erntete: langwierigen Krieg im Lande“ - wo er, wie
einfach festgestellt wird, „unter Jöten fiel“ , unter den Auswurf
Utgards, und sein Leben wie ein Neiding endete.

344
Aus Island haben wir in der Grettirsaga die Geschichte eines
Mannes, in dem die Unfruchtbarkeit von früh an emporkeimte.
Er schien stark und scharfsinnig genug, furchtlos und rührig, aber
seine Ratschläge und seine Taten gingen immer fehl, so daß die
Folgen als Schläge auf ihn selbst niederfielen. Es scheint, daß sein
großer Ringkam pf mit dem Unhold Glam den Anfang seines
Unheils gebildet hat, und dies ist auch ein guter alter Gedanke,
der seinen natürlichen Ausdruck in dem Fluch des sterbenden Un­
geheuers findet, als es kündet, daß von jetzt ab jeder Plan seines
Bezwingers sich zu Unheil und Schande wenden soll. Aber noch
vor dieser schicksalsschweren Begebenheit waren die Zeichen an
Grettir sichtbar. Die Worte, die sein Oheim vor jenem K am pf mit
dem Ungeheuer sprach, sind uns überliefert: „Es ist wahr, wie
gesagt wird, daß Heil eins ist, Raschheit etwas anderes“ ; und
wiederum: „Es gibt Männer, die eine kleine Strecke voraussehen,
sich aber nicht gegen das Gesehene wehren können.“ Und noch
viel früher haben kluge Männer wie Thorarin der Weise genug
gesehen, um sich vor dem wilden Kerl mit den eisernen Kräften
in acht zu nehmen; als sein Ziehsohn Bardi sich Grettirs H ilfe fü r
seinen großen Rachezug gesichert hat, erhebt Thorarin entschieden
Einspruch: „Gewiß steht Grettir weit über anderen Männern, und
spät werden Waffen ihn zur Strecke bringen, wenn sein Heil hält,
aber ich habe kein Vertrauen in dies H eil; es wäre gut für dich,
nicht lauter heillose Männer unter deinen Begleitern zu haben.“
Und es wurde so bestimmt, wie Thorarin angeraten hatte.
Wie Glam prophezeit hatte, so kam es. Als Grettir einmal in
der N ot Leben und Gesundheit seiner Begleiter rettete, indem er
schwimmend von dem norwegischen Festland Feuer nach der
Schäre hinaustrug, wo sie nahe daran waren, umzukommen, gab
er gegen seinen Willen Anlaß zu einem Unglück, das ihm auf
Island viele Feinde verschaffte. Als er, mit Eis bedeckt, ins H aus
gestürzt kam, dachten die Leute, daß er ein Unhold wäre, und
bewarfen ihn mit Scheiten und Feuerbränden vom Herd, so daß
er sich nur mit Mühe und N ot mit den brennenden Kohlen hinaus­
retten konnte; aber die Funken hatten das Stroh des Fußbodens
angesteckt, und am nächsten Morgen war auf dem Platze nur ein
H aufen Asche. Unter den im Feuer Umgekommenen waren zwei
Söhne von Thorir Skeggjason auf A daldal, einem mächtigen
isländischen Bauern. Grettir erhält von König O laf die Erlaubnis,
sich durch die Feuerprobe von dem Verdacht zu reinigen, aber

345
mitten während der Probe packt ihn das „Unheil“ , und er schlägt
einen Knaben, der ihn werhöhnt, mitten in dem Hause Gottes zu
Boden. Wieder klingt das schwermütige Wort über ihn: „D u bist
ein Mann von großem Unheil, Grettir, und es wird sich nicht
leicht bessern lassen.“ Und jetzt wird er unaufhaltsam in die end­
lose Ausgestoßenheit getrieben, weiter und weiter in die Neiding­
schaft hinein, bis er als jämmerliches Opfer einer Zauberei endet.
Diese Schilderung der Neidingschaft Grettirs ist eines der größ­
ten und ergreifendsten Zeugnisse von der Macht der Todesfurcht
über die Seelen der Menschen. Man konnte so weit gehen, den
Freibeuter zu bewundern, aber man konnte die Gedanken und die
Worte, in die sich diese Bewunderung hüllen mußte, nicht von der
unheimlich tiefen Dunkelheit befreien, aus der sie stammten.
Typisch für nordische Denkweise ist die Abneigung dagegen,
eine bestimmte Tat als den Ausgangspunkt der Neidingschaft zu
bezeichnen; die Menschen waren geneigt, zurückzublicken und die
Symptome in früheren Taten zu suchen. So war es auch, als
Sigurd Slembi, der norwegische Thron forderer aus dem 12. Jah r­
hundert, die Krone forderte, auf die er das alleinige Recht zu
haben glaubte, nachdem er seinen Bruder getötet hatte; diese un­
heilvolle Tat ließ die Leute sofort an seine Geburt denken. „Wenn
du wirklich ein Sohn von Magnus und Thora bist, so war deine
Geburt unheilverheißend, und so ist es auch gekommen, wenn du
deinen Bruder ermordet hast.“ Freilich, eine bestimmte Tat - oder
die Unterlassung einer Tat - Mord, feiges Benehmen, gebrochener
Eid, Tötung ohne Rache, Diebstahl - bildet einen absoluten An­
fang und bringt Neidingschaft in der betreffenden Person hervor;
sie ist der Ursprung seines Unheils, wie die Leute in Norwegen
sagen. Die Äußerung des Angelsachsen über jene Gefolgsleute des
Königs, die bei ihrer gemeinen Flucht Schande über ihr Geschlecht
brachten, würden die Nordländer durchaus verstehen und ihr
herzlich zustimmen; er sagt: „N ie mehr soll jemand aus ihrer
Sippe nun froh nach dem Golde greifen.“ Dieses „nun“ würde mit
seinem ganzen schicksalsschweren Gewicht im Ohr des Nordländers
widerhallen. Aber der Ursprung läßt doch auch die Gedanken
nach früheren Symptomen ausspähen. Es war das Unglück des
Mannes, daß er keine Rache nahm, aber warum wurde keine Rache
genommen? Die Antwort bleibt nicht lange aus, denn alle erinnern
sich sofort an etwas, das vor langer Zeit geschah. Die ganze Ver­
gangenheit des Neidings wird als Zeuge gegen ihn aufgerufen,

346
weil Neidingsdiaft zu guter Letzt nur die Folge eines inneren
Fehlers des Heils ist. Er hätte nie seine erste Missetat begangen,
wenn er nicht innerlich durch seine Veranlagung gezeichnet ge­
wesen wäre. Was der Nordländer mit Ursprung meint, ist in
Wirklichkeit dies: in diesem Augenblick kam die Neidingsdiaft,
die in ihm verborgen lag, in dieser Tat zum Vorschein, und von
dieser Tat aus wurde sein ganzes Leben vergiftet.
Außerdem kann der Tod auch aus dem Hinterhalt nach dem
ausholen, der ganz harmlose Taten tut. Wenn die Sippe nicht die
Macht hat, die Sache ihres Verwandten mit H ilfe der Waffen oder
wenigstens mit einer Buße zu behaupten und sich daher den
Frieden durch Aufopferung des Übeltäters erkauft, so wird dieser
ein hoffnungsloser Neiding und ein Wolf-Mann, und zwar auf
Grund solcher ehrenvoller Angriffstaten, wie ein Totschlag oder
ein offener, gewaltsamer Überfall auf des Nachbars Besitz es sind.
Die Gefahr lauert auf den Mann jenseits des Grabes so gut wie
hier. Ein Held, der den Tod einem Leben in Schande vorzieht und
sich unter seine Ehre und sein Heil begräbt, hat sich keineswegs
für immer sein Dasein gesichert. Wenn er von seinen Verwandten
aufgegeben wird oder als der letzte seines „Volkes“ fällt, so daß
niemand hinterlassen wird, der das Erbe antreten kann, da be­
steht alle Gefahr, daß er böse wird und als ein Dämon Menschen
und Tiere verfolgt, um so furchtbarer, je mächtiger er bei Leb­
zeiten war. Es sind nicht nur die Gedanken der Lebenden, die von
Qual verwirrt werden, wenn die Sippe gezwungen ist, eins ihrer
Mitglieder ungerächt zu lassen - wenn sie ihn „unheilig“ liegen
lassen muß, wie die Nordländer mit einem Worte sagten, das zu
verstehen gibt, daß der Ungerächte seiner Würde und seines Wertes
beraubt ist.
Der tote Mann siecht dahin im Einklang mit den Lebenden, und
die Zukunft, die ihn erwartet, wenn das Leben aufhört, ist so
entsetzlich, daß die Furcht vor dem Aussterben des Geschlechts
durch viele Jahrhunderte mit allen Schrecken der Hölle wetteifern
und diesen die Macht über die menschlichen Seelen nehmen kann.
Und die Gefahr wird zu allen Zeiten gleich groß bleiben, wie viele
glückliche Jahre der Tote auch hinter sich haben mag. Es gibt
Neidinge dort draußen in der Nachwelt, die einst ehrliche Tote
waren; sie haben keine Wiedergeburt erreicht, weil ihr Gesdilecht
verfiel und ausgelöscht wurde; sie sind nicht von klugen und acht­
samen Verwandten am Leben erhalten worden, und dann kommt

347
die Zeit heran, wo die Leute spüren, wer es war, der in früheren
Tagen an dieser Stätte gelebt hat.
Der Bewohner eines Hügels hat nichts Furchteinflößendes an
sich, wenn es feststeht, daß er ein Verwandter ist. In der Saga geht
H ervor vertrauensvoll zu dem Hügel ihres Vaters Angantyr und
grüßt ihn als einen ihrer eigenen; und der tote Krieger hat seinen
Frieden und seine Ehre nicht vergessen; er gibt freundliche War­
nungen und reicht ihr sein herrliches Schwert als freies Geschenk.
Wenn andererseits Fremde im Hügel lagen, die kein Lebender zu
seinen Verwandten rechnen konnte, da war der Ort einfach un­
sicher und „nicht geheuer“ . In den Drachengeschichten finden wir
in etwas fremder Tracht die heimatliche Erfahrung, daß jeder ein­
same oder vergessene H eld grimmige Gewohnheiten annimmt. Der
grausame Drache, der Beowulfs Tod bewirkte, lag brütend auf den
Hinterlassenschaften eines erloschenen Geschlechts. Der letzte Mann
des Stammes versteckte seinen Schatz in der Höhle mit einer K lage
über die edlen Helden, die der K am pftod bis auf den vorletzten
Mann fortgerissen hatte; hier endete sein Leben, und der alte
Feind, der Dämmerungsschleicher, legte sich auf das Gold und
hütete den H ort, der für ihn selbst von keinem Nutzen war. Wir
können ruhig annehmen, daß anfangs der, der den Schatz ver­
borgen hatte, oder seine Nächsten, einst so edel und kühn, den
Platz des Ungeheuers eingenommen haben. Dem Nordländer ist
der Gedanke wohl vertraut, daß ein toter Mann an seinem Besitz
zum Trollen wurde und das Gold gierig mit seinem Neidingsgift
beschützte.
Die einfache Trennung von Geschlecht und Land genügt, um das
Leben zu gefährden; kein Mann konnte länger als eine gewisse
Zeit von seinem eigenen Seelen Vorrat leben. „Es ist übel, im Un­
land zu leben“ , sagen die Leute des Nordens, und in dem Spruch
liegt mehr als ein Hinweis auf den Charakter der Unsicherheit.
Ohne Zweifel hatten die Alten ihr Heimweh, aber ein solches A ll­
tagswort taugt nicht, eine Vorstellung von dem zu geben, was sich
in der Seele eines Abwesenden senkte und hob, wenn er wie Hengest
- im Beowulf - weit von seinem Erbsitz entfernt saß und „an zu
H ause dachte“ . Die Isländer sagten, daß lan dm u n r im Gast wirk­
sam wäre, und mit diesem Wort wird die Sehnsucht nach der Heim at
gleich gegen einen bestimmten Kulturhintergrund gestellt; denn
dieses m unr enthält nicht nur die Bedeutung von Liebe und Wille,
es bezeichnet eine Ganzheit, auf welche diese Eigenschaften passen:

348
Seele, Leben. Noch näher werden wir an die Wirklichkeit gebracht
durch den angelsächsischen Gebrauch von feasceaft für den Land­
flüchtigen. Die Freudlosigkeit, die in diesem Wort liegt, ist nicht
von der sanften, melancholischen Art, die die Dichter inspiriert,
sie ist eine Krankheit des H ugr, die die Einsamkeit zu etwas
schlechthin Häßlichem macht. Feasceaft ist ein Wort, das gleich gut
für den Ausgestoßenen paßt, wie für das Ungeheuer Grendel selbst,
den Bewohner von Utgard.
Verbannung war eine Amputation, und diese war um so schlim­
mer, als es kein einzelnes Glied war, das amputiert wurde, sondern
der ganze Mann; ein Mann aus einem der germanischen Stämme,
der mit Gewalt aus dem Kreise seiner Verwandten fortgeführt und
als Gast des römischen Volkes in irgendeiner zivilisierten Binnen­
stadt untergebracht wurde - wie die sigambrischen Häuptlinge von
Augustus - , mochte wohl soweit kommen, daß er sich den Tod
wünschte. Oder nahm er sich vielleicht das Leben aus Furcht vor
dem Tode, weil er keinen anderen Ausweg sah, wieder ins Leben
zurückzukommen, als seine Seele in die richtige Umgebung zurück­
kehren zu lassen? Die südlichen Menschen verstanden nicht viel
von den Gefühlen einiger „eingeborener“ Häuptlinge und wollten
auch nichts davon verstehen; sie wußten, daß die Barbaren den
Zustand nicht aushalten konnten und sich aus „Ekel am Leben“
töteten, wie Dio Cassius sagt. Aber diese Leiden werden heftiger,
wenn wir den Satz in die Sprache der Verstoßenen übersetzen.
Ächtung ist in den Händen der Gesellschaft eine furchtbare Waffe
gegen Friedensbrecher, die nicht gut tun wollen. Die Waffe schlägt
so schmerzhaft, weil sie den Lebensnerv selbst trifft. Der Geächtete
ist ausgestoßen, nicht nur aus der Gesellschaft, sondern aus dem
Leben. Aber wiederum hängt die Wirkung des Urteils ganz von
den Verwandten des Verurteilten ab, davon, ob sie die Verbannung
ausführen wollen, indem sie seine Lebensader durchschneiden. Denn
wenn auch die ganze bekannte Welt einen Mann ausschließt und
ihn allen bösen Geistern ausgeliefert erklärt, hat es nicht die ge­
ringste Wirkung auf seine geistige Wohlfahrt, solange seine Ver­
wandten ihn erhalten und ihm erlauben, aus ihrem Lebensborn zu
trinken - immer vorausgesetzt, daß die Verwandten ein Heil
haben, das stark genug ist, um die mächtige Kraft der Worte ab­
zuwehren, die auf sie eindringen.
Bei unseren Vorfahren kann man erhabene Beispiele von Unter­
werfung unter den allgemeinen Willen neben erstaunlicher Ver­

349
achtung der Ordnung und der Gesetze finden. Ihr Rechtsbewußt-
sein war aktiver und deshalb elastischer, als es jemals bei Leuten
werden kann, die dem Richter seinen Platz neben dem Gesetzbuch
anweisen und einen wohlbestallten Schutzmann hinter den Ver­
brecher stellen, bereit, sich instruktionsgemäß seiner anzunehmen.
Heutzutage sind die Rechtsbegriffe in der ganzen Bevölkerung
mehr oder weniger gleichartig; die Furcht vor der Justiz erhebt
sich kaum zu etwas, was mit Recht Ehrfurcht genannt werden
könnte, und der Trotz schrumpft meist zusammen zu einem un­
sicheren Vorteilziehen aus den Umständen und zu einem Suchen
nach Löchern in den Gesetzesparagraphen. In der germanischen
Gesellschaft waren die Rechtsmittel juristische Anpassungen an die
Allragsgebräuche, und sie holten ihre Kraft aus der inneren E r­
fahrung der beiden Parteien. Folglich gingen die Gefühle der Män­
ner, wenn sie sich einer gerichtlichen Verurteilung gegenüber sahen,
weit tiefer als heutzutage. Männer konnten sich durch ein Wort
versklavt fühlen, und sie konnten mit überlegenem Hohn das feier­
lichste Anathema verachten; einer mag bei einem Ächtungsurteil
erstarren, während sein Nachbar es vielleicht nur als eine Beleidi­
gung betrachtet, möglicherweise von zu unbedeutender Art, als daß
sie sein Interesse erwecken könnte. Wo die Rechtsmittel Wurzeln
schlagen, dort halten sie mit furchtbarer Stärke fest, aber wo sie
die Ehre nicht fassen, dort sind sie leer und kraftlos. Gehorsam
gegen das Gesetz und Trotz gegen das Gesetz - Worte, die nur im
weiteren Sinne zu verwenden sind - haben die gleiche Macht, weil
sie aus derselben Schicht der Seele kommen; sie heben einander
nicht auf, sondern können nebeneinander existieren, sogar in einer
und derselben Person, ohne irgendein Gefühl der Zersplitterung.
Wir wissen, daß das niedere Volk bis in die moderne Zeit hinein
seine alte Wertung der Ächtung bewahrt hat. Die Könige waren
meist fortschrittliche Männer, im Bund mit denjenigen Ideen über
das Gesetz und die königliche Gerechtsame, die von der westlichen
Zivilisation und der römischen Kirche verbreitet wurden. Die
Bauern hielten sich an die alten Gesetze, die in den Herzen und
nicht in Büchern lebten. Kein Wunder, daß des Königs Überzeu­
gung, daß Recht Recht ist und Recht sein muß, furchtbar in Wider­
streit gerät mit dem Unvermögen der Bauern, über die grund­
legende Moral hinauszukommen, daß Recht als Recht gefühlt
werden muß oder sonst nicht existiert. Der Toter sitzt daheim im
Schutz altertümlicher Verwandtschaft, und der König sitzt in

350
seinem H o f im Lichte der modernen Kultur und durchforscht die
Sprache nach Worten, die stark genug sind, um Verwendung zu
finden gegen diese aufsässigen Kerle, die eine Verurteilung auf
Ächtung über sich ergehen lassen, ohne sich vom Fleck zu rühren.
„Es ist unerträglich, daß sie sich in ihrer Ungerechtigkeit behaup­
ten sollten“ , sagt H akon Magnusson im Jahre 1315. Und diesmal
hat der König recht; die Bauern sind im Begriff, Gesetzverächter
zu werden, nicht, weil ihr Gefühl und ihr Rechtsbewußtsein sich
geändert hätte, sondern weil das Recht ein anderes geworden ist;
es ist endgültig von der Vormundschaft der Erfahrung befreit wor­
den und unter den mächtigen Schutz der logischen Schlüsse gestellt
worden. Und doch hatte der Bauer kein Gefühl dafür, daß er im
Unrecht war, denn die Erfahrung seiner Vorfahren war noch stark
in ihm. Ein Mann ist kein Geächteter, solange eine Schar von Ver­
wandten willig und fähig ist, ihn zu halten; erst wenn er vom
Leben abgetrennt worden ist, wird er ein gefährliches Wesen, aus­
gestoßen und gemieden.
Aber wenn der Bannspruch gesprochen ist und die Sippe sich
von dem verurteilten Manne losgesagt hat, indem sie den Eid
mitgeschworen hat, mit welchem das Gesetzesthing ihn „hinaus­
schwört“ , oder die Thingmänner sich durch Aneinanderschlagen
der Waffen gegenseitig gegen ihn verpflichtet haben, ist der Aus­
gestoßene tot. Er ist aus dem Leben der Menschen hinausgeschleudert
und kann gejagt werden, „so weit Menschen Wolfe jagen“ , weil er
ein Wolf, v arg r, ist, „des Heils und der Freude bar“ . Als Geächteter
und als Neiding trägt er den „W olfskopf“ , das heißt ursprünglich,
er ist in einen Wolf verwandelt, läuft wild auf der Heide herum und
zerreißt Äser. Und doch kann er durch einen Schritt über die
Schwelle wieder ins Leben eintreten, wenn er nur einen Kreis fin­
den kann, der willig ist, ihn in sein eigenes Leben aufzunehmen
und ihn als Bruder wiederzugebären. In dem Augenblicke, wo er
in einem Hause begrüßt wird und einen Platz angeboten bekommt,
fällt die tierische N atur von ihm ab, und er ist wieder ein Mensch.
Die Worte, die Gudrun in den grönländischen Atlamal über ihre
und ihrer Brüder Jugendtaten spricht, mögen wirklich mit dem
buchstäblichen Ernst der Prosa gesprochen sein: „Wir befreiten aus
dem Walde, den wir retten wollten, wir gaben dem Heil, der nichts
besaß.“

351
Wenn Leben und Tod die beiden schematischen Größen wären,
als die sie manchmal im praktischen Sinne gelten, würden sie die
ganze Existenz ausfüllen, ohne einem Gedanken Raum zu lassen,
sich zu verstecken, und sie würden dann bei der Übersetzung aus
allen Sprachen und in alle Sprachen die sichersten Wörter sein. Aber
nun sind sie keine Quantitäten, sondern Qualitäten, und die A uf­
gabe, sie aus einer Sprache in die andere zu übersetzen, kann jahre­
lange Studien kostet. Wir haben das Wort „sterben“ von unsren
Vorfahren geerbt, und wir verwenden es für denselben Vorgang wie
sie, aber tatsächlich hat seine Bedeutung eine so große Veränderung
durchgemacht, daß die sprachliche Kontinuität kaum genügt, um
die beiden Ideen zu einer Begriffsgestaltung zu vereinigen.
Im Altskandinavischen ist es möglich, einen Ausdruck zu bilden
wie diesen, der sich auf die Unterwelt bezieht: „Männer sterben
in jene Welt hinein.“ Und ohne Kommentar über die Echtheit
dieser Redensart können wir das Wort als einen nützlichen H in­
weis nehmen, der besagt, daß der Tod dann also ein zusammen­
gesetzterer Begriff war, als er es jetzt ist (oder zu sein scheint,
denn auch unsere Wörter sind Träger zusammengesetzter Begriffe,
die uns nur deshalb einfach erscheinen, weil sie uns von Kindheit
an vertraut sind). Es war gewissermaßen stets erforderlich, näher
zu definieren, wohin Männer starben. Das Verhältnis zwischen
Leben und Tod, das jetzt so unbedingt gegensätzlich erscheint, war
eher das zweier Gruppen von Zuständen, die miteinander ver­
kettet waren. Jetzt bedeutet der Vorgang Auf hören des Lebens,
während es in jenen Tagen ein Übergang von Leben zu Leben war;
jetzt ist Sterben der große Einschnitt im Dasein, aber für die Alten
konnte der Übergang von einem Zustand in den anderen, der das
Leben des Heils unberührt ließ, nie als Katastrophe gelten. Wenn
wir also nicht das Wesentliche in unserem Worte aufgeben wollen,
seine Bitterkeit, seinen Hinweis auf das Ende und auf die Ände­
rung von Plänen, seine Beziehung zu der Lichtung der Reihen, sein
absolutes „H a lt!“ , so kann keine Etymologie uns Äquivalente in
der alten Sprache geben. Wir müssen die Hoffnung aufgeben, ein
genaues Gegenstück in jener Kultur zu finden, aber in dem Über­
gang von Heil zu Unheil kommen wir der unwiderruflichen Wand­
lung am nächsten, die wir mit diesem düsteren Worte bezeichnen.
Dieser Tod konnte einen Mann bei lebendigem Leibe treffen, und
genau so gut konnte er ihm im Reich der Toten begegnen oder an
der Grenze zwischen diesen beiden. In der Möglichkeit, daß das

352
Ausatmen das Scheiden der Seele bedeuten könnte, lag die Gefahr,
die die Veränderung zu einer Krise machte, nicht nur für den Ver­
storbenen, sondern auch für seine Nächsten. Die Hinterlassenen
trafen alle Vorsichtsmaßregeln, wie wir uns vorstellen können, ob­
gleich wir nicht viel von den Zeremonien, die einen Todesfall be­
gleiteten, wissen. In der isländischen Literatur finden wir keine
anderen Vorsichtsmaßnahmen direkt beschrieben als n áb jargir, die
Leichenrettung, die hauptsächlich in seinem Zudrücken der Nasen­
löcher bestanden zu haben scheint: aber zweifellos hatten frühere
Zeiten ein umfassenderes Ritual. Sicher gab es üble Wahrzeichen bei
einer Leiche, die noch nicht so behandelt worden war, ganz be­
sonders, wenn die Katastrophe durch eine Gewalttat entstanden
war, die Rache erforderte. Wahrscheinlich ist eine Totenschau ge­
halten worden, um die Todesursache festzustellen; wenn die Wun­
den gezählt waren, übernahm wohl einer der versammelten Ver­
wandten, selbst H and anlegend, feierlich die Verantwortung für
die Regelung der Sache und stellte sich an die Spitze des Unter­
nehmens, indem er die n áb jarg ir ausführte. Auch sonst, wenn etwas
Ungewöhnliches an der Todesart vermuten ließ, daß „Unheil“ das
H aus betroffen hatte, war Anlaß vorhanden, vorsichtig mit dem
Verstorbenen umzugehen. Als Gudmund der Mächtige, der H äupt­
ling auf Mödruvellir, von innen zu Tode erstarrte, als er einen
Mann einen merkwürdigen Traum erzählen hörte, verbot die
H ausfrau allen, den Leichnam zu berühren, bis sein Bruder Einar
ihn untersucht hätte; die Weisheit des letzteren entschied sofort die
Sache so, daß es die Macht des Traumes war, die seine edlen Teile
in Eis verwandelt hätte, und darauf brachte er die Leiche in O rd­
nung. —Leute, die von Ungeheuern getötet worden waren, waren
mehr als andere geneigt, auf unheimliche Weise umzugehen, und
dasselbe geschah, wo eine Pestseuche wütete. Gleichgewicht und
Sicherheit waren nicht wiederhergestellt, bevor die Begräbnisfeier
mit den rechten Riten und Gebräuchen begangen worden und der
tote Mann auf seinen Platz „gewiesen“ worden war —„nach Wal­
hall gewiesen“ , wie der Ausdruck in späterer Sprache durch Moder­
nisierung einer alten Formel heißt. Nichtsdestoweniger dürfen wir
nicht ausschließlich die unheimliche Seite betonen; denn für Leute,
die in ihrem Heil befestigt waren, war dieses Interregnum doch
nur eine kurze Pause, in welcher das Leben für eine knappe Zeit
zum Stillstand gebracht worden w ar; es gab zuverlässige Mittel,
die Sicherheit sowohl für die Toten als auch für die Lebenden

353
wiederherzustellen. In zweifelhaften Fällen dagegen, wo die Rache
unsicher war, wo das Heil wankte, da war Tod im Hause.
Die Idee der Vernichtung hat sich immer als sehr schwer faßbar
erwiesen, und der Gedanke tappt noch im Dunkeln, ohne imstande
zu sein, das reine Nichts oder das absolute Aufhören zu entdecken.
Unsere Vorfahren hatten praktische Gründe, wenn sie versuchten,
einen absoluten Tod zu bewirken. Es war nicht daran zu denken,
in einem und demselben Bezirk mit Dämonenseelen zu leben; sie
waren viel zu unheimlich und viel zu wirksam. Auf irgendeine
Weise mußte man versuchen, sie in die Wildnis der Dämonen
hinüberzubeschwören, wo sie ihre Verwandten und ihre Bekannt­
schaften hatten. Aber U tgard lag nun einmal sehr nahe an der
Welt der Menschen, und man wußte nie, wann diese unheilkünden­
den Wesen wieder an den Türen waren; keiner konnte sicher sein,
sich nicht eines Abends spät zerschlagen zu finden. Er war viel­
leicht besser, den Spuk rein körperlich zu binden, indem man Steine
auf ihn häufte oder einen Pfahl durch ihn stieß, oder ihn auf
irgendeine Außenschäre brachte, wo die viele Feuchtigkeit seine
Beweglichkeit hindern mußte. Aber oft genug geschah es, daß alle
Vorsichtsmaßregeln vergebens waren, wie durchgreifend sie auch
ausgeführt wurden. Dann wurde Zerstörung auf Zerstörung ge­
häuft, vielleicht wurde erst der K opf abgehauen, dann der ganze
Körper verbrannt und die Asche in die See gestreut —in der H off­
nung, so die Seele zu Atomen zu zerstäuben, die so klein wären,
daß sie faktisch nicht vorhanden wären. Aber das Aufhören des
Daseins selbst, als letzter und entscheidender Gegensatz zum
Leben, wurde nie erreicht. Gedanke und H and stießen den Gegen­
stand bis an eine gewisse Grenze hinaus und ließen ihn im Nebel
versinken; aber dieser Nebel war doch schließlich nichts als Ver­
gessenheit. Der Ruhm enthält, wie wir gesehen haben, im buch­
stäblichen Sinne die höchste Form der Seele und den stärksten
Ausdrude des Lebens, und so ist es im alten Sinne wörtlich wahr,
daß der entgegengesetzte Pol des Lebens eine tiefe Vergessenheit
ist, wo niemand mehr den Namen und die Wohnstätte des Helden
kennt.

354
Der Aufbau der Sippe

Vor diesem Hintergrund steht der alte Dichterhäuptling auf


Borg, Egil Skallagrimson, in wahrhaft tragischer Größe da, als
er über seinen ertrunkenen Sohn klagt und Ägirs Dirne heraus­
fordert, die er auf dem Vorgebirge stehen oder in der Tiefe den
teuren Leichnam furchtbar schütteln sieht. In einer Welt, wo alles
H am ingja ist, sind seine Worte von tiefer Leidenschaftlichkeit und
echter Schwermut erfüllt. Wenn das Wort titanisch über u n s r e
Lippen kommt, so denken wir an eine Herausforderung der himm­
lischen Mächte; denn titanischer Trotz ist unser höchster Ausdruck
für menschliche H ilflosigkeit; ein Titan ist in unserer Welt der,
der es auf gegeben hat, die Welt bewegen zu wollen, und sich ab­
sichtlich selbst zerstört, um zu zeigen, daß unsre Köpfe nur ge­
macht worden sind, um an dem, was stärker ist, zerschmettert zu
werden. Aber der Gegensatz zwischen unserer Welt und der, in
welcher Egil sich bewegt, tritt schärfer hervor, wenn wir den
modernen Titanen, der als ein einzelner außerhalb der Welt gegen
die tauben und blinden Mächte des Universums gestellt worden ist,
mit einem Egil vergleichen, der als Vertreter einer Welt steht, in
welcher der Mensch den Mittelpunkt bildet und die N atur mit
starken Seelenbanden an sich bindet. Es ist kein titanisches Wider­
streben, kein Trotz, kein Größenwahn, was den alten Häuptling
erfüllt, sondern die einfache Realität, daß die Ham ingja des Men­
schen groß genug ist, um die Sonne, den Mond und die ganze Welt
zu umfassen und Götter herauszufordern, ganz ohne den titani­
schen Beigeschmack von großartiger Sinnlosigkeit. Vielleicht hat
seine Verzweiflung einen modernen Beiklang; Egil gehört in eine
Zeit, in welcher die Verbindung mit der westlichen Christenheit
merkwürdige Umwälzungen in den Seelen der Menschen hervor­
rief; aber im selben Augenblick, wo die geistigen Gemeinschafts­
bande zwischen ihm und uns geknüpft zu sein scheinen, zerstreut
die Art seiner Melancholie jede Vertrautheit. Er ist heillos, weil
das Heil und die H am ingja seines Geschlechts fehl geschlagen sind;
er hat wenige hinter sich, so klingt seine Klage, und das bedeutet,

355
daß in ihm Dürftigkeit und Mangel an Stärke ist. Nicht deshalb,
weil seine Feinde Götter sind und er nur ein Mensch ist, ver­
zweifelt er. H ätte er nur H elfer genug zur Seite, würde er zu
seinem Worte stehen und den Kam pf mit den Mächten aufnehmen,
die seinen Sohn gestohlen haben.
Wenn auch alle anderen Gedanken, die von menschlichen Ge­
hirnen ausgehen, immer das beschränkende Gepräge von Zeit und
Ort tragen, sollte man doch glauben, daß wenigstens das Zahlen­
reich ein gemeinsames Feld wäre, wo Leute aller Rassen und aller
Sprachen sich treffen könnten. Und doch entfliehen wir nicht ein­
mal hier dem Babel der Kultur. Viele Verwandte und viele Kinder
zu haben, war in alter Zeit eine Lebensnotwendigkeit, eine zahl­
reiche Sippe war ein Zeichen von großem Heil. Dies klingt in frem­
den Worten so, als wäre es ganz einfach, aber was keine fremde
Sprache ausdrücken kann, ist die Intensität dieses Bedürfnisses nach
Verwandtschaft. Tacitus kann vom Germanen sagen, daß er um so
eher einem glücklichen Alter entgegensieht, je mehr Verwandte er
väterlicher- und mütterlicherseits hat. Während für den Römer
viele stärker waren als einer, ist für die germanische Vorstellung
einer von vielen an sich stärker als einer von wenigen. Wir zählen
die Zahlen zusammen, eine um die andere, und erhalten eine
Summe, unsere primitiven Vettern sehen die Zahl als etwas, das
jedem Mitglied der zahlreichen Sippe Kraft einflößt.

Nach Erledigung der Frage: Was ist die Sippe? - taucht die
nächste Frage auf: Wo ist die Sippe? Wir haben zwar den Inhalt
der Seele beschrieben, aber das Problem steht noch aus: Wie weit
erstreckt sie sich, welche Leute gehören zu ihr und welche stehen
außerhalb?
Schon manche Forscher haben mit diesem Problem in der einen
oder anderen Form gerungen, wenn sie sich auf Gebieten befanden,
wo die Bevölkerung in Stämmen und Sippen und Geschlechtern
auf sie zumarschierte. Und sie haben wohl oft genug die Sache
aufgegeben und sich mit einer Definition begnügt, die bestenfalls
die Haupttatsachen deckte und den Rest sich selber überließ. Sie
haben vielleicht mit einem Stamm zu tun gehabt oder etwa mit
einer Sippe, die durch die Bande des Blutes und durch Rache im
Verhältnis zur übrigen Welt zu einer unlöslichen Einheit verbun­
den war; und sie haben mit Bestürzung gesehen, daß dieses un­
lösliche Ganze plötzlich in zwei Teile auseinanderfiel, die einander

356
in innerer Fehde tapfer halfen, die Mannheit und das Gefühl des
Blutes am Leben zu erhalten, wenn der Friede um sie gar zu er­
drückend wurde.
Die Tatsachen werden einander fortwährend widersprechen, und
das Problem wird allen Lösungsversuchen widerstehen, solange wir
- Neueuropäer, die wir sind - davon ausgehen, daß ein solidari­
sches Ganzes in einer festen Zahl ausdrückbar sein muß, und es für
gegeben halten, daß die Familie in einer Reihe von Generationen
aufzählbar sein müsse.
Das Geheimnis der primitiven Gesellschaft ist nicht in äußeren
Formen, sondern in der Energie des Sippengefühls zu suchen. Die
eine unveränderliche Realität ist Frieden und Solidarität, und diese
Realität ist so stark, daß sie aus den Verwandten einen Leib und
eine Seele macht; aber die Ausdehnung der Seele wird nach dem
Bedarf des Augenblicks bestimmt. Einmal kann eine Körperschaft
von Männern als einheitliche Sippe handeln, ein andermal zer­
spalten sie sich in ein paar streitende Gruppen. Das Geheimnis der
Kraft, die in dem Prinzip des Friedens enthalten ist, ist nicht, daß
sie eine bestimmte Anzahl Männer erfordert, um wirksam zu sein,
sondern daß ihre Spannkraft sammelnd auf den Kreis wirkt, so­
weit die Gelegenheit ihr ein Wirkungsfeld gibt.
Es ist also nicht die Konstruktion der Seele, die den Unterschied
zwischen ihnen und uns ausmacht. Das Leben eines modernen
Menschen hat auch viele Achsen und dreht sich in verschiedenen
Kreisen. An einem Tage ist er ein Familienmensch, am nächsten
Tage Bürger seines Landes; eine Stunde handelt er als Mitglied
einer Körperschaft, in einem anderen Augenblick als sein eigenes
Ich, als ein Individuum, und seine Gedanken und Gefühle wechseln
an K raft und Inhalt entsprechend der Aufgabe, die ihm gestellt
wird. Der Unterschied zwischen modernen Individuen und den
primitiven Sippenmenschen liegt in dem Wesen der Kreise und der
Intensität des Gefühls. Im bürgerlichen Leben ist das einzelne Ich
des isolierten Individuums das stärkste und lebendigste von allen
Ichs, und alle anderen Lebensformen holen die Kraft des Gedan­
kens und die Wärme des Gefühles aus der Erfahrung der Seele,
wenn sie allein und mit ihrem eigenen privaten Glück beschäftigt
ist. Als der wahre religiöse Mensch gilt der, der sich grenzenlos um
seine eigene Erlösung bemüht und so lernt, sich für die Seelen
anderer zu interessieren. In der primitiven Kultur geht der Strom
in anderer Richtung. Der Kreis kann sich nie um eine einzelne

357
Seele zusammenziehen, und die mächtigsten Antriebe im Indivi­
duum gehen aus dem Lehen hervor, das es mit seinen Brüdern ge­
meinsam hat. Die Sympathie im bürgerlichen Menschen mag stark
und tröstend sein, aber sie ist viel zu schwach, um endgültiger
Formen zu bedürfen, und viel zu unartikuliert, um soziale Insti­
tutionen schaffen zu können; im primitiven Menschen ist die Sym­
pathie so überwältigend und so grundlegend, daß sie alle Formen
der Gesellschaft ohne Ausnahme bestimmen muß, und das Leben
in den verschiedenen Kreisen ist so intensiv, daß es sich in äußeren
Formen und Gesetzen verwirklichen wird.
D as Problem der primitiven Gesellschaft kann nicht dadurch ge­
löst werden, daß wir nach einem typischen Kern der Gesellschaft
suchen, ob nun Geschlecht, Sippe, Stamm oder Horde, und die
mannigfaltigen Formen des Daseins als Variationen oder Evolu­
tionen eines grundlegenden Systems erklären. Die Frage, die uns
gestellt war, nimmt diese Form an: wie weit hinaus wird die innere
K raft in einer wirklichen Kultur wirksam sein? Wie klein kann
der Kreis sein, und was ist seine äußerste Möglichkeit? Was kann
die Sippe enthalten, und was ist von vornherein ausgeschlossen?
Wenn wir die Wiederkehr der Namen in den Sippen beobachten,
können wir uns einen Begriff machen von der möglichen Ausdeh­
nung der Verwandtschaft, da eine Familie sich keinen Namen zu
eigen machen konnte, wenn das Recht dazu nicht durch ein geisti­
ges Bündnis begründet war. In den Gebräuchen der Namengebung,
wie sie sich in Skandinavien gestalteten, finden wir einige Andeu­
tungen der Bildungsfähigkeit der Seele. Die Sitte der Benennung
nach älteren Verwandten zeigt uns, daß in erster Linie Blutsver­
wandte in der direkt aufsteigenden Linie zu der Seele gehörten.
Oft läßt man Großvater und Urgroßvater im Kinde wiederauf­
erstehen, wenn sie vor seiner Ankunft dahingegangen sind, und mit
gleicher Häufigkeit werden die Brüder des Großvaters und des
Vaters ins Leben gerufen, sobald sie gestorben sind. Weiter wird
das Heil der Schwäger eifrig in die Sippe geholt, indem das Kind
nach seinem Muttervater, Mutterbruder oder noch ferneren Ver­
wandten mütterlicherseits benannt wird; aber die Namengebung
ist nicht auf die direkte Wiedergeburt durch die Person der Mutter
beschränkt. Die ganze H am ingja, die die verbündete Sippe be­
sitzt, steht der Familie zur Verfügung. Sehr oft erscheinen jüngere
Brüder und Schwestern des Bräutigams oder der Braut als lebende
Zeugen des Ehebundes zwischen den beiden Familien, der Vater

358
wird sich häufig seiner neuerworbenen Schwäger in Kindern er­
innern, die nach der H eirat seines Sohnes oder seiner Tochter ge­
boren sind. Und noch stärker herrscht die Neigung, Kinder nach
Leuten zu benennen, die wir als angeheiratete Verwandte zweiten
Grades bezeichnen könnten, vielleicht sogar in drittem oder vier­
tem Grad. Wenn die Verbindung eingegangen ist, nutzt die ge­
samte Sippe die Schwägerschaft als Gesamtheit aus.
D as Vatsdœla-Geschlecht bietet reiche Illustration zu dem hier
Gesagten: seine vielen Geschlechtsüberlieferungen zeigen - ob sie
nun nach unserem engeren Begriff historisch sind oder nicht - , was
die Menschen über ihre eigenen Namen dachten. Der erste Mann
des Geschlechts, der im vollen Lichte der Geschichte dasteht, ist
Thorstein, ein Norweger, der der Geschlechtsüberlieferung zufolge
eine Braut aus dem königlichen Hause Gautlands gewann. Als
Thorstein einen Sohn bekam, wünschte er gleich das Heil der gaut-
ländischen Edlen in seiner Familie zu verankern, und er nannte
den Knaben nach dem Vater seiner Frau, Ingimund. Die ursprüng­
liche Wahrheit der Familiensage wird durch diesen Namen bezeugt,
der entschieden nicht norwegisch ist, sondern einen gautländischen
K lang hat. Ingimund setzte die beiden Linien in seinen Kindern
fort. Erst gedachte er seines eigenen verstorbenen Vaters Thorstein,
d arau f ließ er Jökul, den Bruder seiner Mutter, in seinem zweiten
Sohne erstehen, und als ihm eine Tochter geboren wurde, nannte
er sie nach seiner eigenen Mutter, der gautländischen Fürstin
Thordis. Mit seinem Sohne Thorir besiegelte er seine eigene Ver­
wandtschaft mit den berühmten Jarlen von Mceri im westlichen
Norwegen; Ingimund war mit einer Tochter von Jarl Thorir dem
Schweigsamen verheiratet. Mit seinen anderen Kindern griff er
weit aus in ferne Kreise der Verwandtschaft. Durch einen isländi­
schen Zweig der Moeri-Familie wurde er mit einem vornehmen
H äuptling, Thord Illugi, verwandt, und als Ingimund ein unehe­
licher Sohn geboren wurde, nannte er ihn Smidr nach Thords Sohn,
Eyvind Smidr. Nun gehörte Thord Illugi durch seinen Vater un­
mittelbar einem weitverbreiteten Geschlecht an, das stolz war, seine
Abstammung bis zu Björn Buna, einem Gautkönig in Norwegen,
zurückverfolgen zu können, und als Ingimund noch eine Tochter
bekam, gedachte er einer Jorun aus diesem Geschlecht. Schließlich
ist sein Sohn Högni ein Zeuge der Tatsache, daß Ingimund alle
Verwandte der Nachfahren von Björn Buna zu seiner Verwandt­
schaft rechnete; denn ein Zweig jenes Hauses verband sich mehr­

359
fach mit Nachkommen eines berühmten norwegischen Königshauses
in H ördaland, von dem viele Sagen lebten, die in der H alfsaga
ein Echo finden, und in dieser Sippe war Högni der Weiße kurz
vor der Zeit, wo Island besiedelt wurde, eine hervorragende Ge­
stalt. So leitete die Vatsdcela-Familie durch eine große Zahl von
Kanälen Heil und H am ingja in die Sippe.
Aber der Kreis ist nicht mit der väterlichen und mütterlichen
Seite abgeschlossen. Auch die Familie des Stiefvaters mag einen
Vorrat an Heil enthalten, zu dem man gerne Zutritt hätte; auf
einer solchen Sitte beruht es, daß Erling Skjalgson, der eine Tochter
von Astrid und Tryggvi heiratete und dadurch mit O laf Trygg-
vason verschwägert wurde, einen seiner Söhne nach Astrids späte­
rem Manne Lodin nennt. Erlings Tochter wurde Geirthrud genannt,
und es besteht große Wahrscheinlichkeit, daß dieser Nam e, der
keine früheren Vertreter in Norwegen hat, von einer Königin
Geira hergeleitet ist, mit der O laf Tryggvason während seiner Ver­
bannung aus Norwegen in Wendland verheiratet gewesen sein soll.
So mögen auch frühere Ehen den Grund der Ehre gelegt haben,
die für sich und seine Familie zu erhalten wünschenswert erschien.
Als der Skalde H allfred sich eine schwedische Frau nahm, nannte
er ihren Sohn nach ihrem früheren Gatten und bewahrte so das
Heil des verstorbenen Schweden. Der ungestüme Isländer Glum
hatte eine Tochter, Thorlaug, die mehrere Male verheiratet w ar;
in ihrer letzten Ehe gebar sie einen Sohn, und in ihm erneuerte
sie den merkwürdigen Namen ihres früheren Gatten, der Eldjarn
geheißen hatte.
Die Namengebung würde unzweifelhaft enthüllen, daß noch
weitere Möglichkeiten für den gesunden Hunger der Seele bestan­
den, wenn nur unser Stoff umfangreicher wäre oder uns wenigstens
in gewissen Beziehungen erlaubte, eine Verbindung herzustellen
zwischen den trocknen Namensregistern und der Geschichte der
Träger. Wir können es als sicher betrachten, daß sowohl Adoption
als auch Ziehkindschaft ihre Spuren in den Genealogien hinter­
lassen haben, aber ganz sichere Fälle können kaum genannt werden.
So weit diese Möglichkeiten reichen, so weit hat die Verwandt­
schaft Bedeutung, und sobald an den Frieden appelliert wird, treten
die Männer in einer geschlossenen Schar zusammen, in welcher
keine Rücksicht auf fern und nahe genommen wird, sondern alle
einfach verwandt sind. Vor dem Gericht war der Eid des Indivi­
duums nur gültig, wenn er den Willen der ganzen Sippe in sich

360
trug, und er mußte deshalb regelmäßig von einem Kreis von Eides­
helfern gestützt werden, die mit ihrer Überzeugung die Behaup­
tung desjenigen bestätigten, der als erster schwören mußte. Hier
kann das Gesetz sich ruhig damit begnügen, so und so viele seines
Geschlechts zu verlangen und sich darauf verlassen, daß das Leben
in jedem einzelnen Falle von vornherein bestimmt hat, wer unter
diese Überschrift einzubeziehen ist, und daß der Nam e Verwand­
ter immer einen Mann deckt, der in der Eideskette seinen Platz
ausfüllen kann.
D as Wirken dieser Verwandten nach innen zeigt sehr bald, daß
sie kein lose verbundener Trupp sind, zusammengehalten bloß von
einem schwachen Gefühl des Gegensatzes zu allen anderen. Die
Einheit, die sie bilden, hat genügend praktische Festigkeit, um die
Funktionen eines sozialen Organismus auszuüben. Wenn es sich
darum handelt, das Leben für einen Minderjährigen zurechtzu­
legen oder eine Frau aus der Familie zu verheiraten, da tritt einer
aus der Sippe als Träger der Verantwortlichkeit hervor, nämlich
der natürliche Vormund oder, wenn dieser ausfällt, dann der
nächste in der Verwandtschaft - nach dem Vater der Sohn, dann
der Bruder und so weiter bis zu den entfernteren Verwandten, wie
nun eben die Regel lautet. Aber hinter dem Individuum entdecken
wir meist einen geschlossenen Männerkreis, und wir finden ständig
in den Andeutungen der Gesetze, daß die Verwandten aus dem
Dunkel hervortreten und sich bei allen wichtigen Unternehmungen
nicht nur als interessierte Teilnehmer zeigen, sondern auch Achtung
vor ihrer Teilnehmerschaft fordern. Wenn angedeutet wird, daß
Mündel bei den Verwandten Schutz gegen Übergriffe seitens des
Vormundes suchen können, oder daß die Sippe einschreiten kann,
wo es sich zeigt, daß ein Vormund plündert anstatt zu schützen,
da ist dieses vorbeugende Gesetz nur ein blasses Überbleibsel aus
einer Zeit, wo die Sippe die Vormundschaft ausübte, und das Indi­
viduum, sogar der Vater selbst, nur als der Vertreter und das
Werkzeug der Verwandten wirkte. Die Angelsachsen geben der
vollen Wirklichkeit Ausdruck, wenn sie bei der Verlobungsfeier
die Verwandten der Braut und des Bräutigams einander gegen­
überstellen, sozusagen als verhandelnde Parteien, die mit einem
Munde alles versprechen, was versprochen werden soll, und gleich­
zeitig eine Person einzeln aussondern, die als Obmann für die
Partei einsteht.
In der Sache nun, die die Seele der Sippe in die stärkste Be­

361
wegung versetzte, in der Sache von Lebensverlust und ‘Wiederauf­
richtung, werden alle zu einem verschmolzen, soweit der Friede
noch den geringsten Einfluß auf die Gedanken der Menschen hat.
In den isländischen Alltagsschilderungen ist das lebendige Gefühl
noch handgreiflich als wirksam zu erkennen; der einzelne fühlt
den R uf, einen günstigen Augenblick im Fluge zu ergreifen, ohne
erst lange nahe oder ferne Verwandtschaftsbeziehungen nachzurech­
nen. Hier und da finden wir Sippenversammlungen erwähnt, wo
ein Leiter der Rache mit dem vollen vereinigten Willen des Ge­
schlechts als seiner Vollmacht ausgestattet wird, um die Verant­
wortung zu übernehmen, daß die Sache zu einem befriedigenden
Abschluß gebracht wird; und ob nun eine solche Sitte in früheren
Zeiten durchaus allgemein war oder nur eine Form unter anderen,
sie entsteht jedenfalls direkt aus dem Sippengefühl. Andererseits
fällt die Wahl unter normalen Bedingungen immer auf denjenigen,
der durch Geburt für das betreffende Recht und die betreffende
Pflicht zunächst in Frage kommt, der als Sohn zu Vater, Vater zu
Sohn oder Bruder zu Bruder mit dem Getöteten verwandt war.
Die Verantwortlichkeit der Verwandten nimmt an Gewicht zu, je
näher sie dem Zentrum stehen, wo der getötete Mann liegt. So
schwierig es auch sein mag, eine gemeinsame, unbedingte Verpflich­
tung mit einer Rangabstufung an Verantwortlichkeit für den ein­
zelnen Mann oder eine kleine Gruppe zu verbinden, so lange man
die Welt vom Standpunkt des Individualismus oder aus dem Kreis
des Kommunismus betrachtet: für den, der sein Leben in einer
H am ingja lebt und unter sozialen Verhältnissen, die aus deren
K raft geschaffen worden sind, für den fallen die beiden Tatsachen
gut zusammen.
In Sachen, die für die Sippe solche Bedeutung hatten wie H eirat
oder Vormundschaft oder Rache, war eine bestimmte Unterschei­
dung notwendig, um die auszuschließen, die nicht betroffen waren,
und diese Bestimmung ist überall bei den Germanen in dem ein­
zigen Wort enthalten: Verwandte - nicht mehr und nicht weniger.
Keine anderen Wörter, wie sorgfältig sie auch umschrieben werden
mögen, könnten genauer ausdrücken, welche Personen betroffen
waren, oder welche Personen die Verantwortlichkeit fühlten, weil
die Qualifikation auf einem inneren Gemeinschaftsgefühl beruhte
und nicht auf einem Aufzählen von Verwandtschaftsgraden. D as
Leben würde in jedem bestimmten Fall die Männer bezeichnen, die
Verwandte des Verstorbenen oder des Unmündigen waren.

362
Wenn wir dazu übergehen, den Aufbau der Sippe im einzelnen
zu erörtern, können wir, wie es scheint, nichts Besseres tun, als die
Regeln über Zahlung und Entgegennahme des Wergeides zum Füh­
rer zu nehmen. In Norwegen bestand die Buße für Mannestötung
hauptsächlich in drei „Ringen“ . Der erste Ring wurde vom Toter
an die nächsten Verwandten des Getöteten gezahlt: Sohn und
Vater. Der zweite wurde Bruderring genannt, mit ihm wurde die
Kränkung an den Bruder des Erschlagenen gebüßt; seine Beschaf­
fung war auch eine Bruderangelegenheit im Kreis der Angreifer;
mit dem dritten zahlten die beiden Vetternkreise, die Vaterbrüder­
söhne, einander. Die Bedingungen deuten noch auf eine Zeit, wo
Ringe die gewöhnliche Form der Werteinheit waren. Mangel an
Vertretern der einen oder anderen Gruppe beeinflußte die Buße
nicht; das Recht zu empfangen und die Verpflichtung zu zahlen
würde in einem solchen Fall auf einen der anderen übergehen, so
daß, um einen äußersten Fall zu setzen, der Töter selbst alle drei
Ringe zahlte und der Erbe die ganze Buße empfing. Zahlung der
drei Ringe war indessen nicht genug, um den Toter und seine näch­
sten Verwandten von ihrer Verpflichtung zu lösen; vor ihnen stan­
den noch drei weitere Klassen von Verwandten, deren jede eine
Buße für den erschlagenen Verwandten verlangte: von den Graden
über den Vettern und unter den Brüdern - Oheimen und Neffen,
auf der männlichen Seite - verdünnten sie sich durch Mutterbrüder
und Schwestersöhne bis zu entfernten Verwandten auf beiden Sei­
ten. Und wenn alle diese Empfänger die größeren oder kleineren
Bußen genommen haben, die ihnen von den Ringmännern zustan­
den, können sie noch auf verschiedene Geschenke von den ent­
sprechenden Kreisen in der Sippe des Töters rechnen. Erst wenn
dieses ganze Netz von Bußen durch die Sippe gezogen worden ist,
wird der Friede gegenseitig erklärt.
In Dänemark stehen der Töter und der Sohn des Getöteten sich
Angesicht zu Angesicht gegenüber, und ihre väterlichen und müt­
terlichen Verwandten bilden auf beiden Seiten eine geschlossene
Schar. Die Buße wird in drei gleiche Teile geteilt, und von diesen
zahlt der Töter oder sein nächster Verwandter für ihn einen Teil,
die beiden anderen gehen von und zu den beiden Seiten der Sippe;
und auf der Versammlung der Verwandten werden die Verpflich­
tungen in kleinere und kleinere Ansprüche geteilt, wie allmählich
die Verwandtschaft immer dünner wird. Die beiden Seiten ant­
worten jede für sich; solange ein einziger Mann auf der väterlichen

363
Seite übrig ist, haben die mütterlichen Verwandten keine Pflicht,
mehr als ihren eigenen Teil des Blutgeldes zu zahlen; wenn aber
der Zweig ganz ausgestorben ist, dann müssen die anderen die
doppelte Last tragen. Und sollte es geschehen, sagt Eriks Gesetz in
sicheren, altertümlichen Worten, daß keine Verwandten auf der
mütterlichen Seite zu finden sind, und der von dem Erschlagenen
Gezeugte unfrei oder außerhalb des Landes ist, so daß niemand
seinen Stamm kennt, und wenn die Sippe des Vaters einen Teil ge­
nommen hat und noch einen dazu, da soll ihr Verwandter nicht
unbezahlt bleiben, wenn er ein freier Mann war, denn er soll voll­
auf gebüßt werden - und die Verwandten auf der väterlichen Seite
nehmen alle die Bußen. Auf der endgültigen Friedensversammlung,
wo der Toter den ganzen Betrag der Buße in Anwesenheit seiner
Verwandten und der Familie des Getöteten zahlte, versprach ihm
der führende Mann mit zwölf seines Geschlechts vollen Frieden
und volle Sicherheit.
Das entsprechende System, das bei den Franken Brauch war, ist
leider in den Gesetzen nicht klar ausgedrückt. Was geschah, wenn
alles ging, wie es sollte, das wußten alle zur Genüge, und man
hielt es nicht für nötig, solche Selbstverständlichkeiten in das Ge­
setzbuch einzutragen. Was aber in dem Falle eines armen Kerls
geschehen sollte, der nicht das geringste hatte, womit er zahlen
konnte, das war etwas, was Niederschrift verlangte - und das ist
infolgedessen alles, was wir erfahren. Unsere Stellung ist also die­
jenige von zufälligen Zuschauern bei einer nur im äußersten Falle
stattfindenden Handlung; als Zuschauer müssen wir uns unsere
eigenen Schlüsse über den gewöhnlichen Verlauf des Lebens bilden,
indem wir beobachten, was die Leute als dringlichstes Tun betrach­
ten, wenn die Sache einen gefährlichen Stand erreicht hat. D er
Paragraph des Gesetzes führt uns direkt zu einem Auftritt, wo ein
Toter seinen ganzen Besitz in die Waagschale geworfen hat, ohne
die Buße damit leisten zu können; er geht dann feierlich in An­
wesenheit seiner Verwandten in sein Haus, nimmt eine H andvoll
Erde und wirft sie auf seinen nächsten Verwandten, womit er die
Verantwortung von sich auf einen anderen, der sie tragen kann,
abwirft. Dann nimmt er selbst den Stab in die H and und springt
über den Zaun, so daß alle sehen, wie entblößt er ist. Wenn sein
Väter und seine Brüder schon alles geleistet haben, was sie leisten
konnten —und das Gesetz scheint vorauszusetzen, daß sie das ge­
tan haben - , dann fällt die H andvoll Erde auf den Nächsten

364
außerhalb ihres Kreises und kann so die Reihe entlang gehen: drei
Verwandte auf der väterlichen und drei auf der mütterlichen Seite,
jeder natürlich Vertreter eines Zweiges der Familie. Wenn alle ge­
nötigt gewesen sind, sie liegen zu lassen, soll der Toter auf dem
Thing ausgeboten werden, damit der oder die, die eine Verpflich­
tung ihm gegenüber fühlen, hervortreten können, und nicht bevor
er dreimal auf dem Gesetzesthing schweigend empfangen worden
ist, hat er sein Leben verwirkt als einer, der seine Buße nicht
leisten konnte.
Wir stehen als Zuschauer staunend da. D a die alten Franken in
diesem Stück nicht auftraten, um uns eine Freude zu bereiten, son­
dern um ihrer selbst, um ihres eigenen bescheidenen Vergnügens
willen, haben sie vieles im Dunkeln gelassen, ohne auch nur in
einem Aparté dem Zuschauer eine kleine Erklärung zu geben. Ob
das Gesetz nun voraussetzt, daß der Toter die ganze Buße zahlte,
oder ob es sein eigener Ring war, den er nicht beschaffen konnte,
und deshalb seinen Verwandten überlassen mußte —darüber mögen
die Zuschauer, wenn sie Lust haben, den Rest ihres Lebens disku­
tieren. In einem Satz wird uns aber in klaren Worten gesagt, daß
die Buße in zwei gleiche Teile geteilt wird, von denen der eine an
den Sohn, der andere an die Verwandten geht, weiter, daß diese
Verwandten durch je drei auf der väterlichen und mütterlichen
Seite vertreten sind, und daß die drei das ihnen Zustehende in
immer kleinere Teile teilen, je nach der Nähe der Verwandtschaft.
Ein Verwandter hat kein Recht, ohne auch eine entsprechende
Pflicht zu haben - oder einmal eine solche gehabt zu haben.
Zwischen dem Norweger, der mit seinen Verwandten dasitzt
und die Beträge in Bruchstücken von Ringen und Bruchstücken
von Verwandtschaft berechnet, und dem Franken, der seinen letz­
ten Sprung über die Türschwelle macht, fort von Haus und Heim,
ausgezogen bis auf das Hemd, ist der Unterschied größer, als die
äußeren Umstände zuerst anzeigen. Aber die nationalen Eigen­
tümlichkeiten können nicht die tiefe Übereinstimmung im wesent­
lichen verbergen. Und das erste, was dem Beobachter auffällt, ist
wohl die gegenseitige Verantwortlichkeit. Die Geometrie der Buß­
berechnung bei den Norwegern bezeugt scharfe Köpfe - und sicher
beweist sie außerdem einen starken Drang, Familieneinheit gegen
Familieneinheit zu sehen und zu fühlen; auf jede mögliche Weise
werden die verschiedenen Grade bei Buße und Gegenbuße mit­
einander verglichen, Klasse gegen Klasse und Mann gegen Mann.

365
Die Verwandten sind in Gruppen geteilt, und die Verantwortung
fällt nach der Klasse; aber über aller Einteilung steht die gemein­
same Verantwortung. Die Buße muß beschafft werden, und wenn
die eine Seite wegfällt, müssen die anderen eintreten und die
Lücke ausfüllen; wenn ein Glied in der Kette der Verwandtschaft
fehlt, so fällt die Last auf das nächste; das volle Gewicht kann auf
die Verwandten hinüberrollen, wenn der Täter selbst nicht zu
zahlen vermag, und es kann von einem leeren Platz unter den
Verwandten auf den Töter selbst zurückfallen. So wie eine ein­
zelne Seite oft ein Mehropfer leisten muß, so soll sie auch als
Empfänger jeden nicht beanspruchten Teil erhalten; denn der
wichtigste Punkt ist der, daß für den gefallenen Mann voll und
richtig gebüßt werden soll — „denn ihr Verwandter soll nicht un-
gebüßt sein, wenn er ein freier Mann war, es soll volle Buße
gezahlt werden für ihn“ , um noch einmal den gewichtigen alter­
tümlichen Satz im dänischen Gesetzbuch anzuführen. Einen merk­
würdigen Hinweis auf die Ehre, die dem Getöteten seitens der
Familie des Töters zustand, gibt das Gesetz von Gotland. Auf
dieser Insel hatten sich die Menschen in christlichen Zeiten drei
Kirchen als Zufluchtsstätten Vorbehalten, und „wenn es geschieht,
daß der Teufel am Werk ist, und ein Mann einen anderen tötet,
soll der Toter flüchten mit Vater, Sohn und Bruder und in dem
Heiligtum Zuflucht suchen, aber wenn sie nicht leben, müssen ihre
Plätze von anderen Verwandten ausgefüllt werden“ . Alle müssen
die Rache tragen, solange irgendein Teil von dem, was fällig ist,
ungezählt bleibt, das ist das grundlegende Prinzip bei allen Ger­
manen, ein Prinzip, das seine Stärke offenbart, wenn es Könige
und Prälaten zwingt, ihm in Urteilen und Verfluchungen endlos
zu widersprechen.
Erst auf dem Hintergründe dieser elastischen Einheit kommen
die juristischen Einschränkungen, die sich hier und dort finden, zu
ihrem Recht. Man bedurfte oft, jedenfalls in späteren Zeiten, einer
Bestimmung darüber, wo die Verwandtschaft aufhören sollte, wie
auch einer Grenze, innerhalb welcher man sicher war, verantwort­
liche Männer zu treffen. Wenn man dann drei Verwandte väter­
licher- und drei mütterlicherseits als den festen Stock im Gegen­
satz zum freiwilligen aufstellte, oder man den dritten Grad oder
den siebenten Mann als äußerste Punkte bestimmte, traf man
natürlich die Entscheidung, wie das Leben sie zurechtlegte: man
suchte die Stelle aus, wo die Verwandtschaft gewöhnlich verebbte,

366
oder wo sie sich zu einer weiteren Persönlichkeit verflüchtigte, die
nur unter einem größeren Druck der umgebenden Welt mitemp­
funden wurde. Einen interessanten Wink gibt es in einem dänischen
Gesetzbuch: der Teil der Buße, der von jedem Verwandten zu
zahlen ist, wird gewöhnlich für jeden G rad, den der Büßer vom
Toter entfernt ist, halbiert, aber der Teil kann sich nicht auf einen
niedrigeren Betrag als einen ö rtu g verkleinern (das Drittel einer
Unze) - so wird die Frage nach den Grenzen der Verwandtschaft
durch eine geschickte Erfindung automatisch gelöst. Eine lose A uf­
zeichnung des Faktischen, mehr können die Gesetze nicht werden;
vieles, was in der Wirklichkeit der Gesellschaft einen mehr als nur
oberflächlichen Stempel auf drückte, kommt im Durchschnittsschema
der Gesetze nur mit knapper N ot zu Worte. Durch einen Zufall
hat das Edikt der Langobarden die Ziehbrüder unter denen mit
auf gezählt, die einen Eid ablegen können; vermutlich wurde die
Solidarität der Freundschaft besonders hervorgehoben, um die
Geschlechtsbande zu stärken, die bei den Langobarden im Begriff
waren, sich zu lockern; aber obschon die Verordnung vom Eifer
der Gesetzgeber beeinflußt ist, das alte Rechtssystem, das Eides­
helfer erforderte, aufrechtzuerhalten, ist sie doch nicht weniger
bedeutsam als Zeugnis für die in früheren Zeiten innige Ver­
bindung der Schwurbrüder mit der Sippe. Aus Island wissen wir,
daß die H ilfe der Ziehbrüder in gewissen Racheangelegenheiten
beansprucht wurde, und es stimmt also mit dem alten Geiste über­
ein, wenn ihnen in gewissen norwegischen Systemen ein Recht
zugesichert wird, Buße zu empfangen. In den christlichen Zeiten,
als die Taufe eine innige Verwandtschaft zwischen Paten und
Patensohn schuf, trat diese geistige Verwandtschaft in Recht und
Pflicht des alten Brauches ein; jedenfalls war in England der Pate
berechtigt, Wergeid für seinen Patensohn zu empfangen. In der
Wirklichkeit war die Grenze viel zu schwankend, als daß sich
irgendeine gesetzliche Bestimmung damit hätte befassen können,
ohne sich selbst aufzulösen.
Aber mitten im großen Kreise bemerken wir bald eine kleinere
Gruppe von Menschen, die sich stets geschäftiger bewegt als die
Umgebung: einerseits der Töter und sein H aus, andererseits die
Erben. Wenn auch der nächste Verwandte von außen an die Stelle
des Töters treten und „seine A xt aufheben“ muß, wenn er selbst,
sein Vater und seine Brüder wegfallen, so kann doch die stell­
vertretende Pflicht nicht das Bild einer kleineren H am ingja ver­

367
wischen, die der Verwandte in erster Linie als seine Seele emp­
findet, in welcher er gewöhnlich lebt, sich bewegt und sein Dasein
hat. In diesen Seelenkern sind die einbezogen, die wir die näch­
sten Verwandten nennen würden, aber auch dieser innere Kreis
war nicht immer oder überall derselbe. In diesem Punkte können
die Regeln für Zahlung von Wergeid nur ein grobes Bild geben,
und die einzige Art, die Gesetze psychologisch zu verwerten, ist
die, das Hauptgewicht auf die Abweichungen zu legen. In Däne­
mark und auch in den südlicheren Ländern, soweit wir nach den
spärlichen Andeutungen der Quellen urteilen können, ist es eine
familienartige Gruppe, Vater, Sohn und Bruder, die im Zentrum
steht; auf norwegischem Gebiet sieht es eher so aus, als ob sich die
Seele quer durch die Sippe zöge. Das stärkste Licht fällt auf Sohn,
Bruder und Vetter. Die Gesetzesmänner des Frostathings nehmen
sogar Vaterbruder und Brudersohn mit Vetter und Vetterssohn
mit in die engere Gemeinschaft hinein und reichen so den Angel­
sachsen die H and, die jedenfalls den Vaterbruder als eine H aupt­
stütze in der Familie betrachteten. Es kann wiederum geschehen,
daß Vater und Sohn bis zu einem gewissen Grade den Bruder in
den Schatten stellen, und an anderer Stelle steht der Bruder als
ein besonders naher Verwandter auf, der für den bedeutungsvollen
zweiten Ring einsteht.
In diesem engen Kreis meint man die Wirkung des täglichen
Zusammenlebens im D am pf des gemeinsamen Kochkessels und im
Rauch des gemeinsamen Herdes zu spüren. Es würde eine glatte
Theorie geben, wenn die Großsippe das Paar von Häusern ver­
träte, die mit dem Rücken gegeneinander standen, um Sturm und
Wetter besser zu überdauern. Aber nirgends gibt es bei den Ger­
manen ein System von so großartiger Einfachheit. Die Gefährten
fanden einander in der Schlacht und ordneten sich nach Stamm
und Verwandtschaft, heißt es, und wer glaubt es nicht? Und daß
das Geschlecht lokal einigermaßen zusammenhielt, auch in jenen
rastlosen Zeiten, wo das Volk im Lande hin und her gespült wurde
und nicht jede Gruppe an ihrem eigenen Ort festsaß, das ist mehr
als wahrscheinlich; Cäsar erzählt ja von den Sueben, daß sie jedes
Jah r die Äcker wechselten, und ihre Obrigkeit teilte Stämmen und
Geschlechtern ihr jährliches Los nach eigener, höherer Weisheit zu.
Niemand, der sich in Cäsars Lage versetzen kann, als er diese
Menschenscharen beobachtete, wird darauf kommen, diese Worte
als Zeugnisse zu nehmen, die sich auf eine Untersuchung des

368
Familienverhältnisses innerhalb der einzelnen Gruppen gründen,
und niemand wird es wagen, aus solchen allgemeinen Worten zu
schließen, daß die lokalen Linien irgendwo genau mit den Ge­
schlechterlinien zusammengefallen waren.
Natürlich hatte die Struktur der Seele ihr Gegenstück in der
sozialen Ordnung. Es ist kein Zweifel, daß das Sippengefühl
gewöhnlich nachbarliche Sympathie als eine verstärkende Kraft
voraussetzte, und gewiß war das Zusammenleben im Hause wäh­
rend des Auf Wachsens auch ein mitwirkender Faktor, und zwar
ein sehr starker. Aber gewohnheitsmäßige Kameradschaft genügt
nicht, um die Seeleneinheit zu erklären, die zwischen Verwandten
bestand; und auch die Kraft des Friedens ist in ihrer Stärke nicht
vom täglichen Verkehr abhängig. Wenn Männer eine Freundschaft
von absoluter Solidarität schlossen, besiegelten sie ihren Bund,
indem sie versprachen, „zu handeln und zu rächen, als wären sie
Sohn oder Bruder“ . Diese alte und bedeutungsvolle Wendung
muß durch einen anderen altertümlichen Spruch von zwei Freun­
den ergänzt werden, die miteinander durch dick und dünn ge­
gangen waren, „als wären sie von zwei Brüdern gezeugt“ ; in
diesen Worten schwingt eine Erfahrung, die nicht notwendig mit
dem Gefühl zusammenfällt, miteinander aufgewachsen zu sein.
Die innerste Lebensgemeinschaft war eben nicht darauf beschränkt,
von einem gemeinsamen Vater abzustammen. Die Regeln für Zah­
lung von Wergeid zeigen zum Überfluß, daß einige der Verwand­
ten der Mutter, besonders vielleicht ihre Brüder, aber auch ihr
Vater und die Söhne ihrer Brüder und Schwestern, einen Kreis
sehr nahe am Zentrum bildeten, und jede Vermutung, daß die
Verwandten mütterlicherseits ihren Platz späteren Veränderungen
in der Familie verdankten, widerspricht dem vereinten Zeugnis
des Lebens und der Gesetze. Jeder, der wohl bewandert ist in der
Geschichte und Literatur der Germanen, wird wissen, wie der
A ufruf in N otfällen unmittelbar an die Verwandtschaft der Mutter
ergangen ist, und wie bereitwillig diese Freundschaft ihren Ver­
wandten zu H ilfe gekommen ist. Die Solidarität wird von vielen
Sagen bestätigt, wenn zum Beispiel der Held zu dem Bruder seiner
Mutter geschickt wird, um guten R at zu holen, oder wenn seine
Rache für den Vater seiner Mutter zur H auptaufgabe seines Lebens
gemacht wird, zu der Tat, die ihn als Ehrenmann bezeichnen soll.
Dasselbe wird auch in Sprichwörtern angedeutet, wie zum Beispiel
in der Behauptung, daß ein Mann seinen Mutterbrüdern am mei-

369
sten gleicht. Schon Tacitus hat das verstanden, wenn er sich ver­
anlaßt sieht, die Beobachtung einzuschieben, daß eine besonders
warme Anhänglichkeit zwischen Oheimen und Schwestersöhnen
besteht.
Die Sippe ist keine vergrößerte Familie, aber andererseits ist
jede Theorie, die die Gruppe von Vater und Söhnen als unbedeu­
tend betrachten möchte, von Anfang an unhaltbar.

370
Genealogie

Der gründlichste Versuch, die Verwandten in ein umfassendes


System einzuordnen, wurde in Norwegen gemacht. In seinen
Regeln für Zahlung des Wergeides teilt das Gulathing-Gesetz die
Betroffenen in drei Gruppen von Männern, von denen jede einen
der Hauptringe zahlen oder empfangen muß; aber zu diesen
Ringmännern kommen noch drei Klassen von anderen Verwand­
ten, die Empfänger genannt werden -u p p n ám am en n —, weil sie
gewisse Sonderbußen beanspruchen können. In der ersten Gruppe
der Empfänger sind solche vereinigt wie Vater-Bruder, Bruder-
Sohn, Mutter-Vater, Tochter-Sohn; die zweite Gruppe setzt sich
zusammen aus Bruder-Tochter-Sohn, Mutter-Bruder, Schwester-
Sohn und Vetter durch Vater-Schwester und Mutter-Bruder, und
schließlich treffen sich in der dritten Gruppe Mutter-Schwester-
Sohn, Vettern-Sohn, Vater-Vetter, Mutter-Mutter-Bruder und
Schwester-Tochter-Sohn. Getrennt von diesen Empfängern gibt
es noch einige Parteien, die zu der Sache zugezogen werden kön­
nen und sa k a u k a r genannt werden, einzubeziehende Empfänger;
zu ihnen werden gerechnet der Sohn und der Bruder, deren Müt­
ter unfrei waren, und Halbbrüder, die dieselbe Mutter haben.
Aber die Aufzählung ist noch nicht vollständig. Das Gesetz fügt
noch eine neue Gruppe hinzu, bestehend aus Männern, die durch
H eirat mit der Sippe verbunden sind; der Mann, der die Tochter
eines Mannes hat, der seine Schwester hat, weiter Stiefvater und
Stiefsohn, Schwurbruder und Ziehbruder.
Diese Tabellen sind kompliziert genug, um ein Schwindelgefühl
in einem modernen Kopfe zu erzeugen, der nicht gewohnt ist,
Familienrechnungen über Größen mit zwei oder drei Faktoren
hinaus zu verfolgen. Welcher Trost ist es da, sich bei den weniger
erfindungsreichen Brüdern der Norweger niederlassen zu können
mit der Überlegung, daß gekünstelte Systeme ihren Ursprung in
gekünstelten Formen haben müssen. Aber Einfachheit - das heißt
etwas, was für den Bau u n s e r e r Gehirne angenehm ist - ist
leider doch kein unfehlbares Kriterium für hohes Alter. Kompli-

371
kationen entstehen auch, wenn ein Zusammengesetzes Gefühl, das
in praktischen Dingen immer sicher geht, alle seine instinktiven
Bewegungen in Zahlen ausrechnen soll und mit sich selbst kämpft,
bis es staunend vor seiner eigenen Unergründlichkeit steht.
Bevor wir die norwegischen Gesetzesmänner bezichtigen, daß sie
modernen Tendenzen huldigen oder Neuerungen vornehmen, müs­
sen wir feststellen, daß sie durch ihren Scharfsinn ein System
geschaffen haben, das dem alten Sippengefühl widerstrebt und ein
modernes Familienbewußtsein zeigt, aber ihre Regeln für die
Verteilung der Bußen sind wiederum besonders dazu geeignet, alle
diese Leute in Kategorien einzuordnen, die jede Berechnung nach
Linien und Graden durchkreuzen. Sie werden in Herden gesam­
melt - Vater-Bruder, Bruder-Sohn, Tochter-Sohn, Mutter-Vater
für sich, Mutter-Bruder, Bruder-Tochter-Sohn, Schwester-Sohn für
sich - in Gruppen, die gewiß nicht zu dem Zwecke erfunden sein
können, die Nähe der Vewandtschaft nach unseren genealogischen
Prinzipien anzugeben. Es sollte uns beruhigen, daß die Gesetzes­
sprecher an anderer Stelle, nachdem sie sich bemüht haben, die
Regeln der Erbschaft in ein ordentliches System zu bringen, mit
einem resignierten Appell an die individuelle Beurteilung des ein­
zelnen Falles schließen: Im übrigen muß jeder versuchen, es selbst
herauszubekommen, „so mannigfaltig sind die Wege der Ver­
wandtschaft unter Menschen, daß niemand für alle Erbschaft
Regeln machen kann, in jeder neuen Sache muß geurteilt werden,
wie es ihrem Wesen nach am besten erscheint“ . Die Gruppen­
ordnung ist unzweifelhaft auf einem Prinzip gegründet, das in
der Denkart der Germanen weite Voraussetzungen besaß.
Es ist offenbar, daß hier ein Mann am Werke ist, der kämpft,
um widerspenstige Gedanken in ein System zu bringen, das nicht
für diese gemacht war. Und das ist in höherem oder geringerem
Grade die Schwierigkeit bei allen germanischen Gesetzen, daß sie
den Versuch machen, Sippengefühl umzusetzen in ein Aufzählen
von Verwandten nach Graden und Generationen, das dem ein­
heimischen Denken fremd war. Die römische Zivilisation ließ die
Geschichte wie Zweige oder Äste auf Familienbäumen wachsen,
und für die Beziehungen von Menschen zueinander hat sie nur die
eine Formel anerkannt: Vater zeugte Sohn, und Sohn zeugte
Enkelsohn. Die Isländer lernten die Kunst, chronologische Gedichte
und Stammbäume zu machen und wurden sogar Meister auf die­
sem Gebiete, denn ihre Gedanken waren außerordentlich geschärft

372
durch den Umsturz aller Familienangelegenheiten, den ihre Aus­
wanderung mit Kind und Kegel in ein neues Land verursacht
hatte, und sie waren durch den engen Verkehr mit Leuten von den
westlichen Inseln sehr aufgeklärt. So kommt es, daß die Familien­
geschichte nach der Kolonisation Islands ein System von klaren
genealogischen Linien darstellt, während vor dieser Begebenheit
alle Geschichte in einem anderen Geiste ersonnen und in „M ythen“ ,
wie wir die uns fremde Form nennen, ausgedrückt wurde. A uf
der Auswandererinsel wußte der einfachste Bauer jede Kleinigkeit
seiner Herkunft durch Abstammung und H eirat von der ersten
Siedlung im Lande an, wogegen sehr wenige unter den ersten
Siedlern selbst mehr als ihren Großvater kannten, und alle her­
vorragenden Gestalten der Geschichte mit einem Vater oder höch­
stens mit einem Großvater eingeführt werden.
Sogar in der königlichen Familie selbst vertritt H arald Schön­
haars Vater den Anfang der Geschichte. H aralds Zeitgenosse, der
mächtige Ja rl auf Moeri, hat kaum mehr als gerade noch einen
Großvater; dasselbe gilt für Jarl H akon auf H ladir, während sein
gefährlichster Gegner, Ja rl Atli auf Gaular, in der Geschichte nur
als Sohn seines Vaters eingetragen ist. Der am edelsten geborene
von allen ersten Ansiedlern auf Island, Geirmund, dessen Vor­
fahren mit vollem Recht Könige waren, mußte in der Geschichte
bloß als Sohn von H jör weiterleben. Alles, was hinter diesen zwei
oder drei vorgeschichtlichen Generationen steht, ist Mythos. Und
während die isländischen Bauern mit ihrem Geschlechterstolz sich
in bezug auf die wissenschaftliche Genauigkeit ihrer Berechnung
zu Führern Europas aufwarfen, finden wir in Norwegen keine
große Änderung der genealogischen Begriffe der Menschen; noch
im elften und zwölften Jahrhundert sehen wir vornehme Familien
merkwürdig unvermittelt in die Geschichte eintreten.
„Ein Mann hieß Finnvid der Findling; er wurde in einem
Adlernest entdeckt, in seidene Tücher gewickelt. Von ihm stammt
das Geschlecht ab, das der Arnunga-Stamm heißt. Sein Sohn war
Thorarin Bullibak, sein Sohn Arnvid, der der Vater von Ja rl
Arnmod war. Er ist der Stammvater der Arnmoedlinge.“ Das ist
die einfache Genealogie von norwegischen Großen im 11. Jah r­
hundert. Gewöhnlich führen die Stammbäume durch ein paar
Glieder zu einem Grabhügel, wie zum Beispiel von Bardi, dem
Fürstensproß, der in Bardistad begraben war, oder Ketil, der in
Vinreid liegt. Genau dieselbe Eigentümlichkeit findet sich in den

373
angelsächsischen Überlieferungen von den Ahnen der königlichen
Stämme in Großbritannien.
Es wuchsen in den Gehirnen der Engländer oder Isländer nicht
plötzlich neue Organe heran. Sie hatten von H aus aus gelernt,
der Vergangenheit treu zu sein und sie dauernd lebendig zu er­
halten; sie formten nur die alte Überlieferung auf neuer Grund­
lage um. Audi früher hatten Menschen ihre Familiengeschichte
gepflegt und sie von Generation zu Generation weitergereicht,
aber in einer Form, die mit der Betrachtung der Zeit als einer
Ebene übereinstimmte und die Seele als immer anwesend ansah.
Glücklicherweise brauchen wir nicht unsichere Spekulationen
darüber anzustellen, wie die Nordländer ihre Abstammung be­
rechneten, bevor sie die Genealogien des Südens kennenlernten.
Unter den literarischen Hinterlassenschaften Skandinaviens finden
sich ein paar Gedichte, die uns als Zuhörer in den Kreis der
Häuptlingshalle einführen, wenn seine mächtige H am ingja ge­
priesen und seine Ahnen auf gezählt wurden. D as H yndluljód der
Edda ist gewiß, so wie es dasteht, nicht reines Familiengut; es ist
von einem Dichter überarbeitet worden, der in den poetischen
Fertigkeiten der Wikingerzeit bewandert gewesen ist, und er hat
es durch einige Hinzufügungen aus der mythologischen Schatz­
kammer verschönert. Aber die Zutaten berühren nur den äußeren
Rahmen des Gedichtes; der Kern ist ein norwegischer Familien­
stammbaum, wie man sie in der väterlichen H alle vorzutragen
pflegte. In der Mitte des Gedichts steht ein junger Edeling namens
O ttar, der offenbar einem vornehmen Geschlecht in Westnorwegen
angehört, und die Worte lauten ein wenig verkürzt so:
„O ttar war gezeugt von Innstein und Innstein von A lf dem
Alten, A lf von U lf, U lf von Sæfari, Sæfari von Svan dem Roten.
Der Nam e deiner Mutter war H ledis; eine Frau mit köstlichen
Ringen und Halsschmuck war sie, die dein Vater als sein hoch­
geehrtes Weib nahm. Ihr Vater war Frodi und ihre Mutter Friaut;
dieses ganze Geschlecht wurde zu den Großen gerechnet.
Früher lebte Ali, der reichste der Männer, und noch früher
H alfdan , der Höchste unter Skjoldungen. Alle wissen von den
großen Schlachten zu erzählen, die der kühne H eld schlug.
Er verband sich mit Eymund, hoch verehrt unter den Männern,
und tötete Sigtrygg mit kalter Schwertschneide; er führte Almveig
heim, hoch an Wert unter Frauen; achtzehn Söhne wurden diesem
Paar geboren. Von ihnen stammen Skjoldunge, von ihnen Skil-

374
finge, von ihnen Audlinge und Ynglinge; von ihnen stolze Bauern,
von ihnen Häuptlinge - sie alle sind dein Geschlecht.
Hildigunn war ihre Mutter, Tochter von Svafa und Sækonung
- sie alle sind dein Geschlecht. Merk es dir wohl, es bedeutet viel,
daß du dies weißt, und höre jetzt noch mehr.
D ag heiratete Thora, Mutter der Helden, in dem Geschlecht
wurden Recken geboren, allen voran: Fradmar und Gyrd und die
beiden Freki, Am, Jösurmar und Alf der Alte. Merk dir’s wohl,
es bedeutet viel, daß du dies weißt.
Ihr Freund wurde Ketil, Klyps Erbe, genannt; er war Mutter­
vater von deiner Mutter; da war Frodi und vor ihm Kari, und
früher noch war A lf geboren.
Dann N anna, N ökkvis Tochter - ihr Sohn war durch Heirat
mit deinem Vater verwandt; es ist alte Verwandtschaft; und weiter
noch kann ich zählen, sowohl Brodd wie Hörfi - sie alle sind dein
Geschlecht.
Isolf und Asolf, die Söhne ölm ods, mit ihrer Mutter Skurhild,
die Tochter Skekkils. Mit vielen Männern kannst du dich ver­
wandt sehen. Alle sind dein Geschlecht, Ottar.

In Bolm im Osten wurden die Söhne von Arngrim und Eyfura


geboren, die Berserker, die zerstörend über Land und See dahin­
rasten, wie Feuer springt.
Ich kenne Brodd und Hörfi; sie dienten im Königsgefolge bei
H ro lf dem Alten.
Alle Söhne von Ermanrik, durch H eirat verwandt mit Sigurd,
der den Drachen erschlug.
Dieser König stammte von Völsung ab, und Hjördis (Sigurds
Mutter) war von Hraudungs Geschlecht, aber Eylimi (ihr Vater)
stammte von den Audlingen - sie alle sind dein Geschlecht.
Gunnar und Högni, Gjukis Erben, und Gudrun ihre Schwe­
ster . . . sie alle sind dein Geschlecht.
H arald Kam pfzahn, Hrœreks Sohn, war geboren von Aud,
Ivars Tochter, aber R adbard war Randvers Vater. Diese Männer
waren den Göttern geweiht - starke, heilige Könige - sie alle
sind dein Geschlecht.“
Der Dichter beginnt dann die Götter des Geschlechts aufzu­
zählen.

375
Die Aufzählung von Ottars Vorfahren beruht nicht auf Em p­
fängnis und Zeugung. Der Dichter nennt eine Anzahl Hamingjas,
die Ottar und seinen Verwandten angehörten. In der Mitte stehen
als Hauptstamm der Sippe Ottar, sein Vater und seine Mutter mit
ihren nächsten Verwandten, und rings um sie sind eine Unmenge
von Kreisen angeordnet, die ineinander übergreifen, einige auf
Zeugung, andere auf Heirat, wieder andere vielleicht auf Zieh­
kindschaft beruhend. Unter diesen Hamingjas sind rein norwe­
gische Geschlechter sowie das Hördakari-Geschlecht, das durch
K lyp und ölm od angedeutet wird, ein berühmter Stamm, der auf
Island mit dem Gesetzgeber U lfljot berühmt wurde und sich mit
Erling Skjalgson auf Soli in die Geschichte Norwegens eintrug.
Es sind Geschlechter aus dem Osten, wie das durch Angantyr auf
Bolm in Schweden eingeführte. Es sind dänische Stämme wie die
Skjoldunge; und die Verbindungen Ottars reichen sogar über
Skandinaviens Grenzen hinaus und ziehen das Heil von Völsun-
gen und Burgundern mit in seine Seele.
Innerhalb dieser Kreise mögen einige Hinweise auf Vaterschaft
und Sohnschaft Vorkommen, die die Männer in Beziehung zuein­
ander stellen, aber parallel zu diesen Hinweisen laufen Wendun­
gen, die bloß bestätigen, wie dieser oder jener H eld in alten Zeiten
„w ar“ oder „lebte“ , oder die bestätigen, daß „dieses eine alte Ver­
wandtschaft ist“ .
Ein anderes Gedicht, das den Stolz einer norwegischen Familie
verkündet, sind die Ynglingatal. Dieses monumentale Gedicht ist
von einem der größten Skalden des 9. Jahrhunderts, Thjodolf, zu
Ehren eines Gaukönigs namens Rögnvald Heidumhærri verfaßt.
In diesem Gedicht werden die Verwandten Rögnvalds in direkter
Linie bis zu den göttlichen Königen von U psala aufgezählt, und
obschon es in den Versen keine Hinweise gibt, daß der eine König
den nächsten zeugte, haben die Kommentatoren vielleicht nicht so
ganz unrecht, wenn sie vermuten, daß es Thjodolfs Absicht ge­
wesen ist, die Vorfahren in einer genealogischen Linie zu ver­
binden. Wahrscheinlich sind die Ynglingatal ein Kompromiß zwi­
schen dem alten System und der modernen Form von Stamm­
bäumen, die nun aufkam. Diese Art, alte Tatsachen in modernem
Stil wiederzugeben, wird durch die angelsächsischen Stammbäume
belegt, in welchen die Gruppen von Vorfahren zu einer Stufen­
leiter auf einandergebaut werden; die originelle Anordnung ver­
rät sich manchmal dadurch, daß ein Begründer eines Geschlechts

376
oder ein Gott automatisch in die Mitte der Liste gestellt und zu
einem Sohn sterblicher Männer gemacht wird. So zeigen auch
Thjodolfs Ynglingatal Spuren von dem Prozeß der Anpassung:
das alte Kreissystem blickt durch die Zeilen hindurch.
Die Verse Thjodolfs sind zusammengedrängt und oft dunkel
- für uns - , weil der Diditer, wie schon angedeutet, nicht einen
historisdien Bericht verfaßte, sondern Tatsachen andeutete, die in
der H alle seines Auftraggebers wohlbekannt waren. Snorri hat
einen Kommentar hinzugefügt, der zum Teil von einem sinn­
reichen Leser aus den Versen herausgezogen worden ist, zum Teil
aber zweifellos auf Sonderdaten beruht, die er offenbar durch
Ausfragen von Personen beschafft hat, die mit der Familie be­
kannt waren.
Nachdem der Dichter in den ersten Versen die göttliche Ab­
stammung von Frey durch Sveigdir und Fjölnir bewiesen hat,
beginnt er mit Vanlandi die Reihenfolge der irdischen Könige,
und das Gedicht fährt, kurz umschrieben, so fort:
V anlandi fand seinen Tod durch Zauberei. Ein Weib aus dem
Geschlecht der Trolle zermalmte ihn mit ihren Füßen, und der
Scheiterhaufen des Königs loderte am Ufer des Flusses Skuta.
Der Kommentar fügt hinzu: Vanlandi wrude von einer Nachtmahr
erdrückt. Er hatte eine finnische Königstochter geheiratet und hatte
seine Braut verlassen, um nie wiederzukehren; seine Frau beauftragte
eine Zauberin, ihn durch Zauber nach Finnland zu locken oder ihn
zu töten.
Visbur wurde vom Feuer verschlungen, als die Söhne den bos­
haften Zerstörer des Waldes gegen ihren Vater aufreizten, so daß
er den großen Fürsten in der H alle zu Tode biß.
Kommentar: Visbur verließ seine erste Königin, und ihre Söhne
rächten sie.
In alten Zeiten geschah es, daß Schwertmänner die Erde mit
dem Blute ihres eigenen Herrn tränkten, als die Schweden in der
Hoffnung auf eine gute Ernte blutige Waffen trugen gegen
D o m ald i, den Hasser der Jüten.
Kommentar: Hungersnot herrschte im Lande, und als alle anderen
Mittel, das Unheil zum Stillstand zu bringen, fehlschlugen, opferten
die Schweden ihren König.
D o m ar wurde am Fyrir auf den Scheiterhaufen gelegt, als töd­
liche Krankheit diesen Edeling aus Fjölnirs Stamm gebissen hatte.

377
Es kam die Zeit, wo Hel sich einen königlichen Helden aus­
suchen wollte, und D y g g v i, der Herrscher des Yngvivolks, fiel vor
ihrem Griff.
Durstig nach Ruhm folgte D a g dem Geheiß des Todes, als er
nach Vörvi zog, um seinen Sperling zu rächen.
Sicher gefiel die Tat Skjalfs nicht der Kriegerschar, als sie, die
Königin, A gni, ihren rechtmäßigen König, an seinem H alsband
in die Höhe zog und ihn das kalte Roß des Galgens reiten ließ.
Kommentar: Agni führte Krieg in Finnland und nahm eine Königs­
tochter gefangen; in der Hodizeitsnadit, als der König im Rausche
war, band sie ein Seil um seinen kostbaren Halsring und w arf es
über einen überhängenden Ast.
A lrek fiel zu der Zeit, wo er und E rik , die Brüder, Waffen
gegeneinander trugen; diese beiden Verwandten Dags schlugen sich
mit Zaumstangen. Nie hat man früher gehört, daß Freys Kinder
Pferdegeschirr im K am pf benutzten.
Y n gv i fiel; er blieb auf dem Platze, als A lf, der Hüter des
Altars, eifersüchtig sein Schwert rötete; es war Bera, die wirkte,
daß zwei Brüder einander töteten.
Kommentar: Bera, Alfs Königin, zog seinen Bruder Yngvi vor.
Jö ru n d wurde im Lim fjord seines Lebens beraubt vor langer
Zeit; des Seiles Roß trug den König in die Höhe, der vorher
Gudlaugs Leben genommen hatte.
Kommentar: Jörund wurde vom norwegischen König Gylaug ge­
tötet zur Rache für seinen Vater Gudlaug.
Ann wünschte sich Leben, bis er wie ein Kind Milch aus dem
Horn trank. Mit dem Leben seiner Söhne kaufte er sich selber
Leben.
Kommentar: Aun opferte jedes zehnte Jahr einen seiner Söhne,
um sein eigenes Leben zu verlängern.
E gil, Tyrs Edeling, groß an Ruhm, flüchtete aus dem Lande,
und das Ende dieses Edelings aus dem Skilfingstamme war, daß
ein Ochse das K opf schwert in sein H erz stieß.
Kommentar: Egil, der mehrmals von einem Aufrührer aus seinem
Lande vertrieben worden war, wurde zuletzt auf der Jagd von einem
wilden Stier getötet.
O tta r fiel unter die Krallen der Adler bei Vendil vor Frodis
Dänen; die Schweden konnten von den Jarlen des Inselreichs er­
zählen, die ihn schlugen, als er K am pf anbot.

378
Kommentar: Ottar hatte Händel mit Frodi, dem König von Däne­
mark.
A diis, Freys Edeling, stürzte vom Pferd und starb, Alis Feind,
worauf sein Gehirn mit dem Staub von Upsala vermischt wurde.
Snorri kennt Adils als einen Gegner von König Ali von Norwegen
und König H rolf von Seeland.
Die H alle brannte nieder über Eystein bei Lofund, Männer aus
Jütland verbrannten ihn in dem Hause.
Das Gerücht ging, daß Y n g v ar vor dem Völkerheere von Est­
land fiel; die Ostsee erfreut den schwedischen König mit ihren
Gesängen.
ö n u n d , der Feind der Esten, fiel vor dem Haß des Kebssohns;
harte Steine deckten den Toter Högnis.
Der Kommentar weiß nicht, warum önund Högni getötet hatte,
oder wer der Krebssohn war, der ihn rächte.
Feuer, der brüllende Hausdieb, trat mit heißen Füßen durch
In g ja ld auf Raming. Sein Tod wurde unter den Schweden be­
rühmt, weil der edle Sproß der Götter lebendig seinen eigenen
Scheiterhaufen ansteckte.
Kommentar: Ingjald hatte Händel mit den Königen von Schonen,
und als er unerwartet von Ivar Weitfahe gefangengenommen wurde,
begrub er sich und alle seine Krieger unter den flammenden Dalken
seiner eigenen Halle.
Das glühende Feuer zertrennte die Kriegsrüstung des schwe­
dischen Königs O la f, dieser Nachkomme der Lofdünge war längst
aus U psala verschwunden.
H a lfd a n wurde traurig vermißt von den Friedensstiftern, als er
auf Thoten starb, und Skæreid in Skiringssal beugt sich über den
Überresten des Königs.
E ystein ging zu Hel, an Bord des Schiffes vom Mast erschlagen.
Der gautländische König ruht unter Steinen, wo Vadlas eiskalter
Strom der See begegnet.
H a lfd a n , der seinen Sitz in H oltar hatte, wurde von siegreichen
Mannen in Borro begraben.
G u d rö d , der vor langer Zeit lebte, wurde von Asas Knecht auf
der Küste von Stiflusund schimpflich erschlagen.
Kommentar: Gudröd hatte Asas Vater getötet und sie gegen ihren
Willen geheiratet.

379
In alter Zeit herrschte O la f über Upsi und Vestmar und das
Königreich Grenland, ein göttlicher Fürst; von Krankheit getötet,
liegt der tapfere Führer der Fleerscharen in seinem Grabhügel bei
Geirstad.
Den besten Kenn-Namen, den je ein König unter dem Blau des
Himmels trug, hat R ö gn v ald , der H eidu m h æ rri genannt wird.
Im Mittelpunkt des Bildes steht Rögnvald mit dem stolzen Bei­
namen Heidumhærri, dessen Sinn uns leider verlorengegangen ist;
er herrschte um 900 auf Geirstàd im südlichen Norwegen. Sein
Vater, O laf Geirstadaalf, ist wohlbekannt von anderen Bruch­
stücken aus dem mythischen Wissen des Stammes; ohne Zweifel
ist er ein historischer König, aber sein Menschentum ist halb in
Göttlichkeit aufgegangen, wie sein Nachname G eirstadaalf zeigt,
der „G ott“ oder „Schützer von Geirstad“ bedeutet. Mit anderen
Worten, O laf ist der H albgott und Stammvater des Hauses; eine
Linie, und zwar die von Rögnvald direkt aufwärts, endet mit O laf.
Uber ihm steht auf der Linie von Gudröd zu O laf und H alfdan
ein deutlich abgesonderter Kreis von Männern. Diese Reihe von
Namen, die möglicherweise eine direkte Folge von Vätern und
Söhnen darstellt, bildet einen wichtigen Zweig von Rögnvalds
Hamingja, nämlich den Zweig, wodurch der Gaukönig auf Geir­
stad mit der Familie, die Norwegen eroberte, verbunden war, und
zwar durch die Person H arald Schönhaars. Die Einheit dieses
Kreises wird bestätigt durch die Tatsache, daß die Namen O laf,
H alfdan und Gudröd in H arald Schönhaars Dynastie wiederholt
werden. Das Wirkungsfeld dieses Stammes liegt in den Grenz­
ländern zwischen Norwegen, Schweden und Dänemark, und, zu­
sammengehalten mit der Bruchstücken von Familiensagen, die der
Verfasser der Ynglingasaga glücklicherweise ans Licht gezogen hat,
geben diese Verse ein Bild von den Vestfold-Königen, die Klein­
fürsten aus dem südlichen Norwegen bekriegten oder beschützten,
aber auch mit den Königen aus dem angrenzenden Osten, näm­
lich Gautland, Händel hatten. Das letztere Land bildete in jenen
Tagen einen Bezirk für sich und lag halb unabhängig zwischen
Norwegen und dem alten Königreich von Upsala. Diese Ver­
bindung ist durch Ingjald bestätigt, der durch seinen Namen und
seine Königin Gauthild innig mit Gautland verbunden ist. Ing-
jalds Platz in der Welt ist durch die Überlieferung gegeben, daß
er von Ivar Weitfahe besiegt wird, einem Erobererkönig aus
Schonen im Süden des heutigen Schweden.

380
Hinter diesem festen Bestand sind verschiedene Gruppen zu er­
kennen, obschon es nicht immer möglich ist, die genaue Stelle
anzugeben, wo sie sich vereinigen. Durch Adils und seinen Vater
O ttar werden wir in eine Welt eingeführt, die im Beowulf von
einer anderen Seite aus gesehen wird. Nach Snorri und den nor­
dischen Quellen, die hauptsächlich aus den Familienlegenden nor­
wegischer Fürsten herrühren, kämpfte Adils mit H rolf Kraki aus
Seeland, ohne viel Ehre zu gewinnen, aber er erwarb sich Ruhm,
als er Ali von den Opiändern oder - nach anderen Darstellungen
- von Norwegen besiegte. In dem angelsächsischen Gedicht — das
von einer anderen Familiengeschichte herrührt - wird ein Durch­
blick in eine kleine Welt eröffnet, wo vier fürstliche Geschlechter
sich im K am pf und Trinkgelage begegnen. Am höchsten im Ruhm
stehen die Skjoldunge oder die Speer-Dänen von Lejre auf See­
land, H eorogar und H rodgar, und in der jüngeren Generation
H rodulf; und als Gegner dieser mächtigen Speermänner erscheinen
in erster Linie die H adubarden: Froda und sein Sohn Ingeld, der
mit einer Skjöldungen-Fürstin, der Tochter von Hrodgar, un­
glücklich verheiratet war. Auf der einen Seite standen die Geaten
oder Gautlandmänner - H ygelac voran - und auf der anderen
Seite die „Schweden“ , Ohthere (Ottar) und Eadgils (Adils) und
ihr Verwandter Onela (Ali), der das Königreich an sich reißt und
von seinem Neffen Eadgils erschlagen wird. Es ist eine Geschichte
von Streitigkeiten und Freundschaften zwischen Gaukönigen in
Südskandinavien vor der Zeit, wo der Norden drei ethnogra­
phische und politische Gruppen herauskristallisiert hatte, Schwe­
den, Norwegen und Dänemark. Zu demselben Kreis wie Adils
gehört ohne Zweifel Aun der Alte; obschon er vielleicht nicht
identisch ist mit dem Eanmund, den der Beowulf als Eadgils’
Bruder kennt, trägt er doch in seinem Namen das Zeugnis, daß er
mit den Schweden verwandt ist, denn das Familienkennzeichen
Ead ist in Aun enthalten, obschon es durch phonetische Verände­
rungen verdunkelt ist.
Einen ganz anderen Kreis vertreten Yngvar und ön und; sie
haben ihre Gesichter nach dem Osten gekehrt, nach den schwe­
dischen Wikingländern in Estland, wo Yngvar vor dem Volke des
Festlands fiel und önund, der Feind der Esten, ihn rächte.
Im obersten Teil des Familienverzeichnisses können wir min­
destens zwei Geschlechterkreise unterscheiden.
Der eine hat als Zentrum die unglücklichen Brüder Erik und

381
Alrek, die einander töteten, während sie auf der Jagd waren, und
die Söhne A lf und Yngvi, die sich um eine Frau stritten. Sie sind
durch ein Familienschicksal verbunden, und ihre Geschichte ist in
Vanlandi, Visbur und Agni schon in Umrissen vorhanden; dieses
Geschlecht ist dadurch gekennzeichnet, daß alle seine Männer den
Ratschlägen von Frauen unterliegen. Wir haben hier ein Ge­
schlecht von Königen, deren Aldr oder Ham ingja eine besondere
Färbung hatte, so daß sie ihren Frauen ausgeliefert waren. Nun
gehören diese Könige zu einem anderen Teil der Welt, was aus der
Tatsache hervorgeht, daß ihre Kriegszüge auf Finnland beschränkt
sind - dort verheerten sie das Land, von dort holten sie sich ihre
Frauen, von dort kam der Nachtmahr aus dem Trollgeschlecht, der
Vanlandi zu Tode trat. In diesen Männern lernen wir das be­
rühmte Geschlecht der Ynglinge kennen, dessen Sitz in Upsala
war.
Schließlich ist eine andere Reihe in diese Gruppe eingeschoben:
Domaldi, Domar, Dyggvi, Dag. Wohin sie gehören, ist schwer zu
sagen; Domar wird ein Yngling genannt und wird bei Fyrir in
Uppland verbrannt; Dyggvi wird auch dem Yngvi-Stamm zu­
gezählt, wogegen Domaldi als Feind der Jüten bezeichnet wird.
Aber so viel ist sicher, daß wir mit D ag plötzlich wieder in N or­
wegen sind, oder jedenfalls in Bezirken, die verhältnismäßig nahe
liegen, denn er erscheint nicht nur immer wieder in den Familien­
registern der norwegischen Könige, sondern sein Name wächst
unter den Kindern H arald Schönhaars empor. Ohne Zweifel ist
er der mythische Stammvater eines Häuptlingsgeschlechts, der
Daglinge, in den südlichen Teilen von Norwegen oder Schweden,
und es ist möglich, daß Rögnvald durch dieses Geschlecht mit den
Ynglingen verbunden ist. Es sind auch einige Hinweise in anderen
Stammbäumen, daß Dyggvi und seine Mutter Drot von den Nach­
kommen H arald Schönhaars als zu ihren Vorfahren gehörend an­
erkannt wurden, und in ihren Stammtafeln werden sie als Nach­
kommen von D ag angeführt. Dieses beweist nicht etwa, daß
Dyggvi wirklich von D ag abstammte, sondern nur, daß die
Daglinge die H am ingja von Dyggvi besaßen und sie durch irgend­
ein Bündnis auf das Königsgeschlecht von Norwegen übertrugen.
In den Ynglingatal bekommen wir einen kurzen Einblick in eine
Familienüberlieferung, die innerhalb derselben Linien wie das
Hyndluljód verläuft. All dieses beweist zum Überfluß, daß wir,
um das Stammgefühl und das Stammessystem alter Zeiten zu ver-

382
stehen, unsre Gedanken über Verwandtschaft vollständig revidieren
und unsren Stammbaum durch andere Bilder ersetzen müssen.
Verwandtschaft wurde vom Standpunkt einer individuellen Fami­
lie, dem Zentrum einer Anzahl nichtkonzentrischer Ringe, gesehen,
und so galt die Berechnung der Verwandtschaft in einem Geschlecht
nicht für andere Familien, was Personen betraf, die gemeinsame
Verwandte beider waren. Die Kreise waren auf verschiedene
Weise verkürzt, so mögen wir die Tatsachen in unsrer mathema­
tischen Sprache ausdrücken. Wir können nicht in unsrem Sinne
Geschichte schreiben, indem wir verwandte Genealogien vergleichen
und ihre Daten in unser chronologisches System einordnen. Rögn-
vald Heidumhærri und H arald Schönhaar hatten einen väterlichen
Großvater gemeinsam und würden nach unsrer Berechnung wirk­
liche Vettern sein, aber die Ynglingatal waren nicht H aralds
Stammbaum, und sie könnten auch nicht mit seinem Stammes-
gefühi in Übereinstimmung gebracht werden, wie wir sehr wohl
aus den genealogischen Listen der königlichen Familie wissen.
H arald teilt Gudröd und H alfdan mit seinem Vetter Rögnvald,
aber diese Vorfahren führen in H aralds Fall nicht zu den Ynglin­
gen hinauf, sondern zu norwegischer Herkunft; er berührt die
H am ingja seines Vetters durch D ag und durch Ingjald und Frodi,
die alle unter den Vorfahren des Königs wiedererscheinen, aber
diese Verwandtschaften erstrecken sich nicht nach Osten und ver­
binden ihn nicht mit den Schweden. Freilich, wenn H arald in seiner
Vergangenheit die Reihenfolge Alrek, Erik hat, sind wir voll be­
rechtigt, etwas vom verhängnisvollen Geschlechtswillen zu er­
kennen, der so laut durch die Ynglingatal klingt; diese Hamingja
ging in das Heil H aralds über, aber sie 'frar viel weniger aus­
gedehnt. In allen anderen Teilen verlaufen die beiden Geschlechter
jedes in seiner Bahn, und diese Bahn ist durch eine andere Neigung
des Geschlechtsheils bestimmt. Das Haraldgeschlecht zeigt seinen
Ehrgeiz, indem es seiner H am ingja das Heil der dänischen
Wikingerhäuptlinge und Eroberer einverleibt, wie dies durch die
Anwesenheit Ivar Weitfahes und der Ragnar-Sprößlinge in seinen
Registern bewiesen wird. Und durch diese aufsteigenden Geschlech­
ter aus den unruhigen Zeiten im Anfang der Geschichte des N or­
dens dehnt diese norwegische Sippe sich weiter nach außen, bis zu
den Skjoldungen und zu den Völsungen der Franken. Unter
H aralds Vorfahren waren Sigurd Fafnirstöter und die Nibelungen,
die in nordischen Liedern berühmt waren. Infolgedessen sind die

383
göttlichen Plätze in H aralds Geschlecht nicht mit Frey und Yngvi
besetzt, sondern mit Odin und Skjöld, dem halbgöttlichen Ahn­
herrn der Skjoldungen.
Es ist immer notwendig, die letzte Person auf der Liste festzu­
halten, den Mann, von dem aus das Geschlecht gesehen wird; wenn
er verlorengeht und die Tafel so ihr Familienzeichen verliert,
können wir nie ihren Wert rekonstruieren, und wo einzelne Glie­
der ausfallen, können sie nie durch Vergleich mit einem anderen
Stammbaum, nicht einmal durch den eines leiblichen Vetters,
wieder richtig eingesetzt werden.
Die Kreise, die durch H eirat oder auf andere Weise in die
Lebensgemeinschaft gezogen wurden, werden nicht aus ihrer frü­
heren Verbindung gelöscht, bevor sie in die Umhegung der Freund­
schaft und Verwandtschaft eingegangen sind. Jedes Geschlecht trug
die Ehre, das Heil und den Ruhm, die seine Seele ausmachten, mit
sich fort, und wenn sie durch H eirat verwandt wurden, erwarben
Ottar oder Rögnvald die Vorfahren ihrer neuen Schwäger.
Für moderne Leser besteht nicht ein Grad-, sondern ein Wesens­
unterschied zwischen solchen „tatsächlichen“ Personen wie K lyp
oder ölm od und einem Drachentöter wie Sigurd Fafnirstöter, der
in die Dichtung gehört, wie wir sagen würden. Aber die Schwierig­
keit liegt nur bei uns; in alten Zeiten war Sigurd ein genau so
wirklicher Verwandter wie irgendeine historische Persönlichkeit.
G ar manche norwegische und isländische Familie fühlte sich mit
dem berühmten Toter des Drachen und mit seinen burgundischen
Schwägern verwandt.
Alle diese Geschlechter hatten rechtmäßig die fränkische oder
burgundische H am ingja erworben, indem sie einheirateten oder
sonst Lebensbündnisse mit Kreisen schlossen, die die Taten der
südlichen Helden besaßen. Wir vermögen noch die Glieder zu zei­
gen, durch welche die Familien des Nordens mit den mächtigen
Geschlechtern am Rhein verbunden waren. Wie H arald Schönhaar
das Recht erhalten hat, burgundische, fränkische und gotische
Könige unter seine Vorfahren einzureihen, geht deutlich aus sei­
nem Stammbaum hervor. Seine Familie ist verwandt mit dänischen
Königen, die die Verwandtschaft mit dem Hause Ragnar Lodbroks
für sich in Anspruch nahmen, und diese Könige hatten Vorfahren,
die mit Fürsten in Rußland oder an den südlichen Küsten der
Ostsee verwandt waren. Einige isländische Familien schlossen
augenscheinlich auf Zügen nach den westlichen Inseln das Bündnis,

384
das Sigurd in ihre H am ingja brachte; sie ließen sich dort vorüber­
gehend nieder und kamen in Berührung mit Nachkommen von
dänischen Wikingerstämmen, in erster Linie mit denen der Söhne
Ragnar Lodbroks.
Im Falle Ottars sind wir nicht ganz ohne Hinweis, wie er eine
so ferne H am ingja erwarb wie die, die in Sigurd und den bur-
gundischen Königen von Worms wirkte. Es ist schon gezeigt
worden, daß einige Personen im Hyndluljód eine Verwandtschaft
zwischen dem Helden des Gedichtes und dem Geschlecht bezeich­
nen, dessen mächtigstes Mitglied Erling Skjalgson war, der „König“
der Rugier. Erling heiratete Astrid, Tryggvis Tochter, ein Enkel­
kind von H arald Schönhaar, und wurde der Schwager des nor­
wegischen Königs O laf Tryggvason. Es ist nicht unwahrscheinlich,
daß Erling und das Hyndluljód nahezu Zeitgenossen sind, und in
Erlings H eirat haben wir vielleicht eine Erklärung dafür, wie
dänische und südliche Ham ingja in führende Familien von West­
norwegen hineingesickert war.
Diese Tatsachen geben uns einen anderen Blick auf die alte
Dichtkunst und Saga als die rein literarische Theorie, die jetzt
üblich ist und die auf der ziemlich naiven Auffassung beruht, daß
moderne literarische Bedingungen auf alle Zeiten und Kulturen
anwendbar sind. Gedichte und Novellen sind für uns solide
Waren, die von Dichtern auf den M arkt gebracht und in Büchern
Kunden, die einen festen Preis bieten, über den Tisch gereicht
werden. Aber die Sagas und Gedichte der alten Zeit waren der
Besitz bestimmter Personen, Selbstoffenbarungen bestimmter Ge­
schlechter. Die Sagas beziehen sich nicht auf einen Verfasser, son­
dern auf einen Besitzer, einen, der die Vergangenheit bejaht, wie
sie hier dargestellt ist, an ihr festhält, auf sie stolz ist und von
ihr abhängt. Die wahre Saga, die ursprünglich durch die Wieder­
holung des mündlichen Wortes inspiriert ist, hat sich tatsächlich nie
vom persönlichen Auftrag abgelöst. Sogar die isländischen Sagas,
die in der künstlerischen Form stark von europäischer Literatur
beeinflußt sind, tragen noch die Anzeichen auf der Stirn, daß sie
vom Standpunkt eines Geschlechts erzählt worden sind und die
private Vergangenheit des Geschlechts ausdrücken. Die Völsunga-
saga ist das Präludium zu der Saga von Ragnar Lodbrok, und sie
endet mit H öfdathord, dem Häuptling von Skagafjord, der der
Berechnung der Landnáma zufolge der fünfte Mann nach dem
berühmten Wikingerhäuptling war. Die Hervörsaga - die Saga

385
vom Schwerte Tyrfing - trägt den Stempel ihrer Zugèhôrigkeit in
den Genealogien am Schluß, die auf eine norwegische und islän­
dische Familie hinweisen — das Angantyr-Geschlecht -, das mit
Stolz seine Verbindungen mit dem königlichen H ause von Schwe­
den hervorhob. Der Beowulf ist in der H and des jüngsten Ver­
fassers richtige Literatur geworden, aber bei einer näheren Unter­
suchung der westsächsischen Stammbäume mit ihrem Beow und
Scyld bekommen wir einen Wink bezüglich der Kreise, in welchen
man für die Sage Interesse hegte.
Übereinstimmend mit unseren Beobachtungen über die Metho­
den der Skalden, die ihre Themen von benachbarten Literaturen
borgten und ihre Vorgänger in der Kunst nachahmten, sprechen
wir von alten Sagen, die von Land zu Land wandern, und wir
stellen sinnreiche Spekulationen darüber an, wie die Sigurdsage
von den Franken am Rhein zu den Skalden im Norden ge­
wandert sei. Aber in Wirklichkeit wurden die Lieder und Sagen
nicht lose weitergegeben, sie lebten sich durch die Welt, von einem
Kreis von Menschen zum anderen. Sie sind überhaupt nicht Sagen,
nicht poetische Schätze, sondern Erlebnisse, die in den Seelen der
Menschen lebendig und schöpferisch erhalten bleiben. Sie sind von
O rt zu O rt weitergegeben worden, indem Seele in Seele gezogen
wurde und Anteil bekam an dem Heil, das die andere enthielt. Sie
gingen mit dem Mädchen, das in reichem Schmuck in das Heim
ihres Gatten trat und eine Ehre mit sich brachte, die hochgesinnt
war und zur Tat anspornte; sie wurden verbreitet, wenn ein
Mann sich mit seinem Blutsbruder vereinigte und ein Teil von ihm
wurde, seine Vorfahren, seine Taten, seine Gedanken empfing, von
seiner H am ingja gebunden wurde. Das Vorherrschen der Taten
und Geschicke der Völsunge in der skandinavischen Poesie be­
stätigt die Tatsache, daß die Ehre der Völsunge ein Erbstück in
einigen der führenden, einflußreichsten Geschlechter der Wikinger­
zeit war.
Wenn wir zu dem H yndluljód als dem treuesten Abbild des
alten Geschlechts zurückkehren, sehen wir jetzt, daß die genann­
ten Kreise in ihrer Gesamtheit zu Ottar und seinen Verwandten
gehören. Alles, was die verbündeten Familien hatten und waren,
floß in das Heil des Mannes. Und diese geistige Verschmelzung ist
von größerer Tiefe, als wir zuerst vermuten, weil Ottars Ver­
wandtschaft nicht im Wesen eine Anzahl Personen war, sondern
eine Masse von Taten - Ehre, Heil und „Schicksal“ . Die Namen

386
des Stammbaumes sind von Epitheten und kurzen Beschreibungen
bedeckt, die das Leben bekunden, das in den alten Helden gepocht
hatte und nach ihnen in ihren Nachkommen pulsierte, und die von
Geschehnissen und Errungenschaften erzählen, in welchen ihre
Ehre sich offenbart hatte. Wir können die Gedichte nicht ver­
stehen, wie sie von den Zuhörern der alten Welt verstanden
wurden, weil für sie jedes Epitheton und jede Zeile eine Menge
von Erinnerungen wachrief. Unsere Dichterwerke erzählen eine
Geschichte vor einer Zuhörerschaft, die zu wissen wünscht, wie
alles geschah, wie es begann, und wie es endete; die alten Ge­
dichte waren nur Hinweise oder Andeutungen, wodurch Taten, die
in den Gedanken der Menschen lebten, hervorgerufen und vor
ihren Augen lebendig gemacht wurden.
Das Geschlecht ist ursprünglich eine Ham ingja, und als Seele
wird es den neuen Verwandten einverleibt. Die Personen sind nur
Repräsentanten der H am ingja, und ihre Macht besteht darin, daß
sie imstande waren, das Leben, das, reich an hervorragenden
Charakterzügen, durch ihre Vorfahren flutete, wiederzubeleben.
Die H am ingja ist immer etwas Gegenwärtiges, und die Vergangen­
heit ist nur wirklich, insofern ihr Geschick in einer Reihe von ver­
gangenen Generationen immer wieder erneuert worden ist. Diese
alten Helden sind nie außerhalb der Wirklichkeit gewesen. Ein
Sigurd, ein H rolf, ein Ragnar sind immer wieder ins Leben ge­
kommen, sind weiter geboren worden von Geschlecht zu Ge­
schlecht, sie sind Vorfahren gewesen, deren Taten in neuen
Menschenleben wiedergelebt worden sind.
Die H am ingja ist etwas Gegenwärtiges, sie ist eine lebendige
Ganzheit, kein zusammengesetztes Wesen, das in mehreren Per­
sonen verkörpert ist. Wir sehen aus dem Beispiel eines H arald
oder aus dem eines O ttar, wie eine Welt im individuellen Men­
schen zusammenströmte. Im König von Norwegen drängen sie
sich: Norwegische Gaukönige und Häuptlinge, die kämpften, hei­
rateten und ihre H am ingja vergrößerten, dänische Thronkönige
mit einer Menge von Taten, hervorquellend aus dem Nichts der
frühesten Zeiten, zusammen mit Heldengeschlechtern, die am
Rhein oder auf den Steppen von Rußland lebten und kämpften.
Es ist eine ganze Welt, nicht nur weit durch die Länder, sondern
tief durch die Jahrhunderte. Alle Unterschiede der Zeit vergehen
in der Lebenserneuerung, die ein paar Generationen enthalten.
Die Vorfahren sind also nicht Gestalten, die in aller Pracht auf

387
einem hohen Pfeiler von Jahren sitzen, den sie über die Grade
und Generationen hinweg erklettert haben. Die modernen und
die alten Vorstellungen von dem Gründer eines Geschlechts sind
verschieden. Wenn wir die Anzahl Sprossen vermissen, die er­
forderlich sind, um eine anständige Leiter zu bilden, müssen wir
unsere Köpfe unter den Eintagsmenschen verstecken, die wohl
sind, aber doch nicht behaupten können, daß sie gewesen sind.
Der alte Vorfahr wohnte einfach in seinen Kindern, wenn er
überhaupt existierte, und sein Erbe konnte ihn direkt ergreifen,
wenn er die H and auf seine eigene Brust legte. So zieht der
Schwager oder der Freund den alten Helden sofort in seine
H am ingja, indem er seine Verwandten berührt, und wenn er
Blut und Sinn mit seinen neuen Brüdern gemischt hat, fühlt er die
K raft des Vorfahren in seinen eigenen Gliedern.
In all diesem erblicken wir eine Historie von anderem Aufbau
als die unsrige, keine chronologische Reihenfolge von Begebenhei­
ten, die an Daten aufgehängt sind wie an Haken, sondern lebende
Begebenheiten, die durch die folgenden Generationen immer
wieder aufs neue ans Licht kommen —ein wenig verändert in der
Form vielleicht, aber im Kern dieselben. Geschichte ist für uns
etwas Vergangenes und Erledigtes, eine Kristallisation von voll­
zogenen Ereignissen, die weder verwischt noch im geringsten von
den späteren Begebenheiten beeinflußt werden können. Die pri­
mitive Geschichte aber ist lebendig und veränderlich: nicht nur
ordnen spätere Zeitläufte die Geschehnisse zu neuen Mustern,
sondern die Geschichte verschwindet, wenn sie sich nicht selbst
fortpflanzt, und die Begebenheiten sinken hinab in dasselbe Nichts,
das Begebenheiten bedeckt, die nie ins Dasein traten. Der primiti­
ven Historie fehlen gewisse Zeitproportionen, die für uns die
Grundlage aller geschichtlichen Wahrheit bilden, und infolgedessen
kann sie nicht die Felsblöcke der Jahrhunderte handhaben und sie
zu turmhohen Pyramiden aufbauen. Aber die primitiven und die
alten Historiker können eins machen, was wir nicht können oder
noch nicht imstande waren zu tun: sie können die Vergangenheit
in ihrer Gesamtheit als Erklärung für die Gegenwart geben, wo­
gegen unsere Geschichte nichts sein kann als eine Reihe von Torsos.
D as Geheimnis der Unvereinbarkeit der beiden Systeme liegt
in der Tatsache, daß unsere Geschichte einen allgemeinen, selb­
ständigen Organismus außerhalb der Erfahrung aller individuel­
len Menschen bildet, während primitive und alte Geschichte der

388
Besitz von Geschlechtern und Völkern ist. Diese Form ist unver­
ständlich für moderne Menschen, deren Lebensabschnitte nach
Jahren geordnet sind, die außerdem nie ineinander übergreifen,
sondern in den eigenen speziellen Gräben laufen. Und deshalb
wird alte Überlieferung bei uns naiverweise als willkürliche Er­
findung oder als phantastischer Sagenkram betrachtet. Tatsächlich
ist die Kluft zwischen den Systemen, obschon sie beide historisch
sind, so breit, daß es keinen Schlüssel gibt, durch welchen die Tat­
sachen von der einen Methode in die andere übertragen werden
können. Es ist verlorene Mühe, „M ythen“ analytisch in sagenhafte
und historische Elemente zerlegen, um einen „Wahrheitskern“
herauszuschälen.
So löst sich das Problem des Aufbaus der germanischen Sippe
von selbst. Es ist überflüssig, hinter den Gesetzen nach einem
strengen System zu suchen, und es ist noch nutzloser, nach einem
allgemeinen germanischen System zu suchen, von welchem die
jüngsten Formen Variationen seien. Das Problem ist von vorn­
herein weit eher ein psychologisches als ein soziales, die Form des
Geschlechts ist vielmehr von einem inneren Zusammenhang als
von einer äußeren Organisation abhängig. Alle, die dieselben
Gedanken und Überlieferungen hatten, dieselbe Vergangenheit
und denselben Ehrgeiz, besaßen eine Seele und gehörten zu einem
Geschlecht. Dieser innere Zusammenhang muß sich notwendiger­
weise zu einem starken äußeren Organismus entwickeln, aber die
K raft wirkte sich aus in lebendigen Körperschaften von Männern,
die außerordentlich nachgiebig gegen die formende Berührung der
Umstände waren und bei den verschiedenen Völkern verschiedene
Formen annehmen mochten. Es ist absolut kein Grund, anzu­
nehmen, daß die Norweger und die Dänen, die Langobarden und
die Angelsachsen jemals genau dieselben sozialen und gesetzlichen
Sitten hatten.
D as Geschlecht war eine lebendige Einheit, bald weiter, bald
enger, wechselnd mit der Stärke der H am ingja und sich dem
Augenblick anpassend. Es hatte als Kern einen Freundesbund, der
nie zersplittert werden konnte. Dieser Kern war nie mit der Fami­
lie oder mit dem väterlichen Heim identisch; er enthielt nicht nur
die Schwäger, sondern er dehnte sich buchstäblich in die Breite aus,
wie es durch die Nebeneinanderstellung von Söhnen und Bruder­
söhnen in derselben Kategorie angedeutet wird. Unter dem Druck
des Augenblicks und unter bestimmten politischen Bedingungen

389
konnte er zu der Dimension eines Stammes oder sogar eines Vol­
kes anschwellen. Normalerweise war der Staat keine Ham ingja;
die Geschlechter waren durch Treue zu einem H äuptling zu­
sammengehalten und als Mitglieder einer Gerichtsordnung um ein
Gesetzes-Thing oder um Beratungsplätze gesammelt, wo das Volk
mehrmals im Jah r zusammenkam. Diese rechtliche Gemeinschaft
hinderte die Geschlechter nicht daran, ihr Recht getrennt zu be­
haupten und unter sich Händel auszutragen. Das Gesetzes-Thing
bedeutete nur, daß Streitigkeiten unter den Mitgliedern vor die
Gemeinschaft gebracht und entweder durch Urteil oder Schlichtung
nach den geltenden Formen entschieden werden konnten. Wenn
aber das Volk einmütig handelte - im Krieg, auf Wanderzügen,
bei irgendwelchen gemeinsamen Unternehmungen —, verschmolzen
alle die individuellen Hamingjas zu einer, und e i n Friede
herrschte als höchster mit e i n e r Ehre im ganzen Verband. Zu
solchen Zeiten war Toten Mord und Neidingswerk. Es gibt keine
Vorspiegelungen in der primitiven und alten Gesellschaft; die Ge­
fährten sind wirklich von einer Ham ingja und folglich eines K ör­
pers. Und wenn die Genossenschaft sich lockerte und die Alltags­
formen wieder Macht gewannen, schlief die Ham ingja oder wurde
vorübergehend aufgehoben, wie wir sagen würden, aber sie hörte
nicht auf zu existieren.
Bei den Germanen war diese größere H am ingja gewöhnlich -
aber nicht notwendigerweise - die des Königs oder des Häuptlings.
In Kriegszeiten ging das Heil seines Gefolges in ihm auf, und so
wurden seine Götter und Vorfahren die Götter und Vorfahren des
ganzen Volkes. In der Geschichte kann man nicht unterscheiden
zwischen dem Geschlecht des Königs und dem Volk, das er führte,
einfach deshalb, weil die beiden fremden Stämmen gegenüber iden­
tisch waren.
Ohne Wiedergeburt keine Ewigkeit. Es ist notwendig, diesen
Satz voll zu erfassen, um zu verstehen, was es bedeutet, Leben zu
haben - oder so zu sterben, daß niemand den Namen des Toten
kennt.

390
Nachwort

Bei der Umwandlung von Namen und Worten habe ich Klarheit und
Leserlichkeit einer schwerfälligen Pedanterie vorgezogen, da ich an­
nehme, daß interessierte Leser jederzeit imstande sein werden, die For­
men des alten Textes auch in dieser weniger feierlichen Aufmachung
wiederzufinden.
Vielleicht wird es besser sein, noch hinzuzufügen — obgleich es eigent­
lich überflüssig ist -, daß die Textstellen zitiert werden, um das psychische
Bild der Sagenerzähler näher zu beleuchten. Ihre Berichte von Tatsachen
sind wahr, gleichviel ob sie sich genau so Anno X zugetragen haben
oder nicht; denn in der Tat nähert sich die Beschreibung von Begeben­
heiten durch geistig zeitgenössische Schriftsteller weit mehr der Wahrheit
als die von uns bei einer kristischen Sichtung der Quellen rekonstruierten
Tatsachen, weil sie Geschichte mit einer lebenden Seele sind und nicht nur
totes Tatsachenmaterial. Wir sprechen von unserer kritischen Methode als
einem Mittel, den Wahrheitskern herauszufiltrieren, aber oft besteht unsere
Arbeit darin, die Schale abzulösen und die Frucht fortzuwerfen. Unsere
historische Forschung ist nichts als ein Versuch, eine Realität in die Be­
dingungen einer andersgearteten hineinzutragen, und es besteht dabei die
Gefahr, daß während dieses Prozesses die Wahrheit sich verflüchtigt. Es
ist gewiß interessant und manchmal auch wichtig, festzustellen, wie und
wann eine Schlacht ausgefochten wurde; von weit größerer Bedeutung
aber ist die Frage, w a s überhaupt zu jener Zeit eine Schlacht war.
Mit Hinsicht auf das Prinzip der Übersetzung möge es mir erlaubt
sein, meine Ausführungen in den „Nordischen Mythen und Sagen“ ,
Jena, 1929, zu zitieren, die ich in die Praxis umzusetzen versuchte:
Eine wörtliche Übertragung ist wertlos - wenn sie nicht in Verbindung
mit dem Text als Kommentar gelesen wird - und kann leicht Irrtümer
hervorrufen, da sie die Zusammenhänge, aus denen sich der Sinn der
Worte ergibt, unberücksichtigt läßt. Jedes Wort wurzelt in der Erfahrung
der Menschen und empfängt seine Kraft aus der Harmonie des Erleb­
nisses, das die Wirklichkeit enthält; hinter dem Wort steht immer die
Kultur des Sprechers, sein Sinn erschließt sich nur demjenigen, dem es
gelingt, das Wohlwollen der Gemeinschaft zu gewinnen, der es entstammt.

391
Um die alten Textstellen richtig auszulegen, muß man einen Teil des
darin mit Einbezogenen und Angedeuteten in die Übertragung hinein­
nehmen und so eine Atmosphäre schaffen um das wörtliche Symbol i).
Als Erläuterung hierzu siehe z. B. II unter k o m a fr a m .

*) Bei der Übertragung aus dem dänischen Text des Verfassers wurden
bei Zitaten aus den Sagas weitgehend die Übersetzungen der Sammlung
»Thule“ (Eugen Diederichs Verlag, Jena) zugrunde gelegt (Anm. d.
Übers.).

392
Schrifttum

Aistulf = Mon. Germ. Hist. Leg. IV.


Amira = Amira: Nordgermanisches Obligationenrecht. I-II.
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And. Sun. — Andreas Suneson in Schlyters Skånelagen.
AS Vocab. = Anglo-Saxon and Old English Vocabularies, ed. by
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Austf. = Austfirðinga sögur, udg. v. Jakob Jakobsen. 1902-03.

B A Po. = Bibliothek der Angelsächsischen Poesie. 2. Ausg. von


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B A Prosa = Bibliothek der Angelsächsischen Prosa, herausg. v.
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Band. = Bandamanna saga, in Nordiske OldskrifterX. 1850.
Bard. = Barðar saga snæfellsáss, ved Vigfússon. Kopenhagen
1860.
Beda — Beda. Ecclesiastical History of the English People.
Ed. by Thomas Miller. London. 1890-1898.
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Bjark. = Bjarkøretten. N G L I.
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Bosworth-Toller = Bosworth-Toller: An Anglo-Saxon Dictionary. Ox­
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Cæsar = Cæsar: D e bello G allico.


Cahen = M. Cahen: Études sur le vocabulaire religieux du
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Cart. Lang. = Cart. Lang. Mon. Germ. Hist. Leg. IV.
Cass. = Cassiodorus: Varia. Mon. Germ. Hist. Auct. X II.
Cavallius = Hyltén-Cavallius: Wärend och Wirdarne. Stockholm
1864-1868.
Chartæ = Chartæ Hist. Patriæ Mon. Aug. Taur. 1886.
Cluny = Bernard: R ecueil des chartes d e . . . C luny. 1876-77.
Cod. Cav. = Codex Diplomaticus Cavensis. Neapoli 1873-1874.
Cod. Lang. — Codex Diplomaticus Langobardiæ. Hist. Patriæ
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Daae = L. D aae: Norske bygdesagn. I—II. 1870-1872.
Da. Gild. = Danmarks Gilde- og Lavsskråer, udg. af C. Nyrop.
Dipi. Isl. = Diplomatarium Islandicum. Kaupmannahöfn 1857
bis 1876. Reykjavik 1903 ff.
Dipi. N orv. = Diplomatarium Norvegicum. Kristiania 1847 ff.
Djurklou = Djurklou: Unnarsboarnes lif.

Die Lieder der Edda sind nach Bugges Ausgabe


zitiert.
Edd. Min. = Eddica Minora, v. Andreas Heusler und Wilhelm
Ranisch. Dortmund 1903.
Egil = Egils saga, udg. af Finnur Jónsson. København
1886-1888.
Eids. = Eidsiva, N G L I, S. 375 u. f.
Eirik = Eiriks saga rauda, v. Gustav Storm. København
1891.
Eng. Giids = English Gilds, ed. by Toulmin Smith. Early English
Text Society 40. London 1870.
Er. L. = Eriks sællandske Lov, udg. v. P. G. Thorsen. Køben­
havn 1852.
Eyrb. = Eyrbyggja saga, udg.af G. Yigfússon. Leipzig 1864.

Fagr. = Fagrskinna, udg. af Finnur Jónsson. København


1902-1903.
Feilberg = H . F. Feilberg: Ordbog over jyske almuesmål.
Kjøbenhavn 1886-1914.
Ficker = Ficker: Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte
Italiens. IV. 1874.
Finn. = Finnboga saga hins ramma, v. Gering. H alle 1879.
Flat. = Flateyjarbok. Christiania 1860-1868.
Fornald. = Fornaldarsögur, udg. af C. C. Rafn. København
1829-1830.
Fornm. = Fornmanna sögur. København 1825-1837.
Forns. = Fornsögur, herausg. v. Vigfússon und Möbius. Leip­
zig 1860.
Fost. = Fóstbrœðra saga, v. Konrad Gislason. København
1852.
Fredegar = Fredegar. Mon. Germ. Hist. Script. Mer. II.
Fritzner = Fritzner: Ordbog over det gamle norske Sprog.
Kristiania 1886-1896.
Frost. = Frostatingsloven. N G L I.

Gaslander = Gaslander: Svenska Landsmålen. Bihang I.


Gering = Hugo Gering: Vollständiges Wörterbuch zu den Lie­
dern der Edda. Halle 1901.
Gisli = G isla saga Súrssonar, in Nordiske Oldskrifter V III.
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Glûma = Gltima, Islenzkar Fornsögur. I. København 1880.
Graff = E. G. Graff: Althochdeutscher Sprachschatz. Berlin
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394
ç r£_£s = Grågås, udg. af V. Finsen. København 1852.
Gregor = G ré g o ire d e T ou rs: H isto ire des F ran cs. C o llec tio n
d e textes. Paris 1886-1893.
Grenoble =* I. Marion: C a r tu la ir e d e . . . G ren ob le. Paris 1869.
Grettir = Grettis saga, in Nordiske Oldskrifter X V I. 1852-59.
Wenn auf bestimmte Kapitel hingewiesen wird, be­
zieht es sich auf die Ausgabe in Altnordische Saga-
Bibliothek.
Grimm: Myth. = J . Grimm: Deutsche Mythologie. 4. Ausg. 1875-58.
Grimm : Rechts. = Jacob Grimm: Rechtsaltertümer. 3. Ausg.
Grønbech = Vilh. Grønbech: Religionsskiftet i Norden. 2. Ausg.
in Kampen om mennesket. København 1930.
Gul. = Gulatingsloven. N G L I.
Gull. = Gullþoris saga, udg. af Kr. Kålund. København
1898.
Gut. = Gutalag och Gutasaga, udg. af H . Pipping. 1905-07.

H a lf = H álfs saga, in Norröne skrifter af sagnhistorisk ind­


hold, udg. af Bugge.
H av. Is. = H ávarðar saga lsfirðings, in Nordiske Oldskrifter
X X V III. 1860.
Heid. = H eiðarviga saga, udg. v. Kr. Kålund. København
1904.
Heims. — Heimskringla, udg. v. Finnur Jónsson. 1893-1901.
Heliand — Heliand, herausg. v. Eduard Sievers. Halle 1878.
Herv. = Hervarar saga, in Bugges Norröne skrifter af sagn­
historisk indhold.
Hist. Fris. = Meichelbeck: Historia Frisingensis. 1724-1725.
H rolf = H rólfs saga kraka, v. Finnur Jónsson. København
1904.

Islend. = íslendinga sögur. II. Kjøbenhavn 1847.


Islendingabóc, udg. af Finnur Jónsson. Kaupmanna-
höfn 1887.
Jordan es = Jordanes. Mon. Germ. Hist. Auct. V.
Jy . L. = Valdemar den Andens jydske Lov, udg. v. P. G.
Thorsen. København 1853.
Kormak = Kormaks saga, herausg. v.Th.Möbius. Halle 1886.

Landn. — Landnámabók, udg. af DetNordiske Oldskriftsel-


skab. København 1900.

Landslov = N G L II.
Laxd. = Laxdcela saga, udg. v. Kr. Kålund. København 1889
bis 1891.
Lex Alam. = Mon. Germ. Hist. Leg. I tom. 5.
Lex Baj. = ebenf. III.
Lex Burg. = ebenf. III.
Lex Franc. = Lex Franc. Cham., gewöhnlich zitiert aus Fontes
Juris Gcrmanici Antiqui. 1869.

395
Lex Fris. = Mon. Germ. Hist. Leg. III.
Lex Rib. = ebenf. V (Fontes Juris Germanici Antiqui. 1869).
Lex Sal. = Lex Salica, herausg. v. Heinrich Geffcken. Leipzig
1898.
Lex. Sax. = Mon. Germ. Hist. Leg. V.
Lex. Thur. = ebenf. V.
Lieb. = Gesetze der Angelsachsen. Herausg. v. Lieber­
mann. Halle 1903.
Liut. = Liutprand: Leges. Mon. Germ. Hist. Leg. IV (ge­
wöhnlich zitiert aus Fontes Juris Germanici Antiqui.
1869).
Ljósv. — Ljósvetninga saga, íslenzkar Fornsögur. I. 1880.
Loersdi = Loersch und Schröder: Urkunden zur Geschichte des
deutschen Privatrechts. 2. Aufl. 1881.
Lud. = Mon. Germ. Hist. Leg. IV, S. 522 u. f.
Lund = J. M. Lund: Beskrivelse over Øvre-Telemarken. 1785.

Mork. — Morkinskinna, udg. af Unger. Christiana 1867.


Murat. Ant. = Muratori: Antiquitates Italicae.
Murat. Script. = Muratori: Rerum Italicarum Scriptores.

Neoc. = Neocorus: Chronik des Landes Dithmarschen. H er­


ausg. v. Dahlmann. Kiel 1827.
NGL = Norges gamle Love.
N . h. T . = Norsk historisk Tidsskrift.
Nicol. = Nicolovius: Folkslif vet i Skytts H ärad.
N jála = N jála, udg. af Det Nordiske Oldskriftselskab.
København 1875.

Ol. kon. = Saga Ólafs konungs hins helga, udg. af Munch og


Unger. Kristiania 1853.
Ol. s. h. h. — Olafs saga hins helga, udg. af Keyser og Unger.
Kristiania 1849.
Ol. Tr. = Saga Olafs konungs Tryggvasonar, udg. a f Munch.
Kristiania 1853.
ü stg . = östgötalagen, udg. af C. J . Schlyter.

Papp. = Pappenheim: Ein altnorwegisches Schutzgildestatut.


Breslau 1888.
Paul. Diac. = Paulus Diaconus.
Proc. = Procopius: Gotica.

Ragnar = Ragnars saga loðbrokar, v. Magnus Olsen. Køben­


havn 1906-1908.
Ratchis = Mon. Germ. Hist. Leg. IV.
Redon = Courson: C a r tu la ir e d e . . . R ed o n . 1863.
Reykd. = Reykdæla saga, in lslenzkar Fornsögur. II. Køben­
havn 1881.
Rieht. = Richthofen: Altfriesisches Wörterbuch.
Roth. = Edictus Rothari. Mon. Germ. Hist. Leg. IV (ge-

396
wohnlich zitiert aus Fontes Juris Germanici Antiqui.
1869).
Roz. = Rozière: R ecueil général des form ules, etc. Paris
1859.
Saxo = Saxo, udg. af P. E. Miiller og J. M. Velschow.
Schlyter: Glossar = Samling af Sveriges Gamla Lagar, utg. af C. J.
Schlyter. X III. Lund 1877.
SE = Snorra Edda, udg. af Finnur Jónsson. København
1900.
S E (A M ) = Snorra Edda. Hafniæ 1848-1887.
Skjald. = Den norsk-islandske Skjaldedigtning, udg. a f Finnur
Jónsson. B København og Kristiania 1908-1915.
Vgl. auch Norröna Lovkväden, utg. av Ivar Lind­
quist.
Skråord. = Klemming: Skråordningar. Stockholm 1856.
Skånel. = Skånelagen, udg. af C. J. Schlyter. Lund 1859.
Småst. = Klemming: Småstycken på Forn Svenska. Stockholm
1868-1881.
Stað. — Staðarholtsbók, udg. af Finsen.
Sturl. = Sturlunga saga, ed. by G. Vigfússon. Oxford 1878.
Sublac. = Allodi: Il Regesto Sublacense. 1885.
Svarfd. = Svarfdœla, Islenzkar Fornsögur. III. København
1883.
Sv. Kr. = Sverres Kristenret. N G L I.
Sv. Landsm. = Svenska Landsmålen. Bihang I. 1883-1884.
Sv. Med. = Klemming: Svenska Medeltidsdiktar.
Syv = Peder Syv: Danske Ordsproge. 1688.
Tac. = Tacitus: Germania.
Tardif = Tardif: M onum ents historiques. 1866.
Thév. = M. Thévenin in C ollections des textes pou r servir
à l'étude . . . de l’histoire. III.
Thiele = Danmarks Folkesagn, udg. af Thiele.
Th. Hr. = Pordar saga hredu, udg. af Fridriksson. 1860.
Unger = Studier tilegnede Unger.
Upl. = Uplandslagen, udg. af Schlyter.
Vaissete = Vaissete: H istoire générale de Languedoc. 1872-73.
Vald. L. — Valdemars sællandske Lov, udg. v. P. G. Thorsen.
1852.
Vallaljot = islenzkar Fornsögur. II. København 1881.
Västg. = Västgötalagen, udg. af C. J. Schlyter.
Vols. = Vçlsunga saga, in Bugges Norröne skrifter af sagn­
historisk indhold.
Wille = Wille: Sillejords Beskrivelse. 1786.
Will. Malm. = William af Malmesbury, ed. by Stubbs.

Beinahe alle Sagas sind in Altnordischer Sagabibliothek, H alle 1892 ff.,


erschienen.

397
Die Lieder der Edda (nach Bugges Ausgabe zitiert):
Alvis. = Alvíssmál.
Atlak. = Atlakviða.
Atlam. = Atlamál.
Baldr. = Baldrs draumar.
Faf. = Fáfnismál.
Fjöls. = Fjölsvinnsmál.
Grim. = Grimnismál.
Grip. = Grípisspá.
Gro. = Grógaldr.
Gud. = Guðrúnarkviða I, II, III.
Ham. = Hamðismál.
Harb. = Hárbarðsljóð.
H av. = Hávamál.
Hel. = Helreið Brynhildar.
Helg. H j. = Helgakviða Hjörvarðssonar.
Helg. Hund. = Helgakviða Hundingsbana I, II.
Hym. = Hymiskviða.
Hynd. = Hyndluljóð.
Lokas. = Lokasenna.
Oddrun. = Oddrúnargrátr.
Regin. = Reginsmål.
Rig. = Rígsþula.
Sigrd. = Sigrdrifumål.
Sigurd. = Sigurðarkviða.
Sigurd, sk. = Sigurðarkviða en skamma.
Skim. = Skirnismål.
Sol. = Sólarljóð.
Svip. = Svipdagsmål.
Thrym. = Prymskviða.
V af. = Vafþruðnismál.
Vkv. = Völundarkviða.
Vsp. = Völuspá.
Angelsächsische Gedichte sind zitiert nach Bibliothek der Angelsäch­
sischen Poesie. 3. Ausgabe von WÜilcker:
And. = Andreas, I 1.
Byrhtnoth, I 358.
Christ, III 1.
Cräftas, III 140.
Dan. = Daniel, II 476.
Elene II 126.
Exod. = Exodus, II 445.
Gen. = Genesis, II 318.
Guth. = Guthlac, III 55.
Jud. = Judith, II 294.
Juliana, III 117.
Phön. = Phönix, III 95.
Rätsel, III 183.
Satan, II 521.

398
Anhang

1. R å d , angelsächsisch: R æ d
Bei unserer Wiedergabe isländischer oder altenglischer Texte sehen wir
uns gezwungen, in viele Wörter zu zerlegen, was für die alten Germa­
nen ein geschlossenes Ganzes war. RáÖ kann als die Kraft erklärt werden,
die von innen kommt und in Ratschläge, Befehle, Pläne hinausströmt; es
ist die Weisheit, die Worte und Gedanken erfüllt, die Gerechtigkeit, die
sie erleuchtet, die Herrscherkraft, auf Grund deren das Volk den Be­
fehlen gehorcht. Aber nicht einmal dies ist umfassend genug: r á ð ist
nichts, was von innen kommt und die Worte mit Sinn belädt; um die in
dem Ausdruck enthaltene Wirklichkeit festzustellen, können wir nichts
anderes sagen, als daß r á ö die Seele und lebendigen Bruchstücke des
Inneren darstellt, die, losgelöst vom Ganzen und auf andere übertragen,
als Ratschläge helfen, als Befehle zwingen. Aber auch so entgeht uns die
wesentliche Wahrheit, daß die Seele nichts ist als ein Attribut des Lebens,
„H eil“ . Es ist unmöglich, mittels moderner Bezeichnungen eine Formel
zu konstruieren, die alle Tatsachen deckt, und wir müssen zu einer Tabu­
latur von Erläuterungen unsere Zuflucht nehmen, um die Richtung der
Idee anzudeuten.
R á ð = erteilte und empfangene Ratschläge.
= Überlegung, Plan, Urteil; lá ta r á ð m a t a r á ð i entspricht an­
nähernd unserem: List mit List begegnen, Flat. I, 46, vgl. II, 284, Z. 36;
dies wurde als ráÖ angesehen, wurde als ein guter Plan betrachtet; fjö r-
r á ö : Anschläge gegen das Leben eines Menschen (vgl. Heliand 4480);
k ö ld r á ð : feindliche, böse Absichten, Vkv. 31, Lokas. 51; r á ð „beißt“
einen Menschen, Sigurd sk. 64. Aber ráÖ kann auch ein gesundes Urteil
sein, gerades, ehrenhaftes Betragen; wenn Abimelech sich vor Gott recht­
fertigt, indem er sagt, er sei fest in ræ d, so meint er damit soviel wie
einen guten, moralischen Charakter, Gen. 2645. Der Gegensatz ist in den
gefallenen Engeln zu Anden, die nicht ihren eigenen ræ d durchsetzen
wollen, sondern sich von Gottes Liebe abwandten, oder Eva, die sich in
HTtræd führen ließ, Gen. 24, 700.
Diese Sätze enthalten mehr als ein einfaches ethisches Urteil; das Wort

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umschließt die Folgerungen. Die Sodomiten erwirkten ihr eigenes u n ræ d ,
sündigten und führten ihr eigenes Verderben herbei. Wenn Abraham Lot
vorschlägt, davonzuziehen, weil ein unwürdiger Streit zwischen denen
entstanden ist, die Frieden halten sollten, so fügt er hinzu, daß es ræ d
für beide ist: richtig, klug und die beste Handlungsweise, Gen. 1937,
1913, vgl. And. 1645; Heliand 1458, 1850, 2700.
— Macht, Herrscherkraft. Jesus hat mein ræ d unter dem Himmel
vermindert, so beschwert sich Satan. Der Vater des Mädchens hat r á ð ,
ihre Heirat zu bestimmen. Ein Unternehmen geschieht in Übereinstim­
mung mit des Königs ráÖ, Befehl, ohne den ráÖ, Zustimmung der Ver­
wandten; ein Mann legt allen r å b in eines anderen Hand, liefert sein
Eigentum aus, beispielsweise an seinen Erben, um sich, wie wir sagen
würden, auf sein Altenteil zurückzuziehen. H is sy lfe s ræ de, sy lfr e ræ des
= aus freiem Willen, Elene 918, Dan. 457; And. 1498; Gul. 67, 71;
Flat. I, 207, Z. 25; Egil S. 18; ta k a v id fé o k rå d u m e p tir föÖ ur sinn,
Forns. 126; Juliana 99, usw., siche die Wörterbücher.
= Wille, Wunsch und Sinn, Gedanken, Weisheit: Sigurds r å b ist
verwirrt, seitdem er um das Mädchen seiner eigenen Wahl zugunsten eines
anderen Mannes warb, Grip. 36; ræ d und Schnelligkeit der Auffassung,
Elene 553.
R å b ist die innere Kraft, die nicht nur Fortschritt schafft, sondern die­
ses notwendigerweise tun muß, Wille und Folgewirkung sind identisch.
Weil r å b Heil ist, muß es gleichzeitig das sein, was wirkt und was be­
wirkt wird. Wenn dem Leser nicht die umfassende Bedeutung des Wortes
klar ist, so kann er den Ausruf Hrodgars nicht verstehen, mit dem er
Beowulf den furchtbaren Ort beschreibt, wo die Riesen wohnen: N u is se
ræ d g e lan g eft æ t p e ån u m , oder das volle Gewicht von Satans Triumph­
ausbruch: m id sw ilcu m m æ g m an ræ d gep en cean , Beow. 1376, Gen. 286.
= Zustand, Verhältnis, geschaffen und erhalten durch „H eil“ ,
H av. 109; u n a v el v ib r å b sitt, N jå l a S. 27; Gul. 58: ein Mann kann den
r å b seines Kebssohnes durch Adoption verbessern; Gen. 424; Dan. 30,
Christ 126. Vgl. Heliand 1607, 1202, 1462 vgl. 4166.
= Heirat, Ehestand.2

2. Angelsächsisch: Sp ed , Heil

Die altenglischen Dichter bemühen sich, die geistigen Lehren des


Christentums der alten Seelenkunde aufzupfropfen, und dieser W der-
streit zwischen Form und Inhalt, der sich in jeder zweiten Strophe be-

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merkbar macht, ist von außerordentlichem Interesse, indem er uns die
Kraft und die hartnäckige Lebensfähigkeit der altgermanischen Kultur
vor Augen führt. Sehr oft bleibt die Sprache hinter dem Gedanken zu­
rück und entartet daher nicht selten in nur äußerlich satzfüllende Phra­
sen; und es ist keineswegs leicht zu entscheiden, wieweit der Dichter eine
klare Idee auszudrücken hatte oder einfach das Wortgeklingel zur be'
quemen Ausfüllung von Versen benutzte. Diese Analyse des angelsäch­
sischen Vokabulariums soll dazu dienen, das herauszubringen, was man
etwa als das Unterbewußtsein der Wörter bezeichnen könnte; die bei der
Wiedergabe der poetischen Sprache spürbare Schwierigkeit ist hauptsäch­
lich der Tatsache zuzuschreiben, daß dieses Unterbewußtsein die bewußte
Grundidee des Dichters durchbricht und die Phantasiebilder über seine
Absicht hinaus steigert.
Im Altsächsischen wird der Heiling fe r a h t genannt, ein von fe r a h ab­
geleitetes Adjektiv, welches Leben, Heil und Seele bedeutet. F e ra h t um­
faßt Weisheit und Wissen, Treue und Ehrenhaftigkeit: h eill h ugr. Es wird
auf die Jünger als treue Soldaten Christi angewendet, auf Zacharias als
weise und opferkundig, auf die gerechten Richter, deren Lohn im H im ­
mel ist, auf den edlen Sinn, den gastlichen Sinn, denjenigen, der Brüder­
schaft übt, auf die rechte Gesinnung Gott gegenüber, auf Frömmigkeit
(Heliand 1238; 73, 93, vgl. 22; 1310; 1559; 1957; 4653; 3001).
Zunächst ist da jenes sp e d , das der Krieger braucht: w íg sp é d , h eresp éd ,
sig e sp éd . Hrodgar war Kriegsheil und ruhmvolle Stärke in der Schlacht
verliehen; Gott gewährte den Dänen das Gewebe des Kriegsheils (Kriegs-
sp é d ), siehe Beow. 64, 697, And. 646, Christ 673.
Ferner finden wir sp é d angewandt in Verbindung mit Wörtern wie
Weisheit, Geschicklichkeit. Tubal Cain war ein geschickter Schmied durch
sein sn y ttro sp ed . Als Gott den Bau des Turmes zu Babel verhinderte,
verloren die Erbauer ihr Heil oder die Macht der Rede, s p r á c e sp ed .
S p e d ist das, was der Stärke und der Tatkraft die Macht verleiht, Wir­
kungen zu erzeugen, was das Maß der Kraft ausreichend, ja sogar über­
schwellend macht. Enoch, der Fürst des Volkes, errichtete nach seinem
Vater Führerschaft und fre o d o sp ê d . Gott verwirrte die Erbauer von Babel
durch seinen m ih ta sp ed . Jesus heißt seine Jünger, in die Welt hinauszu­
gehen, Götzen verfolgen und Frieden in die Herzen der Menschen zu
säen durch m e ah ta sp é d , d. i. kraft des Geistes jener Macht, die in ihnen
war. Die Verdammten stehen vor dem Gericht, zitternd, wenn Gott sie
durch sein d a d a sp e d richtet (Gen. 1084, vgl. 1957, B A Po. I ll, 1, S. 154,
V. 77, vgl. Cräftas 9 [ih. S. 141, man beachte den Zusammenhang mit
der folgenden Z eile!]; Heliand 1901 [Monac.] sp o d , Weisheits-Heil,

401
Gen. 1686, 1198, 1696, vgl. Dan. 335; Christ 488, Satan 622, Guth. 225).
Sodann ist sped, gleich der Ausführung einer Tat, einer Kraft, die sich
durchsetzt, Sieg, Fortschritt. Ein Versprechen ist wertlos für denjenigen,
der es empfangen hat, wenn nicht sp ed , Erfüllung, folgt. Ein Mann
kommt sp é d ig in seinem Gang, d. h. er geht rasch; mit großem sp e d vor­
wärtsschreiten, bedeutet sowohl rasch als auch kraftvoll, mit Energie
geladen, wie damals, als Gottes Geist sich über den Wassern bewegte
m iclu m sp éd u m . Der Dichter begann, Beowulfs Tat im Liede zu verherr­
lichen, alles in sp e d : mit Kunst, Meisterschaft, ohne nach Worten suchen
zu müssen (siehe Guth. 225, Gen. 2059, Exod. 153; Gen. 2384, 1783, vgl.
Cräftas 53; Gen. 121; Beow. 871; Heliand u n sp u o d = Sünde, 3454).
Die Erde ist sp é d ig , wenn sie reiche Ernte hervorbringt; u n sp èd ig , un­
fruchtbar, war das Land, das unseren Vätern nach ihrem Fall gegeben
wurde, damit sie ihre Kräfte daran erschöpfen sollten. Dasselbe gilt für
den Mann: sp e d ist sein Dasein, und er gebiert Kraft (Gen. 962, vgl.
1660; Exod. 513, Gen. 1366, vgl. Cräftas 6). Derselbe Gedanke wird mit
tu d d o r sp é d ausgedrückt, was Heil in Nachkommenschaft und Kraft des
Zusammenhalts bedeutet.
An einigen Stellen kann sp ed durch Gebrauch, Beschäftigung, An­
wesenheit oder Überfluß wiedergegeben werden; v illa sp e d bedeutet einen
machtvollen Willen - und gleichzeitig, daß der Wille sein Ziel erreicht,
oder mit anderen Worten: gute Dinge im Überfluß (Gen. 1660, 2363
usw.). So bedeutet sp é d ig einfach reich; Besitz, Vieh, Kostbarkeiten sind
die Erscheinungsformen des Heils. Der eigentliche Name für den Fami­
lienbesitz, den Wohlstand des Geschlechts, ist e á d : Seine Söhne verwalte­
ten edd nach ihm und zeugten Söhne; der Held verließ sein irdisches
e á d und starb; Gott schenkte Abimelech Zunahme seiner Nachkommen,
seines e ád und seines Besitzes (Gen. 2802; 1602, 1627, 1891, 2756). E á d
ist gleichbedeutend mit dem altskandinavischen a u ð r , in welchem die Be­
deutung von Gütern, Wohlstand überwiegt. „Hundings Söhne forderten
von Sigmunds Sohn a u ð r und Ringe, denn sie hatten eine große Be­
raubung und den Tod ihres Vaters an diesem Fürsten zu rächen . . . “ ; „Es
ist gut, über das Erz des Rheines zu gebieten, mit Freude über a u ð r (d. i.
Fafnirs Schatz) zu herrschen und dazusitzen als jemand, der Heil ge­
nießt“ , Helg. Hund. I, 11, Sigurd, kv. 16. Aber eine so einfache Über­
setzung führt nicht zum vollkommenen Verstehen des Begriffes edd. Das
angelsächsische edd birgt das volle Gefühl, daß man auf das Glück bauen
kann, das Gefühl von Gesundheit und Wohlsein, Glück, Freude am Leben,
das Gefühl der Stärke, der Kraft und der Ehre. Der christliche Gebrauch
von edd klärt uns über den weiten Verwendungsbereich des Wortes auf.

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Das wunderbare Land, wo der Vogel Phönix lebt, liegt eá d ig da, wäh­
rend ringsum auf der Erde die Sintflut wütet. Nach dem Beowulf leben
die Dänen vor Grendels Angriff in Glück und Freude, eád ig , in der Königs­
halle, und mit dem Wunsche: „Sei e á d ig !“ dankt die dänische Königin
Beowulf für seine Tat. Der Gedanke an das himmlische Glück (e á d ) ver­
zehrt Satan nach seinem Fall; das Wort dient oft, um die Glückseligkeit
des Himmels zu bezeichnen. Jesus ist in Ewigkeit gepriesen, weil niemals
ein Anfang seines eád , seiner Stärke und Herrlichkeit gewesen war. An­
gesichts der Lieblichkeit des Vogels Phönix, der Stärke seiner Schwingen,
wird gesagt, daß Gott ihm solches e ád gegeben habe. Die Assyrer sind
Gegenstand verächtlichen Mitleids: „ihre Ehre, ihr e ád , ihre Tatkraft
waren erschöpft“ , als ihr Oberhaupt durch Judiths Schwert getötet dalag
(Phönix 446; Beow. 100, 1225; Gen. 402; Christ 1294, 1401; Guth. 1165;
Phönix 638, 319; Judith 273).
Dies muß der Leser im Gedächtnis behalten, wenn er sich den Inhalt
der Strophen in seiner ganzen Schwere vergegenwärtigen will, in denen
die Herabsetzung des Stammes des Ruben beschrieben wird, der einen
niedrigeren Platz einnehmen mußte, weil er durch Sünde die Führerschaft
verwirkt hatte: sein Bruder hatte ihm e á d und Adel geraubt. Wenn wir
lesen, daß die Söhne eá d annehmen und verwalten, daß die Verwandten
„in gutem Einvernehmen e á d und Ehre vermehren“ , so haben die Sätze
mehr Gewicht als es möglich wäre, ihnen in einer Sprache zu geben, in
der e ád entweder nur Glück oder aber Macht oder Erbschaft oder Besitz­
tümer bedeuten müßte; niemals können wir in das Wort „Besitz“ die
gesteigerte Bedeutung eines Familienglücks hineinlegen, die, untrennbar
mit Erbschaft verbunden, diesem einen Wert beimessen und zugleich das
verbindende Glied zwischen den Menschen und ihren Gütern bilden
würde. In seiner vollsten Bedeutung als das Heil oder das Leben, das
ein Individuum zu einem Verwandten oder zu einem menschlichen Wesen
macht, kommt das Wort noch bei den Nordländern vor; die Zukunft
eines Mannes, der einen Friedensbruch begangen hat, indem er seinen
Schwager tötete, wird folgendermaßen beschrieben: Er soll wie ein Wolf
in die Einöde laufen, des a u ö und aller Freude bar (siehe Exod. 339;
Rätsel 27, 23; Helg. Hund. II, 33; vgl. Heliand o d und verwandte
Wörter).
Der volle, einheitliche Sinn von e ád ig ist auch dann erhalten, wenn es
von einem Menschen gebraucht wird, um die ganze Menschlichkeit zu
bezeichnen (Gen. 1476, 1885, 2595, 2833 usw.); siehe die charakteristische
Strophe Gen. 1107: Adam bekam einen braven Sohn, er war e á d ig und
wuchs auf zur Freude seine Eltern.

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Die gleiche Bedeutung von Leben, Heil und Ehre ist in dem Wort bleed
enthalten (Beow. 18, 1013, 1299, 1703, 1124; Gen. 1890, vgl. 1608, 859,
Judith 63); Reichtum an Verwandten bezeichnet es Exod. 318; m an n h eill,
gesellschaftliches Ansehen: Dan. 455, 164; Kriegsheil: Judith 122, B A
Po. I ll, 1, S. 150, V. 68; Erfolg, Weisheit: Cräftas 103 (B A Po. I ll, 1,
S. 143), Phönix 549.

3. Domr

D o m = Glück und Macht: Beow. 1528, Gen. 56, 1199, 2082, Exod.
570, Jud. 196, 266, B A Po. I, 294 (85) vgl. die Ableitungssilbe in fre o -
d ó m , w isd o m , cyn edó m .
D o m = Macht als Wille: Beow. 895, 2964, Exod. 520, And. 1695, Guth.
82, 744 vgl. Dan. 143.
D ó m = der Wille, der zu seinem Ziel gelangt, d .i. Entscheidung, Urteil:
Beow. 441, 978, Gen. 1625, 1915, Dan. 190.
D ó m = Herrscherkraft: Beow. 2147, 2776, B A Po. I, 360 (38).
D ó m = E h r e : Beow. 1470, 1491, 1720, 2179, 2666, Jud. 300, B A Po. I,
363 (129).
D ó m — Ruhm: Beow. 885, 1645.
D ó m — Ruhm nach dem Tode, Leben, daher in christlicher Sprache:
Ewiges Leben, Erlösung: Beow. 2820 vgl. 1388. In unserer Übersetzung
dieses Wortes müssen wir notgedrungen die Idee in ihre verschiedenen
Aspekte zerlegen, anstatt sie zu verstärken. Beim Vergleichen einer Reihe
von Texten wie Dan. 163/4, 478/9, 762/3 wird der Leser bemerken, daß
d ó m an einer Stelle Heil und Ehre und an einer anderen Ehre und Heil
bedeutet.
(Vgl. dazu Band II, K ap. 2, sowie unter d ó m r im K ap. „Völuspa* im
II. Band.)

4. Heill, séls

Die Einheit von Körper und Seele prägt die Ideen von moralischem
und ethischem Wert. Sünde ist einfach Krankheit und durchdringt den
ganzen Menschen, mit allem, was zu seiner Person gehört. Sünde kann
ihren Ursprung in geistiger Schuld haben, wie in ungesetzlichem Toten,
Verletzung der Keuschheit, Erleiden einer Kränkung, Mangel an Wage­
mut; aber der Makel wird den Körper und die Habe des Übeltäters
durchdringen, indem er ihn unrein macht und ansteckend für alle, die mit
ihm in Berührung kommen. Andererseits aber kann sich die Sünde auch

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durch den Körper einschleichen; angesteckt von Dingen, die u nh eore sind,
und durch die geringste Befleckung der Hände, arbeitet sie sich in den
Menschen hinein, Gedanken und Beweggründe vergiftend, und - wenn
nicht aufgehalten - die Seele zerstörend und sie jäh in Neidingschaft
stürzend. - Das nordische Adjektiv h eill bezeichnet die körperliche Ganz­
heit eines Mannes: gesund, ohne Wunden und geistig gesund; b e ill h u g r
enthält Ehrenhaftigkeit, Geradheit und Wohlwollen; heil r á ð bedeutet
Pläne oder Ratschläge, die sicher erfolgbringend sein werden und in den
besten Absichten gegeben sind. Der geistige und ethische Sinn wird von
dem Übersetzer der gotischen Bibel betont, der für Gut und Böse keine
bessere Übertragung fand als sels und unsêls. Die Kraft des Worts geht
verloren, wenn es differenziert wird, vgl. z. B. H av. 156: Männer, die
kraftvoll in die Schlacht und aus der Schlacht schreiten, h eilir h ild a r til,
h e ilir h ild i f r å , k o m a p e ir h eilir h v a ð a n , dazu Beow. 300, 1974, 1503;
auch Formeln wie: w es h ale, m a l h eill, was nach unseren Vorstellungen
einen Glückwunsch und den Wunsch andeutet, daß die geäußerten Worte
wirksam und kräftig sein mögen.
H e ill, Heil, Ham ingja (vgl. auch Band II über h eim ta h e ill; es ist
kein Unterschied in der Bedeutung zwischen fern, und neutr. vorhanden):
Svarfd. 17, Flat. I, 538, Grettir 176, Austf. 95, N jála 4, Gr<$. 16, Beow.
1217 vgl. 204, Ancient Laws and Institutes of England 356 (32); siehe
auch Graff IV, 864/5.
Waffenheil: Forns. 48, Z. 10, Kormak 20.
l l l u h e illi: Flat. II, 189, Islend. 141, Gud. I, 22, Hel. 4.
G ó ð u h eilli = Heil Dir, Svarfd. 7.
Heil, Segen, der aus einer kultischen Handlung erwächst und sich in
guten Wahrzeichen offenbart; le ita h e illa : Flat. I, 144 vgl. 145, Egil 152,
Heims. I ll, 450, Kormak 46, Bard. 7, Landn. 7, Z. 1, vgl. Hynd. 49/50;
til h e illa, Heil und gutes Wahrzeichen, Eyrb. K ap. 44, Forns. 123, Landn. 7,
Z. 15; dazu das Sprichwort: f a l l er f a r a r h eill, Mork. 116, vgl. Regin
19/20, vgl. 22; kultische Geräte, Sigrd. 17.

5. U tgard
(s. o. S. 143 ff.)

In Norwegen besteht Utgard aus ungeheuren Wäldern, öden Felsen,


Bergen, über die Stürme dahinrasen, naß und schlüpfrig oder mit Rauh-
reif bedeckt, aus reißenden, schäumenden Flüssen, S E 44 ff., 88, 89 vgl.

405
Vsp. 36, Grim. 27, Skjald. I, 139 ff., Skim . 10, Svip., Saxo I, 420 ff.,
Adam Brem. IV, 38, 39/40 (weiteres im II. Band).
In formelhaften Märchendarstellungen begegnet uns das traditionelle
Bild des norwegischen Utgard: Eine Lichtung im Wald unter steil über­
hängenden Felsen, oft in Nebel gehüllt (Fornald. III, 387, 412, 471,
Flat. I, 257/8, 527, Islend. 434, Austf. 188/9, 01 Tr. 44/5, Flat. I, 398
vgl. 278).
Eine Schilderung von Utgard ist in den Beschreibungen des Weges
enthalten, der zu Hel führt, vgl. Bugge: Norr. Skr. 69, S E 59, For­
nald. III, 653, usw., Fornald. III, 568 ff., Islend. 466 vgl. Bardarsaga
snæfellsáss.
Uber den Utgard von Halogaland siehe Fornald. II, 107 ff.; vgl. auch
Band II, Ende des 2. Kapitels.
Beschreibungen der Bewohner von Utgard in der Hymiskvida, ferner
Fornald. III, 482, Islend. 464, Flat. I, 21, 219.
In anderen Gegenden wird Utgard als ein Gebiet von undurchdring­
lichen Wäldern dargestellt, Jarnvidr genannt, das von Dämonen in Wolfs­
gestalt heimgesucht wird, S E 17 vgl. Sturl. I, 4; auch Heliand 1121.
Dazu Volkskundliches bei Grimm: Myth. I, 381, III, 132. Als Wald voll
von Sümpfen und Mooren im Beow. 103/4, 161/2, 1348 ff., 1402 ff.; der
Jöte ib. 120/1, 726/7, 983/4, 1615 ff., B A Po. I, 340 (42).
Das Unheimliche der flachen Ebene bei Saxo I, 51.6

6. Naturen

Als Ergänzung der Andeutungen im Text seien hier einige „N aturen“


verzeichnet, sofern es möglich ist, ihr Megin und ihre Seele aufzuspüren.
Für das Studium primitiver und alter Religionen sind unsere Botanik
und unsere Zoologie von ebensowenig Nutzen wie unsere Psychologie.
Wir müssen mit der Feststellung dessen beginnen, was die Dinge im Lichte
primitiver Erfahrung waren, wir müssen lernen, wie wir sehen sollen,
und was wir sehen und hören sollen, und wir müssen genau so primitiv
hören und fühlen wie Kinder, denen das Wissen um die Dinge bei­
gebracht wird, und für jedes neue Volk somit eine neue Wissenschaft auf­
bauen. Ehe diese Arbeit nicht getan ist, sollten wir lieber nicht zu dreist
von unserem Verständnis primitiver Religionen sprechen. Die Aufgabe
ist alles andere als leicht; ich kenne in der Tat keine, die in höherem
Maße wissenschaftliche Hingabe und stoffliche Einfühlung erfordert —
offene Augen und einen offenen Sinn. Die Geringfügigkeit und der zu-

406
fällige Charakter der literarischen Überbleibsel der alten Religionen
hemmen uns, aber N ot kennt kein Gebot und keine Unmöglichkeit.
Unsere Aufgabe wird noch dadurch erschwert, daß die Erfahrung dem
Walten der Phantasie Grenzen setzt. Wir haben mit den Dingen um uns
die Fühlung verloren; unsere Erfahrung ist bis ins tiefste impressioni­
stischer Art. N ur ein flüchtiger Schimmer der N atur dringt zu uns und
bildet den Ausgangspunkt unserer Empfindung. Um die Hefe und Trag­
weite der alten und primitiven Sprache zu erfassen, genügt es nicht, eine
lange Reihe von charakteristischen Merkmalen zusammenzufügen, wir
müssen, soweit es möglich ist, eine Synthese konstruieren, wir müssen
versuchen, die „N atur“ und Heil eines Dinges als ein organisches, leben­
des Ganzes zu erfassen. Unwillkürlich drängen sich uns beim Lesen der
Dichter jener alten Zeit unsere eigenen impressionistischen Vorstellungen
au f; wir nehmen jedes Wort für sich als Träger der jeweiligen Augenblicks­
stimmung, und so mißlingt es uns, die Ganzheit des Bildes zu begreifen.
Wenn der Dichter ein Bild des „seefahrenden“ Schiffes entwirft, so nehmen
wir nicht das ganze Schiff in uns auf, sondern nur den Augenblick unse­
res Eindrucks von dem Schiff, wie es müßig am Strande liegt, und un­
bewußt ergänzen wir: Siehe, jetzt hat es Ruhe, das Schiff, das die See
gepflügt hat und bald neuen Stürmen ausgesetzt sein wird. Wenn wir
lesen, daß das Schwert nicht nur grau und scharf, sondern gleichzeitig
auch das „Überbleibsel“ des Hammers, das Werk des Schmiedes und das
Erbstück von einem gewissen Menschen ist, so müssen wir versuchen, uns
vorzustellen, daß der Krieger das Werk des Hammers und die Geschichte
irgendeines Vorfahren und irgendeines Sieges schwingt. Die See oder das
Wasser ist ebenso k o lb lá r und ausdehnbar, wenn es in einem Kübel ge­
tragen wird, wie wenn es in Wogen am Horizont rollt, ebenso salzig,
wenn es vom Schiffsdeck aus beobachtet wird, wie wenn ein Schwimmer
hineintaucht.
Was den poetischen Stil des Nordens anbelangt, so ist es wahr, daß die
Sprache der Skalden und besonders die Dichtung der Angelsachsen barock
ist; dieser Barock aber hat die angeborenen Charakterzüge folgerichtig
weitergeführt, und er gibt somit primitive Gedanken in Hautrelief
wieder.

T ag

L jó ss, Helg. Hund. II, 51; b erh t, Heliand 5767 (niemals blau).
Mythisch, Vaf. 12, 25, S E 16 (Sk nfaxi).
d a g w ó m a , Guth. 1191, Exod. 344; d œ g ré d w ó m a, Guth. 1266, And. 125,

407
vgl. Grimm: Myth. 622, aber d œ gw óm a bedeutet nicht Anbruch des Tages,
selbst wenn d a g w ó m a der Nacht folgt, siehe Guth. 1191.

Sonne
B erht, Heliand 3125;
h e d a r, h ad o r, beiÖr, Heliand 5714, Christ 693, Phönix 212, Grim. 39;
huit, Heliand 2605;
sn ig li, Heliand 2625, 3577;
w o ru ld scan d e l, d a g c a n d e l, ro d o res catid el, Beow. 1965, 1572, And. 835
usw. sind folgerichtige Weiterführungen, wenn auch umgedeutet; vgl.
B A P o . I, 375 (15);
h eo fon es w y n , Beow. 1801; w y n c a n d e l, Guth. 1186; ängstlich, fliehend,
S E 17, Grim. 39;
Macht, Glück spendend, s. o. S. 191;
Dämonen zum Erstarren bringend (Gegensatz zur Nacht), Alvis. 16,
35, Helg. Hj. 29/30;
á rta li, Vaf. 23;
mythisch, Vaf. 23, Grim. 37, S E 16/17.

Nacht

p y ste r , Jud. 34, Heliand 4359, 4668, 4911;


w an n , Beow. 702;
h rú n w an n , And. 1306;
d eo rce, Phönix 98, B A Po. III, 191 (9), Guth. 1191, Beow. 2211;
sw e art, Beow. 167, Heliand 4998 vgl. Rieht, s. u. Nacht;
n ip en d e, Beow. 547, 649;
Schlummer und Traum, Alvis. 30;
n ih tes n earw e, Guth. 1183, Elene 1239, B A Po. I, 290 (7); Nörfi,
S E 16, Vaf. 25, Alvis. 29 vgl. S. Bugge: Helgedigtene S. 97;
dämonisch böse, vgl. o. S. 147 und 192.

Mo nd
Torht, Heliand 3628;
sk y n d ir, der Eilige, Alvis. 14;
Macht gegen Feinde, H áv. 137;
å r ta li, Alvis. 14, Vaf. 23;
mythisch, Vaf. 23, 25, S E 16/17.

408
Himmel
H lý r n ir , Al vis. 12, S E (A M) I, 470, 592;
v in d o f n ir, Al vis. 12;
d r ifa n d i, h re g g m im ir, le ip tr, S E (A M) I, 470;
v in d b lá in n , viÖ bláin n , v iö fe ð m i, S E (A M) I, 592;
Ÿ m is hatiss, usw., S E (A M) I, 314 ff.;
in h eið a him in, H arb. 19 (in mythischer Formel);
h e ið þ y r n ir , s. u. unter „Hirsch“ .

Erde
F jö ln ý t, Sigrd. 4, vgl. B A Po. I, 316 (69): firu m to n y tte ; vgl. d re am ,
m an n d re á m , seled reám , w y n ;
weit, ausgedehnt, w íd , rú m , gin , b r á d , Beow. 1965; Gen. 104, 114, 123,
154, 213, 1350, 1538, 2451; Jud. 2, 349; Christ 357; Heliand 2585,4314;
B A Po. 1,3 (51);
eo rm en g ru n d , Beow. 859, altnordisdi jö rm en g ru n d , Grim. 20;
p r u m a , unbeweglich, S E (A M) I, 586 vgl. den Gebrauch des Verbs
Grim. 8;
ernährend, wachsend, B A Po. I, 345 (73) vgl. 316 (68), Al vis. 10, Edd.
Min. 131;
mildtätig, Macht, Glück, H áv. 137; Christ 1530; B A Po. I, 319;
Wege, Beow. 840, 866; Gen. 2050; Phönix 178, And. 206, 775, Elene
467, 1014; Christ 1530, Guth. 1012, 1224; Alvis. 10; H áv. 106; Bald. 3,
Oddrun. 3, 8. Wege bedeutet nicht Landstraße, sondern spielt auf die
Möglichkeit von Reisen an; Pfade oder Wegsamkeit ist ein Kennzeichen
der Erde, vgl. Homer;
grün, Alvis. 10; groen ar b ra u tir, Faf. 41, Rig. 1, Skjald. 139 (1); vgl.
Exod. 312, And. 776;
Thors Mutter, S E 16; Thrymsk. 1, Skjald. 17 (14);
Steine = die Knochen der Erde, Skjald. 12 (26); Gras = ihr Haar,
Skjald. 170 (3); klaffend, Skjald. 93 (2) vgl. Hallfreds Witz, Skjald. I,
147 (b r e ið le itr );
fæÖ m be arm , B A Po. I, 316.

See, Welle, Wasser


Kühn, kühl, s v a lr , s v a lk a ld r , ú r sv a lr , regenkalt, ceald e streám as,
Hynd. 38, Gud. II, 21, Vsp. 3, Grim. 7, Helg. Hund. II, 13, Beow. 1261;
k o lb lå r , nicht mit unserem Schwarz identisch, b lá a r u n n ir, Sigrd. 10;

409
fe a lu , Beow. 1950, B A Po. I, 377 (36), III, 141 (53), And. 421, 1538,
1588;
salzig, S E (A M) I, 492 ff. vgl. Beow. 1989;
breit, Beow. 507, 2473, 1551;
der Weg und das Land der Schwäne, Möwen usw., Skjald. I, 4 (19),
41 (24), Beow. 200, 1861, B A Po. I, 310, Z. 25; der Fische, Wale und
Seehunde, álh eim r, Alvis. 24, S E (A M) I, 324, Beow. 10, B A Po. I,
384, Z. 28, 292 (60);
der Weg oder das Land der Schiffe und der Seefahrer, S E (A M) I,
324, Beow. 1429.
Feuer
F re k r, der Wolf der Erle, Skjald. I, 12 (29), s. AS f récrie; Heliand:
grim m endi g ra d a g , 4369, usw.;
mildtätig, H áv. 68, 137: tek r v ið só tto m ;
a ld rh a ri, vgl. Gud. II, 39;
Heilkraft, N G L L 328 (134) vgl. Grimm: Myth. 502 (571);
Heiligkeit und heilige Kraft des Feuers, siehe II, K ap. 7 und bem.
fu n i, Feuer als kultisches Element, Alvis. 26, ib. v a g r.

Hirsch
D u n ey rr, S E, Index;
g a g h a ls, Grim. 33, h ábeinn, Gud. II, 2, h a d stu p a , Beow. 1368.
Wahrscheinlich beziehen sich einige der Umschreibungen ursprünglich
auf Renntier oder Elch und sind später auf den Hirsch übertragen worden.
E ik p y r n ir , S E (A M) I, 590, aus einer Wurzel, die schattig, über­
deckend bedeutet (in bezug auf diesen Gedanken siehe B A Po. III, 233,
Z. 15/16), vgl. dieselbe Wurzel im aktiven Sinn in hei p y r n ir , der
Himmel;
m ó tro nir, S E (A M) I, 478, 590, II, 484, 567; vgl. B A Po. I, 331
(6): m o rsta p a (Auerochse).

B är
íu g ta n n i, b lá ja x l, fe tv iö n ir , breiÖ vegi, S E (A M) I, 498, 589;
alt, B e ra sceal on h a ð e e a ld a n d eg e sfu ll, B A Po. I, 339 (17 ff., 29 f.).

Wolf
Tier der Schlacht, Jud. 206;
on w eald e , Jud. 206, Elene 28, B A Po. I, 379 (65); h o h e s geh lé a ,

410
Elene 113 vgl. S E (A M ) I, 591; m e a rc w e a rd , Exod. 168, B A P o . I, 339
(18); b lan c , Jud. 205;
grau, B A Po. I, 379 (64), 288 (82), 349 (151), III, 148 (13), S E (A M)
I, 591;
Aasfresser, b r a g if r , Gud. II, 29, S E (A M) I, 476 ff.; v a ld ý r , Vsp. 55;
h œ ð stap a, B A Po. I ll, 148 (13); hei in g i, S E (A M) I, 591.

Adler
Ü rig feÖ era, Elene 29, 111, B A Po. I, 291 (25);
sa lo w ig - p á d , Jud. 211 ;
h y rn ed n eb b a, Jud. 212.

Rabe
W a lg ifr e , Jud. 207, Elene 110;
W ielfell, Elene 53, vgl. Beow. 3025, S E (A M) I, 486 ff., vgl. v a lg a m m r ;
b ild e g r J d ig e , Exod. 162, w œ lceásega, Exod. 164;
w an n , Jud. 206, Exod. 164, Gen. 1983, Beow. 3024; sa lw ig fe ð e r a , Gen.
1448; sw e art, Gen. 1441, 1449; se a lo b rú n , B A Po. I, 16 (37); sa lo w ig -
p á d , 379 (61); b lá c , Beow. 1801; d ö k r, Reginsm. 20; d ç g g lit r , Helg.
Hund. II, 43;
d e á w ig fe ð e re , Exod. 163, Gen. 1984, Helg. Hund. II, 43;
á rflo g n ir, S E (A M ) I, 488;
h y rn ed n eb b a, B A Po. I, 379 (62).

Habicht
V eÔ rfçln ir, S E (A M) I, 488.

Schwert
Grau, scharf, beißend, brennend, kühl - der Krieger weiß, wie es sich
anfühlt, Hynd. 15, usw.
Sein Ursprung ist Teil seiner N atur: Das Werk des Hammers und der
Feile, Beow. 1032, 2829, B A P o . III, 188 (VI, 8); das Werk des Schmie­
des oder eines berühmten Herstellers, B A P o . I, 11 (2), 375 (6), III, 188
(V I, 8), 196 (X X I, 7), Beow. 455, 1562; der Weg des Wetzsteines, Skjald.
32 (8), vgl. bein in Lex. Poet.
Es muß hier hinzugefügt werden, daß das Schwert eine ihm besonders
eigene Geschichte, Charakter, Wille und Schicksal enthält. Es ist die Ge­
schichte, der n a u tr, die Gabe eines gewissen Menschen (vgl. Band II,
K ap. 1 und 3).

411
7. Stammbäume

Alle Linien der Familienähnlichkeit verzerren sich, sobald die Über­


lieferungen in der Verkleidung eines Stammbaumes wiedergegeben wer­
den. Wenn wir z. B. in unserer chronologisdien Weise versuchen, die
Ynglingatal und die H aleygjatal in Einklang zu bringen, ergeben sich
recht erstaunliche Resultate; aber der moderne Einwand, daß Godgests
Urenkel kaum durch Godgests Freund, Adils* Urgroßvater, erschlagen
und durch Godgests Enkel gerächt werden konnte, ist nicht dazu angetan,
bei den Alten einen Mangel an Tatsachensinn aufzudecken. Er beweist
nur die Vergeblichkeit aller modernen Versuche, aus alten Überlieferungen
neuzeitliche Chronologie gewinnen zu wollen; er mag jedoch dazu dienen,
einen neuen Weg zur Erforschung der Vorgänge dieser schicksalvollen
prähistorischen Jahrhunderte zu eröffnen. Die Nachforschung muß von
den Voraussetzungen des Stoffes ausgehen, und dann werden die Über­
lieferungen sich als sehr brauchbare Dokumente erweisen, frei von „phan­
tastischer Willkür“ ; die Stammbäume zeigen klar, wie und wo die Sippen
sich berührten, und auf Grund solcher Tatsachen kann eine fesselnde Ge­
schichte der Wechselwirkungen zwischen den skandinavischen Völkern
geschrieben werden.
Um den vollen Wert der skandinavischen Verzeichnisse aufzuzeigen,
müssen wir die Widersprüche besonders beachten. Der letzte Mann oder
die jeweils durch ihn repräsentierte Familie ist für das Verzeichnis aus­
schlaggebend; verschiedene Kombinationen von Vorfahren sind wertvoll,
weil sie den Aufbau verschiedener Geschlechter anzeigen. Die Literatur
ist voll von mythischen oder prähistorischen Stammbäumen, Überbleibseln
von Familientraditionen; die meisten von ihnen sind jetzt schwer unter­
zubringen, weil die Verzeichnisse aus ihrem Zusammenhang herausgerissen
und als historische Gegenstände oder als spannende Geschichten über­
liefert worden sind. Ein lehrreiches Beispiel ist die Geschichte der Skjol­
dunge. Im Beowulf werden sie als eine dänische Sippe eingeführt, die mit
den Hadubarden Krieg führt; die skandinavischen Quellen gehen mei­
stens auf die Zeit zurück, wo die Hamingja der Hadubarden von den
Skjoldungen auf genommen worden war, ihre Familienüberlieferungen der
Saga des dänischen Hauses einverleibt waren und ihre Könige unter
dessen Ahnen aufgezählt wurden. Auf der anderen Seite finden wir sie
im Beowulf zu einer Zeit, wo sie mit den Gautland-Königen eng ver­
bunden sind, und wir sehen die Wirkung dieser Verbindung in dem
direkt oder indirekt mitgeteilten Verzeichnis der Ahnen; es ist eine Mög­
lichkeit vorhanden, wenn auch keine sehr große, daß dieser aus Skjöl-

412
<lung- und Gautland-Hamingja gebildete Ring durch Familienbeziehungen
innerhalb des angelsächsischen Hauses entstanden ist. Von der Hervör-
Heidrek-Sippschaft ist eine beträchtliche Zahl von „Verkürzungen“ er­
halten; neben solchen von Hyndluljoð und Hervararsaga findet sich eine
in Flateyjarbók I, 26, eine andere ebenda 279, und zu diesen muß noch
der Stammbaum von Eyvind Austmaðr gestellt werden (s. u. S. 415 u. 421.)
Die alte Art, Verwandtschaft wie sich durchschneidende Kreise aufzu­
zeichnen, blieb in Norwegen noch bestehen, nachdem die Isländer längst
von englischen und irischen Gelehrten gelernt hatten, in genealogischen
Kategorien zu denken. Ein interessantes Beispiel ist in dem Verzeichnis
von König H aralds Verwandten erhalten geblieben, oder vielmehr in
dem Bild seiner Hamingja, Flat. I, 24 ff.; die Linien sind in genealogi­
scher Reihenfolge durchgeführt, aber das ursprüngliche System ist überall
hinter den Stammbäumen erkennbar. Die Verzeichnisse können eine In­
ventaraufstellung der Sippen genannt werden, deren Ehre und Heil in
H aralds Hamingja hineintraten. Spätere Geschichtsschreiber haben die
Komposition durch Hinzufügung eigener Forschungsergebnisse verbessert,
aber die Ergänzungen haben die echten Überlieferungen des Hofes nicht
wesentlich verdunkelt. Die Verzeichnisse sind vollkommen unabhängig
von den Ynglingatal. In der Ynglingasaga wird die Dichtung als sagen­
hafte Geschichte Norwegens benutzt, aber dies ist die Erfindung eines
Geschichtsschreibers; der Grund liegt nahe genug - in einem berühmten
Gedicht, das dem nach Urkunden suchenden späteren Geschichtsforscher
vorlag, war Rögnvald unsterblich gemacht worden.

Ein jüngerer Dichter, Eyvind Skaldaspillir, setzt den Jarlen auf H ladir
ein Denkmal, das mit dem der regierenden Könige Südnorwegens zu
vergleichen ist. Zweifellos hatte sowohl derjenige, der den Auftrag er­
teilte, als auch der Künstler, der ihn ausführte, jenes Vorbild vor
Augen, aber das bedeutet keineswegs, daß der Inhalt der Haleygjatal in
irgendeiner Weise dem der Ynglingatal an innerem Wert nachsteht. Die
Theorie, daß ein Dichter auf die Idee hätte kommen sollen, Jarl Hakons
Herz zu ergötzen und seinen Ruhm zu vermehren, indem er willkürlich
eine selbstkonstruierte Ahnentafel aufgestellt hätte - diese Theorie ist zu
phantastisch, um erörtert zu werden. Eyvinds Genie äußerte sich darin,
daß er die Erfindung des älteren Dichters seinem eigenen Gebrauch an­
paßte, indem er die Kreise in eine gerade Linie ordnete, und somit tat
er für Hakon, was Thjodolf für Rögnvald getan hatte: er kleidete seine
Ham ingja in die neumodische europäische Form.
Einer näheren Betrachtung teilen sich auch die H aleygjatal in Kreise

413
auf, die zumeist die Sippschaften der nordnorwegischen Häuptlinge dar­
stellen. Unglücklicherweise ist der größte Teil des Gedichts verloren­
gegangen, und wir besitzen nur Auszüge der Namenverzeichnisse. In der
sprachlichen Aufmachung der dänischen Historiker heißt es:

Odin und Skadi Heimgest, Hulds Bruder H avar


Saeming Gylaug H arald Trygill
Godhialt Gudlaug Thrond
Sverdhialt Mundill der Alte H arald
Hadbrod Hersir Herlaug
Himinleig Brand der Jarl Herlaug
Vedrhalt Brynjolf Grjotgard
H avar (Handrammi) Bard Hakon, Ja rl auf H ladir
Godgest Hergils Sigurd
Jarl Hakon

Der Gründer der Familie des Jarls im engsten Sinne war Grjotgard,
der Mann mit dem Namen, der lange Zeit hindurch das besondere Eigen­
tum der Sippe war. Ob Grjotgards Vorfahren in dem Gedicht, Herlaug
und H arald, sein Vater und Großvater sind, oder - wahrscheinlicher
vielleicht - seine angeheirateten Verwandten, im alten Sinne nahe Ver­
wandten, ist ein Geheimnis, das die Toten mit sich nahmen; wir wissen
nur, daß zwei Brüder, Herlaug und Hrollaug, zu H arald Schönhaars Zeit
Könige von Naumudal waren, und der Name Herlaug in dem Geschlecht
der Jarle auf H ladir üblich war. Von den übrigen Namen des Verzeich­
nisses fallen uns Brynjolf und Bard auf, als alte Bekannte aus den nörd­
lichen Teilen Norwegens, der Heimat des Hakon-Geschlechts. In Godgest,
König von Halogaland, der König Adils* Freund genannt wird, und auch
in der Gudlaug-Gylaug-Gruppe, berühren sich die Linien der Jarle auf
H ladir und Rögnvald Heidumhaerri, und wenn man die beiden mitein­
ander vergleicht, so ist ihre Ringform sofort deutlich erkennbar.

In historischen Zeiten waren die Jarle von Halogaland ziemlich weit


im Süden, in Mceri, fest ansässig, und ihr Geburtsrecht wird besiegelt
durch ihre Hamingja, wie sie in den Familienverzeichnissen erscheint. D a
ist Hamingja von dem Geschlecht der Naumudal-Könige, wie solche von
Gudlaug-Gylaug, von Godgest-Heimgest —wenn Heimgest Hulds Bruder
genannt wird (was zweifellos auf Überlieferung beruht), so soll damit
vielleicht angedeutet werden, daß die Frau, H uld, ein Bindeglied der
Familiengefühle der Jarle auf H ladir w ar; da ist Blut von gutem Bauem-

414
schlag und von Häuptlingsfamilien, wie das von Brynjolf und Jarl Brand
und Jarl H arald; die Moeri-Hamingja liegt wahrscheinlich direkt in dem
Namen Grjotgard verborgen; das Recht der Jarle, Drontheim ihren
Wohnsitz zu nennen, ist fest begründet in dem Namen jenes Thrond, der
als vierter Mann hinter Grjotgard steht. Von diesen heimatlichen Kreisen
ausgehend, reicht die Hamingja bis weit in die Welt hinaus. Hakon
nimmt eine Verwandtschaft mit den dänischen Königen in Anspruch, die
H arald Schönhaar so teuer waren, und seine Forderung entspringt der
Tatsache, daß Namen der dänischen Häuser - wie Herning und Aud -
unter seinen Kindern wiederkehren; aber Hakons Verwandtschaft mit
den südlichen Sippen durchläuft andere Linien.
Eine interessante Parallele ist in einer gelehrten Konstruktion ent­
halten, Flat. I, 22/3; sie dironologisiert verschiedene Ahnenkreise des
Jarl-Geschlechts, von denen einige diese Sippe mit Halogaland verbinden,
andere mit mächtigen Familien unten an der Westküste. Grjotgard reprä­
sentiert augenscheinlich die Hamingja der Jarle von Mœri, vgl. Agrip,
Fornm. X , Kap. 12.
Die Überlieferungen der Isländer sind seit der Zeit der Landnahme
genau genealogisiert, aber dennoch hat das alte System der Kreise seine
Spuren hinterlassen, vor allem natürlich in den Gliedern, die bis N or­
wegen zurückreichen, nicht weniger jedoch ist es in späteren Zusammen­
stellungen erkennbar, daß die Isländer nicht auf einmal ihre ererbte Art
der Ahnenaufzählung vergaßen.
Die bereits erwähnte gelehrte Aufstellung in Flat. I, 21 ff. ist auf
Grund echter Familienüberlieferungen ausgearbeitet. Ein Bruchteil gehört
den Jarlen auf H ladir an, ein anderer stammt von einem isländischen
Wohnsitz. In dem Verzeichnis Jötunbjörn - Raum - Hrossbjöm - Orm
Skjeljamoli - Knöttr, der der Vater von Thorolf Halmi und Ketil Raum
war, und weiter: Thorolf Halmi - Helgi - Bersi - Thormod - Thorlaug -
Tungu-Odd, zählt der letztgenannte Häuptling auf der einen Seite seine
Verwandtschaft mit den Vatsdoelingen und auf der anderen die mit dem
Landnahmemann Thord Thvari und der mächtigen Familie der Bresi-
söhne auf. Für den letzteren Teil ist Knöttr wichtig; er ist niemals als
Vorfahr erwähnt, aber sein Name wird in der Bresi-Familie vererbt, vgl.
Landn.S. 89 (Kap. 238), 182, 13.
Aus dem Stammbaum der Sturlunge ergibt sich eine erläuternde Paral­
lele zu den Überlieferungen der Jarle auf Hladir. Die Familie von H rafn
stammte aus Drontheim und hatte, wie die Jarle, einen Strang der däni­
schen oder südskandinavischen Hamingja. Das drückt sich in ihrer Genea­
logie durch drei auf Thrond und durch ihn auf H arald Kampfzahn und

415
Hrœrek zurückgehende Glieder aus (Landn. 103, 235, N jála 99/100, Dipl.
Isl. I, 505, S E [A M] III, L X X IV ).
Eine andere, augenscheinlich echte Überlieferung findet sieb in ziemlich
zweifelhafter Umgebung, Fornald. III, 519 ff. Dem Stammbaum zufolge
ist die Familie von Gull-Thorir mit den Jarlen auf Mceri und mit ande­
ren nördlichen Sippen verbunden, sie stammt von Thrond ab, der ein
Sohn von Saeming und Nauma ist (vgl. Vigda Ágrip, K ap. 12 ).
Die Stammutter der mächtigen isländischen Familie auf Hvamm war
die majestätische „große Witwe“ Aud. Sie ist auf den britischen Inseln
zwischen Männern aufgezogen worden, die Königreiche errichteten, und
ihr Name bezeugt die Verbindungen ihrer Verwandtschaft mit dänischen
und südskandinavischen Königen. Wie die Tochter von Jarl Hakon wird
sie nach der Aud hin d jú p a u ð g a genannt, die in der Geschichte als die
Tochter von Ivar Weitfahe berühmt ist. Einer der Freunde ihres Vaters
war Eyvind Austmaðr, der nach den Überlieferungen seiner isländischen
Verwandten eine Abstammung von H rolf, Ingjald und Frodi in Anspruch
nahm. Eyvinds Sohn Helgi war mit Auds Schwester verheiratet, und sie
verheiratete ihren eigenen Sohn mit Helgis Schwester Thurid. Aud war
mit O laf dem Weißen verheiratet, dessen Stammbaum einerseits Ver­
wandtschaft mit den norwegischen Königen, andererseits mit Ragnar
Lodbrok aufweist. Durch diese Genealogien erhalten wir die Familien­
kreise von Auds Nachkommen, die Männer auf Hvamm, und andere
isländische Zweige dieser Sippen; ihre Überlieferungen stehen nicht im
geringsten im Widerspruch zu dem Stammbaum von O laf dem Weißen,
so wie er von den englischen Historikern aufgezeichnet ist.

Eine Gruppe von Familien in Norwegen und au f Island wird durch


einen gemeinsamen Vorfahren namens H ördakari zusammengehalten; der
Name ist nicht im modernen Sinne als der eines fernen Erzeugers auf­
zufassen, sondern als der Hauptnenner einer Hamingja, die in alle diese
Sippen mit hineinfließt. Die aufgezeichneten Genealogien geben uns keine
Vorstellung von den linearen Verwandtschaften zwischen den verschiede­
nen Gruppen der Hördakarlinge. Eine Familie ist in der Geschichte durch
den norwegischen Häuptling Erling Skjalgson bekannt, der mit den
Königen von Norwegen verbunden war. Ein anderer Zweig wanderte
aus, und ihm entstammte Ulfljot, der Gesetzgeber Islands; von dieser
Familie sind zwei Genealogien überliefert, eine in Flat. I, 249 (vgl.
Landn. 95), die andere in Vatshyrna (Bard. 93/4). Die letztere ist von be­
sonderem Interesse, da wir erfahren, daß sie Ketil in Djupadal angehört
und somit den Stolz seiner Familie darstellt. Ferner haben wir ein Ver-

416
zeidmis, das Siduhall zugehört und eine lebhafte Wechselwirkung zwischen
den Häusern zeigt, die durch diese beiden Männer vertreten sind (siehe
Landn. 95).

Flat.: Vatshyrna: Landn.:


Svasi Jotunn
H rolf aus Bergi H rolf aus Bergi
Sölgi Sölvi
Bödvar Kaun
Kaun Svina Bödvar
Thorir Sviri Thorir konung
ö rn H yrna Onar ö rn Hyrna
An ö rn H yrna An
/------------- * 1 K
Aslak Bifrakari Aslak Bifrakari Thorlcif Thorleif Hvalaskuf
I i
Ketil H ördakari Ketil H ördakari Bödvar Snæthrima Bödvar Snatthrima
I I
Thora Thora Thorleif Midlung Thorleif Midlung
U lfljot U lfljot Bödvar
Gunnar Thorstein
Ketil i Djupadal Siduhall

Der Stammbaum von Ketil in Djupadal weicht von dem seines Groß­
vaters Ulfljot ab und läßt eine Hamingja erkennen, die Bestandteile der
durch Siduhall vertretenen Familie sich einverleibt hat, und umgekehrt
hat diese Sippe sich Heil von den Hördakarlingen angeeignet. Zum
Glück besitzen wir einige Andeutungen darüber, auf welche Weise dieses
wechselseitige Interesse geweckt wurde; laut einer Überlieferung in H alb
Zweig der Familie heiratete ein Verwandter unter ziemlich romantischen
Umständen eine Frau, die die Witwe eines Hördakarlings war, und zog
für einen ermordeten Mann Nachkommen groß - oder versuchte, sie groß­
zuziehen (Flat. I, 21). Natürlich geht es nicht an, diese Überlieferungen
verschiedener Höfe in Einklang zu bringen, indem man sie zusammen­
wirft oder An und Onar identifiziert (bem. Landn. 95).
Eine dritte Familie der Hördakarlinge mit isländischem Ruhm hat
H jörleif als Mittelpunkt. Seine väterliche Ahnentafel lautet: Hrodmar,
H roald, Hromund Gripson (Landn. 6), das Verzeichnis mütterlicherseits
ist enthalten in Forns. 120, wie folgt: Hjörleif, Hrodny, Ketil Bifra,

417
H ördakari; diese Kreise berechtigen uns nicht dazu, Hrodmar und
Hrodny als in einer Ehe vereinigt zu betraditen.
In der gleichen Weise drücken eine Reihe von Sippen in Norwegen
und Island ihre verwandtschaftlichen Gefühle unter dem Namen von
Vikingakari (vgl. oben Hördakari) aus. Aus einem der norwegischen
Zweige ging Astrid hervor, die Mutter des Idealkönigs O laf Tryggvason.
Der Isländer Glum stammt väterlicherseits von Helgi Magri ab, aber,
wie mehrfach festgestellt, war er mit seiner mütterlichen Verwandtschaft
innig verbunden (vgl. Band II, Kap. 1 und 3), und seine Verwandtschaft
auf seiten der Mutter wird in seiner Saga durch den Stammbaum zum
Ausdruck gebracht (Gluma 13, vgl. Landn. 73):
Thorir
Eymund Akraspillir
Vikingakari
Bödvar Sigurd
Astrid Vigfus
Erik Astrid
Astrid Glum
O laf Tryggvason
Eine andere Familie, die von Audun Skökull nach Island gebracht
wurde, ist durch Heirat mit den Vikingakarlingen verbunden. Auduns
Zweig nahm durch Jarl Steinar in England Abstammung von Ragnar
Lodbrok in Anspruch (Landn. 58). In Landn. 249 finden wir eine Zu­
sammenstellung von Glums und Auduns Genealogien:

Ragnar Lodbrok
I
Hundasteinar <^> Alöf

Björn Erik
I .1
Audun Skökull Sigurd Bjodaskalli

Vikingakari
/■ ■ ■ ■ ■■ ■ , r S l “ V

Erik Vigfus
Astrid Astrid
O laf Tryggvason Glum

418
Dieser Stammbaum mag vielleicht durch den Versuch einer Harmoni­
sierung entstanden sein, wahrscheinlicher aber ist es, daß er die Ver­
wandtschaft zwischen isländischen Familien widerspiegelt und dem H ofe
Glums angehört. Andrerseits heirateten die Familien Auduns und Ingi-
munds untereinander, und diese Verbindung zwischen Vatsdoelingen und
Vikingakarlingen ist in einem kleinen Teil einer Genealogie verzeichnet
(Fornald. II, 361/2, vgl. Landn. 59). In dem in Christiania Vidensk.
Selsk. Forh. 1875, S. 100 , veröffentlichten Verzeichnis finden wir den­
selben Kreis:
An Bogsveigir
Thorir
ögm und Akraspillir
Sigurd Bjodaskalli

Die Genealogien waren Inhaltsverzeichnisse der Familienüberlieferun­


gen, jeder Name war ein Gedicht. Unter dem belebenden Einfluß eng­
lischer und irischer Literatur entwickelten sich die Überlieferungen zu
Sagas und wurden Gegenstand literarischer Behandlung, aber sie behielten
ihren Charakter als Erbstücke bei und bezeugten die Familieninteressen,
indem sie in einen Stammbaum endeten. Die Hervararsaga gehört zu
einem norwegischen Stamm, der mit schwedischen Sippen verbunden war.
Am Ende der Saga werden uns eine Menge Namen vorgeführt, die
scheinbar ein Verzeichnis der schwedischen Könige darstellen, aber es ist
nicht schwer zu erkennen, daß das Gravitationszentrum in Norwegen
liegt. Die dominierende Gestalt ist Finn Skjalgi, ein Häuptling, der durch
Heirat mit der Linie von H arald Schönhaar verbunden war. Ein Zweig
der Skjalgi-Sippe wanderte nach Island aus, und seine Männer sind durch
die N jála als die Gegner von Gunnar und N jal bekannt; ein anderer
blieb in Norwegen und spielte in der inneren Geschichte des Landes eine
hervorragende Rolle. Ihr größter Mann war Harek von Thjotta, der ge­
fährliche Gegner O lafs; Harek hatte einen Vater von literarischem R uf:
Eyvind Skaldaspillir. Durch Astrid, die Mutter O laf Tryggvasons, war
die Skjalgi-Sippe mit den Vikingakarlingen verbunden, und durch Asta,
die Mutter Olafs des Heiligen, mit einem in Mittelnorwegen wohnenden
Geschlecht. In den Gegenden des Gudbrandtales saß offenbar eine Sippe,
oder eine Anzahl von Sippen, die stolz darauf waren, den Titel von
Jarlen zu tragen und wie Könige zu herrschen; die heiligen Eigenschaften
dieser Männer offenbaren sich darin, daß sie Gudbrand genannt werden
oder andere ähnlich aufgebaute Namen führen. Mittels der Stamm­
bäume in der Landnama können wir die Hamingja dieses Stammes ver­

419
folgen, wie sie in die isländischen Sippen hineinfließt; der Name Gud-
brand wurde in Ingimunds Familie durch seinen Sohn Thorstein auf
Grund einer Verbindung mit den Vikingakarlingen wiederbelebt - Thor­
steins Schwester Jorun war mit Asgeir verheiratet, dessen Schwestertochter
Gudbrand Kulas Frau und die Mutter Astas war.
Ein anderer, diesen Norwegern eigentümlicher Name ist Gizur. Er
kommt in den frühen Jahrhunderten isländischer Geschichte selten vor
und ist in Norwegen nicht sehr gebräuchlich. Der berühmteste Träger
dieses Namens auf Island, Gizur der Weiße, wurde in Erinnerung daran,
daß sein Vater sich mit den Vikingakarlingen verbunden hatte, so be­
nannt - dieser war Teit Ketilbjörns Sohn, der Alöf heiratete (s. Landn.
121 ). Der andere Gizur erscheint in der großen Familie von K jallak;
Kjallak erhielt den Namen für seinen Sohn durch seines Vaters Schwester,
die mit Björn Austrœni verheiratet war; in Björns Linie wurde der Name
Vigfus gebräuchlich, ein charakteristischer Vikingakari-Name. Wie wir
später sehen werden, hat Björns Familie Verwandtschaftsbeziehungen zu
den betreffenden Sippen. In Norwegen sind uns vor dem 10. Jahrhundert
nur zwei Personen dieses Namens bekannt, und eine von ihnen ist Gizur,
Gudbrands Sohn; vgl. auch die Strophe in Hervararsaga 345: G iz u r
G au tu m k v á ð u r á ð a .
Auf diesen Umwegen werden wir mit einer Unzahl von norwegischen
Sippen bekanntgemacht, deren Verbindungen von östlichen Interessen be­
einflußt waren, die durch Heiraten miteinander verknüpft, von H äupt­
lingen beherrscht waren, welche den Prunk und Glanz der Könige ver­
schmähten und ihre Titel mit bewußtem Stolz trugen. Während die
Häuptlinge und Könige des westlichen Norwegens über die See Ausschau
nach den westlichen Inseln hielten und die Jarle auf H ladir dänische
Familienbeziehungen bevorzugten, fanden die Familien Mittelnorwegens
Freunde und Verbündete in den schwedischen Häusern und unter den
Königen schwedischer Herkunft, die in Rußland herrschten. Die Söhne
Harald Schönhaars durchkreuzen die Nordsee in unruhvollen Tagen, die
Olafs wenden ebenso selbstverständlich ihre Bliche nach dem Osten.
Die Hamingja dieser Sippen ist in der Hervararsaga abgebildet - oder,
genauer gesagt, in den Sagen, die in der Hervararsaga in literarischer
Form zusammengefügt sind; dieses Werk verkörpert die Überlieferungen,
die den Sippenmännern als Vorbild dienten und von ihnen bei ihren
Festen vorgetragen wurden. Im Mittelpunkt der Saga steht die Hervör-
Heidrek-Sippe mit den Helden, die durch ihre schicksalsschwere Hamingja
in eine Tragödie hineingezogen werden und sich über diese Tragödie zu
großer Macht und großem Ruhm erheben; ihr Schicksal erweitert sich zu

420
Kreisen, die im Osten abbrechen, und ihre Geschichte gipfelt in der
Schlacht, die auf den Ebenen Rußlands gegen die „Hunnen“ ausgefochten
wurde. Wo dieses bedeutende Haus seine Hochsitzpfeiler hatte, mag eine
offene Frage bleiben - durch die Saga erfahren wir, daß die Geschichte
und die Hamingja von Heidrek und Hervor schwedischen Sippen ein ver­
leibt worden ist und folglich einen Ring in dem Familienstolz der
Vîkingakari- und Gudbrandkreise bildete. Die Männer, die Verwandt­
schaft mit Heidrek für sich in Anspruch nahmen, haben andere Kreise,
die durchaus schwedisch waren, wie es die Zusammenstellung der Sagen
zeigt; Heidrek ist verwoben mit Angantyr, dem alten König von Ober­
schweden, aus dem Beowulf wohlbekannt als Ongentheow.
Unter den Häuptlingen und Gaukönigen, die ihr Scherflein zur Ge­
staltung von Englands Geschichte beitrugen, befand sich im Wikinger­
zeitalter Eyvind Austmaðr, der Mann aus dem Osten, d. h. aus Gautland;
seine Mutter stammte nach den isländischen Genealogien durch H rolf und
Ingjald von Frodi ab. Als Aud nach dem Sturz ihres Gatten, Olafs des
Weißen, auf Island ein Haus gründete, brachte sie die Tochter von Eyvind
als ihres Sohnes Weib mit sich. Durch ein kleines Bruchstück einer
Genealogie sind die Verwandten ihres Vaters, Ketil Flatnef, bekannt; es
führt zum Hersen Vedrargrim und zu Hervor hin, die die Enkelin von
König Eylaug genannt wird. Vielleicht ist es der Erwähnung wert, daß
der Name Amgrim in dieser Familie zu existieren scheint; nach der
Kjalnesingasaga war ein Enkel von Ketil so benannt, und Arnbjörn er­
scheint noch später wieder. Um diese Einzelheiten ins rechte Licht zu
rücken, müssen wir uns vor Augen halten, daß sie nicht etwa biogra­
phische Daten als Grundlage für eine Lebensbeschreibung von Eyvind
und Ketil sind, sondern den Familienstolz ihrer isländischen Nachkommen
darstellen.
Ein charakteristischer Zug in den Genealogien dieser schwedischen und
norwegischen Familien zeigt sich in dem häufigen Vorkommen von Namen
wie Eymund und Eystein. Eine Enkelin von Helgi Magri hieß Eyja.
Dieser Namenstyp hat sein sagenhaftes Gegenstück in der Hervararsaga:
Eygrim Bolm und Eyfura (vgl. dazu Eylaug im Stammbaum von Ketil
Flatnef).
Die Genealogien geben uns den Schlüssel zu einer rätselhaften Tatsache
in der H ervararsaga: in dem dichten Gedränge alter Helden, inmitten
des Getöses der Schlachten, die in Rußland gegen die „Hunnen“ geschla­
gen wurden, taucht plötzlich, 'a ls sei sie vom Himmel gefallen, eine
mystische Person auf - Gizur genannt. Er verschafft uns die Gewißheit,
daß die Hervör-Ham ingja in einer norwegischen Sippe wiedergeboren

421
worden war, und daß die Sage ihr angepaßt und als ein Familien-dómr
wiedererzählt oder wieder dargestellt worden ist.

Derselbe Kunstgriff der Übertragung alter Tatsachen in ein modernes


System ist in den Verzeichnissen der angelsächsischen Könige angewendet
worden, aber auch hier ist die Gruppenverwandtschaft klar erkennbar. Die
Art, wie die Verzeichnisse im allgemeinen aufgestellt sind, zeugt von dem
Eifer mittelalterlicher Kompilatoren, alles in Einklang zu bringen; ein
tieferes Studium der Quellen wird es zweifellos ermöglichen, einige der
Hamingjas der königlichen Häuser Großbritanniens auseinanderzutrennen
und eine Vorstellung von ihren Beziehungen zu erhalten. Das berühmte
Verzeichnis der Götter und Könige gehört den Wessexkönigen an und
weist eine Reihe von „Kreisen“ auf, durch welche die Hamingjas erkenn­
bar werden, die durch Verbindungen verschiedener Art in das Leben der
Sippe eingetreten waren. Neben ihrer Verbindung mit Northumberland
legten diese Fürsten großen Wert auf ihre Verwandtschaft mit königlichen
Sippen Südskandinaviens. Eine parallele Quelle ist der Beowulf, der als
ein Zeugnis für die einem englischen Haus angehörenden Kreise anzu­
sehen ist, das Verbindungen mit skandinavischen Königen anknüpfte und
sich ihre Familienüberlieferungen mit dazugehörigen Hamingjas an­
geeignet hatte. Tatsächlich ist der Beowulf ein d ó m r - auf epischen Linien
weitergeführt -, wahrscheinlich zu Wessex gehörend und eng verwandt
mit den Überlieferungen, die im Stammbaum verarbeitet sind.
Als Erik Blutaxt in Walhall einzog, wurde er, der Eireksmal zufolge,
von Odin als ein hochverehrter Gast empfangen. Es ist ein Zug von gro­
ßer Bedeutung, daß der Gott die Helden von Völsungenruhm, Sigmund
und Sinfjötli, auffordert, hervorzutreten und den Neuangekommenen,
ihren echten Verwandten, im Paradies der Krieger willkommen zu hei­
ßen. In Nachahmung der Eireksmal schuf Eyvind seine Hakonarmal, um
Hakon Æthelstansfostri zu feiern, aber an Stelle der Volsungenhelden
schickt Eyvind Bragi und Hermod, die den König begrüßen und ihn zum
Ehrensitz geleiten sollen. Der erstere ist wahrscheinlich mit dem Vor­
fahren Bragi identisch, der in dem Stammbaum der Haraldinger stark
hervortritt; die Erklärung für die Berufung Hermods zum göttlichen
Bürgen des norwegischen Königs, der eng mit einem englischen Haus ver­
bunden war, ist möglicherweise in den angelsächsischen Genealogien zu
suchen.

422
Anmerkungen

Einleitung
S. 20: Tacitus, Germania, K ap. 26, 18, 21.

Friede
S. 34: N jála K . 129 S. 666. — Egil K . 78. — Thurid und Thora,
Faereyinga s. im Flatöbuch I—II.
S. 35: Thora, Flatöbuch II S. 404.
S. 36: Sonatorrek, Egils Saga 362 u. f., vgl. hinsichtl. d. Übersetzung
von „Die Wege der Seelen“ I 217 und 274.
S. 43: Björn, Bj. H . 66. — Thrond, Flatöbuch I 127. — An anderer
Stelle, Ljósv. 120/1.
S. 45: Knudsgilde, Flensburg 5 (S. 8), Odense 6 (S. 22) usw.; Flens­
burg 21 (S. 11), Odense 9 (S. 23), Malmö 4 (S. 36), 7 (S. 37), 17 (S.3 9 );
Eriksgilde Kallehave 4 (S. 60); Småst. 21, 104/5, 108, 119/20, 145; Papp.
157 (36, 40). — Friesisch, Richthofen: Friesische Rechtsquellen 123.
S. 46: Gudrun, Gud. I 20, II 9, 10.
S. 47: Gisli und Thorkel, Gisli 28 u. f.
S. 48: Das Hildebrandslied, s. z. B. Piper: Die älteste deutsche Litera­
tur 145 u. f.
S. 49: Saxo I 356 u. f.; Isländisch, Fornald. II 484.
S. 50: Angantyr, H ervararsaga 289.
S. 51: Beowulf 2444 u. f.
S. 52: Thorkel, Gisli 35. — Knudsgilde, Flensburg 15 (S. 10), Odense 2
(S. 21), Malmö 3 (S. 35) usw. — Flensburg 16 (S. 10), Odense 5 (S. 21),
Malmö 3 (S. 36), vgl. 10 (S. 37), 38 (S. 42) usw. Småst. S. 106. — Knuds-
gilde Flensburg 7 (S. 8), 9 (S. 9), Papp. S. 164 (17). — Knudsgilde Odense
13 (S. 24), 32 (S. 27), Malmö 6 (S. 37), 30, 33, 34 (S. 41), St. Hedinge 6
(S. 47), 30, 33, 34 (S. 52), Eriksgilde Kallehave 6 (S. 60), 32, 36, 37
(S. 65), vgl. Set. Hansgilde Uggeløse 9 (S. 102), Småst. 107, Papp. S. 157
(39). — Knudsgilde Flensburg 1 (S. 7), 3 (S. 8), Malmö 1 (S. 35),
St. Hedinge 1 (S. 45), Eriksgilde Kallehave 1 (S. 59), Papp. S. 155 (32).
S. 54: Egil K . 81. — H allfred, Foms. 90.
S. 55: Askel, Reykd. K . 4 u. f.
S. 58: Thorvald, Glúm a K. 21. — Hrolleif, Forns. 30 u. f.
S. 59: Vallaljot K . 5.
S. 60: Heliand 1492 u. f.
S. 61: Band 22 u. f. — Signy, Vols. K . 55 u. f., B A Po. I l l 183, vgl.
Schofield in Publications of the Modern Language Association of America
17 S. 262.
S. 64: Steingrim, Reykd. 59. — Ingolf, Forns. 62 u. f.

423
S. 65: Zaun der Verwandten, f r a n d b a lk r , f r a n d a b a lk r , f r a n d g a r ö r
(Sonatorrek 6 ), a t t b a lk r ; a t t a r s k a r ð (Frost. Einleitung 8 ) = Verlust eines
Verwandten; h q g g v a skarÖ i a t t (Egil 231 Z. 11 , vgl. Forns. 6 Z. 24) —
Tötung eines Verwandten.
S. 6 6 : Laxdcela 186 u. f. — Um Frieden bitten, Dan. 222, And. 918,
Beow. 2282; bei den Zitaten aus dem Beowulf habe ich die Übersetzungen
von Clark Hall (Beowulf) und Gummere herangezogen. Den Text II K . 4
habe ich von Gummere übernommen. — Gottes Friede, Exod. 422, Gen.
1347, 1838, 1760, 1299, vgl. Dan. 466, 716, And. 336.
S. 6 8 : p a x , in der älteren lateinischen Sprache war p a x dem germani­
sdien „Frieden“ näher, wie es die religiöse Terminologie zeigt.
S. 69: Befestigte Stätten, Dan. 64. — Der Friede der Engel, Gen. 19
vgl. 78/79, ebenf. Gen. 1725, Beow. 1164 (sy b b ). — Maria, Christ 166.
— Dänenkönig, Beow. 1707. — Finn, Beow. 1096, vgl. ebenf. 2922. —
sy b b a fte r sorge, And. 1568. — Frieden der Frau, Skirn. 19, vgl. H áv.
51, 90.
S. 70: Verwandtschaft, Guðrúnarhv. 16, 1 7 .— liss der Verwandtschaft,
s. z. B. Rätsel 27, 25. — Huld des Königs, Beow. 3182.
S. 71: Gottes Gnade, Gen. 1889, 2332. — liss = Freude, Lust, Gen.
1671, 1486, 2688, 1175, 2663; Begrüßung der Gäste, liss, Gen. 2824, 2737.
— Hallfreds erfid rá p a 2 1 , s. Skjald. 154 (19), vgl. Beow. 1076 u. f. —
Hávamál 103. — froh, z. B. Helg. Hund. I 49, II 14, Grip. 3, Beow. 367,
863; 2149. — Beowulf 1173, 2025. — Genesis 57. — M an n d reåm , Beow.
1715, 1264, Gen. 1176, oder g u m d re åm (g u m a = Mann), Beow. 2469.
S. 72: Bußloser Kam pf, Beow. 2441. — Von dort aus zog er, Beow. 520.

Ehre
S. 74: Genesis 1512. — H ávarðar saga ísíirðings.
S. 75: H av. Is. 18.
S. 76: Paul. Diae. 6 , 45.
S. 77: „Nicht weinen“, Flat. I 129.
S. 79: Verstümmelung einer Leiche, H av. Is. K. 11 , vgl. Grettir 186,
187, 191, 192. — Die Gesetze drücken auch hier das innerste Wesen der
Ehre klar aus. Sie gehen besonders streng gegen die Tötung vor, die nicht
mit blanken Waffen geschehen oder etwa mit einer Mißhandlung der
Leiche verbunden ist. Gelegentlich finden wir das alte Wort Neidwerk als
Bezeichnung für solche Taten, vgl. z. B. Gul. 178, 238, 241. Entsprechende
Bestimmungen finden sich auch anderswo. Die Sitte, die von den Fran­
ken her bekannt ist, durch Aufspießen des Kopfes von Toten die Rache
bekanntzugeben, hat natürlich nichts mit Verstümmelung zu tun. — auf
andere Art umkam, z. B. Heid. 52, 54 u. f. — sie hatten für ihren Ver­
wandten Ehre erhalten, z. B. Gluma, 71/2.
S. 80: Hjörleif, Landn. 8 ; H av. Is. 29. — Frost. Einleitung 8 .
S. 82: N jála 6 6 6 . — Kveldulf, Egil K ap. 24, 27. — H all, N jála 819,
825. — Hieb mit dem Stecken, Flat. II 395/6. — Thorleif, Eyrb.
Kap. 39,41.
S. 84: N jála 185 u. f . — Knudsgilde Flensburg 14 (S. 9), Odense 22
(S. 25), Malmö 15 (S. 38), St. Hedinge 15 (S. 49) usw.

424
S. 8 6 : Grågås I 149; I 147,149; II 184. — Gul. 195, 160, 196; Frost. 4,
39, Einl. 6 .
S. 87: halb-humoristisch, Landslov 4, 2 0 ; Anhang vom Jahre 1293,
N G L III 21, König Magnus’ Hofgesetz vom Jahre 1274, K. 28.
S. 8 8 : Volle Buße, Gul. 196.
S. 89: Die Norweger, Gul. 185.
S. 91 : Das verdiente Maß nicht übersteigt, Landslov 4, 20. — Reform­
vorschlag, Frost. Einl. 5.
S. 92: Gul. 152, 171, 186. — sein „Recht“ — das Recht eines Mannes
ist seine Ehre, das ist sozial anerkannt und festgelegt. Dieses Recht ist
sein natürliches Recht als Mann, jede Handlung gegen ihn wird von der
Gesellschaft als Kränkung anerkannt. Die Buße, die er fordern kann, und
die das Gesetz ihm gewährleistet, ist sein „Recht“ . Ein Mann hat das­
selbe Recht hinsichtlich seiner weiblichen Verwandten wie für sich selber,
Frost. 10 , 37, Gul. 197. Wenn die Ehre vermehrt wird, folgt das Recht
nach. In Norwegen sind die verschiedenen Grade der Ehre in Klassen
eingeteilt: len d r m a ð r hat doppelt so viele Rechte wie h ö ld r m a ð r , und
freie Bauern haben doppelt soviel Recht wie einfache Bauern, Gul. 200.
Wer dreimal Bußen nimmt, ohne sich zwischendurch zu rächen, hat kein
Recht, also kann auch niemand dessen Recht verletzen, noch kann er eine
Buße fordern, Gul. 186. Männer, deren Zeugnis vor Gericht verworfen
worden ist, haben gar kein Recht mehr, Frost. 13, 25; vgl. außerdem
Frost. 14, 12. — Lex Burg. 2 ; Lex Alam. 45; diese Bestimmung bezieht
sich auf den Hausfrieden, aber indirekt zeigt sie, wie die Leute damals
die Rache betrachteten.
S. 93: Lex Sal. 41 § II. — Gundhartus, s. Jaffé: Bibi. Rer. Germ. 4
S. 469. — Über die Ermahnungen der fränkischen Könige siehe Capitu-
laria Reg. Franc. Monum. Germ. Hist. Legg. Sectio II 1/ 2 , Register unter
f a id a . — Lex Sax. Kap. 57, 59, 18, 19.
S. 94: Lex Fris. 2; eine eigentümliche Verbesserung, die nur zu ver­
stehen ist, wenn man weiß, wie sie entstanden ist: Wenn der Tater im
Lande blieb, war der Anstifter verantwortlich nach altem Gesetz; im Falle
aber, daß der Toter flüchtete, wurde der neue Gesichtspunkt: „Ver­
brechen“ geltend gemacht an Stelle des alten: „Kränkung“ , aber hinter
diesem Wechsel war ein Zugeständnis an die persönliche Auffassung. Man
versteht leichter, wie die Alten sich auf diesen merkwürdigen Mittelweg
hineinverirrten, wenn man die analoge Entwicklung in Norwegen be­
trachtet, wo es den Verwandten auferlegt wurde, die Hälfte des Wer­
geides aufzubringen, wenn der Toter aus dem Lande flüchtete - und zwar
gerade damit die Grundregel von der persönlichen Verantwortlichkeit
des Täters leichter durchgeführt werden konnte, Frost. Einl. 4. — Lex
Fris. 1, 13. — Der Gesetzgeber der Langobarden, Roth. 45, 74, 138, 326,
387; Liut. 136; 135; 119.
S. 95: Dänen, Jy . L. 2 , 26; Er. L. 3, 49 (S. 118 Z. 7); Skånel. S. 2 2 0 .
S. 96: Schweden, Östgötal. Ezþöre B 2 , 2 ; Västg. II Add. 7, 1 1 ; usw.
— „Unrechte Rache“ , Upl. 87. — Verordnung Valdemars II, Skånel. 446.
— Gotland, Gutal. S. 15, 15 (K. 13 Schlyter).
S. 97: Eriks Lov 3, 29.
S. 98: Gutal. 9.

425
S. 99: Friesland, Grimm: Redits. S. 878/9.
S. 1 0 0 : fr ý ju o r ð , Gull. 2 2 . — Gregorius, Heims. I l l 419/420.
S. 101: Jedermanns Neiding, z. B. Flat II 238, 557; Egil 191 ; Svarf. 15.
— Upplandslag S. 275. — Die Langobarden, Roth. 381, 198.
S. 1 0 2 : Wir wollen Abhilfe schaffen, Kormak 43.
S. 103: Lieber fort als feige, Austf. 69 Z. 1 ; 82 Z. 2 1 ; Forns. 6 Z. 24.
— Prosa-Edda, S E 57/8.
S. 104: Hredel, Beow. 2466. — Beowulfs Gefolgsmannen, Beow. 2884
u. f.
S. 106: Gesippe ungerächt, Forns. 38 u. f., vgl. Heid. 53. — nicht ge­
lacht haben Austf. 165.
S. 109: Balder, Vsp. 33/34; Bald. 11; Saxo I 126.
S. 1 1 0 : Gudrun, Ham. 3. — Thurid, Heid. 73.
S. 111 : Sigrid, Heims. II 270. — Thorgerd, Laxd. 200. — Prokop II 29.
S. 1 1 2 : Gregor 5, 32; 6 , 36. — Roth. 189, 2 2 1 .
S. 113: Schwedische Gesetze, Östg. Ärf. 1 . — Bonifacius: Epist. Jaffé
172.

Ehre als die Seele der Sippe


S. 118: Das Gleichgewicht in den isländischen Sagas, siehe z. B. Ljósv.
K ap. 23/7.
S. 119: Sich der Angelegenheiten anderer annehmen, H av. Is. 6 ; Forns.
33/4, 44/5; N jála 432.
S. 1 2 0 : p e g n sk a p a r m a ð r , Grettir 63. — Kostneiding, Grim. Einl.;
Beow. 1718 u. f.
S. 1 2 1 : Atlak. 23,25.
S. 1 2 2 : O laf, Heims. II 46 u. f.
S. 123: Lieber zu sterben, Fornald. III 601.
S. 124: Glúm a K . 6 . — Sigmund, Flat. I 136. — verrfeÖ ru n gr, Forns.
121 Z. 19, vgl. Islend. 29, 60; Forns. 4.
S. 125: Vatsdœla, Forns. 67 u. f.
S. 126: Paul. Diac. 1 , 23.
S. 127: Beow. 2177 u. f. — Cass. 1, 38. — Thorgils, Forns. 127 u. f.
S. 129: v errfeÖ ru n gr, Ljósv. K . 23 Z. 38.
S. 130: Die schwedischen Bauern, Cavallius 2 , 304, vgl. Frost. 2 , 10 .
S. 133: Kain, Gen. 1019, 1023.
S. 134: å r, Gen. 1842, 2435, 2685; Beow. 2606,1099; Gen. 1533; Beow.
1272; Gen. 1509, 1348, 1889; Beow. 17 vgl. Heliand 2233, 3505, 2822,
5619, 4410; Gen. 1581 vgl. Elene 308; Beow. 2375, 1182; Gen. 1899.

Heil
S. 135: å r s a l l , z. B. Fagr. K ap. 2. — fêstell, Band. 11, 12; Eyrb. 52
Z. 19. — b y r s a ll, Fornald. II 152, 170; Saxo I 52.
S. 136: Flat. I 456; Kormak K . 15; Flat. III 384/5; Band. 5 Z. 15;
Flat. II 329; Heims. I 356; Flat. I 236; Beow. 64, 391. — Penda, Beda
III 18.
S. 137: Gregor II 30.

426
S. 138: Stiklastadir, Heims. II 489. — Olaf, Flat. I 492.
S. 139: H arald, Saxo I 361/362. — H arald, Flat. I ll 323.
S. 140: Gunnthram, Gregor 9, 2 1 . — Sigdrifa, Sigrd. 4. — Olaf, Heims.
II 36. — Jarl Hakon, siehe I 111 . — Fjölnir, Heims. I 24 vgl. den
schwedischen Erik á r s a li, Heims. I ll 297, usw. — Das Heil des Königs,
Flat. II 57; Forns. 97; Heims. II 106; Flat. I 331; Ljósv. 254; Forns. 101
Z. 8 ; 111 Z. 15.
S. 141: Hroi, Flat. II 73 u. f. — Burgunden, Ammian. Marc. 28, 5, 14.
— Schweden, Heims. I 30.
S. 142: Norwegen, Fagr. Add. I 383; Heims. I 199, 252. — Hakon,
Heims. I 281. — O laf, Heims. II 521.
S. 143: Königsbilder, z. B. H arald Schönhaar, Fagr. 5, 11 , 13; Heims.
I 162; O laf Tryggvason, Heims. I 409, Flat. I 463/4, 455; O laf der
Heilige, Heims. II 5, vgl. über Jarl Hakon, Heims. I 240, 356, Fagr.
58/9. — Beow. 1957, vgl. 3180.
S. 144: Häuptlingsideal, z. B. Forns. 14, Band. 9. — eine Forderung,
vgl. til f r a g ð a r sk a l k o n u n g h a fa , Heims. I ll 266, Skjald. II 129 (6 ). —
Schwierigkeiten zu lösen, z. B. Laxd. 8 6 . — Thorkel, Forns. 75/6.
S. 145: m an n h eill, Flat. I 302, II 160; Fagr. Add. 382/3.
S. 147: Segeln, siegen usw., vgl. h a p p sk e y tr, S E, K. 29. — Heil in
Weisheit, Band. 25, Forns. 43 Z. 7; 59 Z. 4; 39 Z. 19; 54 Z. 16; 57 Z. 7 ;
38 u. f.
S. 149: eine andere Saga, Islend. 34. — h am in gju m estr, Egil 33/4. —
g a fttle y si, Austf. 136/7. — O laf, Heims. I l l 479.
S. 150: h am in g ju sa m lig r, Forns. 10 Z. 5; Flat. I 272, 311.
S. 151: H allfred, Austf. 95 vgl. Landn. 90. — Thorstein, Foms. 58;
65 Z. 3; Gull. 34.
S. 152: Die Schlachtordnung des Keilers, Saxo I 363. — Thorleif,
Foms. 98.
S. 153: Egil, Sonatorrek 24. — Olaf, Flat. I 455.
S. 154: Fridleif, Saxo I 267. — Er „verliert den Mut“ , Cavallius I
386. — Æthelfrid, Beda II 2 .
S. 155: O laf, Laxd. 85. — O rÖ heill = Fluch, z. B. Hynd. 49/50; o rð -
h eill kann auch das Heil bedeuten, das ein Mann im Ansehen anderer
Leute, in ihren Worten, besitzt, Forns. 34.
S. 156: rede, Gen. 2031, vgl. 2181, 2460, 561; Beow. 172. Siehe Anh. 1 .
S. 157: h eill h u gr, Forns. 14 Z. 3, vgl. fe r a h t, Anh. 2 . — Laxd. 34.
S. 158: Norwegischer Volksglaube, Daae II 32; N. h. T . 2 III 159,
166. — der letzten Dinge, siehe II Völuspa.
S. 159: Saldis, Glúma 36. — Sverrir, Flat. II 620.
S. 160: Hrut, N jála 4, vgl. Sturl. I 137. — Neidingschaft, Laxd. 192;
Völs. 103; Helg. Hund. I 41; K alf, Flat. II 360; Gisli 63.
S. 161: Hakon, Frost. Einl. 8 . — N jála 431, vgl. Gull. 39.
S. 162: Unheil, Islend. 37, N jála 603, vgl. 641; vgl. Grettir 93/4. —
séls, usw. siehe Anh. 4. — ge s a lig = reich, siehe Byrhtnoth 219.

H eil als das Leben der Sippe


S. 163: Sigurd, Fagr. 344; wenn Magnus Baarfuß Sigurds Vater wäre,
müßte er ihn im „Unheil“, d. h. mit der Schwester seiner Kebse, gezeugt

427
haben. — Heil ist Kraft, vgl. die Bezeichnung Gluma 11,15. — k y n n sx ll,
Flat. I 549; Austf. 72; Gen. 2752. — m an n h eill usw., Forns. 34 Z. 1 1 ;
8 6 ; Band. 6 ; Gen. 2330.
S. 164: scem iligr, Forns. 12 Z. 29; 10 , 5; Flat. I 272, 311; Fom s. 11 .
— N já la6 1 1 .
S. 165: nicht Heil, Egil 58. — et ja h am in g ju , Heims. II 126, vgl. Forns.
54 Z. 15; Egil 14, 78.
S. 167: Saemund, Forns. 34 Z. 14, vgl. Flat. I 312.
S. 168: Prok. II 14/15. — Jordanes K. 13.
S. 169: Västgötalag 36. — Snorri, Heims. II 142 u. f.
S. 171: Ingi, Heims. III 350. — Fredegunde, Liber H istoric Franc. 36
(Monum. Germ. Ser. Rer. Merov. II 304).
S. 172: die Könige in Norwegen, Heims. I 366 u. f.
S. 173: O laf der Heilige, Heims. II 77, 87, 240/1, 257 u. f.
S. 176: O laf, Flat. I 236 K. 192.
S. 177: Sverrir, siehe Sverris Saga, Flat. II z. B. 621, 588/9, 633, 622.

Die Welt
In bezug auf das Folgende siehe Vilh. Grönbech: Primitiv Religion,
Stockholm 1915.
S. 183: Bifröst, S E 18, 2 1 .
S. 184: Utgard, siehe Anh. 5.
S. 185: Hræsvelgr, Vaf. 37.
S. 186: Hadding, Saxo I 51.
S. 187: Beow. 93, vgl. Heliand 3578. — fjö ln ý t f o l d , freudig, dreám,
m an n d reám , seled reám , w y n , siehe Anh. 6 .
S. 1 8 8 : alle Toten, Helg. Hund. II 51.
S. 194: Rätsel, Herv. 245, 250.
S. 195: Schlachten beschreiben, Gen. 2087, 2158; Exod. 161; Elene 110;
B. A. Po. I 14 (5), 16 (36/7); Beow. 3024; Helg. Hund. I 44/5, II, 8 , 25;
Skjald. 22 (3), 24 (13), 28 (3/4), 32 (11 u. f.), 149 (3, 6/7) usw.; vgL
u lfi ta n n litu ö r, ib 43 (6 ), u l ja g re d d ir, 150 ( 8 ). — Sigurd, Gud. II 7 / 8 .
— Ochsen, Odyss. I 92, vgl. z. B. Iliad. IX 466. — Fußflink usw., Iliad.
I 215, 488, VII 404, usw. usw. — meerspaltend, Beow. 198, vgl. 1882.
— Isländisch, Regin. 17 usw. — Skjöld, Beow. 33.
S .196: Altenglisches Gedicht, siehe Anh. 6 . — taugefiedert, siehe An­
hang 6 . - in der Tanne wachend, Atlak. 1 1 . — Astverderber, Ham. 5,
vgl. S E (A M) I 330, Skjald. 47 (23). — der König, Beow. 607, 664. —
Walküre, Helg. Hund. I 17, 45.
S. 197: Meisen, Faf. 32. — Gudrun, Atlak. 36/7. — Gunnar, ib. 31,
vgl. 21. — Beow. 1967.
S. 2 0 1 : unverstandene Wörter, siehe die Worterreihen in S E (A M),
vgl. Alvis. — Bock, k o rn u m sk v ali, b a llin sk íð i, S E (A M) I 588. — Bär,
Rabe, Habicht, siehe Anh. 6 . — d u n e y rr, iiehe S E (F J) Index.
S. 202: slith h erd e, B A Po. I 351 (177). — schwache Andeutungen, wie
weit wir davon entfernt sind, die Bedeutung der alten Worte zu begrei­
fen, versteht man am besten, wenn man versucht, die Bezeichnungen der
Farben zu übersetzen, AS b lae , w an n , salu , altnorwegisch d ö k r. — Das

428
Atlilied, Atlak. 31, 21.
S. 203: heiter, siehe I 70. — e á d ig , Beow. 2470, Gen. 1562, Jud. 152,
177. — in voller Ansicht, z. B. Beow. 2610 u. f., 457 u. f., 2 0 0 0 u. f. —
Schildträger, Jud. 42, Gen. 1060, vgl. z. B. 2867. — Homer, Odyss. IV
305.
S. 204: Judith 123 u. f.
S. 205: Wealtheow, Beow. 612. — das Pferd, z. B. Iliad. III 327, X
474, 520, 568/9; V 323, V III 433, X 491; IX 127, X I 708. — die Burg,
Beow. 116, 713, And. 763, Dan. 673; Beow. 308: mit dem goldgeschmück­
ten Saal, den sie von ferne sahen, vgl. 994; 313, 1199, 2313; Gen. 1821,
2401 u. f. — Hügel, z. B. Iliad. I 157. — die Erde, z. B. Iliad. X I 619,
X V I 635, Odyss. III 453, X I 52, Gen. 907, vgl. 1752, Beow. 1551, die
nur bedeutet „unter der Erde“ , vgl. Phönix 178. — Rechts-Phraseologie,
Gul. 23, 149; Frost. X III 9; Landslov VII 47 n., N G L II 314 (K. 16),
vgl. Rieht, s. u. Nacht, Grimm: Rechts. 34/5; breite Gerste, weißer Wei­
zen, B A Po. I 315.
S. 206: Homer, Iliad. X V I 765.
S. 207: Der Bewaffnete, Gen. 195, vgl. 2745.
S. 208: Sprichwort, Faf. 35. — Föhre, Grág. I 206, H áv. 50. — Eiche,
Harb. 2 2 , vgl. Egil 249, vgl. Hel. 6 . — Esche usw., Regin. 22, Helg.
Hund. II 50, Ham. 5. Siehe auch S E (A M) I 412, vgl. a sk r, Skjald. 37
( 2 1 ), p o lir , ib. 15 (5), b ly n r, Sigrd. 20, b ö rr, Atlam. 30, a p a ld r , H e lg .
H j. 6 . Die Artsnamen sind spät und von anderen Gebieten übernommen:
viÖr, lu n d r bedeuten Wald, meiÖr ist „Pfosten“ , vgl. Deutsch Baum; für
tr'e vgl. Griechisch d r y s ; skaldische Kenninger: o lg y ld ir , der Wolf der
Erle = Feuer usw., vgl. alh eim r, das Land der Schwäne, Möwen = die
Scc.
S. 2 1 1 : „die ganze Welt“ , Grågås I 206.

Seele und Leben


S. 217: Rabe, siehe Anh. 6 .
S. 218: Walgierig, Leichenungetüm, Heidegänger, im Walde, grau, siehe
Anh. 6 . Bern. B A Po. I 339 (17 u. f., 29 u. f.), interessant durch das sceal,
das das innewohnende Megin ausdrückt.
S. 222: Sonne und Mond, siehe Anh. 6 .
S. 223: Heidrek, Herv. 251/252. — Wallend usw., S E (A M) I 324. —
Egil, Skjald. I 35 (7/8). — Ran usw., S E (A M) I 324 u. f.
S. 224: Helgi, Helg. Hund. I 28 u. f. — Erde, siehe Anh. 6 .
S. 225: Eyvind, Heims. I 226/227.
S. 226: Fornjots Söhne, S E (A M) I 330. — Tochter des Agir, ib. 324.
— Frigg, ib. 172, 180.
S. 227: Hel, vgl. I 163/164.
S. 228: Nymphen, Iliad. X X I 213, Theogon. 126, 154 u. f.
S. 229: Runenverzeichnis, B A Po. I 333/334; die Bäume sind in Grup­
pen geordnet, je nachdem ob sie genießbare oder ungenießbare Früchte,
ob sie hartes oder weiches Holz haben; vgl. Schwedisch d ö f v ip , bœ rutrœ ,
b a r a n d s t r a , a ld in t r a usw., s. Schlyter: Glossar, Grimm: Rechts. 506/507.
Einige Hinweise können vielleicht der Volksitte entnommen werden, aber

429
die "Wissenschaft von Griechenland und Rom ist durch die Mönche in so
hohem Grade in den allgemeinen Volksglauben eingedrungen, daß es ver­
geblich ist, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, jedenfalls solange, bis die
Zoologie und die Botanik der Hellenen nicht gründlich durchforscht
worden ist.
S. 230: Mittagshügel usw., siehe Zitate in Fritzner: n á ttm á la v a r ð a .
S. 231: Bjarni, Skjald. II 1 ( 2 ). — Plutarch, Caesar K . 19. — Mond,
siehe I 225.
S. 232: See, siehe Anh. 6 . — Agir und Ran, S E (A M) I 324, 336, 338,
vgl. oben 173/174. — Erde, siehe Anh. 6 .
S. 233: Angelsächsische Formel, B A Po. I 319. — ein Weib, siehe
Anh. 6 .
S. 234: Lehrgedichte, B A Po. I 339 (17 u. f ., 29/30). — fünfte Sonne
usw., siehe Fritzner unter só l, Bosworth-Toller unter m ó n a. Bemerk die
Warnung in Cockayne: Leechdoms usw. III 243.
S. 235: Dellings Sohn, S E 16. — Vindsvalr, Svasudr, ib. 94/95.

Die Kunst des Lebens


S. 237: Feuer, siehe Anh. 6 .
S. 238: Ich kenne deinen Namen, Faf. 1/ 2 , bezugn. auf die Macht, die
man über einen Mann gewinnt, wenn man seine Namen-Seele beherrscht.
S. 239: Erik, Forns. 148/149.
S. 240: Das Lied von Helgi, Helg. Hund. II 1 . — Ketil, Fornald. II
111 / 11 2 . Bemerk besonders die Geschichte von Raben-Floki, siehe hierzu
II K. 13. — Otr, Vois. 112 . — Die Ynglingasaga, Heims. I 33.
S. 241: Pfeil, Skjald. 21 (5), vgl. Edd. Min. 1 1 1 : a r n ljó ð . — Schlange,
Helg. Hj. 9; „Nacken“ ist die willkürliche Wiedergabe eines unbekannten
Wortes; vgl. Helg. Hund. I 8 , Skjald. 159 (13) usw. und Kormak 19/20,
Beow. 1698, Jud. 222. — Beißen, Helg. Hund. II 33, usw. — »legt das
Wort auf sie“ , vgl. N jäla 23. Vgl. den altertümlichen Ausdruck Fornald.
III 230 und hier II Anh. 9a, 9b. — Feuer, vgl. Skjald. 58 (7), 148 (9),
Helg. Hund. 1 5 1 , vgl. S E (A M) I 420 u. f.
S. 242: Schiff, Skjald. 20 (3/4), vgl. 2 ( 8 ), 129 ( 11 ), 151 (5), Regin. 16,
S E (A M ) I 440 u. f.; And. 488, 513, Elene 226, 236, B A Po. I 334
(47, 6 6 ). — Runenlied, siehe I 222.
S. 244: Eriksgata, Söderm. 188. Bern, die Ordnung der Landnahme im
Landnámabók.
S. 245: Island, Landn. 103. — Mit der Sonne, siehe Anh. 6 , Da. Gild.
II 8 (35) vgl. Flat. II 298, Bisk. I 225, und der Ausdruck a t só lu , Bisk. I
70, 137. — Droplaugsöhne, Austf. 148. — Groa, Forns. 59. — Audbjörg,
Gisli 33, vgl. Grettir 177, Eyrb. K. 52.
S. 246: Unwetter zum Aufhören brachte, Forns. 78; Islend. 154 muß
sicher eine aufhebende Wirkung haben. — Eid in der Nacht, z. B. ö stg .
Raefst. 12; Grimm: Rechts. 813. — Nächtliche Tötung, Heims. II 254, III
450, Egil 219. — Tacitus 11. — Cæsar: Bell. G all. I 50.
S. 247: Der Jahrzähler, siehe Anh. 6 .
S. 248: Urjöte usw., S E 14, 42.
S. 249: Vol uspå 5.

430
S. 250: Spätere Mythologie, S E 32.
S. 252: Künste der Zauberer, z. B. Forns. 41 u. f.

Die menschliche Seele


S. 256: Das Megin der Erde, Hynd. 38, Gud. II 2 1 , H áv. 137, B A
Po. I 319. — Das Wetter, Alvis. 18. — In den frühesten Zeiten, Vsp. 5.
S. 257: Körperliche Kraft, Rig. 9. — Bewußtlos, isländisch ú m eg in ,
vgl. B A Po. III 200 (14). — ásm egin S E I 146, 170, 286, Hym. 31. Das
Verbum m ag n a bedeutet mit Kraft erfüllen, Seele übertragen. — fjö r ,
Gen. 184, 908, Heliand 5703; Beow. 2123, 2424, Gen. 1385, Heliand 3351,
4059; Gen. 1618, 2065, Exod. 384; Mensch, Beow. 1152, Vsp. 41; Seele,
Heliand 263, 2277 vgl. AS fe r h ö , Sinn, Verstand, vgl. And. 1332. —
Hakon, Fagr. 25 vgl. Glum Geirasons Gedicht, Skjald. A 77 V. 8 Var.,
wo /jör klar genug erscheint. — h u gr, Lokas. 64, Faf. 6 , Hym. 14, Gull.
30 Z. 18, 34 Z. 2 1 , Ghima 19 Z.99, Flat. I 251 Z .5, Forns. 65,126 Z.18,
Gud. II 6 , Thrymsk. 31, H av. Is. 46, Thord H r. 37/38, Islend. 90/91,
usw. usw.
S. 258: ásm ó d r, S E I 274.
S. 259: Jötenmut, Vsp. 50, Grotta. 23, S E I 136, 270.
S. 260: Ylfing, Helg. Hund. I 6 vgl. Vois. 90 Z. 2 2 . — Thorstein,
Landn. 1 1 1 .
S. 261: Besitz stirbt, H áv. 77; d ó m r darf nicht in der späteren Be­
deutung von Beurteilung genommen werden, es ist ein altes, volles Wort.
„Trauere nicht“ , Beow. 1384; siehe hier II Kap. 2, Voluspa V und Anh. 3.
— Höskuld, Laxd. 85. — Heliand 3996. — Seefahrer, B A Po. I 293/
294.
S. 262: h irð sk rá , N G L II 420.
S. 263: a ld r , a ld a r , Beow. 510, 1002, 1371, 1447, 2396 usw.; 1434 vgl.
2981 und Skjald. 32 ( 10 ); Regin. 15, Faf. 36, Bald. 8 . — Schicksal, Helg.
Hund. I 2, Skirn. 13, S E (A M) I 72, 74, Flat. I 358 Z. 5 vgl. h o rfin a ld a
= h o rfin h eilla, Heims. III 420.
S. 264: Atli, Forns. 126. — Jüngere Edda 2 2 . — Helgi, Norr. Fornk.
178, 191, 201, Fornald. II 374/375.
S. 266: An, Fornald. II 326/327. — Hroerek, Fornald. I 364 u. f.,
Landn. 216, Z. 10 , 104 Z. 1 , N jála 100 Z. 4, Flat. I 26 Z. 14 usw. — Zu
dem Vater getragen, Forns. 23, 26 vgl. Egil 98; Ragnar 135/136 vgl.
Flat. I 97; vgl. auch Bisk. I 410, Will. Malm. III 1 . — Scharfe Augen,
Helg. Hund. I 6 , Völs. 110, 157, 184.
S. 267: Saxo I 370/371, 392. — Aussichtslos sich verkleiden zu wollen,
Helg. Hund. II 2 vgl. Saxo I 70; Gegensatz Bj. H. 43. — Seele = K ör­
per, vgl. S E 89; Thors Megin wächst um die Wette mit dem Strome, und
so wird es ihm möglich, den K opf über Wasser zu halten.
S. 268: Heil, siehe z. B. Beow. 1124 vgl. Jud. 63, Elene 489, Dan. 709.
S. 269: Friedlos usw., Elene 127 vgl. Beow. 1587, 3003, Gen. 1142,
vgl. 1071, 1127, And. 181, 1427.
S. 270: Gro, Gró. 9. — Gunnthram, Paul Diae. III 34 vgl. Flat. III
330.
S. 271: Isländische Bauern, Landn. 109 vgl. Vols. 92. — Ich benutze

431
den Ausdruck „Weg der Bienen“ auf die Verantwortung von Finnur
Jónsson, siehe Egil 366, 423. — Atlam. 19.
S. 272: Gunnhild, Egil 2 2 1 . — Bödvar, H rolf 100.
S. 273: h am r, siehe Vsp. 40, Vaf. 37, Grip. 43, H áv. 155, Skjald. 14 (2),
Heims. I 18, 316; bem. den Sprachgebrauch Helg. H j. 5 prosa, Landn.
109, S E 69, 73, Vois. 85 usw.: b re g ö a , welches eine Verwandlung von
innen her andeutet. — Bjarki, H rolf 49 u. f., vgl. Finnur Jónssons Ein­
leitung X V III. — Merowinger, Grimm: Myth. I 324/325, denn die
Legende ist doch wohl durch erwas mehr als ein bloßes Mißverständnis in­
folge ihres königlichen Haarwuchses veranlaßt.
S. 274: h am r = Balg, z. B. Vols. 95, vgl. H rolf 52 Z. 15; das Schwaneii-
gefieder, Vkv. Einl., Hel. 6 vgl. Skjald. 16 (12); im übrigen — schein­
bar — die alte grundlegende Überlieferung in Hromund Gripsons Saga,
Fornald. II 373 u. f. — h am sto li, Flat. III 323 Z. 6 vgl. Z. 16; Egil 266.
— Das niedere Volk, Cavallius I 360. — h am ram r, Landn. 109, Herv. 302
vgl. Egil 84; Heims. I 17/18, Gull. 42; Kveldulfs Geschlecht war hamram,
und diese Männer hatten in ihrem Gefolge nur Krieger, die hamram
waren, Egil 4, 76. Solche Stellen wie Fornald. II 390, III 424 sind inter­
essant, weil ihr Sprachgebrauch auf die alte Denkart hinweist. - ber-
se rk ir und u lfh efin ar, Forns. 17 Z. 12 vgl. Völs. 96 Z. 1 . — Odd, Landn.
8 6 , vgl. Islend. II 152.
S. 275: fjö lk u n n ig r, Flat. I 208 (b is), 250, 252; 521 vgl. I 373, II 148;
Forns. 78 vgl. 33; 54, 67; Rückbleibsel in der Terminologie, Fornald. III
261. — Raud, Heims. I 396 u. f. — O laf, vgl. I 110, 119; Flat. I 276
Z. 26. — Feinde, Flat. I 382 vgl. 380 Z. 28.
S. 276: Hamingja, Flat. I 258/259. — Signy, Vols. 89. — Hugar, H av.
Is. 46. — Jötenmut, siehe oben 259. — Thor, siehe oben 257.
S. 278: Helgi, Helg. Hund. II 46. — Idun, Skjald. 16 (11).

Die Seele des Menschen ist die Seele der Sippe


S. 279: Das Heil der Sippe, Forns. 15. — Am selben Tage starben,
Flat. II 423.
S. 280: Wallisische Geschichte, Mabinogion (Lady Guest) II 258. —
Orny, Flat. I 252/253.
S. 281: Hávamál 50.
S. 284: Friedenstiften, siehe auch I 54 u. f. und die Bern. Vall. 175. —
Chrodin, Fredegar III 58. — Der Unfreie hat keine Seele, Eyrb. K. 18,
37. — Die Augen des Unfreien, vgl. H rolf 23, Fagr. 22 und oben 208/
209, vgl. die Formulierung Flat. I 250 Z. 4.
S. 285: Geirmund, Landn. 47.
S. 286: Der Unfreie kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden, z. B.
Wilda: Strafrecht 655/656. Bem. die tiefe Psychologie der Formulierung
Västg. I Mandr. 4, II Drap. 9: der Zweck ist Schutz des freien Mannes;
siehe auch Egil 299, vgl. Flat. I 77. — Tiere, Finnb. 23 Z. 20 vgl. Landn.
86 (Odd).
S. 287: Heidegänger, siehe I 218 und Anh. 6 . — Unheimlichkeit, siehe
Anh. 6 .
S. 288: N y und Nid, Vsp. 6 , Vaf. 25. — Bil, S E 17. — Sturm usw.,

432
Alvis. 18, 2 0 , S E (A M ) II 486, 569, k v ists k a ð a , Ham. 5 vgl. S E 330
und Skjald. I 47 (23). — Himmel, siehe Anh. 6 . — Delling, S E 16.
S. 289: Gemeinsamer Ursprung, vgl. auch die hebräische Genesis. —
Die Erde, vgl. I 224, 232 und Anh. 6 .
S. 291: nimmt Bärheit an, z. B. Saxo I 87, Heims. I 62. — Isländer,
Landn. 8 6 .
S. 292: aus dem Neuen Testament, Colosser II 2 u. 19.

Geburt
S. 293: H arald, Fagr. 3/4.
S. 295: Thorstein usw., Forns. 12 Z. 2 ; 23 Z. 26. — Olaf, Flat. II 135.
— Kolbein, Sturl. II 234.
S. 296: Stammbäume, Englisch, siehe W. G. Searle : Anglo-Saxon Bishops,
Kings and Nobles, Cambridge 1899. Fränkische, gotische und langobar-
dische Stammbäume siehe die Übersetzungen von Gregor von Tours,
Jordanes und Paulus Diaconus in Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit.
S. 297: Segestes usw., Tac. Ann. I 57, 71 vgl. Gustav Storm in Arkiv
for nordisk Filologi IX 199. In Skandinavien finden sich auch aus histo­
rischen Zeiten Spuren davon, wie die Namen gebildet wurden, aber diese
sind öfters unkenntlich geworden infolge der Lautveränderung. Beispiele
von Slettubjörns Kindern: Arnbjörn, Arnoddr, Arnfriðr, Landn. 67, und
Bárdr Báreks Sohn, Landn. 105, sind nicht eigentlich selten, aber sie ge­
hören meist den ältesten Generationen an.
S. 298: Das Kind wird dem Vater gebracht, Forns. 12 Z. 23, 23 Z. 21
vgl. Vols. 100; die Worte des Vaters: „Ich erwarte, hoffe oder wünsche“
sind aktiver und mehr schöpferisch als in unserer Kultur. — gebe ihm
hiermit Geburt, vgl. Cass. IV 2 : p ro cre am u s, vgl. Regin. 14, welches tie­
fer geht, als man erst denkt. Bern. „Geburt geben“ , vom Vater gesagt,
Sigurd. II 18 usw. — England, Lieb. 589 (70, 15). — Franken, Lex Sal.
24 vgl. Lex Rib. 36, 1 0 . — Spitzname, Staðarh. 391/392, Grågås II 182,
Lex Sal. 30 (4), Gul. 196, Frost. X 35 (Bern, das Verbum ja m n a , das eine
wirkliche, keine übertragene Bedeutung hat). — zwei Namen, Austf.
18/19.
S. 299: Thorstein, Flat. III 330.
S. 300: Hagny, H alf 40/41, Landn. 38.
S. 301 : Glum, Flat. I 332 u. f., vgl. N jála 845 u. f., Landn. 97.
S. 302 : Die Hildiridsöhne, Egil 33 u. f . — Die Herkunft der Mutter,
Forns. 30 Z. 25. — Sagittarius, Gregor V 170 (2 0 ).
S. 303: Die Sachsen, Mon. Germ. Script. II 675. — die Frau, Lex
Burg. 35, Lex Rib. 58, 18, Roth. 221 (die Pflicht ist enthalten in dem
öffentlichen Recht der Einmischung). — Schweden, Upl. Æ rf. 19, Vestm.
II Æ rf. 14. In Dänemark und Schweden traten zu der Zeit, wo die Land­
schaftsgesetze ihre endgültige Form annahmen, große Veränderungen ein
in der Stellung der Knechte und in ihrem Verhältnis zu den geringeren
Freien, siehe Wîlda in Zeitschrift für deutsches Recht X V 241/242.
S. 304: Norwegisches Gesetz, Frost. X 47: er ist von der Ecke und
dem N ap f freigegeben; Gul. 57, 104; Skånel. 61, vgl. Anh. 14. — v ird i-
b o ra , Rothar 222 ; v id e rb o ra kann nicht als bloßer Schreibfehler betrach­

433
tet werden. — Geringere Stellung der illegitimen Kinder, Rothar 154,
158 u. f., vgl. 145, 171; geringere Rechte in anderen Beziehungen als
Erbe, 161, 162. In Norwegen haben uneheliche Söhne ein sehr bedingtes
Erbrecht, Gul. 104, Frost. V III 8 . Siehe Anh. 14.
S. 305: Helgi, Austf. 162. — Tacitus 18.
S. 307: Gemeinsames Leben beginnen, usw., Grågås I 2 2 2 , 226, Gul.
124, östg. Æ rf. 8 , siehe auch II Kap. 4. — Langobarden-Gesetz, Roth.
2 2 2 ; die Glosse: id est d o n a tio in m o rg in c a p trifft ja sicher im Zentrum,
vgl. form, und exp.
S. 308: Unter einem Schild, der Ausdruck ist Gregor V 11 (17) ent­
nommen, vgl. Roth. 164/165. — Penda, siehe besonders Beda II 20, III
21, 24.
S. 310: Childeric, Gregor II 11 , Fredegar III 11 u. f. — a u d , Auduin
heißt ein Sohn von Menia, die mit einem Bissa verheiratet gewesen sein
soll, der kein anderer sein kann als jener Bisinus. Wir sind nicht berech­
tigt, seine Genealogie in moderne Termini zu übertragen. Auduins Platz
in der Reihenfolge der Könige scheint in der Wirklichkeit auf Verbin­
dungen zwischen seinen langobardischen Vorgängern und dem thürin­
gischen Hause zu beruhen. Wacho soll mit einer Tochter von Pisen ver­
heiratet gewesen sein, Lex Turing., Mon. Germ. Hist. Leg. IV 643, 644.
— Theodoric, Jordanes 57 (295/296), der jedoch die Verwandtschafts­
verhältnisse ein wenig durcheinanderwirft. — Ingomar usw., ich begründe
diese Annahme auf die fragmentarischen Hinweise Gregors auf die Poli­
tik Chlodwigs und seine Verhaltungsmaßregeln den Gaukönigen gegen­
über, z. B. Chararic, Gregor II 30 und Sigeberht, 27, 29.
S. 312: Æthelstan, Fagr. 20 u. f. — Cassiodorus V III 9.
S. 313: Schoßkinder, sk ö tsetu b arn , Upl. Æ rf. 18. — Adoption, Gul.
58, Frost. IX 1 , III 13, V III 1.
S. 314: Schwedisch, östg. Æ rf. 2 0 . — Höskuld, Laxd. 32.
S. 315: Zum Schoße der Männer und Frauen, Frost. IX 1 vgl. H ertz­
bergs Glossar. Der Ausdruck ist recht dunkel und wird nicht klarer in
IX 15. Vielleicht ist die letzte Formulierung von einem weiteren Gebiet
übernommen und den Tatsachen dieses Paragraphen angepaßt worden, so
daß sie sich in der Wirklichkeit auf ein Kind bezieht, das nicht vom
Vater anerkannt worden ist und dessen Mutter kein Heil hat, d. i. ein
uneheliches Kind ohne Rechte, II, 6 . — fu lb o rn , Roth. 154. — Ziehkinder,
vgl. Cassiodorus* Ausdruck p ro cream u s, Varia IV 2.
S. 316: Ziehvater, s. Glúma 48 u. f., 56 Z. 78; vgl. die starke Verpflich­
tung, die man auf Island empfindet dem Ziehvater seines Kindes gegen­
über, Austf. 151/152 vgl. N jála 600 u. f., und das Motiv in Thord Hredas
Saga, auch Regin. 13 u. f. — Artet seinem Ziehvater nach, N jála 177.
S. 317: Thorstein, Verwandter, Forns. 36. — Hakon, Heims. I 155/
156, 165, 182.
S. 318: Vorwürfe macht, Heims. I 186/187, 191 u. f .

Tod und Unsterblichkeit


S. 319; Athleten, z. B. Fost. und Grettir K. 31, 40 (Schluß).
S. 32C: Jökul, Forns. 7. — Thorolf, Svarfd. 17/18 vgl. 89; vgl. aus

434
späteren Zeiten z. B. Nicolaissen: Fra Nordlands Fortid 9, N . h. T . 2 III
165.
S. 321 : Egil, Skjald. 36 (18). — Furchtbare Wiedergänger, Grettir K . 32
u. f., Eyrb. K. 34, Forns. 131, Svarfd. 70, 75.
S. 322: Hermod, S E 59. — Eireksmal, Skjald I 164. — Helgi, Helg.
Hund. II 40 u. f.
S. 324: Eyrb. K. 55. — freie Aussicht, Islend. 185, Svarfd. 89, Laxd.
47. — Thorkel, Landn. 35/36. — K ar der Alte, Grettir K. 18 vgl. Ragnar
169, auch Egil 87 u. f.
S. 325: Asmund, Landn. 24/25. — Tacitus 14.
S. 326: Odin, Bald. vgl. Vsp. 28. Draußen zu bleiben und Troll auf­
zuwecken, um heidnische Künste zu treiben, ist verboten, Gul. 32, Frost.
V 45, und dieses Verbot bezieht sich ohne Zweifel auch auf Verkehr mit
den Toten. — Geringere Höhe des Glücks, vgl. die Liebe der alten N ord­
länder zum Leben — fr e k r er h v err til fjö rsin s, Austf. 83 — mit ihrer
Todesverachtung.
S. 327 : Eyrb. K. 11 .
S. 329: Tonga, das Beispiel stammt von Mariner: The Tonga Islands.

Der Neiding
S. 331: feige, N jála 659.
S. 332: Thurid, s. I 26, Flat. II 399 u. f. vgl. 160: „du bist wohl nicht
in allem ein Heiling“ , d. h. du weißt nicht, daß diese Reise dein Tod
wird. Vgl. z. B. Ljósv. 185. — Feige und friedlos, Vald. L. S. 61 vgl.
Rieht. 724, f a i und friedlos. AS f<ége bedeutet teils „verurteilt, des Todes“
und teils in christlichem Sinne des Wortes „elend“ , d. h. neidinghaft (z. B.
Christ 1518 vgl. 1537, Guth. 532). Wahrscheinlich ist das Wort ursprüng­
lich verwandt mit AS fá h = feindselig, ein starkes Wort, das in „un­
geheuer“ . „friedlos“ übergeht. Daher die Furcht vor dem Fluch des fei­
gen Mannes, in den Worten des Sterbenden lag die Möglichkeit für alles
Böse.
S. 333: Hjörleit, Landn. 6 u. f., 1 0 2 .
S. 334: Flüche, Helg. Hund. II 32/33, Saxo I 48/49, Edd. Min. 127.
S. 335: Grettir K. 78.
S. 336: Nichts dagegen machen konnte, vgl. Islend. 90 mit 69, 81, 98
u. f. und Grettir K. 34. Wenn der Tod sich nähert, zeigt sich immer eine
gefährliche Eigenschaft: alles im voraus sehen, aber nichts dagegen machen
können. — Tapfer genug, Gisli 54, 71. Islend. 105, Gull. 30. — Plündern,
Islend. 90. — Merkverse, B A Po. I 349. — Altnordisch, Ham. 29: strei­
ten, nämlich über Schuld und Nichtschuld; die Worte sind die von Sörli
und bilden die Antwort auf den vorhergehenden Vers. Vgl. die tragische
Schilderung des Lebens, das die isländischen Geächteten führten, z. B.
Grettir K. 55.
S. 337: Niederschriften von Urteilen, Cavallius II 357/358.
S. 338: Gunnar, N jála 352 vgl. 354/355, auch in der folgenden Anm.
zu S. 339. Moderne Leser empfinden nicht, wie stark And. 29 ist, bis sie
einsehen, daß Friedlosigkeit einfach identisch ist mit Tod.
S. 339: Zwischenzustand, Forns. 39. — Heillosigkeit, g á f u le y s i, z. B.
Grettir K. 52, Austf. 136/137.

435
S. 340: Handlungen und Bewegungen, der Unterschied zwischen Heil
und Zauberkraft lag im Charakter der Seele. Später, als die christliche
Denkweise solche Eigenschaften als f jö lk y n g i und Hamramheit verurteilte,
wurden diese vollkommen als Zauberei betrachtet, vgl. oben I 215, auch
Flat. I 260. — Abzusengen, Laxd. 135, Heims. I 145. — Zerstörung der
Zauberer, Eyrb. K. 20, Heims. I 377, Laxd. 132/133, Gisli 118.
S. 341: Die Bauern, Cavallius I 378 vgl. z. B. Nicol. 62/63. — Ismael,
Gen. 2287. — Thorstein, Flat. I 260.
S. 342: Busla, Edd. Min. 127 V. 3. — Dinge gesdiehen, die nicht ge­
schehen sollten, die Worte im Text besagen, daß alles, die N atur sowohl
wie das moralische Leben, ausgerenkt ist und der gesetzmäßigen Ordnung
widerspricht — es wird „ungeheuer“ .

Das Reich der heillosen Toten


S. 343: Bauern des Nordens, siehe z. B. Cavallius I 378/379. — Fafnir,
Faf. 7. — Unnar, Sol. 9.
S. 344: Jarl Hakon, Fagr. 146. — Alfhild, 01 s. h. h. 34 vgl. Flat. II
236, mit einer interessanten Variante. — Heremod, Beow. 1709 vgl. 901.
S. 345: Grettir 85, 82, 72, 90 u. f. Bei dem Wortwechsel zwischen Gret-
tir und Jökul muß man bedenken, daß auch dieser letzterer an seinem
Heil eine wunde Stelle hatte, vgl. Landn. 61 Z. 30. Von Gisli Surson gilt
dasselbe, er ist kein Unglücklicher im modernen Sinne. Der Traum, der
Segen des Menschen, ist ihm ein Fluch geworden. Vgl. auch die Folge­
richtigkeit, mit welcher Vöflu-Gunnar in Gullþoris Saga geschildert ist.
S. 346: Sigurd, siehe I 163. — Ursprung seines Unheils, z. B. Islend.
63/64, Vall. 159. - Angelsachsen, Beow. 2884, wo kein Zweifel besteht
hinsichtlich einer Textkorrektur.
S. 348: Der Bewohner eines Hügels, Herv. 215/216 vgl. Flat. II 7/8
und Nachklang Gull. 10 . Selbstverständlich sind die eigenen Toten und
die Toten der Freunde nicht Troll, also Unholde, aber alle anderen Toten
sind es; deshalb bedeutet Hügelbewohner ein Ungeheuer, vgl. N G L I
362 (25), II 308 usw., vgl. auch Fom ald. III 378. — Drache, Beow. 2231
u. f., Flat. I 203 vgl. Gull. 13, 47, Fornald. III 558. — Unland, N jála
21. — Hengest, Beow. 1127/1128. — lan d m u n r, Flat. II 321, 328 vgl. I
269/270. m u n r, in bezug auf diesen anderen Sprachgebrauch weise ich auf
Gering hin, vgl. auch z. B. Skjald. I 30 u. f. ( 1, 19) und m u n stceran d i
über Idun, Skjald. I 16 (11). Wenn Helgi in Helg. Hund. II 46 sagt:
P ó tt m ist h a fe m m u n ar o k la n d a , ist es schwer zu entscheiden, wie be­
deutungsvoll das Wort an dieser Stelle und zu dieser Zeit ist — ob wir
bei der Übersetzung die Freude betonen und nebenbei an das Leben den­
ken sollen, oder ob wir das Leben ausdrücken und die Freude als gegeben
betrachten sollen.
S. 349: fe a sc e a fl, ohne Verwandtschaft, Gen. 2175 vgl. 2100, 2699 vgl.
Beow. 2373, 7; einsam zwischen Fremden, Gen. 2836, 2821, And. 181;
friedlos Beow. 2285, 2393; der Zustand, der für den Einsamen, Schicksals­
losen charakteristisch ist, And. 1556, 367, Christ 175, B A Po. I 291 (27),
auch Gen. 2269; als Bezeichnung für den Unhold, Beow. 973. — Selbst­
mord der Germanen, Dio Cassius, 55, 6 .
S. 350: Die Sorgen des Königs, siehe z .B . N G L III 110 .

436
S. 351: Hinausschwören, Jy . L. II 2 2 ,Skånel. 139 vgl. S. 311 (Schlyter),
Upl. Kun. 9 vgl. Heims. I l l 346. Vgl. die angelsächsische Vorschrift,
Lieb. 186 ( 1) und der Sprachgebrauch in den Gilden, z. B. Da. Gild. I
22 (5). — Wolfskopf, Lieb. 631 (6 , 2 ), altnordisch v a r g r , Lex. Sal. 55, 2:
w arg u s. Helg, Hund. II 33, I 36 muß auch buchstäblich verstanden
werden. Derselbe Realismus steht hinter den Worten Bisk. I 47 Z. 9. —
Gudrun, Edd. Min. 129/130, Adam. 99; der Sinn ist ziemlich verworren
Vois. 181.
S. 352: hineinsterben, Vaf. 43.
S. 353: n á b ja r g ir , Eyrb. K . 33, besonders N jála 516/517, Egil 2 1 1 / 2 1 2 ,
Heid. 25/26. — Gudmund, Ljósv. 198/199. — „Umgehen“ , besonders im
Falle eines heillosen Toten, wo keine Wiederaufrichtung zu haben war,
an Krankheit gestorbene, Eyrb. K . 53, Eirik 24 u. f., Tod vor Knechtes­
hand und vor Neidingen, Grettir K . 32 u. f. Von Bedeutung ist Beow.
1053, weil hier ein dritter die Buße zahlen muß. Die Möglichkeit be­
stand auch, daß unheilvolle Eigenschaften während dieser kritischen Zeit­
spanne zur Herrschaft gelangen konnten, Eyrb. K. 33 u. f., Laxd. 48,
Foms. 131/132. — Auf seinen Platz gewiesen, Flat. I 62 vgl. Heims. I
219.
S. 354: Zerstörung, Laxd. 87 vgl. Eyrb. K . 34, 63.

Der Aufbau der Sippe


S. 356: Tacitus K. 2 0 .
S. 358: Ich bin genötigt, das gesamte genealogische Material, das mir
zur Verfügung stand, hier auf das Allernotwendigste zu beschränken; in
den Anmerkungen kann ich nur einige Beispiele unterbringen. Dieser
Stoff verdient eine umfassende Behandlung. — Jüngere Brüder und
Schwestern, Geirmund, der Sohn von Björn Gullberi, ist offenbar benannt
nach dem Vater seiner Schwägerin, ein Beispiel unter vielen.
S. 359: Das Vatsdœla-Geschlecht, ferner: Thorsteins Sohn Ingolf be­
kam ohne Zweifel seinen Namen von dem berühmten Ingolf, dessen
Frau der Björn Buna Sippe angehörte; der Name Surt, das in der näch­
sten Generation aufkommt, findet sich unter den Nachkömmlingen von
Ketil Flatnef und seinen Schwägern, und wird in das Laxdœla-Geschlecht
gebracht von Kjartan, der durch Heirat mit der Vatsdoela-Familie ver­
bunden war.
S. 360: Lodin, Heims. II 30 vgl. I 360. Flat. I 288/289 ist die Er­
findung eines phantasiereichen Geschichtsschreibers, vgl. S. 299, wo das
böse Gewissen des Verfassers deutlich zum Vorschein kommt. — Geira,
Heims. I 294/295. — H allfred, Forns. 103/104. — Eldjarn, Ljósv. 237,
Reykd. 123, 126/127.
S. 361: seines Geschlechts, z. B. Er. L. I 2 , Vald. L. I 2 0 , Skånel. 2 , 110
vgl. z. B. Roth. 360, 362, Lex Burg. V III 1 oder ö stg . Eþz. 23, Æ rf. 8 ;
Västg. I Mandr. 3; Smal. Krist. 13; Hels. Jor. 14 usw.; Roz. 479/480.
S. 362: Vormundschaft, wie in Lex. Sax. 42, 45. — Respekt fordern,
Gul. 51, 71, 117, Frost. IX 22, X I 9, 10 vgl. IV 38, IX 2 0 , X I 17/18,
Skånel. 56/57, And. Sun. 23, Er. L. I 48, III 11 , ly . L. I 8 , 30, ö stg.
Gipt. 18/19, Västg. I Æ rf. 4, 8 , 9, 15, Vestm. I Gipt. 3 , Hels. Æ rf. 7,
Lieb. 106 (38) vgl. 48 ( 1 , 2 ), Roz. 2 2 1 / 2 2 2 , 225, 228, 243, 253, 400, 468,

437
Lex Burg. X IV 4, X X IV 2 , Lex Fris. IX 11, Lex Sal. 35, 5, Roth. 182,
Liut. 146 usw. usw. — plündert, Skånel. 56, Er. L. I 48. — Angelsachsen,
Lieb. 442.
S. 363: Wergeid, siehe Anh. 15.
S. 367: ein interessanter Wink, siehe Anh. 15. — Ziehbrüder, Roth.
362, auf Island haben wir das klassische Beispiel Fost.; Gul. 239 vgl.
auch g e g y ld an , Lieb. 66 (27). — In den christlichen Zeiten, Lieb. 122 (76).
S. 368: Frostathing, Frost. VI. Bisp. I 1 0 : näher als p riÖ ja broeÖra und
ferner als nesta broeÖra. — die Angelsachsen, sehr interessant in diesem
Zusammenhang ist h a lsfa n g , gleichviel welche Bedeutung man ihm bei­
messen will; es ist das Recht des Sohnes, des Bruders und des Vater-
Bruders, Lieb. 392; vgl. Anh. 15. — Den Bruder in den Schatten stellen,
Lex Sax. 19 nennt ausdrücklich den Toter mit Söhnen und sonst nieman­
den, vgl. Schwedisch Gut. 15 (siehe I 288/289). — ordneten sich nach
Stamm, Tac. 7. — lokal Zusammenhalten, Cæsar IV 1, VI 22 vgl. Tac. 26;
dhunni = tribus ist also kein Beweis dafür, daß die Verwandten durch­
aus sich gemeinsam bewegten und zusammenhielten.
S. 369: wie Sohn oder Bruder, z. B. Flat. I 166 vgl. Gul. 239. — Von
zwei Brüdern gezeugt, O d d ru n .il. — Wergeid, siehe I K. X V I und
Anh. 15. — Sagen, z. B. die Verwandtschaft zwischen Beowulf und Hyge-
lac, in der Edda Helg. Hj. und Grip.; besonders interessant ist die Be­
merkung betreffend Flosi und Lopt, Landn. 112 Z. 19. — Mutterbrüdern
gleichen, Islend. 29 vgl. Bisk. I 134. — Tacitus 2 0 . Das Wort m ä g r be­
deutet im Skandinavischen und Gotischen Schwäger, während es in ande­
ren Sprachen Verwandte im allgemeinen bezeichnet; ähnlich das Wort
sip p e, das im Deutschen Verwandte bedeutet, aber in den skandinavischen
Sprachen nur Verschwägerte. Diese Tatsache besagt scheinbar, daß der
Gebrauch einer gemeinsamen Grundlage entsprungen ist, wo die beiden
Wortgrupper» ursprünglich das Herzblatt des Geschlechts bezeichneten.
Genealogie
S. 371: Das Gula-Thing-Gesetz, siehe Anm. 15. — sa k a u k a r , Gul. 236/
237 ygl. Frosr VI 6 /6 .
S. 372: Resignierter Appell, Gul. 105. Auf Island ist die Verbindung
nur noch eine Form (schematisch geordnet), so daß Verwandte mütter­
licherseits als eine symmetrische Parallele zu Verwandten väterlicherseits
behandelt werden, Grågås I K. 113.
S. 373: Der Jarl auf Mceri, Flat. I 2 2 1 , Landn. 96. — Jarl Atli auf
Gaular, Landn. 114. — Geirmund, Landn. 38. — Arnmcedlinger, Fagr.
389. — Bardi, siehe Christ. Vid. Selsk. Forh. 1875 S. 100 u. f.
S. 376: Dies ist eine alte Verwandtschaft, vgl. h itt v a s fy r r , Ynglinga-
tal V. 5. — Ynglingatal, Skjald. 7 u. f. vgl. Islendingabóc 18.
S. 377: Snorris Kommentare, Heims. I 27 u. f.
S. 382: Haralds Geschlecht, siehe Anh. 7. — Drot, Saxo I 351 u. f.,
Heims. I 32, Flat. I 25.
S. 384: Haralds Geschlecht, Flat. I 25/26.
S. 385: Höfdathord, Landn. 6 8 .
»
Ein ausführliches Sachverzeichnis befindet sich am Schluß des 2. Bandes.

438
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N = Neue Ausgabe)

O -N O -N O -N O -N

O
1
1 1 -1 7 4 9 -6 4 8 7 -1 1 3 125 - 160 1 6 3 -208
1 2 -1 8 5 0 -6 5 88 -1 1 4 126 - 161 1 6 4 -2 0 9
1 3 -1 9 5 1 -6 6 8 9 -1 1 5 1 2 7 -163 1 6 5 -2 1 0
1 4 -2 0 5 2 -6 8 9 0 -1 1 6 128 - 164 166-213
1 5 -2 1 5 3 -6 9 91 -1 1 7 1 2 9 -165 1 6 7 -214
1 6 -2 3 5 4 -7 0 9 2 -1 1 8 1 3 0 -1 6 6 1 6 8 -2 1 5
1 7 -2 4 5 5 -7 1 9 3 -1 2 0 1 3 1 -1 6 7 1 6 9 -2 1 6
1 8 -2 5 5 6 -7 4 9 4 -1 2 1 1 3 2 -1 6 9 1 7 0 -218
1 9 -2 6 5 7 -7 5 95 - 122 1 3 3 -1 7 0 1 7 1 -2 1 9
2 0 -2 8 5 8 -7 6 9 6 -1 2 4 134-171 172 -2 2 0
2 1 -2 9 5 9 -7 7 9 7 -1 2 5 135 - 173 173 -221
2 2 -3 0 6 0 -7 9 9 8 -1 2 6 1 3 6 -1 7 4 1 7 4 -2 2 3
2 3 -3 2 6 1 -8 0 9 9 -1 2 7 1 3 7 -175 1 7 5 -2 2 4
2 4 -3 3 6 2 -8 1 1 0 0 -1 2 9 138 - 176 1 7 6 -2 2 5
2 5 -3 4 6 3 -8 2 1 0 1 -1 3 0 1 3 9 -1 7 8 1 7 7 -2 2 6
2 6 -3 5 6 4 -8 4 102-131 1 4 0 -1 7 9 178 -2 2 8
2 7 -3 6 6 5 -8 5 10 3 -1 3 2 141 - 180 1 7 9 -2 2 9
2 8 -3 7 6 6 -8 6 104 - 133 1 4 2 -181 1 8 0 -2 3 0
2 9 -3 9 6 7 -8 7 105 - 135 143 - 183 181 -2 3 1
3 0 -4 0 6 8 -8 9 1 0 6 -1 3 6 1 4 4 -1 8 4 182 -2 3 3
3 1 -4 1 6 9 -9 0 1 0 7 -1 3 7 1 4 5 -185 183 -2 3 4
3 2 -4 3 7 0 -9 1 108 - 138 1 4 6 -1 8 6 1 8 4 -2 3 6
3 3 -4 4 7 1 -9 2 1 0 9 -1 3 9 1 4 7 -1 8 8 185 -2 3 7
3 4 -4 5 7 2 -9 4 110-141 148 - 189 1 8 6 -238
3 5 -4 6 7 3 -9 5 11 1 -1 4 2 1 4 9 -1 9 0 187 -2 3 9
3 6 -4 8 7 4 -9 6 1 1 2 -1 4 3 150-191 188 -241
3 7 -4 9 7 5 -9 7 113 - 144 151 - 193 1 8 9 -2 4 2
3 8 -5 0 7 6 -9 9 1 1 4 -1 4 6 152 - 194 190 -243
3 9 -5 1 7 7 - 100 1 1 5 -1 4 7 153 - 195 191 -2 4 4
4 0 -5 3 7 8 -1 0 1 1 16- 148 154 - 196 192 -2 4 6
4 1 -5 4 7 9 -1 0 3 1 1 7 -1 5 0 155 - 198 193 -247
4 2 -5 5 8 0 -1 0 4 118 - 151 156 - 199 194 -248
4 3 -5 6 8 1 -1 0 5 119 - 152 157 - 200 195 -249
4 4 -5 8 8 2 -1 0 6 120 - 153 158 - 201 196 -251
4 5 -5 9 8 3 -1 0 8 121 - 155 159 - 203 197 -2 5 2
4 6 -6 0 84 - 109 122 - 156 160 - 204 198 -253
4 7 -6 1 8 5 -1 1 0 123 - 157 161 - 205 199 -254
4 8 -6 3 8 6 -1 1 1 124 - 158 162 - 207 200 - 256

439
O -N O -N O -N O -N O -N
201 -257 227 - 290 253 - 322 2 7 9 - 354 3 0 5 -3 8 7
2 0 2 - 258 228-291 254 - 324 2 8 0 - 355 306 - 388
2 0 3 - 251 229 - 293 2 5 5 - 325 2 8 1 - 356 307 - 390
204 - 260 2 3 0 - 294 2 5 6 - 326 2 8 2 - 357 308 - 391
205 - 262 2 3 1 - 295 2 5 7 - 327 2 8 3 - 358 309 - 393
206 - 263 2 3 2 - 296 2 5 8 - 329 2 8 4 - 360 3 1 0 - 394
207 - 264 2 3 3 - 297 259 - 330 2 8 5 - 361 3 1 1 - 395
208 - 266 234 - 299 26 0 -3 3 1 286 - 362 3 1 2 - 397
209 - 267 2 3 5 - 300 261 -3 3 2 2 8 7 - 363 3 1 3 - 398
210-268 2 3 6 - 301 262 - 333 2 8 8 - 365 3 1 4 - 399
2 1 1 - 269 237 - 303 263 - 334 289 - 366 3 1 5 - 400
2 1 2 - 271 238 - 304 264 - 335 290 - 367 3 1 6 - 401
2 1 3 - 272 239 - 305 2 6 5 - 337 291 -369 3 1 7 - 402
2 1 4 - 273 240 - 306 2 6 6 - 338 292-371 3 1 8 - 404
2 1 5 - 274 241 -308 267 - 339 293 - 372 3 1 9 - 405
2 1 6 - 276 242 - 309 2 6 8 -3 4 1 294 - 373 320 - 407
2 1 7 - 277 2 4 3 - 310 269 - 342 295 - 374 321 -4 0 8
2 1 8 - 279 2 4 4 - 311 2 7 0 -3 4 3 296 - 375 322 - 409
2 1 9 - 280 2 4 5 - 313 271 -3 4 4 297-377 3 2 3 - 411
220-281 2 4 6 - 314 272 - 345 298 - 378 3 2 4 - 412
221-282 2 4 7 - 315 273 - 346 299 - 380 3 2 5 - 414
222-284 2 4 8 - 316 274 - 348 3 0 0 - 381 3 2 6 - 415
223 - 285 2 4 9 - 318 275 - 349 3 0 1 - 382 3 2 7 - 416
2 2 4 - 286 2 5 0 - 319 276 - 350 3 0 2 - 383 3 2 8 - 418
2 2 5 - 287 251 -320 2 7 7 -3 5 1 3 0 3 - 385 3 2 9 - 419
226 - 289 252-321 278 - 353 3 0 4 - 386 3 3 0 - 420
331 - 422

440
KULTUR UND RELIGION
DER GERMANEN

ZWEITER BAND
I N H A L T D E S IL B A N D E S

Kleinode ......................................................................................................... 7
Das Siegessdiwert ........................................................................................ 28
Name und E r b e ............................................................................................ 43
Gabentausdi .................................................................................................. 55
K auf und P f a n d .......................................................................................... 78
Tisdigemeinschaft .......................................................................................... 91
Heiligkeit ....................................................................................................... 109
Der Tempel .................................................................................................. 132
Um den Bierkessel ...................................................................................... 144
Gebet und O p fe r .......................................................................................... 164
Um Emtesegen und Frieden ..................................................................... 176
Spiel und Gelübde ...................................................................................... 189
Das B l o t ......................................................................................................... 201
Das schöpferische Fest ............................................................................... 216
Die Götter .................................................................................................... 249

Exkurs über das kultische D r a m a ............................................................. 264


Das primitive D r a m a ......................................................................... 264
Der Kam pf mit dem J ö t e n ............................................................... 278
Die Schöpfung...................................................................................... 288
Die Symbolik der heiligenS t ä t t e ...................................................... 294
Die V ö lu sp a .......................................................................................... 300
Sippengötter und K u ltg ö tte r............................................................. 322
Das Drama als die Geschichte der S ip p e ........................................ 332
A n h a n g ........................................................................................................... 342
Anmerkungen .............................................................................................. 375
Seitenvergleich ............................................................................................... 401
Namen- und Sachregister zu Band I und I I ............................................ 403

5
Kleinode

Der Eindruck, den der Fremde bei der ersten Bekanntschaft mit
dem Sippensystem meist empfängt, ist: Zurückhaltung, Selbst­
genügsamkeit und eine immer gegen den Nachbarn erhobene H and.
In einiger Entfernung sieht man nichts als Krieger, die kämp­
fen oder zum K am pfe rüsten, Männer, die die A xt griffbereit
neben sich an der Wand liegen haben, wenn sie schlafen, oder sie
mit sich nehmen, wenn sie den Saatsack über die Schulter werfen
und aufs Feld gehen. Gerade die Betonung ihres Zusammenhalts
scheint Unsicherheit als Grundstimmung des Lebens vorauszu­
setzen. Wie gewaltig muß der Druck gewesen sein, der eine so
restlose Eintracht schuf — so denken wir heute.
Oft genug ist ein Überblick aus der Ferne von großen Nutzen,
weil er Ordnung in die verwirrende M annigfaltigkeit bringt, an
der das Leben — in betrüblichem Gegensatz zu allen gesunden
wissenschaftlichen Regeln - leidet; aber bei einer Betrachtung der
reinen Linien ist der Beobachter in Gefahr, zu vergessen, daß
gewisse Züge von N atu r aus dazu bestimmt sind, in einiger Ent­
fernung zu wirken, während andere, die den Gesamteindruck
vielleicht ebensosehr beeinflussen, nicht so weit dringen können.
Die Richtigkeit des Eindrucks hängt aber von der gewissenhaften
Berücksichtigung aller mitwirkenden Faktoren ab. Wir können
wohl nicht sagen, daß unsere Vorfahren gerade friedlich waren,
da es ihnen ja nie einfiel, den Frieden über alles andere zu setzen
- aber sie waren mehr: in ihrer Kultur und in ihrem sozialen
Leben haben sie dem Friedenswillen ein Denkmal errichtet, und
ein mächtiger Friedenswille muß in ihnen geherrscht haben, der
jede Selbstbehauptung zwang, sich bestimmten Formen einzu­
ordnen, die ebensosehr der Einigkeit des Volkes wie der persön­
lichen Befriedigung dienten. Audi ihr tägliches Leben und Treiben
ist nicht weniger von gutem Einverständnis und Umgänglichkeit
geprägt; von der Sippe werden in jeder Richtung H ände nach
Verbindung und Bündnis ausgestreckt.
An bevorzugter Stelle steht im Leben der germanischen Gesell-

7
sdiaft der „K au f“ , das große Symbol für freundliche Beziehungen
und gegenseitiges Wohlwollen. Wenn die Sippen durch H eirat im
„Frieden“ vereinigt sind, so daß sie bei ihrem Streben nach
Selbstbehauptung immer mit der Unterstützung ihrer neuen Ver­
wandten rechnen können, wenn die Frau, die die beiden Sippen
in Frieden vereinigt, mit Recht ihren Namen fridu -sib b tragen
kann, so geschieht es, weil ein K auf, ein Handel zwischen den
beiden Sippen vor sich gegangen ist, ein Austausch von Geschenken
stattgefunden hat.
Die H eirat ist der große Austausch von Geschenken, der Schen­
kungsbund vor allen anderen. In dem modernen dänischen Wort
für Heirat, G iflerm aal, ist der Begriff des Gebens — g ip t — spä­
teren Geschlechtern überliefert worden; im Angelsächsischen wird
dasselbe Wort - gift — hauptsächlich benutzt, um eine Brautgabe
zu bezeichnen, und in der Mehrzahl bedeutet es ohne weiteren
Zusatz: Hochzeit. Aber im innersten Kern unterschied der Braut­
kauf sich nicht von der Freundschaftsschließung, die auch ein
„K au f“ war und gleichfalls durch Geschenke zustande gebracht
wurde.
Die Gabe eröffnet uns den Zugang zum germanischen Friedens­
willen, aber gleichzeitig stellt sich eine Menge psychologischer
Rätsel ein.
Als Blundketil in seinem Hause verbrannt worden war und die
Gönner seines Sohnes sich nach etwas umsahen, worauf eine H off­
nung zu gründen war, konnten sie nichts besseres ausfindig machen
als eine H eirat zwischen dem Jüngling und einer Tochter von
Thord Gellirs Schwester. Thord war ein mächtiger Mann, aber
keineswegs auf die Partie versessen. „ J a “ , sagt er, „zwischen mir
und Ketil ist nichts als Gutes; einmal im schlechten Wetter nahm
er mich auf und schenkte mir gute Zuchtpferde; und doch meine
ich, daß ich mir nichts vorzuwerfen brauche, wenn ich diese H ei­
rat ungestiftet lasse.“ Das volle und beabsichtigte Gewicht der
Worte tritt nicht hervor, wenn nicht der größte Nachdruck auf
dieses „und doch“ gelegt wird. Die Gabe trägt eine Verpflichtung
in sich; sie bindet, unter welchen Umständen sie auch gegeben
wird, und zwar mit einer Verpflichtung, deren Stärke, wenn man
ihr volles Recht widerfahren lassen will, so kräftige Worte verlangt
wie diese: der Empfänger ist in der Gewalt des Gebers.
Das sieht man, wenn Einar zu seinem Bruder, Gudmund dem
Mächtigen, dem Fuchs auf Mödruvellir, hinaufreitet und ihm sei-

8
nen Mantel wieder zuwirft: es ist ihm klar geworden, wohin
Gudmunds Pläne zielen. Aber Gudmund ist der nüchternen An­
sicht, daß es recht ungeziemend wäre, wenn die Verwandtschaft
nicht den einen zwänge, sich der Sache des anderen anzunehmen,
und hier hatte er noch dazu ein Kleinod empfangen. Es nützt
nidits, daß Einar am Zügel zerrt und geltend macht, daß hinter
der Gabe Trug gestanden hat; er mag recht haben, wenn er sagt,
daß die Worte sanfter fielen, als Gudmund den Mantel zu ihm
hinaustrug, um ihre Freundschaft zu bessern — unbarmherzig
kommt die Erwiderung seines Bruders: „Was kann ich dafür, daß
du dich selbst zum Toren machst, zu einem Verachtungswürdigen!“
Und Einar nimmt den Mantel und reitet heim. — Gudmund ist
vielleicht unter allen isländischen Saga-Häuptlingen derjenige, der
am weitesten über die alte Kultur hinaus in eine moderne Welt
hineingeschritten ist. Aber alles, was modern ist, erblaßt neben
der Macht der alten Sitte des Gabenaustausches, der Macht, die
den Mann bindet.
Als die Njalsöhne nach Hause kommen und mit den reichen
Geschenken prahlen, mit welchen Mord sie bei dem Gastmahl, das
er für sie gab, geehrt hat, sagt N ja l bedeutungsvoll: „E r hat es
sicher bei dem K au f auf seinen eigenen Vorteil abgesehen; paßt
auf, daß ihr es ihm nicht lohnt, wie er es sich wünschen mag.“
Aber der R at ist machtlos angesichts der verhängnisvollen Kraft
der G abe: ihr entspringt der Überfall der Njalsöhne auf ihren
Blutsbruder H öskuld und ihr eigener Tod im Feuer. - Ein kluger
Mann nahm keine Gabe an, bevor er mit dem Besitzer des Klein­
ods „den Sinn gemischt“ hatte und seine Pläne kannte. H atte
man erst einen anderen dazu gebracht, das Pfand der Freund­
schaft anzunehmen, war man seiner kräftigen Unterstützung ge­
wiß. Die Tatsache, daß er ohne weiteren Zusatz D ank sagte,
bedeutete entweder, daß er die Absicht des Gebers verstand, oder
daß er selbst zu allem bereit war — oder, natürlich, daß er sich
darauf verließ, daß der Geber sein Recht nie mißbrauchen würde.
Die Verpflichtung, die die Annahme eines Geschenks enthält,
offenbart sich machtvoll in den germanischen Rechtsbegriffen. Als
juristische Formel wird das Verhältnis z. B. im Abschnitt 73 des
langobardischen Edikts Liutprands festgelegt: „Eine Gabe, die
nicht durch eine Gegengabe oder durch th in gatio bestätigt wird,
hat keine gesetzliche Gültigkeit.“ Mit anderen Worten, der Geber
konnte sie zurücknehmen und, wenn nötig, einen widerstrebenden

9
Em pfänger vor Gericht bringen. In Schweden bewies man sein
umstrittenes Recht, indem man mit der Formel schwur: „E r gab,
ich lohnte es.“ Island hat auch seinen Paragraphen über diese
Frage: „W ird eine Gabe im Wert von mindestens 12 Öre oder
mehr nicht mit mindestens der Hälfte des Wertes vergolten, kann
der Geber beim Tode des Empfängers seine Gabe zurückverlangen,
wenn die Gabe ni dit an sich mit Recht als Gegengabe oder als
Entgelt betrachtet werden kann.“ Die sorgfältige Beschränkung
von Wert und Zeitfrist im isländischen Gesetzbuch, der „G rau­
gans“ , hatte keine entsprechende Begründung in der Denkart des
gemeinen Mannes; dort galt ein Geschenk als ein Geschenk, ob es
klein oder groß war, und es wurde keine lebenslängliche Bedenkzeit
anerkannt. Als Ingolfs Verwandte, Steinun, nach Island kam, bot
er ihr Land an von dem, was er bei der Ansiedlung genommen
hatte, aber sie zog es vor, ihm einen Mantel zu geben und es K au f
zu nennen, denn sie meinte, daß die Gefahr dann geringer sei,
daß er ihr nachträglich das Redit strittig machen würde.
Zu Liutprands Edikt haben wir unzählige Illustrationen in den
juristischen Urkunden der damaligen Zeit, die deutlich zeigen, daß
die Wirkung eines Geschenkes, das als Entgelt für ein Geschenk
gemacht wurde, nicht von seinem merkantilen Wert abhängig war.
So heißt es (im Jahre 792): Nach der Sitte unseres langobardischen
Volkes habe ich der größeren Sicherheit halber von dir ein Paar
Handschuhe empfangen, damit diese meine Gabe für dich und
deine Nachkommen unerschüttert stehen soll. Die so sprachen,
kannten genau die Streitigkeiten, wie sie zwischen zwei Parteien
entstehen, die freundschaftliche Geschenke ausgewechselt hatten.
Trat man einem Zweifel an dem Eigentumsrecht mit der Antwort
entgegen: „D u hast mir selbst das Land gegeben“ , so wurde der
Einspruch mit der Erwiderung abgefertigt: „So? Und hast du mir
etwas zum Dank gegeben?“
Später, als die unpersönliche Institution des Handels aus dem
persönlichen Tauschen und Dingen hervorging, war es natürlich
das Verhältnis des Schenkens, das nicht nur die Etikette und die
Formen schuf, sondern auch die endgültig bindenden Formalitäten.
Der sogenannte arrh a, der Gottespfennig, ist eine juristische For­
mulierung des Gefühls von Verpflichtung beim Em pfang eines
Geschenkes. Wer arrh a empfängt, verpflichtet sich, den betreffenden
K au f abzuschließen, sobald der Kauflustige mit der verlangten
Summe erscheint; er kann in der Zwischenzeit kein Angebot von

10
irgendeiner anderen Seite annehmen, wie verlockend es auch sein
möge.
Eine Gabe ohne Gegengabe, ohne Verpflichtung ist für die ger­
manische Seele undenkbar. Wenn ein Mann einen Freundschafts­
beweis empfing und davonging, als ob nichts geschehen wäre, dann
war das Kleinod nicht als sein Besitz anzusehen, sondern fiel halb
unter die Kategorie gestohlener Güter. Die Verpflichtung, die der
Em pfang mit sich brachte, war mehr ideeller als kommerzieller
Art, sie steckte zu tief, um in materiellen Werten ausgemessen zu
werden. Im praktischen Leben mochte die Größe des Entgeltes
vom Edelmut des Empfängers und noch mehr von seinem Stand
abhängen. Ein König konnte die freundliche Gesinnung der Leute
nidit mit kleinen Erkenntlichkeiten lohnen. Die ganze Psychologie
der Freigebigkeit ist in einer kleinen, humoristischen Anekdote
von einem armen Knecht enthalten, der mittels seines Talentes,
das Geschenksystem zu rationeller Spekulation auszunutzen, von
Armut zu Reichtum und Ansehen aufstieg. Es war einmal ein
junger Mann mit dem verheißungsvollen Namen Refr (Fuchs)
- so erzählt die Gautreksaga. Seine Jugend war nach den all­
gemeinen Märchenbegriffen vielversprechend, denn er gehörte zu
dem außergewöhnlich genialen Menschenschlag, der nie einen
Finger zur Arbeit rührt, sondern nur in der Asche liegt und fühlt,
wie der Schmutz an ihm wächst. Eines schönen Tages jagte der
Vater ihn aus dem Hause, und als er die Bestandsaufnahme über
seinen ganzen Besitz gemacht hatte, stand er auf der Straße mit
einem Schleifstein in der H and - das war sein einziges Aktivum.
Mit dem zog er auf gut Glück los und kam zu König Gautrek.
Er hatte gehört, daß der König nach dem Tode seiner Gemahlin
gemütskrank wäre und den ganzen Tag nichts täte, als auf ihrem
Grabe sitzen, und die Zeit damit verbringe, seinen Habicht au f­
fliegen zu sehen, und daß er manchmal das müde Tier mit einem
Steinwurf aufmuntern mußte. Wer weiß, vielleicht würden die
natürlichen Steine zu Ende gehen und ein Schleifstein für den
nachdenklichen König ein willkommenes Geschenk sein? Und so
geschah es. Refr stellte sich hinter den König, und als der König
nach einem Stein hinter sich tastete, schob Refr sein einziges
Kleinod in die H and des Königs - und ging mit einem Ring als
Entgelt davon. Der Ring wurde dann als Geschenk König Ella
angeboten, und R efr vergaß nicht zu erwähnen, daß König Gau­
trek Ringe für Schleifsteine gebe. Danach konnte der König von

11
England kaum weniger als ein Schiff mit Mannen und einem
Hunde geben. Der H und war das, was Refr am besten entbehren
konnte, so schenkte er diesen König H rolf, mit genauer Schilde­
rung seiner Herkunft; und auf diese Weise errang Refr ein Schiff
nach dem anderen und Haufen von Waffen, bis er eines Tages mit
einer Flotte und Mannen wieder vor König Gautrek erscheinen
und um seine Tochter werben konnte. D a hatte er mit Ehren
seinen Beinamen verdient — G jafa-R efr (Gaben-Fuchs).
Man kann dieser Geschichte nicht gleich ansehen, was sie in ihrer
Glanzzeit gewesen ist. Auch die Komik, die am tiefsten im Wesen
des Menschen wurzelt, muß ihre Macht über das Lachen mit einer
gefährlichen Abhängigkeit von den äußeren Seiten des Lebens er­
kaufen, und sie verliert ihre Fähigkeit, das Lachen unmittelbar zu
erwecken, wenn die sozialen Formen, durch die sie zum Aufblühen
kam, verschwinden. Wenn wir uns aber einmal die Bedeutung eines
Geschenks voll vergegenwärtigen, können wir wenigstens ver­
stehen, daß die Geschichte vom Prinzen Fuchs, dem Geschenk­
schlauen, einst die Lungen erschütterte und die Tränen über die
Backen rollen ließ, und zwar gerade deshalb, weil ihre Idee voll­
kommen vernünftig war; und vielleicht gelingt es uns, wenn wir
mit jenen Leuten lachen, einigermaßen mit ihnen vertraut zu
werden.
Das Geschenk ist ein sozialer Faktor. Indem es von Mann zu
Mann und immer so weiter geht, zieht es ein N etz von Verpflich­
tungen durch die Gesellschaft, das so stark ist, daß der ganze
Staat bewegt werden kann, wenn die Kette nur an dem einen oder
anderen Punkte richtig angefaßt wird.
Manchem mag es wohl so Vorkommen, als wäre er unter Scha­
cherer geraten, unter die geschicktesten und dreistesten Händler.
„Eine Gabe fordert Gegengabe“ - diese Redensart erhält im
Munde solcher Tauschgenies ihre besondere Bedeutung. Aber wenn
man nun andererseits ihre Gewissenhaftigkeit beim Abschätzen
des rechten Verhältnisses zwischen Geschenk und Entgelt betrach­
tet, kommt man vielleicht in die Versuchung, Dankbarkeit als das
große Prinzip in ihrer Ethik und ihrem Rechtsgefühl aufzustellen.
Unsere Vorfahren werden uns selbst eines besseren belehren. Sie
nehmen Dankbarkeit und Berechnung als das, was sie sind, ohne
sich aber ihrer zu schämen. Sie gehen an allem Zufälligen vorüber
und treten unmittelbar an die Sache selbst heran. Nicht das Geben
tut’s, sagen sie, sondern die Gabe. Wir erfahren, daß niemand sich

12
vom Einfluß der Dinge, die um ihn sind, freimachen kann, ob
diese nun in seiner eigenen Obhut oder nur nahe genug sind, um
mit in seine Taten verwickelt zu werden.
Die Nordländer geben ehrlich zu, daß sie Sklaven sind von
Gold und Silber — und Eisen. Und dann stimmen sie ein Loblied
auf die Metalle an, das jedem Gefühl von Anständigkeit wider­
strebt. Sie schaffen ihre höchsten Dichterwerke zum Preise des
Goldes und lehren uns mit der unwiderstehlichen Logik des Lebens,
daß der goldene Weg in den Menschen hinein nicht blind in nie­
drigen Leidenschaften endet, sondern die erhabensten Zentren des
Geistes und des Gefühles berührt. Die Gestalt des Goldgierigen,
die die Zivilisation lächerlich gemacht hat, indem sie sein Gehirn
auf eine gerade Linie reduziert hat, wird in der alten Kultur
geradezu als das feierliche Symbol der tausendfachen Verschlun-
genheit der menschlichen Seele aufgestellt.
Der Jubel über das Gold tönt breit und mäditig durch die ganze
Dichtkunst der Germanen. Ein Gedicht wie der Beowulf ist vom
Goldglanze durchstrahlt. D as Gedicht erzählt, so würden wir
sagen, von der schweren N ot der Dänen, als sie Nacht auf Nacht
den Besuch des Unholds aus den Sümpfen erdulden mußten, und
von den Heldentaten des fremden Recken, der sich dem Ungeheuer
in der H alle entgegenstellte und später in der Tiefe des Sumpfes
mit der Mutter des Scheusals rang und so das Land von der Plage
erlöste. Freilich, der Unhold ist da und auch der Dänenkönig und
Beowulf, der K am pf, die Befreiung und noch vieles andere. Und
das Gedicht handelt wirklich von dem Ungeheuer, dem Helden
und ihrem Ringkampf, von N ot und Erlösung. Aber nehmen wir
das Gedicht als ein Ganzes und lassen wir es an unserm Gedächt­
nis vorüberziehen, so können wir auch zu einem ganz anderen
Ergebnis kommen. Erst gibt es einen Widerhall von Lachen und
Spiel in der prächtigsten aller Königshallen; dann stirbt der Jubel
plötzlich in der unheimlichen Stille, als der Unhold zum ersten
Male erschienen ist; er erhebt sich wieder mit Trinken und Singen
und Verteilung von Gold bei der Ankunft des Fremden, schweigt
eine Weile in der Erwartung der Kampfentscheidung und bricht
dann neu in der H alle hervor, wo der König dem Sieger Klein­
ode reicht, und Beowulf sie freudig empfängt. Wenn wir ein
Gedicht, ein Musikstück zu Ende gehört haben, steht es nicht als
eine Reihe von individuellen Einzelheiten vor der Auffassung,
sondern als ein Gesamteindruck, dessen Charakter durch die

13
Kunst des Ausübenden bestimmt wird; von seiner Ausdrucks-
gebung hängt es ab, ob sich das rechte rhythmische Verhältnis ein­
stellt zwischen dem, was im Entwurf des Schöpfers anregend und
vorwärtsstrebend oder sinkend und auflösend ist, ob Arsis und
Thesis sich so das Gleichgewicht halten wie in seinem Ohre, als er
sie miteinander verknüpfte und sie so nahezu gleichgewichtig
machte, daß sie einander verstärken konnten. Was ist der Rhyth­
mus im Beowulf - oder vielmehr: was war der Rhythmus für jene
Zuhörer? Eins ist sicher: die Szenen in der Halle, wo das Gold
verschenkt und empfangen wird, stehen an Gewicht nicht hinter
den Episoden zurück, in denen die Belohnung gewonnen wird. Die
Zuhörer der alten T age wollten sich in nichts um die Spannung des
Kampfes betrügen lassen, sie verlangten, daß der ganze Schrecken
und das Grauen so finster und drohend gezeigt werden sollten,
wie sie waren; aber sie wollten auch in guter Ruhe den Anblick
des Helden genießen, wenn er im Feuerschein steht, die Halskette
auf seiner Brust und sein Schwert in der H and. Die Schilderung
des Gastmahls in Heorot nach dem Kam pfe, wo die „Glück­
lichen“ zu ihren Bänken schritten und die vollen Tische genossen,
wo die zahlreichen Metschalen weitergereicht wurden, wo König
H rodgar Beowulf mit Kriegsschätzen beschenkte, mit Helm,
Brünne, berühmten Schwertern - und um den Helm lag schützend
eine fein gearbeitete Spange - wo die Königin ihm Armringe und
Halsringe gab - und zwar die schönsten, die die Welt gesehen
hatte, seit der berühmte Brosingen-Halsschmuck heimgebracht
wurde - diese Beschreibung ist jedenfalls keine K o d a , wo die
gehabte Spannung sanft aufgelöst wird und die Gedanken der
täglichen Gepflogenheit zurückgegeben werden. Der Jubel im Saal
- die Saalfreude - und die Freude am Gold bilden den Grundton,
der die verschiedenen Bilder zu einem Ganzen verbindet. Für uns
moderne Menschen, die wir gewöhnt sind, daß die Poesie eines
Gedichts in dem Augenblick zu Ende ist, wo der H eld seinen Fuß
auf den letzten seiner Feinde gesetzt hat oder auf den letzten der
Dämonen, ist es merkwürdig zu sehen, wie man sich in alter Zeit
- und nicht nur in Nordeuropa - ins Siegesgefühl versenken und
daraus eine Gegenspannung schaffen konnte, die nicht schwächer
war als die Spannung des Kam pfes, und wie man nun die Hälfte
des Epos über Triumph, Feste und Spiele dichten konnte.
Audi im Kleinen bleibt sich der Dichter treu. Er ergeht sich
bewegt in dem Bericht von Gold und Kostbarkeiten, von Män-

14
nern, die verschenken, und Männern, die empfangen, und dasselbe
Entzücken zeigt sich immer wieder in seinen Bildern und Rede­
wendungen. Durch die poetischen Formeln, aus welchen der Beo­
wulf auf epische Art zusammengesetzt ist, klingt das Gold laut
und unaufhörlich, der König ist immer Ringbrecher, Schatz­
verschwender, seine Männer sind Goldforderer, und die H alle ist
der Ort, wo man den K am pf fürsten unter dem Rufen der Män­
ner Ringe verteilen hört; und die Meinung ist nicht weniger auf­
richtig, obschon diese Bilder zu der traditionellen Sprache der
Dichter gehören.
Ja , das H erz lachte dem Griechen oder dem Nordländer in der
Brust, wenn er einen Kupferkessel oder einen Armring empfing.
Odysseus’ erster wacher Gedanke, als ihn die Phäaken schlafend
ans Land gebracht haben, ist es, seine Kupferkessel zu zählen und
zu sehen, ob sie ihm ehrlich alle seine Geschenke mitgegeben haben:
»U nd dann zählte er alle seine herrlichen Dreifüße und Kessel,
das Gold und die gewebten Prachtkleider, und siehe, es fehlte kein
einziges Stück; dann seufzte er in Sehnsucht nach seiner H eim at."
Die Germanen haben sogar noch heroischere Ausdrücke für die
Abhängigkeit vom Golde. Beowulf wünscht in seiner Todesstunde,
seine Augen am Anblick der gewonnenen Kleinode zu weiden:
Wohl wußte er, daß die Last seiner Tage an Erdenglück zu Ende
getragen war, zersprungen war die Zahl seiner Tage, der Tod trat
ihm auf die Fersen . . . Laufe in Eile, W iglaf, Lieber, zum
Schlangenstein, wo der Schatz verborgen ist; spute dich eiligst,
damit der Urschatz, der Brand des Goldes, der Glanz der Steine
meine Augen erfüllen und bei den Kleinoden Leben und H err­
schermacht sanfter zerrinnen mag.
Diese heroische Neigung, sich um Gold und Bronze zu bemühen
und sie in geräumigen Gewölben und Hallen anzuhäufen, durch­
flutet die Seelen der Männer, doch ohne daß man als Folge davon
eine sichtbare Dämpfung aller großen Gefühle oder eine Ver-
dorrung des Gemüts bemerkt. Egil, vielleicht die tiefste und sicher
eine der menschlichsten Persönlichkeiten der alten Zeit, Egil hat
uns unter den fragmentarischen Versen, die er hinterließ, ein hohes
Lied der Gier geschenkt. Der Liebe zum Gold entlehnt Egil den
Ausdruck für das Freundschaftsgefühl, wenn er seine innige Trauer
über Arinbjörns Fall in den kleinen Vers legt: Zerstreut und spär­
lich leuchten jetzt die Männer, die wie Feuer im Kam pfe flammten,
die die Glut des Goldes weit ausstreuten. Wo soll ich freigebige

15
Männer suchen, wie die, die den Schnee des Tiegels (das Silber)
über meine Habichtshügel (Habichtsitz = der Arm des Jägers)
niederprasseln ließen?
Nahm die Gier heroische Formen an, so war ihr Gegenstück,
die Freigebigkeit, nicht weniger großzügig. Im König mußte diese
Eigenschaft notwendigerweise in so ausgeprägtem Grade herrschen,
daß niemand jemals mißdeuten konnte, wer mit „Schatzspender“
gemeint war. Das schlimmste, was jemals von einem Fürsten ge­
sagt werden konnte, war, daß er sein Gold zurückhielt. Die Erik-
söhne machten sich in ganz Norwegen allgemein verhaßt und
verachtet, weil sie ihr Geld in der Erde begruben „wie Klein­
bauern“ . Ein Teil des Königsheils bestand in dem Willen und der
Macht, „Frodis Mehl“ im Licht des Tages auszustreuen, und so
konnten die Männer im Beowulf aus dem Geiz des Königs
schließen, daß Unheil ihn von innen verzehrte. Im monarchischen
Norwegen konnte es wohl eine verdächtige Anmaßung werden,
dieses königliche Vorrecht in vollem Maße auszuüben, aber bis zu
einem gewissen Grade war Freigebigkeit notwendig für alle großen
Männer. In ihr lag eine stolze Selbstbestätigung, die besagte, daß
der Mann sein Heil für umfangreich genug hielt, um anderen
unter seinen Flügeln Schutz zu bieten.
Diese beiden sich widerstreitenden nordischen Züge in der A uf­
fassung von Gold und Kostbarkeiten können durch individuelle
Psychologie nicht ausgeglättet werden. Jeder für sich kann zu einer
bei uns fast unbekannten Vollkommenheit entwickelt werden, ohne
daß sie einander aufheben oder ihre Berechtigung gegenseitig be­
schränken; die Freigebigkeit führte keinen Abscheu oder Tadel
gegen die Goldgier mit sich, auch wenn diese nach unserer Ansicht
sich bis zu langfingriger Habsucht steigert. Wenn die Radien so
annähernd parallel verlaufen, muß das Zentrum sehr tief liegen.
Die schärfsten Gegensätze im Menschenleben bezeichnen die tiefste
Einheit.
Es gibt kaum einen Schmerz in der Welt, den das Gold nicht zu
heilen vermag. In der Völsungensaga finden wir die mächtigen
Worte: „Gib ihr Gold, und besänftige dadurch ihren Zorn.“ So
spricht Gudrun weinend zu Sigurd, als Brynhild ihre Rachepläne
fester und fester schmiedet und alle in Angst das Ende abwarten.
Aber Brynhild übertraf an Ausmaß alle Frauen und ihr H arm
alles Frauenleid, und deshalb und aus keinem anderen Grunde
war das Gold ihr gegenüber machtlos. Im Gold konnte Egil Trost

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finden und seine bittere Trauer über den Tod seines Bruders ver­
gessen. Nach der Schlacht auf der Vinheide saß er barsch und
zornig in König Æthelstans H alle, legte seine Waffen nicht ab,
sondern riß sein Schwert in der Scheide auf und ab, während seine
Augenbrauen krampfhaft zuckten; er nahm den Trunk nicht an,
der ihm geboten wurde - bis Æthelstan einen großen und guten
Ring von seinem eigenen Arm nahm und ihn übers Feuer reichte;
da kamen seine Augenbrauen zum Stillstand und der Trunk
schmeckte ihm wieder. Æthelstan legte Silber in Mengen dazu,
und da begann Egil froh zu werden. Er brach aus in den be­
geisterten Vers, der in jeder Zeile die absonderlichen Züge des
Dichters trägt: Die überhängenden Klippen der Augenlider senk­
ten sich im Zorn. Jetzt fand ich den, der die Furchen der Stirn
glätten konnte. Mit einem Armring hat der Fürst die sperrenden
Felsen des Gesichts beiseite geschoben. Der Schrecken schwand aus
den Augen.
Aber ein Geschenk kann im Empfänger auch Haß gegen den
Geber heraufbeschwören, wenn es nicht zur rechten Zeit kommt.
Wir fühlen uns vielleicht auch ein wenig beleidigt, wenn ein zu­
fälliger Bekannter uns mit Geschenken ehren möchte, in der Vor­
aussetzung, daß die Wärme seiner Gefühle genügt, um in uns eine
erwidernde Wärme zu erzeugen. Aber hier ist noch mehr, ein auf­
flammender Zorn, der nach außen Haß und Bitterkeit zeigt und
nach innen Furcht. Der Widerwille findet den heftigsten Ausdruck
in dem Falle, wo es sich um das unwillkommene Geschenk eines
Königs handelt. Als K jartan bei seiner ersten Begegnung mit O laf
Tryggvason den Mantel des Königs empfing, gaben seine Freunde
ihrer äußersten Mißbilligung Ausdruck, daß er sich freiwillig so
gedemütigt und sich unter die Gewalt und die Freundschaft des
Königs begeben hatte. Ein anderes Mal werden die Empfänger
königlicher Geschenke höhnisch Knechte genannt. Aber auch der
König konnte auffahren, wenn es jemand wagte, ihm eine heraus­
fordernde Ehre zu erweisen, indem er ihm ein „Freundschafts­
geschenk“ bot.
Die beiden Pole in der Auswirkung des Geschenks sind in der
Geschichte von Einar Skalaglam und Egil vereinigt. Der viel­
versprechende junge Dichter besuchte einmal seinen Bruder in der
Dichtkunst, und als er ihn nicht zu Hause traf, hinterließ er als
Geschenk einen prachtvollen Schild. Aber Egil wurde böse. „U n­
heil treffe ihn“ , rief er, und um selbst zu tun, was er vermochte,

17
damit dieser Wunsch sich erfülle, wollte er ihm nachreiten und ihn
töten. Aber Einar war schon zu weit fort, so daß die Sache nicht
so einfach erledigt werden konnte; was war da zu tun? Egil saß
mit dem Geschenk da, konnte es nicht wieder los werden, und
- „die Freundschaft zwischen Egil und Einar dauerte so lange,
wie sie lebten“ .
Es ist nicht das Kleinod selbst, das Furcht oder Zorn im Em p­
fänger hervorruft; es ist etwas in ihm, von dem er sich beunruhigt
am Arm gepackt fühlt, wenn er es berührt.
Bei einer solchen Übertragung geschieht mehr als die bloße
Übereignung eines äußeren Besitzes; das Geschenk hat einen inne­
ren Wert, der sich auf den Geber bezieht, und der in dem Namen
ausgedrückt wird, der Waffen und Kostbarkeiten beigelegt wird.
Auf Island wird der Nam e gewöhnlich durch Zusammensetzung
mit -n au tr gebildet; dieses Suffix ist von dem Verbum n jó ta „ge­
nießen“ oder „imstande sein zu gebrauchen“ abgeleitet, und es
zeigt die geistige Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem
ursprünglichen Besitzer an; der tiefere Sinn, den es enthält, geht
aus solchen Ausdrücken hervor, wie dem angelsächsischen w cepna
neótan (in dem Gedicht über „Die Schlacht bei M aldon“ ), d. h.
guten Gebrauch von seiner Waffe machen. Andvaranautr heißt in
der Saga der schicksalschwere Ring, den Loki von Andvari nahm;
Konungsnautr heißen im wirklichen Leben solche Waffen oder
Kleider, die der Besitzer aus der H and des Königs empfing.
Ein Geschenk trägt etwas vom früheren Besitzer in sich, und
sein früheres Dasein wird sich offenbaren, ob der neue Besitzer es
wünscht oder nicht. Das Schwert, das ein König verschenkt hat,
hat nicht nur eine ungewöhnlich scharfe Spitze, ein besonders
schön gearbeitetes Heft - es hat Heil im Schlagen. Um zu er­
fahren, mit welchen Gefühlen das Geschenk empfangen wurde,
müssen wir das Kleinod ansehen, so lange es im eigenen Besitz
der Sippe ist, und fragen, was es dort bedeutet. Als Glum in N o r­
wegen von seinem Muttervater Vigfus Abschied nahm, schenkte
ihm dieser einen Mantel, einen Speer und ein Schwert mit den
Worten: „M ir ahnt, daß wir uns nie mehr sehen werden, aber
diese Kostbarkeiten will ich dir schenken, und solange du sie be­
sitzest, bin ich sicher, daß du dein Ansehen nicht verlieren wirst;
aber wenn du dich von ihnen trennst, habe ich bange Ahnungen
für deine Zukunft.“ Glum und seine Verwandten stehen nicht
allein mit ihrem Glauben an diese Erbstücke. Als er sie später im

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Leben an seine besten Freunde als D ank für wertvolle H ilfe in
einem seiner vielen schwierigen H ändel mit den Nachbarn ver­
schenkt, meinen seine Gegner, daß der Zeitpunkt für ein glück­
liches Unternehmen gegen ihn endlich gekommen sei. Sie irren sich
nicht; zum ersten Male geschieht es, daß Glum überwunden w ild.
Und damit ist sein Glück tatsächlich ein für alle Male zu Ende,
jedenfalls wurde er nie mehr der große Mann, der er gewesen
war. — H öskuld schenkt auf seinem Sterbebett seinem unehelichen
Sohne O laf Pfau den goldenen Ring Hakonsnautr und das
Schwert Konungsnautr und mit ihnen sein eigenes Heil und das
Heil seiner Sippe: „U nd das sage ich nicht, ohne zu wissen, daß
das H eil der Sippe bei ihm Wohnung genommen hat.“ Das Murren
der älteren Söhne zeigt, welche Bedeutung der Verfügung H ös-
kulds in jenen Zeiten beigemessen wurde.
Die neue Färbung von Unwirklichkeit — Symbolismus —, die
sich beinahe unmerklich in das Verhältnis von H öskuld und seinen
Söhnen diesen Kleinoden gegenüber einzuschleichen beginnt, kann
man selbst in den Sagazeiten emporwachsen sehen. Der Übergang
hat dort angefangen, wo „es bedeutet“ sich unmerklich vor das
robustere „es ist“ schiebt. Nichtsdestoweniger fehlt es nicht an
deutlichen Anzeichen, daß das Kleinod immer seine Beziehungen
zu einem bestimmten Kreis von Menschen behielt. Der Ausdruck
der Grettirsaga: „das Schwert war ihr Schatz und war nie außer­
halb der Sippe gewesen“ , zeigt die rechte Einschätzung dessen,
was so ein Schwert eigentlich war, und wie heilig es war. Und
solange die Einheit der Verwandten noch die alten Sitten erhielt,
bewahrte die Ehrfurcht vor den Erbstücken als solchen etwas von
der alten Überzeugung. Die Axt, die Thorgrim Helgason 1450
O laf Thorevilson zu voller und guter Versöhnung schenkte, war
keine gewöhnliche Waffe, es war die Axt von O lafs Sippe ge­
wesen - wie die vertragschließenden Parteien in der gesetzlichen
Urkunde eigens erwähnen.
Noch in späten Sagen bilden die Beziehungen der Familie zu
ihrer Habe den poetischen Kern. In Dänemark hören wir von der
Familie Rantzau, daß ihr Gedeihen mit gewissen Erbstücken,
einem goldenen Spinnrad und einem Golddegen, in Verbindung
stand — oder nach anderen Quellen mit einer H andvoll G old­
stücken -, welche eine Gräfin von Geblüt einmal von den Unter­
irdischen als Lohn für Geburtshilfe bekommen hatte. Eine
Variante der Sage hat den merkwürdigen Zusatz, daß die Zweige

19
der Familie, die ihren Teil der Erbschaft immer sorgfältig bewahr­
ten, immer frische Sprossen trieben, während andere, weniger
achtsame Ausläufer der Familie ausgestorben sind. Häufiger kom­
men die Kleinode in Ortssagen vor, wie in denjenigen von dem
Eberfell, das den Herrensitz Voergaard in Jütland vor Feuersnot
und anderem Unheil beschützt. Ob diese Legenden nun direkt aus
der alten Familienüberlieferung hervorgegangen sind oder viel­
leicht ortsgebundene Volkssagen sind, die Idee ist doch dieselbe,
die einmal jene isländischen Lebensbilder inspirierte.
Ganz eigenartig kreuzt sich die poetische Symbolik mit der
Erfahrung in der Sage von Sigmund dem Völsung und seiner
Kleinodwaffe. Er schreitet durchs Leben mit dem Sieg und Heil
eines alten Schwertes, eines Geschenks von Odin. Den letzten Sieg
schlägt ihm der Gott selbst aus der H and, indem er ihm mitten
im Kampfgewühl entgegentritt und das Schwert mit seinem Speer
zersplittert. Als man das Schlachtfeld durchsucht und er blutend
gefunden wird, lehnt er es ab, seine Wunden verbinden zu lassen:
„Viele haben freilich ihr Leben bewahrt, wo die Hoffnung gering
schien; aber das Heil hat mich verlassen.“ Doch in seinem Sohne
wird das zersprungene Heil wieder ganz werden; wenn er heran­
wächst, sollen die Bruchstücke des Schwertes zusammengeschmiedet
werden. „Er wird das Schwert schwingen und manche mächtige
Tat vollbringen, und sein Name soll leben, solange die Welt steht.“
Seine Frau H jördis hebt die Stücke sorgfältig auf, und als die
Zeit gekommen ist, schmiedet Regin aus ihnen den berühmten
Gram, mit welchem Sigurd den Drachen Fafnir tötet. Der Dichter
steigert seine Reflexion beinahe zum Tiefsinn, indem er die Paral­
lele zwischen dem Menschlichen und seinem Abbild betont; aber
der Tiefsinn ist von der warmen Art, die sich an das Ergebnis
mehr heranfühlt als herandenkt.
Neben der Völsungensaga nimmt sich die Saga von H örd aus
wie der Heimsasse neben dem Welterfahrenen. Dort kommen die
Gedanken einfach und natürlich in einer Form, die von keinem
geschickten Dichter ausgeschmückt worden ist. Vor ihrer mit Groll
erwarteten Hochzeit mit dem alten Grimkel schenkt Signy ihrem
Bruder alles, was sie besitzt, mit Ausnahme zweier Kostbarkeiten,
eines Halsschmucks und eines Pferdes, die sie am höchsten schätzte.
Und wie sie sie schätzte, geht aus der Fortsetzung der Geschichte
hervor. Sie zürnt ihrem eigenen Sohn, als er - spät das Laufen
lernend - auf seinem ersten Gang über den Fußboden neben ihr

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hinfällt und nach dem Schmuck greift, der auf dem Knie der
Mutter liegt, so daß er zerbricht. „Böse wurde dein erster Gang,
aber viele solche werden folgen, doch wird dein letzter der
schlimmste“ , ruft sie. Die Wahrsagung erfüllt sich, indem H örd
das Schicksal des Neidings Grettir teilen muß; er wird ein Fried­
loser und muß sich gegen seinen Willen mit Räuberei abgeben. Der
Schmuck war Signys, aber das Heil, das in ihm gebunden ist,
bezieht sich auf das Geschlecht.
Wie die Völsungen und wie die Nachkommen von Wikingkari
- Vigfus und Glum - so hatte jede Familie in alter Zeit ihre heil­
haften Dinge, die sie als Unterpfand für Glück und Gedeih be­
trachtete; aber das Heil, das diesen Erbstücken ihren hervorragen­
den Wert verlieh, war von keiner anderen Art als das, das alle
H abe der Familie bis auf das einfachste Gerät hinab erfüllte. Das
S h wert und der Mantel repräsentierten den Reichtum der Familie,
das heißt n a h dem alten Denken, daß sie die Kraft des Fveihtums
selbst in s ih trugen.
D as Heil war n ih t auf die Wertgegenstände beshränkt, die im
Hause aufbewahrt wurden, es konnte auch draußen auf den Fel­
dern sein. Den Kleinoden unter den Besitztümern entsprahen
so lh e heilhaften Stücke Vieh, die für die Wohlfahrt der Herde
n ih t nur für mehr als gewöhnlihes Vieh galten, sondern dem
Bauern eine Siherheit für Leben und Segen boten. Einer der
Wertgegenstände Signys war ein Schmuck, ein anderer ein Hengst,
und als der auf dem Wege zu ihrer H o h zeit ums Leben kam,
wollte sie gleih umkehren, da sie wußte, daß ihrer in der Ehe
n ih ts als Leid und Unheil wartete. Ein guter Freund der Ingimund-
söhne, Brand, hatte ein Pferd, das Freysfaxi genannt wurde, und
das tat einmal, was ein gewöhnlihes Pferd kaum hätte tun kön­
nen. Jökul und Thorstein wollten sehr gern rehtzeitig kommen,
um bei einem Zweikampf nicht zu fehlen, der mit vielen groß­
tönenden Worten angeboten und angenommen worden war. D ar­
aus, daß der Shnee immer dihter um sie fiel, erkannten sie, daß
gewisse Personen sehr bemüht waren, sie am Ersheinen zu ver­
hindern, und alles taten, was in ihrer Macht stand, um sie zu einem
Aufenthalt unterwegs zu zwingen. Trotz aller Schwierigkeiten
erkämpfte Faxi s ih einen Weg, setzte sie an Ort und Stelle ab und
brachte sie wieder heim, nahdem sie eine Neidstange errihtet
hatten, ein Z eihen des Spottes, das der Saumselige bei seiner
Ankunft finden könne. Brand wußte, was er sagte, als er sie bat,

21
alles ihm und seinem Pferde zu überlassen, wo es sich darum
handelte, trotz feindlicher Hexenkünste vorwärtszukommen. Und
andere Leute wußten wohl auch, was sie sagten, wenn sie den
Bauern nach seinem Pferde benannten und seinen Namen in Faxi-
brand veränderten. Solche Edeltiere unter dem Viehstand des
H ofes sind es, die mit Goldzierat auf den Hörnern oder mit ge­
flochtenen Mähnen geehrt werden.
In vielen Geschichten müssen wir die Wahrheit aus den Ver­
drehungen des Aberglaubens oder aus den Entstellungen des christ­
lichen Eifers herausfinden. Der Bericht von dem beängstigenden
Traum O laf Pfaus ist vielleicht an sich ein wenig legendarisch
zurechtgeschnitten worden, aber die Wirklichkeit ist unverkennbar.
Auf O lafs H of lebte ein riesiger Stier, der bei den Leuten eine
allgemeine, vielleicht etwas furchtsame Ehrerbietung genoß. O laf
beschloß zuletzt, ihn schlachten zu lassen, und nun kam im Traum
eine Frau zu ihm, die die Mutter des Ochsen zu sein vorgab und
ihm den bevorstehenden Tod seines Lieblingssohnes voraussagte.
H alb Mythos, halb Märchen ist die Geschichte von dem guten
Stier Brandkrossi, der dem Bauern Grim so großes Leid ver­
ursachte; er hatte ihn immer besonders gepflegt, und er konnte
ihm nicht genug Gutes tun; aber eines Tages verschwand er im
Meer und kam nicht zurück. Jeder Versuch, den Bauern über seinen
Verlust zu trösten, indem man geltend machte, daß er leicht einen
anderen bekommen könnte, daß er stolz sein müßte, daß die Bucht,
in der der Stier verschwunden war, in Zukunft seinen Namen
tragen und Krossavik heißen sollte: alles ging zum einen Ohr
hinein und zum anderen hinaus. Brandkrossi war fort, was sie
auch sagen mochten. Wir hören weiter, daß der Bauer sich nicht
beruhigen konnte, bevor er nach Norwegen gereist war, um dort
Nachfragen über seinen wertvollen Stier anzustellen, daß er ihn
zuletzt in der Höhle eines Jöten fand, und daß die Tochter des
Jöten Stammutter einer isländischen Familie wurde. Hinter die­
sem ziemlich verwirrten Bericht erkennen wir deutlich eine Fami­
liensage - oder eine Erzählung, aufgebaut auf einer Familiensage
- die den Ursprung der Sippe mit der Existenz eines Rindes ver­
bindet, und die verzweifelte Vorliebe des Tieres für Strecken­
schwimmen entspringt vielleicht der Notwendigkeit, die Aus­
wandererfamilie mit der Heimat der Vorfahren in Norwegen zu
verbinden.
Auch wenn etliche von diesen Glückstieren nur blasse und ver-

22
blidiene Gespenster der "Wirklichkeit sind, haben sie doch gewisse
Beziehungen zu ihrer Herkunft treu bewahrt; es ist noch ein Rest
von Leben in dem „Glauben“ , der sie mit ihrem Besitzer verband;
er verließ sich auf sie, hören wir, und die Abhängigkeit des Be­
sitzers mag ebenfalls mit den Worten betont werden: dieses Klein­
od schätzte er besonders hoch. Diese hervorragenden Tiere waren
durch besondere Schutzmaßnahmen in Form von Geldstrafen
sicher umfriedet, da sie für die Wohlfahrt der ganzen Herde
Bedeutung hatten; aber was war ihre schützende und führende
Macht anderes als ein höherer Ausdruck für das Viehheil des
Besitzers und für seine Ehre? Es war kein Zufall, daß Faxibrands
Pferd ein mächtiger Käm pfer bei den Pferdehetzen war, stark
wie ein Bär und gleichzeitig seinem Herrn besonders teuer. In den
verallgemeinerten Bestimmungen der Gesetze kann das unmittel­
bare Verhältnis zum Menschen nicht zum Vorschein kommen, aber
andererseits vermochten die Gesetze das persönliche Element nicht
vollständig zu beseitigen. Die Rinder des Frankenkönigs waren
nicht nur zu höherer Buße eingeschätzt als die anderer Leute, son­
dern seine Stiere waren kostbarer als seine Pferde, und wir er­
kennen ihre Würde wieder in den Stieren, die den Wagen der
Merowinger zogen, wenn der H äuptling in zeremoniellem Aufzug
einherzog.
In den sorgfältig abgewogenen Worten, mit welchen die Gesetze
einen Dieb als ein Ungeheuer absondern, dem man keine mensch­
lichen Rücksichten schuldig ist, bekommt die eifrige Berücksich­
tigung des Heils in den Dingen einen leidenschaftlicheren Ausdruck,
als es irgendein Gedicht vermitteln könnte. Wehe dem, der einen
Mann in Fesseln schlägt - aber einen Dieb treibt man zum Ge­
setzesthing, die H ände auf den Rücken gebunden. Er wird wie
ein Wesen behandelt, das außerhalb der Menschheit steht, als einer,
der wie ein Unhold niedergehauen oder dessen Körper sogar ver­
stümmelt werden kann zum Abscheu der Welt. Ein Dieb ist immer
ein Dieb. Das Gesetz kann sich so weit dehnen, daß es einen
praktischen Unterschied zwischen dem größeren Diebstahl und
dem Mausen gelten läßt, aber die Unterscheidung betrifft nur die
äußeren Folgen der Tat; das Grundlegende ist gemeinsam: ein
Dieb hat kein Recht. Seine Tat ist Neidingswerk, und er gehört in
die Klasse des Mörders, der sein Opfer im Dunkeln überfällt und
sich davonschleicht, ohne seine Waffe als Zeugnis seiner Tat in
der Wunde zu lassen - wogegen der Räuber, der die Leute offen

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angreift und ihnen ihre H abe mit Gewalt aus den Händen reißt,
dem Totschläger, der Leben nimmt, gleichgerechnet wird. Der in­
tensive Haß der Germanen gegen den, dessen Finger länger sind als
sein Mut, stammt aus der Furcht vor der heimlichen Zerstörung
der Ehre und des Heils. Diese Männer wußten, wie später die
Männer in Südschweden, daß, wer die Fischgeräte eines Mannes
stiehlt, ihre Fangkraft beeinträchtigt und das Fischheil des Be­
sitzers zerstört, genau so wie jemand, der einen fremden Stier ohne
Erlaubnis benutzt, dem Tier die Zeugungskraft raubt. Wenn man
einen Mann in seinem Viehbesitz oder in seiner sonstigen H abe
angreift, besteht das Neidingswerk darin, daß der Verbrecher ihm
in den Rücken fällt und ihm eine Kraft in einem Augenblick ent­
wendet, wo er nicht imstande ist, sich zu wehren und sein Recht
zu zeigen.
Überfälle auf Vieh waren ebenso gehaßt wie gefürchtet. Vieh-
Wolf, Vieh-Neiding (isländisch g o rv arg r, dänisch und schwedisdi
gorn idin gr) ist der Name, den die skandinavischen Gesetze dem
geben, der heimlich einem anderen das Vieh entwendet. Die Namen
erzählen uns, daß diese Tat schlimmer als Tötung gewertet wird,
denn v a rg r und n idin gr werden hauptsächlich gebraucht, um
jemanden zu bezeichnender ein Verbrechen gegen die Ehre begeht,
zum Unterschied von der einfachen Kränkung. Die Isländer er­
kennen das Recht auf augenblickliche Rache an, aber in gewissen
Fällen bestrafen sie die Tat mit unbedingter Friedlosigkeit. In den
norwegischen Gesetzen finden wir noch eine Andeutung davon,
daß die Tat als jenseits der Grenzen der Sühne liegend betrachtet
wurde und den Übeltäter unwiderruflich in die W ilder schickte.
Das dänische Eriksgesetz spricht den Grundsatz deutlich aus, wenn
es bei Tötung von Vieh im Werte von einer halben M ark ent­
scheidet, daß „dies Neidingswerk ist, und Neidingswerk soll an
den König gebüßt werden“ .
Um das Volk zu verstehen, genügt es nicht, zu wissen, was die
Gesetze verurteilen, man muß auch die Beweggründe sehen, die
einen Mann dazu bringen, das Gesetz zu übertreten. Die Ein­
schätzung der Übeltat durch den berechnenden Verbrecher selbst
gibt manchmal das beste Zeugnis von der heimlichen Gewalt der
Beleidigung und von ihrer Tiefe. Es gibt eine Geschichte aus
Island, die, gerade weil sie sozusagen mit dem einen Bein außer­
halb der eigentlichen Moral steht, den Menschen bloßstellt und
etwas in ihm aufzeigt, das tiefer liegt als der Durchschnitt der

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sozialen Moral. In der isländischen Geschichte steht „der K am pf
auf der H eide“ um das Jah r 1015 als eine bemerkenswerte Be­
gebenheit, die die Gemüter der Menschen in große Bewegung
setzte und auch auf das öffentliche Leben ihre Wirkung ausübte, —
das darauffolgende Allthing wurde als eines der merkwürdig­
sten angesehen, deren man sich erinnern konnte - nicht weil Bardi,
der hier seinen Bruder H all rächte und das Leben von neun Män­
nern für ihn nahm, eine besonders hervorragende Persönlichkeit
war, sondern weil er mit H ilfe seines Ziehvaters, des weisen
Thorarin, seine Sache fast unüberwindlichen Schwierigkeiten zum
Trotz durchgesetzt hatte. Er hatte keinen Einfluß, er war - wie er
selbst sagt - kein Geldmann, wogegen seine Gegner Ansehen und
eine Schar von Freunden besaßen und schon lange den jungen
Erbherrn auf Asbjarnarnes genötigt hatten, Kränkungen zu er­
tragen und sich als einen Geringeren behandeln zu lassen. Aber
dafür war die Rache, die in dieser Sache genommen wurde, mit
dem ganzen Heil der sorgfältigen Vorbereitung ausgestattet. Tho-
rarins tiefe Weisheit im Ratgeben bewirkte, daß der Tag der Ab­
rechnung über die Gegenpartei wie ein Dieb in der Nacht kam.
Erstens verhinderte er alle großen Versammlungen im Bezirk, die
Brutstätten der Gerüchte; darauf ließ er ein paar seltene Pferde
- „ganz weiß mit schwarzen Ohren“ - , die einem benachbarten
Bauern gehörten, verschwinden und bemühte sich wohlwollend um
die Nachforschung nah und fern; denn wenn man schon ständig
im Süden Späher halten mußte, war es besser, daß sie mit einem
ordentlichen Auftrag unterwegs waren, als daß sie nur nach ein
paar alten Mähren nachfragen sollten, — das erklärte er seinem
jungen Freunde. Natürlich war der Besitzer freudig überrascht,
seine Pferde zurückzubekommen - als Thorarin sie nicht mehr
brauchte; eine Belohnung für ihre Auffindung lehnte er groß­
zügig ab; dadurch wurde eine nützliche Freundschaft gegründet.
Als Thorarin seine Vorbereitungen beendet hatte, hatte er in den
benachbarten Höfen ein kleines Heer von Freunden und willigen
Helfern um sich, die man nur mit einem Wort zu mahnen brauchte,
wenn die Zeit gekommen war. Aber bei allen diesen Vorberei­
tungen vergaß Thorarin nicht, die Sache so einzurichten, daß die
Rache ein Übergewicht hatte, das ihre Verzögerung ausgleichen
konnte. Als Bardi, nachdem er umhergeritten war, um alle ge­
worbenen H elfer zu sammeln, seinen Ziehvater traf, sah er gleich,
daß der alte Mann mit einem unbekannten Schwert auf den

25
Knien dasaß. Thorarin beantwortete seinen Gedanken, bevor er
ausgesprochen wurde: „D u hast das Schwert noch nie gesehen?
Es stimmt, ich habe es nicht sehr lange; laß uns beide Waffen
tauschen, dann sollst du hören, woher es kommt; mein Sohn hat
ein anderes, das eigentlich Thorbjörn gehört; dieses ist Thor-
gauts.“ D arauf erzählte er von der Freude, die es ihm gewesen
war, die Bekanntschaft von Lügen-Torfi zu machen. Torfi war ein
Verwandter der genannten Gegner, ein Mann mit einem pfiffigen
Verstand und einer tapferen Zunge, und man konnte sich außer­
dem auf seine vollkommene Gewissenlosigkeit verlassen. Wie er
gelogen und sich gewunden hätte, brauche nicht gesagt zu werden;
hier sei nun das Schwert. „Denn“ , sagte Thorarin, „es ist meiner
Meinung nach sehr passend, daß ihre Unverschämtheit mit ihren
eigenen Messern beschnitten wird; du könntest keine bessere Rache
für die Schande nehmen, die sie dir und den deinigen gebracht
haben.“ Auf dem Kam pffeld stürmt Bardi vorwärts und läßt
seine Feinde ihre eigene Waffe in seiner H and erblicken, er bewegt
sie hin und her und stachelt sie zu Raserei an mit dem, „was sie
sicher kennen“ , — und „d a wurden sie beide mit ihren eigenen
Waffen geschlagen“ .
Auch wenn man mit halbgeschlossenen Augen liest, muß es
einem auffallen, daß die Geschichte sich von gewöhnlichen Diebs­
geschichten durch mehr als den Rang des Diebes und seine über­
legene Kunst abhebt. Wenn wir Thorarin beobachten, haben wir
dasselbe unheimliche Gefühl, wie wenn wir sehen, daß ein Mensch
sich dämonische Macht verschafft, indem er sich in die Seele eines
anderen schleicht und sein innerstes Geheimnis benutzt, um ihn
hilflos in den Staub zu treten.
Nachdem wir nun durch Thorarins Kniffe aufgeklärt worden
sind, wird es uns eher möglich, eine Art von Unverletzbarkeit zu
verstehen, die sonst leicht ein Privileg halb oder ganz übernatür­
licher Wesen scheinen könnte. Unholde wie Grendel oder seine
Mutter können von sterblichen Helden nur mit H ilfe von Waffen
überwältigt werden, die dem Feinde selbst aus der H and ge­
wunden oder in der Höhle des Scheusals gefunden worden sind.
Für dieses Phänomen haben die Nordländer dieselbe Erklärung,
mit der die Angelsachsen sich beruhigen; es ist nicht nur die Härte
der Knochen, die die Schneide biegt, es ist Zauberei dahinter, sagen
sie. Aber die Wirklichkeit des Lebens dringt durch die Romantik
hindurch, wenn es in einem Märchen von einer Familie von H alb­

26
trollen heißt, daß ihr Vater sich und seinem Geschlecht Unverletz­
barkeit eingesungen hatte für alle Waffen außer ihrem Familien­
schwert, Angrvandill. Männer mit einem guten, harten Heil gin­
gen unverletzt von K am pf zu Kam pf, man mußte warten, bis sie
wie Glum sich eine Blöße gaben, und zu guter Letzt ist die sicher­
ste Art, einem Mann eine tödliche Wunde beizubringen, ihn mit
seiner eigenen Waffe zu schlagen oder mit anderen Worten, seine
eigene K raft gegen ihn zu benutzen.
In einem Märchen wie dem von dem Wiking Svart Eisenschädel,
der alle Gegner fragte, ob sie Bladnir kannten, liegt trotz aller
Erdichtung und Verfälschung doch ein leichterkennbarer Unter­
grund von alltäglichen Tatsachen. Bladnir war eine Sippenwaffe,
die, als Svart zuletzt von ihr hörte, sich in dem Besitz seines
Bruders Audun befand, und Svart war immer auf dem Posten für
den Fall, daß sie sich gegen ihn wenden sollte; es galt offenbar,
im N otfall Zeit zu gewinnen, um eine „Beschwörung“ vorzu­
nehmen, die sie in der H and eines Räubers harmlos machen sollte.
Aber er wurde zuletzt überlistet, und zwar, schändlicherweise,
durch die Verräterei seines eigenen Bruders. Audun hatte einmal
Bladnir seinem Freunde Thorgils gegeben, und es kam so, daß
Thorgils sich eines schönen Tages an einem O rt aufhielt, wo Svart
seine Ankunft angezeigt hatte, um die Tochter des Hauses zu be­
suchen. Er nahm es gerne auf sich, den Gast höflichst zu emp­
fangen. In der Nacht vor der Begegnung überraschte ihn sein
Freund Audun, der ihn im Traum besuchte und ihm seine Sorge
um seinen Bruder offenbarte, einen Taugenichts, der einfach im
Lande umherzog und die Töchter anständiger Männer bedrohte.
Bladnir könne ihn überwältigen, wenn man das Schwert nur sorg­
fältig im Sande des Kam pfplatzes versteckte und dem Gegner
versicherte, daß man sein Heft nicht über dem Boden wüßte.
Mancher Mann machte es im wirklichen Leben wie Arngrim in
der Saga. Arngrim zerstörte das Land Svafrlam is, und als sie sich
in der Schlacht begegneten, schwang Svafrlam i sein Schwert T y r­
fing. Svafrlam i schlug nach Arngrim, aber der wehrte den Hieb
mit dem Schild ab, und das Schwert schlug ein Stück vom Schilde
ab und blieb in der Erde stecken. Arngrim hieb die H and des
Königs ab, griff Tyrfing auf und gab seinem Feind die Todes­
wunde. Die Vermutung, daß eine solche Todesart für die Hoffnung
einer Sippe auf Rache verhängnisvoll werden konnte, ist nicht zu
kühn, obwohl sie bis jetzt noch nicht erwiesen ist.

27
D as Siegesschwert

Jedes Gerät mußte, um brauchbar zu sein, Heil in sich haben.


Sonst war es nutzlos und untauglich. Zu dem Heil eines Schwertes
gehörte Schärfe, Schönheit, ein guter Griff und dann natürlich die
den Sieg bringende Eigenschaft, Stoßkraft. Einmal, als Jökul aus
Vatsdal außergewöhnlicher Zauberkraft ausgesetzt war, war er
erstaunt, daß sein Schwert, das Sippenerbstück, das „Sippenknauf“
genannt wurde, versagte; obschon er aus allen Kräften zuschlug,
kam kein Blut; er betrachtete verwundert die Schneide: „H at das
Heil dich verlassen, Sippenknauf?“ Ebenso geschah es mit Beo­
wulfs Schwert in dem Kam pfe mit Grendels Mutter: zum ersten
Male versagte es; sein dóm , seine Ehre und Kraft, waren zu Ende.
Ein Schiff muß Heil haben, um gut auf dem Wasser zu fahren
und den Wind aufs beste auszunutzen, sowohl beim Kreuzen wie
beim Segeln vor dem Winde; es darf nicht lecken oder dort landen
wollen, wo es gefährlich wäre. D as Vatsdoelagesdilecht besaß ein
solches vollkommenes Fahrzeug, das Ingimund von König H arald
bekommen hatte. Es hieß Stigandi, „der flinke Gänger“ , und es
hatte großes Fahrheil.
Aber wir wissen, daß zwischen Schwert und Schwert ein großer
Unterschied war. Einige Schwerter konnten geradezu Siegeswaffen
genannt werden, wie sie im Beowulf heißen: solche, die ihrem
Besitzer den Erfolg sicherten, wohin er auch kam. Im Nordischen
heißt es oft mit etwas breiterer Charakterisierung: „U nd das
Schwert hatte dies an sich, daß der den Sieg gewann, der es in dem
Kam pfe trug“ , oder: „Es biß durch Eisen, als wäre es Tuch, ver­
rostete nicht, und Sieg war mit ihm in der Schlacht und im Zwei­
kam pf, wer es auch trug“ ; aber in dem Gespräch mit Torfi kann
Thorarin auch seinen Wunsch, die fremden Schwerter zu besitzen,
einfach so ausdrücken: er hätte gehört, sie wären „siegreich“ . Un­
zweifelhaft steckte der Sieg im Speer und Schwert und der gün­
stige Fahrwind im Schiff, und wer solche Kostbarkeiten gewann,
erwarb mit ihnen die Eigenschaften des Heils. Deshalb war man
so gierig nach Grabgut: man brach die Grabhügel auf und nahm,

28
wenn es not tat, einen Ringkam pf mit dem Grabbewohner mit in
K au f - wenn wir den Sagas glauben können -, um sich eine alte,
erprobte Siegeswaffe anzueignen. Das gute Schwert Sköfnung, das
M idfjardarskeggis Stolz war und das eine gewisse Rolle in dem
Leben seiner Nachfahren spielte, wurde aus H rolf Krakis G rab­
hügel herausgeholt; Skeggi hatte es selbst geholt, und er hatte so­
wohl Bödvar Bjarki wie den König gesehen; Bödvar wollte ihn
angreifen, aber der König hielt ihn zurück. Das Kleinod hatte
ohne Zweifel die Mühe gelohnt; es war so grimmig, daß es nie in
die Scheide zurückwollte, ohne lebendiges Fleisch zerschnitten zu
haben; es meldete selbst, wenn der Hieb gut gelungen war, indem
es laut sang, und keine Wunde von ihm wollte jemals heilen; aber
andererseits war es eigensinnig; es ertrug nicht, daß Frauen es
sahen, wenn es gezückt wurde, und es litt keinen Sonnenschein
auf dem Griff. Fern im Süden erinnert Paulus Diaconus seine
Leser daran, daß „Giselbert in unserer Zeit das Grab Alboins
(des langobardischen Heldenkönigs) geöffnet und sein Schwert
genommen hat, . . . und darauf hat er mit seiner gewöhnlichen
Eitelkeit den einfachen Leuten gegenüber damit geprahlt, daß er
Alboin gesehen hätte“ .
Aber wir dürfen doch nicht glauben, daß ein solches Kleinod
sich von jedem Beliebigen benutzen ließ, daß das Schwert im
Kam pfe losging und der Mann einfach zu folgen hatte. „D as
Schwert kämpft von allein - wenn es von einem geschickten H el­
den geschwungen w ird“ , sagen die Skirnismal, und das Schwert
Hrunting, Beowulfs treuer Begleiter, „ließ im K am pf nie den im
Stiche, der es trug, wenn er es wagte, den gefahrstrotzenden Weg
durch die feindlichen Heerscharen zu gehen.“ Im Alltäglichen
drückte man sich nüchterner, aber auch genauer aus, man gab
die Waffe ab mit einer Warnung, daß nur ein „tüchtiger und
furchtloser“ Mann sie gebrauchen könne. Die Betonung liegt auf
der notwendigen Übereinstimmung zwischen dem Benutzer und
dem Benutzten. Ingimund machte einmal eine Probe mit Stigandi:
er wollte sehen, ob es auf den Wogen reiten könnte, wenn er
nicht selbst dabei wäre; und der Versuch gelang, die Mannschaft
kam aus Norwegen zurück, voll von Lobreden über das Schiff.
Aber es konnte auch Vorkommen, daß Waffe wie Schiff den Dienst
verweigerten, wie es mit O laf Tryggvasons Schiff, dem Lang­
wurm, geschah, das nach O lafs Tode dem Steuer nicht mehr
gehorchte. Es war immer die Frage, ob einer geschickt genug war,

29
die Waffe auf die rechte Weise zu „nehmen“ , ob er ihr H eil
kannte und Ehrfurcht vor ihr hatte, oder - anders ausgedrückt -
es kam darauf an, ob der eigene Charakter und der des Schwertes
übereinstimmten. Als Korm ak Sköfnung zu borgen wünschte,
hatte Skeggi viele Bedenken, es zu erlauben, gerade weil er in
diesem Punkte seine Zweifel hatte: „D u bist ein hitziger Mann,
aber Sköfnungs Wesen ist Besonnenheit.“ Sicher ist es, daß Sköf­
nung und Korm ak nicht zusammen paßten, und die Folge war,
daß beide unter der mangelnden Übereinstimmung litten.
Die unerläßliche Bedingung dafür, die Waffe eines anderen zu
benutzen, war also, daß man entweder Klugheit genug besaß,
um sich mit ihrer Seele anzufreunden, oder Macht, sie zu zwingen.
Man konnte vielleicht von einer plötzlichen Eigenwilligkeit in
dem Kleinod überrascht werden, von einem dunklen Willen, der
gegen den eigenen ging; das war der Geist der früheren Besitzer,
der sich plötzlich offenbarte. Ein Wille, der einmal in das Schwert
hineingebracht worden war, ließ sich nicht leicht überwinden;
wenn Geirmund dem Schwert Fußbeißer „auferlegt“ , daß es dem
besten Mann in O laf Pfaus Geschlecht das Leben kosten soll,
wird das Schwert früher oder später seinen Willen durchsetzen.
Bolli wird es eines Tages gegen seinen Vetter K jartan schwingen
und wird zu der Tat angetrieben werden, die ihm „spät genug
aus dem Gedächtnis schwinden sollte“ . Das gute Schwert Grau­
seite, das im Besitz der Sursöhne war, hatte von seinem früheren
Besitzer das Wort auf erlegt erhalten, daß es den Verwandten
schlimme Tage bringen sollte. Nach langer Zeit wurde es in einen
Speer verwandelt, aber vor seiner Wandlung hatte es Streit in
der Familie gesehen und nachher den Tod zweier Männer ver­
ursacht, die durch Freundschaft und Heirat mit ihr verbunden
waren. Deshalb erzählte man bei der Überreichung eines Schwer­
tes oder eines Halsschmucks dessen Geschichte; der Empfänger
sollte wissen, welchen Schatz er erhielt, welche Ehre und welches
Heil in ihm aufgehäuft waren, aber er sollte auch sein Wesen
kennen und den Willen, der in ihm wohnte. „Diese Brünne gab
mir H rodgar, der weise König, und er hieß mich dir erst künden,
was ihr guter Wille ist; er sagte, daß Heorogar, der König der
Skjoldunge, sie eine geraume Zeit getragen hat . . . “ : mit solcher
Umständlichkeit überreicht Beowulf seinem Verwandten die Rü­
stung, die er vom Skjöldungensitz mitgebracht hat.
Eine Waffe, die Königstöter oder Selsrächer heißt - der Speer,

30
mit welchem Selthorir gerächt worden war —, kündet in dem
Namen selbst ihre Vergangenheit. Die Angelsachsen mit ihrer epi­
schen Besonnenheit haben Zeit, die ganze Erzählung aufzurollen.
In dem kurzen Augenblick, wo Wiglaf hervorspringt, um Beowulf
zu helfen, findet der Dichter Zeit, die Aufmerksamkeit auf das
Schwert zu lenken, das Wiglaf trug: „Er zog das Schwert, ein
Erbstück von Eanmund, Ohtheres Sohn, dem Freundlosen, dem
Landflüchtigen, den Weohstan im Streit tötete, und er nahm mit
sich heim seinen dunklen Helm, seine Brünne aus Ringgewebe, sein
altes, von Jöten geschmiedetes Schwert; das schenkte ihm Onela,
und er sprach nicht von Unfrieden, obschon der Getötete sein
Brudersohn war. Das Kleinod bewahrte er viele Jahre, bis sein
Sohn große Taten ausführen konnte, wie sein Vater vor ihm.
Dann schenkte er ihm mitten unter den Geaten Waffenkleider ohne
Zahl, und so schritt er aus dem Leben.“ Das Schwert war also
in die Familie gekommen, als Weohstan, Wiglafs Vater, auf dem
Schlachtfelde Eanmund niederhieb; und Onela, in dessen Schar
Weohstan stand, überließ ihm die Beute, obschon der Getötete
sein eigener Brudersohn war.
Es ist also kein abstrakter Segen, nicht bloß Glück im gewöhn­
lichen Sinne, das in diesen Kleinoden enthalten ist, sondern ein
wirkliches Heil, die Seele einer besonderen Sippe. In den Worten,
mit welchen Grettirs Mutter ihm das köstliche Kleinod ihrer
Sippe, Sippenknauf, überreicht, liegt die Betonung auf der Ver­
bindung zwischen dem Schwert und seinen Besitzern: „Dieses
Schwert besaß der Vater meines Vaters, Jökul, und die alten
Vatsdcela-Männer vor ihm; und der Sieg war mit ihm.“ Das ist
dasselbe, wie wenn die Sagen erzählen, daß nur der rechte Mann
vom Schwert Besitz ergreifen kann. Um das Schwert, das Odin
in die Völsungenhalle brachte und fest in den Baum hieb, be­
mühten sich viele, aber es wollte sich für niemanden lockern, bis
Sigmund kam; und als Bödvar Bjarki nach dem R at seiner Mut­
ter zu der Höhle ging, wo sein unglücklicher Bärenvater seine
Waffen versteckt hatte, da fällt das Schwert von selbst in seine
H and, sobald er den Griff anfaßt. Die erste dieser Sagen ist
ohne Zweifel in die Form eines Familienmythos gegossen, die zweite
ist als Märchen zurechtgeschnitten, aber beide sind von Gedanken
getragen, die allen vertraut waren: wenn Gleiches Gleichem be­
gegnete, gingen die beiden Seiten der Hamingja ineinander über.
Das Lob über die Macht des Schwertes, den Sieg zu bringen,.

31
betont nur eine Seite seines Wesens, die Seite, die der Umwelt zu­
gekehrt ist; in dem Respekt vor seiner Gefährlichkeit liegt aber
eine noch eigentümlichere, persönlichere Einschätzung seines Wer­
tes und seiner Verknüpfung mit einer bestimmten Familie. Wie­
viel H eil der Durchschnittsmann innerhalb seiner eigenen Begren­
zung auch besitzen mag, so hat er doch kaum jede Art von Streit­
heil, und nur die Waffe des H äuptlings trägt in sich jede Art von
Sieg und jede K am pfart. Deshalb ist der Zusatz, daß Tyrfing
sowohl in der Schlacht wie im Zweikampf H eil hatte, nicht so
überflüssig, wie es zunächst aussehen mag. Aber andererseits setzt
das Siegesheil einer Waffe eine Allseitigkeit gleich der der Sippe
voraus; das Schwert wie der Speer und der Schild, muß das ganze
H eil des Stammes besitzen, dazu seine H eilkraft, seine Frucht­
barkeit, sein Speiseheil, seinen Scharfsinn. Ich vermute, daß ein
Schwert oder ein Hammer so gut wie ein Mantel den Leib der
Frau öffnen konnte, wenn neue Nachkommen erwünscht waren;
sie konnte in das Kleidungsstück gehüllt werden wie in eine
Wolke von Kraft, sie konnte den Hammer in ihren Schoß au f­
nehmen wie die Braut in der Thrym skvida. Ich möchte auch glau­
ben, daß das Eintauchen des Speeres in den Milchbottich Glück
beim Kochen und Sättigung bei Tische geben konnte. In N o r­
wegen ist es bis in die letzte Zeit vorgekommen, daß Erbstücke
bei der täglichen Wirtschaft in H aus und H o f verwendet wur­
den. D a und dort gab es eine Familie mit einem alten Messer, das
jede Art von Gliederreißen und K ram pf durch bloße Berührung
heilte; und in gleicher Linie mit jenen Messern steht die siegreiche
A xt Skrukke, die bei den guten Leuten in Kviteseid (in Telemar­
ken) einen so zweifelhaften R uf hinterlassen hat. Erstens war es
zum größten Teil ihr zu verdanken, daß die Ortschaft nicht
übervölkert wurde, zweitens wurde sie dazu benutzt, die Über­
lebenden von Geschwüren und solchen Schmerzen zu befreien, von
denen man befallen wurde, wenn gewisse nächtliche Wanderer
einen streiften; strich man sie nur täglich einige Male über die
empfindliche Stelle, so stellte die Heilung sich bald ein.
Eine Erklärung der Tatsache, daß die norwegischen Messer und
Äxte ihre H eilkraft so lange Jahrhunderte hindurch bewahrt
haben, könnte man in all den Heiligenknochen und Heiligen­
büchern, Kreuzessplittern und Evangelienbüchern suchen, die im
Mittelalter dazu dienten, den Gesundheitszustand in Europa auf­
rechtzuerhalten. Aber eins können die Geräte nicht von außen

32
bekommen haben, und das ist ihre innere Berechtigung in der Vor­
stellung derer, die sie benutzten, nämlich die Tatsache, daß sie
ihre K raft aus der „Ehre“ ableiteten. Die Menschen verließen
sich auf die K raft der Messer, die Gicht zu heilen, denn viele
Männer waren von ihnen getötet worden, das heißt in altertüm-
lidien Worten, daß sie viele große Taten gewirkt und viel Blut —
viel fjö r - getrunken hatten. Skukke hatte besondere Kraft, weil
sie einem sehr harten und mörderischen Menschen angehört hatte.
In den isländischen Sagas erfahren wir nur wenig vom grauen
Alltagsleben und den Alltagspflichten, die aber gerade vom Stand­
punkt der Kulturgechichte interessieren, weil alle daran beteiligt
waren. Sowohl Inhalt wie Darstellungsart der Sagas sind von der
intensiven Steigerung des Lebens geprägt; sie zeigen immer die
Ehre und das Heil in geballter Spannung, und Alltagsgescheh­
nisse erscheinen nie um ihrer selbst willen; nur wenn sie Sprung­
federn sind für große Taten, gehen sie in die Unsterblichkeit ein.
Unser Wissen von dem Leben in der Sagazeit ist deshalb nicht
einseitig, jedoch merkwürdig bruchstückartig. Wir hören genug
davon, was ein Gastmahl veranlassen konnte, aber merkwürdiger­
weise wissen wir nicht, wie eine isländische Hochzeit vor sich
ging - nicht der kleinste Teil des Zeremoniells ist uns überliefert
worden. Wir hören genug von einem Erbstück, um mit unsern
Kenntnissen von dem Wesen des Heils sichere Schlüsse hinsichtlich
seines Wertes für die Familie zu ziehen, aber wollen wir authen­
tische Erläuterungen haben, müssen wir sie woanders als in der
isländischen Literatur suchen und uns vielleicht zu guter Letzt
damit begnügen, daß die Bauern es machten wie ihre Väter vor
ihnen. Doch ein Zeugnis haben wir aus der alten Zeit, das sich
neben den norwegischen Erfahrungen mit Skrukke und den Mes­
sern zeigen kann, und dieses Zeugnis ist um so fesselnder, als es
die Geburt O lafs des Heiligen und sein Verhältnis zu seinem
abgeschiedenen Namensvetter betrifft. In den Tagen, als O laf,
der später den Namen „der Heilige“ bekam, geboren werden
sollte, offenbarte sich einer der früheren O lafs des Geschlechts, der
Geirstadaalf, in einem Traum einem braven Mann aus den Op-
ländern, namens H rani, einem nahen Freunde von O lafs Vater
und Mutter, H arald Grenski und Asta. Der Geirstadaalf offen­
barte Hrani seine eigene Geschichte und bat um seine H ilfe, d a­
mit sie jetzt erneuert werden könnte; er erzählte ihm, wo und wie
er begraben sei, und verlangte, daß er das Grab öffnen solle, um

33
einen Goldring, ein Schwert und einen Gürtel zu suchen. Er hatte
sogar - wenn unsere Erzählung richtig Bescheid weiß — einen um­
ständlichen Plan bereit, wonach H rani sich die nötige Beihilfe
sichern sollte; der Hügelbewohner werde selbst dafür sorgen, die
Helfer eiligst davonzuschrecken, sobald sie die Dienste geleistet
hätten, die von ihnen verlangt wurden, und er werde auf diese
Weise H rani von ihrer aufdringlichen Neugierde befreien. Ob es
nun der gute Geirstadaalf wirklich mit den Einzelheiten so genau
nahm, oder ob er nach Art der Verstorbenen einiges der Initiative
und der Kühnheit der betreffenden Sterblichen überließ, jeden­
falls ist es gewiß, daß es H rani gelang, sich den Ring, das
Schwert und den Gürtel zu sichern. Er ging mit den Schätzen zu
H arald Grenskis H of, wo Asta auf dem Fußboden lag, außer­
stande zu gebären; sobald sie von dem Wunsch des Geirstada-
alfen erfuhr, versprach sie gern, daß H rani den Namen des
Kindes bestimmen sollte. D a legte er den Gürtel um ihren Leib,
und gleich wurde das Kind geboren. Es war ein Knabe, und er
nannte ihn O laf und gab ihm von seinem Namensvetter das
Schwert Bæsing und den goldenen Ring.
Sobald wir uns der Ehre nähern, tritt die alte Zeit mit ihrem
vielstimmigen Zeugnis hervor. Durch das Leben der Wikingerzeit
geht die tiefe Genugtuung über die „Verehrung“ durch Geschenke;
wie oft lesen wir davon, daß Gäste bei ihrem Abschied mit Ge­
schenken geehrt wurden und sich im Wohlbehagen dieser Ehre
auf den Heimweg begaben. Die Angelsachsen, die gerne laut­
tönende Worte gebrauchen, lassen Beowulf über den grünen Racen
fort von H rodgars H of schreiten, stolz sich seines Schatzes freu­
end; die Nordländer wiederum, deren Stärke darin liegt, daß
sie, um Nachdruck zu erzielen, gedämpft sprechen, begnügen sich
mit der einfachen Angabe, daß die Geschenke eines mächtigen
Mannes würdig, oder daß sie ansehnlich waren. Für Egil waren
der Ring und das Silber wirkliche Ehrengeschenke, eine Zulage
zu seinem Selbstgefühl; er richtete sich auf unter ihnen, wie die
H ausfrau sidi in dem Augenblick aufrichtet, wo sie die Morgen­
gabe empfangen hat, durch welche der Mann sein Weib „verehrt“ ,
wie das schwedische Upplandgesetz es ausdrückt. Der Empfänger
erhielt tatsächlich ein greifbares Stück Ehre; er legte seine H and
auf ein Stück Edelmetall, das aus alten Taten, aus alter Hoch­
gesinnung, alter Häuptlingsfreigebigkeit, aus dem Selbstgefühl der
Besitzer und den Lobreden der Bewunderer zusammengesetzt war.

34
Die alte Redensart, daß „Kühnheit mit dem Kleinod ging“ und
von dem neuen Besitzer übernommen wurde, muß buchstäblich
genommen werden, wie sie dasteht. Und wenn ein Mann wütend
die Spur des Diebes verfolgte und mit allen Mitteln versuchte,
ihn zu überlisten, bevor er Zeit gefunden hatte, das Gestohlene
zu entweihen, geschah dies in der T at, weil er wünschte, seine
Ehre zurückzuerhalten, bevor sie beschmutzt, beschädigt oder viel­
leicht ihrem rechten Besitzer durch heimliche Künste entwendet
worden wäre.
Es war eine Schande, seine Waffen zu verlieren, zumal in der
Schlacht, - ebensosehr eine Schande, wie es ein Unglück war.
Und es war eine Schande, von seinen eigenen Waffen verwundet
zu werden, auch wenn man, wenigstens scheinbar, keinen dauern­
den Schaden davontrug; so bekommen wir vielleicht eine Vorstel­
lung davon, welche unbezähmbaren Gefühle auf brausten, wenn
das Blut eines Verwandten von der Waffe der eigenen Sippe ver­
gossen wurde. Wenn ein Neidingswerk begangen worden war,
ging es in die Waffen des Geschlechts hinein, so daß die Ver­
wandten diese in der Befürchtung schwangen, daß auf irgendeine
unerklärliche Art ihr eigenes Fleisch und Blut verwundet wer­
den würde; sie wußten nie, in welchem Augenblick die geschwun­
gene Waffe zurückprallen und in ihrer Wut den eigenen Besitzer
treffen würde. Die Verwünschung: „M ag das Schwert, das du
ziehst, nie schneiden, außer wenn es über deinen eigenen K o p f
niedersaust“ , zeigt nur den bedauernswerten Zustand des Nei-
dings, der sein Heil verspielt und die Verbindung mit seinem
eigenen Eigentum verloren hatte.
Wenn die Ehre der Männer in solchen Schätzen lag, dann
mußten auch Friede wie Schicksal in ihnen verborgen sein. In dem
Schwert und in der Hacke hatten die Verwandten das Heil selbst
in der H and, und wenn sie es festhielten, würde das Werkzeug
denselben Weg für sie ausschneiden und aushacken, den ihr Ge­
schlecht gegangen war.
Über diese Erfahrung, daß Geschichte und Schicksal mit den
Besitztümern verknüpft sind, haben die Nordländer ihr berühm­
testes Gedicht geschaffen, durch das sie sich eine Stellung in der
Weltliteratur erobert haben. Die Völsungensaga ist durchsetzt von
jenem Schicksal, das seinen Anfang nimmt, als Hreidm ar in
seiner Todesstunde Rache über den Sohn niederruft, der ihn ge­
tötet hat. Immer und immer wieder wird der Gang dieses Schick-

35
sals durch ein „Unheil“ bezeichnet: die Tötung des Vatermörders
Fafnir, von Regin, seinem Bruder, geplant, Sigurds Fall als Folge
von Eidbruch und die endgültige Abrechnung, als seine mein­
eidigen Schwäger, die Nibelungen, von Atli ins Verderben gelockt
werden und als seine Gäste umkommen, der eine in der H alle
des Königs, der andere in seinem Schlangenhof. Und das Schick­
sal, das diese Glieder zu einer fortgesetzten H am ingja verbindet,
liegt in dem Golde, das Andvari in längst vergangener Zeit ver­
fluchte, auf dem Fafnir brütete, das Grani zu Gjukis H o f trug,
im Nibelungenhort, der schließlich das Schicksal mit sich zur
Ruhe auf den Grund des Rheines zog.
Weniger geistig und mehr an die Sippe gebunden, im ganzen
ursprünglicher, finden wir in der Saga von Fiervör die alte Wahr­
heit ausgedrückt, daß der Besitzer und sein Besitz einander er­
gänzen, daß nur das Kleinod den Mann erklären kann, und daß
das Kleinod nur durch den Mann zu erklären ist. Der Sagadichter
sieht zuerst das Schwert Tyrfing und hinter ihm die Männer, die
es besaßen. Es steigt empor in seiner ganzen Furchtbarkeit: sieg­
reich, immer unüberwindlich, so grimmig, daß sein kleinster
Schnitt den Tod brachte und es in seinem Schwung erst stillstand,
wenn es den Boden erreicht hatte; eigensinnig, übermütig, so daß
es nicht duldete, zur Unrechten Zeit gezückt zu werden, und daß es
immer mit Blut gesättigt werden mußte, bevor es in die Scheide
zurückkehrte - und doch unbesonnen bereit, ohne N ot ans Licht
zu stürzen; und sein Schicksal war immer, Neidingschaft über
den zu bringen, der es trug. So war die ganze Geschlechterfolge
von Angantyr über Hervor zu Heidrek aus lauter gewaltsamen
Charakteren zusammengesetzt, Streitern aus innerster Notwen­
digkeit, deren Heil im Lichten und im Dunklen sich mit Tyrfings
Wildheit selbst messen konnte. Von Angantyr wissen wir nicht
viel mehr, als daß er sein ganzes Leben lang das Schwert ge­
tragen hatte und es in sein Grab mitnahm, ohne zu wissen, daß
er Nachkommen hatte; seine nachgeborene Tochter H ervor holt
das Schwert aus dem Hügel, und das alte Erbstück wird so ins
Leben zurückgebracht. Aber kaum ist es wieder in der Menschen-
welt, da setzt es seinen Willen durch: H ervor muß die Neugier
eines Mannes mit dem T od bestrafen, als er seiner unzeitigen Lust
folgt, die nackte Klinge sehen zu wollen, und durch diese Tötung
wird sie dem umherschweifenden Wikingleben geweiht. Die Zeit
kommt für sie, ihre Bestimmung zu erfüllen und die Familie zu

36
neuem Leben zu erheben; sie gebiert König Höfund zwei Söhne,
und in dem jüngeren findet sie den, dem sie das Schwert anver­
trauen darf. Kaum in seiner Hand, stürzt es aus der Scheide,
und er wird h am ram r gleich seinem Vorfahren und muß das Haus
verlassen, weil er seinen Bruder getötet hat. Tyrfing bahnt ihm
aufs neue einen "Weg zur Ehre und bringt ihm auch noch ein
Königreich - aber erst, als er seinen Schwiegervater betrogen und
erschlagen hat. Zuletzt wird er von seinen eigenen Knechten ge­
tötet, die das Kleinod forttragen, aber die Rächer des Königs
finden sie und bringen das Schwert heim als Zeichen der Voll­
führung der Rache. Und hier endet Tyrfings Saga. Mit Heidreks
Sohn Angantyr geht die Saga in andere, wir möchten sagen mehr
historische Themen über, und in dieser Fortsetzung erscheint Tyr-
fing nur wie ein Schwert unter anderen Schwertern.
Der Hauptstamm des Geschlechts, das der Nachwelt unter dem
Namen Ynglinge bekannt ist und das über den H ort von Upsala
waltete, besteht aus einer Reihe von kühnen Männern, die mit
ihren Magschaften Unheil hatten, ein Schicksal, das bewirkte, daß
die Ratschläge der Frauen selten zu ihrem Vorteil gerieten. Van-
landi heerte in Finnland und nahm dort D rifa zur Frau, eine
Tochter von Schnee dem Alten; sie erwartete ihn vergebens von
Frühjahr zu Frühjahr, zehn "Winter durch. D a schickte sie Zauber
aus, um ihn zu suchen, und die Mahr trat ihn tot. Vîsbur trat
die Erbschaft nach seinem Vater an und erbte auch seinen un­
steten Sinn; er verließ seine erste Frau, um eine andere zu
nehmen, und hielt auch noch ihr Brautgeschenk (m undr) zurück,
weshalb sie ihre Söhne anstachelte, den Vater in seinem H ofe
zu verbrennen. Das Schicksal von Vanlandi und Visbur wieder­
holt sich Zug um Zug in Agni. Er ging auf einem Kriegszug
nach Finnland und nahm dort Frostis Tochter Skjalf gegen
ihren "Willen; aber in der Nacht, als er das Erbbier von Skjalfs
Vater feierte und sich trunken mit Visburs Halsring um den H als
schlafen legte, band Sk jalf ein Seil an den Ring und hieß ihre
Leute den König unter den Deckenbalken hinaufhissen. Von Agnis
beiden Söhnen Alrek und Erik hören wir nur, daß sie beide mit
zerschmetterten Köpfen und jeder mit einer blutigen Zaumstange
in der H and im Walde gefunden wurden. Alreks zwei Söhne, A lf
und Yngvi, die nach ihm herrschten, durchbohrten einander zu
Hause in der H alle, weil A lfs Königin zu oft ihren Gatten daran
erinnerte, daß diejenige eine glückliche Frau sein würde, die

37
seinen Bruder heiratete. Tyrfing im Hervorgeschlecht hat sein Ge­
genstück in dem Halsring der Ynglinge, in welchem Agni auf­
gehängt wurde. Visburs Söhne sprachen den Fluch aus, daß der
Friede im Geschlecht ihres Vaters stets gebrochen werden und daß
das Unheil an dem Schmuck haften sollte, den der König seiner
Frau vorenthielt.
In den Sagen ist die Identität zwischen dem Psychischen und
dem Materiellen sehr deutlich. Die Dichter nennen das Gold
Kam pferz - mit der ausdrücklichen Bedeutung, daß der Schatz
Ursache und Bedingung für die Taten der betreffenden Parteien
war; aber das Schicksal wohnt in den Besitzern: die Verwandten
sind auf dieselbe Weise in der Gewalt ihres Schatzes, wie sie
Sklaven ihres eigenen Willens sind. Trotz der Verwünschungen
sind alle eifrig bemüht, die Ringe und Waffen in ihren Besitz
zu bekommen. Auf eine sanfte Ermahnung würde jeder dieselbe
Antwort geben wie Sigurd, daß jedermann über Reichtum walten
möchte, bis der unabwendbare Tag kommt, oder wie die Gju-
kunge: „Gut ist es, über das Rheinerz zu walten, mit Lust Reich­
tum zu lenken und Glück zu genießen.“ D am it haben sie dem
Fluch seinen rechten Platz angewiesen als etwas, das in, nicht
über der Hamingja ruht, als dem Schatten des großen Heils. H er­
vor geht zu Angantyrs Grabhügel, um die alte Waffe ihrer Sippe
zu verlangen - alle Warnungen Angantyrs sind ohne Einfluß auf
sie. Tyrfing wird ihr ganzes Geschlecht zerstören - aber sie will
es nicht hören. Als sie das Schwert in der H and hat, bricht die
alte Sippenfreude in Versen aus: „D u hast wohl getan, du Sohn
der Wikinger, mir hier das Schwert aus dem Grabe zu reichen,
mehr Freude ist darin, es in der H and zu fühlen, als wenn ich
ganz Norwegen besäße. Jetzt ist die Häuptlingsmaid froh im
Herzen, nur wenig kümmert mich, was kommen wird, wie meine
Söhne miteinander abrechnen werden.“ Und Angantyr muß mit
einstimmen: „Du sollst einen Sohn gebären, die Zeit soll kom­
men, wo er Tyrfing sicher in seiner Stärke tragen soll; größeres
Heil als das seinige ist nicht unter der Sonne geboren.“ Als Heid-
rek später seinen Bruder mit dem Schwert fällt, kann die Schmach
des Neidingswerks nicht die alles übertönende Freude durchdrin­
gen: seine Mutter bat ihn, nie zu vergessen, welche Schneide­
kraft in seinem Schwert war, welcher Ruhm jeden begleitete, der
es trug, und welch großer Sieg in ihm lag.
Es ist zuletzt das Gefühl von Gemeinschaft zwischen Mensch

38
und Ding, was hier entscheidet. Angantyr fürchtet, daß seine
Tochter nicht verstehen werde, mit dem Schwert umzugehen. Aber
er weiß, daß sie, wenn sie es recht macht und wenn sie durchzu­
führen vermag, was sie sich vornimmt, „das Leben von zw ölf
Männern, ihr Fjör, ihre K raft und Stärke, alles Gute, das Arn-
grims Söhne hinterließen“ - den ganzen Sippenschatz - mit sich
führt. Angantyr und seine elf Brüder, die Söhne Arngrims, gehen
wirklich aus dem Grabhügel hervor und treten eine neue Lauf­
bahn an, als H ervor ihr Schwert hinausträgt und es noch einmal
in der Sonne blitzen läßt.
So schön die Schicksalsdichtungen sind, so sehr wir überzeugt
sind, daß wir nur durch die unsterblichen Ausnahmen teilhaben
an dem unaussprechlichen Element, das das Leben des gemeinen
Mannes trägt - doch kann der "Wunsch sich manchmal in unsere
Seele einschleichen, eine von ihnen gegen ein Lebenszeugnis irgend­
einer Sippe auszutauschen, die nicht nach dem Ruhm der Tra­
gödie strebte, sondern sich mit dem Sieg um des Lebens willen
begnügte.
Glücklicherweise hat uns der Bauer seine Geschichte hinter­
lassen. Eine große Anzahl von hochangesehenen Familien auf
Island war stolz darauf, Anspruch auf Verwandtschaft mit den
Hrafnistamännern erheben zu können, den derben Fischer-Bauern
von den Außenschären im nördlichsten Teil Norwegens. Und ihre
Überlieferungen sind in einer Reihe von kleinen Sagas aufge­
zeichnet worden. Obwohl die späteren Sagaerzähler auf Island,
vom Zauber der mittelalterlichen Romantik hingerissen, die aus
England und Frankreich hereinströmte, ihr bestes getan haben,
um diese einfachen Berichte zu zerstören, indem sie sie nach der
A rt modischer Literatur aufputzten, hatten doch diese alten
Polterer eine viel zu hartnäckige Realität, um in fahrende Ritter
verwandelt werden zu können. Diese Nordseepflüger, Ketil Lachs­
haken, Grim Wollwange und andere, ziehen mit echt Artusmäßi­
ger Großtuerei auf Abenteuer, aber die Beweggründe, die sie in
waghalsige Unternehmungen hineinführen, sind alles andere als
ritterlich. Gewöhnlich ist es einfach Hunger, der ihren Unter­
nehmungsgeist reizt, denn in ihrer nördlichen Heim at schlägt die
Ernte so und spoft fehl, und dann muß jedermann, der H äupt­
ling so gut wie der Bauer, auf der See das tägliche Brot ernten.
Sollen aber diese Helden sich zu ihrer vollen Abenteureraktivität
erheben, so brauchen sie den Anreiz eines wirklichen Hunger-

39
jahres in seiner ganzen Größe. Wenn die Saat erfriert und die
Fische von den Küsten verschwinden, muß die Nahrung weit
draußen gesucht werden. Gerade an den Fischplätzen finden
Käm pfe statt, wo der junge Hrafnistam ann einen ganzen Tag
sitzt, um einen mageren Dorsch zu fangen und sich nachher für
den Hohn der anderen Fischer rächt, indem er den Dorsch mit
solcher K raft in ihr Boot wirft, daß der Schlag den Steuermann
über Bord fegt. Die Abenteuer, die den Heldenmut auf dem
Siedepunkt halten, sind Käm pfe auf öden Küsten um einen ge­
strandeten Wal; es sind Fahrten im Ruderboot in schlechtem Wet­
ter, wenn Wale mit Menschenaugen das Boot verfolgen und der
Fischer zwischen den Wrackstücken seines Fahrzeugs auf den
Klippen landet. Die Männer sind, ihren Erlebnissen entsprechend,
keine Schwertschwinger, sondern Bogenschützen und Jäger, die
wohl von den Geistern in Finnmarken gelernt haben mögen, ihre
Beute zu verfolgen und das zu treffen, worauf sie zielten; ein
Geschlecht von baumstarken, furchtlosen Nordseefischern, die ihre
K räfte zeigten, indem sie das Großboot ins Wasser schoben, und
deren Heil darin bestand, daß sie guten Fahrwind bekamen, so­
bald sie die Segel hißten, und daß sie jedes eßbare Geschöpf auf
dem Lande oder in der Luft mit ihren Pfeilen erlegten. Ihre Welt
ist daher leicht erkennbar. Wenn H allbjörn seinen Sohn über die
Gewässer im Norden belehrt, haben seine Worte die Zuverlässig­
keit, die den Kenner auszeichnet: „Erst kommt Nächstförde,
darauf M ittförde und die dritte ist Vitadsgjafi.“ Diese Welt ist
eine Landschaft von Förde zu Förde und wiederum Förde, jede
schrecklicher als die vorhergehende; auf dem schmalen Strand am
innersten Ende der Förde sind Hütten, wo der Fischer liegen und
hören kann, wie die Luft über ihm von dahinjagenden Unholden
voll ist; er weiß nie, welchen ungebetenen Gast er in der H ütte
finden mag, und je ferner der Ort, desto unheimlicher sind die
Gestalten, die ihn mit der Gehässigkeit des Eindringlings emp­
fangen. Der Platz ist ein Küstenstreifen, wo Menschen so lange
herrschen, wie ihre K raft zur Abwehr reicht, und ein Hinterland
von öden Bergen, bewohnt von menschenfleischgierigen Jöten und
Jötinnen, die oft genug hinuntersteigen, um von der Förde und
den Schären Besitz zu ergreifen. Echte Drachen vom üblichen
T y p gibt es in dem glücklichen Lande, das die Sagas bald Gaut-
land, bald W alland (Welschland) oder Blauland nennen, wenn man
nur ein wenig vom Wege abgeht, um sie zu suchen; hier begegnet

40
man den Unholden, nicht nur, wenn man zu etwas Außergewöhn­
lichem Lust hat, sondern auch, wenn man im Grunde etwas an­
deres vorhatte; man muß sie nehmen, wie sie sind, als abscheu-
liche Jöten und nichts weiter. Einmal mag es geschehen, daß ein
Fischer früh heraustritt und zwei Jötinnen findet, die sein Boot
zu Trümmern schütteln, ein andermal hat sich ein Unhold an
der Quelle aufgestellt und will ihn mit leerem Eimer davonjagen.
Diese Erzählungen sind keine Sagen, die sich in den Dienst
eines jeden Helden stellen können; sie sind im Boden fest ver­
wurzelt und mit den Menschen verbunden. Wir können auch aus
gelegentlichen Andeutungen in der Sagaliteratur sehen, daß die
Erinnerungen sowohl wie die Eigentümlichkeiten an dem Ge­
schlecht hafteten, das seine H erkunft bis zu den Hrafnistam än-
nern zurückverfolgen konnte. Die Kunst des Bogenschießens
steckte ihnen im Blute, tatsächlich haben die meisten der berühm­
ten Bogenschützen Islands, Gunnar von Hlidarendi mit einge­
schlossen, H rafnistablut in ihren Adern. T rotz der Tatsache, daß
Orm Storolfson eine Glanzfigur der Abenteurerromantik war*
zeigt er sich doch deutlich als Nachkomme von Ketil Lachshaken:
ein mächtiger Bogenschütze, der Einar Bogenschüttler in Staunen
versetzte, als er ihn einen Pfeil auf seinem Bogen und den Bogen
bis zur Pfeilspitze gespannt finden ließ; ein Balkenschwinger, der
dem Ja rl Erik zeigte, wie e i n Mann gegen fünfzehn auf einem
Schiff das Wasser mit Schwimmern zu beleben vermochte, wenn
er nur einen Balken von 13 Ellen Länge in der H and hatte. Und
jener Thorkel Thorgeirson, der an seinem Hochsitz eine Darstel­
lung schnitzen ließ von dem K am pf, den er mit dem Ungeheuer
an jenem Abend ausfocht, wo es ihn am Füllen seines Eimers zu
hindern versuchte - auch dieser Thorkel konnte seinen Stammbaum
rechtmäßig bis zu dem Hrafnistastam m vater zurück verfolgen.
Die Kleinode der H rafnistafam ilie waren die treffsicheren
Pfeile Flaug, Fifa und Hremsa, die immer zur H and waren, um
gegen Menschen oder Jöten gebraucht zu werden. Sie wurden
Gusisnautar genannt, und die Sage kann ihren Namen sowohl wie
ihre H erkunft erklären und von der glücklichen Stunde berichten*
wo der erste aus dem Geschlecht dem Lapplandkönig Gusir in
Finnmarken begegnete und jeder von beiden die Pfeile des an­
deren in der Luft traf, bis Gusirs Schuß fehlging und Ketil ihn
in der Brust traf. In ihnen liegt das einfache Heil eines Ge­
schlechts, ohne T ragik noch Fluch, das Schicksal, von K raft zu

41
K raft vorwärtszuschreiten, lange zu leben, Kinder zu haben und
das Heil der Verwandten in ihnen zu sehen, sich seines Ruhmes
zu erfreuen und die Süße des Nachruhms zu kosten — das Schick­
sal, das jedermann am liebsten für sich wählen möchte, wenn er
könnte. Wir dürfen uns von unserer Vorliebe für das Inter­
essante nicht irremachen lassen und nicht vergessen, daß das A ll­
tägliche der Kern der Kultur ist. In der Wikingzeit lauschten die
Männer mit Freude den Geschichten der Tragik, die zwischen
Heil und Unheil auf dem Seile das Gleichgewicht hielten, aber
sie machten kein Hehl daraus, daß sie sich selbst Schwerter und
Pfeile wünschten, die frei von Fluch wären, ohne etwas „A uf­
erlegtes“ , wie es hieß. Dem vollkommenen Heiling gebührt der
Ehrenplatz in der Geschichte der Kultur, und wir treten kaum
irgendwo so nahe an das normale menschliche Leben wie in diesen
schlichten Sagen.

42
Name und Erbe

In dem Augenblick, wo das neugeborene Kind in die Sippe


aufgenommen wird, wird es mit der Macht in Berührung ge­
bracht, die den Besitztümern des Geschlechts innewohnt. Wenn
der Vater dem kleinen Kinde einen Namen gibt und dadurch
sein Schicksal bestimmt, indem er ihm mit dem Worte eine Seele
einflößt, bekräftigt er seine T a t mit einer Gabe und macht da­
durch sein „Ich erwarte, ich wünsche“ zu einer Wirklichkeit. Die
Gabe soll den Namen „befestigen“ , weshalb die Handlung im
Norden ausdrücklich „Namensbefestigung“ heißt, und was bei
der Zeremonie vor sich geht, ist einfach dieses: daß der Teil
von Heil und Seele, der dem Namen beigelegt wird, tatsächlich
dem Träger angeheftet und durch die Berührung in ihn hinein­
geführt wird. Wenn die Waffe oder der Schmuck, mit welchem
das Kind zu seiner Zukunft eingeweiht wird, der Besitz eines vor
kurzem verstorbenen Verwandten gewesen war, eines, dessen Ge­
dächtnis nicht in der gemeinschaftlichen Ehre des Geschlechts ver­
blichen war, dann tritt der junge Verwandte unmittelbar an die
Stelle seines Vorgängers, übernimmt sein Los und richtet ihn
wieder auf; er empfängt alle seine heillir, wie es jener lebens­
durstige Jüngling dem Kinde versprach, das seinen Namen er­
neuern sollte. In der Erzählung, wie Sigmund seinem Sohne den
Namen Helgi gibt, haben wir die Übertragung des Heils in ihrer
dreifachen Bekräftigung; er benennt, er schenkt und er „wünscht“ ,
daß der Junge sich der Ehre der Völsunge würdig zeigen möge.
Helgi wurde geboren, während Sigmund im Kriege war, so er­
zählt die Saga, und der König kam aus der Schlacht zu seinem
Sohne mit einer Lauchpflanze, schenkte sie ihm mit dem Namen
H elgi und als „Befestigung“ des Namens Hringstad, Soif joli und
ein Schwert, und er wünschte, daß er an Stärke zunehmen und
dem Geschlecht der Völsunge nacharten möchte. Von einem an­
deren berühmten Helgi, nämlich Helgi Hjörvardson, hören wir,
daß er als Jüngling schweigsam war, kein Name wurde ihm „be­
festigt“ , er war einer von jenen Ausnahmecharakteren, die in

43
ihrer Jugend seelenlos umhergehen, als hätte kein Heil in ihnen
Platz genommen und als wäre der Nam e von ihnen abgefallcn,
wenn sie jemals einen erhalten hatten. Dann kam, als er eines
Tages müßig auf dem Hügel saß, eine Walküre zu ihm und
grüßte ihn: „Spät wirst du Ringe und Schätze gewinnen, H elgi.“
Er antwortete: „Welche Gabe läßt du dem Namen Helgi folgen?“
- „Schwerter weiß ich liegen auf Sigarsholm“ , sagt sie, „eins von
ihnen besser als alle, goldverziert, Waffenverderb. Ein Ring ist
am H eft, Mut in der Mitte, Schrecken an der Spitze, all das soll
der genießen, der das Schwert besitzen wird, und an der Klinge
entlang läuft eine Schlange, blutrot, ihr Schwanz schlängelt sich
um den W albast.“ D a wird er ein Mensch und zieht von dannen,
um seinen Muttervater zu rächen.
Jedesmal, wenn der Jüngling sich fähig zeigt, mehr Seele zu emp­
fangen, begegnet er dem Geschenk als einer Bestätigung, daß er
zum Geschlecht gehört. Das Erscheinen des ersten Zahnes wurde
von gewissen Germanen als eine glückliche Begebenheit betrachtet,
die durch eine „Zahngabe“ gefeiert wurde. Die Zahngabe Olafs
des Heiligen war nichts Geringeres als der Gürtel, der seiner
Mutter bei der Entbindung geholfen hatte.
Die Beförderung des Knaben zu Recht und Sitz unter Männern
ist wohl die nächste Stufe gewesen, und ohne Zweifel wurde der
Tag, wo er für immer seine Kindheit ablegte, durch eine V er­
mehrung seiner Ham ingja gefeiert. Schritt für Schritt häuft er
Ehre in sich auf, bis er als vollkommener Vertreter der Sippe
dasteht.
Auf dieselbe Weise wie das neugeborene Kind geweiht wurde,
mußte der erwachsene Mann in das Geschlecht hineingeboren
werden. Theodorik tat einmal dem Herulerkönig die Ehre einer
Adoption an; ohne Zweifel ist diese Zeremonie, so formell sie
unseren Augen erscheinen mag, für Theodorik selbst mehr als
eine bloße tituläre Ernennung gewesen, und die Urkunde, die die
gotische Kanzlei aus Anlaß der Feierlichkeit ausfertigte, trägt
noch die alte Realität, geprägt mit folgenden Worten: „Stets ist
es als eine große Ehre betrachtet worden, durch Waffen als Sohn
auf genommen zu w erden,. . . und als Sohn gebären wir dich durch
diese Gabe, wie es Sitte der Völker und männliche Art ist; . . .
wir schicken dir Pferde, Schwerter, Schilde und die übrigen Kriegs­
geräte.“ Aus Norwegen kennen wir die umständliche Zeremonie,
die dem Neukömmling volles Recht auf Verwandtschaft sicherte,

44
und wir wissen auch, daß die Befestigung des Namens nicht ver­
gessen wurde. Wenn das Oberhaupt der Sippe die alte Formel
ausgesprochen hatte: „Ich führe diesen Mann in mein ganzes
Erbe, zu all dem Gut, das ich ihm gebe, zu Erbschaft und Land,
zu Gabe und Entgelt, zu Platz und Sitz und zu dem Recht, das
das Gesetzbuch gewährt und das ein in die Sippe Geführter nach
dem Gesetze haben soll“ , gab er seinen Worten Macht, indem er
hinzufügte: „und als Zeugnis dieser Aufnahme in die Sippe gebe
ich ihm in die H and einen Becher.“
Mit dem ehrenden Zunamen legte der Geber kraft seines
eigenen Überschusses an Heil etwas Neues in den anderen hinein,
und er befestigte ebenfalls seine T at mit einem Geschenk: „D u
bist freilich ein Schwierigkeitsskalde, aber du sollst trotzdem mein
Mann sein, und du kannst den Namen behalten“ , sagt O laf Trygg-
vason zu H allfred, halb in Bewunderung seines Eigensinnes; und
H allfred nimmt ihn sofort beim W'ort: „W as gibst du mir mit
dem Nam en?“ Die innere Verbindung zwischen der Verleihung
eines Beinamens und der Aufnahme in das eigene Heil zeigt sich
deutlich in diesem kleinen Auftritt; der König und H allfred
fassen beide den Wortwechsel als eine Zutrittserlaubnis zum
nächsten Gefolge des Königs auf.
Die Langobarden scheinen sich selbst als Wodans Augapfel be­
trachtet zu haben, und die Sage, in der sie die Stellung als ein
auserwähltes Volk beanspruchen, handelt eben von der Verpflich­
tung, die der Namensgeber gegen den Namensempfänger hatte.
Einmal, als sie gerade auf ihrer Wanderung vor einer entschei­
denden Schlacht standen, hatte Wodan sie bei Namen genannt,
indem er sagte: „W as sind das für Langbärte?“ Und sobald die
Krieger die Stimme von oben hörten, riefen sie: „Der uns einen
Namen gegeben hat, muß uns auch Sieg geben.“
Jeder Wunsch, jeder Segen stand bis zu einem gewissen Grade
in Beziehung zu dieser Namensgebung, insofern seine Macht in
der seelischen Übertragung dessen bestand, was in den Worten
lag. Der Geber muß auf die eine oder andere Weise seine Worte
„ganz“ machen, und im allgemeinen bestand die Tendenz, nicht
an seinen guten Willen zu glauben, wenn er kein sichtbares
Zeichen seines Glückwunsches anbot. Wenn ein Mann einem an­
deren zu einer Sache, die er erreicht oder vollführt hatte, Freude
wünschte, konnte er gegebenenfalls gezwungen sein, seine Kleider
auszuziehen oder, wie H arald Gilli, den Tisch vor sich abzu­

45
decken, wenn er nicht als ein H eld der leeren Worte dastehen
wollte. Als Bischof Magnus in sein Bistum auf Island hinüber­
ziehen sollte, wollte er sich von König H arald verabschieden,
und während der Bischof seinen Abschiedsgruß sprach, suchten die
Augen des Königs überall: Was sollte er geben? Er wußte, daß
Ebbe in der Schatzkammer war. So leerte er seinen Trinkbecher
und gab den als Abschiedsgabe. Der Bischof wandte sich darauf
der Königin zu und bekam von ihr den Gruß: „Glück und Heil
auf der Reise, H err Bischof!“ „Glück und Heil auf der Reise!“
rief der König, „wann hörtest du eine adlige Frau ihrem Bischof
solches sagen und ihm nichts schenken?“ „W as ist hier zu ver­
schenken?“ fragte die Königin, und der König hatte die Antwort
bereit: „H ier ist das Kissen, auf dem du sitzt.“ — Auf ähnliche
Weise, dürfen wir vermuten, gab der König einem Mann etwas
von seinem eigenen vermögenden Willen mit auf den Weg, wenn
er sagte: „Ich will mein H eil dazulegen.“
Eine Sonderstellung unter den Gütern eines Geschlechts neh­
men jene Kleinode ein, die mehr als andere seinen Platz in der
Gesellschaft betonen; sie hatten H eil im wahrsten und tiefsten
Sinne. Gewöhnlich waren es die Gegenstände, die ganz besonders
von Reichtum zeugten, die besten Waffen, die Siegesschwerter,
sehr oft unzweifelhaft die Arm- und Halsringe, die von Kriegern
als Zeichen ihres Ranges getragen wurden. Im Norden hören wir
oft von dem Ring. In dem Geschlecht der Skjoldunge gab es nach
der Sage einen solchen Ring. Erst war er im Besitz Helgis, ihm
von seinem Bruder H roar an Stelle seines Anteils am Königreich
geschenkt. Und als er durch den N eid seines Schwestersohnes
H rok lange auf dem Grunde des Meeres gelegen hatte, wurde er
von H roars Sohn, Agnar, wieder heraufgeholt, und durch diese
T a t allein erntete er größeren Ruhm, als sein Vater besaß.
Der Halsschmuck des Ynglinggeschlechts hat auch sonst in der
germanischen Welt Gegenstücke. Unter den fürstlichen Geschen­
ken, die Beowulf aus der H alle der Dänen heimbrachte, war ein
kostbarer Halsschmuck, den er seinem Verwandten H ygelac gab
und den dieser auf dem Schlachtfeld in dem unglücklichen K am pf
trug, wo die Franken sein Leben und seine Schätze nahmen. W as
das Gold unter den Häuptlingen war, das war unter den Bauern
wohl das Gewebe; hier dient oft genug der wertvolle - vielleicht
unverletzbare - Mantel als Träger des Geschlechtsstolzes. D as
Schwert in der H and, der Ring um den H als oder um den Arm

46
und der Mantel über den Schultern, dies war keine ungewöhn­
liche Erscheinungsform für die Fülle eines großen Heils.
Diese Auszeichnungen standen dem Oberhaupt des Geschlechts
oder seinem führenden Manne zu, als demjenigen, der den größten
Teil der Verantwortung für die Gesundheit seiner Ehre trug. Nach
altem, tief verwurzeltem Gefühl für das Geziemende sollten die
Waffen eines verstorbenen Mannes an den Vornehmsten unter
seinen Verwandten weitergehen, an den, der sich von N atur aus
in erster Linie verantwortlich fühlen würde für das Zustandekom­
men einer rechten Rache für seine Tötung. So sagte H jalti nach
dem Tode von N jal und seinen Söhnen, als er Skarphedins A xt
aufhob: „Dies ist eine seltene Waffe, nicht viele können sie
tragen.“ „Ich weiß jemand, der es kann“ , w arf K ari dazwischen,
„einen, der die A xt tragen soll.“ „W er ist das?“ „Thorgeir
Skorardgeir, den halte ich jetzt für den größten Mann in der
Sippe.“ Das Gefühl, mit dem Rechte im Bunde zu sein, gibt Gun-
nars Mutter, Rannveig, die Macht zu befehlen, daß die Lieblings­
waffe ihres Sohnes von niemandem berührt werden darf außer
von dem, der beabsichtigt, volle R a h e für ihn zu nehmen. Wenn
dieses Gefühl kodifiziert wird, wird es zu einer Definition des
Erbgesetzes, wie sie in einem deutschen Gesetzbuh zu finden ist:
„Demjenigen, der das Land als Erbe übernimmt, fallen a u h die
Kriegskleider, das heißt der H arn ish , zu, ihm fällt R a h e für
den nähsten Verwandten und Zahlung der Buße zu.“ Die Über­
tragung dieser Kleinode mußte also eine Art Abdikationsakt be­
deuten, d u rh sie wurde das Sh w ergew ih t von dem Vater au f
den Sohn oder den jüngeren Verwandten verlegt. Glum und O laf
Pfau hatten von Kindheit an Anteil an der Sippenkraft, aber
erst als sie die alten Erbstücke aufnehmen und anlegen, wer­
den sie in den Brennpunkt des Heils und der Verantwortung ge­
rückt und werden d ad u rh größere Männer. Der große Wende­
punkt in des jungen Beowulf Leben kam an jenem Tage, wo er
sih seiner Sippe würdig gezeigt hatte und sein Verwandter ihm
ein altes Sh w ert des G esh leh ts, das Hredel hinterlassen hatte,
in den Sh oß legte und ihm mit dem Shw erte gab „sieben T au ­
send mit H aus und Königssitz; ihnen beiden fiel das Land als
E rb sh aft zu, obwohl der eine, der erste der Sippe, des R eih es
waltete“ .
In den Kleinoden der Könige lag das H errsherheil, und wenn
die Ynglinge n a h der Sage so treu den Schmuck Visburs trugen,

47
so ist einer der Gründe hierfür gewesen, daß Land und König­
reich in ihm wohnten. In Häuptlinggeschlechtern mußte dann eine
solche Einkleidung, wie die, mit der Höskuld seinen Sohn ehrte,
Weihung zur Herrschaft über Völker bedeuten. Das Schwert des
Vatsdcelageschlechts, Sippenknauf, fiel bei der Teilung der Erb­
schaft dem nächstältesten Sohn Jökul zu, aber der Bruder Thor­
stein, der als H aupt der Sippe und als Behaupter ihrer Führer­
stellung auftrat, trug es auf dem Thing. Diese Heilübertragung
ist die Realität hinter der H andlung des Frankenkönigs Gunn-
thram, als er seinem Brudersohn Childebert seine Lanze mit den
Worten reicht: „Dieses ist ein Zeichen, daß ich dir mein Reich
übertrage; geh hinaus und nimm alle meine Städte unter deine
Herrschaft.“
Der Langobardenkönig Theodorik, der den Heruler adoptierte
und ihm eine Adoptionsurkunde in Form eines sorgfältig aus­
gearbeiteten Diploms schickte, konnte vielleicht so wenig wie
Gunnthram die Gedanken durchdenken, die wir ihm zuschreiben,
aber sie hatten den Vorteil vor uns, daß sie die Begründung nicht
zu denken brauchten; denn die K raft der Kleinode wog zu jener
Zeit jeden Mangel an Verständnis dafür auf, wie dies möglich
sei. Im Laufe der Zeit trennt das Kleinod sich von dem Heil,
das ihm ursprünglich seine Stärke gab, und nimmt eine selbst­
genügsame Herrscherstellung ein. Der Lanzenschaft wird ein
königliches Symbol oder Zepter, eine Inkarnation des abstrakten
Königtums, aber ein Zepter, das seine Herrscherkraft in sich trägt
und nicht nötig hat, sein Recht aus der juristischen Auslegung der
Bedeutung solcher Regalien abzuleiten. Die Lanze war in Childe-
berts H and sowohl Zeugnis wie Macht, deren bloße Anwesen­
heit den Männern den Mund schloß und ihren K op f beugte, und
die zugleich dem Manne, der sie hielt, einen Zuwachs an Macht
verlieh.
In solchen Kleinoden sitzt also das Heil der Sippe, in ihnen
wird es von Generation zu Generation weitergereicht. Sie bilden
das Rückgrat, das die Sippe durch alle Wechselfälle hindurch auf­
rechthält. In dem Erbstück ist alles auf gespeichert, was die Men­
schen sind; und deshalb enthält es eine Erläuterung sowohl für
die Innigkeit, mit der Männer sich gegenseitig in Freundschaft
assimilierten, wie für den zusammengesetzten Charakter jeder
Ham ingja. Es erläutert, wie die Sippe aus vielen Quellen Ehre
und Heil sammelte und so in stetem Zusammenhang weiterwuchs

48
und sidi veränderte. Wenn das Kleinod von der Familie assimi­
liert wurde, brachte es nicht nur die neue Eroberung mit sich,
sondern auch alle die alten Taten und Geschehnisse, da es voll
war von der immer anwesenden H am ingja des Männerkreises,
zu dem es gehörte. Bei einer solchen Auffassung des Besitzes fällt
der Untersdiied zwischen neu und alt fort. Die Dichtung ehrt mit
Recht jede Waffe mit dem Beiwort »a lt“ , denn auch wenn ein
Schwert erst ein Jah r vorher geschmiedet worden war, übernahm
es seine Altertümlichkeit und seine Eigenschaft als Erbstück von
seinen Brüdern unter den Ausrüstungsstücken der Männer. Es zog
die alte Stärke in sich, die alles erfüllte, was die Familie trug
oder gebrauchte, und genau so ist der zuletzt Adoptierte ein Nach­
komme der Vorfahren in dem Augenblick, wo die Aufnahme
stattgefunden hat. In bester Übereinstimmung mit der Wahrheit
gedenkt Grettirs Mutter bei dem Schwerte aller früheren Vats-
doelamänner, obwohl sie und alle wußten, daß Sippenknauf erst
durch Ingimund in die Familie gekommen war.
Die Frage nach Erbschaft und Erbfolge wird damit bei den Ger­
manen zu einem Lebensproblem, wenn auch auf eine andere Weise,
als wir es uns vorstellen können. In diesem Falle versagen die
Gesetze, weil ihre Verfügungen aus der christlichen Zeit datieren,
wo die geistige Wohlfahrt der Menschen und ihr Fortleben von
einer professionellen Körperschaft als Vermittlerin des ewigen
Lebens beaufsichtigt wurde. Der Erblasser war schon im Besitz
des ewigen Lebens, des immerwährenden im guten und bösen
Sinne, und man konnte annehmen, daß er sich für den ungerech­
ten Mammon - diese Worte werden oft in den Schenkungsurkunden
zitiert - Freunde erworben hatte, die ihn in den ewigen Wohnun­
gen empfangen würden, und weiter, daß er eine genügende Menge
von dem Unrat dieser Welt an die Kirche abgeliefert hatte. Die
Frage der Erbschaft hat sich - in den offiziellen Urkunden, aber
keineswegs in den Gedanken des Volkes - in das zeitliche Problem
verwandelt, wer wohl die bewegliche Habe des Verstorbenen über­
nehmen sollte, und die Lösung dieses modernen Problems fiel
natürlich unter den Einfluß fremder juristischer Grundsätze. Die
Sorge, die früher jedes pekuniäre Interesse überschattete, die Sorge,
wie die Ham ingja, die den Toten inspiriert hatte und die in seinen
Gütern wohnte, für seine Nachkommen ohne Verlust oder Be­
schädigung gesichert werden könnte, diese Sorge ist nur in ver­
einzelten Überbleibseln angedeutet, wie z. B. in der Regel, die

49
dem Haupträcher die Waffen zu weist. Die verworrenen Systeme
der mittelalterlichen Gesetzbücher, die die Erbfolge ordnen, geben,
praktisch genommen, keinen Aufschluß über die alten Gebräuche;
was sie an Zeugnissen enthalten, ist von negativem Charakter,
insofern die schwachen Punkte des Systems manchmal spontane
Postulate aus der alten Zeit vermuten lassen, die erst langsam
und mühsam von dem römischen Prinzip überdeckt wurden. Wenn
es den mittelalterlichen Gesetzgebern so schwer fiel, den Sohn des
Sohnes als rechtmäßigen Erben anzuerkennen, ist es ein Beispiel
dafür, daß das alte Vorurteil sich der glatten Anpassung an die
einfache Nachfolgeregel widersetzte.
Wollen wir dieses Gebiet in der richtigen Perspektive über­
blicken, so müssen wir den Menschen als Subjekt der Vererbung
beiseite schieben und das Ding selbst betrachten. Die einzig mög­
liche Ordnung der Nachfolge war, daß H and in H and gelegt
wurde, und das Leben der Enkel war am besten gesichert, wenn
der Großvater die Vaterlosen adoptierte, wie es auf Island Sitte
gewesen zu sein scheint.
In der heutigen Zeit dreht das Erbrecht sich hauptsächlich um
die Frage, wie es verhindert werden kann, daß die Güter ohne
Besitzer sind; die allgemeine Bemühung konzentriert sich um die
Herstellung eines klaren und gesetzlich bestimmten Weges, den
das Geld gehen kann, auf dem es nach dem Gesetz der Schwere
von Mann zu Mann dahinrollen kann, bis eine H and sich aus­
streckt, die es einstecken kann; in keinem Fall darf das Vermögen
unnütz und ohne Besitzer auf dem M arkt gelassen werden und
den Beweis bringen, daß Gold tatsächlich existieren kann, ohne
jemandem zu gehören. Die germanische Seele hat nie unter der
Vorstellung von Eigentum als zufälligem Besitz gelitten, und in­
folgedessen fiel es ihr schwer zu begreifen, daß eine Hinterlassen­
schaft auf die Suche nach einem Besitzer gehen oder über Klüfte
springen könnte. In der alten Gesellschaft ist die Erblassung nicht
eine Frage danach, wie ein Platz für das Vermögen gefunden
werden kann, sondern danach, wie eine Verlängerung des Lebens
erreicht werden kann, und der Schritt zu dem nächsten Verwand­
ten hinüber, der uns so natürlich erscheint, war keine Lösung der
Schwierigkeit. Die Lebenskette muß ungebrochen bleiben, und die
natürliche, nahezu notwendige Voraussetzung war, daß jeder
Mann einen Nachfolger hatte, einen Sohn, der die Wertgegen­
stände seines Vaters übernahm, weil er sein Leben fortsetzte

50
Es gibt kein Problem der Nachfolge, solange die Ham ingja sich
als gesund erweist; es entsteht erst, wenn Leben und Heil versagt
haben, und die Schwierigkeit besteht darin, einen Mann zu finden,
der die Bresche in der Sippe ausfüllt, nicht darin, einen Erben
einzufangen. Wenn die Hoffnung auf einen leiblichen Nachfolger
erloschen war, mußte ein Mann geboren werden, der einen Nach­
folger abgeben konnte; dann mußte die Witwe, die Mutter oder
die Schwester des Verstorbenen das Geschlecht auf richten und einen
Sohn gebären, der imstande sein konnte, den Mantel zu tragen
und das Schwert des Vaters zu schwingen. In den Reginsmal,
einem Gedicht der Edda, schreit Hreidmar nach einem Tochter­
sohn, nach einem, der in der N ot helfen kann, weil seine eigenen
Söhne die Verwandtschaft mit ihm zerschnitten und sich gegen ihn
verschworen haben; und in seiner tödlichen Angst fügt er die
Worte hinzu, an seine Tochter gerichtet: „Dann gebier eine Toch­
ter, wenn du keinen Sohn bekommen kannst, und beschaff deiner
Tochter einen Gatten, damit diese N ot getilgt wird, dann wird
ihr Sohn dein Leid rächen.“
In dem Salischen Gesetz steht ein Paragraph, der nicht aus den
tatsächlichen Erfordernissen des Mittelalters abgeleitet werden
kann und der deshalb notwendigerweise auf Bräuche zurück­
geführt werden muß, die sehr natürlich waren, solange das Volk
nach der A rt seiner Vorfahren lebte. Er besagt, daß bei Mangel
an Söhnen die Mutter des toten Mannes nächster Erbe ist, nach
ihr kommen Brüder und Schwestern; wenn diese fehlen, kommt
die Schwester der Mutter, und erst wenn sie fehlt, geht das Erbe
an die nächsten männlichen Verwandten. Und nun kommt der
bedeutungsvolle Zusatz, daß diese Regel sich nur auf persönliches
Eigentum bezieht, auf die bewegliche H abe: Land kann nie durch
die H and einer Frau weitergehen. Die Tochter wird nicht genannt;
die alten Gesetzesbestimmungen nehmen nie einen abstrakten
Standpunkt ein; sie setzen einen bestimmten Fall voraus und for­
men die Worte dementsprechend, und dieser Fall betrifft hier
offenbar einen jungen Mann, der kinderlos stirbt. Aus dieser Stelle
des Gesetzes dürfen wir jedenfalls keinen Gegensatz von frän­
kischem und norwegischem Brauch herauslesen. Auch dürfen wir
nicht aus dieser positiven Regel den negativen Schluß ziehen, die
Franken hätten die Lösung nicht anerkennen wollen, die offenbar
den Nordländern als Trost galt: daß die Hausfrau ihrem Ehe­
gatten Nachkommen geben sollte. Glums Tochter Thorlaug er­

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neuerte, wie wir wissen, ihren verstorbenen Mann, Eldjarn, in
dem ersten Sohn ihrer Ehe mit A m or Kerlingarnef.
Nach dem salischen Denken war die Mutter also die nächste für
die Aufgabe, den Sohn neu zu gebären, und wir haben allen
Grund zu der Annahme, daß die Pflichten der Mutter Geltung
hatten, ob der Vater lebte oder tot war, ob die Witwe weiter in
seinem Hause lebte oder zu ihren Verwandten zurückkehrte oder
vielleicht von ihnen zu einer neuen Ehe schritt. Nach der Mutter
kommt die Schwester des Toten als nächste an die Reihe; sie muß
sich um die Angelegenheiten des Verstorbenen kümmern, bevor
sie sich selbst und ihrem Gatten ein Kind gebiert. Von ihr geht
die Pflicht auf die, die danach der Mutter am nächsten war, und
erst wenn es in dem nächsten Familienkreis an Frauen gänzlich
fehlt, ist die Hoffnung, den Zweig der Familie fortzuführen, er­
loschen, und die Familie nimmt die Hamingja, die in der Habe
enthalten ist, wieder in sich auf.
Daß die Frau erbt, bedeutet, daß sie die Schätze des Toten in
ihre Obhut nimmt für den Sohn, der geboren werden soll, und sie
wieder abliefert, wenn er zur Reife gelangt ist. Auf solche Weise
kam das berühmte Schwert der Vatsdcelaleute, der Sippenknauf,
an Grettir durch dessen Mutter Asdis, eine Sohnestochter des alten
Jökul. Als Grettir sein Heim verließ, um auf Reisen zu gehen
und sich einen Weg zu bahnen, begleitete seine Mutter ihn ein
Stück hinaus, um ihm einen Abschiedsgruß zu geben. Sie nahm ein
kostbares Schwert unter ihrem Mantel hervor und sagte: „Dieses
Schwert ist der Besitz Jökuls, meines Vatervaters, und der alten
Vatsdcelamänner gewesen, und es hat ihnen den Sieg in die H and
gelegt; ich schenke dir das Schwert und bitte dich, es gut zu
gebrauchen.“ Die letzten Worte enthalten gleichzeitig eine E r­
mahnung und einen Segen oder richtiger eine Einführung in das
Recht und in die Freude, jene Kraft zu genießen, die in der
Waffe wohnte: die Kraft des Schwertes gehöre dir, du magst sie
gebrauchen! In diesem Falle wissen wir, daß Asdis einen Bruder
hatte, und der Grund, warum das Erbstück auf die Spinnseite
übergeht, ist uns dunkel. Als Erläuterung für den inneren Sinn
können wir einen Auftritt aus der Saga von Glum anführen. Als
Glum seinen Muttervater Vigfus in Norwegen besuchte, lud der
alte Mann seinen Enkel ein, sich in der Heimat seiner Mutter
anzusiedeln und die Häuptlingschaft nach seinem Verwandten zu
übernehmen, aber Glum wünschte aus irgendeinem Grunde, nach

52
Island zu fahren und nach seinem väterlichen Erbe zu sehen, bevor
er auswanderte. Als sie sich trennten, sagte Vigfus: „Ich glaube,
es ist dein Schicksal, dort eine Familie zu gründen, ich werde dir
einige Schätze geben, einen Mantel, einen Speer und ein Schwert,
auf die sich unsere Verwandten verlassen haben.“ Dieses bedeutet
in Wahrheit, daß der norwegische Häuptling für sich selbst in dem
Nachkommen seines Tochtersohnes eine Zukunft erwartet, und
tatsächlich erschien V igfus’ Ham ingja oder seine Fylgja dem Glum
im Schlafe; als er die mächtige Frau durchs T al heraufschreiten
sah, wußte er gleich, daß sie den Tod des alten Mannes kündete
und gekommen war, um für immer bei ihm zu wohnen. Eine
andere Familiensage erzählt, wie O laf der Heilige das Schwert
Baesing, das alte Familienerbstück, erhielt. Als O laf acht Jahre alt
war, übertraf er alle Knaben seines Alters an Scharfsinn und
Tüchtigkeit. Eines Tages öffnete seine Mutter Asta eine Truhe,
und der Knabe erblickte einen glänzenden Gegenstand unter ihrem
Inhalt. Was ist das? - Es ist das Heft eines Schwertes. - Wem
gehört es? - Es ist dein, mein Sohn; das Schwert heißt Bsesing und
es hat O laf Geirstadaalf gehört. - Ich will es haben und es tragen.
- Und Asta gab ihm das Schwert.
Diese Sätze sind eine Prosa-Parallele zu den hochfliegenden
Worten der Sage, wo Hervor das berühmte Schwert, das ihrem
Vater Angantyr gehört hatte und zuerst mit ihm ins Grab ge­
gangen war, ihrem Sohne übergibt und den jungen Helden bittet,
stets eingedenk zu sein, wie kühn dieses sein Schwert sei, wie sehr
die Tapferkeit sich in den Männern offenbart habe, die es trugen,
und wie der Sieg mit ihm verbunden gewesen sei. Wir erinnern
uns der Worte des sterbenden Jünglings, der seinen Bruder bat,
ihm einen Nachkommen zu gewähren: „Und ihm werde ich all
das Heil geben, das ich habe, und dann soll mein Name leben,
solange die Welt steht.“
Die Frage, die wir zu beantworten haben, ist nicht, welche An­
ordnungen die alten Germanen in bezug auf die Erblassung tra­
fen, sondern was Erblassung für sie bedeutete. Durch alle Zweige
strömte dasselbe Sippenheil in die Nachwelt hinüber, und es
würde irreführend sein* den Ausschluß der Frauen von der Erb­
folge in späteren Zeiten so auszulegen, als bedeutete dies, daß die
Söhne alle Reichtümer selbst behielten und ihre Schwestern dem
Heil Fremder preisgaben. Durch die Gaben, mit welchen das
Mädchen an die Sippe ihres Bräutigams gebunden wurde, und

53
wahrscheinlich auch durch weiteren Austausch wertvoller Ge­
schenke, wurden die Söhne der Töchter mit den allerstärksten
Banden an ihren Muttervater und ihre Mutterbrüder gebunden.
Aber das Hauptkleinod, in welchem die Ham ingja in ihrer rein­
sten und stärksten Gestalt zu finden war, vererbte sich vom Vater
auf den Sohn als der Lebensfaden, der die eine Generation mit der
nächsten verknüpfte. Wie die Sache im einzelnen unter den Brü­
dern geordnet wurde, können wir nicht einwandfrei erfahren;
aber so viel geht aus den Andeutungen in Gesetz und Geschichte
mit Sicherheit hervor, daß die Insignien, die Waffen und Schmuck­
gegenstände, die das Heil des Häuptlings als des Führers der Sippe
enthielten, an den Sohn gingen, der versprach, ein guter Vertreter
der Ham ingja zu werden. Das würde normalerweise der älteste
Erbe sein, aber wir würden nur aus unsern eigenen Vorurteilen
schließen, wenn wir eine harte und feste Linie des Gesetzes vor­
aussetzten, während der Vorgang immer von den starken, aber
elastischen Gesetzen des Lebens beherrscht wurde. Ein Kern von
Wahrheit steckt wohl in Tacitus’ zufälliger Bemerkung über die
Tenkterer, die dem Reiten ergeben waren und ihre Pferde an den
besten Krieger in der Schar der Söhne vererbten; wenigstens ist es
nicht ohne Zusammenhang mit den Andeutungen der Geschichte
und der Sagen.
Sollte das Schlimmste geschehen und die Sippe verdorren, da
verbirgt der Letzte des Geschlechts sein unfruchtbares Heil in der
Erde, kein anderer soll es besitzen; er sagt — wenn er ein Angel­
sachse ist —: „N un halte du, Erde, das Erbstück von Edelingen, da
die Helden es nicht länger halten können. Auf dir haben es die
Tapferen gewonnen. Der Kam pftod, der furchtbare Lebens­
zerstörer, hat meinen Stamm bis zum letzten Verwandten weg­
gerafft . . . Keiner ist übrig, der das Schwert schwingen oder den
reich geschmückten Kelch, den kostbaren Becher ergreifen kann.
Die Männerschar stob davon. Von dem harten, goldgehämmerten
Helm wird die Verzierung sich lösen. Die achtsamen Besitzer
schlafen, die die Kampfmaske glänzend machen sollten. Die Kriegs­
rüstung, die sich im Kam pfe beim Bersten der Schilde dem Biß
des Stahles entgegenstellte, zerfällt mit dem Gebein des Helden.
Die Ringe der Brünne wandern nicht in die Weite auf der Brust
des Häuptlings . . . Keine Freude der H arfe, kein Habicht schwingt
sich durch die H alle, keine flinken Pferde stampfen im Hofe. Der
unheilvolle T od hat die Schar der Männer davongerissen.“

54
Gabentausch

"Wenn das Kleinod über die Friedensgrenze hinübergereicht und


von fremden Händen entgegengenommen wird, verschmelzen die
verschiedenen Leben, die Menschen werden miteinander durch
eine Verpflichtung der Art des Friedens verbunden. Der große
„K a u f“ vor allen anderen Käufen ist der Heiratsbund, und sein
Ernst wird deutlich erkennbar an dem gegenseitigen Interesse der
Verschwägerten auf beiden Seiten, einem Einheitsgefühl, das nicht
von den Stimmungen des Augenblicks abhängig ist. Sie könnten
nicht ruhig dabeistehen und Zusehen, wie der andere in Streit oder
in Rechtshändeln unterläge, denn die Niederlage ihrer Schwäger
würde ihren eigenen guten R uf aufs Spiel setzen; beide Parteien
betrachteten es als unmöglich, die eigene Ehre zu behaupten, ohne
dem anderen zu helfen, wie der Isländer es ausdrücken würde.
Es waren tatsächlich Friedensbande, die geknüpft wurden, wenn
eine Frau als fridu -sib b, als „Friedens-Frau“ , von einem Geschlecht
zum anderen ging.
Es war Friede in dem m undr, in der Brautsumme oder Braut­
gabe, die den Kern des Kaufs bildete, der zwischen zwei Sippen
abgeschlossen wurde. Die handelnden Personen sind auf beiden
Seiten die Personifikationen der gesamten Sippe; der Fürsprecher
des Bräutigams und der Vormund des Mädchens handeln im A uf­
trag ihrer Sippen. In historischen Zeiten wurde die Brautsumme
das Anrecht vom Vater oder Vormund, ein Vermögenszuwachs,
der dem glücklichen Erzeuger von Töchtern zufiel; aber auch dann
blieb noch etwas übrig von der alten Solidarität, die verlangte,
daß die Gabe durch die ganze Sippe durchsickern sollte. Die alten
Sitten hielten sich in außergewöhnlichen Fällen; wenn z. B. der
Vater und der Bruder der Braut fehlten und ein entfernter Ver­
wandter Vormund war, traten die ursprünglichen Rechte der Ver­
wandten wieder in Kraft.
In dem germanischen System ist es nicht die Frau, die Mitgift
bringt, sagt Tacitus, sondern der Mann, der der Frau Geschenke
anbietet. „D ie Eltern und die Verwandten erscheinen, um diese

55
Gaben zu billigen - Gaben, die nicht ersonnen sind, um der weib­
lichen Eitelkeit zu dienen oder um die Braut persönlich zu
schmücken, sondern Ochsen, Roß und Sattel, ein Schild, ein Speer
oder ein Schwert; durch diese Geschenke wird die Braut gewon­
nen, und sie gibt als Entgelt ihrem Gatten einige W affen.“ Tacitus
hat unzweifelhaft recht, wenn auch nicht auf die romantische Art,
in der er es sich vorstellte, wenn er hinzufügt: „H ier ist das
Wesentliche an dem Band, das sie bindet, hier ist nach ihrem
Gefühl sein geheimnisvolles Sakrament, die Gottheit, die es schützt.“
Austausch von Geschenken ist der einzige Weg zu Freundschaft
und Bündnis. „Sie gaben einander Gaben und schieden als
Freunde“ , „sie tauschten Geschenke aus und schlossen einen Freund­
schaftsbund“ , solche Redewendungen kommen in den isländischen
Sagas immer wieder vor, und der beste Kommentar über das Ver­
hältnis der beiden Dinge zueinander liegt in der Identifikation
der Sprache: „Zwischen ihnen bestand warme Freundschaft und
Gabentausch.“
Die Alten konnten Verwandtschaft nicht besser definieren, als
sie es in der Formel für Aufnahme in die Sippe getan haben: Zu
Platz und Sitz, zu vollem Erbe, zu Buße und Ringen, zu Gaben
und Entgelt - das heißt, den Verwandten erkennt man daran, daß
er einen Sitz in der Halle, ein Anrecht auf das Erbe und auf einen
Anteil an der Buße und an der Rache hat und daß er einen
Freundschaftsbund schließen darf.
Es macht also keinerlei Unterschied in der Eintracht zwischen
Menschen, ob das eine oder das andere, was diese Worte enthalten,
den ersten Platz einnimmt; denn wenn die Gabe erwähnt wird,
steht die Freundschaft daneben, und wird die Freundschaft ein­
geladen, muß die Tür für die Gabe offengehalten werden. Der
normale Zustand im Leben ist, daß derjenige, der Freundschaft
sucht, seine Gabe hinreicht und dadurch seine Neigung erklärt.
Oder er geht zu seinem Nachbarn und eröffnet die Unterhaltung
mit den Worten: „Aus vielen Gründen ist zwischen uns K älte
gewesen; jetzt will ich mit dir Freundschaft schließen, und du
sollst von mir das schönste Zuchtpferd im Bezirk erhalten.“ M ag auch
ein scharfes Ohr hier und da einen etwas geschäftsmäßigen K lang
in der Stimme dieser isländischen Häuptlinge vernehmen, wenn
sie Geschenke anbieten, es liegt doch nichts Verräterisches in den
Worten selbst. Die Worte gleiten dem englischen Dichter leicht
über die Lippen, wenn er seinen geliebten Apostel Andreas zu

56
dem „Schöpfer der W elt“ in der Gestalt eines Seemannes sprechen
läßt: Andreas war nach dem Gebot des Höchsten unterwegs zu
den fernen menschenfressenden Mermedonen, um ihnen die frohe
Botschaft zu verkünden, und wurde von einem unbekannten
Schiffer übers Meer gefahren; während der Überfahrt saß der
erfahrene Fischer und beobachtete mit immer größeren Augen die
Seetüchtigkeit des Fremden, bis er hingerissen ausrief: „Einen
kräftigeren, ratklügeren, wortweiseren Steuermann habè ich nie
getroffen; erhöre mich jetzt, wenn ich noch eine Bitte habe: ob­
schon ich arm an Ringen und gehämmerten Schätzen bin, die ich
als Entgelt schenken könnte, möchte ich doch gern deine Freund­
schaft besitzen.“ Der Dichter, der diese Verse schuf, hatte eine neue
Zeit und neue Sitten erlebt, deren Reichtum darin bestand, sich
vom ungerechten Mammon unabhängig zu machen; er hatte ge­
lernt, sich eine Blutsbruderschaft zwischen Männern, deren einziger
Reichtum das W ort war, vorzustellen; aber um diese Erfahrung
auszudrücken, muß er erst der ihm zur Verfügung stehenden
Sprache Zugeständnisse machen.
Wenn alte Feinde ihre Streitigkeiten von Grund auf schlichten
und einen dauernden Vergleich zwischen sich zustandebringen
konnten, so geschah es, weil sie Geschenke austauschen und einen
„K au f“ abschließen konnten. Der Mönch Gregor erzählt von dem
friedlichen Ende nach den Streitigkeiten zwischen Leuvigild, dem
König der Goten, und Theodomer, dem König der Sueven, in
Wendungen, die nahezu wörtlich in den Sagas zu finden sind, die
von der Versöhnung nordischer Feinde handeln: „Sie tauschten
Geschenke aus und gingen jeder in sein Heim .“
Das Wergeid brachte eine wirkliche Versöhnung mit sich, die
späteren Geschlechtern dadurch verdunkelt worden ist, daß Wert
zu Münze wurde. Freilich konnte und mußte die Zahlung von
Blutgeld oft demütigend sein, aber in seinem innersten Wesen liegt
eine Vorstellung von Wiedergutmachung oder Buße, die die Ge­
fühle wieder aufrichtet und es den beiden Geschlechtern unmöglich
macht, einander nachträglich scheel anzusehen. Das angelsächsisdie
und skandinavische Wort bót, Buße, bedeutet nicht mehr und nicht
weniger als „Ausbesserung“ oder „Wiederherstellung“ . Der K auf
erzeugte Frieden, oder, um dasselbe auf eine andere Weise auszu­
drücken und seine volle Gültigkeit deutlicher zu machen: der K auf
bewirkte eine Verwandtschaft zwischen den beiden Parteien, die
den Friedensbruch im schwersten Sinne des Wortes unmöglich

57
machte, und deshalb sollten sämtliche Mitglieder des gekränkten
Sippenkreises an der Buße Anteil haben, damit die Gesinnung
aller auf gleiche Weise beeinflußt werden konnte. Er soll nicht
nur für eine kurze Zeit seine Wirkung ausüben, sondern ganz und
für alle Zeiten: solange „der Wind aus den Wolken weht, Gras
wächst, der Baum Blätter treibt, die Sonne aufgeht und die Welt
steht". Er soll nicht allein diese Sache aus der Welt bringen, son­
dern im Fall von späteren Streitigkeiten die Gemüter williger zum
Frieden machen. Noch im seeländischen Gesetz Eriks finden wir
den alten Gedanken, daß Männer milder gegen einen Feind sein
sollten, wenn er seine Buße gezahlt hat, als gegen irgend jemanden
sonst; selbst dann, wenn er herausfordernd sein sollte, muß man
nicht gleich auf Rache ausgehen, sondern erst auf dem Thing sein
Recht zu erhalten versuchen. Es war keine leere Redensart, wenn
die Friedensformel auf Island den versöhnten Parteien die aller­
innigsten Namen gab und sagte, daß sie Messer und Fleisch und
alles zwischen sich teilen sollten als Freunde und nicht als Feinde;
„und kommt später ein Flandel dazwischen, so soll er mit Gut
gebüßt werden, und kein Speer soll blutig werden“ . Die Worte
müssen notwendigerweise so gemeint sein, wie sie lauten, da kalt­
blütig die Folgerung daraus gezogen werden kann, „wer von euch
den geschlossenen Vergleich unter die Füße tritt und den gegebenen
Frieden zerschlägt, soll ruhelos umherirren wie der gehetzte W olf,
so weit Männer je die W ölfe jagen . . . “
Man hat mit Recht gesagt, daß es um so trostloser für den
gegenwärtigen und zukünftigen Frieden aussieht, je drastischer die
Bestimmungen wären, die als Schutz des Friedens und der O rd­
nung aufgestellt würden. Eine Drohung ist ihrer N atur nach immer
wirkungslos, weil ihre Sicherung in der Zukunft liegt, von der
man immer erhoffen kann, daß sie zu umgehen sein wird. Aber
der Ernst einer solchen Verwünschung besteht darin, daß sie keine
Drohung ist und nicht mit einer unsicheren Zukunft rechnet, die
ihre Worte verwirklichen soll, sondern daß sie von der Über­
zeugung ausgeht, daß das Gefürchtete keineswegs etwas ist, das
den Übertreter treffen oder nicht treffen wird, sondern daß es
umgekehrt schon jetzt in ihm wirkt, wenn der böse Wille vor­
handen ist. Die langen Reihen von Verwünschungen sind keine
Anhäufungen von Einschüchterungsmitteln, die Schlag um Schlag
den guten Willen in die Seele hineintreiben sollen - sie sind eine
Beschreibung des Neidings mit dem Zusatz, daß der Friede, der

58
jetzt geschlossen worden ist, von derselben H ärte ist, wie jeder
andere natürliche Friede und ebensosehr wie irgendein Friede als
Prüfstein dafür dienen wird, ob jemand der Menschenwelt an­
gehören soll oder nicht.
Der Mann konnte sich ruhig auf das Kleinod verlassen und die­
sem Vollmacht geben, für ihn zu spredien; denn die Seele, die im
Kleinod wohnte, würde von selber die Verpflichtung, die Ehre
auffinden, sie würde das Heil binden und Schicksal mit Schicksal
verknüpfen, den Willen hervorrufen oder ihm einen neuen wesent­
lichen Bestandteil aufpfropfen. Deshalb kann keine Macht der
Welt die Wirkung eines Gesdienks auf halbem Wege aufhalten,
wenn es erst von H and zu H and gereicht worden ist, und deshalb
kann niemand der geistigen Wirkung dessen widerstehen, was er
zu nahe an sich hat herankommen lassen.
An jenem Tage, wo der isländische Freistaat im Begriff war,
durch den Gegensatz zwischen dem alten und neuen Brauch in
zwei Stücke zu zerfallen, wurde Thorgeir, der Gesetzessprecher,
der Retter des Landes, weil er altmodisch genug war, um einzu­
sehen, daß man durch eine Willensanstrengung friedfertig werden
kann. Es war so weit gekommen, daß die Altheiden mit Waffen
in der H and bereit standen, um die Christen von der Thingstätte
zu vertreiben, und die christlichen Scharen aus der Gesetzes­
gemeinschaff mit den eigenen Landsleuten austraten, um einen
christlichen Staat neben dem alten zu bilden; und im selben Augen­
blick, wo das neue Gesetz verkündet worden wäre, hätte Island
zwei Völker gehabt, die territorial durcheinandergemischt gewesen
wären, es wäre wie ein Körper gewesen, dessen Organe in zwei
Gruppen geteilt gewesen wären, die gegeneinander wirkten. Sidu-
hall, der Führer der Christen, schreckte vor der Verantwortung
zurück und wählte den sonderbaren Ausweg, den alten Führer des
Freistaates durch K au f dazu zu bewegen, die christlichen Gesetze
zu formulieren. Nachdem Thorgeir einen T ag mit dem Mantel
über dem K opf dagelegen hatte, über jetzige und kommende Dinge
grübelnd, trat der alte Heide mit einem Gesetz hervor, das alie
zu dem neuen Brauch zwang und Island zu einem christlichen
Lande machte. In einer Rede stellte er seinen Landsleuten Friede
und Unfriede vor Augen und zwang sie zur richtigen Wahl mit
einer Erzählung aus alter Zeit: Einmal lagen Dänemarks und
Norwegens Könige in ständigem Streit, bis das Volk des endlosen
Krieges müde wurde und die Könige zwang, gegen ihren Willen

59
Frieden zu schließen, und zwar durch das einfache Mittel, mit
einem Zwischenraum von einigen Jahren Geschenke auszutauschen.
Und dadurch dauerte ihre Freundschaft ihr ganzes Leben. —Thor-
geir hätte nie so sprechen können, und noch weniger hätte in spä­
teren Zeiten jemand ihn so reden lassen können, wenn nicht er und
seine Zuhörer den Kern der Geschichte verstanden hätten, und
dieser Kern war kräftig genug, ein ganzes Volk zu bekehren.
Die Männer, die eine Geschichte wie die von den Königen von
Dänemark und Norwegen erzählen und verstehen konnten, fühl­
ten eine instinktive Abneigung dagegen, fremde Seelen in ihrer
unmittelbaren Nähe zu haben. Und sie zeigten ihre Unruhe. An
dem Abend, bevor Æthelstan bei Brunanburh seine entscheidende
Schlacht gegen die Norweger schlug, war, nach dem Bericht des
englischen Geschichtsschreibers William von Malmesbury, ein frem­
der Harfenspieler in das Lager gekommen, hatte sich am Eingang
des königlichen Zeltes niedergelassen und spielte so gut, daß der
König ihn bat, die Gesellschaft beim Essen zu unterhalten. Nach
der Mahlzeit, als ein Kriegsrat abgehalten werden sollte, wurde
der Harfenspieler mit einem Geschenk entlassen; aber einer der
Männer, der Ursache hatte, den Fremden genau zu beobachten,
sah, daß er das Gold in der Erde versteckte, bevor er fortging;
und er riet deshalb König Æthelstan, sein Zelt woanders aufzu­
stellen, denn der Gast war kein anderer als O laf Sigtryggson, der
norwegische König.
William versteht natürlich nicht den Beweggrund des Norweger­
königs - er meint, daß seine T at aus Verachtung gegen das Ge­
schenk hervorgegangen sei - und für O laf wäre es vielleicht schwie­
rig gewesen, ihn aufzuklären, wenn er gefragt worden wäre. Aber
er fühlte, daß er, wenn er dem fremden Willen erlaubte, an ihm
zu haften, darauf vorbereitet sein müsse, daß dieser sein eigenes
Heil gegen ihn stellen würde - ja noch mehr: daß sein eigener
Wille und seine eigene Einsicht Verrat gegen ihn verüben und
nicht nur seinen Fortgang aufhalten, sondern ihn auch in seinem
jähen Aufstieg zu Boden werfen würde. Ein Mann wie der kluge
Franke Chlodwig verstand es gut, die Macht der toten Dinge zu
benutzen, um den Willen der Menschen in Fesseln zu legen. Der
Franke hatte heimlich an die burgundische Prinzessin Chrotild
Geschenke gesandt. Als er aber später seine Werbung öffentlich
kundtat, erhielt er einen kurzen abschlägigen Bescheid von dem
Oheim der Dame. D a rief das Volk: Untersuch zuerst, ob nicht

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heimlich Geschenke von ihm gesandt worden sind, damit er nicht
die Möglichkeit hat, dich zu überfallen; sonst „wirst du nicht im
Kam pfe für die Gerechtigkeit deiner Sache siegen, denn Chlodwigs
heidnische Raserei ist furchtbar“ , - wie der arme Chronikschreiber
sich ausdrückt, um so viel Sinn wie möglich in die Sache zu legen.
Aber das Verhältnis läßt sich auch von einer anderen Seite be­
trachten. Der Geber hat einem anderen ein Stück seiner Seele an­
vertraut, und ist der Empfänger zufällig klug oder mächtig genug,
die Möglichkeit zu benutzen, die ihm eröffnet wird, kann der
ursprüngliche Besitzer eine Beeinträchtigung seines Willens fühlen.
Ein Franke aus dem 6. Jahrhundert, einer jener wilden Kerle, die
anscheinend weder Gott noch Teufel fürchteten, auch Gutes vom
Bösen nicht unterscheiden konnten, wagte es nicht, seinen Gabe­
bruder im Stich zu lassen oder etwas Entscheidendes gegen ihn zu
unternehmen, solange der Gabebund nicht gebrochen war. Der
Thronforderer Gundowald hatte sich in Convense eingeschlossen,
als sein spärliches Glück so gering geworden war, daß sogar seine
treuen Freunde einsahen, daß sie woanders eine Zukunft suchen
müßten. Einer von ihnen, Mummolus, überredete Gundowald
dazu, hinauszugehen und sich seinen Feinden auszuliefern; aber
unterwegs gab der dem unglücklichen Thronforderer diesen freund­
schaftlichen R at: „Die da draußen mögen denken, daß du hof-
färtig auftrittst, wenn du in meinem goldenen Gürtel erscheinst;
hänge dir lieber dein eigenes Schwert um, und gib mir das meinige
zurück.“ Gundowalds Antwort ist deutlich genug, sogar in der ver­
ständnislosen Umschreibung Gregors: „Ich verstehe deine Worte;
was ich aus Liebe zu dir getragen habe, soll jetzt von mir genom­
men werden.“
Das Geschenk war eine unmißverständliche Offenbarung oder
vielmehr eine Kristallisation des Wohlwollens; um sich von der
Aufrichtigkeit des anderen zu überzeugen, möchte man wohl wün­
schen, seine Herzlichkeit ans Licht kommen zu sehen. Als Magnus
der Gute auf dem Upsalathing hervortrat und all denen, die sich
gegen seinen Vater verschworen hatten, Verzeihung und H uld
versprach, wenn sie sich ihm mit Wohlwollen und aus vollem
Herzen zukehren wollten, nahm Thrond das Angebot als Sprecher
für das ganze Volk an: „Meine Verwandten waren nicht mit des
Königs Geschlecht befreundet, doch selbst hatte ich keinen Anteil
an O lafs T o d ; wenn du mir deinen Mantel im Tausch geben willst,
will ich dir Freundschaft versprechen und halten.“ Der König

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willigte ein. „Und willst du auch die Waffen mit mir tauschen?“
fuhr Thrond fort. Der König versprach auch das. D arauf lud
Thrond den König in sein H aus ein und gab ein prächtiges Fest.
Wer mit einem Fremden Waffen getauscht hat, kann sich neben
ihn schlafenlegen: er kann ihm keinen Schaden zufügen. Man kann
es dem andern sogar überlassen, gegen einen Dritten Wache zu
halten, denn die Sicherheit, die das Kleinod erzeugt, beschränkt
sich nicht auf passive Zurückhaltung. „W ie Vater dem Sohn, wie
Sohn dem Vater, so begegnen sich die beiden Verglichenen bei
allen Handlungen, wo es notwendig ist“ , so lautet die Friedens­
formel. Welcher Jurist oder Moralist wäre darauf gekommen, das
Ideal gerade mit diesen Farben zu malen, um eine schwierige
Tugend verlockend zu machen! Man kann durch Idealisierung die
edle Vergeßlichkeit in eine edle Rücksichtnahme umbilden, aber
Feinde zur Versöhnung zu ermuntern, um einander helfen zu
können, ist nur möglich, wenn eine Wirklichkeit dahinter steht,
die die Bedingungen vorschreibt. Und diese Wirklichkeit ist, daß
die Gabe voll von Erinnerungen und Ehre auf tritt und sich selbst
mit Freunden und Feinden, mit Göttern und Vorfahren, mit Ver­
gangenheit und Ziel verschenkt. Der Wille wird in der einzigen
Art gebunden, in der der Wille in alter Zeit gebunden werden
konnte, nämlich indem ihm ein neuer Inhalt und ein neues Ziel
eingeimpft wurde.

Ausschließlich kraft dieser wiedergebärenden Eigenschaften ver­


mag das Kleinod die Quellen zu erschließen, aus denen die Ge­
fühle emporsteigen; es erzeugt nicht nur Einheit im Wollen, son­
dern auch Ergebenheit, Freude und gegenseitiges Wohlgefallen.
Die Ehe war auf Liebe gegründet, aber kein Germane erwartete,
daß die Liebe sich einstellen sollte, bevor die Hochzeit gefeiert
war und das eheliche Leben seinen Anfang genommen hatte; jede
Vorwegnahme war überflüssig, da man wußte, daß die Liebe sicher
kommen würde, wenn alle Formalitäten richtig und ordnungs­
gemäß ausgeführt wurden. „Und sie begannen bald einander zu
lieben“ , heißt es in den Sagas von glücklich verheirateten Paaren.
Aber wir wissen auch, in welchem Augenblick die Liebe zu wach­
sen anfing und zwischen den beiden stark wurde, nämlich am
Morgen des zweiten Tages, wenn der Gatte durch sein Geschenk
die vollzogene Tatsache der ersten Umarmung bestätigte — oder
„festigte“ . Die Brautgabe wurde der Braut an dem Tage ver­

62
sprochen, wo ihre Verbindung endgültig beschlossen wurde, meist
wahrscheinlich wie in Schweden am Hochzeitstage, und sie stand
ihr von dem Morgen ab zu, wo das Paar eine Nacht zusammen
gesdilafen hatte. Diese beiden Handlungen, die Umarmung und die
Gabe, sind der Ursprung der Liebe; und deshalb gelten sie — vor
einem Gesetz, das nur Realitäten respektiert - als die beiden not­
wendigen Voraussetzungen für eine rechte Ehe, und deshalb um­
schreiben sie auch alle Möglichkeiten von warmen Gefühlen zwi­
schen Mann und Weib. In einer Welt, wo Liebe auf diese Weise
gegeben und genommen wird, ist kein Platz für sentimentales
Sehnen und Seufzen; ein Liebhaber, der von Liebesschmachten
lebt, ist einfach gemütskrank und sollte wohl bedenken, wozu
eine solche Krankheit führen kann. Wollen wir die gesunde
Romantik der alten Zeit kennenlernen, müssen wir zu Margarethe
auf Stokkar gehen und die einfachen Worte hören, in welchen sie
sich beklagt, als König Magnus, der auf einer Reise durch den Ort
kam, das Bett mit ihr zu teilen wünscht: „Schwer dünkt es mir,
ihn erst lieben zu lernen und ihn dann zu verlieren.“
Dieser Ausruf eines Mädchens, dem es vor einem Morgen graute,
der nicht das Versprechen der Nacht erfüllen würde, gibt in Ver­
bindung mit den Worten des schwedischen Upplandgesetzes über
die Morgengabe, durch die eine Frau „geehrt“ wird, eine Erläute­
rung des weiblichen Elements: die Sorge der Frau, wenn sie von
Gefahren träumt und erwacht, um ihren Gatten zu warnen, der
Ehrgeiz des Mädchens, wenn sie mit ihren Verwandten sitzt und
mögliche Bewerber nach ihrer Geburt, ihrem Reichtum, ihrem
Ruhm - oder nach ihrer geringen Selbstbehauptung einschätzt; sie
schickt einen Freier weg, wenn er sich nach ihrer Meinung in seinen
Händeln mit den Nachbarn nicht ganz bewährt hat, und sie tut
es, weil sie nach Liebe in der Ehe dürstet. Ehre tut not, um ihre
Sinne zu erwecken; denn Familienruhm und Familienreichtum,
Geschlechtsüberlieferungen und Taten der Vorfahren bilden den
Inhalt der Seele der Frauen als auch der Männer. Und die Liebe,
mit der sie ihren Gatten betrachtet, ist Friede: das heißt, daß ihre
Liebe, weit davon entfernt, ein bloß intellektueller Anhang ihres
geistigen Lebens zu sein, vielmehr Instinkt und Energie ist, die
sie für den kämpfen lehrt, den sie liebt, und daß diese Liebe nie
so zärtlich wird, als daß sie nicht ihren Charakter als Ehrgeiz
behielte. Wenn wir den Zustand der Witwe unmittelbar neben
dem der Frau betrachten, sehen wir, daß die Trauer der Witwe

63
die Bitternis einer Kränkung hat, daß sie durchdrungen ist von
dem Aktiven, das jede Verzweiflung und jede Resignation ver­
jagt, daß sie durch Wiedergutmachung geheilt wird, und dann
sind wir vielleicht so nahe, wie es uns überhaupt möglich ist, an
der Nachempfindung dessen, was die Liebe jener Zeiten in W ahr­
heit war - die Liebe, die einer Thurid, der großen Witwe, ihre
Größe verleiht. Dann werden wir uns auch dem Verständnis dafür
nähern, daß die Liebe ihren Ursprung hat in der Übernahme der
Ehre des Gatten mit ihrem ganzen Inhalt von Besitz und E r­
werbungen, und wenn der Bewerber nur erst soweit gelangt, daß
er seine Gabe in den Schoß des Mädchens legen kann, hat er schon
ihre Gunst. Sollte aber andererseits der K auf zurückgehen, geht
die Frau fort, ohne sich zögernd umzudrehen. Die Auflösung eines
Geschenkaustausches bewirkt eine Trennung der durch ihn hervor­
gebrachten Gefühle, und sie kehren zu ihren ursprünglichen Be­
sitzern zurück.
Von hier aus gesehen, bekommen die alten Geschichten ein ande­
res Aussehen. Vieles, was verworren erschien, wird sich in natür­
lichen Formen zeigen, und vieles, was sich der modernen Auffassung
als nebensächlich entzog, wird mit tragischer Stärke hervortreten.
Der alte Verfasser des Beowulf hat einen besonderen Klang der
reichen Erfahrung in seiner Stimme: er denkt viel über diese
Dänen und Geaten nach, und meist sind seine Gedanken melan­
cholisch. Wenn er Hrodgars Tochter erwähnt, muß er daran den­
ken, daß sie es war, die mit Frodis Sohn Ingeld verheiratet wurde,
um den alten Streit zwischen den beiden Völkern, ihren Dänen
und seinen Hadubarden, zu schlichten. Aber das Glück sollte ihr
nicht hold sein. Als sie in ihr neues Heim kam, mußte es für die
Krieger dort bitter sein zu sehen, wie ihr dänisches Gefolge offen
die alten hadubardischen Waffen als Siegestrophäen trug. Irgend­
ein grauhaariger Recke wird sich ohne Zweifel des Tages erinnern,
wo diese Waffen in andere Hände gerieten, und er wird Ingeld
Zurufen: „Siehe, kennst du das Schwert, das kostbare, das dein
Vater in der Schlacht trug zum letzten Male, als die Dänen ihn
schlugen und die Waffen der Geschlagenen nahmen?“ Eines Tages
werden seine Worte durchdringen, und der feindliche Prahlhans
wird das Vergehen mit seinem Leben zahlen. Dann sind alle Eide
gebrochen, der Haß quillt in Ingelds Herzen empor, und seine
Liebe zu der Frau erlischt. Es ist etwas in dieser psychischen K ata­
strophe, das wir nicht mit unseren Worten ausdrücken können;

64
sobald der K au f gebrochen wird und die Dänen, die durch ihn in
die Ehre des Königs aufgenommen waren, hinausgerissen worden
sind, ist keine Liebe mehr in ihm.
Es ist derselbe plötzliche Bruch, der Brynhilds Geschichte zu
einem Prüfstein für unser Verständnis der Liebe unter unsern
Vorfahren macht und den Schreiber verzweifeln läßt, der sein
Verständnis in einer Sprache ausdrücken möchte, die nach den
Bedürfnissen des lyrischen Gefühls erweicht ist.
„Ich werde dir meinen Zorn sagen“ , das ist das Eintrittstor zu
Brynhilds Geständnis. Ihr Brüten ist nicht das selbstverzehrende
Wenden und Drehen, das das Grübeln des Beraubten immer tiefer
in die Seele hinabsenkt und immer tiefere Trauer findet. Sie sinnt,
ihre Gedanken sind vorwärtsgekehrt in Plänen der Wiederaufrich­
tung oder der Rache. Wie sie daliegt, die Bettücher über den K opf
geschlagen, wissen alle, daß sie im Nachdenken liegt, und als sie
den Mund auftut und zu ihrem Gatten spricht, ist das Wort fertig
geprägt: „Du sollst sowohl Königreich als Gut verlieren, Leben
und mich, und ich will zu meinen Verwandten fahren, wenn du
nicht Sigurd tötest, - und sorg dafür, daß du den Welpen nicht
länger leben läßt als den W olf.“
Ihre Rache ist natürlich gegen Sigurd gerichtet; sie muß am
härtesten zu dem sein, den sie am meisten liebt. Nicht weil die
Liebe in ihrem Wesen paradox ist, sondern weil sie rationell ist.
Sie hatte geschworen, nur den Mann zu lieben, mit dem sich keiner
messen könnte und der seine Kraft bezeugte, indem er durch die
Waberlohe sprengte, mit welcher ihr Gemach umgeben war. Diese
T at wurde von Gunnar ausgeführt, und sie hieß ihn willkommen
und liebte ihn; aber Gunnar war in Wirklichkeit der Drachen­
töter Sigurd, der mit seinem Blutsbruder die Gestalt getauscht
hatte, um ihm zu seinem Herzenswunsch zu verhelfen. Eines Tages
werden Brynhilds Augen geöffnet; sie ist nicht mit dem größten
Helden der Welt verheiratet. Sie kann behaupten, daß er nicht
ehrlich gehandelt hat, als er seine eigene Heldentat auf Gunnar
übertrug; aber die Kränkung hat ihren Stachel woanders: Sigurds
größtes, nicht zu verzeihendes Vergehen besteht darin, daß er der
größte ist, größer als Gunnar; seine Missetat ist auch die, daß er
den Wurm tötete und das Gold nahm, denn das tat Gunnar nicht.
Wir finden dasselbe „unverdiente“ Schicksal wie damals, wo Bryn­
hilds späteres Gegenbild, Gudrun, Usvifs Tochter, Kjartan hassen
mußte, weil Bolli das falsche Gerücht verbreitet hatte, daß er sich

65
in Norwegen niedergelassen hätte, lind sie durch diese Lüge von
dem getrennt hatte, mit dem sie sich versprochen hatte; K jartans
Vergehen lag in der Tatsache, daß er nach Hause kam und sie,
indem er selbst treu blieb, das Wort brechen ließ, von dem sie sich
frei geglaubt hatte.
Das Unglück in dem Leben dieser beiden Frauen ist nicht, wie
wir vermuten möchten, betrogene Liebe, es ist ein Gefühl der
Schuld, der Entehrung; und K jartan sowohl wie Sigurd sind —
wissend oder unwissend - die Ursache der Sünde, die ihre Ver­
lobten durch die H eirat mit einem andern Mann begingen. Für
unsere Kultur, die der Verantwortung nie größeren Raum gibt,
als es die Umstände erlauben, liegt der Nachdruck auf dem Willen
zum Bösen; für uns werden Brynhild und Gudrun Heldinnen einer
Ehetragödie. Wenn es jedoch die Erfahrung von den Auswirkun­
gen der Schuld ist, die die Seele erfüllt, wird die Frage nach Wille,
Mißgeschick und Notwendigkeit von anderen Problemen über­
schattet, und um Einsicht zu gewinnen in das Wesen der Leiden­
schaft und das Recht der Leidenschaft, muß man die logische Be­
rechnung des ethischen Gewinns und Verlustes verstehen, die bei
der Selbstbeobachtung unserer Vorfahren ausschließlich zur An­
wendung kommt. Die nüchtern kalte Definition eines Versprechens
ist: keine Verpflichtung der Wahrheit oder einer anderen, dritten
Partei gegenüber, sondern ein gegenseitiger K aufvertrag zwischen
dir und ihm. Wenn der K au f gebrochen wird, leidet deine Seele
darunter, weil ein Teil von ihr in der anderen Partei befestigt ist;
und der Schaden ist gleich gefährlich, ob du es bist oder er, der
versagt, oder ob ein U nfall den Vertrag aufhebt. Es ist unvermeid­
lich, daß die Enttäuschung unter den ethischen Ernst fällt, der,
obwohl er zwischen einem Riß von innen und einem Bruch von
außen genau zu unterscheiden weiß, die beiden nicht als wesent­
liche Gegensätze betrachtet. Ein Fehler, für den man selbst zu
tadeln ist, führt um so eher zur Selbstauflösung, als nirgends
Wiedergutmachung zu haben ist; aber für das ethische Urteil ist
es kein geringerer Fehler, gekränkt zu werden, als Kränkung zu­
zufügen, Unfähigkeit zum Selbstschutz ist gleichwertig mit Unter­
lassung desselben. Und vor diesem Verantwortungsgefühl soll der
Nächste gerichtet werden: zwischen dem, der mich daran hindert,
mich zu behaupten, und dem, der die Ursache ist, daß ich es nicht
kann, ist kein Unterschied —beide sind schuldig.
Die Seelenkrankheit, die Brynhild zugrunde richtet, besteht in

66
der Sünde gegen die Heiligkeit des Wortes. Sie hatte sich mit
einem feierlichen Gelübde verpflichtet, keinen anderen als den
Größten zum Gatten zu nehmen, und nun fand sie, daß sie ihr
W ort gebrochen hatte; ob wissend oder unwissend, ob sie in gutem
Glauben gehandelt hatte oder nicht, ihre Ehre, sie selbst war zer­
brochen.
„Übel geht es denen, deren Versprechungen sich gegen sie wen­
den“ ; in diesem Ausspruch Brynhilds liegt die ganze Selbst­
verwünschung, von der ethischen Demütigung bis zu der Angst
vor der Zukunft, einer Angst wie vor einem Unwetter von Un­
glück, das sich um den begangenen Treubruch zusammenballt und
von der Neidingschaft vorwärtsgetrieben wird, die hinter einer
nie wiedergutzumachenden Handlung lauert.
Die Katastrophe kommt in einem Augenblick. Brynhild hatte
Gunnar geheiratet, und die beiden begannen bald, einander zu
lieben. Dies letzte könnten wir ruhig hinzufügen, auch wenn die
Geschichte uns nicht unmittelbar und mittelbar zu verstehen ge­
geben hätte, daß nichts Ungewöhnliches an dieser Ehe zu bemerken
w ar; Gesundheit war ein Zeichen von Größe und Adel, und
Brynhild war größer als alle Frauen, deshalb mußte ihre Größe
sich darin zeigen, daß das Gesunde und Natürliche in hohem
Grade in ihr vorhanden war. Aber in dem Augenblick, wo die
Wahrheit zum Vorschein kommt, wandelt sich ihre Liebe und
geht auf Sigurd über; und doch - Wandlung und Wechsel hat nur
wenig zu tun mit Männern und Frauen, deren Leidenschaft es ist,
immer ihre innere Kontinuität zu erhalten, und deren ethischer
Haß gegen den Kränker gerichtet ist, der es versucht, einen Bruch
in der Persönlichkeit des anderen hervorzurufen. Sie gab sich
selbst an dem Tage hin, wo sie sich durch einen Treueid mit dem
Manne verband, der in ihre Feuerburg dringen würde: nicht
Gunnar, nicht Sigurd, nicht irgendeinem anderen, sondern ihm —
und die Einheit in ihr ist auf die Tatsache gegründet, daß das
Gelübde ihre Liebe ist , und an dem Tage, wo Sigurd als rechter
Anwärter auf Gunnars Platz in der Welt auftrat, war er es, den
sie liebte - und also war er es, der sie beleidigt hatte.
Der Konflikt liegt hier in dem unauflöslichen Widerspruch der
beiden Realitäten, die sich gegenseitig ausschließen. Sigurd hat das
Versprechen, und Gunnar hat die Liebe, als eine Folge der Ehe.
Die moderne Liebestragödie würde sich um den unglücklichen Um ­
stand drehen müssen, daß eine Leidenschaft existiert, die nie E r­

67
füllung finden kann; Brynhild stirbt an der Unmöglichkeit die
Frau zu sein, die sie ist. Als Gudrun ihr vorwirft, daß sie nur den
zweitbesten Helden der Welt besitze, zeigt sie als Beweis auf den
Ring an ihrem eigenen Arm; Brynhild wirft einen Blick auf das
Kleinod und erkennt es; es ist der Ring, den sie Sigurd an jenem
T age gab, wo er durch die Flammen zu ihr kam. In der Gabe
haben er und Brynhild ihren Sinn gemischt, und jetzt erst versteht
sie, daß sie ihr Seelenbündnis gebrochen hat.
Der Dichter, der die Innigkeit dieser alten Liebe heute in vollem
Ernste wiedererlebte und Wiedererstehen ließe, würde sich in und
mit seinem Werke aus der Kultur seiner Zeit verbannt haben;
trotz all der Lobreden, die den Davids und Jonathans der Ver­
gangenheit gespendet worden sind, ist die alte Freundschaft eben­
falls eine tote Herrlichkeit, die nicht in modernen Worten wieder­
belebt werden kann, weil Worte nur das ausdrücken können, was
existiert. Wir sind außerstande, die alte Harmonie zu rekonstruie­
ren. Freundschaft im alten Sinne umfaßte die kühle Berechnung des
Vorteiles und die unbeschränkte Treue, und weit davon entfernt,
einander einzudämmen, wuchsen Selbstbehauptung und Selbst­
vergessenheit in gleichem Maße heran; Freundschaft wird nicht
durch Zuneigung genährt; umgekehrt, der vereinigende Bund läßt
die Zuneigung wachsen und erhält sie; seine Freude ist das liebe­
volle Gespräch, Worte, die Sinn mit Sinn mischen, und nichtsdesto­
weniger war damals die vollkommene Hingabe, die wir bei dem
geistigen Verkehr keimen fühlen, die erste Voraussetzung für das
Vertrauen. In der Geschichte von den Blutsbrüdern Thorgeir und
Thormod lernen wir, was Freundschaft den ihr Geweihten auf­
erlegt. Als Thorgeir erschlagen wurde, floh der Töter übers Meer
nach Grönland; Thormod folgte ihm, verkleidete sich als Bettler,
ließ sich wie ein wildes Tier jagen, lag mit Wunden geschlagen in
Höhlen und an einsamen Orten - und kehrte heim, das Leben
von fünf Männern in seiner Axt, als Rache für seinen Freund.
Und doch ist keine Spur von Selbstaufopferung dabei, sondern
nur Ehre. Freundschaft ist Wille durch und durch, aber ein Wille,
der in den unbewußten Regionen der Seele wurzelt, der über die
augenblickliche Neigung oder den Mangel an Neigung erhaben ist.
Und doch ist die Neigung zu Ende, wenn die Geschenke zurück­
gesandt worden sind. Für uns, die wir nur Zuschauer beim Spiel
der Elemente sind und eifrig versuchen, das harmonische Friedens­
gefühl zu rekonstruieren, das die Seelen anfeuerte, für uns wird

68
die Freundschaft wahrscheinlich einen Eindruck von etwas Kaltem
und Intellektuellem hinterlassen, und doch ist die Freundschaft
bis zum Bersten voll von Gefühlen.
Die Hingabe des Kriegers ist eine der ältesten und am besten
bezeugten Tugenden im Charakter der Germanen. H alb erstaunt
und halb bewundernd beobachtete der zivilisierte Römer das
Häuptlingsgefolge, das kämpfte, solange sein Führer kämpfte,
oder freiwillig die Gefangenschaft mit ihm teilte, und für seine
konservative römische Seele war die vollkommene Hingabe des
barbarischen Kriegers eine prachtvolle Offenbarung seines Pflicht­
gefühls. Tacitus verstand, daß diese Selbstaufopferung unbedingt
war, und er konnte seine Worte nur so wählen, daß die Vor­
stellung der Pflicht in ihnen vorherrschte; aber die, die selbst den
Jubel der Heerschar erlebt haben, merken kaum die Pflicht, son­
dern nur die Begeisterung, die den Willen in Spannung hält. In
der Geschichte können hundert Jahre oft wie ein T ag sein, und
das Gefühl hatte sich kaum sehr gewandelt von den Geschlechtern
ab, die die ersten Jahrhunderte erschütterten, bis zu dem christ­
lichen Dichter, der die Treue der Jünger auf deutsch in den W or­
ten von St. Thomas erläuterte: „Es ist die Freude des Mannes, fest
zu seinem Herrn zu stehen und willig mit ihm zu sterben. Dies
wollen wir alle, ihm auf seinem Wege folgen, unser Leben nur
gering achten und mit dem König im fremden Lande sterben.“
Und wiederum ist der Zeitraum, der den Heliand von H allfred
dem Schwierigkeitsskalden trennt, nichts in der Geistesgeschichte,
so verschieden die Jahrhunderte in Deutschland und im Norden
verlaufen. Für H allfred ist König O lafs Fall ein tiefer Schmerz,
das einzige Leid, das ihn hat beugen können. „Die nordischen
Länder sind verödet durch den T od des Königs, jede Freude ist
verblichen durch den Fall des fluchtscheuen Tryggvason“ , klagt
er, und die Klage fand Widerhall bei allen Zuhörern. Sogar sein
Gegner Gris, der als stumpfsinniger Alltagsmensch gilt, hat das
tiefste Verständnis für H allfreds Jammer, bloß weil er selbst
Königen gedient hat. Die Saga berichtet, daß die Nachricht von
O lafs Fall an dem Tage eintraf, wo diese beiden Männer ihre
peinlichen Streitigkeiten durch Zweikampf entscheiden wollten,
und daß H allfred wie von einem Stein getroffen fortging und sich
ins Bett legte. Als Gris hörte, daß jenem Hohnworte nachgerufen
wurden, sagte er: „Nein, nein, nicht so; ich erreichte nie eine
solche Ehre beim Gardakönig wie H allfred bei O laf, und doch

69
habe ich nie eine so schwere Kunde gekannt wie die vom Fall
meines H äuptlings.“
Aber diese Ekstase, die den T od beim Tode des Häuptlings als
eine Gnade willkommen hieß, hat nur die eine Erklärung: er gab
und ich empfing; er, der Goldbrecher, ich, der Enjpfänger der
Schätze.
W iglaf begann da, Weohstans Sohn,
Der harmvolle H eld sah die Verhaßten an:
„Wohl mag nun sagen, wer die Wahrheit sprechen will,
Daß dieser milde König, der euch die Kleinode gab,
Die Heerrüstung, in der ihr hier vor ihm steht,
Wenn er so manchem auf der Metbank euch schenkte,
Der Hallesitzenden, Helm und Brünne,
Der König seinen Kämpen, den kühnsten, die er irgend
Fern oder nah zu finden wußte -
Daß er gänzlich sein H ab vergeudet hatte,
Als es zum Kam pfe kam die Kriegsgewande!“
Ebenso rein klingt der Ton ,m jüngsten aller angelsächsischen
Heldengedichte, dem Lied von der Schlacht bei M aldon, das sozu­
sagen auf einem geschichtlichen W alplatz gedichtet worden ist.
Erst heißt es von dem Verräter: „Zuerst wandte sich zur Flucht
Godrik und verließ den Herrn, der ihm manches Pferd gab“ , dann
von den Treuen: „Alle sahen sie, die Herdgenossen, daß ihr H err
tot lag; eifrig eilten die Mutigen vorwärts, alle wollten sie das
Leben lassen oder den Geliebten rächen“ , und schließlich von dem
Kühnsten unter den Kühnen: „D a hatte er erreicht, was er seinem
H äuptling versprochen, früher in der H alle des Ringspenders aus­
gerufen, daß sie beide zur Burg reiten sollten, mit heilen Gliedern
heimkehren oder beide auf dem W alplatz bleiben, müde von
Wunden. Wie ein rechter Mann lag er seinem Herrn zur Seite.“
Das hervorragendste Gedicht von der Mannentreue im Norden,
das Bjarkalied, ist uns nur in Saxos lateinischer Umschreibung er­
halten. Wir können uns keine rechte Vorstellung von seinem K lang
in der alten Sprache machen, aber der Inhalt von Saxos geschnör-
kelten Versen spricht doch klar genug von seiner allgemeinen
Treue zu dem Geiste der ursprünglichen Fassung; alles, was außer­
halb der Kultur Saxos und daher außerhalb seiner Vorstellungs­
möglichkeit lag, kann nur aus der alten Quelle geschöpft worden
sein. Das Gedicht durchläuft die ganze Skala der Gefolgschafts-

70
seele von der kühlsten Versicherung des Wollens ab bis zur Selbst­
vergessenheit in einem anderen, und die Mannen des Königs
kehren immer wieder zu der Freude am Golde zurück, um ihrer
selbst gewiß zu werden. Hier beginnt der erste Aufschwung des
Gedichts:
„Froh vergelten wir dem Fürsten die Geschenke, froh ergreifen
wir die Schwerter und härten ihre Schneiden in Ehre. Durch die
Schwerter, die Helme, die Ringe, die H rolf unter seine Mannen
streute, durch die Rüstungen, die uns um die Fersen schlagen, wird
unser H erz für den K am pf geschärft. Jetzt ist die Zeit da, jetzt
ist die Ehre da, damit wir durch Hiebe voll entgelten, was wir
empfingen, als wir im Frieden unsere Glieder auf den Bänken
streckten . . .
Alle Gelübde, die wir beim Becher mit dem Bier auf der Lippe
taten, jeden Schwur bei den hohen Göttern erfüllen wir jetzt.
Mein Herr ist der größte unter den Dänen . . .
Der König ist gefallen, und mit seinem Fall kam der T ag derer,
die nicht so feige waren, daß sie ihre Hiebe zu Boden fallen ließen,
und nicht so wenig kampftüchtig, daß sie davor zurücksdirecktcn,
ihren Häuptling zu rächen, die nicht den Ruhm von sich warfen,
den Lohn des Kühnen . . .
Laßt uns vorwärtsgehen, wie H rolf uns gelehrt hat. Er schlug
Hrcerek, den Geizkönig, den H äuf er der Schätze, die er in Schande
verrosten ließ, dessen H alle von ehrliebenden Männern verlassen
wurde. H rolf schlug ihn, plünderte seine Kammern und ließ seine
Freunde in den Kleinoden des Neidings glänzen. Nichts deuchte
ihn so schön, daß er es nicht ausstreute, nichts zu köstlich, einen
Gefolgsmann zu schmücken. Er zählte seine Tage nach den Ernten
der Ehre, nicht des Goldes . . .
Nichts widerstand ihm, wo er vorwärtsging, glühend vor T apfer­
keit, nicht geringer in Stärke, als herrlich zu schauen. Wie die
Flüsse sich schäumend in das Meer stürzen, warf er sich in die
Schlacht; er eilte zum Kam pf, wie der Hirsch übers Land springt . . .
Ich sehe ihn, den Sprößling Frodis, lachend stehn in der tosenden
Brandung der Schlacht, den Gold-Sämann von den Sirtfeldern.
Auch wir sind voller Freude und folgen unserem herrlichen Vater
mit festen Schritten auf dem Wege des Schicksals . . . Ruhm folgt
dem Tode. Was Männer keck bauten in Zeiten der Macht, soll
keine Zeit zerstören . . .
Den Schild auf den Rücken! Laßt uns kämpfen mit offener

71
Brust. Beschwert die Arme mit Gold, hängt Ringe auf den rechten,
daß die Schläge härter fallen mögen. Hinein unter die Schwerter,
unsern geliebten Herrn zu rächen. Den nenne ich am glücklichsten,
der mit dem Schwerte als Buße für ihn die Toten häuft . . .
Die Ehre empfange uns, wenn wir vor des Königs Augen fallen.
In der kurzen Zeit, die noch übrig ist, wollen wir uns mit Ruhm
das Todeslager bereiten. Bei dem Haupte meines Häuptlings will
ich mich niederhauen lassen; bei seinen Füßen strauchle du vorn­
über in den T od; damit die, die unter den Getöteten suchen, sehn
mögen, wie wir unserm Häuptling sein Gold vergolten. . . . So
ziemt es sich uns Edelingen, uns Kampffrohen, zu fallen, dicht bei
unserm König, eins mit ihm im Tode, eins im Ruhme.“
So geht es weiter, Vers auf Vers. Immer wieder ballt das mäch­
tige Gefühl sich zusammen in der Vorbereitung eines neuen Aus­
bruchs mit neuen Bildern, neuen Ausdrücken, um das Starke noch
stärker zu machen. Das Gedicht ist durchaus erfüllt von der voll­
ständigen Verschmelzung des Kriegers mit seinem Herrn. Der
König und des Königs Ehre erfüllen so vollkommen das Gesichts­
feld seiner treuen Mannen, daß sein Fall finstere Nacht über alles
bedeutet. Die verzückte Freude am gemeinsamen Sterben konzen­
triert in sich alle Leidenschaften des Kriegers: Freude am eigenen
Ruhm, Durst nach Rache, Streben nach dem Lob der Nachwelt
- das alles lebt in der Hingabe an einen Herrn und wird von der
Erinnerung genährt, es lodert empor rings um die Augenblicke
der Vergangenheit, die ihn in seinem höchsten Glanze zeigen. Aber
eins ist immer zuoberst, wenn die Begeisterung zu einem neuen
Höhepunkt emporsteigt: das Gold. Die Notwendigkeit, den Edel­
mut des Königs zu vergelten, ist die moralische Triebkraft des
Aufrufs. Doch könnte keine Dankbarkeit, auch nicht die über­
schwänglichste, diesen Glanz um sich verbreiten, wäre sie nicht
Dankbarkeit für die Gabe des Lebens, und gerade Leben im alten,
vollen Sinne des Worts gab er seinen Mannen durch die alten
Waffen und Ringe. In dem Augenblick, wo ein Mann den Ring
seines Herrn an seinem Arm oder seine W affe in seiner H and
fühlt, durchströmen des Königs Ehre, seine Vorfahren, seine Ziele,
sein Stolz den Arm des Empfängers; gleich fühlt und erlebt er den
Inhalt des Rings. Er wird wiedergeboren, wie man es in alten
Zeiten werden konnte, und die Verbindung mit dem Geber wird
sowohl in den Bedingungen des Lebens wie in den Gedanken voll­
zogen. Die Gefolgsmannen des Königs werden ebenso angeredet

72
wie sein Geschlecht, als Skjoldunge, weil sie in die Ham ingja des
Hauses, dem sie dienten, einverleibt worden sind.
Auf langen und mühseligen Umwegen müssen wir uns zu dem
vorwärtskämpfen, was die unmittelbare Erfahrung der Menschen
jener T age war. Aber der Weg, der ihr einziger Weg zur Einkehr
in die Freundschaft war, der der Geschenke, führt auch uns am
besten zum Verständnis dessen, was jenes Gefühl bedeutete, und
also zum Verständnis seines Wesens. In Bjarkis Ausruf : „Beschwert
die Arme mit Gold . . , daß die Schläge härter fallen mögen“ , liegt
für uns der Prüfstein, ob wir verstehen oder nicht.

D a das Kleinod so nahe am Zentrum des menschlichen Lebens


liegt, kann seine Wirkung zweischneidig werden. Es ist ein Zeichen
der Ehre oder der Schande, des Unterdrückens oder der Unter­
würfigkeit. Bald ruft es Kühnheit im Empfänger hervor, bald
wirft es ihn in die Verteidigungsstellung zurück; ein Mann kann
vor dem Golde seines Nachbarn Furcht haben, oder er kann daraus
Nutzen ziehen; aber nie spielt er damit. Für zwei Männer, die auf
keine andere Weise als durch die Waffen die Welt unter sich
teilen können, wird Vorsicht die gewöhnliche H altung sein; O laf
Sigtryggson fordert nicht blind das Schicksal heraus, indem er das
Geschenk Æthelstans mit sich fortträgt. N ur wer unerschütterliche
Überlegenheit in sich fühlt und ruhig im voraus jeden Einsatz den
seinen nennen kann, wagt ein solches Spiel wie das, das Chlodwig
nach der Geschichte - oder der Sage —über die Burgunden gewann.
Die Wirkung, die durch Austausch von Geschenken hervor­
gerufen wird, hängt von dem gegenseitigen Verhältnis der beiden
zusammenstoßenden Heile ab. Wenn ein Mann nach langem Dienst
seinen Abschied nimmt und der König ihm das Schwert, das er
lange selbst getragen hat, mit den Worten gibt: „Ich glaube, daß
H eil ihm folgen wird, und damit sollst du auch meine Freundschaft
haben“ , dann wird dem Manne zu dem Heil, das er schon besaß,
etwas hinzugefügt, er bekommt era , Ehre, wie das Geschenk im
Altsächsischen einfach genannt wird. Aber so gewiß wie das Bünd­
nis mit einem Ebenbürtigen oder Höheren eine Zunahme an Stärke
bewirkt, so gewiß wird die Verbindung mit einem Heil niedrigen
Charakters sich als Hindernis erweisen. Die Zurückweisung eines
Geschenkes berührt daher leicht wie eine Kränkung, wie ein klares
und deutliches: „Mein Heil ist zu gut“ , und gleichzeitig, was das­
selbe besagt: „Ich traue deiner Ehre, deinem Willen nicht.“ Dieser

73
Gedanke tritt deutlich in der Saga von H örd hervor, wo der H eld
seine Bedenken einem Freundesgeschenk gegenüber mit den Worten
ausdrückt: „Ich weiß nicht recht, denn mir ahnt, daß du deine
Freundschaft mit mir nicht halten wirst.“ Derselbe Gedanke bildet
die Grundlage für das Gespräch zwischen Einar Bogenschüttler,
dem mächtigen Norweger, und Thorstein, dem Sohne Siduhalls,
einem Isländer von gutem Ansehen, der sich gegen den König von
Norwegen empört hatte. Thorstein suchte Zuflucht bei Einar und
bot ihm ein ansehnliches Geschenk, aber Einar zögerte, sich an den
Friedlosen zu binden, da er sich nicht gern in einen Streit mit dem
K önig verwickeln wollte. Als Einar sich vorsichtig zurückzieht,
bietet Thorstein seine Geschenke mit diesen Worten an: „D u
kannst doch sicher von einem Mann wie mir Geschenke annehmen.“
Dem Sohne Einars, Eindridi, andererseits, gefällt das Geschenk
und der Mann ebenfalls. „Es ist guter Manneswert (m an n k an p )
in ihm“ , sagt er zu seinem Vater und meint damit: er ist ein
Mann, mit dem es sich lohnt, einen K au f (k a u p ) abzuschließen,
und als er, gegen den Wunsch des Vaters, die prachtvollen Pferde
angenommen hat, wird Einar gezwungen, die Sache des friedlosen
Thorstein vor dem König zu verteidigen, sogar soweit, daß er
droht, ihm den Gehorsam zu verweigern und die Waffen gegen
seinen Herrn zu erheben.
Wo ein geringerer Mann mit einem größeren zu tun hat und im
besonderen mit einem, der Königsheil besitzt, kann es nur die eine
W irkung haben, daß das größere Heil das kleinere verschlingt.
Die Gefolgsmannen des Königs, die das Zentrum ihrer Hingabe
und ihres Willens im König haben müssen, sind seine „Ring-
Nehmer“ , und ihre Kraft und ihr Glück sind von seinem Fort­
schritt abhängig. Solange sie seine Geschenke empfangen und sein
Brot essen, kämpfen sie nur für ihn und seine Ehre und nur durch
sie für ihre eigene. Die ungeheure Überlegenheit seines Heils macht
das Verhältnis einseitig, so daß es beinahe an Unterwerfung
grenzt. Zwischen zweien, die sich als ebenbürtig betrachten, muß
das Schenken notwendigerweise gegenseitig sein, damit der eine
nicht durch List einen Vorteil gewinnt; das Geschenk des Gefolgs­
mannes und des Untertanen ist etwas ganz anderes als das des
Königs, und deshalb werden Königsgeschenke nicht auf gewöhn­
liche Weise gelohnt. Wenn der König von Norwegen einem seiner
Mannen einen Titel und Landbesitz gab, wurden Nam e und Ehre
mit vielen ehrenden Geschenken befestigt. Wenn das Volk dem

74
Thronforderer den Königsnamen verlieh, wurde dieser nicht durch
Zins von den Ernennern befestigt; auch hier war der König der
Geber. Wie das Geschenk als Betonung der Selbstbehauptung und
des Gleichheitsgefühls dienen konnte, hat die Welt für immer von
den Bauern in Telemarken bei ihrem Streit mit König H arald
erfahren, als er sie lehren wollte, Steuern zu zahlen. Die Be­
mühungen des Königs, die Norweger in diese neue und schwierige
Kunst einzuweihen, hatten allmählich bei den schwerfälligen Schü­
lern Erfolg gehabt, besonders nachdem die unruhigsten Elemente
entfernt worden waren; nur in dem fernen Telemarken herrschte
noch die alte Unaufgeklärtheit, die dem Prinzip huldigte, daß der
K önig wohl mächtig sei, aber doch nicht „heilschwerer“ als sie
selbst; immer wieder schickte der König kluge Sprecher dorthin,
aber trotz all ihrer Anstrengungen wollte die Theorie nicht in die
dicken Schädel hinein. „N ein“ , sagt zuletzt einer der Großbauern,
Asgrim von Fiflavellir, „den Zins wollen wir nicht zahlen, aber
wir sind keineswegs unwillig, dem König Freundschaftsgeschenke
zu schicken“ , und sie schicken ihm außerordentlich stattliche Ge­
schenke. Aber H arald will sie nicht annehmen: „T ragt alle seine
Geschenke wieder zu ihm zurück; ich muß in diesem Lande der
König sein und bestimmen, was Recht und Gesetz ist; ich und nicht
Asgrim .“
Eine andere Geschichte aus einer viel späteren Zeit zeigt die
Macht des Geschenks, dem Empfänger seinen Platz anzuweisen.
Als Svein Estridson sich einige Zeit am H ofe Magnus’ des Guten
auf gehalten hatte, bot der König ihm eines Tages einen Mantel
und eine Schale mit Met an und sprach: „M it diesen gebe ich dir
den Jarlsnamen und die Herrschergewalt über Dänemark.“ Aber
Svein legte den Mantel nicht an, er reichte ihn, blutrot im Gesicht,
einem seiner Mannen. Einar Bogenschüttlers Ausruf: „Dieser Ja rl
ist schon viel zu groß!“ zeigt, wie tief alle Parteien den Ernst des
Auftrittes verstanden.
Was aber mit dem innersten Seelenleben des Menschen Fühlung
hat, besitzt trotz aller Festigkeit Geschmeidigkeit. Der König war
nicht von Geschenken jeder Art ausgeschlossen; er konnte eine
Freundlichkeit annehmen, und er konnte guten Männern ihre Ge­
schenke lohnen, und zwar aus einem guten Herzen. Der Geber
mußte nicht notwendigerweise in demütiger Gestalt vor den König
treten, um seine Freundschaft zu empfangen; solange keine M ög­
lichkeit öffentlicher Mißdeutung vorlag, konnten Fürst und Ade-

75
liger sich mit gleicher Versicherung des Wohlwollens begegnen.
Aber der König muß natürlich bedacht sein, nicht, ohne es zu
wissen, etwas zu empfangen, was sich als Forderung auf Gleich­
heit entlarven könnte, denn in diesem Falle wäre seine eigene
Ham ingja großem Widerstand begegnet. Denn das Heil, das in
einem Geschenk enthalten ist, ist nicht nur eine Seele, sondern eine
Neigung und ein Wunsch, der wirkliche Zustand der Seele, und
gerade diese Frage: Was wünscht er, was meint er? veranlaßt einen
Mann, sich eine Frist zu erbitten, um erst das Geschenk zu er­
wägen, und sie läßt ihn nur ungern die Ehre berühren, die von
weither an seine Tür geschickt wird. Es wurde verlangt, daß das
Wohlwollen in offenen Worten das Geschenk begleiten sollte; der
Empfänger konnte sich auf die Worte verlassen, weil sie dem
Geschenk „auferlegt“ wurden oder darin eingingen und mit dem
Gegenstand von H and zu H and gereicht wurden. „Nim m dieses
Schwert; damit gebe ich dir meine Freundschaft“ , oder: „Sieh
dieses Schwert, aus ihm soll in eurem Geschlecht immer Unheil
entspringen“ , solche Worte sind wirklich; das Schwert ist mit
freundlichen Gefühlen oder mit Haß erfüllt, gerade wie der Nam e
und die Weissagung des Vaters in dem Geschenk verwirklicht
werden, das den Namen des Kindes befestigt.
Bei der Buße für Tötung treten die alten Gefühle uns in ihrer
ganzen Stärke entgegen, zum Teil zu legalen Formen kristallisiert.
Bald schiebt der Mann, der seinen Verwandten verloren hat, das
Gold mit Verachtung von sich, beinahe als wäre es eine Befleckung.
Ein anderes Mal heißt er die Wiedergutmachung mit beiden H än ­
den willkommen, oder er sagt wie Gunnar, als N jal mit der Buße
kommt: „Kein Mann wirft die Ehre von sich, wenn sie geboten
wird.“ Beide Seiten des Gedankens sind wiederum von Egil aus­
gemeißelt worden; er ist es, der die verächtlichen Worte über ein
Zeitalter spricht, das sich angewöhnt hat, seine Verwandten für
Gold zu verkaufen - „den Niederstürzer der Verwandten“ nennt
er den, der eine Buße empfängt, als ob ein Mann, der das tut, dem
Toten die letzte Hoffnung auf Wiedergeburt raubte, —und er ist
es auch, der in Æthelstans H alle sitzt und für die Geschenke mit
den Worten dankt: „Jetzt habe ich etwas gefunden, das die Falten
der Stirn glätten und die gesenkten Brauen heben kann.“ Es hat
keinen Zweck, die Erklärung für Egils wechselndes Urteil in einer
Analyse seiner Stimmungen in den beiden Augenblicken zu suchen;
seine Worte sind in beiden Fällen in demselben ethischen Wert des

76
Wergeids begründet. Die Buße ist keine Zahlung, die dazu be­
stimmt ist, das Gefühl für Ehre in der beleidigten Partei zu be­
schwichtigen, sondern umgekehrt, sie fügt Ehre zu Ehre. Deswegen
geziemt es einem Mann, genau nachzusehen, welche Art Ringe auf
diese Weise in die Familie gebracht werden. Die Bedingungen für
die Annahme einer friedlichen Entscheidung ist, daß beide Parteien
sich als ebenbürtig empfinden; keine der Sippen darf ihr Heil als
so viel besser und edler betrachten, daß der Bund den Empfänger
verarmt, statt ihn zu bereichern. Gesetzlich findet diese Furcht vor
Ungleichheit innerhalb des Bundes ihren Ausdruck in dem Eid der
Gerechtigkeit: die Partei, die Bußen anbietet, soll erst schwören,
daß sie selbst diese Bußen angenommen hätte, wenn sie die ge­
kränkte gewesen wäre. In späteren Zeiten, als die alte Anschauung
von dem geistigen Wert des Eigentums verblichen und durch eine
rein merkantile Wertung ersetzt war, bekam die Buße den häß­
lichen Beiklang von Geld, und die Männer mußten sich vor der
Beschuldigung fürchten, daß sie „Verwandte in ihrem Beutel tru­
gen“ , wenn auch das Gefühl, daß die Buße eine Ehrenbezeugung
sei, nie ganz verschwand.

77
K au f und Pfand

„Es war ein nie zu verzeihendes Unglück, daß dies Schwert aus
unserm Geschlecht ging“ , sagt der Held einer sagenhaften Isländer­
geschichte verzweifelt, als er die alte Waffe seines Geschlechts
gegen sich gekehrt sieht, und in dem Augenblicke spricht er im
Namen der Vorfahren und aller Verwandten. Die Menschen hüte­
ten ihre Schätze, damit diese nicht durch eine unvorsichtige T a t
verlorengehen sollten; tatsächlich hatte jede Übertragung von
Eigentum, auch wenn sie noch so sorgfältig überlegt wurde, ein
Körnchen Gefahr an sich. Noch in unserer Zeit haben Bauern,
jedenfalls diejenigen aus entfernteren Gegenden, ihre bösen V or­
ahnungen beim Abschluß von K au f und Verkauf. Sie möchten
nicht die Vorsehung herausfordern und dem Bedürftigen eine
kleine Anleihe abschlagen, wenn die N ot an ihre Tür pocht, aber
sie möchten andererseits auch nicht dem Gegner der Vorsehung
einen kleinen Finger geben und ihre eigene liebe H abe von sich
abschütteln auf die Gefahr hin, nie mehr imstande zu sein, sie
wieder an sich zu binden. Damit es dem Empfänger nicht er­
möglicht wird, ihnen das Glück aus den Händen zu winden,
nehmen sie sorgfältig drei Körnchen aus dem Scheffel, den sie
verleihen, drei H aare vom Kopfe des verkauften Viehs, und da­
durch behalten sie selbst das Heil des Hofes in der H and. Sie
geben dem Empfänger zu verstehen: „D as Saatkorn kannst du
haben, das Saatheil will ich behalten.“ Wenn aber diese mit ängst­
licher Fürsorge handeln, ist der Käufer nicht weniger auf seiner
Hut, aus Furcht, es könnte gar zuviel Zurückbleiben; es ist kein an­
genehmer Gedanke, daß der Verkäufer hinter ihm stehen und sich
beim Anblick eines Mannes vor Lachen schütteln könnte, der feier­
lich mit einem leeren Halfter davonschreitet, während die Schritte,
die er hinter sich hört, nur die einer Scheinkuh sind, die nicht
mehr Melkseele in sich hat als die Hanfschnur. Wenn er aber mit
dem Trost heimkehrt, daß alles geschehen ist, um die Persönlich­
keit des Tieres zu sichern, sorgt er dafür, die Neuerwerbung in das
Heil des Hauses einzuverleiben, damit sie mit ihrem neuen W ir­

78
kungsfeld vertraut werden kann. Er nimmt sie mit in die Stube,
läßt sie das Herdfeuer sehen und einen Büschel Heu aus dem
Schoß der H ausfrau nehmen, so daß sie keine Sehnsucht nach
ihrem früheren Heim empfindet. Oder die Kuh wird dreimal um
einen Stein herumgeführt, der in der Erde festliegt, damit sie
gedeihen und keine Lust fühlen möge, wegzulaufen.
Dasselbe tat man in alter Zeit. Man verlangte, daß der Besitzer
seine ganze Seele in die Übertragung legen und daß er die Seele
sowohl wie das Äußere geben sollte, man sicherte sich davor, daß
er das Heil in sich aufsaugte, bevor er seinen Besitz aushändigte.
Wir kennen die nordische Form für Übereignung von Land,
skeyting, wie sie hieß: der Besitzer führte den Käufer auf das
Grundstück hinaus, bat ihn, Platz zu nehmen, und tat etwas von
der Erde aus dem Felde in den Schoßzipfel - sk au t —seines Man­
tels; eine spätere Generation fand es bequemer, die Zeremonie auf
dem Gesetzesthing stattfinden zu lassen oder in dem Hause, aber
immer unter der notwendigen Bedingung, daß die Erde von dem
Stück Land genommen wurde, das verkauft werden sollte. In
Norwegen wurde die Übereignung von Haus und Heim und Besitz
ausgeführt, indem man Erde von den vier Ecken des Herdes, von
dem Hochsitz und von der Stelle nahm, wo Feld und Wiese, W ald
und Weide sich begegneten. In allem Wesentlichen stimmen die
südlichen Formen mit denen des Nordens überein; ein wenig
reicher ausgestaltet vielleicht, aber ebenso handgreiflich oder un­
entbehrlich. Dort mußte man einen Ast, der an dem Orte ab­
geschnitten worden war, und das Messer, mit welchem er ab­
geschnitten wurde, ein Stück Rasen oder eine Handvoll der
betreffenden Erde überreichen, und dadurch dem Käufer den
vollen Genuß seines Besitzes sichern — ihm das Eigentumsrecht
anlegen; bei der Übereignung von H aus und Heim wurde der
K au f „bei Angel und T ü r“ befestigt, anscheinend so, daß der
Besitzer die H and des anderen nahm, sie zum Türpfosten führte
und diesen berühren ließ. Der Käufer war aber noch nicht zu­
frieden, bevor der andere demonstrativ den Platz verließ und
etwas von dem seinigen — meist wohl einen Stock — hinter sich
w arf und mit ihm sein Heil an dem Ort.
Für den Käufer kam es darauf an, daß der Gegenstand ganz
und gar seinen früheren Besitzer verließ und sich mit dem neuen
verband. Die Probe hierauf geschah, wenn er beginnen wollte,
seine Neuerwerbung zu gebrauchen: da würde er zu sehen be­

79
kommen, ob sie ihm willig und aus allen Kräften diente. Eines
Tages konnte seine Ehre davon abhängen, ob sein Eigentum für
ihn eintrat; denn er wäre nicht viel mehr als ein Dieb gewesen,
wenn dieses sich nicht als Bestandteil seines Heils erwiesen hätte.
Wenn er z. B. ein Stück Land gekauft hätte, und der frühere
Besitzer ihn durch einfache Ableugnung seines Besitzrechtes von
dem Besitz vertreiben wollte, konnte die Probe durch einen Zwei­
kam pf gemacht werden; die beiden begegnen sich, jeder steckt
zuerst sein Schwert in dieses Stück Erde oder in einen Soden
daraus, und der Ausfall des Kam pfes wird dann zeigen, wer von
den beiden es verstanden hat, das H eil und die K raft des Landes
in sich aufzunehmen.
Das Recht der Sachsen auf ihr Land wurde an dem T age ge­
schaffen, wo einer der Einwanderer sein Gold an einen Thüringer
für einen Zipfel seines Mantels voll Erde verkaufte. Ein kurzes
Weilchen konnten die Thüringer lachend über diese Wikinger
triumphieren, die am Strande saßen und so hungerten, daß ihnen
der Verstand verdorrte; aber die Sachsen verteilten sorgfältig die
Erde so, daß sie den Platz für ein Lager mit ihr einkreisten, und
von dem T age ab änderte sich das Glück. Bisher hatten sie ver­
gebens gekämpft, in ständiger Gefahr, in die See getrieben zu
werden, aber von jetzt ab trieben sie die Thüringer weiter und
weiter ins Land hinein.
Daß der Verkäufer seinen „ganzen“ (heilen) Sinn 1 gibt, heißt
ja, daß er einen wohlwollenden Sinn gibt und nicht seine bösen
Gedanken dem Empfänger zuwendet, daß dieser sie mit den
Gütern zusammen forttrage. Man wollte die Sachen so haben,
daß ihnen nichts „auferlegt“ war, damit sie nicht mit einem
Vorurteil inspiriert wären, das dem Gebraucher schaden konnte.
Als Hreidm ar in seiner Einfalt von den Göttern eine Buße für
die Tötung seines Sohnes empfing und als er, nachdem ihm Frieden
versprochen worden war, von Lokis Worten überrascht wurde:
„D as Gold ist angenommen, ein reichliches Lösegeld für mein
H aupt, aber deinen Sohn erwartet kein Glück davon, es wird dein
T o d und seiner“ , da ist es zu spät für seine K lage: „Ihr habt

1 Anmerkung d. Übers.: „Sinn“ wird hier und im folgenden in der


älteren Bedeutung von „innerstes Wollen“ gebraucht, wie etwa in der
Bibel: „reinen Sinnes sein“. Diese Bedeutung ist noch im dänischen Sind
erhalten. Vgl. auch „Gesinnung“.

80
Geschenke gegeben, aber keine wohlwollenden; ihr habt nicht aus
einem „ganzen Sinn“ (a f heilum hug) gegeben; denn ihr hättet das
Leben hier lassen müssen, wenn ich euren hinterlistigen Plan er­
raten hätte.“
Man erwartete, daß der Geber den bedeutungsvollen Ausspruch
beifüge: „Ich will dir das Schwert geben, mögest du sein ge­
nießen.“ Im Beowulf wird der Schenkungsauftritt uns immer
wieder vor Augen geführt: „Waffen und Pferde gab er Beowulf
zu eigen und bat ihn, sie wohl zu gebrauchen“ , oder: „Beowulf,
mein lieber, gebrauche diesen Ring und diese Brünne mit Heil,
genieße diese Kleinode, und Gedeih sei mit ihnen.“ Audi wenn
dieses „genieße sie wohl“ zur N ot in dem Sinne „gebrauche sie
wohl“ ausgelegt werden kann, ist es doch nur eine armselige
Wiedergabe des alten Wortes neótan. Von einer Waffe gesagt,
bedeutet es, ihre Kraft in sich aufnehmen und sie durch Herrschaft
über ihr Heil und ihre Seele von innen bewegen — und sie dann
mit Macht schwingen. Dasselbe liegt in den Worten, mit welchen
ein norwegischer König sein Geschenk bestätigte: „H ier ist ein
Schwert, und meine Freundschaft folgt ihm“ , oder mit dem wei­
teren Zusatz: „Ich denke, daß Heil ihm folgen wird, und ihm
folgt meine Freundschaft.“
Man mochte sich vielleicht eine noch überzeugendere Vergewis­
serung des Wohlwollens der Gegenpartei wünschen und sie dann
um einen selbständigen Beweis bitten. Es liegt in der N atur der
Gabe an sich, daß eine solche Beigabe auch ihre juristische Be­
deutung hatte, sie enthielt einen Beweis dafür, daß der Handel
ehrlich war, sie konnte ein Zeugnis des Eigentumsrechts werden.
Im Süden war ein Handschuh oder Fäustling das gewöhnliche
Zubehör zu einem Handel, so daß er bei einem Landverkauf ent­
weder neben Erde, Zweig und Rasen oder selbständig als ein
Übertragungsmittel verwendet wurde, das dem Käufer bestätigt,
daß das Land ihm gehört und ihm in aller Form übereignet
werden soll.
Wenn die Aushändigung des Kleinods keine Freundschafts­
erklärung bedeutete, dann war es ein Versprechen. Das Geschenk
nähert sich dem Pfand. Das angelsächsische w ed enthält eine An­
gabe des ursprünglichen Wertes der Gegenstandsübertragung, in­
dem es sowohl eine Gabe als auch eine Verpflichtung und ferner,
in abgeleiteter Bedeutung, ein Versprechen oder ein Abkommen
bedeutet.

81
Die Seele, die in dem Gegenstand enthalten war und mit ihm
überreicht wurde, sie war, wie wir gesehen haben, eine individuelle,
wirkliche Seele, oder, wie wir sagen würden, ein psychologischer
Zustand, aber sie hatte einen Rückhalt in der Gesamtseele, in ver­
gangener, gegenwärtiger und zukünftiger Macht und Verantwor­
tung der Hamingja. Indem der Geber sein Pfand überreichte,
konnte und wollte er mit Worten erklären, welches seine Gesin­
nung beim Geben war, wenn er bloß die - keineswegs leichte —
Kunst verstand, die Worte recht zu lenken und die rechte H am ingja
in sie hineinzulegen. Alles, was gesagt und versprochen, Vor­
behalten und verlangt wird, wird dem Gegenstand „auferlegt“
oder, wie ein anderer Ausdruck im Norden heißt, „untergelegt“ ,
und auf diese Weise der anderen Partei ausgehändigt. Was die
Gegenpartei nahm, war die wirkliche, feierliche Beteuerung, die
Übergabe des Willens — der Mann gab buchstäblich sein Wort.
Eine solche Verpflichtung behält auf jeden Fall ihre Gültigkeit;
kein stillschweigender Vorbehalt, keine eintreffenden Umstände,
keine Frage nach der Billigkeit kann sie jemals brechen oder
schwächen. Sollte der Versprechende schließlich sich selbst und sein
Wort im Stich lassen, würden die Wirkungen sich sehr bald in
ihm zeigen. Erst als Neidingschaft ein rein soziales Unglück ge­
worden war, wurde es notwendig hinzuzufügen, „daß er außer­
halb des Gesetzes stehen soll“ .
Das alte Rechtsgefühl stellt immer eine Bedingung für die An­
erkennung der rechtlichen Gültigkeit, nämlich Wirklichkeit. Es
fragte: Geschah dies wirklich, und wo ist in dir und in dem
Gegenstand das Zeichen der Veränderung, die die Folge jedes
K aufs sein muß? Dann erschien der, den der Streit betraf, und
antwortete: Siehe, hier ist mein Beweis, daß er gehandelt hat, und
darauf zeigte er das Wort und den Willen der Gegenpartei. Für
die germanische Seele war es gewiß wahr, daß ein Wort ein
Wort ist, aber die Menschen verstanden darunter, daß das Wort
lebendig oder einfach der Mann selbst sein mußte; und dann
folgt aus dem Wesen der Seele, daß sie bis in die kleinsten Ein­
zelheiten ihren Charakter als H am ingja behielt und für den
kleinsten Teil eines Versprechens, der im Gewahrsam anderer
Leute gelassen worden war, einzutreten hatte. Daher die Macht
der Verwünschungen; sie lärmen nicht, sie drohen nicht; sie be­
schreiben einen Zustand der Dinge, der herankommen wird, so­
bald jemand - in der unmittelbaren Bedeutung des Wortes — an

82
seiner Seele Schaden gelitten hat. Und ihr tödlicher Ernst kommt
eben daher, daß die Worte eine genaue Aussage über etwas T a t­
sächliches enthalten.
W ar man bloß sicher, unmittelbar H am ingja zu erhalten, so
konnte man sich sehr wohl auf einen Mann verlassen, auch wenn
er im Augenblick das äußere W ort nicht bereit hatte; der Skan­
dinavier reichte seinem Partner die H and und ließ ihn in dieser
Berührung seinen Sinn geben, die beiden bauten also eine Brücke,
durch die das Versprechen und der Wille von Mann zu Mann
gingen. Ein Mann versprach einem anderen Mann seine Ver­
wandte zur Ehe, indem er ihm die H and hinstreckte, so daß er
sie nehmen konnte. Eine Übereinkunft wurde dadurch bestätigt,
daß „H ände zusammengelegt wurden“ , und im nordischen Ge­
richtsverfahren finden wir den Ausdruck: einen Eid, ein Zeugnis
oder ein Urteil „befestigen“ , was bedeutet, daß ein Mann sich
verpflichtete, Beweise zu erbringen oder die Entscheidung des
Gerichts anzunehmen, ohne jeden Hinweis darauf, daß ein gegen­
ständlicher Zusatz die erste Bedingung für die Anerkennung des
Versprechens war. Ein K auf, ein Anrecht, ein A uftrag usw. wur­
den „gehandelt“ , das heißt, man übertrug durch Handschlag ein
Eigentum, die Führung einer Gerichtssache oder eine Verantwor­
tung auf den anderen. „W ir nennen uns Zeugen dafür, daß du
mir deine Verwandte rechtmäßig zur Ehe versprichst und mir die
M itgift ,handelst* — einen ganzen (heilen) R at und einen R at
ohne Vorbehalt“ , so lautet das Ritual in der Graugans, und die
Worte wurden im Anfang buchstäblich verstanden, so daß das
Recht in der ausgestreckten H and lag und von ihr auf den Em p­
fänger überging. Weil die alle beide die Gültigkeit des Handels
verstanden und beide die Veränderung in sich empfanden, wenn
die Verantwortung oder das Recht von dem einen abgewälzt
wurde und in dem anderen niedersank, hatte der Handschlag
juristisch bindende K raft, so daß das Gesetz ihn als ein K rite­
rium dafür aufstellen kann, was gesetzliche Macht hat und was
kraftlos ist. Ein K au f, der nur verabredet ist und weiter nichts,
kann gegen Zahlung einer Buße von zwei Öre gebrochen werden,
wie das Schonische Gesetz es ausdrückt, aber ist Handschlag dar­
auf, da soll die Rückgängigmachung sechs Öre kosten. Nim m t
man die Worte „Versprechen“ und „H an del“ jedes in ihrer
äußersten Bedeutung, treten sie als Gegensätze auf; das größt­
mögliche Vertrauen zu der Ehrlichkeit eines Mannes ist in dem

83
Sprudl ausgedrückt: „Deine Versprechen sind so gut wie der
,Handel' anderer.“
Die Zurückhaltung der Alten beim Kaufen und Verkaufen war
nicht weniger stark, als es noch heute beim gemeinen Mann der
Fall ist - eher noch umgekehrt; aber ihr Charakter war durch
die Tatsache bestimmt, daß ein Geschäft verschieden von dem
war, was es heute ist. Ein K au f war immer ein Austausch von
Geschenken, was wiederum bedeutet: immer Bund und Brüder­
schaft; es war unmöglich, das Ding im Auge zu haben und den
Besitzer aus dem Gesichtsfeld auszuschließen. Niemand konnte
ein Pferd oder Waffen kaufen, ohne zur gleichen Zeit die Freund­
schaft des Besitzers zu kaufen und mit ihr die Freundschaft seiner
ganzen Sippe; solange die Macht des Schwerts und die Nützlich­
keit eines Tieres Heil brachten, konnte das eine nicht ohne das
andere gedacht werden. Um einen Gegenstand überhaupt zu ver­
wenden, war es notwendig, zu dem ganzen Kreis von Männern in
Beziehung zu treten, in dessen H ut er war. Und eben diese dop­
pelte Erwerbung des körperlichen und des seelischen Teils in
einem ist es, was die germanische Seele unter K au f verstand; die
Germanen kaufen „um“ ein Ding wie sie „um “ Freundschaft und
Ehe kaufen.
Lange bevor die Germanen in das volle Tageslicht der Ge­
schichte traten, hatten sie bis zu einem gewissen Grade Tausch
und Bündnis in Geschäft verwandelt. Das Wort für kaufen,
altnordisch k au p , althochdeutsch k a u f , aus dem lateinischen
caupo, Händler, gibt selbst Zeugnis von einem Fortschritt in der
geschäftlichen Erfahrung, während der Sprachgebrauch zugleich
den zeitweiligen Sieg der alten Gedanken verewigt. In dem Zeit­
raum, der zwischen dem sehr frühen Jahrhundert liegt, wo das
Wort in das nördliche Europa eingeführt wurde, und der Zeit,
wo unsere Gesetzbücher geschaffen wurden, hat eine schicksal­
schwere Verschiebung in der Einschätzung der Dinge in bezug auf
ihren Wert für den Besitzer stattgefunden; der Goldring hat
seinen obersten Richter in der Wagschale gefunden, deren Ge­
wichte mit Einheiten und deren Bruchteilen rechnen. Schätze haben
sich in ein Vermögen verwandelt, das Zinsen abwirft, die Erde
ist eine Art Scheidemünze geworden, die von H and zu H and
gehen kann. Von einem Volk, das vom Vieh und vom Boden
lebte und das seine Rechnungen unter sich mit Kühen und Män­
teln beglich, haben die Germanen sich zu Handelsleuten ent­

84
wickelt, die sich mit Ackerbau und Viehzucht abgeben und die
in soundso vielen Ellen Tuch oder in Einheiten vom Werte einer
Kuh rechnen, und die Auswirkung dieser W andlung in den
grundlegenden ökonomischen Verhältnissen findet unwidersteh­
lich Eingang in alle Institutionen - nirgends vielleicht so siegreich
wie beim Brautkauf, wo die Zahlung von Brautgeld als Grund­
lage der ökonomischen Sicherheit der Frau oder sogar als even­
tuelle anständige Witwenpension dient. Eine solche Umstellung
der Welt bewirkt unwiderruflich eine beginnende Emanzipation
der Dinge, hiernach müssen sie früher oder später die Pietät
durchbrechen, die sie an Sippe und Heimat band, und lernen,
geschickt von einem Ende des Landes zum anderen zu laufen; die
Menschen begannen schon, die Fingerfertigkeit des Geschäfts­
mannes zu lernen, der die Waren nur sammelt, um sie mit gutem
Gewinn wieder auszuteilen.
Aber das Eigentumsgefühl, das jetzt bei Abrechnungen in Mün­
zen zu kurz kommen muß, stellt sich unwillkürlich zur Gegen­
wehr, sobald es den Dingen selbst gegenübersteht. Vorläufig
bringt die Seele des Germanen es nicht fertig, die Dinge als Ge­
genstände zu betrachten; sie waren Individualitäten, die man
kannte und denen man in Gewißheit des Wiedererkennens be­
gegnete. Die Welt, aus welcher die Gesetze und die festen Ge­
bräuche dieses Volkes herrühren, ist eine, in der die Kleinode
ihre Eigennamen und ihre Persönlichkeit haben, es ist die Welt,
in welcher der hochmütige Krieger, der bei seinen früheren Fein­
den, in die Beutestücke gekleidet, herumstolziert, plötzlich zu dem
Ausruf Veranlassung gibt: „Siehe, Ingeld, kennst du die Waffe?
Es ist die, die dein Vater an dem T age trug, wo er fiel.“ Und
überall, wo diese Männer hinkommen, verraten sie sich durch
ihre Unfähigkeit, die Verbindung zwischen sich und den Dingen
ganz zu durchschneiden. Das Geschenk, das ein Mann einem an­
deren gegeben hatte, war und blieb der Vorposten seiner Seele
im fremden Lande, und er hatte sowohl ein Recht als auch eine
Pflicht ihm gegenüber, welche seinen Willen auch für spätere
Em pfänger wichtig machten. Für einen O laf den Heiligen war
dieses: sich selbst in dem Ding fühlen, nichts weniger als ein per­
sönliches Erlebnis. Einer seiner Mannen, Brand ö rv i, hatte ein­
mal vom König einen Mantel erhalten und ihn kurz darauf an
einen armen Priester, Isleif, der von seinen Studien in fremden
Ländern zurückgekehrt war und dem es an Kleidern mangelte,

85
weiterverschenkt. O laf machte Brand Vorwürfe wegen seiner Be­
reitwilligkeit, sich von den Geschenken des Königs zu trennen,
aber als er Isleif im Glanze seiner Gelehrsamkeit und Heiligkeit
sah, begriff er gleich, daß der Mantel einen würdigen Träger
gefunden hatte. „Ich werde dir diesen Mantel geben“ , sagte O laf,
„denn ich sehe dir an, daß Segen darin ist, wenn du dich meiner
in deinen Gebeten erinnerst.“ Die Hoffnung, die hier Ausdruck
findet, mag christlich sein, aber der Ursprung dieser Hoffnung ist
heidnisch genug.
Abgesehen vom persönlichen Besitzgefühl war es eine T a t­
sache, die im täglichen Leben nicht übersehen werden konnte, daß
das Land und die Güter auch für andere als den nominellen Be­
sitzer Bedeutung hatten. Solange eine Sippe nicht vollständig auf­
gelöst war, war es schwierig, das Recht der Erben auf Berück­
sichtigung bei jeder Übertragung von Erbgut auszurotten, ob es
nun als eine Forderung, beim V erkauf gehört zu werden, auf­
trat, oder als ein Anspruch auf Vorkaufsrecht. Es kann innerhalb
gewisser Grenzen zurückgedrängt werden, dann hält es sich hart­
näckig als die Behauptung, daß nicht mehr als ein gewisser Teil
des Vermögens verschenkt werden darf, und daß die Verwandten
alles, was über einen angemessenen Teil hinausgeht, beim Tode
des Gebers zurückfordern können.
Die gesetzlichen Vorkehrungen sind nur oberflächliche Zeihen
der Ängstlihkeit, mit w elher die Gesippen in ihrer Gesamtheit
jede Übertragung beobahteten, die geistige Revolutionen und
Verpflichtungen mit s ih führte. Die Familie verlor nie die Ver­
bindung mit ihren Geshenken, und die Sippe konnte s ih n ih t
für immer als passives Instrument in die Hände Fremder geben;
daher empörte sie s ih bei dem Gedanken, daß der Empfänger
eines Geshenkes einem Dritten gegenüber frei über das sollte
verfügen können, was er empfangen hatte.
Dieses Löcken der Kultur wider den S tah e l des fremden Ein­
flusses bewirkt einen eigentümlihen Zwiespalt im Wesen der
handelsliebenden germanishen Völker. Ihre Gesetze über Ge­
schäft und Verkehr stehen der Geshäftsroutine eines Römers
näher als dem H andel vom ehten germanishen T ypus; bei ihrem
Ringen mit Verkauf und Verpfändung, V erpahtung und Miete
ist ihre S p rah e in der T a t die einer modernen Gesellschaft, aber
sie verkleiden ihre erfahrene Weisheit in merkwürdige Termini,
die erst ganz klar werden, wenn man auf Umwegen, von hinten

86
durch die Vergangenheit, näher an sie herantritt. Um die alten
Formen kann man nicht herumkommen, und deshalb stehen Ge­
danke und Ausdruck in zähem Ringkampf, bei welchem der Sinn
an der Form ständig zieht und zerrt, bis sie nahe am Zerreißen
ist; aber die Formen leisten Widerstand und wollen die T rans­
aktionen innerhalb des Rahmens des alten Kaufsystems halten.
Es kann damit enden, daß die Institution zerfällt, wie es bei den
alten Ehe- und VerlobungsVerträgen wirklich der Fall war, wo
die bindenden Gaben ihre Bedeutung als Bereicherung verloren
und einen zeremoniellen Wert als Geschenke oder w ed behalten
haben, während die pekuniäre Regelung eine Sonderstellung unter
ihnen oder sogar außer ihnen erhalten hat; ein langobardisches
Mädchen wurde Braut kraft der altmodischen Verlobung, aber ihr
Hauptinteresse liegt in dem Dokument, in welchem der Mann ihr
ein Viertel seines Vermögens sichert. Das Resultat kann als ein
vorübergehender Kompromiß auftreten, wie wenn Handel mit
Dingen die Verpflichtung des Verkäufers voraussetzt, das Recht
des Käufers zu behaupten, sowohl gegen seine eigenen Ver­
wandten wie gegen andere Personen, die etwa Einwände gegen
seine Ansprüche erheben mochten, so daß er nicht nur die recht­
mäßige Übertragung des Besitzes ein für allemal garantiert, son­
dern auch seine Bereitwilligkeit erklärt, die Verantwortung da­
für zu übernehmen, sooft es nötig sein wird.
Aber hier und dort, unter dieser ganzen blühenden Gesetz­
geberei halb oder mehr als halb erstickt, finden wir gelegentlich
einen verkümmerten Schößling des frühzeitlichen Handelsbegriffs.
Bestimmungen wie die der Graugans: Ein Geber kann seine Gabe
nicht zurücknehmen, aber wenn er in Hoffnung auf Entgelt ge­
schenkt hat, oder wenn der Empfänger einen Gegenwert ver­
sprochen hat, so hat der Geber einen Anspruch auf so viel, wie
versprochen wurde - oder wie die des östgötagesetzes, die be­
stimmt, daß man sich als Besitzer behaupten kann, indem man sagt:
er gab und ich lohnte - solche Bestimmungen enthalten in W irk­
lichkeit die germanische Handelsgesetzgebung. Sie gehen auf den
Gedanken zurück, der Austausch von Geschenken sei das rechte
Verfahren, wenn Dinge von einer H and zur anderen gehen; ein
Gegenstand in der H and des einen Mannes bewarb sich um ein
Stück Eigentum, das dem Nachbarn gehörte. Die Gabe, die ein
schwedischer Freier in der H and trug, als Zeichen seines Wun­
sches, in das H aus einzuheiraten, diese Gabe wurde charakteri­

87
stisch genug tilgæ f genannt, das bedeutet eine Gabe (g<ef) für die
Erfüllung (til) eines Wunsches. Der Bewerber um Freundschaft,
der seine Gabe gibt, um einen gewissen Gegenstand als Gegen­
gabe zu erhalten, und der Geber, der mit dem übertragenen Ge­
genstand Segen voraussagt, haben uns tatsächlich längst alles
gesagt, was über germanischen K au f und Verkauf zu sagen ist,
und G ja fa - R e fr , der Gaben-Fuchs, ist im germanischen Handels­
verkehr der höchste Typus eines Geschäftsmannes.
So verschwinden alle Unterschiede zwischen uneigennützigem
Gebedrang und egoistischer Besitzgier, zwischen Freundschafts­
angebot und Feilschen um einen K auf, zwischen edler Selbstent­
äußerung und unedlem Verlangen nach Zahlung. Die germa­
nische Kultur kannte nichts anderes, als daß Besitz durch ein
Freundschaftsanerbieten erlangt wurde, und weder Neigung noch
Habgier wurden geringer dadurch. Für einen Germanen konnten
Liebe und Vorteil so wenig getrennt werden wie Seele und K ör­
per des Ringes oder der Axt. Wenn also Gunnar in der Edda
sagt: „Eins ist besser für mich als alles, Brynhild, Budlis Tochter,
sie ist über alle Frauen; lieber will ich mein Leben als die
Schätze jenes Mädchens verlieren“ , haben seine Worte wahres
Pathos und wirkliche Tiefe, und auf keine andere Weise könnte
die Leidenschaft angemessen ausgedrückt werden.
In diesem Punkte stehen die Gedanken des „Barbaren“ und
die des gebildeten Mannes so schroff gegeneinander, wie vielleicht
nirgends sonst. Tacitus hat den Gast nach dem Abschied heraus­
kommen sehen, den Arm voll von kostbaren Geschenken, er hat
den Wirt Zurückbleiben sehen, befriedigt von einem kleinen Berg
von Andenken, die er von jenen erbeten hatte, die sein Herz durch
Annahme seiner Gastfreiheit erfreut hatten. „Es ist Sitte, den schei­
denden Gast mit allem fortgehen zu lassen, was er sich wünscht;
dieselbe Bereitwilligkeit kann man als Entgelt von ihm verlan­
gen“ , sagt er, aber er fügt hinzu: „An Geschenken haben sie ihre
Freude, aber sie rechnen nie mit dem, was sie gegeben haben,
und sind nie durch das gebunden, was sie empfangen.“ H ätte er
ein wenig näher in die Häuser hineinsehen können, hätte er
staunend wahrnehmen müssen, wie sorgfältig die freudigen Geber
darauf aufpaßten, daß nichts auf Rechnung zu setzen blieb. Ähn­
lich ist es vielen Europäern gegangen, wenn sie versuchten, die
Gedanken der Wilden darüber, was ein Gegenstand unter Brü­
dern wert sei, zu verstehen. D a kommt ein Eingeborener mit

88
seiner Gabe, bietet frei seinem Freund das einzige Lamm, das er
besitzt, an, und siehe da, kurz darauf macht er den gerührten
Kolonisten darauf aufmerksam, daß er es vergessen habe, die
kleine Aufmerksamkeit zu vergelten, z. B. mit dem hübschen Ge­
wehr dort. D a wird der weiße Mann vollkommen verwirrt, und
er wird manchmal ein überzeugter Anhänger gewisser philoso­
phischer Systeme, die lehren, daß die edleren Merkmale des Men­
schen nicht zu den naturgegebenen Vorstellungen gehören; es ist
nur schade, daß die europäische Spekulation zu hinterwäldlerisch
ist, um mit dem Eingeborenen fühlen zu können, der ebenso ener­
gisch seinen K opf über jene merkwürdige Welt schüttelt, in welcher
Leute aufwachsen, welche die einfachsten Dinge nicht verstehen.
Es ist Seele in der Gier der Alten, und deshalb steigert ihr
Verlangen sich zur Leidenschaft, oder es sollte doch jedenfalls
das alleinige Recht auf dieses edle Wort behalten. Es überfällt sie,
wenn sie um den Gegenstand ihres Verlangens herumgehen, ihn
von allen Seiten betrachten und außerstande sind, ihre Augen
von ihm wegzunehmen; sie können nicht widerstehen, sie müssen
die Freundschaft des Besitzers haben oder mit Gewalt nehmen,
was sie nicht gewinnen können - und es liegt dann an dem Ge­
walttäter, das Erworbene unter seinen Willen zu zwingen. Weil
das Verlangen aus solcher Tiefe kommt, trifft eine Ablehnung ihn
als eine Kränkung. Der ruhige und beherrschte Vatsdoela-Häupt-
ling, Ingimund der Alte, hatte in seinen älteren Tagen ein Er­
lebnis, das sich auf eine Waffe bezog. Ein Norweger, H rafn, hielt
sich einen Sommer durch als sein Gast bei ihm auf, und dieser
H rafn trug überall ein ausgezeichnetes Schwert in der H and her­
um. Ingimund konnte es nicht lassen, Seitenblicke auf dieses
Schwert zu werfen; er mußte es borgen und es betrachten, und
er war ernstlich böse, als H rafn sein eifriges Angebot, es zu
kaufen, glatt ablehnte. Die Tage vergingen, Ingimund inter­
essierte sich mehr und mehr für die Erzählungen des Norwegers
von seinen Reisen und Wikingfahrten - er war selbst einmal
jung gewesen und kannte den Durst nach Abenteuern - H rafn
redete, Ingimund hörte zu, und im Laufe der Unterhaltung trat
Ingimund, in Gedanken verloren, in sein Heiligtum, und H rafn
folgte. D a wandte Ingimund sich empört gegen ihn, denn es war
Sitte, unbewaffnet in einen Tempel zu treten, um die Götter nicht
herauszufordern; wenn ein Mann sich vergaß, mußte er es büßen,
indem er das Beste, was er hatte, auslieferte, und jemanden, der

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die Götter kannte, bat, sich der Sache anzunehmen. So kam Ingi-
mund in den Besitz des Schwertes Sippenknauf.
Das Verlangen begnügt sich nicht damit, die Leidenschaften in
Bewegung zu setzen, es schafft die eigentlichen Tragödien im
Leben unserer Vorfahren. Als der alte Einäugige in Völsungs
Halle kam und das Schwert tief in den Baum stieß - eine Gabe
an den, der der Stärkste wäre - , da war kein anderer als Sigmund,
der es bewegen konnte. Aber es war einer da, der lange Blicke
nach ihm sandte, sein Schwager Siggeir. Dreifaches Gewicht in
Gold bot er für das Schwert, aber das Gold rührte Sigmund nicht.
Siggeir verließ zornig das Haus, bevor das Fest zu Ende war,
lud aber dafür die Verwandten seiner Frau zu sich ein, und dann
ergriff er Besitz von dem Schwert, nachdem er seinen Schwieger­
vater getötet und seine Söhne, schmachvoll gebunden, als Atzung
für die Wölfe in den W ald gesetzt hatte. Das graue Tier ver­
schlang die jungen Männer einen nach dem anderen, nur einer,
Sigmund, der Besitzer des Schwertes, blieb übrig; mit H ilfe seiner
Schwester Signy bekam er sein Schwert zurück, befreite sich
selbst und rächte seinen Vater - und dieses Schwert war es, das
Odin selbst ihm in der Schlacht aus der H and schlug, das Regin
wiederum für seinen Sohn zusammenschmiedete, und mit ihm
wurde Fafnir erschlagen; es war die Waffe Sigurds des Fafnir-
töters. So erscheint ein Kleinod nach dem anderen mit seiner
Tragödie. Der Halsring der Ynglinge, der Armring der Skjol­
dunge, der H ort Andvaris - diese Namen bezeichnen nicht nur die
Tragödien der germanischen Völker, sondern auch das tragische
Element in ihrem Leben.

90
Tischgemeinscha ft

Als König Magnus, vielleicht ein wenig durch Überrumpelung,


sich Svein Estridson als seinen Lehnsmann zu unterwerfen ver­
suchte, begnügte er sich nicht damit, ihm einen Mantel zu schen­
ken: er fügte eine Schale mit Met hinzu. Svein zog den Mantel
nicht an, und er hat wahrscheinlich auch den Met nicht gekostet;
er fürchtete sich vor dem letzten ebensosehr wie vor dem ersten.
Alles was das Kleinod bewirken konnte, vermochten auch Speise
und T ran k; sie konnten Ehre oder Schande bedeuten, sie konnten
binden oder lösen, Glück bringen oder hemmend auf das H eil
wirken.
Man trank einander zu, wie die Redewendung in alter Zeit
lautete; genau wie man einer Frau bei der Hochzeit zutrank und
sie auf diese Weise in seinen Kreis zog, so trank man seinem
Nachbarn zu, so daß man sich ihn gewann und ihn in seinen
Frieden hereinzog. Deshalb ist eine Antwort wie diese: „Ich habe
seine Gastlichkeit genossen“ , genügend als Rechtfertigung für
einen Mann, der es glatt ablehnt, an einer Unternehmung gegen
seinen ehemaligen W irt teilzunehmen, und vielleicht kann dieses
Argument ihn zu den Gegnern d e r Partei hinüberzwingen, in
der er seinen natürlichen Platz hätte. Sei es auch nur ein einziger
Mundvoll, so mag dieser doch in einem schicksalschweren Augen­
blick genügen, um der Zukunft eine entscheidende Wendung zu
geben.
Einmal saß König Magnus beim Mahle an Bord seines Schiffes.
Ein Mann kam über das Deck auf das erhöhte Schiffsheck, wo
der König saß, hinaufgegangen, brach ein Stück Brot und aß.
Der König blickte ihn an und fragte, wie er hieße. „Ich heiße
Thorfin.“ - „Bist du Ja rl Thorfin?“ - „ Ja , so nennen mich die
Männer im Westen.“ - „Wahrlich, Jarl, ich beabsichtigte, wenn wir
uns jemals treffen sollten, dafür zu sorgen, daß du niemandem
von unserer Begegnung solltest erzählen können; aber nach dem,
was jetzt geschehen ist, geziemt es sich nicht für mich, dich töten
zu lassen.“ Und es waren keine Kleinigkeiten, die zwischen ihnen

91
standen: Thorfin hatte sich einen groben Spaß mit den H err­
schaftsgelüsten des Königs geleistet, hatte seinen Verwandten
Rögnvald, der das ausführende Organ für die politischen Pläne
des Königs auf den Inseln im Westen war, getötet und sehr
unsanft die Anhänger des Königs aus dem Wege geräumt.
Speise und Trank besitzen dieselbe Macht wie das Geschenk,
auch sie können die Gedanken und die Ratschläge des Herzens
offenbaren. Aus dem Biere steigen Ehre und Schande, es kann
das Selbstgefühl eines Mannes steigern, und es kann alle bösen
Geister der Kränkung in ihm loslassen. Der König ehrt seinen
Gast, indem er ihm mit seinem guten Bräu zutrinkt und das Horn
zu seinem Platze tragen läßt, und Gäste ehren einander, indem
sie zusammen aus dem Becher trinken; das ganze Mittelalter hin­
durch bis in unsere Zeit hat man stets vor dem „Ehrentrunk“
Ehrfurcht gehabt. Wer das Brautpaar nicht beleidigen will, muß
seinen „Ehrenbecher“ leeren, wie es noch unter heutigen Bauern
heißt. Wenn Ebenbürtige Seite an Seite bei Tisch sitzen, geben sie
eifersüchtig darauf acht, ob ihre Annäherungen vollauf gewürdigt
werden, und empfinden es als das blutigste Unrecht, wenn der­
jenige, dem sie zutrinken, nicht „mitkommt“ , das heißt, es ab­
lehnt, den Trunk anzunehmen, oder die Lauheit seiner Gefühle
zeigt, indem er nur halb trinkt; ein H äuptling zeigt die äußerste
Sorgfalt in bezug auf das, was ihm gereicht wird, und auf den,
der sich ihm als Trinkgenosse anbietet. König H arald betrachtete
es als einen Schimpf, als König Magnus’ Halbbruder Thorir ihm
zutrank, und er gab seinen Gefühlen in einem Hohnvers mit einer
Anspielung auf seine Geburt Ausdrude.
Die Furcht des gemeinen Mannes, beim Gemeinschaftstrinken
übervorteilt zu werden, ist von einer Heftigkeit, die beweist, daß
der Instinkt tief in der Menschenwürde selbst wurzelt. Wenn
schwedische Bauern, aus dem Jahrhundert der Aufklärung, hoch­
fahren und nach den Messern greifen, weil sie beim Trunk nicht
miteinander Schritt halten, sind sie kaum imstande, ihren Zorn
in Worten zu erklären - es sei denn mit einem alten Sprichwort,
dessen Ursprung und Inhalt freilich wiederum Jahrhunderte vor
ihrer eigenen Zeit lag: Wer einen beim Trinken im Stich lasse,
der lasse einen auch sonst im Stich.
Die endgültige Erledigung aller Zwistigkeiten geschieht durch
gemeinschaftliches Essen und Trinken. Ein Vergleich galt nicht,
bevor er nicht durch Tischgenossenschaft bestätigt worden war.

92
Im Jahre 577 aßen und tranken Gunnthram und Childebert mit­
einander, und sie gingen mit freundschaftlichen Gefühlen ausein­
ander, nachdem sie einander mit reichen Geschenken geehrt hat­
ten. Adams von Bremen heidnische Zeitgenossen im Norden feier­
ten acht Tage lang ein gemeinsames Fest, wenn sie ein Bündnis
verabredeten, und die isländischen Sagas berichten oft genug, wie
frühere K älte sich in ihr Gegenteil verwandelte, indem zwischen
den Parteien Geschenke ausgetauscht wurden und man Freund­
schaft verabredete und sich gegenseitig zu einem Feste einlud.
Der K au f einer Frau wurde mit Vorsicht und Geschick vor­
bereitet. Wo der K au f selbst in verschiedene kleinere Verabredun­
gen zerfällt: Bewerbung, Verlobung, Hochzeit und Heimführung,
muß auch jeder Abschnitt mit einem „Bier“ bestätigt werden.
Wenn die Bauern in Norwegen nach der vorläufigen Verabredung
zuerst bei einem „Bierfest“ Zusammenkommen, um die Sache im
Hause der Brauteltern zu „besprechen“ , wo die näheren Einzel­
heiten geordnet werden und die Verlobung bestätigt wird, wenn
sie darauf ein entsprechendes Fest im Hause der Eltern des Bräu­
tigams feiern und erst dann zur Hochzeit schreiten, so tun sie
wahrscheinlich nur, was die alte Sitte verlangte.
Nach dem Brautkauf kommt der Gabekauf und fordert Be­
stätigung bei Tisch. Hier lesen wir dann, daß die Transaktion im
Hause des Empfängers per cibum et potum , durch Essen und
Trank, geschehen sei, und dieses per hat dieselbe K raft wie das
„durch“ , das bezeichnet, daß Handel oder Buße geschehen ist in
und mit dem Vadium oder Pfand, das die betreffende Partei
aushändigt. Vielleicht ist die Feierlidikeit einer Mahlzeit bei den
südlichen Germanen etwas in den Hintergrund geraten - was mit
dem schwärmerischen Kult mit symbolischen Geschenken in Ver­
bindung stehen mag, die sich im deutschen Recht so sehr aus­
breitete; aber im Norden hat sie sich noch zäher gehalten als das
Vertrauen in das Pfand. Ohne einen Becher als Trost beim Ab­
schied von dem eben verkauften Ferkel und als Zeichen der Freude
über die gezahlten blitzenden Taler ist es den Bauern kaum mög­
lich, überhaupt zu kaufen und verkaufen, und wenn ein Mann
einen schwachen Magen oder einen schwachen K opf hat, auf die
er Rücksicht nehmen muß, so muß er sich mit einer Versicherung
seiner Ehrlichkeit entsdiuldigen: „Der K au f soll trotzdem fest­
stehen.“
Alle die gerichtlichen Transaktionen, die als Abschluß einen

93
Becher erforderten, aufzuzählen, würde heißen, ein Verzeichnis
aller der Transaktionen geben, die in der germanischen Gesell­
schaft überhaupt stattfinden konnten, und das Bedürfnis nach
diesem Abschluß wurzelt tiefer als etwa in einem nebelhaften
Trieb, das Rechte zu tun. D as Gesetz erblickt immer wieder in
der geselligen Erledigung der Sache das Rechtskriterium. Isländi­
sches Recht erfordert vom rechten Eingehen einer Ehe, daß eine
Gesellschaft von mindestens sechs Personen die beiden Sippen
zusammengegessen, -getrunken und -gekauft haben soll, die
Schweden begnügen sich damit, Sitte und Gebrauch aufzuzeichnen,
indem sie z. B. sagen: Die Verwandten sollen bis in den dritten
G rad — das heißt, so weit die normale Verwandtschaft geht —
zur Hochzeit geladen werden. Es konnte auch Vorkommen, daß
das Bier, wie in dem norwegischen Bjarkeyjarrétt, zum entschei­
denden Faktor gemacht wurde, so daß ein Sohn als in rechter Ehe
geboren erklärt werden konnte, wenn seine Mutter mit recht­
mäßigem Brautgeld (m u n dr) gekauft worden war, und wenn bei
der Hochzeit ein Faß Bier gekauft und in der Anwesenheit von
zwei Brautmännern, zwei Brautjungfern, einem Knecht und einer
M agd getrunken worden war.

Es liegt noch etwas Ehrwürdiges über diesem alten Mittel des


Vergleiches, das die Menschen dermaßen zusammenzwingen
konnte, daß unter seinem Einfluß ihre kleinste H andlung für das
Recht und das Gesetz zur Tatsache wurde. Wenn die Tisch­
gemeinschaft im Laufe der Zeit ein derartiges Bundesmerkmal
werden konnte, w ar der Grund der, daß sie einst aus dem Erleb­
nis entstanden war. Die Gesetzmäßigkeit der H andlung ent­
sprang der Tatsache, daß beide Parteien die Veränderung in sich
spürten und so die Rechtmäßigkeit des neuen Zustandes erlebten;
es war eine Bedingung, daß die großen Trinkgefäße, von welchen
wichtige Entscheidungen abhingen, bis zum letzten Tropfen ge­
leert werden sollten, damit der Wille, den K au f aufrechtzuerhal­
ten, fest gesichert würde. Die Männer wußten auch, daß ein
unvorsichtiger M undvoll einem Manne seine Selbstbeherrschung
rauben oder jedenfalls anderen Einflüssen erlauben konnte, seinen
Willen zu beeinträchtigen und seine K raft zu weiterem Fort­
schritt zu lähmen. Die Ablehnung hat eine eigenartige Betonung:
„Ich habe anderes zu tun als zu essen“ , wenn ein Mann den
H errn des Hauses durch Klopfen an der T ü r herausholt und eine

94
Abrechnung verlangt. „Könnte ich nur den T rotzkopf, den P fa f­
fen, dazu bringen, mit mir zu essen, würde ich schon wissen, mit
ihm fertig zu werden“ , - das war so ungefähr der Gedanke, den
der listige Merowinger Chilperich hatte, als er bei seiner Begeg­
nung mit Gregor versuchte, ihm eine Erfrischung aufzunötigen.
Aber in dieser Beziehung war Gregor so gut ein Germane wie
der König, und er wußte sich zu hüten: „Erst wollen wir das
Verkehrte einrenken, dann können wir nachher unsere Überein­
kunft festtrinken“ , oder, wie die Sache mit der nicht seltenen
zweischneidigen Logik Gregors auch ausgedrückt werden kann:
„Unsere Nahrung soll sein, Gottes Wille zu tun und uns nicht
von den Gelüsten des Fleisches verlocken zu lassen, so daß wir
sein Gebot vergessen; d u mußt daher, bevor i c h esse, ver­
sprechen, die Regeln unserer Kirche nicht zu übertreten.“
Ein Mann lieferte sich seinem Gegner in dem Augenblick voll­
kommen aus, wo er ihm den Becher reichte und mit ihm trank;
auf den beiden Händen, die um dieses Gefäß gegeneinander aus­
gestreckt wurden, lag eine Zukunft in der Waage, und die ge­
ringste Unsicherheit konnte zum Unheil der beiden Menschen den
Ausschlag geben. Nach dem T ode des Langobardenkönigs Authari
bat das Volk seine Königin Theodolind, die Würde selbst anzu­
nehmen und sich einen Gatten mit einer starken H and auszu­
suchen, der das Königreich regieren könne. Nach dem R at weiser
Männer wählte sie den Herzog Agilulf von Turin und lud ihn
eilig zu einer Begegnung ein. Die beiden begegneten sich in Lau-
mellum, und nachdem sie eine Weile miteinander gesprochen
hatten, ließ sie Wein bringen, trank zuerst davon und reichte
Agilulf den Rest. Als er den Becher genommen hatte und ihre
H and küssen wollte, sagte sie errötend mit einem Lächeln, daß
ein Handkuß sich nicht für den geziemte, der auf den Mund
küssen sollte. Sie bat ihn aufzustehen und sprach zu ihm von
Hochzeit und Herrschaft.
So weit Paulus Diaconus. Wir würden hier schlechte Leser sein,
wenn wir nicht verstünden, daß der kleine Auftritt eine eigene
Spannung hat, groß genug, um eine Tragödie entstehen zu lassen.
Theodolind hat mit dem Becher ihre eigene Ehre angeboten und
es in seine H and gelegt, damit zu tun, was er wolle; sie hat
sich selbst gebunden, wie Brynhild sich an Sigurd band durch
ihren Schwur, dem gehören zu wollen, der durch die Lohe ritt;
ein Zögern Agilulfs, den Schwur anzunehmen und ihn zu ver­

95
wirklichen, würde sie ins Unglück stürzen und sie zur Rache zwin­
gen. M ag die Zukunft nun in Hochzeit bestehen oder in Neuerwer­
bung von Besitz — in dem Akt des gemeinsamen Trinkens wird
sowohl die Freude am neuen Zustand wie die Fähigkeit, ihn
genießen zu können, gegeben und genommen. Die beiden Par­
teien tranken n jótsm in n i: einen Becher, der den K äufer n jó tr
machen sollte, das heißt, zu einem, der das Heil des Gegenstands
genießen sollte; und die heutige dänische Formel beim „ lid k ö b *
(vgl. deutsch „L eikauf“ , das ist: Weinkauf) enthält noch eine kurze
Andeutung aller Wirkungen des Kaufbechers sowohl auf den
K äufer und Verkäufer wie auf den übertragenen Gegenstand;
womit nicht gesagt sein soll, daß die feierlichen Worte aus den
ältesten Zeiten herrühren. Der Verkäufer bestätigt seine Zufrie­
denheit mit dem Preis, garantiert, daß die Ware voll und ganz
ist und in den Besitz des anderen vollkommen und für immer
übertragen werden soll, ohne Vorbehalt, ohne Fehl, mit dem Heil
in sich; und die andere Partei überzeugt sich, daß der Handel
endgültig abgeschlossen und der Empfänger befriedigt ist, und
versichert ihrerseits dem Empfänger den vollen Gebrauch und den
vollen Wert des Geldes. Dieses heißt, wenn Dänen handeln:
„Jetz t trinke ich dir die schwarzköpfige Kuh zu, heil und gesund
ist sie in jeder Beziehung, frei von verborgenen Fehlern, 100 Taler
ist der Preis, den ich haben soll; die Zeit des Kalbens wird stim­
men, wie ich gesagt habe; wie sie ist, so sollst du sie haben.“
„Dann trinke ich dir die 30 Taler zu, die schon gezahlt sind; ich
wünsche dir Heil mit dem Geld; so viel sollst du haben, das hast
du erhalten.“ „W ir wünschen Heil auf beiden Seiten mit dem
H andel“ , sagen dann die Leikaufzeugen.
Wir können den germanischen K au f in e i n Bild zusammen­
fassen, nämlich die norwegische Form der Freilassung Unfreier.
Der Unfreie erhielt seine Freiheit — und daher wurde er selbst
frjá lsg ja fi genannt - und für die Gabe der Freiheit zahlte er sein
Lösegeld; aber bis er sein Freiheitsbier gefeiert hatte — mit dem
Manne getrunken und gegessen hatte, der ihn befreite - galt er
im sozialen Sinne nicht als aus seiner Abhängigkeit gelöst.
Dem modernen Scharfsinn hat es unendliche Schwierigkeiten
gekostet, diesen Überfluß an Formen zu begreifen, und man hat
sich den K opf bei der Frage zerbrochen, was der Handschuh zu
tun hatte, da doch der Besitz vom skeytin g abhing, und wozu
dieser letzte wohl diente, da das Vadium allein genügte, und man

96
hat mit den verschiedenen Symbolen gerungen wie mit einem
Vexierspiel, das in einer künstlichen Anordnung seine Lösung
finden sollte. Dieselbe Schwierigkeit findet sich beinahe überall
im Leben der Alten: Namengebung und Namenbefestigung, Ver­
lobung und Hochzeit, Brautgabe und Brautbier, jedes von ihnen
hat totale Gültigkeit, und doch vertragen sie sich ganz gut, sobald
sie außerhalb unserer gelehrten Köpfe wirken dürfen. Wir kön­
nen niemals dadurch zu einer Lösung gelangen, daß wir das
W irkungsfeld der einzelnen Handlung im Verhältnis zu den an­
deren begrenzen — ganz einfach, weil ihre Fähigkeit des Zusam­
menwirkens darauf beruht, daß sie alle in sich vollkommen sind
und daß deshalb jede ihr Gegenstück enthält. Das Vertrauen in
die einzelne Handlung muß dann als Gegengewicht so viel Ernst
haben, daß ein Bruch der rechten Reihenfolge von der Seite des
Urhebers der Störung eine Kränkung bedeutete und für den durch
die Katastrophe Betroffenen ein Unglück war, denn es war nicht
eine Möglichkeit, die zerstört wurde, sondern ein wirklicher K auf,
der gebrochen, und eine geistige Verbindung, die zerrissen wurde.

Zwei Gegner können in einem gemeinsamen Trünke den Streit


fortspülen, weil etwas Starkes in dem Horn ist, das alle Dis­
harmonie heilt und jeden Durst nach Rache stillt; und darüber
hinaus etwas, das ein neues Gefühl herstellt. Sie nehmen die gute
Gesinnung unmittelbar in sich auf. Deshalb muß das Gesetz
einem Mann das Recht verweigern, bei seinem Gegner Wieder­
gutmachung zu suchen, wenn er aus eigenem freien Willen Haus
und Kost mit ihm geteilt hat. Wie jedes andere Ding in der
Welt hat der Trunk sein besonderes Heil, einen konzentrier­
ten Auszug aus der Ham ingja, die zu dem Hause und der
Familie gehört. Wenn der Braut beim ersten Gang zur Tür
ihres neuen Heims, beim ersten Überschreiten der Türschwelle
eine Kostprobe von der Speise und dem Trank gereicht wurde,
die dort zubereitet wurden - wie es die Sitte in späteren Zeiten
verlangte - , dann geschah es, um sie einzuweihen und aufzu­
nehmen in den Geist, der dort herrschte, und damit sie mit dem
Heim eines Sinnes werden sollte. In Schweden, und möglicher­
weise auch anderswo, genügte es nicht, daß Braut und Bräutigam
den Hochzeitsbecher mit ihren Verwandten zusammen im Braut­
haus leerten: nachdem die Braut ihrem Gatten übergeben worden
war, begab die ganze Gesellschaft sich zusammen zu dem H aus

97
des Gatten und feierte dort eine Hochzeit. An dem ersten
O rt wurde die Übereinkunft von allen, die es anging, durch
Trunk gefestigt; an dem zweiten wurde das Brautpaar zu seinem
neuen Dasein eingeweiht.
Es liegt im Wesen des Trunkes, daß er in bezug auf einige
Dinge Vergessenheit brachte und in bezug auf andere ein um so
besseres Gedächtnis; in dem stärksten Bräu assimilierte er den
Trinker mit sich und löschte seine Vergangenheit dermaßen aus,
daß er ein neuer Mann wurde; er brachte die Vergessenheit, die
die Tatsachen stehen lassen mag, aber ihr Licht, ihren Schatten
und ihre Wirklichkeit wegnimmt. So geschah es mit Sigurd, als
die Königin ihm in Gjukis H alle das Horn reichte: sobald er
das Bier gekostet hatte, vergaß er Brynhild und alle seine Ver­
sprechungen an sie, er dachte nur daran, daß Gudrun eine pracht­
volle Frau und ihre Brüder so wacker seien. Der Inhalt des Horns
ist ein Erinnerungstrank, wenn er die Seele aufwecken soll, und ein
Vergessenheitstrank, wenn er die Vergangenheit verschließen soll;
das Bier ist in beiden Fällen dasselbe, und sein Hauptbestandteil
ist der unverfälschte starke Hausbräu. Die Geschichte von Hedins
Bezauberung, als er die Königin Högnis, seines Blutsbruders, tötet
und seine Tochter entführt, braucht keine weitere Erklärung als
die einfache und glaubwürdige, daß er einmal im W alde einer
Frau begegnet war, die ihm aus einem „H orn voll Bier“ zu trin­
ken gab, und daß er, als er getrunken hatte, sich an nichts aus
seiner Vergangenheit erinnerte, an nichts davon, daß er Högnis
Gastfreundschaft empfangen hatte oder sein Blutsbruder gewor­
den war, sondern nur den einen Gedanken hatte, daß die R at­
schläge, die ihm die Bierbringerin gab, die einzigen in der Welt
waren, die ihm etwas bedeuteten, und denen er folgen mußte.
In der dänischen Ballade von Herrn Bösmers Besuch im Elfen­
land hat noch die Wirklichkeit Gültigkeit, daß der Trunk, kraft
seines Ursprungs, eine gewisse Ehre und ein gewisses Schicksal,
besondere Erinnerungen und besondere Zwecke enthielt, die von
selbst alles andere vertrieben. Der symmetrische Stil des Volks­
liedes formt sich hier, als wäre er um dieses Thema gegossen;
bevor er den Elfentrank gekostet hat, weiß er:
„In Dänemark bin ich gebürtig und geboren,
dort wurden meine Hofkleider alle geschoren,
dort ist meine Braut, eine Jungfer fein,
mit ihr will im Leben und T od ich sein.“

98
Und er fühlt das Unheilvolle in seiner Reise. Aber in dem Augen­
blick, wo er getrunken hat, kehren alle die kleinen Worte sich um:
„Im Elfenland bin ich gebürtig und geboren,
und dort wurden alle meine Kleider geschoren,
und hier steht Ihr, meine Braut so fein,
mit Euch will im Leben und Tod ich sein.“
Es geht ihm wie Sigurd; als
„den Becher er hob an den Mund und trank,
die ganze Welt um ihn versank,
Vater und Mutter vergaß er so sehr,
von Schwestern und Brüdern er wußte nichts mehr.“
Zwei kleine Elfenkörnchen in den Wein getan, um die Wirkung
des Horns zu steigern — weiter war nichts Ungewöhnliches ge­
schehen, und diese Körnchen sind zu guter Letzt nur eine Be­
tonung der Tatsache, daß der Trank die Naturerzeugnisse des
Elfenlandes enthält.
Das Bier, das Sigurd und Hedin hinunterstürzten, war im
wahren Sinne ein Zaubertrank, denn es war böse und führte
Böses mit sich. Beide kommen zur Besinnung, und ihr Gedächt­
nis findet den Weg zu ihrem früheren Wesen, aber sie können
nicht ihr früheres Ich wiedererlangen. Sie haben keinen Willen,
diesen Zustand zu überwinden, und ohne Zögern schreiten sie
auf dem Wege weiter, den der Trunk ihnen gezeigt hat, die
Konsequenz ihrer neuen N atur anerkennend, wie einer das an­
erkennt, was die Begründung eines ganzen Lebens besitzt. Sigurds
Treue zu seinen Schwägern ist nach seinem Aufwachen nicht
gelockert, und Hedins Schmerz über das Unrecht, das er seinem
Blutsbruder angetan hat, ist nicht Reue im modernen Sinne; es
kann ihn dazu bringen, Wiedergutmachung anzubieten, aber
wenn sein Angebot abgelehnt wird, hat er keinen anderen Aus­
weg, als sich zu behaupten. Der einzige Weg für ihn, sich vor der
Neidingschaft zu retten, ist, seinen jetzigen Charakter durchzu­
führen und ihn zu seiner Ehre zu machen, genau so wie die Be­
sitzer von Tyrfing das düstre Schicksal dieser Waffe als eigenen
Willen annehmen müssen. Die Stärke, die tragische Größe dieser
alten Helden liegt in der Aufrichtigkeit ihrer Seele. Sie versuchen
nie, gleichzeitig zwei Männer zu sein, und so kennen sie nie die
innere Disharmonie, die moderne Menschen verzehrt, wenn sie

99
sidi selbst für das, was sie sind, verachten und sich nach dem
sehnen, was sie nicht sein können - und auf diese Weise nie zur
T ragik gelangen.
Das im Hause gebraute Bier war ein Lebenselixier, das auf
dem H of des Bauern und am H ofe des Königs unmerklich T ag
für T ag die Seelen schuf. In ihm wurde der Friede geboren.
Wenn ein Mann allein im fremden Lande oder an Bord eines
Schiffes starb, war es natürlich, seinen Tischgenossen zum Erben
zu ernennen, nicht weil eine solche Genossenschaft den Charak­
ter von Verwandtschaft hatte, sondern weil das gemeinsame Essen
der innerste Kern der Sippe und überhaupt jedes Kreises war,
dessen Zusammengehörigkeit gleicher Art war wie die des Ver­
wandtenkreises. Ohne eine ständig wiederholte Erneuerung des
Seelenfriedens durch die Speise und besonders durch den Trank,
der mit dem eigenen Heil des Hauses gesättigt ist, würden sich
die Bande lockern und der einzelne verdorren. Wir hören, daß
niemand entmündigt werden konnte, solange er „biertüchtig“ und
„roßtüchtig“ war, solange er den Becher leeren und sich unter
fremden Menschen allein, ohne H ilfe, bewegen konnte. Dies be­
weist eine Gleichwertigkeit zwischen den beiden Begriffen, die
jetzt nicht mehr einleuchtend ist. „Im Metsitz sitzen“ bedeutet:
noch unter den Lebenden sein, und dieser Ausdruck enthält keine
dichterische Freiheit.
Speise und Trank können, nein, müssen das Kennzeichen sein,
wodurch sich das Leben vom T od unterscheidet. Wenn der Aus­
gestoßene in einem fremden Hause einen Platz auf der Bank er­
halten hat und ein neuer Mensch mit neuem Leben und neuen
Gedanken wird, ist die Verwandlung nicht bildlich geschehen:
er hat körperlich ein Heil empfangen und aufgenommen. Und
wenn das Kind Nahrung zu sich genommen hatte, war es gegen
Aussetzung gesichert, ganz einfach, weil es Wirklichkeit einge­
sogen hatte und damit ein unverletzbarer Wert geworden war.
Es hatte „Frieden“ gekostet und war dadurch in der Ehre ver­
sichert, so daß nun nicht einmal seine Eltern Macht darüber
besaßen. Es gibt eine Geschichte aus Friesland von einer hochge­
borenen Frau, die das Kind ihres Sohnes aus Zorn darüber aus­
setzen ließ, daß ihm nur Töchter geboren wurden. Als sie er­
fuhr, daß eine andere Frau das kleine Wesen an sich genommen
hatte, schickte sie Männer aus mit dem strengsten Befehl, das
K ind sollte aus der Welt gebracht werden; aber die Männer

100
kamen zu spät; das Kind lag da und leckte wohlgefällig seine
Lippen nach der Mahlzeit - und sie mußten unverrichteter Dinge
zu ihrer gestrengen H ausfrau zurückkehren.
Andererseits steigert sich der Ausschluß aus der Tischgemein­
schaft zum Todesurteil über den Friedlosen. Wenn der Staat
einen Neiding óoell erklärt, wie es auf Island genannt wird, das
heißt jemand, vor dem jedermanns H and und Vorratsschrank
verschlossen bleiben soll, dann bedeutet das, daß es für ihn keine
Fortdauer der Menschlichkeit gibt: das Leben darf nicht mehr in
ihn hineinströmen.

Wenn wir so weit gekommen sind, suchen wir unwillkürlich


nach einem feierlichen Brauch. Obwohl uns die Quellen hier wie
beinahe überall, wo es sich um alltägliche, selbstverständliche
Dinge handelt, so ziemlich im Stich lassen, wissen wir doch eines:
ebenso wie das Heil und die Ehre ihre Lebensfunktionen durch
das Kleinod ausübten, müssen auch die Mahlzeit und das Zusam­
mensein nach dem Essen, wenn der Trunk herumgereicht wurde,
ihre Formen gehabt haben, durch welche das tiefe Atemholen des
Friedens sichtbar wurde. Ein bedeutungsvoller Einblick in das
Leben auf einem Bauernhof wird uns in der kleinen Bestimmung
im Frostathingsgesetz gegeben, daß „die Schalen, mit denen die
Frauen einander über die Diele zutrinken, an die Töchter ver­
erbt werden“ . Am H ofe des Königs, wo der Mann mit dem Heil
des Häuptlings verknüpft und von seinem Willen durchsäuert
war, „durch Gabe und Bier“ , wie der Beowulf sagt, ging die
Königin zur Trinkstunde mit dem Horn in der Hand durch die
H alle und bot es an ringsum auf allen Bänken, nachdem sie
zuerst ihren Gatten hatte trinken lassen. Dies tat die Königin
offenbar sowohl alltags wie an den Festtagen, gleichviel ob ihr
H erz sie besonders dazu trieb oder nicht. Die Männer forderten
diese Bedienung als ihr Recht. „So gut gefällt uns, König Gari-
bald, deine Tochter, daß wir gern einen Vorgeschmack des
Glückes haben möchten, das unser wartet; so laß sie denn, Lieber,
uns jetzt einen Becher reichen, wie sie ihn uns später zutragen
w ird“ ; so spricht mit unschuldiger Unmittelbarkeit die kleine
Schar der Gesandten König Autharis, als sie sich auf den Bänken
König Garibalds ausruhten, nachdem sie seine Einwilligung zu
der H eirat des Mädchens mit ihrem Herrn erworben hatten. Der
wirkliche Sprecher war aber König Authari selbst, der sich aus

101
Neugierde als einer seiner eigenen Gefolgsmannen verkleidet
hatte und jetzt den alten Brauch ausnutzte, um sich seiner Ver­
lobten zu nähern. - D a aber die Formen, die das Gefolge des
Königs beobachtete, nur eine verstärkte Abbildung der häuslichen
Sitten waren, können wir vermuten, daß ein solches geistiges Die­
nen zu den Pflichten einer germanischen Hausfrau gehörte und ihre
wesentliche Leistung als Weberin des Friedens war. Der Saga­
erzähler findet keinen Ausdruck, der so unzweideutig Brynhilds
Mannhaftigkeit bezeugt, wie diesen, daß sie keinem Mann er­
lauben will, neben ihr Platz zu nehmen und daß sie keinem den
Biertrunk reichen will; ihr Sinn steht nach Krieg und nicht nach
Ehe.
Die alten Schilderungen des festlichen Mahles gehen mehr in die
Einzelheiten, besonders bei solchen Gelegenheiten, die eine Ver­
änderung im Leben der Teilnehmer mit sich führten. Das Fest
beginnt außerhalb des Hauses, wo ein feierlicher Trunk die Gäste
bei ihrer Ankunft erwartet. Die Hochzeitsgebräuche späterer Zei­
ten in Norwegen zeigen dieses Ritual in eindrucksvollen Formen.
Die Männer versammeln sich im H ofe des Bräutigams, um dort
die Freundschaft durch tüchtiges gemeinsames Essen und Trinken
zu bestärken. D arauf ziehen sie unter Lärmen und Schreien in
wildem Lauf zu dem Brauthause, und wenn sie sich dem O rt
nähern, schicken sie zwei Herolde voraus, die um Nachtquartier
bitten sollen. Als Antwort auf ihre Anfrage werden ihnen einige
Schalen Bier gereicht, die der wartenden Gesellschaft gebracht
werden, und erst wenn dieser Biergruß sie in die große Gemein­
schaft einverleibt hat, die sie erwartet, reiten sie heran und sitzen
ab. Dieses Bild aus dem Leben des 18. Jahrhunderts beweist seine
Ehrwürdigkeit durch die Übereinstimmung in jeder Einzelheit mit
den zerstreuten Andeutungen, die einen Weg in die schwedischen
Gaugesetze gefunden haben. Nach ihnen sollten auch zwei Männer
aus der Gruppe des Bräutigams bei der Ankunft im Brauthause
den Herrn des Hauses um Frieden für sich und ihre Begleiter
bitten; und wenn dieser gegenseitig vereinbart und die Waffen
abgelegt worden waren, fand das erste gemeinsame Trinken statt
als Einleitung zu der formellen Forderung des Sprechers auf Aus­
lieferung der Braut.
Gleichviel ob der Einweihungstrunk im Freien oder im Hause
geboten wurde, konnte der Gast ihm nicht entgehen. Wie wir in
der H ym iskvida hören, wurde der Gott bei seinem Besuch in

102
Jötunheim bei seinen Gesippen mütterlicherseits in der H alle von
seiner goldgeschmückten Verwandten mit dem Bierhorn emp­
fangen. Und der Mann, der in O laf Kyrris H alle Gast gewesen
ist, ruft seinen Willkommsgruß mit demselben Bild in seine Erin­
nerung zurück: „Der Kam pffürst grüßte mich zum Willkomm mit
freundlicher Gesinnung, der Rabenfütterer, der Ringverschwender
trat mir selbst entgegen mit einem goldenen Horn, um mit mir zu
trinken.“ Ein byzantinischer Schriftsteller aus dem 6. Jahrhundert,
Priskos, hat in den Erinnerungen an seine Gesandtenreise an den
H o f Attilas die Prüfungen beschrieben, die ein gebildeter Mensch
um seines Vaterlands willen durchmachen mußte. Diese Barbaren
hätten natürlich die merkwürdigsten Sitten, und das Schlimme
war, daß man auf ihre Absonderlichkeiten eingehen mußte, wenn
man hoffen wollte, irgend etwas zu erreichen. Er wurde eines
Tages zu einem privaten Gastmahl bei der Königin eingeladen,
und gleich wurde er von einem umständlichen skythischen Zere­
moniell überwältigt; jeder der Anwesenden erhob sich beim Ein­
tritt der Griechen und bot ihnen einen gefüllten Becher dar, und
nach dieser Leistung wurden sie von den lieben Gastgebern mit
Umarmungen und Küssen belohnt. Nach allem zu schließen, ist
Attilas H o f mehr als halb germanisiert gewesen, und Priskos hat
in dieser skythischen Gastmahlssitte eine Probe bekommen, was es
heißen wollte, nach gotischer Art zu leben.
Es besteht kein Wesensunterschied zwischen diesen alten A uf­
tritten aus dem Süden und Norden einerseits und den einfach
großzügigen Formen der schwedischen und norwegischen Bauern
andererseits, wo der Wirt mit dem „W illkomm“ in seiner H and
auf die Stufen hinaustritt, der vielleicht in einer Schale enthalten
ist, die besonders für diesen Zweck aufbewahrt wurde. Und die
Sitte in Dithmarschen fügt sich wiederum dem Ganzen ein, bei­
nahe wie ein ausführlicher Kommentar zu den alten Andeutungen.
Hier geht die Mutter des Hauses, wenn der Gast die erste M ahl­
zeit mit seinen Wirten geteilt hat, zu ihm hin und begrüßt ihn in
feierlichen, altherkömmlichen Formeln mit frischem Bier in frischer,
neuer Schale; ihr folgen auf dieselbe Weise die Söhne und Töchter,
und schließlich zeigt das Gesinde ihm seine gastliche Gesinnung.
Diese Zeremonien beziehen sich in hohem Grade auf den Gast,
der nicht selbst zu der Gemeinschaft gehört und der deshalb erst
in ihr Leben aufgenommen werden soll; aber in den allgemeineren
Zügen sind die Formen, die bei einem Gastmahl beobachtet werden,

103
nur eine Betonung und Anpassung dessen, was immer verlangt
wurde. Die Sitten bei den hohen Festen lehren uns, in welchem
Grade die Formen für Tischgemeinschaft alles Beisammensein der
Menschen beherrschten.

Langsam und stetig zieht das Leben unserer Vorfahren vorüber;


wir finden vielleicht den Schritt verzweifelt langsam. Es scheint
uns, daß diese Menschen festsitzen und in einem Gewebe von
Formen hängen. Zögernd, zaudernd, immer abwägend und über­
legend bewegen sie sich: denn die Rücksicht auf die Wirkung, die
jede T at auf eine unermeßliche Zukunft ausüben mag, macht jeden
Schritt zu einer ernsten Angelegenheit. Es besteht keine Möglich­
keit, den Brauch zu durchbrechen; ohne diese Formen und Ge­
bräuche gibt es überhaupt keinen Verkehr zwischen Menschen,
immer wieder müssen die Menschen sie anwenden, um sich gegen­
seitig in Gedanken zu finden. Sogar die allerflüchtigste Begegnung
setzt bis zu einem gewissen Grade Bund und Bündnis voraus —
nicht ohne Grund erforderte die Sitte bei Wirt und Gast eine so
große Zurückhaltung, daß sie tagelang bewirteten und sich bewir­
ten ließen, bevor sie ihr Geschäft Vorbringen konnten. Wenn eine
erste Bekanntschaft so weitreichende Folgen wie die haben konnte,
daß der Wirt die Sache seines Gastes auf nehmen und sie gegen
seine Neigungen wie seine eigene verfolgen mußte, ja sogar auch
dann, wenn dieses neue Interesse seinen früheren Verpflichtungen
so sehr entgegenlief, daß Witz und Heil nottaten, um eine K ata­
strophe zu vermeiden - dann müssen eben Bedächtigkeit und
diplomatisches Geschick im Volke großgezogen werden.
Nun werden wir vielleicht staunen, wenn wir entdecken, daß
diese Vorsicht eine Gegenseite mit ebenso ausgesprochenen Zügen
hat.
Nicht genug damit, daß der Wirt in der Gewalt seines Gastes
ist - zu guter Letzt ist jeder von dem ersten besten Reisenden
abhängig. Der Gast ist der stärkere; er kann sich mit Gewalt
Zutritt erzwingen und die Freundschaft eines Mannes an sich
reißen; er kann sich mit List einen Anteil vom Heil des Hauses
erschleichen, und dann nimmt die H am ingja sich selbst seiner
Sache an, zwingt sie mit dem Pulsschlag in die menschlichen Ver­
treter hinein und treibt diese dorthin, wohin sie nicht wollen. 1st
der Gast erst innerhalb der Tür, so braucht er sich nicht zu
bücken und seine Anwesenheit demütig in der dunkelsten Ecke zu

104
verbergen, noch weniger in geborgten Kleidern umherzuschleidicn;
er hält seine Sache keck ans Licht und fragt seine Wirtsleute,
wann sie denn nun eine Anstrengung machen wollen, um ihm zu
seinem Rechte zu verhelfen. Die Macht des Gastes ist so groß, daß
er auf die Bande der Gastfreundschaft hinweisen kann, auch wenn
er sich in die Gewalt des Mannes begibt, den er gekränkt hat. Es
ist eine Schande für einen Mann, demjenigen Böses anzutun, der
sich ihm ausgeliefert hat - mit diesen Worten leitet er seine
Bitte ein.
Es gibt eine bemerkenswerte Geschichte von dem jungen lango-
bardischen Fürsten Alboin. Um die Auszeichnung unter Fremden
zu gewinnen, die für einen Mann zur Erreichung des vollen An­
sehens im eigenen Heim erforderlich war, zog er kurz entschlossen
mit einem auserwählten Gefolge zum König der Gepiden, Thu-
risind, dem er kurz vorher in einer Schlacht einen seiner Söhne
geraubt hatte. Als Gast von höchster Geburt wurde ihm ein Platz
auf dem leeren Sitz neben dem König angeboten, und die Mahl­
zeit begann, wie es sich geziemte. Thurisind schwieg lange, und
alle nahmen sich wohl in acht, ihre Gedanken zu äußern; als aber
der König plötzlich ausrief: „M it frohen Augen betrachte ich den
Sitz da, aber schwer ist es, diesen Mann darin sitzen zu sehen“ ,
geriet die H alle in Aufruhr. Die Gepiden verhöhnten ihre Gäste
und nannten sie Stuten mit weißen Socken nach den weißen Bän­
dern, die sie um ihre Beine trugen. Die Langobarden fragten, ob
sie bei Asfeld gekämpft und gesehen hätten, wie die Stuten mit
ihren H ufen treten könnten, und die Gepiden hatten plötzlich
mehr Erinnerungen, als sie meistern konnten. Aber der König
sprang zwischen sie und warnte und bedrohte jeden, der es wagte,
Gottes Langmut zu versuchen und einen Gast in seinem Hause
niederzuhauen. Die Männer beruhigten sich, und das Fest wurde
„m it Freuden“ fortgesetzt. Thurisind nahm die Waffen seines
Sohnes von dem Platze herunter, wo sie hingen, und legte sie
selber Alboin an.
Hier sieht man die Gastfreundschaft im Streit mit großen und
mächtigen Gefühlen, und sie trägt den Sieg davon.
Die Vorsicht war groß, aber die Gastfreundschaft war größer.
Der Reisende war immer sicher, empfangen zu werden. Tacitus
gibt seinen Lesern den Eindruck, daß der Tisch gedeckt wird,
sobald bloß der Schatten eines Fremden in die Türöffnung fällt,
und er hat recht, wenn er es als ganz sicher hinstellt, daß niemand

105
au f eine Einladung zu warten brauchte. „Es ist Neidwerk, jeman­
dem Unterkunft zu verweigern“ , sagt eine volkstümliche Redens­
art in Norwegen; und wenn der W irt Gastfreiheit gewährt hat, ist
er sofort in die Schwierigkeiten des Gastes verwickelt. Unüberlegt
würden wir jene Isländer nennen, die den verfolgten Mann bei­
nahe ins Haus ziehen, wenn er eines Abends an die T ür klopft wie
einer, der es eilig hat, unter Dach zu kommen; im Widerspruch
zu ihrer eigenen Meinung über ihn riskieren sie Leben und Wohl­
fahrt, um den Mann offen und geheim zu beschützen; mit einer
Empfehlung schicken sie ihn zu ihren Freunden und Verwandten,
damit sie für ihn sorgen. Aber schon Cäsar hatte Männer ge­
troffen, die den Isländern ähnlich waren, und er hat uns seine
Einsicht in ihre Vorstellungen von Gastfreundschaft offenbart,
indem er einfach sagt: „Diese Leute betrachten es als eine Schande,
einen Gast zu kränken. Wer er auch sein mag und welche Gründe
ihn auch veranlassen, die Gastfreundschaft anderer zu suchen, sie
beschützen ihn gegen Unrecht. Er ist heilig; alle Häuser stehen
ihm offen, und das Essen steht für ihn bereit.“
Erst wenn wir die Gegensätze bis in ihre äußersten Konsequen­
zen durchleben, können wir an der Harmonie teilhaben, in der
diese Kultur ruht. Alles, was ein Mann ist, muß er ganz sein,
innerhalb eines Heils oder außerhalb von ihm — es gibt keine
tangierende Zwischenlage. Wenn ein Mann seinem Nachbar gegen­
übersteht, muß einer von zwei Fällen eintreffen; entweder wirft
man ihm Worte zu über eine tiefe, bodenlose Kluft, und die Worte
werden dann notwendigerweise Waffen, oder die beiden mischen
den Sinn, und die Worte werden willige Boten des Wohlwollens.
Der Gast, der die Kost des Hauses geschmeckt hat, ist wirklich
innerhalb der Seele, denn ein Besuchender, der sich nicht ganz
vom Heil des Hauses verschlingen läßt, ist undenkbar, weil keine
Familie einen solchen toten Fleck innerhalb ihres Organismus
dulden könnte.
Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich zu späteren Zeiten
bei allem, was von einem Hause aus verübt wird, an den H aus­
herrn hält, ist nur ein schwacher Ausdruck für das persönliche
Gefühl des Wirtes, daß die Taten des Gastes seinem eigenen
Willen entsprungen sind, oder mit anderen Worten, daß sie die
eines Verwandten seien. Er muß den Gast mit seiner äußersten
Kraft beschützen, weil das Unglück des Fremden das ganze Haus
mit sich zu Fall ziehen würde.

106
Prokop erzählt von Thurisind, dem König der Gepiden, daß er
einmal vom Kaiser von Byzanz in Versuchung geführt wurde,
einen fremden Thronforderer auszuliefern, den das Schicksal dazu
gebracht hatte, in dem Volke Zuflucht zu suchen. Als weitgereister
Mann, der die fremden Sitten der zivilisierten Nationen kennen­
gelernt hatte, war er imstande zu verstehen, daß die altmodisdien
Regeln der Moral im Falle von politischen Verwicklungen nicht
genügten, und er versuchte seinem Volke begreiflich zu machen,
daß eine Übereinkunft, die man mit etwas zahlte, was man nicht
besaß, reiner Profit wäre. Aber durch die Worte des ausländischen
Historikers klingt noch deutlich die Ablehnung des Volkes: „D as
sei uns fern! Besser wäre es, wir gingen mit Frauen und Kindern
zugrunde!“ Gegen den altertümlichen Doktrinarismus des Volkes
vermag die Aufgeklärtheit des Königs nichts - er ist genötigt, die
Angelegenheit mit dem Gegner unter der H and zu erledigen und
Schleichwege zu gehen, wie es der Fortschritt oft tun muß, um
sich in der Welt durchzusetzen.
Was wir Form nennen, war die Wirklichkeit selbst. Der Verkehr
der Alten untereinander fand nicht unter gewissen Formen statt,
sondern geschah in ihnen; sie lebten das Leben selbst mit dem
langsam kreisenden Trinkhorn, sie teilten ihren Sinn, wenn sie
miteinander Brüderschaft tranken, sie tauschten in dem Becher
fließende Gedanken aus, so wie sie beflügelte Gedanken in ihren
Worten austauschten; sie kosteten die Ehre und die Erinnerungen
des Hauses mit seiner Speise, genossen gleichzeitig als Augenweide
die Erbstücke und Siegeszeichen der H alle und zogen die Atmo­
sphäre der Sippe mit dem Atem ein. Es war ein Erlebnis, das
keinem anderen ähnlich sah, die Waffen anzufassen, wenn sie in
der H and so schwer von Seele waren, daß sie den Besitzer zwan­
gen, den Mund aufzutun und zu sagen: „Diese Brünne trug
H eorogar während eines langen Lebens“ , „dieses Schwert gehörte
meinem Großvater Jökul und den alten Vatsdoelamännern vor
ihm, und es gab ihnen Sieg.“ Es war ein einzigartiges Gefühl,
einen Wertgegenstand zu besitzen, wenn seine N atur dermaßen
Schicksal, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war, daß die
Gabe nicht nur die Seele des Empfängers erschütterte, sondern ihn
zu einem Gedicht auf den Geber inspirierte.
Die feierlichen Gebräuche sind der Strom des Lebens selbst und
keine einengenden Ufer, an denen das Leben sich im Vorbei­
fließen reibt. Sie sind ehrwürdig, weil sie notwendig sind, sie sind

107
notwendig, weil sie ihr Dasein nur der Tatsache verdanken, daß
die Menschen dem Drang des Lebens nach Entwicklung keinen
Widerstand entgegenstellen. Leben heißt: mit der Sonne gehen,
mit dem Mond wachsen und wachsen lassen, den Brauch halten,
durch den die Verwandtschaft mit N atur und Menschen gestärkt
und erneuert wird, durch den die Sonne in ihrer Bahn gehalten
wird und Erde und Himmel in ihrer Jugend und Stärke bewahrt
bleiben; Ehre und Heil gewinnen, dem Kind seine Namensgabe
geben, den Becher der Verbrüderung trinken — das heißt leben!
Es sind die Formen, die Lebendige von Toten unterscheiden. Man
kann einem Geächteten nicht verbieten zu essen, und man denkt
nicht daran, ihn jeder Nahrung zu berauben, aber von der wirk­
lichen Speise, von derjenigen, die Freude und Gedanken mit sich
bringt, ist er ausgeschlossen. Er ist aus den Formen in die Form­
losigkeit hinausgestoßen.

108
Heiligkeit

Das Kleinod und der Mensch sind eins; aber der Mensch hat
seine Zeit, und wenn die vorüber ist, löst ein anderer ihn ab; das
Kleinod bleibt und gibt das Heil weiter an seinen Nachfolger. Der
Mensch erscheint an seinem bestimmten T age; kraft seines Heils
geht er seinen Weg in das andere Dasein hinüber; aber er nimmt
nicht den ganzen Inhalt mit sich; ein Teil, und zwar kein un­
wichtiger Teil, bleibt in den Dingen, die er hinterläßt, dort er­
warten sie den Mann, der ihm nadifolgen soll. Mit gutem Recht
können daher Waffen, Kleider, Haushaltungsgegenstände Träger
des Lebens genannt werden; das Schwert ist nicht nur ein blei­
bendes Ding, es ist ein Born des Lebens, aus dem ein Mann den
V orrat in sich erneuern, aus dem er Kraft vom „Ursprung“ schöp­
fen kann. Der Siedler hieb seine A xt in den neuen Boden, um
sein Eigentumsrecht anzukündigen, und sie hat H am ingja genug,
um das ganze Land ihrem Willen zu unterwerfen, es ihrem Herrn
dienstbar zu machen und ihn gegen Eingriffe zu schützen. Das
norwegische Gesetz hat eine Erinnerung an das kräftige Verbot
bewahrt, das gegen unrechtmäßige Nutzung von Land dadurch
erlassen werden konnte, daß der Besitzer sein Zeichen (Gesetzes­
stab genannt) darauf setzte und es auf diese Weise gegen jedes
andere Heil absperrte. Oft zeigt die Waffe ihre innige Verbindung
mit der Familien-Hamingja, indem sie dem Besitzer Kenntnisse
verrät, von denen sein persönlicher Hugr nichts wußte. Das Schwert
weiß es im voraus, wenn Schlacht oder Tötung bevorsteht, und
verkündet laut sein Wissen. Die siegreiche Axt, Skrukke, sang
ihrem Herren, dem „mörderischen“ Steinar, immer laut und fröh­
lich vor, wenn der Kriegspfad sich vor ihm auftat, genau wie
Gunnars Hellebarde immer herannahende Geschehnisse mit Klang
begrüßte. Kleider lassen sich nicht leichtherzig bei unklugen
Unternehmungen tragen: Als Thorgils trotz des warnenden Er­
scheinens seiner Fylgja zu dem Gesetzesthing geritten war, sprach
sein Mantel warnende Verse, während er zum Trocknen an der
W and hing.

109
Ebenso ist das Vieh Teilhaber am H eil wie dessen Vermittler.
Im Schweinekoben war Heilung zu holen, sogar für eine so ernste
Krankheit wie Mangel an Traumgesichten. Als H alfdan der
Schwarze alle möglichen Kuren probiert hatte, um von seiner
Traumlosigkeit befreit zu werden, und alles fehlgeschlagen war,
stellte er sein Bett in den Schweinekoben hinaus, und sofort wurde
die herrliche Zukunft, die seinen Sohn erwartete, ihm offenbart.
Die schöpferische Kraft des Tieres kommt vor allem in gewissen
ausgezeichneten Exemplaren, den Kleinoden des Viehstandes, zum
Vorschein, nämlich in solchen Kühen, Ochsen, Pferden, denen der
Besitzer selbst Glauben schenkt. Wenn N ot herankam, hatte er
mehr Vertrauen zu ihnen als zu anderen, und er glaubte an ihren
Rat. Thorir, einer der ersten Ansiedler auf Island, baute seine
Zukunft auf seine Stute Skalm ; einen ganzen Herbst durch wan-
derte er wie ein Nomade in ihren Fußspuren umher, und auf der
Stelle, wo sie sich schließlich unter ihrer Last niederlegte, errichtete
er sein Heim. Schon zu Tacitus’ Zeiten gab es Stämme im Süden,
die die prophetischen Gaben des Pferdes als Staatsorakel aus­
nutzten; in kritischen Zeiten, wenn das Wohl des Volkes eine
Wahrsagung für die Zukunft erforderte, wurden die heiligen
Hengste des Priesters oder des Königs vor den heiligen Wagen
gespannt und feierlich vorwärtsgelenkt, bis ihr Wiehern und
Schnauben das erwartete Zeichen gab.
Als Vermittler zwischen dem Menschen und seinem Heil führten
solche Tiere und Kleinode das Leben aus den tiefen Gründen der
Ham ingja, in der es befestigt war, herauf. Aber dieser V orrat an
Ehre und Segen quoll auch durch andere Brunnen hervor, die sich
mitten im Hause weit auftaten. Man konnte neue Stärke und
neuen Willen holen, schon wenn man sich in den Hochsitz setzte;
der Brauch, einen Mann zu dem Hochsitz zu führen, bedeutete,
wenn es ein Fremder war, daß er in die Sippe, deren Mittelpunkt
der Hochsitz war, aufgenommen wurde, und wenn es der Sohn
des Hauses war, daß er die Herrschergewalt zugeteilt erhielt. Viel
ist von den Hochsitzpfeilern die Rede, den Stützen, die das Dach
über dem Sitz des Hausherrn trugen; in ihnen war Weisheit, so
daß sie, wenn der Siedler sie etwa kurz vor Island über Bord
w arf, vorausschwammen und einen Ort anzeigten, wo er mit Aus­
sicht auf Glück seinen neuen H o f errichten konnte. Wenn ein
Ingolf, ein Thorolf und außer ihnen eine Schar von Ungenannten
diese Pfeiler so sorgfältig mit sich an Bord nahmen und so gewissen-

110
haft ihre Anweisungen befolgten und ihre vorläufige Unterkunft
aufgaben, sobald die Neuigkeit von ihrer Auffindung eintraf, so
geschah es, weil dies H olz eine große Sicherheit der W ohlfahrt
gewährte. Der Raum, den diese Pfeiler begrenzten, enthielt den
Sitz des Familienoberhauptes und war von der H am ingja seines
Geschlechts erfüllt. Die Eigenheit, die mit Odins Hochsitz ver­
bunden war, war - daß man alles sah, wenn man sich hinein­
setzte —, sie war nur eine Steigerung der Weisheit und des Heils,
die mit dem Platz im Hochsitz immer verbunden war. Wenn der
Thronfolger von seinem Vater in den königlichen Sitz geführt
wurde, so wurde er in die Macht eingekleidet, und gleichzeitig
ging es ihm wie Saul, als Samuel sein H aupt mit ö l gesalbt hatte:
das Herz wandelte sich in ihm.
Auf ähnliche Art wohnte das Heil in den Herdbalken, den
Pfosten, die den Fußboden der Stube gegen den niedrigeren Mittel­
raum begrenzten, wo das Herdfeuer brannte. Diese konnten, wie
auch der Hochsitz, wenn sie über Bord geworfen wurden, einen
Weg übers Meer zeigen und den rechten Platz für eine Wohnung
finden; möglicherweise waren ihre geistigen Kräfte die Ursache,
daß Thorgest zuerst die Herdbalken Eriks des Roten borgte und
sich später weigerte, sie zurückzugeben, so daß Erik sie mit Waffen­
gewalt nehmen mußte.
Das ganze H aus ist von H am ingja durchdrungen, vom Dach bis
zu den Wurzelspitzen seiner Grundpfosten, sogar bis in die Koch­
töpfe hinein; es gibt keinen Winkel im Hause oder um das Haus,
der nicht von ihr erfüllt ist, von den Wetterfähnchen auf den
Giebeln, die das Wetter voraussagten, hinab bis zu dem Feuer
auf dem Herde, das auch unzweifelhaft durch sein Benehmen jede
nahende Veränderung des Glücks im voraus anzeigte. Wo das
Feuer hingetragen wurde, bahnte es der Sippe einen glücklichen
Weg, und auf diese Weise verpflanzten die ersten Siedler Islands
durch die Glut, die sie von dem alten Herde mitbrachten, ihr Heil
in das neue Land - ebenso wie ihre Vorfahren viele Generationen
hindurch den wilden Erdboden gebändigt und bezwungen haben
mochten. Wenn das Feuer auf einem fremden Grundbesitz an­
gezündet wurde und einen rechtmäßigen Anspruch auf den Boden
bezeugte, fraß es sich durch und durchbiß den Willen, der bislang
an dieser Stelle geherrscht hatte, es verzehrte dem früheren Be­
sitzer den Grund unter den Füßen. Ais Glum sich von den Schät­
zen seines Großvaters getrennt hatte, wurde er von seinen Fein­

111
den so in die Enge getrieben, daß er seinen Grund und Boden
verkaufen mußte. Aber im letzten Augenblick machte er einen
Versuch, dem Schicksal zu trotzen: am Ziehtage blieb er in seinem
Hochsitz sitzen, befahl, daß die H alle mit Tuch ausgeschlagen
werde wie zu einem Fest, und tat, als hörte er nicht, als die andern
ihn riefen. D a kam die Mutter des neuen Besitzers und grüßte ihn
mit den Worten: „Jetzt habe ich Feuer auf dem Grundstück an­
gezündet, und ich verlange, daß du mit all dem Deinigen fort­
gehst, denn das Land ist meinem Sohne geweiht.“ Nun begriff
Glum, daß sein Recht und sein Heil zu Ende waren, es hatte
keinen Zweck, gegen den Stachel zu locken, und mit einem bitte­
ren Wort erhob er sich und verließ den Ort.
Die Macht des Herdes wird sowohl in der gesetzlichen Sprache
wie in späteren Gebräuchen stark betont. Der Norweger stellte
als Bedingung für die rechtmäßige Übertragung eines Besitzes die
Entnahme von Erde von den Stellen im Hause, wo diese Macht
am stärksten war, und wenn er den Hochsitz und die Herdecken
erwähnt, können wir überzeugt sein, daß er innerhalb der T ü r­
schwelle nichts Heiligeres wußte. Die Möglichkeit ist auch nicht
ausgeschlossen, daß der Herd bei gewissen Stämmen, vielleicht
sogar in gewissen Familien, das Herz des Hauses war, ähnlich
wie in Norwegen der Hochsitz. Hier wie überall ist trotz aller
Gleichartigkeit ein Spielraum für den individuellen Charakter des
Heils gelassen.
Als der offene H erd in der Mitte des Hauses mit dem Schorn­
stein vertauscht wurde, da wurde die Heiligkeit auf den Schorn­
steinbalken übertragen, das Querstück, das von den beiden Seiten­
balken des Herdes getragen wurde; die dänische Volkssitte be­
trachtet diesen als die eigentliche Grundlage des Hauses, beim
Umzug wurde er sorgfältig fortgenommen und in der neuen Be­
hausung in die W and eingebaut.
Neben diesen natürlichen Zentren konnte das Heil einen eigenen
individuellen Hochsitz im Hause haben. Auf Thord Gellirs H ofe,
Hvamm, lag mitten in der Stube ein Stein, der kein gewöhnlicher
Felsblock war, denn auf ihm wurden große Schwüre abgelegt. Und
von dem Stein auf H vamm wenden die Gedanken sich leicht zu
dem Hause Völsungs. Es war nach der Sage um eine Eiche gebaut,
dergestalt, daß der Stamm das Rückgrat des Hauses bildete,
während die Blätter die H alle überschatteten, und es wird weiter
gesagt, daß der Stamm, der den Grundstock des Hauses bildete,

112
der Kinderbaum genannt wurde. Die Überlieferung berichtet fer­
ner, daß Odin als ein alter einäugiger Mann erschien und das
Schwert fest in den Stamm stieß, wobei er es dem Manne ver­
sprach, der es herauszuziehen vermöchte. In diesem Schwert, das
sich erst lockerte, als Sigmund an ihm seine Kraft erprobte, lag
das Schicksal des Geschlechts, das durch Sigurd den Drachentöter
berühmt geworden ist. Es ist möglich, daß diese Sage einmal ein
Teil einer Familienüberlieferung gewesen ist, aber gleichviel, ob
ein solches Haus existiert hat oder nicht, liegt für uns das Inter­
essante in der Tatsache, daß es skandinavischen Zuhörern keine
Schwierigkeit machte, die Tragweite dieser Geschichte zu fassen.
Die heiligen Gebräuche führen uns weiter hinaus; außerhalb
des Hauses konnte man einen Stein, einen W asserfall, eine Wiese,
einen Berg als das heiligste der heiligen Dinge bezeichnen, dem
der wahre Born alles Heils, aller Ehre, allen Friedens entströmte,
um durch die Adern der Verwandten weiterzufließen. Thorolfs
Familie hatte ihre geistige Heimat in dem Berg, der sich hinter dem
H ofe erhob, — H elgafell („der heilige Berg“) wurde er natürlich
genannt. Einer der Zeitgenossen Thorolfs, der Landnahmemann
Thorir Snepil, wohnte auf Lund, und er „verehrte den W ald“
(lund)’, ein anderer, Lodin, nahm Besitz vom Flatœtal bis zu den
Gunnsteinen, und er verehrte die Felsen dort. H rolf wohnte auf
Fors, und sein Sohn Thorstein verehrte den W asserfall (foss), und
alle Überreste vom H aushalt wurden in die Stromschnellen ge­
worfen.
H elgafell war vom täglichen Leben durch ein heiliges Schweigen
abgesondert; nichts, weder Mann noch Tier, durfte dort um­
kommen, kein Blut durfte fließen, keine Unsauberkeit ihre Flecke
hinterlassen. Aber es war nicht nur ein unverletzbarer O rt; es
war der Ort, wo das Heil zu holen war. Wenn es galt, die rechte
Entscheidung in einer schwierigen Sache zu treffen, wurde die
Besprechung an den heiligen Ort verlegt. Der Gode Snorri, der
spätere H err des Hofes, dessen „kalte“ weise Ratschläge berühmt
waren, wußte, daß Pläne, die auf H elgafell gemacht wurden,
größere Aussicht auf Gelingen hatten als alle anderen. Aus dem
W asserfall kam Erleuchtung über den Seher Thorstein Raudnef,
so daß er im Herbst immer sehen konnte, welche Stücke Vieh nicht
über den Winter leben würden und deshalb für das Schlachten
ausgesucht werden müßten. Diese Kraft der Heiligkeit ist dieselbe,
von welcher Tacitus bei den Südgermanen hat reden hören; in dem

113
Lande der Hermunduren war eine Salzquelle, wo die Götter zu
finden waren und wo die Wünsche der Mensdien erfüllt wurden.
Er weiß auch, daß die Bataver sich in einem heiligen H ain ver­
sammelten, um Pläne gegen die Römer zu schmieden, und wenn
die Versammlung, was nicht undenkbar ist, am heiligen Orte
selber stattgefunden hat, muß die Stelle aus demselben Grunde
gewählt worden sein, der den Goden Snorri veranlaßte, auf den
H elgafell hinaufzugehen.
A uf der Insel Fositesland, „die mittwegs zwischen den Dänen
und den Friesen liegt“ , fand der Missionar Willibrord ein H eilig­
tum. Ein glücklicher Zufall hat uns den Bericht über seine Erleb­
nisse in den wenigen Tagen, wo er sich dort aufhielt, erhalten,
und in der rein äußerlichen Beschreibung, die die christlichen
Beobachter geben konnten, zeigen sich deutlich dieselben beiden
Züge: der Segen der Quelle, die im H ain war —denn dort holten
die Einwohner ihr Wasser — und der Friede und der feierliche
Ernst, die die Wohnstätte des Heils bezeichneten. Die Tiere wei­
deten dort in heiliger Unverletzbarkeit, alles, was sich innerhalb
der Grenzen befand, lag ungestört auf seinem Platze, während die
Menschen kamen und gingen; die Leute gingen schweigend nach
der Quelle in der Mitte, schöpften Wasser und begaben sich
schweigend wieder fort. Wir erfahren auch, daß die Einwohner
überzeugt waren, der Ort habe die Macht, ohne menschliche Bei­
hilfe seine Heiligkeit zu behaupten; denn als die Missionare mit
ostentativer Gleichgültigkeit dort hineintrampelten, die Tiere
schlachteten und die Bekehrten in der Quelle tauften, erwarteten
die Einwohner, daß die Übertreter den Verstand verlieren oder
einen plötzlichen T od finden würden. Die Hoffnung der Fosites-
länder wurde diesmal getäuscht, einfach weil das Heil der Christen
zu stark war, um von dem alten Heiligtum beeinflußt zu werden;
aber die Heiligkeit behauptete sich später und zwang den Gott
der Christen, die Pflichten der alten Mächte zu erfüllen. Adam
von Bremen erzählt von einer Insel, Farria, wo die christlichen
Einsiedler ein gesegnetes Leben führten, unberührt von den stür­
mischen Zeiten rings um sie herum; sie bewahrten nicht nur ihr
irdisches Gut in Frieden, sondern empfingen sogar Besuche von
Seeräubern, die ihnen in tiefster Ehrfurcht den Zehnten von ihrem
Raub boten. Es waren natürlich Gott und die guten Heiligen, die
das Land beschützten und den unbesonnenen Wikingern Schiffsheil
und Schwertheil nahmen, so daß sie bald auf der See umkamen

114
oder in der Schlacht fielen, wenn sie den Frieden der kleinen
Insel durch den kleinsten Raubzug verletzt hatten; aber es ist
wohl kaum eine Beeinträchtigung der Ehre jener Erhabenen zu
vermuten, daß sie den Teufeln den Ort abgerungen hatten, oder
zu zeigen, daß es eben das Heil der alten Heidengötter war, das
sie hier gegen diese Götter selbst kehrten.
Wir können vermuten, daß die Sippe in schwierigen Zeiten,
wenn es darauf ankam, das Heil in die Verwandten fließen zu
lassen und gewaltig einen neuen Anfang ihres Lebens durchzu­
führen, nach dem Berg oder der Quelle zog und von dort Segen
empfing. Thord Gellir, ein Häuptling aus dem berühmten Ge­
schlecht, das auf H vamm saß, wurde, bevor er seine H äuptling­
schaft übernahm, in den Hügel hineingeführt, der für die Leute
auf H vam m der heilige Mittelpunkt war. Die alte Wendung, mit
welcher der Zweck eines solchen Besuches ausgedrückt wurde -
heimta heill, „H eil holen“ - wurde später auf den Gang des
Brautpaares zur Kirche nach der Hochzeit angewendet und hat
sich in dieser Form bis in unsere Tage gehalten. In Dithmarschen
geht man nicht in die Kirche, sondern auf den Friedhof, und dort
ist es die Braut, die von ihren Schwägerinnen zu dem heiligen
Ort geführt wird - als ob sie mit dem Mittelpunkt des Heims, zu
dem sie von jetzt ab gehört, bekannt gemacht werden sollte.

Im heiligen Ort, dem Speicher des Heils, war das Leben der
Verwandten verborgen, und während sie im Leben meist außer­
halb des Heiligtums gesehen wurden und wirkten, traten sie nach
dem Tode hinein und verschmolzen mit dem Heil. Der Land­
nahmemann Kraku-H reidar wählte denMceliberg als Aufenthalts­
ort nach seinem Dahinscheiden, Selthorir und seine heidnischen
Verwandten starben in die Thorirsfeisen (Thorisbjörg) hinein,
und Thorolf beabsichtigte, mit all seinen Verwandten in H elga­
fell zu enden. Aud, die isländische Stammutter des Geschlechts, das
auf H vam m wohnte, hatte während ihres Aufenthaltes auf den
britischen Inseln das Christentum empfangen, wo ihr Ehegatte,
König O laf der Weiße, ein Königreich errichtet hatte. Und als sie
sich nach dem Fall ihres Mannes auf Island niederließ, suchte sie
sich einen Hügel als Stätte ihrer Verehrung aus; dieser Ort behielt
für ihre heidnischen Nachkommen seine Bedeutung als der heilige
Ort des Hofes, und sie wählten den Hügel als ihre Ruhestätte
nach dem Tode. Wir wissen, daß Thorstein Dorschbeißer, als er

115
zu seinen Verwandten in den Berg Helgafell ging, nicht als Geist
zu einer immateriellen Geisterschar hineinschwebte; die V italität
der Versammlung machte einen starken Eindruck auf den Hirten,
der an jenem Abend von weitem zusah, wie sein Herr von seinen
verstorbenen Vorfahren willkommen geheißen wurde. Aber wir
brauchen nur aus dem, was wir wissen, ihre Persönlichkeit im Ver­
hältnis zu dem Leben zu betrachten, das sie beseelte, um zu ver­
stehen, daß die Verstorbenen nichtsdestoweniger als eine K raft im
Steine ruhten.
Uber das örtliche Verhältnis zwischen dem Sitz der Macht und
dem körperlichen Aufenthaltsort der Toten geben unsere Quellen
uns kaum genügend Aufklärung. So viel ist glaubhaft, daß die
Begräbnisstätte in der Regel mit der heiligen Stätte verbunden
war, gleichviel, ob die beiden nebeneinander lagen oder identisch
waren. Das Problem ist aber, vom Standpunkt des alten Denkens
aus betrachtet, von geringerer Wichtigkeit, als es in unserer Welt
sein würde. Äußerliche Zusammengehörigkeit ist, wie wir gesehen
haben, nur von geringer Bedeutung gegenüber der inneren Iden­
tität. Die beiden Regionen waren seelisch eins, wo sie auch lagen,
auf dieselbe Weise wie der tote Mann und seine Ham ingja, wie
die verschiedenen Kleinode, wie jeder Verwandter, ob aus Men­
schenstamm oder Tier oder Pflanze, identisch war mit allen
Individuen seiner Art in Midgard. Der Grabhügel wurde vé ge­
nannt — Weihestätte - , derselbe Name, der Ehrfurcht vor den
göttlichen Orten ausdrückte, weil er von gleicher Art war wie sie
und in derselben Beziehung zu dem Kreis von Menschen stand,
der in ihn hineinstarb. Jede Sippe hatte ihre eigene Ruhestätte,
und diese Abgesondertheit im Tode hat sich weit in die christliche
Zeit hinein gehalten, so daß die Friedhöfe oft topographische Ab­
bildungen der Dörfer wurden. Die Strenge, mit der das Gesetz
das heilige Recht der Sippe, ihre Toten in Frieden bewahren zu
dürfen, behauptete, wurzelt von Anfang an in etwas Tieferem als
der bloßen Scheu davor, die Gefühle der Lebendigen zu verletzen.
Wenn ein Sohn, der meinte, daß er von seinem Bruder ungerecht
behandelt worden sei, sich auf den Grabhügel seines Vaters setzte
und von dort aus sein Erbe und seinen gerechten Anteil forderte,
wählte er diesen Ort nicht der Aussicht wegen; der Sitz sollte
seiner Forderung Macht und Rechtmäßigkeit verleihen; die
H am ingja seines Vaters sollte durch ihn sprechen. Wir finden auch
die Spuren einer Macht von ähnlichem Charakter in der herkömm-

116
lichen Formel, in welcher man seine Vorfahren bis zu dem Ort
zurück aufzählte, an welchem sie begraben waren — „zurück zum
H ügel“ , wie es in der Rechtssprache hieß - , z. B. in einem Fall,
wo der ununterbrochene Besitz umstrittenen Landes bewiesen
werden sollte; und wenn jemand auf diesem Weg beweisen konnte,
daß die Toten, die in diesem Land ruhten, seine Vorfahren waren,
sprach der Boden sich ihm selbst als sein rechtmäßiger Besitz zu.

Im Hochsitz, im H ain, auf dem Berge stehen wir Angesicht zu


Angesicht mit einer Macht, die sich uns anscheinend noch nicht
aufgedrängt hat - der Heiligkeit; aber in Wirklichkeit haben wir
ihren Einfluß auf Schritt und T ritt gespürt. Sie ist das Heil in
seiner mächtigsten Form. Die Verbindung ist schon im Namen
enthalten, denn nordisch heilagr - heilig - und heill - gutes Glück
oder gutes Schicksal — sind sehr nahe verwandt. Formell gesehen
ist das eine aus dem anderen abgeleitet: heilagr ist das, in dem
heill wohnt; aber die formelle Beziehung zeigt nicht, daß der
Begriff des Adjektivs jünger als der des Substantivs sein muß. Wir
kommen der geistigen Verwandtschaft am nächsten, wenn wir
beide als sprachliche Ausdrücke des grundlegenden Gedankens be­
trachten, in welcher die germanische Kultur einst das innerste
Geheimnis des Lebens in einer Summe vereinigte; heill ist Mensch­
lichkeit, und heilagr ist menschlich im weitesten Sinne dieses
Wortes.
Heiligkeit ist der juristische Ausdruck für die Unverletzbarkeit
eines Mannes und für sein Recht, sich auf das Gesetz als seinen
Verbündeten zu berufen. Er ist „heilig“ , solange er sich keine
Blöße vor einem Gegner gegeben hat; wenn er als heilig er­
schlagen wird, steht sein Wert als Mann auf und entkräftet die
Verteidigung seines Töters. Unheilig sterben heißt, daß er durch
eigene Schuld das Schicksal herausgefordert hat, so daß sein Tod
sein eigener Fehler ist.
Das Zeichen, das den Mann vom abhängigen Individuum, das
nicht unabhängig handeln kann, unterscheidet, ist ausgedrückt mit
dem skandinavischen W ort manrthelg, das juristisch seine persön­
lichen Rechte und unmittelbar seine Heiligkeit als Mann bezeich­
net. Wenn ein Freigeborener in Knechtschaft gerät und seine Ver­
wandten ihn loszukaufen wünschen, müssen sie zu allererst
Mannhelg auf ihn legen - das heißt, das Recht eines freien Man­
nes fordern - und eine Lösesumme anbieten, worauf er das Recht

117
des freien Mannes auf volle Buße für jede Kränkung hat, die ihm
angetan wird. Zögern die Verwandten, so daß der Besitzer ver­
gebens auf die Lösesumme wartet, kann dieser seinem Knechte
doch nichts tun, bevor er auf dem Thing gewesen ist und erreicht
hat, daß sein Mannhelg von ihm genommen wird.
Diese juristische Heiligkeit beruht nicht auf einer gesellschaft­
lichen Übereinkunft, die ein für allemal festgelegt hat, daß der
Unschuldige unverletzbar sein soll, wie alle Rechtswerte ist sie in
einem Erlebnis gegründet. Das starke Heil, das ganz ist und ohne
Fehl, ist das, was den Mann stark und unverletzbar macht. Und
das Heilsein selbst enthält auf der anderen Seite auch eine Ver­
pflichtung; das Heil wird durch das geringste Gebrechen beschädigt;
ob dieses von innen kommt oder von außen, durch Schuld oder
durch eine Kränkung, kann höchstens einen Unterschied dem
Grade nach bedeuten. Es ist derselbe Geist, der den heiligen Mann
und den heiligen Ort beseelt. Wenn wir sehen, wie das Heiligtum
sich um einen Flüchtling zusammenschließt, während seine Ver­
folger draußen bleiben, ratlos oder höchstens entschlossen, den
Augenblick abzuwarten, wo er genötigt sein wird, sich von seinem
Zufluchtsort fortzuschleichen, denken wir vor allem mit Bewun­
derung an die Macht, die aufgeregte Gemüter so bezähmen und
sie Ehrfurcht oder sogar Furcht empfinden lassen kann. Aber in
Wirklichkeit haben die Verfolger einen besseren Grund, ihn dort
in Frieden zu lassen. Nicht nur die Unverletzbarkeit des Ortes,
sondern auch seine Gerechtigkeit geht auf den über, der sich in
seinen Frieden hineinpreßt; Heil ist Recht sowohl wie Macht, und
wer unter seinem Schutze steht, ist in jedem Fall der Überlegene.
Es war keineswegs mythologische Exzentrizität, die die Götter
veranlaßte, vorsichtig mit dem Fenriswolfe umzugehen, der auf
ihrem eigenen heiligen Boden unter ihrer Duldung groß geworden
war. Als sie an dem W olf Zeichen unheilvoller Neigungen be­
merkt hatten, wagten sie nicht, ihn zu töten, sondern banden ihn
fest an das Eingeweide der Erde. Sie wußten, daß sie in dem
W olf ihr eigenes Unheil großzogen, aber die Heiligkeit des Ortes
durchdrang ihn und konnte nicht fortgenommen werden - um zu
dem juristischen Ausdruck zurückzukehren. Andererseits ist die
Fülle des Heils ein vernichtendes Urteil über den, der außerstande
ist, den Segen aufzunehmen; wenn ein Neiding, in dem der Lebens­
faden feierlich zerrissen worden ist, sich in den heiligen Ort hin­
eindrängt, befleckt er die H am ingja durch seine Berührung, und

118
wenn das Heil gesund und stark ist, wird es ihn zurückstoßen.
Es hatte keinen Zweck für Glum aufzutrotzen, nachdem sein Sohn
Vigfus vom versammelten Gericht verurteilt und ausgestoßen
worden war. „Frey vergönnte ihm nicht, dort auf dem H ofe zu
verbleiben, weil dieser so große Heiligkeit besaß“ , heißt es in der
Saga.
Die Heiligkeit ist der eigentliche Lebenskern im Menschen, und
sie wurde dem Kinde an dem T age eingeimpft, wo es in Wahrheit
und im Geiste geboren wurde; wenn der Vater ein uneheliches
Kind anerkennt und ihm vollen Zutritt zur Sippe gewährt, heißt
es, daß er es heiligt. In den Kleinoden ist Heiligkeit, und nach
dem poetischen Sprachgebrauch, der in das Innerste sieht und die
Dinge nach ihrem wahren Wesen benennt, sind Vieh und Waften
einfach heilig. Heiligkeit ist der innerste Sinn des Eigentums­
rechts. Die besondere Einweihung, die aus einem H ain oder einem
Hügel ein Heiligtum machte, und die Bereitung des Landes durch
Feuer, wodurch es bewohnbar wurde, sind zwei Abstufungen des­
selben Aktes; vom H elgafell,oder wie der Mittelpunkt nun heißen
mochte, verbreitete die Heiligkeit sich ohne Unterbrechung, nur
in ständig schwächerem Grade, zu den fernsten Grenzen des
Landes. Das erste, was ein Siedler tat, war, das Land für sich
heilig zu machen; Thorolf, der Priesterhäuptling, weihte Thor
seinen Grund und Boden auf dieselbe Weise wie seinen Tempel.
Ein anderer unter den heiligen Häuptlingen, Thorhadd der Alte
von Drontheim, übertrug Mæris Heiligkeit auf seinen neuen
Grundbesitz; die Heiligkeit, die die Seele Mæris an der Dront-
heimer Förde gewesen war, nahm er von diesem Orte fort und
trug sie mit sich in seinen Hochsitzpfeilern und in der Erde, die
der Stelle entnommen war, wo die Pfeiler in der Erde gesteckt
hatten, und als er in sein neues Heim kam, führte er sie in seine
Ländereien an der Stödvarförde ein. Von der sozialen Seite ge­
sehen ist die T a t des Siedlers einfach ein Akt der Besitznahme,
weil das Wesen des Besitzes Identität zwischen dem Besitzer und
dem Eigentum war; daher kann das Wort helga, heiligen, gleich
gut für Besitznahme wie für die höhere Einweihung gebraucht
werden, durch welche die Menschen dem Tempel die letzte V oll­
endung gaben und ihn dem Gotte widmeten. Die Ham ingja, die
den Besitz zusammenhielt und ihn dem Manne dienstbar machte,
war dieselbe, die in seinen eigenen Adern wohnte, so daß Blut,
das von unbekannter H and auf den Boden vergossen wurde, über

119
das H aupt des Besitzers kam und ihn der Tötung schuldig machte.
Der arme fränkische Totschläger, der nicht imstande war, seinen
Teil des Wergeides zu zahlen, nahm eine H andvoll Erde von
seinem Grundstück und w arf sie auf den nächsten Verwandten,
bevor er über den Zaun sprang; der Staub der Erde enthält hier
nicht nur das Eigentumsrecht, sondern auch die Verantwortlichkeit
des unglücklichen Mannes, genau wie Pflicht so gut wie Stärke in
der Waffe enthalten ist, die dem besten Mann in der Familie zu­
fällt. Sollte der Töter sterben, bevor er Wiedergutmachung ge­
leistet hat, gehen seine Verpflichtungen auf seinen Erben über, und
dies wird im norwegischen Gesetz mit folgender Redewendung
ausgedrückt: der Erbe hebt die A xt auf.
Nicht alle Siedler waren große Häuptlinge mit prachtvollen
Tempeln auf ihren Gütern und reich genug, um einen ganzen
Berg als heiligen Ort zu haben, aber alle besaßen eine Heiligkeit,
die sie auf die Felder hinauspflanzen konnten, ein Heil gleicher
Art wie Thorolfs und Thorhadds, bloß schwächer an Kraft. Der
Unterschied zeigt sich am Boden. „Halben Manneswert soll der
Freigelassene haben, wenn er auf Jarls-Boden kommt, ganzen und
vollen, wenn er auf den des Königs kommt“ , heißt eine alte Rede­
wendung, die auf unerklärliche Weise ihren Weg in das isländische
Gesetz, die Graugans, gefunden hat, und die Worte deuten un­
verkennbar eine Wertung des Mannes an, dem Boden entsprechend,
auf dem er wohnte. Der Königssohn wurde auf heiligem Grunde
geboren, wie es in der Dichtung heißt, und die Wirkung zeigt sich
in seiner reckenhaften Gestalt. Wir ahnen, daß die Fülle an H eilig­
keit im Boden an seine Bewohner Ansprüche stellte; der Grund­
besitz des gewöhnlichen Bauern war kaum so empfindsam wie der
Glums, der einen Geächteten wie die Pest von sich stieß, oder wie
Thorhadds, auf dessen Feldern nie etwas umkommen durfte außer
Vieh, das geschlachtet werden sollte. Bei einem solchen allgemeinen
Umzug, wie dem, bei welchem Familien aus den verschiedensten
Teilen Norwegens sich Seite an Seite den isländischen Küsten ent­
lang niederließen, mußte die alte Selbsteinschätzung notwendiger­
weise manche Erschütterung aushalten. Unabhängige Geschlechter
aus den verschiedenen Gegenden Norwegens wurden durcheinander­
geschüttelt, und die alten, sehr heiligen Geschlechter mochten es
schwierig finden, die Würde zu behaupten, die sie in dem alten
Lande besessen hatten, wo die Ehrfurcht durch Jahrhunderte un­
aufhaltsam emporgewachsen war. In der Eyrbyggjasaga machen

120
wir Bekanntschaft mit einer Art Entscheidung, zu der es ver­
schiedene Parallelen geben mag. Die unabhängige Familie auf
H elgafell versuchte ihre altgewohnte Herrschergewalt innerhalb
des Bezirks aufzurichten, aber ihre Oberherrschaft wurde von den
mächtigen Geschlechtern abgelehnt, die sich in der Nachbarschaft
niederließen, und die Empörung findet ihren natürlichen Ausdruck
in dem R ufe: „Sollen sie ihren Boden heiliger halten dürfen als
andere Besitztümer um die Breidaförde herum?“ Sie setzten ihren
Protest durch, indem sie mit Gewalt auf den Grund eindrangen
und ihn entweihten, und eine Schlacht folgte, die zu einer Ent­
scheidung führte, bei welcher den wetteifernden Geschlechtern die
gleichen Redite zugestanden wurden. Dieser Streit bedeutet in
Wahrheit einen K am pf um die Oberherrschaft, aber er wird
natürlich von seiner religiösen Seite beschrieben, weil es kein Streit
um Formen ist, sondern eine Kraftprobe zwischen zwei Hamingjen.
Um die alten Gedanken und die alte Erfahrung darzulegen,
müssen wir innerhalb der Ham ingja bleiben und sie sich ganz vor
uns entfalten lassen. Vom Zentrum aus verbreitet die Heiligkeit
eines Mannes sich durch das Haus, erfüllt es mit seiner Atmo­
sphäre und durchdringt die Menschen mit seiner Kraft, so daß sie
im Hause andere Wesen sind als außerhalb. Wir können diese
Heiligkeit in dem „H ausfrieden“ verfolgen, in dem hohen Grade
von Unverletzbarkeit, den die Gesetze dem Mann in seinem Hause
zugestehen. Wer ihm über seine eigene Schwelle nachsetzt und ihn
auf der Bank oder am Feuer verletzt, hat ihm eine tiefere Ver­
wundung zugefügt, als einer, der auf offener Landstraße nach ihm
schlägt; er hat sein Heil getroffen, wo es am dichtesten ist und am
heftigsten blutet, und seine T at ist Neidingswerk. Im dänischen
Gesetz ist der ernstere Charakter eines Friedensbruches im Hause
dadurch gekennzeichnet, daß er in derselben Kategorie steht wie
Tötung nach Versöhnung. In der schwedischen Rechtsprechung ist
der Standpunkt so konsequent durchgeführt, daß das Urteil über
eine Tötung, die in der Toröffnung zum tún - der Umzäunung -
begangen wurde, von der Lage der Leiche abhängig ist: wenn die
angreifende Partei mit ihren Füßen innerhalb der Umzäunung
und mit ihrem K opf außerhalb liegt, ist sie selbst für ihren Tod
verantwortlich, wenn sie in die umgekehrte Richtung gefallen ist,
soll eine Buße gezahlt werden, denn der „K op f fiel von dort, wo
die Füße standen“ . Die deutschen Gesetze können die Tötung
innerhalb des Hausfriedens als Neidingswerk kennzeichnen, indem

121
sie Todesstrafe darauf setzen und die Möglichkeit einer Erledigung
durch Buße, wie sie in gewöhnlichen Fällen von Tötung gestattet
war, ausschließen.
Im Grunde war ein Mann im Hause eines anderen ebenso heilig;
wenn irgend jemand ihn dort angriff, kränkte er die Ehre und die
Heiligkeit der dritten Familie, die mit hineingezogen wurde, und
bekam dadurch statt eines unversöhnlichen Feindes zwei. So stark
ist der Friede im Hause, daß die Heiligkeit des getöteten Mannes
keinen Schaden durch die Tatsache erlitt, daß er die Rache heraus­
gefordert hatte; wenn der Verfolgte nicht von irgendeinem großen
Neidingswerk gebrandmarkt war, mußte sein Gegner gewisse
Formalitäten beobachten, bevor er ihn entfernen oder ihn inner­
halb des Hauses fassen konnte. N ur ein Ächtungsspruch konnte
sein Recht auf Zuflucht vernichten; wenn seine Heiligkeit, das
heißt: sein Leben, von ihm genommen worden war, fiel er vom
Stamm, und man konnte ohne Gefahr mit ihm schalten.
In den Mitgliedern des Geschlechts, die ständig im engsten
Kreise des Heils wohnten, war die Heiligkeit am stärksten.
Fraueh waren in so hohem Grade von Frieden erfüllt, daß ein
Angriff auf sie nicht eine Kränkung, sondern eine Gewalttätigkeit
war, das geht aus der besonderen Sorgfalt hervor, mit der ihre
Unverletzbarkeit in den Rechtsbestimmungen umschrieben wird;
das strenge Urteil der Gesetze erhält den besten Kommentar in
dem unüberwindlichen Widerwillen, den der Skandinavier gegen
gedankenlose Übertretungen dieser Regel empfand. Inmitten einer
Gesellschaft, in welcher der Mann für jedes müßige Wort, das er
gegen einen Mitmenschen ausgesprochen hatte, zur Verantwortung
gezogen wurde, stand die Frau und erlaubte sich ein Urteil über
ihren Nachbarn, als ob ein Wort sich nie gegen seinen Urheber
hätte kehren können. Und sie kannte ihre Macht, wenn sie ihre
Ansicht über den Wert eines Mannes oder seinen Mangel an Wert
frei in Worte kleidete, die an Offenheit nichts zu wünschen übrig­
ließen. Wer unter die Zunge einer Frau fällt und ihre Worte auf
sich niederprasseln fühlt, versucht es nie, diese schicksalschweren
Äußerungen mit demselben Mittel aufzuhalten, das er unwill­
kürlich gegen einen männlichen Spötter anwenden würde. Sollte
er sich jedoch so weit vergessen, daß er seine H and hebt, hat er
hoffentlich einen guten Freund bei sich, der ihn daran hindert,
dieses „Unheil“ zu begehen. Und doch ist der Grund seiner Ver­
träglichkeit sicher nicht, daß die Worte einer Frau weniger Kraft

122
haben als die eines Mannes, im Gegenteil, er geht fort mit einem
unheimlichen Gefühl in der Seele, denn die Worte einer Frau
haben einen doppelten Stachel, wie ihre Ratschläge auch: sie kom­
men unmittelbar von „den Mächten“ .
Die Frau verrät auch in ihrem Auftreten, daß sie eine engere
Fühlung mit dem H eil hat, als der Mann unter gewöhnlichen Ver­
hältnissen aufrechterhalten kann. Diese Ahnungen, dieses untrüg­
liche Vorgefühl für kommende Dinge, gleich einer unmittelbaren
Aufwallung des Heils aus der Tiefe der Seele, ist am stärksten in
ihr. Ein kluger Mann überhörte nicht, was die Frau in einer ernsten
Sadie sagte; aus den Sagas wissen wir, welches Gewicht ihre R at­
schläge bei den Entscheidungen der Männer hatten; ein Mann
pflegte aufmerksam aufzuhorchen, wenn der K lang ihrer Stimme
ihm verriet, daß sie wahrsagte. Deshalb ist die Seherin in der
germanischen Vergangenheit eine historische Gestalt geworden.
Tacitus kannte sie, die Jungfrau aus dem Volke der Bructerer,
die mit R at und Wahrsagung den K am pf ihrer Stammesangehöri­
gen gegen die Römer lenkte und ihre besten Beutestücke als
Ehrengabe erhielt. Nahezu göttlich nennt er sie, heilig in ihrer
Unverletzbarkeit, und seine allgemeinen Eindrücke von der Stel­
lung der Frau gipfeln in den unzweideutigen Worten, daß die
Germanen in ihr „etwas Heiliges und Vorausschauendes“ sahen.
Lange vor Tacitus’ Zeit hatten seine Landsleute mit Schaudern
alte Frauen gesehen, die sich barfuß und weißgekleidet unter den
Scharen der Kimbern bewegten und prophetischen Dienst verrich­
teten, indem sie die Wahrzeichen bei der Opferung der Kriegs­
gefangenen deuteten.
Die volle Heiligkeit erforderte viel Rücksicht und viel Sorgfalt.
Je größer das Heil war, das ein Mann in sich gesammelt hatte,
um so größer war die Kraft seiner Bewegungen, aber um so größer
auch die Gefahr bei jedem Fehltritt. Die Frauen hatten ihren Platz
in der Heiligkeit des Heims, sie brauchten nicht das Heil in
irdenen Töpfen ins Leben hinauszutragen, von ihnen erwartete
man nicht die blitzschnelle Anpassung an den Augenblick, bei der
ein Mann die Vorsicht, die er der Heiligkeit schuldig war, ver­
gessen konnte. Die Männer andererseits lebten an der Peripherie,
und um sich bei ihrer täglichen Verrichtung außerhalb des Hauses
leichter bewegen zu können, mußten sie einen Teil ihrer Heils­
rüstung ablegen und eine leichter aufgeschürzte Bekleidung tragen.
Deshalb beginnt das Mannesalter mit einer Befreiung: der Jüng-

123
ling wird von dem schrankenlosen Gehorsam dem Frieden gegen­
über befreit und auf einen geringeren, männlichen Grad von H eilig­
keit herabgesetzt.
Es gab zwei Möglichkeiten in der Behandlung der Kinder; ent­
weder wurden sie während ihrer Kindheit außerhalb der H am ingja
gehalten, als eine Art von Aspiranten des Heils - in diesem Falle
wurden sie in bezug auf grundsätzliche Lebensregeln und vielleicht
auch Lebensbedingungen in eine Reihe mit den Knechten gesetzt,
so daß ihre Seele ihnen erst bei der Einweihung zum Mannesalter
gegeben wurde; oder sie wurden zu der Heiligkeit zugelassen und
in ihr aufgehoben, bis die Mannesreife sich ihnen auftat. Wir
können nicht sagen, daß alle germanischen Völker die letzte M ög­
lichkeit erwählten, aber viele von ihnen taten es. Der Übergang
des Jünglings von einem recht abhängigen Samenkörnchen des
Heils zu dem Zustande eines selbstbewußten Trägers und Erhal­
ters des Heils wird durch das Abschneiden der H aare gekenn­
zeichnet; bis zu dem Tage, wo er in den Männerkreis auf genom­
men wurde, trug der Jüngling lange H aare wie die Frauen; seine
Locken bezeichneten ihn als heilig und unverletzbar im höchsten
Sinne; von diesem T age an bekräftigte er seine Äußerungen auf
männliche Art, indem er die Ehre in der W affe anfaßte, während
die Frau, die ihr ganzes Leben hindurch das Heil in ihren Haaren
gesammelt trug, mit der H and um den Zopf schwur. Was mit dem
Knaben geschah, haben diejenigen, die ihm im Geiste verwandt
waren, durch ihre Ehrfurcht vor „Haarschönheit“ genugsam an­
gedeutet. Eine Strafe war für den festgesetzt, der die H aare eines
Jünglings - oder noch schlimmer, eines Mädchens — ohne Ein­
willigung ihrer Verwandten abschnitt. Eine Mutter wie Gudrun,
die erleben mußte, daß ihre Tochter von Rossen zerstampft
wurde, jammert über die in den Staub getretenen H aare. „D as
war das härteste Leid, das ich erfuhr, daß Svanhilds schöne H aare
von den Hufen der Rosse getreten wurden“ , heißt ihre Klage.
„Gelockt“ wurde als ein offizieller Titel gebraucht, der unmiß­
verständlich den Herrscher vor allen anderen Sterblichen aus­
zeichnete, und die Menschen erkannten an der reichen H aarfülle
des Königs gern eine höhere Macht. So empfindlich war die könig­
liche Hoheit, daß ein fränkischer Fürst sein H aar nie schneiden
lassen durfte; nach der Schilderung eines Zeitgenossen, anscheinend
eines Augenzeugen, trug er seine H aare in der Mitte gescheitelt
und lose über seine Schultern fließend. Berührte seinen K op f eilt

124
Messer, wurde er wie einer aus der gewöhnlichen Plebs, um
Childeberts Worte zu gebrauchen, als er andeuten wollte, wie
man einen unbequemen Königssprößling außerhalb aller Hoheits­
ansprüche stellen konnte. Nach Chlodomers T od meinten seine
Brüder, Childebert und Chlotar, daß die Welt keineswegs zu groß
sei für zwei und daß die Sorge ihrer Mutter um die beiden klei­
nen Knaben ihres Sohnes nur dazu diente, eine Möglichkeit offen­
zuhalten, die lieber geschlossen sein sollte. Sie bekamen die Knaben
in ihre Gewalt und schickten der Königin ein Schwert und eine
Schere, die sie sich ansehen sollte, um dann zu wählen, welches
Gerät an den Burschen verwendet werden möchte. „Lieber will
ich sie tot sehen als geschoren“ , rief sie, „wenn sie nicht auf den
Thron kommen sollen.“
Es ist der Reichtum der Seele, der dem Jüngling und der Frau
gemeinsam ist mit dem größten Heiling, der das Leben hindurch,
jedenfalls von der Stunde an, wo er Häuptling der Sippe wird,
die Intensität der Heiligkeit bewahrt. Die besondere Ausstattung,
die die Priester der Nahanarvalen auszeichnete, wurde von T aci­
tus, zweifellos mit mehr Recht, als er wußte, als weiblicher
Schmuck auf gef aßt; er sagt, daß der Tempelherr ein Priester in
weiblichem Schmucke war, und wir dürfen annehmen, daß der
heilige Mann, wenn er am Altar stand, seine H aare offen trug
und sich auf diese Weise in die Stärke der Heiligkeit hüllte. Was
es bedeutete, wenn die Frauen ihr H aar offen trugen, erfahren
wir, wenn wir uns herablassen, bei den Hexen anzufragen; die
Schweden waren streng gegen Weiber, die mit offenem H aar um­
herliefen, während brave Leute im Bette lagen.
Das Abschneiden der H aare muß also eine wirkliche Verletzung
einer Art von Heiligkeit gewesen sein. Es wurde ein Stück von
dem Knaben abgeschnitten. Soweit wir erfahren können, wurde
die Operation immer einem Fremden anvertraut, oder jedenfalls
nicht jemandem, der zu der nächsten Familie gehörte, und der
Grund dafür war vielleicht kein anderer als die natürliche Ab­
neigung der Familie, ihr Heil zu beschneiden, wie nötig die Ope­
ration auch sein mochte. Auf der anderen Seite war es notwendig,
sich durchaus vom Wohlwollen des Beauftragten zu überzeugen,
bevor er mit der Ausführung einer so wichtigen Handlung betraut
wurde, wie es die Beseitigung von etwas Heiligem war; die enge
Verbindung schuf eine gegenseitige Verpflichtung im Frieden, so
daß der Mann, der einem Jüngling die H aare schnitt, sein Zieh-

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vater wurde, dem man Geschenke gab. Unzweifelhaft wurde die
Möglichkeit, einen Mann von Ansehen auffordern zu können, als
eine Art von Ziehvater zu fungieren, in hohem Grade ausgenutzt,
da sie sowohl dem Jüngling wie seiner Sippe Gelegenheit zu
einem Bündnis und Zuwachs an Macht eröifnete. Und in den
großen Herrscherfamilien wurde das Haarschneiden eine Staats­
aktion, bedeutend genug, um in der Geschichte verewigt zu werden.
Paulus Diaconus berichtet, daß der fränkische König K arl seinen
Sohn Pippin zu Liutprand schickte, damit dieser, wie es die Sitte
gebot, seine H aare nehmen möchte. Und als er ihm die H aare
vom K opf schnitt, wurde er sein Vater, gab ihm königliche Ge­
schenke und ließ ihn wieder heimkehren.
Aber obgleich die Männer im täglichen Leben ihre Röcke sozu­
sagen aufgeschürzt trugen, um größere Bewegungsfreiheit zu
haben, stand ihnen doch immer die Möglichkeit offen, die größere
Heiligkeit anzulegen. Der Mann, der in Thord Gellirs H alle auf
den Stein stieg, um mächtige Eide zu schwören, und der Flücht­
ling, der im Heiligtum Zuflucht suchte, zeigen uns den Germanen,
der sich zu übermenschlicher Größe erhebt. Wenn er am heiligen
Ort steht, ist er selbst und das, was von ihm ausgeht, stärker als
gewöhnlich; Seele quillt aus dem Born empor, preßt sich in seinen
Worten hervor, füllt sie bis in ihre äußersten Verzweigungen, so
daß sie ihm mit Wucht und Klang über die Lippen fließen. Die
Worte sind ganz, sind heil - wahr, müßten wir sagen - , aber
Wahrheit ist in der alten Wirklichkeit etwas Aktives; sie haben
Macht. Ein Mann „tritt auf den Stock“ , das heißt, er setzt seinen
Fuß auf den Herdbalken, wenn er den Eid schwört, daß man in
Zukunft von ihm hören soll, und sein innerstes Leben ist in der
Erklärung, nein mehr, die ganze Kraft der Verwandten erfüllt
sie. Kein Widerruf ist dann möglich, das heißt, das Wort geht
voran und bahnt der T at einen Weg, aber es zieht auch den
Sprecher mit sich; denn sein Wort wäre verloren und würde seine
Ham ingja mit sich reißen, wenn es nicht eingelöst würde.
Eine ähnliche Verwandlung - nicht so durchschlagend in ihrer
Macht, aber identisch im Charakter - findet im Manne in dem
Augenblick statt, wo er das Kleinod, Schwert, Speer oder Ring,
ergreift und seine Worte „bekräftigt“ ; durch seinen Eid über­
wältigt er den Gegner, der seinen männlichen Wert angegriffen
hat. Seine Worte sind außerordentlich wahr und stark, so daß
jeder überzeugt werden muß, weil in ihm und in seiner Rede eine

126
Ehre und ein Heil brausen, die alles vor sich niedermadien. Aber
der Schwur bindet auch ihn selbst, weil er ihn an die Wirklich­
keit seiner Erklärung fesselt. Wenn er verspricht, diese oder jene
T a t zu tun, muß die T at getan werden. Wenn er sagt, daß dieses
oder jenes wahr ist, muß es wahr sein, weil sein Leben mit dieser
Wahrheit verknüpft ist. Seine Worte erhalten einen besonderen
hohen Wert, etwas, das man fassen und festhalten kann, etwas,
das gebraucht werden und das verletzen kann. Indem er schwört,
gilt er dem Richtspruch mehr, weil er in erhöhtem Grade er
selber ist.
Noch in ihrer christlichen Form kennen einige der germanischen
Gesetze den Eid „mit bewaffneter rechter H an d “ oder den Eid,
der auf heilige Waffen geschworen wurde, wo das W ort heilig
unzweifelhaft ein Echo aus alten Tagen ist; und diese Geste beim
Schwören war etwas, was den Fremden aus anderen Ländern leicht
auffiel. Die gebildeten Südländer erzählen einander von diesen
Barbaren, den Quaden, die bei ihren Schwertern schwuren, die sie
als Götter betrachteten; und als die Deutschen ein zivilisiertes
Volk wurden und ethnographische Notizen über das Land im
Norden machten, wo die Männer gewohnt waren, bei den Waffen
zu schwören, fiel den Beobachtern dieser absonderlichen fremden
Sitten natürlich die Geste auf, die das höchste Symbol von abso­
luter Glaubwürdigkeit war. Dennoch würden Außenstehende
kaum bemerkt haben, daß der Eid bei den Barbaren keine Einzel­
erscheinung zur Erledigung einer Gewissenssache war. Der Eid
ging unmerklich abgestuft in die alltäglichere wahre Aussage über.
Es kommt auf dasselbe hinaus, ob wir das Schwören der Ger­
manen nur eine nachdrückliche Form der Äußerung nennen oder
ob wir sagen, daß die Germanen sich von einem T ag zum andern
durchs Leben schwuren. Immer wenn eine entsheidende Änderung
verlangt wird, findet eine materielle Bestätigung statt. Der Franke,
der eine Forderung an seinen N äh sten hatte und der fühlte, daß
er größere Männer dazu bringen mußte, s ih für seine S ä h e zu
interessieren, wenn er R e h t bekommen sollte, er ging vor den
„G rafen“ , den königlihen Landeshauptmann, ergriff den Stab
und forderte jenen auf, als Sh ützer des Gesetzes seine Pflicht zu
tun und s ih mit dem saumseligen Mitbürger zu befassen: „Ich
setze m ih selbst und alles, was i h habe, auf dieses W ort, daß
du ihn ruhig pfänden lassen kannst.“ Die alte weltbewegende
Macht eines Wortes hat sih in diesem B rau he neuen Bedingungen

127
angepaßt. Vor der Zeit, wo die Gesellschaftsordnung von könig­
lichen Beamten behütet wurde, ging der Franke zum Gesetzes­
thing, ballte seine Faust um einen Stab oder Speer und ließ seine
Worte über die Versammlung tönen mit der begründenden und
zwingenden Macht, die alle Anwesenden berühren und das Dasein
für den Angegriffenen unsicher machen mußte, bis er sie durch
seine Verteidigung niederschlagen konnte.
Auch die Schweden bestätigten ihre Vereinbarungen „bei dem
Schaft“ ; der Handelnde und mit ihm alle seine Zeugen — die sie
später wurden - ergriffen den Schaft des Speeres und verstärkten
auf diese Weise das Wort, das ihr Sprecher sprach, so daß die
Vertragsformel wie über sie selbst so über alle anderen Macht
hatte und eine Sicherung für den Empfänger des Versprechens
wurde.
Der Mann, der sein Schwert hingelegt hatte, war ein anderer,
als der, der einen Augenblick zuvor mit dem Schwert in der H and
dagestanden hatte; er war ein Bogen mit gelockerten Strängen.
Ebenso bestand ein Unterschied darin, ob ein Mann noch seinen
Fuß an der heiligen Stelle oder ob er seinen irdischen Stand wieder­
gewonnen hatte; aber ganz derselbe war er gleichwohl in dem
Augenblick noch nicht, wo er die heilige Stelle verließ oder vom
Hochsitz heruntertrat; es verging wohl einige Zeit, bevor er den
anderen wieder gleich war. Ein Mann wünschte auch wohl nicht
immer, so schnell seine männliche Heiligkeit zu verlieren; er
konnte im Gegenteil die Heiligkeit absichtlich in sich befestigen.
In kritischen Zeiten, wenn es galt, das Heil bis zu seiner äußersten
Leistungsfähigkeit zu spannen, konnte man sich alles Alltäglichen
entledigen und ausschließlich als Eingeweihter des Heils leben.
Dem Auszug des Heeres sind gewisse uns unbekannte Bräuche
vorangegangen, die die Krieger in eine heilige Schar verwandel­
ten, und die Wirkung dieser Weihe zeigt sich in dem Frieden, der
sie zu einer Einheit von derselben Festigkeit verschmolz, wie es die
Gemeinschaft der Verwandten war. Ein Solidaritätsbruch galt
dann als höchstes Neidingswerk, und das Land ruhte in feierlichem
Schweigen; das Gesetz bestimmt, daß alle Rechtshändel eingestellt
werden, während das Heer im Felde ist. Tacitus weiß, daß die
gerichtliche Gewalt, solange die Götter im Lager waren, aus der
H and des Heerführers in die der Priester, der heiligen Tempel­
häuptlinge, hinüberglitt. Dieselbe Weihung wird durch das un­
gestörte Wachstum des H aares bezeichnet. Nach einer großen

128
Niederlage, die die Sachsen gegen die Sueben erlitten hatten,
schwuren sie einen heiligen Eid, H aar und Bart nicht zu scheren,
bevor die Schande gerächt sei; sie weihten und stärkten sich für
die große Aufgabe, wie Civilis, als er den römischen Legionen den
T od schwor, und wie H arald Schönhaar, als er von seinen Ero­
berungsplänen ergriffen worden war.
Bei den kriegerischen Chatten machte die junge Mannschaft eine
heilige Jugendzeit als Krieger durch, wo kein Rasiermesser an ihre
H äupter kam; für den größten Teil dieser Jugend war die erste
Tötung die Einleitung zu einem ruhigeren Leben, aber viele mach­
ten es zu einer Ehrensache, das strenge und entbehrungsreiche
Leben als Kriegsgeweihte fortzuführen, bis sie so alt waren, daß
die Kräfte versagten. Ähnliche Kriegerbünde fanden sich, so weit
die germanischen Völker verbreitet waren, und in den überliefer­
ten Gesetzen der Jomsburgwikinger ist uns ein Abglanz der stren­
gen Ethik des Weihekriegers geblieben. Die Grundlage des Gesetzes
war der „H eerfriede“ oder der unverletzbare Friede in den
Schlachtreihen; persönliche Beziehungen und persönliche Bevor­
zugungen galten gering gegenüber der Treue zu dem Bund; alle
Fragen wurden der Entscheidung des Führers unterworfen, und
die Beute wurde geteilt. Diese heilige Einheit schnitt die Männer
von der übrigen Welt ab, besonders von dem normalen Alltags­
leben, darin es Arbeit und Kinderzeugen galt; es war den Kriegern
verboten, außerhalb des Lagers zu schlafen, und keiner durfte mit
Frauen Verkehr haben.
Unter den Liedern der Edda ist ein Gedicht erhalten, das das
Epos des Weihekriegers genannt werden kann, die Hamdismal.
Aber unglücklicherweise ist der alte Gedanke dem Dichter ent­
gangen - wenn es nicht die mangelhafte Überlieferung ist, die der
Klarheit Abbruch tut; die Nacherzählungen in Prosa helfen uns
nur wenig, da spätere Sagamänner offenbar die Vertrautheit mit
der zu ihrer Zeit veralteten Kriegstechnik verloren haben. So viel
wissen wir, daß Gudrun ihre Söhne, die sie aussendet, um ihre
Schwester zu rächen, in unverletzbaren Brünnen weiht und ihnen
unverbrüchliche Gesetze zu befolgen gibt. Mit unwiderstehlicher
K raft drängen die „kampfheiligen“ Männer in Jörmunreks Saal,
hauen auf ihn ein, trotz des Widerstandes seiner Gefolgsmannen,
bis er daliegt wie ein unförmiger Klumpen, ohne H ände und
Füße. Aber sie hatten die Befehle, die ihnen gegeben waren, ge­
brochen und verloren darum den Sieg, so daß Sörli am Giebelende

129
der H alle, H am dir an der hintersten W and fiel. Das Unheil kam
über sie in dem Augenblick, wo Hamdir in seiner Prahlsudit den
R at seiner Mutter vergaß, während des Kampfes zu schweigen; da
gewann Jörmunrek Vernunft und Rede, so daß er seinen Männern
sagen konnte, sie sollten versuchen, was Steine an ihnen ver­
möchten, da Eisen sie nicht angreifen wollte. Doch das Unglück
muß früher begonnen haben, vielleicht unterwegs, als die beiden
ihrem Bruder Erp begegneten und ihn in einem Wortstreit töteten;
aber die Tötung selbst war wohl nicht ihr einziges Vergehen.
Woher hatte Jörmunrek den glücklichen Einfall, bei Steinen H ilfe
zu suchen? — Von Odin, sagen die Sagamänner natürlich, die ein
für allemal entdeckt haben, daß der Gott zu kommen und gehen
pflegt, da Männer kämpfen; die ursprüngliche Geschichte wird
etwas anderes gesagt haben, etwa, daß die beiden Brüder selbst
die Steine zu ihren Feinden gemacht hatten. Bevor sie die Königs­
halle erreichten, müssen sie auf die eine oder andere Weise die
Steinhamingja verletzt haben, die ihre Mutter wahrscheinlich für
sie gewonnen hatte, als sie ihre Rüstung unangreifbar machte.
Aber worin die Verblendung bestand, ob es Erps Blut war, das
auf den Stein floß, oder eine Handlung, die wir gar nicht kennen
- das bleibt ein ewiges Geheimnis.
Auch wenn Menschen sich zu freundschaftlichem Wettstreit beim
Jagen oder Fischen versammelten, riefen sie das Heil an und stell­
ten sich unter seine uneingeschränkte Herrschaft. Streit auf den
Fischplätzen machte alle Mühe vergebens, hören wir, und wir
wissen dann, daß der Wille, keine Fehler zu begehen, sich andere
Äußerungsformen geschaffen hat als bloß eine fromme Gesinnung.
Deshalb war die Schiffsmannschaft heilig und das Schiff selbst ein
geistiges Gegenstück zu dem H aus - wir finden hier denselben
tiefen Zusammenhang in den Gedanken des Dichters, wenn er ein
H aus das Schiff des Herdes nennt. Die Aufschmückung am Steven
eines Schiffes hatte die Kraft des Hochsitzes in sich; die Schiffs­
reling machte Worte eines Schwörenden ganz und voll, so gut wie
der Speer und der Schild; der Aufenthalt auf oder bei dem Schiffe
gab einem Mann den Wert des Hausfriedens.
In Zeiten großer Stärke und Erneuerung im Leben der Sippe
verdichtete sich die Heiligkeit im Hause und umfing alle mit ihrer
Kraft. Hausfriede wurde zu Festfriede, und die Unverletzbarkeit
verdichtete sich zu Unantastbarkeit. Bei einer Tötung, die in der
Opferzeit, bei der Hochzeit oder beim Erbbier begangen wurde,

130
half dem Übertreter keine Reue, er wurde für immer ein Neiding,
„ein W olf im Heiligtum“ . Die Heiligkeit war dann so dicht, daß
sie sogar in die Unfreien hineindringen und ihnen Leben vom
menschlichen Leben geben konnte, wie es die schwedischen Gesetze
zu erkennen geben, indem sie für deren Tötung bei großen Gast-
mählern volle Mannesbuße bestimmen. Hier erreicht das Wort
heilig seinen festlichsten, aber auch seinen ernstesten Klang, wie
wenn die schwedischen Gesetze mit ehrwürdigem Gewicht von dem
heiligen Brautpaar sprechen und von den heiligen Sitzen, die sie
einnehmen.
Mit dem Frieden des Festes, der vollkommenen Hausheiligkeit,
sind wir in die Stille eingeführt worden, die im heiligsten der
Häuser herrschte, wo keine Waffe über die Schwelle gebracht
werden durfte. Bis zu dem Punkte, wo die Tempeltür sich öffnet,
ist das Heil durch sich selbst erklärt, aber damit ist nicht alles
gesagt, und um das letzte zu finden, müssen wir den Schritt von
dem Zeitlichen in das Religiöse machen. Doch in Wirklichkeit
existiert der Schritt nur für uns; für die alte germanische Seele
war der Übergang vom menschlichen Leben zu dem göttlichen eine
ungebrochene Steigerung. Beginnt man mit der religiösen Heilig­
keit, mit der Bereitschaft der Menschen den Göttern gegenüber, so
gelangt man unmerklich zu den Regeln für die soziale Auseinander­
setzung der Menschen untereinander auf dem Gesetzesthing, zu
ihrem Handeln und ihren Händeln. Und wenn wir uns streng
an die weltliche Seite von K auf, Verkauf und Tausch halten,
werden wir doch eines schönen Tages entdecken, daß dort noch
andere Spuren zu finden sind als die von Menschen allein. Es
fallen Strahlen der Göttlichkeit über all die juristische Schlauheit,
durch die wir uns haben hindurcharbeiten müssen.
In der Heiligkeit begegnen sich Menschen und Götter. Der hei­
lige Ort war der Ort, wo „die Mächte“ wohnten.

131
Der Tempel

Wir haben im Norden ein geschichtliches Beispiel dafür, wie ein


ganzes Volk seine Existenz aus dem Boden herausreißen und in
ein anderes Land versetzen mußte, nicht durch allmähliche Ver­
pflanzung und Gewinnung neuen Bodens für die alte Kultur, son­
dern durch Verstauung in den Schiffsraum und Überführung durch
das große Meer. Aus den Geschichten von Thorolf und Thorhadd
wissen wir, was der letzte Gedanke der Auswanderer im alten
Lande und der erste im neuen war —, und wir kennen damit zu­
gleich ihre innersten Gedanken, wenn sie daheim in der Un­
gestörtheit des Alltags ihren Verrichtungen nachgingen. Es war
keine Kleinigkeit, die Hochsitzpfeiler herauszuzerren und die Erde
vom heiligen Ort zusammenzuscharren. Das konnte nie ein Ort
wie andere werden, und es hatte sicher seine tiefen Ursachen, daß
die Isländer, wenn sie erwachsene Männer wurden, ihren Blick dem
Land ihrer Väter zukehrten. Die Berichte von den Fahrten der
Isländer nach Norwegen stammen aus christlicher Zeit; wir können
nicht erwarten, in ihnen etwas über die Anziehungskraft der alten
heiligen Orte zu finden. Doch hat ein kleiner Zug mit gewichtiger
Bedeutung in die Landnama Eintritt gefunden; Lopt machte jeden
dritten Sommer eine Reise nach Norwegen, um für sich und seinen
Mutterbruder Flosi in dem „H o f“ (Tempel) zu bloten 1, den
Thorbjörn, Flosis Muttervater, in Gaular verwaltet hatte.
Unzweifelhaft regte sich in vielen die Furcht, sich und ihre Vor­
fahren auf dieser Welt heimatlos zu machen, wenn sie nach einem
Lande führen, das sie nicht kannten, und wo kein Ort sie kannte.
Wenn aber anscheinend doch der Entschluß die Zaghaftigkeit ganz
verschlingen konnte, so war das nur möglich, weil man sich sicher
darauf verlassen, nein, weil man wissen konnte, daß die Götter
mitziehen würden, wenn man handelte, wie man sollte. Und dann
konnte ein neues Gotteshaus errichtet werden. Die Heiligkeit war
in den Dingen festgewurzelt, man konnte sie selbst einen neuen

1 Anmerkung d. Ubers.: Uber die Wörter bloten, Blot siehe u. S. 201.

132
Ort wählen lassen - , oft war es wohl ein solcher, der in Aussehen
und Lage an die alte Wohnstätte des Geschlechts erinnerte - , und
man konnte die Heiligkeit dort einführen und sie festmachen.
Die Heiden verehrten Bäume und Wasserfälle und Steine, sagen
die Norweger von ihren unaufgeklärten Vorfahren, als sie selbst
vergessen haben oder vergessen zu haben wünschen, daß diese
selben Bäume und W asserfälle in ihrer Heiligkeit nicht weniger
menschlich als göttlich waren. Niemand soll falsche Götter „bloten“
oder an H aine und Steine glauben - so drohen schwedische
Gesetzesmänner ihren umnachteten Zeitgenossen. D as Gotland­
gesetz definiert alle Religiosität in einem gewichtigen Paragraphen:
„Niem and darf H ain und Hügel noch heidnische Gottheiten,
weder vé nodi Lattenzaun anrufen“ , und ihre Saga übersetzt das
Verbot, wenn sie sagt: „Männer glaubten an H ain und Hügel und
Heidengötter.“
Im Süden sind so gut wie keine Erinnerungen an menschliche
Heiligkeit in Verbindung mit Örtlichkeiten übriggeblieben; um so
besser erinnerten die Menschen sich der eindrucksvollen Tatsache,
daß die Götter an den heiligen Orten wohnten. Unglücklicher­
weise sind viele dieser fremden Berichte so allgemein gehalten, daß
sie auf den größten Teil der Bevölkerung der Erde passen kön-
ten, und ihre Allgemeingültigkeit beruht darauf, daß der Erzähler
sich nicht berufen fühlte, den individuellen Tatsachen die Ehre
einer Beschreibung anzutun, sondern daß er nur alte Sprüh e be­
nutzte, um das Heidentum, das er vor sih sah, wie jede andere
heidnishe Abscheulichkeit zu verurteilen. Wenn der Schriftsteller
einen Heiden nur damit kennzeichnet, daß er an Stock und Stein
glaubte, so passen weder er n o h sein H eld in eine Monographie
über die Religion unserer Vorfahren hinein, denn diese re ih lih
allgemeine Wahrheit paßt ja für alle Heiden bis in unsere Zeit.
Außerdem kopierten die gelehrten Väter gegenseitig ihre Briefe,
Ermahnungen und Kirhenversammlungsbeshlüsse mit einem
Eifer, als wollten sie ihre eigene Originalität so viel wie möglich
schonen; und die Anathemas, die n a h dem geistigen Bedarf der
G riehen und Italiker zurehtgeshnitten waren, mußten, so gut
es ging, weiter n örd lih ihren Dienst tun, indem die Entlehner sih
n ih t einmal die Mühe m ähten, ihnen lokale Färbung zu geben.
Die G eistlihkeit beanspruht n ih t, in den Gedankengang eines
Heiden eindringen zu wollen; sie hatte einen starken Glauben an
die M ä h t der üblihen Arznei, die Krankheit von selber zu finden;

133
daß die Krankheit aber zum großen Teil in einer Neigung bestand,
zwischen Steinen und Bäumen umherzulaufen, das ist die un­
bestreitbare Voraussetzung für die Seelsorge dieser Hirten.
So viel ist nach den verschiedenen Andeutungen klar, daß die
Art eines Ortes an sich nicht entscheidend war. Die Nordländer
blickten auf den einzelnen Stein oder Felsen sowohl wie auf den
großen Berg, auf den W asserfall sowohl wie auf die Quelle und
den Fluß. Und dasselbe taten die Südgermanen. Agathias erzählte
der gebildeten Welt, die zu seiner Zeit, im sechsten Jahrhundert,
besonderen Anlaß hatte, sidi für die rothaarige Gefahr zu inter­
essieren, daß die Alemannen gewisse Bäume, Flüsse, Hügel pnd
Klüfte verehrten. Nach den heiligen Biographien zu schließen,
hatte der Missionar in Deuschland vor allem mit Bäumen zu
kämpfen; eine A xt war eine notwendige Ausstattung, wenn er
sich in eine finstere Gegend begab, und die Bekehrung zerfällt in
zwei Abschnitte: eine vor dem Fall des heiligen Baumes, wo die
Furcht des Volkes sich offenbarte, und eine nachher, wo das Volk
sich wunderte und seinen Irrtum einsah. In Bonifatius* Leben
erkennen wir sofort an vielen Zügen den festen Ablauf des Pro­
zesses, der für die legendarische Geschichtsschreibung so notwendig
w ar; aber die wunderbar mächtige Jupitereiche, die er im Lande
der Hessen so dramatisch fällte, hat jedenfalls typische Wirklich­
keit. Zum Teil mit Recht, aber weit mehr ohne Grund, hat der
W ald in den Vorstellungen von früherer germanischer Gottes­
verehrung eine hervorragende Stelle eingenommen. Für den Kultus,
der in unserer Zeit um diese gotische Naturkirche emporgeschossen
ist, ist Tacitus in hohem Grade verantwortlich. Er war es, der die
Deutschen mit seinen tiefsinnigen Worten von dem „Unsichtbaren,
das im Geiste geschaut wird“ , als Mystiker hinstellte. Nicht damit
zufrieden, zu erzählen, was ganz einfach erzählt werden konnte,
daß sie sich in einem H ain versammelten, der Hercules geweiht
war, daß ihre Göttin Nerthus in einem geweihten H ain wohnte
oder daß sie, allgemein gesprochen, H ain und H ag als heilig be­
trachteten — er versucht, seinen Lesern etwas von dem Wesen der
Heiligkeit zu erzählen, und als der Spätromantiker, der er ist,
ersetzt er die Schilderung, die seine Gewährsmänner ihm gegeben
haben, durch eigene sentimentale Lyrik.
Die Völker, die zwischen Feld und Hügel wohnten, verehrten
den H ain - einen Abschnitt der sie umgebenden N atur - in der­
selben Weise, wie Felsen, W asserfall und Berg bei Gebirgs-

134
bewohnern die häufigste - jedoch nicht ausschließliche - Wohn­
stätte des Heils waren. Die Schweden gingen in der Regel „ins
H o lz“ , zu dem Waldhügel. Aber der heilige O rt war nicht der
Geist oder die Idee des Hains, nicht der Schatten, das Säuseln des
Windes - es war die Stelle; das Erdreich wie der Stamm, die
Quelle, die aus dem Rasen hervorsprudelte, wie das Laub; auch
wenn der H ain sich nach vielen Richtungen hin erstreckte, unter­
schied sein Wesen sich nicht von der kleinen Stelle, die einen
Stein, einen Felsen oder einen einsamen Baum trug.
Rings um den O rt ging der Stabzaun, die heilige Einzäunung,
die an sich ebenso große Heiligkeit und „Atmosphäre“ enthielt
wie die geheimnisvollste Stelle im Dunkel innerhalb. D as Got­
landgesetz muß ausdrücklich den Zaun erwähnen, der in Würde
unmittelbar nach dem vê oder der heiligen Stelle selbst folgt.
„Wenn ein frith-geard —ein Friedenszaun — auf dem Grundstück
eines Mannes steht, um einen Stein oder Baum oder um eine
Quelle oder dergleichen ungöttliche Torheit . . . “ , so donnert eine
englische Verordnung, und es hat keinen Zweck, den Scharfsinn
mit der Frage zu bemühen, ob die Androhung in erster Linie die
Einzäunung betrifft oder den Raum, den sie umschließt; denn die
beiden sind identisch und gleicherweise von Heiligkeit beseelt.
Die Stelle war nicht reine N atur, sie war als der Welt der
Menschen zugehörig gekennzeichnet, und die Kennzeichnung scheint
gewöhnlich in einem Steinhaufen bestanden zu haben; als Auds
Andachtshügel in einen Familientempel verwandelt wurde, da
wurde ihr H olzkreuz durch einen Steinhaufen, hörgr, ersetzt. Die
Gesetze nennen ausdrücklich den H örg neben dem H ügel: „W ir
sollen weder heidnischen Göttern noch heidnischen Geistern opfern,
weder Hügel noch H örg.“
Dem heiligen O rt schließt sich das heilige H aus an. Immer
wieder lesen wir in der Landnama von diesem oder jenem vor­
nehmen Siedler, daß er ein großes hof, einen Tempel, baute. Und
in der Saga von den Siedlern an der Breidaförde finden wir eine
ausführliche Beschreibung des Gebäudes, das Thorolf bei seinem
Gehöft H ofstad errichtete, als er Thorsnes mit H elgafell weihte.
Das „H o f“ war ein großes H aus mit einer Tür in der einen
Seitenwand nach dem einen Ende des Hauses zu. Wenn man
durch die Tür trat, sah man an der langen Wand gegenüber den
Hochsitz mit den Pfeilern auf jeder Seite, die als Zeichen der
Macht mit Nägeln beschlagen waren. Am anderen Ende war ein

135
kleiner Raum, gleich dem Chor in einer diristlichen Kirche, und
dort stand ein stallr —ein Stein oder Block - mitten auf dem Fuß­
boden, wie ein Hochaltar. Das „H o f“ bestand also, wenn wir auf
das antiquarische Wissen der Saga bauen dürfen, aus einem kleinen
Gotteshaus und einem Festsaal oder Versammlungssaal. Die Aus­
grabungen alter isländischer Tempel haben diese Beschreibung be­
stätigt. Die Überreste der Grundmauern deuten einen großen
Raum an, der bis zu hundert Fuß lang w ar; er war länglich in der
Form und hatte an einem Ende eine abgetrennte Kammer mit
einer eigenen Tür ins Freie. Doch diese Kammer war anscheinend
von der langen H alle durch eine besonders dicke, undurchbrochene
Wand getrennt. Die große H alle im „H o f“ , die Festhalle, unter­
schied sich keineswegs von dem gewöhnlichen Versammlungsplatz
der Familie, sie war tatsächlich ein Gegenstück zu ihrer Wohn­
stube: hier begegneten sich die Teilnehmer am Opfer bei großen
Festen, aber auf kleineren Gehöften fand die Versammlung mit
derselben Feierlichkeit und mit demselben Erfolg um den alltäg­
lichen Herd statt. Der gemeinsame Aufenthaltsraum auf dem
Gehöft war die ursprüngliche Tempelhalle, und sie verblieb es
auch in vielen Häusern während der ganzen heidnischen Periode.
Egil kam eines Tages, hören wir, zu einem Gehöft, wo ein Opfer
stattfand, und er erhielt Unterkunft in einem Nebengebäude, da
das Opferfest im Hauptgebäude vor sich ging.
Wenn eine besondere Festhalle gebaut wurde, wurde sie mit der
Opferhütte, dem ajhus oder Nebengebäude, verbunden; so be­
nennt sie die Eyrbyggja mit einem Ausdruck, der dem Vergleich
mit christlichen Kirchen entnommen ist. Gewöhnlich hatte das
Gehöft sein kleines H of, eine Opferstätte, den Sitz der Götter
oder richtiger der Gottheit. In der Geschichte von dem nächtlichen
Besuch der Ingimundsöhne bei H rolleif und seiner Mutter Ljot
erhalten wir einen Umriß der Lokalitäten; als sie an das Gehöft
kamen, sahen sie zuerst eine kleine Hütte außerhalb des Ein­
ganges, durch einen kleinen freien Platz vom Hause getrennt,
und Thorstein sagte gleich, daß dies das Blothaus oder die O pfer­
hütte der guten Leute sein müßte. Und dies ist keineswegs das
einzige Mal, wo wir von solchen Blothäusern hören, die unmittel­
bar neben der Wohnung der Leute errichtet werden. In der Nacht,
wo die Söhne der Droplaug ihren Weg im Unwetter verloren,
orientierten sie sich dadurch, daß sie sich um eine Hütte herum­
tasteten, die plötzlich vor ihnen auftauchte; als sie an die Tür

136
kamen, erkannten sie sie als Spakbessis Blothaus. Wenn Hörds
Saga erzählt, daß Thorstein zu seinem Blothaus geht und eine
Art Morgengebet vor einem Stein verrichtet, bewegen die Ge­
danken des Erzählers sich so, wie seine eigenen christlichen Ge­
bräuche es veranlassen, aber er hat unzweifelhaft eine alte Über­
lieferung im Gedächtnis, die sich auf die frühere Anordnung der
Stelle bezieht. Beim Bau von Kirchen folgten die Männer wahr­
scheinlich meist oder doch recht oft denselben alten Regeln. Die
Beschreibung der Trinkhalle und der Kirche in Jo rfjara auf den
Orkney-Inseln erinnert lebhaft an Ljots Gehöft; dort hatte die
Trinkhalle eine Tür in der östlichen Giebelwand an dem Südende
des Gebäudes, und die Kirche lag vor der T ür zur H alle, so daß
man, da der H o f auf einem Abhang lag, von der H alle zur
Kirche hinunterging.
Das Blothaus repräsentierte den heiligen O rt; nach der alten
Vorstellung waren sie identisch, aber dies bedeutet nicht notwen­
digerweise buchstäbliche Identität der Lage. Das Blothaus ist
seinem Wesen nach dasselbe wie der H örg und hat auch ein Recht
auf den Namen, wenn H o f und H örg eine dauernde Verbindung
bilden, um den ganzen Tempel - Blothaus und Festhalle zusam­
men - zu bezeichnen. Wenn ein eifriger Forscher solche heilige
Bezeichnungen wie börgr und vé einer vergleichenden Sprach-
untersuchung unterzieht, um die Etymologie dazu zu verwenden,
eine topographische Skizze vom germanischen heiligen Land zu
entwerfen, so kommt er zu einem kläglichen Resultat; denn wäh­
ren der nordische hörgr der Steinhaufen und das Gebäude ist,
das den heiligen O rt kennzeichnet, so bedeutet bei den Südger­
manen das entsprechende harug den H ain selbst. Die Konstruk­
tionsgeheimnisse lassen sich den Wörtern nicht entringen. Aber
für den, der zu wissen wünscht, was wirklich da ist, und nicht
was nach seiner Meinung da sein müßte, geben sie volle A uf­
klärung. Was der Hügel und der Hain, der H örg und das Blct-
haus wirklich sind, ist vé, das Heilige, der heilige Ort, die Quelle
der Macht, und der Hinweis auf eine bestimmte Form wie Haus
oder Haufen, Einzäunung oder Zaun ist nur eine Schale um den
großen Kern von Bedeutung; deshalb gleitet der Name unmerk­
lich von dem einen Ding auf das andere über, und deshalb kann
das W ort die scheinbare Undeutlichkeit in der Verwendung
haben, die uns in Unwissenheit darüber läßt, welches Bild der
Text im Augenblick meint. Auf Auds Andachtshügel erhob sich

137
an Stelle eines Kreuzes ein Steinhaufen, und vielleicht wurde der
Hörg auch noch von einem Hause bedeckt; wir haben gesehen,
daß Thord Gellir zum Herrn des Hauses geweiht wurde, indem
er „in den Hügel geführt wurde“ , und diese Worte beziehen sich
vielleicht auf das Blothaus. Das norwegische Gesetz bedroht den
Mann mit schweren Strafen, der überführt wird, einen Hügel
oder ein H aus errichtet und es „H ö rg“ genannt zu haben. Und
es will damit ohne Zweifel die verschiedenen Formen von Glau­
ben an heilige Orte treffen.
Das Blothaus stand zweifellos unmittelbar an dem heiligen Ort,
wenn dieser, wie es der Fall sein konnte, sich direkt an das
Wohnhaus anschloß. Andererseits scheint es, daß der H örg auf
Auds altem Wohnsitz Hvamm eher etwas abseits gelegen hat.
Jarl Hakons Blothaus erreichte man nach der Mitteilung des alten
Sagaschreibers, wenn man vom H ofe in den W ald ging, erst auf
einem breiten Wege, von dem nachher ein kleiner Pfad abbog;
der Pfad endete in einer Lichtung, in deren Mitte ein H aus stand,
von einem Stabzaun umgeben. Innerhalb dieser Umzäunung war,
unserm Gewährsmann zufolge, ein H aus mit so vielen G las­
fenstern, daß nirgends ein Schatten Platz fand. Den Raum er­
füllte eine Schar von Göttern, und in ihrer Mitte thronte eine
Göttin mit einem Ring am Arm. Der Jarl w arf sich vor ihr kopf­
über zu Boden, häufte eine Menge Silber vor ihren Füßen auf
und ereichte dadurch, daß die Göttin sich langsam so weit er­
weichen ließ, daß sie ihre H and öffnete und dem Jarl erlaubte,
den kostbaren Ring von ihrem Arm zuziehen. Diese Beschreibung
des Inneren schmeckt nach mittelalterlicher Buchgelehrsamkeit und
klerikaler Phantasie, aber der Mönch spinnt offenbar seine M är­
chen über einen Kern von Tatsachen, nämlich den, daß der Jarl
seinen Freund Sigmund zu seinem Blothause führte, um Segen
für ihn zu erwerben, bevor er ihn auf ein gefährliches Unter­
nehmen hinausschickte, und daß der Segen in einem Ring ent­
halten war, der in dem Heiligtum ruhte. Echt, das heißt dem
wahren Geist des alten Lebens entsprechend, sind auch die Worte:
„Der Jarl sagte, daß Sigmund sich nie von dem Ring trennen
dürfe, und Sigmund gab sein Versprechen.“ In nahezu allen nor­
wegischen Schriftdenkmälern aus der Zeit von O laf und H akon
spüren wir die mittelalterliche Schaustellung von allerlei Ange­
lesenem und die unbändige Neigung der Schüler, das Gelernte
zu verwenden. Nichtsdestoweniger hat die klerikale Phantasie an

138
den meisten Stellen eine überlieferte Grundlage, auf der sie auf­
baut, und wir sehen kaum anderswo so deutlich, wo die Wirklich­
keit endet und die Phantasie beginnt, wie in dieser Beschreibung
von Sigmund, der von Jarl H akon „in den H örg geführt wurde“ .
Wir wissen nur wenig über die anderen germanischen Tempel,
und dies wenige fügt sich ohne Schwierigkeit dem überlieferten
Bilde ein. Das einzige geschichtliche Beispiel, das wir von einem
englischen Tempel besitzen, ist ein H örg mit einer Umfriedung,
und der H örg ist eine überdachte Stelle, eine Opferhütte. Beda
zeigt uns den bekehrten heidnischen „Bischof“ , wie er in seinem
ersten Eifer gegen die alten Götter losstürmt. „Wer will der erste
sein, die Altäre und den H örg mit ihren Zäunen umzuwerfen?“
ist die Frage, und der „Bischof“ antwortet: „Ich.“ Und dann
brach er durch Furcht und Ehrfurcht, indem er seinen Speer in
den H örg w arf, und seine Gefährten vollendeten das Werk,
rissen den H örg nieder und verbrannten ihn mitsamt dem um­
gebenden Zaun. - Die römischen Hinweise sind hier und dort
zerstreut: bald eine zufällige Beobachtung in bezug auf die Lage
eines Tempels, bald eine ebenso zufällige Bemerkung über die
Tatsache, daß ein Tempel dem Erdboden gleichgemacht werden
konnte - so daß die verschiedenen Einzelheiten nicht zu einem
zusammenhängenden Bilde zusammengestellt werden können. Die
Tempel, von denen wir hören, lagen in Hainen, das heißt, unmit­
telbar auf dem heiligen Ort; es waren keine Gebäude zum Ein­
sperren des Göttlichen, sagt Tacitus, und wir müssen wohl ver­
muten, daß er einige Gewähr für diese Bemerkung hatte, auch
wenn wir uns nicht von seiner Verallgemeinerung blenden lassen.
Sicher stand der H örg oft im Freien, das können wir in der Be­
schreibung der Begegnung der römischen Soldaten mit Varus’ ver­
lorenen Legionen deutlich zwischen den Zeilen lesen: die gebleich­
ten Gebeine der Krieger lagen auf dem Felde neben Bruchstücken
von Waffen und toten Pferden, abgeschnittene Köpfe hingen in
den Bäumen, und in dem Hain dicht daneben waren die Altäre,
wo römische Offiziere geopfert worden waren. D a wir anderer­
seits von Opferfesten in den Hainen hören und von Tempeln, die
dem Erdboden gleichgemacht wurden, können wir mit Sicherheit
schließen, daß Gebäude irgendwelcher Art in der Nähe des Hörgs
errichtet wurden; natürlich müssen alle heiligen Orte, die für
würdig befunden werden, in einer höchst offiziellen Geschichte
erwähnt zu werden, Mittelpunkte großer Gemeinschaften und in­

139
folgedessen sorgfältiger ausgebaut gewesen sein als die beschei­
deneren Heiligtümer der Sippen.
Im Blothaus stand ein Stein, erzählt die H ördsaga, und dieser
Felsblock ist ein gutes Zeugnis dafür, daß der Erzähler seine
Beschreibung von Thorstein und seiner Morgenandacht auf einer
wirklichen Überlieferung aufbaute, denn ohne einen solchen Zügel,
der ihn bändigte, hätte er ebensogut dem Anbetenden ein „Id o l“
schenken können. Durch diesen Stein offenbarte sich dem Thor­
stein die Zukunft in einem Vers über seinen nahen Tod - und
auf seinem Wege zurück über den freien Platz fiel die Rache
über ihn her. Dieser Felsblock ist außerdem als der Sitz der Götter
dem Wesen nach dasselbe wie der H örg und wie der Stein, die
in dem Hause auf Hvamm, dem Gehöft von Thord Gellir, die
Wohnung der heiligen Macht waren.
Ein solcher Felsblock wurde stallr genannt, und er wird immer
wieder mit dem fremden Altar verglichen. Man konnte auf ihn
treten, um mit den Mächten in Verbindung zu kommen und sie
in Bewegung zu setzen. Auf ihm lagen die heiligen Dinge, die
Hauptkleinode des Tempelvorstehers, vor allem der heilige Arm­
ring, der bei allen feierlichen Gelegenheiten die Götter und große
Heiligkeit verkörperte. Auf diesen Ring wurden große Eide ge­
schworen, und er wurde vom Häuptling getragen, wenn die
Kriegerschar in heiliger Schlachtordnung hinauszog. Glücklicher­
weise - für uns - rettete der Tempelring einmal den Herrn von
Helgafell, den Goden Snorri, als Steinthors Hieb nach dem K am pf
bei Karsstad seinen Arm traf; denn es ist dieser mißlungene
Hieb, dem wir es verdanken, daß wir jetzt im glücklichen Besitz
einer historischen Tatsache an Stelle einer notgedrungenen Ver­
mutung sind. Wir wissen, daß der Priester bei den Gesetzesver­
sammlungen den Ring als Zeichen seiner Würde anlegte; damit
wissen wir, daß er ihn trug, sobald er sich auf sein großes Heil
verließ. Und nun begreifen wir sofort, warum Krieger und Ring
so unzertrennlich sind. Die angelsächsische Chronik erzählt von
einigen bösen Dänen, denen Alfred den K opf zurechtsetzte; sie
schwuren ihm Frieden auf den heiligen Ring, eine Ehre, die sie
nie früher einem Volke zugestanden hatten. Tacitus hatte über
die Selbsteinweihung der Chatten zum Kriegerleben gehört, daß
sie den Ring nahmen und ihn als ein Zeichen ihres Anrechts auf
den vordersten Platz in der Schlacht und ihrer Gleichgültigkeit
gegen friedliche Beschäftigung trugen. Mit anderen Worten: der

140
Ring war ein Zeichen, daß sie zu einer heiligen Schar gehörten,
die vom gewöhnlichen Lebenskreis abgesondert war.
Dieses Kleinod war so hoch über den gewöhnlichen Besitz er­
haben, wie die große Heiligkeit über den gewöhnlichen Segen
des Alltags, und aus ihm schöpften alle anderen Werte ihre K raft;
der heilige Gegenstand war die Hauptquelle der Schätze, die dem
Geschlecht gehörten, wie es in der mythischen Legende von Draup-
nir, Odins Ring, ausgedrückt wird, von dem es heißt, daß von
ihm jede neunte Nacht acht Ringe tropften. Der religiöse C harak­
ter des Tempelkleinods zeigt sich in dem mönchischen Bericht
von dem Ring, den Ja rl H akon der Thorgerd Hölgabrud vom
Arm nahm und seinem Freund für immer schenkte. Sigmund
mußte dem Jarl versprechen, daß er ihn nie verschenken werde,
und er hielt sein Versprechen trotz schwerer Versuchung. Nach
Hakons Tod, als Sigmund O lafs und Gottes Mann geworden war,
fiel der Blick des Königs zufällig auf den schweren Goldring.
Er betrachtete ihn näher und sagte: „W illst du mir den schenken,
Sigmund?“ Aber Sigmund antwortete frei, daß er Heil und
Freundschaft des Gebers zu hoch schätze, um das Kleinod zu
verschenken. „Es kann sein, daß dir sowohl der Geber wie der
Ring gut dünken“ , sagte der König, „aber das Heil wird dir
nicht frommen, denn der Ring wird dein T o d .“ Und so kam es.
O laf hatte recht, man kann nicht Gottes Stärke in seinen Gliedern
und Hakons Opferring am Arm tragen.
Von gleicher Bedeutung wie die norwegischen Schilderungen
von dem Ring auf dem stallr ist Tacitus’ Beschreibung von den
heiligen „Zeichen“ in der Form von Tieren, die in Kriegszeiten
aus dem H ain geholt und im Volke herumgetragen wurden. Die
Nordländer kannten ebenfalls solche Häuptlingskleinode, Banner,
die auch als vé bezeichnet wurden, die einem Heere in der
Schlacht den Weg zeigen und außerdem das Glück wenden konn­
ten, wie sie wollten. H arald der Gestrenge hatte ein Banner, das
„Landverwüster“ hieß, und dieser tüchtige Sieger in Schlachten
hatte sicher viele Vorgänger gehabt, die in Blothäusern an den
Heimstätten der großen Kriegshäuptlinge aufbewahrt wurden.
Die Einheit des Banners mit dem heiligen Ort ist in dem Worte
vé angedeutet, das ohne Unterschied als Bezeichnung für das
Banner und die heilige Umfriedung gebraucht wird.
Daß es hauptsächlich die Reichen und Mächtigen waren, die
sich besondere Tempelhallen bauten, ist durch mehr als die Tat-

141
sache begründet, daß sie die Mittel dazu besaßen, etwas über
das Gewöhnliche hinaus zu tun. Das Heil machte die Sippe groß,
vermehrte ihren Reichtum und schuf die Notwendigkeit eines
geräumigen Versammlungsortes für alle Verwandten, wenn sie
von nah und fern zusammenkamen, um ihr gemeinsames Leben
zu stärken. Wenn ein Zweig der Familie sich absonderte, um
ein unabhängiges Leben zu führen, holte er sich wohl Heiligkeit
vom H örg der Vorfahren und pflanzte ein Heiligtum wie einen
Absenker in seine eigene Mitte. Aber das Gefühl der Gemein­
schaft wurde nicht zerstört, wenn die engere Verbundenheit in
gemeinsamen Erinnerungen und gemeinsamen Zielen sich auflöste.
Bei großen Festlichkeiten versammelten sich alle am heiligen Ort,
aus dessen K raft die neuen Heilzentren gebildet worden waren.
Und auf der Stelle, wo die Sippe sich seit alter Zeit zu treffen
gewohnt war, wurde ein großes „H o f“ errichtet, groß genug, um
allen, die sich zur selben Ham ingja bekannten, Einlaß zu gewäh­
ren und mit ihnen anderen Sippen, die bei den Göttern der
Mächtigen Zuflucht gesucht hatten. Es waren solche „H öfe“ , die
Thorolf und Thorhadd mit sich an Bord nahmen; denn aus dem
Zusammenhang sehen wir deutlich, daß ihre Tempel für andere
außer der kleinen Gesellschaft, die sich auf die große Reise begab,
Bedeutung hatten; Thorolf und Thorhadd waren in ihrer alten
Heimat kraft ihres Heils Häuptlinge gewesen, und sobald die
Hochsitzpfeiler in dem neuen Lande errichtet worden waren,
zeigte sich die Macht des H ofs, die Leute heranzuziehen. Die G au­
könige des Mutterlandes wurden Führer unter den Siedlern, und
ihre Opferfeste wurden von allen besucht, die ihre Führerstellung
anerkannten.
Aber das „H o f“ war keine notwendige Bedingung für die
Anbetung der Götter, und wir dürfen die Linie nicht so ziehen,
daß die großen Männer mit einem H of auf der einen Seite stehen
und auf der anderen Seite kleinere Leute, die nur ein Blothaus
hatten. Das Wachstum eines Geschlechts zerstörte nicht unbedingt
das alte Verhältnis zwischen der Opferhütte und der Festhalle;
und auch wenn die Anzahl der Verwandten zu der Errichtung
eines besonderen Versammlungshauses führte, bedeutete diese Aus­
dehnung doch nicht durchaus, daß ein Tempel vom isländischen
H oftyp gebaut werden sollte. Vielleicht ist die isländische Erfin­
dung, die Hütte mit der H alle zu verbinden, den Siedlern durch
ihre Kenntnis der christlichen Gotteshäuser nahcgclegt worden,

142
die viele von ihnen bei ihrem Aufenthalt auf den britischen Inseln
gesehen hatten; eine Neuerung dieser Art konnte sich bei einer
Bevölkerung leicht einstellen, die in einem neuen Lande ihr Leben
von vorne beginnen mußte. Der Bericht über die Händel, die die
reformierenden Könige von Norwegen mit ihren hartnäckigen
Untertanen wegen religiöser Angelegenheiten hatten, enthält keine
Hinweise auf kirchenähnliche Gebäude. Als O laf den Götzen­
anbetern von Drontheim ihre altertümlichen Gebräuche vorhielt,
konnten sie sich - nach der Saga - unschuldig stellen, als wären
sie nur gute Genossen, die sich zufällig bei einem Freundesfest
trafen. „W ir hatten Julgelage und geselliges Trinken im ganzen
Bezirk, und die Bauern sind nicht so knauserig bei der Vorberei­
tung zum Julfest, daß nichts übrigbleiben sollte, um nachher lustig
zu sein. Und was Maeri (den alten Opferplatz) betrifft, so ist es
ein großer, sehr geräumiger Ort, und die Nachbarschaft ist reich
bevölkert, und die Männer meinen, daß gemeinsames Trinken die
Heiterkeit erhöht“ , — so begegneten die Bauern sanft den Be­
schuldigungen des Königs.
In der Laxdcelasaga lesen wir von einem isländischen H äupt­
ling, O laf Pfau, der sich durch seine persönlichen Eigenschaften
über die soziale Stellung seines Vaters erhoben hatte; nach einer
Weile wurden seine Zelte ihm zu klein, und er baute deshalb bei
seinem Gehöft eine Festhalle, deren prachtvolle Ausschmückung
in U lf Uggasons Gedicht, der H aus-D rapa, gepriesen wird. Leute,
die die Holzschnitzereien von Thors K am pf mit dem Midgard­
wurm und Balders Scheiterhaufen gesehen hatten, behaupteten,
daß die H alle ohne Behang schöner war, als wenn sie mit Tüchern
ausgeschlagen wurde, wie es bei großen Festlichkeiten Sitte war.
Dieses H aus ist deutlich kein „ H o f“ , und die Saga hat wahr­
scheinlich recht, wenn sie O lafs große T at als eine rein weltliche
Unternehmung schildert; aber natürlich ist eine solche Festhalle
der Ort, wo die Opferversammlur.g zusammenkommt, und das
Gebäude auf H jardarholt mag typisch gewesen sein für eine
gewisse Art von größeren Gehöften.
Hundert Jahre nach der ersten Ansiedlung auf Island hörten
alle O pfer auf, aber sie hinterließen keinen leeren Raum. Die
wohlhabenden Leute fuhren lange danach fort, ihre Freunde und
Verwandten im Herbst zu einem großen Gelage zusammenzurufen.
Und in der Festhalle blieben hier und dort die alten Hochsitzpfeiler
als ein Bindeglied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit.

143
Um den Bierkessel

Zweimal, dreimal im Jahr, vielleicht auch häufiger, versam­


melten die Leute sich in der Stube oder in der Tempelhalle zum
Opferfest, zum blót.
Die Zeit des Opferfestes hob sich gegen die anderen Lebens­
zeiten als etwas Hohes ab, etwas Heiliges und Ernstes, etwas
Glückliches und zugleich Gefährliches. Sie war erfüllt von wildem
Jubel und entschlossenem Ernst. Und das, was zu diesen Zeiten
den Seelen der Menschen Weite und Spannung gab, war die
Anwesenheit des Höchsten. Nun nahmen die Götter oder die
Mächte, wie die Nordländer sagten, das Heim ganz in ihren Besitz
und vereinigten Männer und Frauen in Verantwortlichkeit vor
der höchsten Heiligkeit. Die heilige Stätte breitete sich über das
ganze Land aus.
Wir möchten gern etwas von den Gebräuchen wissen, unter
welchen die Männer die Heiligkeit des heiligen Ortes in das H aus
hineintrugen und die Stube unter die uneingeschränkte Herrsdiaft
des H örg stellten - aber alle Erinnerungen sind begraben, und
der Widerwille des Mittelalters gegen alles Heidnische und dessen
Werke liegt wie ein Stein auf dem Grabe. Wir haben unsere
Vermutungen darüber, wie die Teilnehmer den Weg zum heiligen
Ort oder zum Blothaus gingen und die Göttlichkeit in ihre Glie­
der und Kleider aufnahmen. Wir lesen auch an einer Stelle von
einem besonderen Blot - demjenigen, das Ljot hielt, als sie ver­
suchte, ihren Sohn unverletzbar gegen die Feindschaft der Ingi-
mundsöhne zu machen - und hier scheint es, daß der junge Mann,
den die Opferhandlung betraf, in einer besonderen roten Tracht
von dem Wohnhaus zum Blothaus geführt wurde. An diesem
kleinen Familienfest sind verschiedene Unregelmäßigkeiten, die
uns davon abhalten, den vielversprechenden Jüngling und seine
unternehmende Mutter als Zeugen für das Betragen ehrlicher
Leute in den Festhallen heranzuziehen. Der Sagaschreiber sieht
mit bösen Blicken auf die Vorgänge in dem kleinen Hause, das
ein wenig abseits von der Eingangspforte stand, es waren Zaüber-

144
künste von verdächtiger Art, und seine Meinung ist nicht nur vom
christlichen Standpunkt aus berechtigt, denn heimliches Bloten
ist mehr als halbe Zauberei. Aber es ist zweifellos ebenso sicher,
daß das Blot in bestimmten überlieferten Formen gehalten wurde.
Der Weg, den Thord Gellir am Beginn seines Manneswerkes ging,
muß oft betreten worden sein, und aller Wahrscheinlichkeit nach
gerade zur Zeit der großen Feste.
Glücklicherweise konnten viele von den heidnischen Handlun­
gen harmlos, ja sogar dem Herrn heilig gemacht werden, und
von dem Augenblick an, wo die Opfergenossen in der Stube ver­
sammelt sind, liegt das alte Blot offen vor uns.
Wir können ruhig sagen, daß das Fest mit einer feierlichen
Einweihung begann durch die über die Teilnehmer Friede ver­
kündet wurde. Ein Fest und ein Gesetzesthing waren ihrem in­
nersten Wesen nach in ihrer Abhängigkeit vom höchsten Frieden
verwandt, und nach allem, was wir schließen können, waren sie
sich in der Form ähnlich. In Island „weihte“ der Priester das
Gesetzesthing, und die Wirkung zeigte sich gleich in der gestei­
gerten Heiligkeit der Thingmänner, die jede Kränkung, die ihnen
zugefügt wurde, doppelt so teuer machte als ein Vergehen zu an­
deren Zeiten. Im Geiste des Gesetzesthings ist es, wenn H afr in
der Grettirsaga die Spiele weiht, die auf Hegranes stattfinden,
wo der geächtete Räuber verkleidet erscheint und um Zutritt
bittet, und es ist noch in H afrs Worten etwas von dem Rauschen,
mit dem der Geist der Heiligkeit über das Volk niederschwebte
und alle in tiefstes Schweigen versetzte: „Hier setze ich Friede
(grid) zwischen alle Männer, alle Häuptlinge und guten Bauern,
die ganze Schar von waffentüchtigen Männern und Kampffähigen
. . . zu Lust und Spiel, zu jeder Freude, zu Sitz hier und Heim­
kehr . . . Ich setze grid für uns und unsere Verwandten, Freunde
und Verbündeten, für Frauen und Männer, Knechte und Mägde,
Dienstleute und selbständige Männer.“
Obgleich nichts von dem, was uns diese Zeilen bieten, unmittel­
bar für das Opferfest verwendbar ist, gibt die Formel doch einen
Hauch von dem Geiste, in welchem eine Männerversammlung er­
öffnet wurde.
Während die Ohren der Anwesenden von den erläuternden
Worten erfüllt wurden, waren ihre Augen sicher voll von der
Wirklichkeit des Blotes; es stand ein wenig abseits in den ge­
füllten Gefäßen. Tiere wurden zu dem Fest geschlachtet, großes

145
Vieh und kleines Vieh, riesige Kessel voll Fleisch wurden aufs
Feuer gesetzt, und wir wissen aus dem Erlebnis Fiakon Æthel-
stansfostris, daß es eine notwendige Bedingung für die Teilnahme
am Segen war, vom Opfer mitzuessen. Aber es war etwas an­
deres und etwas Wichtigeres als dieses, was Auge und Ohr be­
schäftigte. In der Wohnstätte der Götter bildete Sarhrimnir, der
Eber, der nie aufgegessen wurde, wie viele Speckscheiben auch
von seinen fetten Seiten abgeschnitten wurden, einen köstlichen
M ittelpunkt; aber trotz all seiner fetten Herrlichkeit fehlte ihm
doch die Majestät, die sich darin zeigt, daß man eine Geschichte
hat. Es mögen ja Mythen von seiner Vergangenheit berichtet haben,
aber jedenfalls setzte der Ursprung des Specks die Neugierde spä­
terer Zeiten nicht so in Bewegung wie der Erfrischungstrank, der
in der H alle der Götter die Gemüter erheiterte. In dem innigen
Verweilen des Mythos bei der reichen Vorgeschichte des Mets
haben diese Leute indirekt bewiesen, daß sie, trotz aller Freude
über das Fleisch, das im Kessel unter der Fetthaut Blasen schlug,
doch etwas Glücklicheres und Stärkeres erwarteten. Die gefüllten
Hörner waren es, um die der heiligste Teil des Festes stattfand.
Daß es der Bierkessel ist, der in jeder Vorstellung von gemein­
samer Festlichkeit den beherrschenden Platz einnimmt, das be­
weisen schon die Namen der Gelage. Eine Heimkehr wurde bei
einem Willkommbier gefeiert, und wenn der Gast sich verab­
schiedete, wurde er mit einem Abschiedsbier auf den Weg geschickt;
das Leben begann mit einem Taufbier und verlief über Ver­
lobungsbier und Brautbier und Hochzeittrinken zum Erbbier oder
Grabbier - eine Reihe von „Bieren“ , die jeder Gelegenheit ge­
recht wurden. Es hat seinen guten Grund, daß der Friede, der
die Teilnehmer eines Festes umfaßt, Bierfriede genannt wird und
die Festzeit mungátstidir, d. h. Biertage.
Die nordeuropäischen Bruderschaften oder Gilden zeigen deutlich
ihren germanischen Ursprung in der Abhängigkeit vom Gelage,
von der Tischgenossenschaft als vereinigender, gemeinschafts­
bildender Kraft, und trotz aller weiser Bemühung des Mittel­
alters, etwas Solides auf dem Tisch zu haben, geht aus den For­
meln und Symbolen dieser braven Trinkbrüder doch sehr deut­
lich hervor, daß der Trank ein gewichtigerer Bestandteil ihrer
geistigen Haushaltung ist als die Speise. Die Trinkgemeinschaft
bildet geradezu den formellen Rahmen ihrer ganzen Organisa­
tion. Die Versammlung heißt „das Trinken“ , eine Versammlung

146
abhalten wird immer genannt „ein Gelage trinken“ , auch wo der
Zweck der Versammlung etwas Praktisches ist. „D as Gelage wurde
mit Kraft gefeiert und getrunken“ ist eine regelmäßige Form von
Eintragung in das Protokoll einer begebenheitsreichen General­
versammlung. Der anwesende Bruder wird im Gegensatz zu
einem Abwesenden als einer vermerkt, der „das Gelage trinkt“ ,
und die Zeit wird berechnet nach „dem erstenmal, wo das Ge­
lage getrunken wurde“ oder „vor dem zweiten Gelagetrunk“ ;
eine Sache wird aufgeschoben „zum nächsten Gelage“ . Der neue
Bruder wird vor den Vorstand der Gilde geführt und trinkt
seine Eintrittskanne auf wahre Bruderschaft. Wir verstehen wei­
ter, daß Küfer, Mundschenke und Koster eine bevorzugte Stel­
lung in der Organisation innehatten; ihre Würde beruht nicht
darauf, daß sie als nützliche Brüder mitwirken und dafür sor­
gen, daß der Körper als unentbehrlicher Gefährte der Seele in
seinem Dienst ermuntert wird; sie sind in Wahrheit der körper­
liche Ausdruck für die Idee der Bruderschaft.
Diesen formellen Überlieferungen entsprechen unsere unmittel­
baren Nachrichten über den ausgezeichneten Platz des Trankes
bei den alten Kultfesten. In dem überlieferten Bild des O pfer­
festes auf H ladir ist es Jarl Sigurds imposante Gestalt mit dem
Opferhorn, die den Mittelpunkt bildet; und als der neue Brauch
sich über diese heidnischen Versammlungen empört, da wendet
der Widerwille sich deutlich gegen dieses „Bier“ , das den Göttern
geweiht war; Christi Erzfeind steckte im Becher. Ein Gelübde in
der N ot bezog sich auf Güter und Bier. Als eine isländische Ge­
sellschaft vom Wetter aufgehalten an der Küste Norwegens lag
und aus guten Gründen den Besuch des Königs an Bord fürch­
tete, versprach sie den Göttern große Trinkgelage; Frey sollte
das Bier haben, wenn der Wind nach Schweden hinüber wehte,
Thor oder Odin, wenn er östlich wäre, lesen wir. Und als das
Wort blot wegen seiner innigen Verbindung mit dem Heiden­
tum aus dem Wortschatz verschwand, schoß samburdaröl (Ge­
nossenschaftsbier: ein Gelage, zu dem jeder der Teilnehmer etwas
beitrug) an seiner Stelle empor, und zwar als die technische Be­
zeichnung für das Julfest sowohl in der heidnischen Form wie
für die christliche Fortsetzung der alten Feier. Denn im norwe­
gischen Christentum wurde der Trank als das Wesentliche an der
Gottesverehrung betrachtet. Die Kirche organisierte den alten
Bedarf an Blot, um auf diese Weise darüber zu herrschen und

147
es zu einer Angelegenheit der Kirche selbst zu machen; und mit
der Weisheit, die der katholischen Kirche in den ersten Jah r­
hunderten des Mittelalters eigen scheint, verstanden die geist­
lichen Gesetzgeber nicht nur das Unvermeidliche zu respektieren,
- sie besaßen vielmehr eine höhere Einsicht, die ihnen sagte, daß
sie die Seele annektieren könnten, indem sie den Bedarf der Seele
annektierten und zum eigenen Gebot machten. Die Formel, in
welcher die Übernahme erklärt wird, steht als Kulturzeugnis weit
über allen Berichten der Historiker, weil das Gefüge der Worte
die Sicherheit zeigt, mit der es direkt ins Wesentliche trifft. Min­
destens drei Bauern - sagt die Verordnung - sollen ihr Fest­
bier zusammenbringen, ein Maß Bier für den Hausherrn und
eins für die Frau in jedem Hofe, und am Heiligen Abend sollen
sie ein Fest zu Ehren von Christus und Sankta M aria feiern.
Und wenn ein Mann so weit weg, auf einer Insel oder in den
Bergen, wohnt, daß er nicht zu seinen Nachbarn kommen kann,
da soll er selbst ein Bier machen, so groß wie drei. Die Unter­
lassung soll zuerst mit einer Geldstrafe gebüßt und darauf durch
ein Trinkgelage post festum wieder gutgemacht werden; fährt
aber ein Sünder fort, drei lange Jahre nacheinander trockenen
Mundes zu sein, dann sind König und Bischof Herren über sein
Haus, und er mag sich außerhalb von Norwegen ein Land suchen,
wo Gottlose gedeihen.
Nicht nur die Nordländer versammelten sich um die Bier­
bottiche, wenn sie sich von den Göttern dazu angeregt fühlten,
ein Blot zu halten. Die Franken taten es auch. Ein Mann in
hoher Stellung, Hocin, lud Chlothar den Ersten und seine H of­
leute samt dem heiligen Vedastus zu einem Fest. Das Festbier
stand in der Mitte des Hauses bereit, aber mit Rücksicht auf die
gemischte Art der Gesellschaft war es in zwei Lager geteilt. Der
eine Teil umfaßte das gewöhnliche Bräu für die Christen, und
hierzu kam dann etwas, das „au f heidnische Art geweiht war“ ,
für diejenigen, die dem alten Brauch folgten. Zum Glück für uns
trieb der Geist den heiligen Mann dazu, dieses Fest zu besuchen,
sonst wäre das Bier nie in den Bericht über das Leben und die
guten Taten des Heiligen gekommen; denn als er den heid­
nischen Trank sah, machte er das Zeichen des Kreuzes über ihn,
so daß die Bottiche barsten und die Heiden bekehrt wurden. Im
Leben des Missionars Columbanus wird ein anderer Kessel er­
wähnt, der dieselbe explosive K raft enthielt. Diesmal war es bei

148
den Sueben, wo ein heiliger Mann die Versammlung bei einem
Feste vorfand; sie saßen um einen großen Bottich, „der in ihrer
Sprache cupa genannt wird und 26 Maß enthält, und er war voll
von Bier, das wollten sie ihrem Gott Wodan weihen“ . Der H ei­
lige blies den Kessel in Stücke, so daß es allen kund wurde, daß
der Teufel in der Tonne saß und auf suebische Seelen lauerte.
Was nun immer die Leute gesagt und der Heilige wirklich getan
haben mag, der fromme Biograph muß doch in bezug auf diese
Bierbottiche und ihren zentralen Platz beim Kultfest recht haben,
denn eine so anormale Form von Gottesdienst können die kleri­
kalen Chronisten aus keiner anderen Quelle als der der W irk­
lichkeit geholt haben.
Es scheint, daß das Christentum, das die südlichen Germanen
eroberte, leider den rechten Blick für die frömmigkeitsfördernde
K raft der Bierkessel hat vermissen lassen oder-es jedenfalls fertig­
gebracht hat, ohne sie gute Christen zu machen; aber trotzdem
vergaßen die Nachkommen der Alemannen und der Sueben nie
ganz, sich in Erbauung um ihre cupa zu versammeln. Hier und
da lassen die alten Deutschen uns verstehen, daß sie wohl das
Verlangen nach St. Gertruds Minne kannten, wenn die Seele
unruhig war und der Gesellschaft bedurfte oder beim Abschied
nach Trost, nach Versöhnung, nach Segen seufzte. Johannisminne,
Johannissegen ist der Name eines anderen guten Tranks, dessen
Wirkungen man bewahrt hat, indem man ihn schlauerweise ein
wenig mit einem christlichen K raut gewürzt hatte; wenn es eine
Hochzeit gab, ließen die Leute den Priester in der Kirche amorem
Sancti Johannis für das Brautpaar weihen, und er ist gern bereit,
eine kleine Rede über das Blut Christi und die Hochzeit in K ana
zu halten; aber er kann das Bier nicht gänzlich in Wein verwan­
deln, da die Johannisminne aus rein weltlichen Gefäßen getrun­
ken werden muß. An anderen Orten hat der Johannistrunk seinen
sozialen Charakter als eine K raft bewahrt, die die Menschen in
Friedenskreisen vereinigt, wenn die Nachbarn sich in Mengen um
den Tisch im Freien setzen und auf gute Nachbarschaft trinken.
Germanisches Heidentum wird man vergebens in dem Segen der
Johannisminne suchen — christlicher Abendmahlsglaube und die
alte Sitte der Libation haben den Trank durchströmt; aber wir
können doch ohne Zweifel annehmen, daß die Art und Weise,
wie der Segen in diesem Falle empfangen wird, in alten Sitten
der Heim at wurzelte.

149
Die gesamten Erzeugnisse der lustigen Brüder und der gestren­
gen Heiligen beweisen uns nicht, daß das Trinkblot zu irgend­
einer Zeit die einzige Form germanischer Götterverehrung war;
sie deuten nur an, daß der Trank im ganzen germanisdien Be­
reich bis zu den letzten Tagen des Heidentums den Mittelpunkt
des alten Kultes bildete, und das tat er wahrscheinlich von der
Zeit ab, wo die Götter unsern Vorfahren das mächtige Geheimnis
des Bieres offenbarten. Es erschien offenbar Tacitus’ germanischen
Zeitgenossen ganz natürlich, sich im heiligen Haine zu einem
Trinkgelage zu versammeln, und wir gehen kaum zu weit in
unsern Schlüssen, wenn wir annehmen, daß die Germanen, als
die gewaltigen Trinker, die sie waren, sich in dieser Kunst unter
den Auspizien der Götter selbst geübt hatten.
Als Vedastus als Gast unter die Franken trat, wurde sein Blick
sofort von dem großen Bierkessel gebannt. Er stand in der Mitte
des Kreises, und einen ähnlichen bedeutsamen Platz muß das
norwegische skapker eingenommen haben, aus welchem der Trank
geschöpft wurde. Die Kraft, die sich dem Mann Gottes auf so
unheimliche Weise offenbarte, machte sich auch im Norden deut­
lich bemerkbar, denn neben diesem skapker stand der Schuh, in
welchen eine adoptierte Person beim „Eintritt“ in die Sippe treten
mußte. Das Gefäß war heilig, und sein Platz war heilig und voll
von Kräften. Aber das Fest forderte auch reine Trinkgefäße in
den Händen, Hörner, die an Heiligkeit dem Segen entsprachen,
den sie im geselligen Kreise herumtragen sollten. Ohne Zweifel
waren die im Alltag gebräuchlichen Schalen wie alle neumodischen
Erfindungen von den hohen Feiertagen ausgeschlossen. D as Ge­
lage sollte aus den ehrwürdigen Rinderhörnern getrunken werden
—so etwas wird tatsächlich in der geschichtlichen N otiz über O laf
Kyrris Bruch mit der Vergangenheit angedeutet: bevor er das
Hofzeremoniell nach modernen Ideen reformierte, pflegten die
Könige, wie wir hören, aus Tierhörnern zu trinken, aber nach
jenem T age wurden der König und seine vornehmen Gäste mit
Schalen bedient. Wenn das H aus zum Feste geweiht und ge­
schmückt war, wurden die schönsten Trinkgefäße des Hauses
herbeigetragen; und wir ahnen ein wenig von der Ehrfurcht, die
diesen Hörnern erwiesen wurde, und von den Gedanken, die
die Männer sich machten, wenn wir sehen, w eihe Stellung sie in
den Sagen bis in unsere eigene Zeit einnehmen. Sie gehörten zu
den Kleinoden des Geschlechts, Pfänder für Leben und Heil, sie

150
offenbarten verborgene Gedanken und Pläne; sie hatten eine Per­
sönlichkeit, die einen eigenen Namen verlangte, und ihre Ver­
erbung innerhalb des Geschlechtes wurde mit eifersüchtiger Sorg­
samkeit überwacht. O laf Tryggvason hatte zwei Paare solcher
Hörner, die Grimme und die Hyrninge, und das erste Paar hatte
er einst auf wunderbare Weise aus Jötunheim erhalten. Eines
Abends zur Zeit des Julfestes kamen zwei Männer zum Hofe des
Königs, sie nannten sich beide Grim, und sie brachten ein Paar
prachtvoller, goldgeschmückter Hörner mit als Gruß von Gud­
mund auf Glasisvellir. Gudmund war eine Persönlichkeit, von
der christliche Männer nicht gern einen Gruß annahmen, und die
heidnische Art der Fremden machte sich auch deutlich bemerkbar,
als ein Trank, der auf christliche Weise geweiht war, ihnen ge­
reicht wurde: sie verschwanden mit einem Donnerschlag. Als die
Lichter wieder angezündet wurden, lagen drei von Olafs Männern
tot in der H alle. Aber der König behielt die Hörner. In dieser
Geschichte — der Umgestaltung einer alten Sage - steht die Be­
wunderung des Mythos für das Kleinod und für dessen über­
natürlichen Ursprung in Konflikt mit der christlichen Neigung,
dem Teufel eins zu versetzen, und die Sage hat den widerspen­
stigen Stoff nur halb bezwungen. Sie zeigt sich schließlich doch als
eine Verherrlichung des Horns, indem sie sagt, daß die Menschen
überall, wo seine kunstvoll gearbeiteten Verzierungen über die Bank
gereih t wurden, fühlten, daß die Gottheit ihnen entgegentrat.
Beim Beginn des Gelages stand eine Reihe von kleinen niedri­
gen T ish en vor den Bänken, das Essen wurde auf Shüsseln ver­
teilt, und die Gäste nahmen selbst, so viel sie wollten. Wenn alle
ihren Hunger gestillt hatten, wurden die T ish e weggerückt, und
nun begann der T rank zu kreisen. So ging es a u h bei dem feier­
lichsten aller Gelage: in dem Augenblick, wo das Horn ershien,
erreihte das Opferfest seinen Höhepunkt. Ein strenges Ritual
regelte jede einzelne Handhabung des Trinkhorns. Es wurde zu­
erst zu dem Vornehmsten getragen, dem Mann, der den Hochsitz
innehatte, und wenn er es geweiht hatte, trank er dem nähsten
in der Reihe zu, und so ging das Horn beständig von Mann zu
Mann weiter im Kreis. Wenn man es entgegennahm, stand man
auf - Hardeknud wurde vom Schlag getroffen, als er beim Trin­
ken stand, und er fiel tot um, das Gefäß in der H and; das Mittel-
alter hindurh hielten die Männer an der guten Sitte fest, dem
T ran k Ehrerbietung zu zeigen, indem sie s ih erhoben. Mit einem

151
Wort, das Wunsch und Gelübde ausdrückte, wurde das Horn
geleert, und wenn es an den nächsten Mann weitergereicht wurde,
wurde es wieder gefüllt, damit auch er seine Pflicht tun und es
dann weiterreichen möchte. Von Mann zu Mann mußte es in der
Richtung des Sonnenlaufs umgehen, es war keinem der Anwesen­
den erlaubt, seine Vorliebe für den einen oder anderen am Tische
Anwesenden zu zeigen; jeder Versuch, seinen Nachbarn zu über­
springen und um ihn herum weiterzutrinken, enthielt eine K rän ­
kung gegen den Hintangesetzten und war ein ernster Bruch des
heiligen Gesetzes. Das Verbindende zwischen ihnen war nicht ein
Tisch, sondern die H and, die der H and gereicht wurde; „das
Horn geht in den Händen der Männer“ , das ist der wahre Aus­
druck für das Trinkgelage, und das Gefäß von sich zu stellen,
statt es dem Nachbarn weiterzureichen, war eine schwere Beleidi­
gung. „Wenn ein Mann den Becher hinstellt, anstatt ihn seinem
Nachbarn zu reichen, wo die Leute trinken, soll er nach dem alten
Gesetz einen Schilling an den Herrn des Hauses, sechs Schillinge
an den gekränkten Mann und zwölf Schillinge an den König
zahlen“ - so befiehlt es das angelsächsische Gesetz von Hlotacre
und Eadric. Dies bedeutet, auf eine ältere Form zurückgeführt,
daß der Beleidiger sich nicht nur gegen seinen Tischgenossen und
den W irt versündigt hatte, sondern auch gegen die göttliche
Hoheit.
Priskos hat uns eine Beschreibung der Gastmahlsgebräuche an
Attilas H of gegeben, und ein Vergleich des byzantinischen Be­
richtes mit nordischen Quellen zeigt nicht nur deutlich, daß der
große Hunne seine Hofettikette nach germanischem Muster an­
gelegt hatte, sondern auch, daß die Gebräuche, die mit dem
Trinken in Verbindung standen, nördlich und südlich der Ostsee
dieselben waren. Priskos wurde mit den anderen Mitgliedern der
Gesandtschaft zusammen zu einem Gastmahl eingeladen, das ihnen
zu Ehren gegeben wurde, und der erste Mann, den sie trafen, war
natürlich der Mundschenk, der ihnen einen Becher reichte, den
sie mit einem guten Wunsche leeren sollten, bevor sie sich hin­
setzten. Als die Mahlzeit begann, erschien ein Diener vor A ttila
mit einer Schale voll Wein, er nahm sie und begrüßte seinen
Tischnachbarn; jeder Mann, der beim Becher angeredet wurde,
erhob sich und durfte sich nicht wieder hinsetzen, bevor er einen
Schluck genommen oder den Becher geleert und ihn dem Mund­
schenk zurückgegeben hatte. Auf diese Weise ehrte Attila einen

152
Mann nach dem anderen, indem er den Becher nahm und mit
einem Wunsch für Heil und gutes Glück mit ihm trank. Ais
diese Ehrenbezeugung zuletzt der ganzen Gesellschaft erwiesen
worden war, wurde die erste Schüssel hereingetragen. Aber nach
jedem Gericht wiederholte sich derselbe Brauch von einem Ende
der H alle bis zum anderen, und jedesmal mußte die Gesellschaft
der Reihe nach die Schale im Stehen leeren.
Inmitten der großen Feststimmung wurden bei dieser Gelegen­
heit mehrere besonders bezeichnete Becher getrunken, „Minnen“ ,
wie sie mit einem mittelalterlichen Ausdruck genannt wurden. In
ihnen ist das Opfer konzentriert, und die Erwartung des Gelages
ist aufs äußerste gespannt. Der Bericht von dem berühmten Erb­
bier, das Svein Gabelbart nach dem Tode seines Vaters hielt, läßt
vermuten, daß es in alter Zeit bei einem solchen Blot mindestens
drei Hauptminnen gegeben hat. Freilich sagt die Fagrskinna nur,
daß man am ersten Abend, wenn die Leute zum Erbbier ver­
sammelt waren, viele Becher füllen sollte, „au f dieselbe Weise wie
jetzt Minnen“ , und diese Becher waren den Mächtigsten aus dem
Geschlecht gewidmet, in heidnischen Zeiten Thor oder anderen
unter den Göttern. Zuletzt wurde der bragarfull —Schwurbecher —
eingeschenkt, und man erwartete, daß der Geber des Festes, wenn
er diesen trank, ein Versprechen ablege - und mit ihm alle die
Anwesenden - und wenn er dies getan hätte, in dem Hochsitz des
Verstorbenen Platz nehme. Snorri andererseits gibt einen detail­
lierten und genauen Bericht; er erzählt, daß König Svein am ersten
T age des Festes, bevor er in dem Hochsitz seines Vaters Platz
nahm, seinen Minnebecher trank und versprach, bevor drei Win­
ter vorüber seien, würde er nach England ziehen, König Æthelred
töten oder ihn aus dem Lande vertreiben. Diesen Becher mußten
alle Anwesenden trinken. Aber darauf mußten alle Christi Minne
trinken. Der dritte Becher war die Minne Michaels, und diese
wurde von allen getrunken. D arau f trank Jarl Sigvaldi die Minne
seines Vaters und gab das Versprechen, daß er, bevor drei Winter
um seien, nach Norwegen gehen und Ja rl H akon töten oder ihn
aus dem Lande vertreiben würde. Nach ihm versprach sein Bruder,
Thorkel, Sigvaldi nach Norwegen zu begleiten und nimmer zu
fliehen, so lange sein Bruder noch kämpfe. D arauf schwur Bui, mit
ihnen zusammen nach Norwegen zu gehen und gegen Jarl Hakon
furchtlos zu kämpfen, und so folgte einer dem anderen in der
rechten Reihenfolge.

153
Sveins Erbbier hat dasselbe Schicksal gehabt wie so manche gute
Erzählung, die die Geschichte mit Rücksicht auf Chronologie und
Quellenkritik aus dem Hause hat verweisen müssen, oder die sie
jedenfalls nur als Stellvertreterin einer unbekannten, mehr nüch­
ternen Tatsache aufnimmt; aber wie hoch oder niedrig diese Becher
und Schwüre von den Darstellern der politischen Geschichte ein­
geschätzt werden, - sie sind ohne Zweifel ein springender Punkt
in der Phantasie des Mittelalters und der vorausgehenden Zeiten.
Und obgleich es den verschiedenen Schriftstellern an allem authen­
tischen Material über das gefehlt hat, was in jenem unvergeßlichen
Jahre am Königshofe geschah, - es fiel ihnen doch nicht schwer,
ein glaubwürdiges Bild davon zu entwerfen, wie es hätte zugehen
können, denn sie hatten selbst für Freunde und Verwandte Erb­
bier getrunken. Der Mangel an Übereinstimmung zwischen den
beiden Versionen beruht auf der Verschiedenheit in der Methode.
Die Beschreibung in der Fagrskinna ist gedacht als eine geschicht­
liche Aufklärung über die Trinksitten unserer Vorfahren; der
Sagaerzähler hat ein feines kulturgeschichtliches Gewissen und
möchte verhüten, daß seine Zuhörer gedankenlos ihre eigenen V or­
stellungen auf die alte Zeit übertragen. Snorri aber schildert den
Auftritt als Stilist und Künstler, er beschäftigt sich hauptsächlich
mit dem dramatischen Element, und für ihn sind Christus und
St. Michael ebensogut wie Götter und Verwandte. Er schreibt un­
mittelbarer von seinen eigenen Voraussetzungen aus, und daher
finden wir in seiner Wiedergabe ein Stück alte Geschichte, nämlich
die mittelalterliche Aneignung und Anpassung der alten O pfer­
gebräuche. Aber hieraus ist nicht zu schließen, daß der Verfasser
der Fagrskinna Snorri als Zeuge der Vergangenheit übertrifft. Die
Dreiteilung, die die Heimskringla so stark betont, ist nicht mit
Rücksicht auf das Stilistische oder Dramatische geschaffen worden;
die Gildegesetze, die das Resultat der Umkehrung des Umtrunks
zu einem christlichen Brauch enthalten, setzten die heiligen Tisch­
sitten der Frühzeit fort, und hier begegnen wir wieder diesem
Dreiklang auf eine solche Weise, daß wir den bestimmten Eindruck
von einer Konvenienz erhalten, die im alten Brauch wurzelte. In
der gotländischen Karinsgilde sollten drei „Minnen“ getrunken
werden: „Die Minne unseres Herrn und Bruders, unserer Schwe­
ster und Frau und der heiligen Katharina.“ Die dänische Eriks-
gilde bekannte sich zu St. Erik, unserm Erlöser und unserer Lieben
Frau, während die schwedische Eriksgilde nur St.-Eriks-Minne er­

154
wähnt, die gefeiert wird, wenn es sechs schlägt, und die Minne
aller Heiligen, wenn es neun schlägt. Die schwedischen St.-Görans-
Brüder unterlagen der mittelalterlichen Versuchung, so viele H ei­
lige wie möglich in ihre himmlische Schutzwache einzustellen; nicht
zufrieden mit unserem Herrn, unserer Frau und St. Göran, er­
warben sie St. Erik und St. O laf samt dem heiligen Kreuz und
allen Heiligen insgesamt, sowie St. Gertrud und St. Bengt im
besonderen. Alle neun werden in den Minnen bedacht, aber je
drei und drei zusammen, so daß die Minnen doch innerhalb der
Dreiheit gehalten werden. Diese Gildegebräuche geben der Heim-
skringla ein gewisses Gewicht, wenn sie bei Ja rl Sigurds Blotfest
auf H ladir den Becher für Odin um Sieg und Macht für den
König, den Becher für N jörd und Frey um Ernte und Frieden
und Bragis Becher mitsamt der Minne mächtiger Verwandter zum
Mittelpunkt des Festes macht; doch empfinden wir, wenn wir
bragarfull in Angleichung an die der anderen Götter fälschlich
als Bragis Becher eingetragen finden, einen leisen Verdacht gegen­
über einem so weit getriebenen Ordnungssinn.
Auf der anderen Seite stehen die norwegischen Gildegesetze
nahezu einmütig zusammen und beschränken die Anzahl der
Minnebecher auf zwei: die Onarheimsgilde leert Mariae Minne­
becher und O lafs Minnebecher, während die Olafsgilde merk­
würdigerweise nur Christus und M aria erwähnt und ihren eigenen
Schutzheiligen wegläßt. Die norwegische Formel für christlichen
Festtrunk, die die höchste Sanktion der Kirche erhielt, macht auch
Christus und M aria zum Gegenstand der Feier. D a diese Formeln
nicht darauf berechnet sind, Proselyten in die Geheimnisse des
Kultes einzuweihen, haben sie nicht nötig, alles zu sagen, und wir
brauchen nicht lange in ihnen nach Lücken zu suchen, wo dies oder
jenes vielleicht ungesagt bleibt, das sich von selbst verstand; aber
auch wenn wir alle Möglichkeiten gelten lassen, bleibt doch die
Tatsache bestehen, daß zwei der Minnebecher abgetrennt sind und
besondere Erwähnung finden.
Um aber das rechte Gewicht zu erhalten, müssen diese isolierten
Minnebecher vor dem Hintergrund des Opferfestes betrachtet
werden, wo Minne in ununterbrochener Reihenfolge auf Minne
folgt. Odins und Freys Becher sind die großen Minnebecher, die
größer und wichtiger sind als alle anderen, denn die besonderen
Becher - das Ausbringen einer Gesundheit, wie wir heute sagen
würden — waren im allgemeinen Verlauf des Trinkgelages keine

155
Ausnahme, sondern bildeten die eigentliche Form für das ständige
Leeren des Hornes. Das wandernde Horn war der Brennpunkt
des Festes; jede einzelne Zeremonie dauerte, bis es ganz herum­
gereicht worden war, und das Fest selbst bestand in einer Wieder­
holung der kreisenden Bewegung. „Viele Hörner kreisten“ , heißt
es vom letzten Abend am Hofe der Gjukunge, bevor Gunnar und
Högni sich auf den schicksalschweren Zug zu Atli begaben; und
wenn sie dies erfahren hatten, wußten alle, daß das Fest dieser
kühnen Männer ein großes Fest war, das lange dauerte. Deshalb
konnte die Egilsaga das mächtige Blot auf Atley nicht besser
charakterisieren, als wenn sie sagt: „Manche Minne ging im Kreise
umher, und bei jeder Minne sollte ein Horn geleert werden.“
Immer wenn die mittelalterlichen Berichte ein Fest erwähnen, ist
es diese Minnekette, die dem Wort einen Sinn gibt, und deshalb
kann die Menge Flüssigkeit, die getrunken werden darf, leicht
reguliert werden, indem die Zahl der Minnen festgelegt wird. Im
Mittelalter ordneten die Könige und Gesetzgeber eifrig das Leben
der Bürger, indem sie bestimmten, wieviel Schmuck getragen
werden durfte und wie viele Tage anständige Christen zechen
durften. Die guten Gotländer standen zu der Zeit, wo ihr Gesetz
niedergeschrieben wurde, unter einem Zuchtmeister; es gab Regeln
dafür, wieviel Flüssigkeit für eine Hochzeit passend war und
welcher Grad von Trockenheit bei kleineren Anlässen geduldet
werden konnte. Wenn sie zu einer Hochzeit zusammenkamen,
war Mariae Minne das Ende von allem Trinken, aber bevor sie
hereingetragen wurde, konnte der Wirt so viele Minnebecher ein­
schenken, wie er wollte. Das ist natürlich der praktische Ausdruck
für die Ansicht, daß die Gesellschaft so viel trinken konnte, wie
sie wollte, bis der unabwendbare Augenblick kam, wo dem Zere­
moniell zufolge M aria mit einem Becher geehrt werden sollte,
und dann mußte das Trinken aufhören, es waren keine E xtra­
becher erlaubt. Mit solchen Voraussetzungen ist es auch möglich,
die Dauer eines Trinkgelages und seine Intensität zu regeln, indem
vorgeschrieben wird, daß drei Minnebecher, und nicht darüber, bei
der Abholung der Mitgift der Braut getrunken werden dürfen.
Aus diesem ganzen Minnestrom erhebt sich wiederum ein beson­
derer Becher als der Becher über alle, der eigentliche Kern des
Festes. Wahrscheinlich geht „die höchste Minne“ des Mittelalters
auf den Hauptbecher in der heidnischen Trinkhalle zurück, ent­
weder als unmittelbare Anpassung oder als Ersatz für etwas Ge­

156
wohntes. In den Gilden ist es die Gottheit, entweder der H aupt­
gott Christus oder der lokale Gott, der Schutzheilige, der die
höchste Ehre genießt. Die Bruderschaft von St. Göran, mit ihrer
Anordnung einer dreifachen Dreiheit, hat in der höchsten Minne
Platz für den Gott, die Göttin und den Schutzheiligen, und diese
wurde „im besonderen mit Fackeln und Trompeten“ getrunken,
das heißt, auf festlichere Weise als die anderen Minnebecher. Bei
den Gelagen und Julfesten, die von dem niederen Volke gefeiert
wurden, fuhren die Leute fort, einen Becher für Gott und den
Heiligen Geist zu leeren, sogar nachdem es für notwendig befunden
wurde, ein Wort der Entschuldigung an den Höchsten zu richten,
weil man ihm die gebührende Ehre bezeugte, und es scheint, daß
der Becher vor allen anderen gerade dieser eine für Gottvater
war.
Das Fest endete nicht formlos. Es würde im Widerstreit zum
Charakter und Zweck des Blotes stehen, wenn es wie ein er­
löschendes Licht zerflattert wäre. Bei den schwedischen Hochzeits­
gelagen wurde den Gästen als Abschluß des Festes der Waffen­
trank gereicht, während ihnen gleichzeitig der Wirt ihre Waffen
reichte, die während des Festes aufbewahrt worden waren. Die
mittelalterlichen Gilden richteten sich nach der alten Sitte, und
zuweilen lassen sie die letzte der drei großen Minnen als ein Amen
gelten. Die Gesetze von St. Göran drückten es folgendermaßen
aus: „St. Bengt bedeutet Abschiednehmen und gute Nacht.“ Nach­
dem die drei Hauptminnen getrunken worden waren, konnte man
die nicht bemühen, die bei Tisch bedienten - wenn nicht alle Gäste
einig waren, daß sie sich zu wohl befanden, um aufzubrechen,
wird an einer Stelle vorsichtig zugefügt. Als die Gesetzgebung es
als eine ihrer vielen Aufgaben zu betrachten begann, den Leuten
für das Betragen bei den Festen Anweisungen zu geben, wurde
die Minne zu einer Art Polizeistunde der Freude gemacht. In
Gotland durfte jedermann frei gehen, wenn Mariae Minne ge­
trunken worden war; die Meinung ist deutlich, daß die guten
Leute daran klug täten, diese Erlaubnis zu benutzen.
Solange das Fest eine Art Gottesdienst war, mußten notwendiger­
weise alle Teilnehmer während des ganzen Vorgangs dableiben,
wenn sie nicht sich selbst und allen Blotgenossen schaden wollten,
und vor ihrem Fortgang vergewisserten sie sich, daß alles, was
recht und notwendig war, geschehen war, so daß die Gesellschaft
sich ohne Nachteil für den Segen auflösen konnte. Der einzelne

157
Gast trank seinen Wohlseinsbecher, wenn er die Gesellschaft ver­
ließ und sich in die Dunkelheit hinausbegab, und in dem großen
Waffenbecher lag schließlich die Versicherung, daß alle T eil­
nehmer den Segen mit sich nahmen. Das schwedische Gesetz deutet
noch die religiöse Bedeutung an, wenn es vorschreibt, daß dieser
Waffentrunk aus demselben Gefäß getrunken werden soll, den die
Gäste bei dem Hochzeitstrunk benutzt hatten.
Während die Stadtleute den letzten Becher zu polizeilichen
Zwecken ausnutzten, drehten die Bauern manchmal die Sache so
um, daß er die gastliche Bewirtung förderte; er konnte z. B. als
Unterstützung der Bereitwilligkeit hereingetragen werden, wenn
es galt, die letzte Falte im Wams auszupolstern. Bei Hochzeiten
in Dithmarschen wurde das Gelage mit dem Becher auf den H ei­
ligen Geist geschlossen; der Braten wurde mit einem W arnungsruf
hinuntergewürgt, daß „der Heilige Geist vor der Tür stände“ ;
wenn alle ihr Unvermögen beteuern mußten, und erst dann,
wurde die Minne des Heiligen Geistes mit dem Wunsche ein­
geschenkt: „M ag dies für euch ein frohes Jah r mit dem Heiligen
Geist werden!“
In den Gildegesetzen sehen wir alte Tendenzen und einen neuen
Geist Zusammenwirken, und der innere Streit zwischen ihnen hat
die Worte geprägt, so daß der Genuß oft als Pflicht formuliert
wird, während in früheren Zeiten die Teilnahme gleichzeitig
Freude und Notwendigkeit war. Das Mittelalter brauchte den
Minnebecher, um Ordnung zu schaffen, sowohl als ein Mittel, um
festzustellen, daß die Brüder ihre Pflicht erfüllten - so war das
alte Gefühl - als auch um vorzubauen, daß sie des Guten nicht zu
viel taten. Als die Kultur so weit über das Alte hinausgewachsen
war, daß der Schwerpunkt ganz und gar in der christlichen Vor­
stellung lag, gewannen die mäßigen Eigenschaften des Minne­
bechers die überhand. Aber die Veränderung im religiösen Ton
zersetzte gleichzeitig die Macht, die den Trank zu einem Mittel
zur Zügelung der überschwenglichen Heiterkeit der Brüder ge­
macht hatte.

Für den, der das Ganze als ein Ganzes ergreifen und nicht seine
Aufmerksamkeit auf bloße Einzelheiten verzetteln will, vereinigen
sich das Zeugnis der Gildegesetze und die Gebräuche des niederen
Volkes zu einem hinlänglich deutlichen Bilde des Blotfestes. D as
Horn war das Herz des Festes; die Stunden wurden zusammen­

158
gehalten und zu einer lebendigen Ganzheit gemacht durch dies
Horn, das langsam von Hand zu Hand herumgereicht wurde. D as
Leben des Blotes war in einigen großen Minnebechern konzen­
triert, in welchen die Heiligkeit zu ihrem höchsten Gipfel ge­
steigert wurde. Diese Hauptminnebecher sammelten die Einzel­
heiten des Blotes zu einem festlichen Rhythmus, und es ist möglich,
daß die Neigung des Mittelalters, in einem Dreiklang von Minnen
auszuruhen, in alter Ehrfurcht vor dem Dreifachen als Voll­
kommenheit wurzelte, obschon sie durch christliche Vorstellungen
gestärkt worden sein mag. Aber das Zeremoniell, das durch diese
nordischen Zeugnisse angedeutet wird, war kein Muster, das
äußerlich für alle Zeiten und Orte passen muß; es stellt eher ein
innerlich empfundenes System dar, das den Brauch zusammenhält.
Innerhalb des Rahmens der wichtigsten Minnebecher muß Platz
sein für eine bunte M annigfaltigkeit von Einzelheiten. Alle die
feierlichen Augenblicke in dem Leben der Sippe, die wir zum Teil
von der sozialen Seite kennengelernt haben, waren Opfer, Blote,
und der Charakter und der Zweck der Versammlung bestimmte
das relative Gewicht der verschiedenen Minnebecher. Je nach der
Zeit und den Umständen wurde diese oder jene Minne zu größe­
rer oder geringerer offizieller Bedeutung erhoben. Beim Erbbier
erreichte der Schwurbecher eine besondere Bedeutung, weil er die
Übernahme der Macht durch den Erben betonte; und seine Aus­
rufung seines Lebensprogramms warf ein Licht auf die, die, nach­
dem sie ebenfalls ihre Gelübde abgelegt hatten, sich um ihn ver­
sammelten und ihn ehrten, indem sie entweder seine Sache zu der
eigenen machten, wie es Bui mit Sigvaldi tat, oder mit ihm wett­
eiferten, wie Sigvaldi mit Svein. Im Brauthause stand natürlich
der Kaufbecher an erster Stelle als Bedingung für Glück bei der
eingegangenen Verbindung wie auch für ein sidieres Verhältnis
zwischen den beiden Häusern, die unter einem Schild vereinigt
wurden. Ein Fest des Friedens und des Bündnisses war nichts ohne
den Vergleichsbecher — und so hatte jeder Festtag seine Fürsorge.
Bei den eigentlichen Gottesdiensten war es das Heil in seiner
höchsten Verallgemeinerung, das den Verlauf des Festes bestimmte,
aber es liegt im Charakter der Geschlechtshamingja, daß es vom
Wirklichen, vom „Schicksal“ des Geschlechts abhängig war.
Der Minnebecher gab dem Blotfest seinen Charakter. D a er alle
die vereinigte, die an ihm teilnahmen, sammelte er den Geist der
ganzen Versammlung in einem Brennpunkt. Und die allumfas-

159
sende Heiligkeit, die in der Versammlung als Ganzem wohnte,
entließ die Gefährten nicht aus ihrem Bann, bis der letzte Becher
des Blotes getrunken war.
Bei gewöhnlichen Trinkgelagen löste die Gesellschaft sich zu
einem gewissen Zeitpunkt in Gruppen auf; der Freund zog den
Freund von der allgemeinen Bruderschaft der Feststimmung fort
und trank sich näher zu ihm. Wir sehen ihn in den isländischen
Sagas mit seinem Horn die Diele herabschreiten und til mots mit
dem anderen trinken; das heißt, halb austrinken und seinem
Freund den Rest in dem Horn reichen. Oder die Tischnachbarn
drehten sich einander zu und bildeten Paare; im Norden heißt das
tvîmmening trinken, wenn die Männer zu zwei und zwei oder
manchmal ein Mann und eine Frau zusammen ein Horn teilten.
Die Vermutung taucht auf, daß das Blot eigentlich unter stren­
geren Regeln ausgeführt wurde, und die Vermutung kann sich
hier in Gewißheit wandeln. Zur Zeit des Sagaschreibens war es
noch nicht vergessen, daß heilige Feste durch den Gang des H or­
nes rings in der H alle herum gekennzeichnet waren, das Horn
„sollte ums Feuer getragen werden“ , hören wir, das heißt, daß
nur die heiligen Gefäße benutzt wurden, und diese wurden durch
den Mundschenk von einem Mann zum anderen durch die H alle
getragen, um darauf rings ums Langfeuer und an der entgegen­
gesetzten W and der H alle entlang aufwärts zu wandern.
Hier hat die Frau dem Feste ihre Heiligkeit beigesteuert; „Bier­
göttin“ wird sie in der Dichtkunst der Skalden genannt, und der
Nam e ist sehr bedeutsam, denn er war durch tiefe Erfahrung
inspiriert. Der unmittelbare Reiz einer Frau, die als H ausfrau
den Weg durch die Bierhalle schreitet, ist nur ein schwacher Ab­
glanz der Hoheit, die die Frauenheiligkeit und die Festheiligkeit
ihr in den Augen der Anwesenden verlieh. In Wirklichkeit ist es
die Schilderung eines Blotes, die in den Versen des Beowulf ent­
halten ist, wo die Königin ihrem Gatten den ersten Becher reicht
und dann die Reihe der Männer entlang weitergeht, bis sie zu dem
Gast kommt. „Im Mann soll der Kam pf, soll die W affentat ge­
deihen, doch die Frau soll in Gunst unter Männern wachsen; in
der Metstunde der Gefolgsmannen erst den Fürsten begrüßen, dem
König das Horn reichen“ ; so wird die Sitte am Königshof in einem
poetischen Kraftspruch ausgedrückt, wo das „soll“ den normalen
V erlauf des Lebens anzeigt, und diese Zeilen können ohne Über­
treibung als ein Teil des Opferrituals bezeichnet werden.

160
In der Saga, die von der Heimkehr O lafs des Heiligen nach
seinen ruhmreichen Auslandsfahrten erzählt, ist als Beweis für die
großzügige Gastfreundschaft Sigurd Saus gegen seinen Stiefsohn
vermerkt, daß er ihn und sein Gefolge jeden zweiten T ag mit
Festkost bewirtete, mit Fleisch und Bier, und das Horn nach der
Art eines großen Gelages kreisen ließ, gleichviel ob es Feiertag
war oder nicht. Er machte den T ag zu einem Fest. Das festlichere
Zeremoniell schloß die üppigere Verpflegung mit ein, denn beim
Minnetrank erhielt jeder Mann das Horn für seinen eigenen Mund
gefüllt, so oft es zu ihm kam.
Aber das Fest verlangte auch jedesmal, wenn einer von ihnen
trank, ein Zusammenwirken aller Anwesenden. Solange das Blot
dauerte, konnte niemand die Schale ruhen lassen und einen Augen­
blick ein persönliches Erlebnis haben, weder in Gedanken noch im
eigenen Trinken. Der Minnestrom durfte nicht unterbrochen
werden, und gleichviel, ob der Becher für die ganze Gesellschaft
oder für eine bestimmte Person war, ob er Brautbecher oder
Abschiedsbecher war, wurde er durch eine Reihe von stehenden
und segensprechenden Trinkgenossen weitergereicht, und die Ge­
sellschaft beteiligte sich in hingerissener Erwartung. Wir wissen
genau, zu welcher Zeit der norwegische H o f so modern geworden
ist, daß er die schwerfällige alte Sitte außer K raft setzte und sich
frei der Freude des Trinkens ergab. Vor der Zeit von O laf Kyrri
galt der Brauch, das Horn ums Feuer in der Halle kreisen zu
lassen, vom König zum Nächsten im Rang und so weiter; aber
O laf befreite die persönlichen Gefühle, er führte eine neue Sitte
ein, wonach jedermann den Eingebungen seines eigenen Gewissens
folgen und so trinken durfte, wie es ihm gefiel. Bei dem niederen
Volke ließ diese Neuerung lange auf sich warten, und wenn z. B.
in Dithmarschen im 16. Jahrhundert der Vormund der Braut
ihrem Bräutigam im Namen des Vaters, des Sohnes und des H ei­
ligen Geistes zutrank, taten alle Anwesenden ihre Pflicht bei der
Handlung, indem sie einen Becher aus derselben Schale leerten.
Was der Abschiedstrank von einem Mann forderte, kann nie­
mand besser erzählen als Thorstein Bcejarmagn, der beim Jöten-
beherrscher Geirröd in Jötunheim zu Gaste gewesen war und dort
die Leute aus dem Horn Grim hatte trinken sehen. Freilich muß
es schwierig sein, in nüchternen Alltagsworten dem Ausdruck zu
geben, was zwischen solchen mächtigen Persönlichkeiten vor sich
ging wie Geirröd, dem selbstherrlichen Herrscher über alle Jöten

161
und Thursen, und Gudmund von Glasisvellir; und wir erhalten
deshalb auch aus dem Versuch des Erzählers, das Unaussprechliche
auszusprechen, einen lebendigen Eindruck davon, daß die V er­
hältnisse unter den Jöten sowohl viel größer als auch viel merk­
würdiger waren als in den gewöhnlichen Hauswirtschaften im
Norden. Als Grim in seiner bis an den Rand gefüllten Majestät
hereingetragen wird, fällt das ganze Volk von Jöten und Thursen
auf die Knie —sie wußten ja, daß ihr Herr nur sein Ohr über ihn
zu neigen brauchte, um die geheimsten Dinge zu erfahren. Das
Horn begibt sich zuerst zu Gudmund als dem vornehmsten Gast,
der Mundschenk wartet, bis er es geleert hat, und geht dann zum
Wirt. Vor ihm wird Grim aufs neue gefüllt, und Geirröd dreht
die Spitze nach oben, so daß der Inhalt sich wie eine Meereswoge
durch seinen H als hinunterpreßt. Während der Held trank, rich­
tete er den Blick auf Agdi Jarl, und jetzt ist der an der Reihe,
das frisch gefüllte Horn zu nehmen; der arme Jarl tat alles, was
die Pflicht erforderte, aber er mußte zweimal dazwischen Atem
schöpfen. „Alter und Männlichkeit vertragen sich nicht“ , sagte
Grim, denn das Horn hatte mehr als menschlichen Verstand. Die
übrige Gesellschaft hielt man nicht für fähig, solche Leistungen zu
vollführen, und sie durfte dem Gesetz zu zwei und zwei nach-
kommen. Unser Gewährsmann läßt diesen Abschiedstrank von
zwei anderen Bechern begleiten, außer von Thors und Odins
Bechern, und die Wirkung auf uns moderne Leser ist nicht nur,
daß wir Agdi Jarl mit tiefem Mitgefühl betrachten, das viel ent­
schuldigt, sondern auch daß wir den Verfasser in Verdacht haben,
daß er, wie so viele seiner Kollegen unter den späteren Sammlern
von romantischen Geschichten, die Vergangenheit ein wenig zu
sehr durch Intuition rekonstruiert hat. Aber einen Vorteil hat er
vor uns voraus: er kannte die Sitten seiner Zeit, und auch wo
seine Vorstellungskraft ganz frei waltet, kann er nicht über die
Voraussetzungen hinaus, die durch diese gegeben waren. Er sieht
das ganze Gelage als eine Reihe von Minnebechern, und er hat
Ehrfurcht vor der göttlichen Macht, die im Horn wohnte und die
es zu einem Träger der Weissagung machte.
Es war die Anwesenheit der höchsten Heiligkeit, die ein stren­
geres Zeremoniell notwendig machte. Die Kriegerschar lebte unter
den Regeln der größeren Heiligkeit und war deshalb ständig von
der formloseren Trinksitte ausgeschlossen; sie durften nie paar­
weise (tvimmening) trinken. Die heiligen Waffenbrüder mußten

162
nach dem Ritual zechen, wenn sie sich versammelten, oder, mit
anderen Worten, ihre Mahlzeiten waren immer Opferhandlungen.
„Es w ar Wikingergesetz, daß alle auf einmal zusammen tranken,
auch wenn sie zu einem Gelage kamen“ , erfahren wir zufällig.
Aus demselben Grunde wurden die kriegsheiligen Trinkfeste am
Hofe des Königs immer mit zeremonieller Formstrenge gefeiert;
die Gefolgsleute des Königs waren das ganze Jahr hindurch
Wikinger und lebten ständig vor ihren Göttern. Es ist möglich,
daß die höchste Heiligkeit sich beim Gebrauch der göttlichen
Becher unmittelbar offenbarte, so daß ein ungezwungener Verkehr
in der H alle nicht stattfinden konnte, solange sie benutzt wurden
und in den Händen der Zedier kreisten.

163
Gebet und Opfer

Das Bier brachte immer einen festlichen Glanz mit sich, es


gehörte nicht zu der nährenden und durstlöschenden Alltagskost,
sondern war in höherem Grade als Milch und Molken eine geistige
Erquickung, eine heilige Stärkung. Und natürlich mußte der
Trank, der die hohen Feste mit seinem Segen ehrte, von beson­
derer Kraft sein, um Götter und Menschen zu vereinigen.
Hier drängen die Vermutungen sich uns wiederum auf, obschon
wir außerstande sind, sie richtig ans Licht zu ziehen und ihnen
all die Wirklichkeit zu geben, nach der sie verlangen. Wenn das
Festbier gebraut wurde, war es dann möglich, die Bräubottiche
mit dem täglichen Mindestmaß an religiöser Sorgfalt zu behandeln
- denn ein Vorgang von so großer Wichtigkeit wie die Zubereitung
des nährenden Heils des Hauses konnte nie ganz weltlich im
modernen Sinne des Wortes werden - hat man nicht jede kleine
Zutat mit kultischer Feierlichkeit behandelt, hat man sich nicht
gereinigt und die freie Bewegung der Zunge und der Glieder
gezügelt, wenn man zu der wichtigen Aufgabe schritt, das Blot
vorzubereiten?
In der Ehrfurcht, mit welcher das Festbier von den norwegischen
Bauern betrachtet wird, ist ohne Zweifel eine Spur von dem Ernst,
der in der alten Braustube herrschte. Von den alten Telemärkern
wird erzählt, daß sie ihren Feiertrank mit großer Andacht zu­
bereiteten, aus Furcht davor, daß ein leichtsinniges Umgehen mit
dem Bräu verursachen könne, daß das Bier nicht stark würde, was
nicht nur ein Mangel, sondern ein positives Unglück gewesen wäre.
Wenn das Bier sich beim Gelage unfähig zeigte, die Gäste unter
die Bank zu schicken, ging der Wirt in einem Zustande von Elend
herum, der nicht größer hätte sein können, wenn sein H o f bis auf
den Grund abgebrannt wäre.
Die Tüchtigkeit einer Frau im Brauen war viel mehr als H aus­
frauentüchtigkeit; sie war die Probe auf ihre Heiligkeit und deren
Kraft, die Probe, ob sie die Götter und das Heil zwingen konnte.
Als König Alreks zwei Frauen, Geirhild und Signy, sich darum

164
stritten, wer Königin sein sollte, war es das Bier - das Bier, das
sie zum Em pfang des Königs bei seiner Heimkehr nadi dem
Kriege brauten - , das schließlich die Sache entschied. Geirhild rief
Odin an und versprach ihm ihren ungeborenen Sohn; er gab ihr
ein wenig von seinem Speichel als H efe für den Trank, und das
Bier wurde gut.
Unzweifelhaft begann also das Blot in der Braustube; von der
ersten Handreichung ab herrschte die Heiligkeit uneingeschränkt.
Der Inhalt der Kessel und Wannen erreichte jedoch erst in der
Festhalle die volle Opferkraft. Das Opferfest begann mit dem
Füllen des Hornes unter andächtigem Schweigen und mit zere­
moniellen Bewegungen. D arauf segnete, „weihte“ der Mann, der
den Vorsitz führte, das H orn; das alte Wort für die Handlung
ist vigja, mit vé verwandt, und diese sprachliche Verbindung gibt
uns das Wesen der Handlung. Vé bedeutet Heiligkeit, die äußer­
ste Stärkung und alles, was heilig ist: der heilige Ort, die heiligen
Kleinode, das Banner, das den Weg zeigt und Kühnheit oder V or­
sicht hervorruft und durch seine Anwesenheit mitten im Heer den
Erfolg verbürgt. Vé ist das Starke im heiligen Sinne, und um
seine Reichweite zu erfassen, müssen wir uns die ganze Schwere
der primitiven Vorstellungen über das Leben und seine Offen­
barungen ins Gedächtnis rufen. Das Verbum bedeutet dann inspi­
rieren, eine Göttlichkeit und eine Gottheit in das Ding einführen,
es göttlich machen.
Die Verba, die für die erste Handlung mit dem Becher benutzt
werden, drücken auf verschiedene Weise die innere Verwandlung
des Trankes aus, aber über die Form, in welcher die Veränderung
bewirkt wurde, haben wir leider keine direkten Nachrichten. Viel­
leicht ist die Einweihung durch feierliche Gebärden geschehen. Es
gab so etwas wie Zeichen, die in der Luft gemacht wurden, wenn
wir die etwas zweifelhafte Sage von H akon Æthelstansfostri glau­
ben dürfen, der das Zeichen des Kreuzes über das Blot-Fleisch
machte, bevor er es kostete, aber von Ja rl Sigurd entschuldigt
wurde, der es für Thors Hammerzeichen erklärte; die bemerkens­
werte Tatsache, daß Bauern eine Erklärung für eine gute heid­
nische Gebärde hätten benötigen sollen, schließt vielleicht die
Möglichkeit nicht ganz aus, daß die Geschichte eine schwache Ent­
sprechung in der Wirklichkeit gehabt habe. Dies scheint bestätigt
durch das Verbum signa, „segnen“ , das oft für „weihen“ ver­
wendet w ird; denn „segnen“ (lat. signarc) bedeutet unter anderem

165
auch ein Zeichen machen. Aber es ist ebensogut möglich, daß das
fremde Wort in Wirklichkeit den Gebrauch von heiligen Mitteln
bezeichnet, von Kleinoden mit anderen Worten. D a wir die Macht
der Besitztümer kennen, liegt die Versuchung nahe, die Vermutung
für Gewißheit auszugeben und zu sagen, daß man die Schätze des
Geschlechts, den Speer und den Halsschmuck, die Pfeile und die
Ringe hervorgeholt und dem Trank erlaubt habe, sich mit dem,
was sie enthielten, vollzusaugen; die allerheiligsten Dinge mögen
aus dem Blothaus geholt worden sein, und das Bräu ist mit ihnen
gesättigt worden, bis es zum Bersten voll war — wie jene ctipa,
die zersprang, sobald der Priester mit seinen feindseligen Worten
die Mächte in ihr in Wut versetzte. Im Mythos macht Thor seine
Böcke heil und lebendig, nachdem sie geschlachtet und gegessen
worden waren, indem er seinen Hammer über ihre Felle und
Knochen schwingt, und aus dieser Kultsage können wir sichere
Schlüsse in bezug auf den Gebrauch des Hammers oder eines ähn­
lichen zeremoniellen Gegenstandes bei der Weihe ziehen. Eine
andere Andeutung ist in dem Eddagedicht Thrym skvida enthalten,
wo geschildert wird, wie Thor seinen Hammer wiedergewann,
indem er sich als Braut verkleidete. Während der Gott mit dem
roten Barte schlief, hatten die Jöten ihren Unfug getrieben, ihm
seine göttliche Waffe entwendet und sie nach U tgard gebracht.
Der Dieb wollte seine Beute nicht ausliefern, wenn er nicht durch
den Besitz der Göttin Freyja belohnt würde. Die Götter waren
ratlos, bis Heimdal vorschlug, daß Thor den Brautschleier an-
legen und im Brautschmuck zu dem Jöten ziehen sollte, um sein
Herz zu erfreuen. Bei der Ankunft der Brautgesellschaft wurde
ein Fest gefeiert, und die Unholde waren natürlich über den
Appetit der Schönen erstaunt, aber die schlaue Brautjungfer, die
von Loki gespielt wurde, erklärte zur Zufriedenheit aller, Freyja
habe durch ihre tiefe Sehnsucht nach ihrem Gatten einen furcht­
baren Hunger bekommen. Zuletzt wird der Zweck der Komödie
erreicht, als der Hammer hereingetragen und in den Schoß der
Braut gelegt wird. Das Gedicht ist eine Burleske, nach unverkenn­
baren Reminiszenzen des Hochzeitsrituals geformt, und die zere­
monielle Grundlage kommt in den Worten des Jöten zum V or­
schein, als er befiehlt, daß der Hammer hereingebracht werde:
bringt her den Hammer, die Braut zu weihen, legt Mjölnir in
den Schoß der Frau.
Die heiligen Gegenstände sind bei dem Blot anwesend gewesen,

166
und niemand wird wohl vermuten, daß sie müßig dabei hingen
oder lagen. Die Erinnerung an die Kraft der Kleinode gibt den
besten Kommentar zu der übermütigen Beschreibung der Edda
von dem schüchternen Gott mit dem roten Bart, der Ochsen auf
Odisen verschlang in ungeduldiger Erwartung des Augenblicks,
wo der Hammer hereingebracht werden würde, um den Schoß der
Braut zu weihen. An dem Tage, wo ein Tempelfest auf ölfu svatn
gefeiert wurde, saß die H ausfrau, Signy, auf einem Stuhl, ihre
Kleinode im Schoß, und der T ag wurde der Beginn von Unheil,
denn ihr kleiner Sohn H örd kam zu ihr hingetrippelt und packte
im Fallen den Halsschmuck, so daß er zersprang. Es ist nicht un­
denkbar, daß dieser Auftritt wegen seiner Bedeutung für die Saga
von H örd und für sein trauriges Schicksal ein Andenken an die
alten Blottage enthält und uns einen Einblick in die Blothalle
selbst gewährt.
Als O laf der Heilige die Blotmänner in der Gegend um Dront-
heim überraschte, machte er eine große Beute an Gefäßen, die bei
den Festen gebraucht wurden, und an „Wertgegenständen“ -
g rip ir — die die Gesellschaft beim Fest mitgehabt hatte. Sie war
in ihrem besten Schmuck erschienen, würden wir sagen, aber dies
bedeutet in der alten Sprache einfach, daß die heiligen Erbstücke
der Geschlechter angelegt wurden, um das Opferfest mit H eilig­
keit zu erfüllen.
Die zeremonielle Weihe verlangte ohne Zweifel eine Handlung,
aber um Wirkung auszuüben, brauchte die Handlung ein beglei­
tendes Wort. Beim Blot wurde von dem, der das Fest leitete, „für
das Horn gesprochen“ . Dieser technische Ausdruck - m a la fy r ir -
ist wie so viele andere in das Christentum übergegangen; ein nor­
wegisches Gildegesetz spricht von der einleitenden Handlung beim
H auptfest der Gilde als „Fürsprechen oder Segnung der Minne“ .
Was in heidnischen Zeiten gesagt wurde, werden wir nie direkt
erfahren, aber wir können uns einen schwachen Begriff von den
Worten bilden und von den Gedanken, die in den Worten ver­
borgen waren. Die Wirkung dieses zeremoniellen „Fürsprechens“
kennen wir aus der Rechtssprache, wo es verwendet wird, um eine
Rechtsformel einzuprägen und um überdies in gesetzlich bindender
Form einen Anspruch zu erheben; im Alltagsleben verbindet das
Wort zwei Bedeutungen: beglückwünschen, z. B. in Verbindung
mit einem Geschenk, und verfluchen. An der Wurzel des offiziellen
und privaten Gebrauchs liegt derselbe Gedanke: etwas mit Ge­

167
wicht sagen und mit der Absicht, Ehre und Heil zu binden, so
daß durch die Worte in der Gesinnung und dem ganzen Zustand
eines anderen eine Veränderung hervorgerufen und entweder das
Heil an ihn gebunden oder er seines Heilsinns beraubt und zu
einem Neiding gemacht wird. Die entsprechenden Substantiva,
fo rm ait und form œ li, haben eine ebenso weite Verwendung: vom
Segen zum Fluch, von der gesetzlich bindenden Verabredung und
der gesetzlich bindenden Formel zu der seelenbindenden Bestim­
mung, die man an die Verwendung eines Dinges knüpft und die
vom Gebraucher respektiert werden muß, wenn er bei der Be­
nutzung des Übergebenen Erfolg haben will. Wir können das
Gewicht des Wortes aus dem folgenden Satz aus der Völsungen-
saga ermessen: Die N om en kamen bei Helgis Geburt, gaben ihm
fo rm á li und sagten, daß er der ruhmreichste unter den Königen
werden sollte.
Es besteht eine innige Beziehung zwischen der religiösen und der
juristischen Bedeutung des Wortes fo rm aeli. D as Wort w ar ein
notwendiger Zusatz zu jeder Handlung, es legte sein besiegelndes
Glück dazu, so daß die Wirkung unmittelbar auf das erstrebte
Ziel zusteuerte. Nachdem alle notwendigen Vorbereitungen für
die W ohlfahrt des Verstorbenen getroffen worden waren, trat das
W ort hinzu und setzte ihn in den vollen Genuß der Zukunft: man
„sprach für“ sein Grab und öffnete ihm den Weg an seinen Ort,
mochte es nun W alhall sein oder eine andere H alle. Noch näher
dem Blot steht die Handlung des Siedlers, wenn er seine Hochsitz­
pfeiler über Bord wirft und „fürspricht“ , daß er seinen H o f an
der Stelle bauen werde, wo sie ans Land kommen. Er gab ihnen
mit den Worten Willen und Kraft, all ihr heiliges Glüdc anzu­
spannen.
Genau so wie die Namengebung die Seele in das Kind hinein­
führen sollte, war das fo rm a it im Kult darauf berechnet, der
Kraft des Festes die richtige Richtung zu geben und seinem Zweck
Grenzen und Maße abzustecken. Das fo rm a lt mußte sich deshalb
dem Anlaß des Festes fügen. Es besiegelte die W irkung des Minne­
bechers, die Menschen zu verschmelzen, aus einem Fremden durch
Adoption einen Verwandten zu machen, das Versprechen der
Brautgabe zu bestätigen. „Dein Vater soll König Gjuki sein, ich
deine Mutter und deine Brüder Gunnar und Högni . . . “ , sagt
Grimhild, als Sigurd das H orn nimmt, das ihn dazu bringt, die
Gjukunge in einem neuen Licht zu sehen. Wenn Hochzeit ge­

168
trunken wunde, bestand das Fürsprechen unter anderem in einer
Ausrufung der Bedingungen für die zwischen den Geschlechtern
eingegangene Verbindung, die jetzt festgetrunken werden sollte.
In späteren Zeiten wurde in Norwegen aufgezählt, daß der Bräu­
tigam einen H o f mit soundso vielen Pferden hatte und daß der
Vater der Braut seine Tochter nicht als Bettelmagd fortschickte,
sondern von „eintausend norwegischen Speziestalern, einem fer­
tigen Bett, Pferd und Sattel, fünf Kühen . . . jetzt wißt ihr es“ ,
begleitet, und diese Erklärung ist als Formæli dem alten Geiste
nicht ferne. Eine schwedische Formel deutet an, daß das Brautbier
getrunken wird „au f Ehre und H ausfrau und aufs halbe Bett, auf
Schloß und Schlüssel . . . und auf jedes Recht.“ Der Becher, der
den „K a u f“ bestätigte, wurde njótsm inni genannt, und in diesem
Nam en ist der Inhalt des Formaeli angedeutet, nämlich, daß es den
Em pfänger zum n jó tr machte oder Genießer der Seele und des
Nutzens des Gegenstandes. Beim Friedensschluß kann die Formel
nicht sehr weit von der berühmten Friedensformel entfernt ge­
wesen sein: „Jetzt sind alle Sachen verglichen, mit Gütern gebüßt,
wie Ermesser maßen, wie Richter urteilten, wie Zähler zahlten,
wie Gebende gaben und Empfänger empfingen. Wir sollen M än­
ner sein, die verglichen sind in der Sache und in dem Sitz, um den
Bierkessel und den Eßnapf, auf dem Thing und beim Zeit­
vertreib . . . Messer und Fleisch und alles unter uns teilen wie
Verwandte und nicht wie Feinde . . . Für sich selbst und seine
Erben, für Geborene und Ungeborene, für Gezeugte und Un-
gezeugte, nimmt jedermann Verprechen und gibt Versprechen,
wackeres Versprechen, tüchtiges Versprechen, die ewig gehalten
werden sollen, solange die Erde steht und Männer leben; . . . wie
Sohn zu Vater und Vater zu Sohn bei allem Tun, wo sie sich
begegnen, zu Lande oder zur See, auf Schiff oder Schi, auf dem
Meere oder dem Pferderücken, Ruder oder Schöpfkelle, Ducht
oder Deck zu teilen . . . wie der Freund dem Freund auf der See
begegnet, wie der Bruder dem Bruder auf dem Weg begegnet.“
Bei den großen Festen, wo der Zweck die W ohlfahrt der ganzen
Gesellschaft in jener Zukunft war, die durch das Blot eingeleitet
wurde, war das Formæli der Hauptminne notwendigerweise von
allgemeinen Charakter. Und wir können glücklicherweise noch
die H auptzüge in der heiligen Formel erkennen, teils aus zer­
streuten Andeutungen in den Sagas, teils in der christlichen A n­
passung des Mittelalters. Dieses „zum guten Jah r und Frieden“ ,

169
das sich unfehlbar findet, wo das heidnische Blot erwähnt wird,
ist als Motto für die christliche Umformung des Erntefestes stehen­
geblieben: das Bier soll Christus und M aria zum D ank, zum guten
Jahr und Frieden gesegnet werden. Auf eine etwas andere Weise
finden wir die Formel den Grundgesetzen der norwegischen G il­
den einverleibt.Das Gesetz der Olafsgilde beginnt so: „W ir sollen
unser Gildefest jeden Sommer feiern dem heiligen Christ, unserer
lieben Frau M aria und dem heiligen König O laf zum Dank, uns
zum Wohl, zum Jah r und Frieden und zu aller Barmherzigkeit
Gottes hier und jenseits“ , und es schließt: „G ott und St. O laf
stärke und helfe zum Guten, wer dieses Gesetz hält, zum Jahr
und Frieden und allem Wohl in dieser Welt und jenseits zum
Eingang in das Himmelreich ohne Ende“ . Das Fest wurde für ein
gutes Jahr, für Fruchtbarkeit auf dem Acker und im Stall ge­
halten - d l árb ó tar, zur Besserung der Ernte, wie nach einem ent­
täuschenden Sommer, der Mißtrauen in die Wirkung der früheren
Blote geweckt hatte, noch ausdrücklicher gesagt werden konnte.
Ein Bericht über die heimlichen Opfer der Thrönder, dem Verbot
O lafs des Heiligen zum Trotze, gibt uns das Formaeli, nach
welchem das Blot zur Besserung der Ernte, zum Frieden und zum
guten Wetter sein sollte. In Schweden wird dieselbe Formel in den
einleitenden Sätzen des Gotlandgesetzes angedeutet: „W ir sollen
an einen Gott, den Allmächtigen glauben und ihn bitten, daß er
uns Jahr und Frieden, Sieg und Gesundheit vergönne.“ In diesem
„Jah r und Frieden“ mögen wir die H auptader erblicken, die sich
von den Heilversammlungen des Geschlechtes in die Gemeinde-
und Gaufeste hineinverzweigte. Der Zweck des Blotes war Heil
im Sinne von allem Wohlsein und dabei in erster Linie Friede,
der unverbrüchliche Sinn für Einheit und Gemeinschaft als Be­
dingung für den Erfolg der Arbeit. In einem isländischen Formaeli,
das bei O lafs Minne verwendet wurde, klingt derselbe Ton
wieder: „St. O lafs Ehrenminne wird eingeschenkt und herein­
getragen. Das wollen wir mit Lust und Freude und mit der Gunst
Gottes, unseres Herrn, trinken. H abt keinen Streit und Zank
untereinander, denn der hohe Herr, König O laf, ist der Schutz
der Länder.“
Derjenige, der das Fest eröffnete, indem er zuerst das Horn
leerte, war der Urheber des Formæli, deshalb wird von ihm im
engeren Sinne gesagt, daß er „Fürsprecher“ war. Nach ihm wieder­
holte jeder der Anwesenden die heiligen Worte, wahrscheinlich

170
ohne Änderung. W as in unserer Kenntnis der Kultformel noch
fehlt, können wir durch Vergleich mit der Rechtsformel ergänzen.
Die beiden waren dem Geiste nach eins, und aus der inneren
Gemeinschaft folgte, daß sie sich auch in der äußeren Form glichen.
So wie diese aus festgeprägten, ein für allemal bewerteten W ort­
verbindungen bestand, so wurde auch die andere Jahr für Jahr
einmal um das andere mit demselben unveränderlichen Wortlaut
wiederholt, der der Inspiration keinen größeren Spielraum gab,
als es die Rücksicht auf die Aktualität erforderte. Zu der gleich­
bleibenden Form gehörte auch eine besondere Art des Hersagens,
das immer der feierlichen, gereimten Rede angepaßt war, ob die
Worte nun Rechtsformeln oder Preisgedichte oder starke Zauber-
verse waren. Der Mann, der mit dem Horn in der Hand dastand,
mußte rezitieren - k v ed a - in einem Tonfall, der uns technisch
unbekannt ist, da er immer nur durch seine Wirkung auf die
Zuhörer beschrieben wird, der aber doch wahrscheinlich durch die
kurzen, schlagenden Verse mit den stark hervorgehobenen Stab­
reimen bezeichnet war. In den mittelalterlichen Gilden und an den
norwegischen Höfen wurden die Minnen gesungen. Alle Brüder
erhoben sich und sangen, nachdem die höchste Minne eingeschenkt
worden war, oder, wie die Dänen es ausdrüdken, die Brüder emp­
fangen die Becher sitzend, und wenn sie sie erhalten haben, er­
heben sie sich wie ein Mann und stimmen in die Minne ein. Wir
können vielleicht diese Liturgisierung des Minnebechers als einen
Versuch betrachten, die alte Sitte in kirchliche Form zu kleiden,
und in einigen Gegenden gestaltete dieses Absingen der Minne
sich zu einer festlichen Form von Geselligkeit und hielt sich als
solche, solange die Sitte überhaupt innegehalten wurde; die Män­
ner tranken einander zu „mit dem Vers eines Liedes“ , und bei
den Bauern endete die Minne wirklich in Nachklängen von Volks­
liedern oder in Reimen aus der biblischen Geschichte. In Skan­
dinavien hat sich das Wort kvœ di in unsere Zeit als technische
Bezeichnung für Trinkspruchritual erhalten, und auch nachdem das
Formaeli zu einer freien oratorisdhen Leistung degradiert worden
war, hielt man noch an der Sitte fest, es Reim oder K v æ de zu
nennen.
Das Formæli hat zwei Seiten. Erstens bestätigt es den Weihe­
akt, der stattgefunden hat: jetzt ist das Bier göttlich; und zweitens
bestimmt es, wohin der Gott und seine Stärke gehen soll. Die
beiden Seiten sind dem Wesen der Sache entsprechend eins, weil

171
die Kraft, die in den Worten und in den Handlungen des O pfern­
den wohnt, eine auf die Erschaffung des zukünftigen Heils ge­
richtete göttliche Macht ist. Das Formæli deckt also alles, was
Worte einer Handlung zufügen können, von der großen H eilig­
sprechung des Trankes und der Einweihung zu einem bestimmten
Zweck bis zu den freundlichen Begrüßungen und Segnungen der
Tischnachbarn durch einen Gildebruder. Seine bindende Macht
und seine lebenspendende Fähigkeit sind eins. Ein Fürsprechen
wie das, das den Ehebund oder die Morgengabe der Braut betraf,
mußte durch Mitwirkung des Horns zu einem positiven Heil
gemacht werden, wenn es irgendeinen Wert für den Empfänger
haben sollte, und es mußte auch in der gelobenden Partei zu Ehre
erhärtet werden, um ihren Willen zu binden. Das schwedische
Östgötagesetz wußte, was nottat, und sagte es in Worten, die
zugleich von religiöser Bedeutung und von sozialer Wichtigkeit
sind. Wie soll man heiraten? wird gefragt, und die Antwort heißt:
„Sie sollen zwei rechtskräftige Trinkgelage abhalten; bei dem
einen die Werbung um das Mädchen Vorbringen und ihr die
Morgengabe versprechen; und wenn die Werbung geschehen ist,
sollen sie das zweite trinken, und bei diesem soll der Heiratsmann
(der Vormund) seine Verwandte in die Ehe geben. D arauf sollen
sie den Waffentrank aus demselben Gefäß haben, aus dem sie
vorhin tranken.“ Durch dieses Vorgehen werden die Worte eines
Mannes heilig und infolgedessen bindend gemacht.
Es liegt nahe, das Formæli das Festgebet zu nennen, und der
Vergleich ist durch die Geschichte selbst gegeben, denn die Christen
benutzten dasselbe Wort, mœla fy rir, für „Gebete sprechen“ . Aber
das alte Formæli ist ebensoweit vom christlichen Gebet um Gottes
Segen und Gottes Barmherzigkeit entfernt wie von allem Schachern
mit einem Unsichtbaren um den Empfang von Opfern für erwie­
sene Gunst. Wenn das Formæli dem neuen Gott dienen sollte,
mußte es sich vor allem der Hälfte seines Inhalts entledigen. Die
Anrufung blieb, aber die alte Kühnheit und Zuversicht, die sich
mit Gewalt Zutritt verschaffte und sich selbst die Erfüllung er­
zwang, mußte fortfallen. In dem feierlichen: „m æ l heill “ , —das in
der Übersetzung heißen würde: „Dieses sei von dir in der Fülle des
vollziehenden Heils gesagt“ - ein Ausruf, der wie ein Freudenruf
bei willkommenen Neuigkeiten oder bei großen Gelübden, Zusagen
oder Mahnungen ertönte, in ihm haben wir das alte, starke Gebet,
und cs kann auch nach der Einführung der neuen Religion als

172
Gebet betrachtet werden; wenn aber der Christ den Worten hin­
zufügt: „und Gott möge es gelingen lassen“ , verrät er, was die
Heiden von den Christen trennt; die ersteren warteten ruhig
darauf, daß die Wirkung ihrer Worte zum Vorschein kommen
sollte, die letzteren konnten nur hoffen und sich darauf verlassen,
daß der eigenwillige Gott ihren Wunsch erfüllen werde.
Es ist für uns nicht leicht, ohne weiteres dieser Art von religiöser
Anrufung ihren rechten Platz in der Welt des Gebets anzuweisen;
aber um ihre Wirkung zu verstehen, genügt es, das Heil und sein
Wesen zu kennen. Wenn das Formæli schon nichts mit einer
armen Seele zu tun hat, die im Staube vor einem Herrn kniet,
der dem einen gibt, der ihm geeignet dünkt, und die Bitte des
anderen abschlägt, wie es ihm gefällt, so ist es doch ebensoweit
von der Magie entfernt, die mit einem Zauberhaken im Trüben
fischt. Das Formatli ist eine Hamingja. Wo der Jude mit seinem
Gott in Gebeten ringt, benutzt der Heide das Gebet als eine
Kam pfw affe und wirft es seinem Gegner direkt ins Gesicht. Diese
Waffe verlangt aber wie jede andere Tüchtigkeit und Stärke von
dem, der sie schwingt, und um sie mit Erfolg zu gebrauchen, muß
er eine Beziehung zu ihrem innersten Wesen haben; die Waffe
muß Seele von seiner Seele sein, so daß sie nicht nur in seiner
H and liegt, sondern eine Verlängerung seines Armes bildet und
ihre Kraft unmittelbar aus seinem Herzen gewinnt.
Als Egil sich mit König Erik entzweite, errichtete er eine Neid­
stange und schleuderte sein Formaeli gegen seinen Feind: „Hier
setze ich eine Neidstange und richte diesen Fluch - nid — gegen
König Erik und die Königin Gunnhild, richte diesen Fluch gegen
die Götter, die in diesem Lande wohnen“ - damit die Worte das
bewirken mögen, was sie ausdrücken: alle Götter, die in jenem
Lande wohnten, den Weg verfehlen zu lassen, so daß sie nicht
eher ihren Ort fänden, bis sie Erik und Gunnhild aus dem Reich
gejagt hätten; hätte der, der die Worte aussprach, nicht gewußt,
daß sie hinausgehen, die Götter fassen, ihre Gedanken verwirren
und das Heil des Landes unter dem König zu einem wogenden
Meer machen würden, er hätte sie nicht über die Lippen gebracht,
ja er würde sie vermieden haben, in heimlicher Angst davor, sich
selbst irgendeiner schicksalschwangeren Einwirkung auszusetzen.
Denn ein Mann äußert nur das, zu dessen Verwirklichung er Heil
genug in sich fühlt. Es ist die Verbindung mit den Mächten und
das Bewußtsein, das man von ihrer Kraft getragen wird, die das

173
Formaeli leicht von den Lippen gleiten lassen und ihm K raft geben,
eine Zukunft vor sich herzutreiben auf jegliches Ziel zu, wie es
seinem Herrn beliebt.
Die Verwandlung, die das Formaeli durch den Einfluß des
Christentums durchmachte, steht in enger Verbindung mit der
Tatsache, daß das Wort seine Bindung an die Handlung verlor
- oder daß ihm jedenfalls die Möglichkeit aufgezwungen wurde,
eventuell allein stehen zu müssen. Das Gebet ist für das heutige
Bewußtsein von den Worten eingefriedet, für die Heiden lag sein
Wesen gerade darin, daß es Zubehör zu einer kultischen Handlung
war. Wenn es seine eigene Erfüllung als eine Selbstverständlichkeit
mit sich führte, so war es deshalb, weil den Worten die V oll­
führung durch die T at innewohnte. Der Redner hat das H orn vor
sich oder sogar in der H and, er spricht über den Trank und leistet
dem Horn Genüge, bevor er es weiterreicht. D as Formadi und das
Trinken sind mehr als gleichwertig im modernen Sinne, sie sind
eins, so wie Namengebung und Namenbestätigung, Verabredung
und Vollführung des Kaufs, Versprechen und Erfüllung des Ver­
sprechens eins sind, weil das eine alles ist, sein Gegenstück ein­
geschlossen hat, und ohne sein Gegenstück weniger als nichts ist,
nämlich Unheil und Kränkung. Die Zwiespältigkeit, die in so
viele der alten Sitten ihren Einzug hält, sobald sie in unserer
Sprache ausgedrückt werden, verschwindet, wenn die alten Bilder
von handelnden Männern in ihrer Gesamtheit vor uns gestellt
werden. „Sei heil“ sagt der, der zuerst trinkt, „trink heil“ ant­
wortet der, der auf das Horn wartet. Hier haben wir das alte
Gebet sowohl wie das alte Opfer.
Die schärfste Beleidigung würde es sein, einen Becher mit einem
Fluch anzubieten und so dem Empfänger vorzuschlagen, sein eige­
nes Urteil zu bestätigen. In der Sage von den unglücklichen Lie­
benden, H agbard und Signe, wird der H eld buchstäblich auf­
gefordert, den Kelch der Bitterkeit zu leeren. Als H agbard unter
dem Galgen steht, rächt die Königin ihre beiden Söhne, die von
dem verurteilten Mann erschlagen worden waren, indem sie ihm
einen Becher reicht und mit diesen Worten „fürspricht“ : „Trink
den Becher des Todes, und wenn du ihn geleert hast, dann steig
hinab in das Reich des Todes.“ Der Haß kann nicht weiter reichen,
als wenn er den Mann auf fordert, auf seine eigene Verdammung
zu trinken.
Ein Fremder muß oft den umgekehrten Weg gehen und im

174
Gegensatz zum Eingeborenen die Regel aus der Ausnahme be­
greifen. Es ist ziemlich viel Einfühlungsvermögen erforderlich,
um die Ehrfurcht vor der Macht des Wortes richtig zu werten,
wenn Furcht und Selbstverteidigung in gebräuchlichen Formen
Ausdruck finden, wenn z. B. eine Vorladung in der Rechtssprache
einen Mann zwingt, sich vor Gericht zu verteidigen; aber in so
ungewöhnlichen Fällen wie dem, wo Æ thelfrid die Priester bei
ihren Gebeten überfällt, macht sie sich deutlich bemerkbar. Auf
ähnliche Weise kann die Verwendung der Opferform unter Bedin­
gungen, die den alltäglichen, natürlichen Hintergrund vermissen
lassen, plötzlich ihre Kraft mit fast experimenteller Deutlichkeit
offenbaren. Es war in der T a t das Blot, das dem Grönlandfahrer
Thorgils — der Christ war und christlich zu handeln meinte -
bei der letzten seiner harten Prüfungen auf dem Eismeer half.
Ausgehungert und erschöpft arbeiteten seine Männer hart an den
Rudern, um an die Mündung einer Förde zu gelangen, aber sie
kamen nicht vorwärts, und unterdessen nahmen ihre Kräfte ab,
und der Durst wurde schlimmer. Zuletzt sagte einer von ihnen:
„Ich weiß, daß Männer früher, wenn sie auf der See in der größ­
ten N o t waren, ihr eigenes Wasser mit dem Meerwasser gemischt
und so ihr Leben gerettet haben.“ Thorgils wagte zu dem V or­
schlag weder ja noch nein zu sagen und sah schweigend zu, wäh­
rend sie die Schöpfkellen füllten; aber gerade als sie trinken woll­
ten, hielt er sie zurück mit den Worten: „Gib es mir und ich will
den T ran k ,fürsprechen‘ (m a la fy r ir m in n i): Du arger Troll, der
du jetzt unsere Fahrt hinderst, du sollst nicht bewirken, daß ich
oder jemand von uns hier die eigene Unreinlichkeit trinkt.“ Und
im selben Augenblick flog ein Vogel, einem Alk ähnlich, schreiend
vom Boot nach Norden, und die Männer erreichten das Land und
fanden eine Quelle. Thorgils vollführte das Trankopfer freilich
nicht, er beabsichtigte eben, durch seine T a t den gottlosen V or­
gang zu vereiteln, aber seine Worte taten ihre Wirkung, weil sie
in der Opferform geäußert wurden.
Aus dem Außergewöhnlichen in diesem Geschehnis lernen wir
die natürliche Erfüllung des Blotes begreifen: sie bricht nicht so
handgreiflich aus dem Augenblick hervor, aber sie vollzieht sich
mit ebenso unwiderstehlicher K raft in dem, was wir die natürliche
Ordnung der Dinge nennen: daß die Erde Früchte trägt und daß
die Sonne scheint.

175
Um Erntesegen und Frieden

Das Opfergelage ist eine Verherrlichung der Tischgenossenschaft.


Der Segen des Blotes beruht darauf, daß im Kessel ein besonderer
Trank schäumt, ähnlich dem Bier, das auf den anderen feiernden
Höfen gebraut wird, aber doch grundverschieden von ihm, ein
Trank, der eben nichts anderes ist, als das besondere Ahnenheil,
aus dem das Geschlecht besteht.
Wenn wir die alten Worte gebrauchen - sei es nun Schwur­
becher, Friedensbecher oder Odinsbecher - es ist immer etwas U n­
wirkliches am Ton, wodurch sich dasjenige verflüchtigt, was die
Hauptsache sein sollte; das Gelübde, der Friede oder der Gott
werden über oder neben den Trank gesetzt, dem sie innewohnen
sollten. Solche Sätze wie diese: das Bier ist Friede, ist wogender
Gedanke und Erinnerung, ist Hamingja, Seele und Gottheit - sie
gehen durch einen leeren Raum, bevor sie uns erreichen; und die
Wirkung dieser Brechung ist ein poetischer Glanz, der den wirk­
lichen Sinn verwischt und an seine Stelle eine unbestimmte Ahnung
setzt. Bei den Nordländern scheint die übliche Benennung der
Opferschale fu ll gewesen zu sein, ein Wort, dessen altertümlicher
Bau für Alter und Würde spricht und dessen Bedeutung gleich gut
Fülle, den Zustand des Erfülltwerdens oder Überfluß und das, was
voll ist, sein kann. Ein anderes heiliges Wort ist veig, das, was
immer seine ursprüngliche Bedeutung gewesen sein möge, den Ge­
danken an Kraft und Ehre zusammenfaßt. Die südlichen Völker
drückten die ganze Wahrheit aus in ihrem heiligen Worte m inne.
Minne hat eine eigentümliche Geschichte. D as W ort gehört als
kultischer Ausdruck dem südlichen Zweig des germanischen Stam ­
mes an und hat bei den alten Deutschen dieselbe Bedeutung wie
das altnordische fu ll und veig. Als das Heiltrinken in den Gilden
sich in einen christlichen Brauch verwandelte, wanderte das W ort
nach dem Norden, von den Gildegesetzen getragen, und nach
mittelalterlicher Gewohnheit wurde es in den historischen Berich­
ten über die Sitten des Heidentums in den Opferbecher zurück­

176
verlegt. Der Verfasser der Fagrskinna erkennt noch den Unter­
schied, denn dort, wo er von dem alten Erbbier spricht, sagt er,
daß die Becher bei einer Erbfeier eingeschenkt wurden „wie heut­
zutage die Minnen“ . In den nordischen Sprachen hat das Wort
Minne die Bedeutung von „Erinnerung“ bekommen, und die
Sprache in Verbindung mit den christlichen Ideen ließ mehr und
mehr das Gedenken als den Hauptzweck erscheinen, wenn man
einen Becher im Namen Gottes und des Heiligen leerte. In der
volkstümlichen deutschen Sprache vertiefte Minne sich immer mehr
zu der Bedeutung von Liebe, und so wird der Minnebecher durch
eine parallellaufende Entwicklung zu einem Liebesbecher; auf die
Liebe der Heiligen zu trinken - in am ore san ctorum bibere - so
gibt man in lateinischer Sprache diese Sitte wieder; aber hier und
da zeigen sich die anderen Phasen des Wortes, so daß wir neben
dem am or ein salus finden, Heil und Gesundheit. In seinem ersten
Ursprung ist Minne nahe verwandt mit dem nordischen m unr,
Gemüt, Seele, H am ingja; es findet seine beste Erläuterung in den
Worten der Sigdrifa über den Becher: „Bier bringe ich dir, ge­
mischt mit Megin und mächtiger Ehre.“ Der Minnebecher war ein­
fach H am ingja in jedem Sinne.
Wenn der Becher geleert wurde, war die Wirkung vor allem ein
Gefühl der Gemeinschaft - „zum Jah r und Frieden“ (til års ok
fr id ar), so lautet der Segenswunsch. Die Männer tranken mitein­
ander und tranken sich zusammen, wie die alte Redewendung
sagt, in dem Kraftbräu ihrer Ahnen. Die Versammelten verschmol­
zen miteinander, und diese einigende Kraft des Trankes wird aus­
gedrückt in dem Brauch, der forderte, daß das Horn von Mann
zu Mann durch die H alle gereicht werden sollte; die Kette mußte
ununterbrochen sein und in sich selbst zurückkehren - die Ver­
sammelten sollten eins werden. Wer es ablehnte, auf den Trink­
spruch zu antworten, oder seinen Nachbarn übersprang, der
machte sich einer ernsten Kränkung schuldig, indem er ihn als ein
K ind böser Geister behandelte; aber in der Person des Gekränkten
beleidigte er die ganze Gesellschaft, weil er den Segen des Festes
zerstörte. Das berühmte Opferfest auf H ladir, wo Ja rl Sigurd den
König H akon Æthelstansfostri dazu bewog, ein Blot zu feiern,
begann damit, daß der Ja rl als Vorsitzender mit dem ersten Horn
dem König zutrank und ihn auf diese Weise in den Friedenskreis
zog. Die Leute in Drontheim achteten gespannt darauf, daß der
König seine Schuldigkeit tue, und es ist kein Wunder, daß sie über

177
sein Zögern empört waren. Wenn H akon nicht mit ihnen von der
Heiligkeit essen und trinken wollte, war er nicht aus ihrem Frie­
den, und wer konnte sich dann darauf verlassen, daß er ihr Heil
und ihre Ehre mit ihnen teilen und behaupten würde? Seine Ab­
lehnung war eine höhnische Herausforderung, weil der Verweige­
rer, wenn er als ein toter Punkt im Kreise dasaß, dessen Kraft
zersprengte und das Wohlwollen der übrigen gegeneinander aufs
höchste gefährdete.
Das Opfergelage war keine Institution zum Flicken und Aus­
bessern der Gesellschaft, so wie jene Versöhnungsfeste, wo man
einen ewigen Frieden proklamiert und sich heimlich mit dem Ge­
danken tröstet, daß es nicht abzusehen sei, wie übel es um die
Welt bestellt sein würde, wenn nicht immer wieder das Wort
„ew ig“ mißbraucht würde. Das Gelage wollte Frieden, und es
setzte unweigerlich seinen Willen durch: seine Frucht war die Un­
verletzbarkeit des Geschlechts. Die Heiligkeit des Festes ist eine
Folge der allgemeinen Veränderung, die in den Verwandten da­
durch vor sich ging, daß sie denselben göttlichen Trank teilten
und die H am ingja in sich wiedergebaren.
Die mittelalterlichen Ermahnungen an die Gildebrüder, eines
Sinnes zu sein, nicht mit Übelwollen gegen einen Bruder zum
Trinken zu kommen, sondern sich vorher versöhnen zu lassen und
alle Feindseligkeit in der Heiligkeit ruhen zu lassen, das sind juri­
stische Ideale, die auf Realitäten ruhten, die keines Befehles be­
durften. Und das, was die Gesetze mit so großem Ernst als das
grundlegende Prinzip des echten Gildegeistes festhielten, wurde
auf dem Lande bei den jährlichen Festen des niederen Volkes in
der Praxis verwirklicht. Die schwedischen Thingbücher kennen
keine Erklärung - und brauchen keine Erklärung - für das Ver­
trauen des Volkes in die friedenstiftende Kraft des Bechers. An­
läßlich eines Totschlags in Albo im Jahre 1617 wird Folgendes be­
richtet: Während die Gesellschaft trank, entstand ein Wortstreit
über eine Kerze, die ausgebrannt war und nicht schnell genug er­
neuert wurde, worauf Jöns von Ware einfältiglich wie einer, der
einen Ausweg weiß, sagte: „Solche Worte wollen wir hier nicht
hören. H ol eine Kanne Bier, wir wollen auf den Herrgott trin­
ken.“ Als das Bier gebracht wurde, trank er die Minne des Herrn,
sprach ein Formæli, so gut er es vermochte, und trank Jöns von
Tubbemåla zu; dieser nahm wohl den Becher entgegen, aber mit
höhnischen Worten, indem er wahrhaftig sagte: „Wenn Gott der

178
Allmächtige uns nicht helfen will, da muß der andere l) uns an
seiner Statt helfen.“ Und dieses sagte er dreimal. Jöns von Ware,
die gute Seele, lehnte „den anderen“ als Trinkbruder ab, die
Messer wurden gezückt, und der Jöns des Teufels wurde dort
hingeschickt, wo er hingehörte. So schicksalschwer war noch im
17. Jahrhundert in Wärend die Unterbrechung der Trinkgemein­
schaft in einem kritischen Augenblick.
Das ganze Mittelalter hindurch und weit in unsere Zeit hinein
behielt man die gute alte Sitte bei, die jährlichen Festversamm­
lungen zum Ort der Versöhnung zu machen, wo alte Streitigkeiten
geschlichtet und der Boden vorbereitet wurde, damit er im kom­
menden Jah r so wenig bittere Früchte wie möglich tragen möge.
Ein alter Priester preist den Segen, den der Julbecher über Sma­
land bringt: Nachbarn und Freunde gehen am Weihnachtsabend
zueinander mit ihrem besten Trank in der H and und trinken auf
das Wohl Gottes im Himmel, indem sie einander und ihren Fami­
lien Gottes Gnade und Segen wünschen. So werden die Hände
durch den ganzen O rt ineinander gelegt; alle müssen nun Freunde
sein und den Julfrieden halten; niemand darf ihn brechen, wenn
er nicht von allen als ein Ungeheuer und ein Neiding betrachtet
werden will.
Wie sehr auch Stil und Geist sich vom Blot bis zur Andacht um
das Psalmbuch, von der Sippe zur Familie einer Einzelhaushaltung
geändert haben, wir finden doch in den Gebräuchen am norwegi­
schen Weihnachtsabend noch einige Züge, die in die alten Beschrei­
bungen hineinpassen. Der Weihnachtsabend in Norwegen wurde
dazu benutzt, alle Seelen auf das kommende Jah r vorzubereiten.
Bei dem feierlichen Weihnachtsmahl, das um Mitternacht aufge­
tragen wurde, setzten Vater und Mutter sich in den Hochsitz, ihre
Söhne an der einen und ihre Töchter an der andern Seite und die
Dienstleute am unteren Ende des Tisches; alle, Hausherr, H aus­
frau und so weiter, die ganze Tafelrunde herum, tranken sich aus
einem gemeinsamen silbernen Becher auf ein fröhliches Weihnachts­
fest zu.
In alter Zeit war das Fest ein Prüfstein für den einzelnen. Wehe
ihm, wenn er nicht fühlte, daß der Friede und das Bier ihm scharf
zusetzten! Wer sich nicht in die geistige Genossenschaft der ande­
ren hineintrinken konnte, der mußte freilich ein Heilloser, ein
* Anmerkung d. Verf.: „Der andere“ ist ein volkstümlicher Euphe­
mismus für Satan.

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Neiding sein. Als die Götter die Erde verließen, wurde das Bier
zu Alkohol und der göttliche Rausch zu reiner und gemeiner Be­
trunkenheit, und dann mochte es wunderlich klingen, daß die N ei­
gung der Gäste, ihren Sitz auf der Bank mit dem Fußboden zu
vertauschen, eine Bekräftigung für das gute Gewissen des Wirtes
gewesen sein sollte; aber alte, ernste Gedanken schlummern hinter
dem Glauben des gemeinen Volkes an die Rechtfertigung durch
den Trank und durch seine Wirkungen. War das Bier nicht gut,
war das Heil daran schuld, es war im Begriff, das Haus zu ver­
lassen, und dann war alles Feiern vergeblich. In den Tagen des
düsteren Heidentums hätte man wohl ein solches Unglückshaus ge­
flohen; in späteren Zeiten, als die Sitten unter dem Einfluß des
Christentums milder wurden, pflegten rücksichtsvolle Gäste in N or­
wegen die Betrunkenen zu spielen und, so natürlich ihre mimische
Begabung es ihnen erlaubte, unter den Tisch zu rutschen, um dem
Wirt Seelenqualen zu ersparen. Ein guter Zuchtmeister zu wahrer
Hum anität war natürlich die Sorge um den eigenen guten R uf;
denn, wie unsere Quellen weiter bestätigen, wenn es sich traf, daß
jemand als eine nüchterne Ausnahme mitten unter denen saß, die
angeregt waren, nahm man an, daß Gottes Fluch über ihm war.
„G ott helfe dem, dem Gottes Gaben nichts anhaben können“ ,
flüsterte man rings um ihn.
Das religiöse Auf flammen des Feuers auf dem Herde der Sippe
wurde nicht nur dadurch hervorgerufen, daß die Gluten zu einem
großen Feuer zusammengetragen wurden; man erwartete eine N eu­
entzündung und eine Vermehrung des Feuers. Es liegt ja im C ha­
rakter des Friedens, daß die W irkung der Opferkraft nicht auf die
Verwandtengemeinschaft beschränkt war; die innige Verdichtung
der Genossenschaft bedeutete eine Wiedererstarkung der ganzen
H am ingja. Durch Trinken aus dem Horn wurden die Freunde
heilhafter, kräftiger im Kinderzeugen und K am pf; ihr Gedächtnis
und die Worte auf ihren Lippen, Ernteheil und Spinnheil, hei­
lende Hände und Sieg, wie Sigdrifa sagt, wacher Grimm im Streit
und unverbrüchlicher Friede unter den Menschen daheim, alles
wurde gestärkt und erhöht. Es war die Seele selbst, die erneuert
wurde, es war das Menschgefühl, das davor behütet wurde, in
die Auflösung der Neidingschaft hinabzugleiten. Ohne die große
Erneuerung des Friedens, die das Blot enthielt, mußte das Dasein
zum Stillstand kommen; die Männer würden vergessen, wer sie
seien, und ihre Toten würden den zweiten T od sterben. D as furcht­

180
bare Schicksal, das H jörleif traf, daß er den zweifachen T od von
den Händen der Knechte starb, war ihm - nach der Überlieferung
- vorausbestimmt als Folge seiner Weigerung, am üblichen O pfer­
fest teilzunehmen. Ingolf, sein Blutsbruder, hielt den alten Braudn
mit seinen Verwandten und konnte sich des Lebens freuen.
Als die christliche Anbetung das alte Blot ablöste, wurden die
Verstorbenen draußen im Dunkeln gelassen oder der Gnade der
Kirche übergeben. Das Leben des sterbenden Mannes war nicht
mehr in dem Geschlecht gesichert, und er mußte dementsprechend
seine Vorsichtsmaßregeln treffen. Seine Sorge um die Zukunft
macht sich Luft in Anordnungen von Feiern mit Trinkgelagen, die
zu „seinem Gedächtnis“ gehalten werden sollten, und in Stiftungen
für die dauernde Fortsetzung der Gedächtnisfeiern - oder sagen
wir ruhig: des Blotes.
T rotz aller Vorwände der christlichen Kirche wurde eben doch
in der Blothalle die Frage nach dem ewigen Leben und dem ewi­
gen Tod entschieden. Und in dieser Hinsicht zeigen die mittelalter­
lichen Gilden sich sehr deutlich als Erben der alten Opfergenossen­
schaft. Die Brüder hatten sich in die H ut der Kirche begeben, und
die Kirche hatte ihre unerschütterliche Auffassung davon, wie die
Fürsorge der Lebenden am besten der W ohlfahrt der Seele im
Himmelreich dienen könnte; und die Verwandten jenseits ließen
es sich gern gefallen, die Ehre in neuen Gefäßen zu empfangen,
solange sie sicher waren, das zu erhalten, was ihnen zustand. Sie
fanden immer treue H elfer auf dieser Seite des Grabes, die nicht
nur fleißig die Messe nutzten, sondern auch versuchten, heimlich so
viel wie möglich von den alten Formen in sie hineinzuschmuggeln.
Die Gilden wachen mit peinlicher Sorgfalt darüber, daß ihre M it­
glieder der Vergangenheit in der neuen Form die Treue halten.
Die Verstorbenen sollen unter der vollzähligen Anwesenheit der
Brüder Seelenmessen erhalten; ihre Namen sollen beim Gelage­
trinken vorgelesen werden, und damit die Dahingegangenen in
Gedanken bei der hohen Feier anwesend sein mögen, werden sic
mit einem Gebet in der Minne bedacht, wenn sie nicht eine Minne
für sich erhalten können.
D as H eil, das in dem Manne wohnte, mußte bei Vernachlässi­
gung des Blotes seinen Glanz verlieren; die Schwerter mußten
rosten, Pferde und Rinder tot zu Boden fallen, die Äcker mußten
aufhören, Frucht zu tragen. Die Leute in Drontheim machten
bittere Erfahrungen, als O laf der Heilige die alten Blote verbot

181
und seinen Untertanen mit Feuer und Schwert drohte, wenn sie es
wagen sollten, Heil und Fruchtbarkeit nach Art der Väter zu
suchen. Was sollten die guten Männer aber tun? Der König mochte
mit seinem Gott und dem Teufel losdonnern, aber all dies Don­
nern hinderte die Ernte auf den Feldern nicht am Verfaulen; die
Bauern betrachteten ihre Kornfelder und hörten außerdem, daß
der Frost höher im Norden alle Männer auf H alogaland in seine
Gewalt bekommen hatte, seitdem sie aufgehört hatten, das Blot
zu feiern. Sie erinnerten sich auch, wie Erde und Meer sich des
Heils erfreuten, als Ja rl H akon ins Land gekommen war und die
heiligen Orte, wie der Dichter singt, zu wahren vé gemacht hatte,
zu wahren Orten der Heiligkeit für das Volk. Kein Wunder, daß die
hartnäckigen Bauern beschlossen, sich nicht an des Königs Befehl
zu kehren und die alten Quellen des Segens wieder zu eröffnen.
Als Folge des exklusiven Charakters des Christentums bedeutete
die Bekehrung eine Unterbrechung des geistigen Verkehrs mit der
Sippe, und der Abtrünnige gestaltete das Leben der Sippe tragisch.
Ein einzelner Mann, der aus der Blotgenossenschaft austrat, schnitt
nicht nur sich selbst vom Heil ab; seine Neidingsdiaft wurde die
Zerstörung seiner Sippe. Er „sagte sich selbst aus dem Geschlecht
heraus“ , brachte Schande über seine Verwandten, und das Urteil
der letzteren ist in dem feierlichen Wort fra n d ask ö m m konzen­
triert - „Verwandtenschande“ oder, wie es noch schärfer gesagt
werden kann, a tta r sp illir - der Zerstörer seines Geschlechts. Ver­
räterei gegen die innerste Bindung im Frieden ist mit dem Wort
„Gottneiding“ oder Abtrünniger ausgedrückt, und zwar mit um
so mehr Berechtigung, als er nicht nur diesen oder jenen Gott be­
leidigt hatte, sondern „die Götter“ gekränkt und sie für seine Ver­
wandten nutzlos gemacht hatte. Es ist die Pflicht der Verwandten,
sich zu behaupten und die Wunde auszuätzen: die Pflicht wurde
vom isländischen Allthing im Jahre 997 denen unter der Ver­
wandtschaft auf erlegt, die ferner waren als H alb vettern und näher
als die Halbvettern der Halbvettern, eine ausgleichende Anord­
nung, die einen guten Einblick gewährt in das Gefühl der Zeit für
die Heiligkeit der Verwandtschaft. Die Geschichte von Radbod,
dem friesischen König, dessen Seele W olfram zu retten sich be­
mühte und der sich weigerte, allein in den Himmel zu gehen und
aus dem Taufbecken hinaustrat, als er hörte, daß seine Verwandten
auf den Bänken der Hölle saßen - diese Geschichte läßt sich nicht
in moderner Sprache wiedererzählen; das wahre Pathos der Treue

182
wird in unserer Wiedergabe karikiert, weil wir nie die Angst und
Verlassenheit der alten Helden bei der geistigen Vereinsamung zu
fühlen bekommen können. Es gab nur ein Mittel, um Heil und
Friede zu erhalten: daß die anderen Verwandten ebenfalls zu dem
neuen System übergingen; und alle, die nicht verblendet waren,
behalfen sich mit diesem Mittel, wenn das Unvermeidliche über
ihnen war. Die rein äußerliche Massenbekehrung, die so viele
Witzeleien und so viel frommes Bedauern unter Protestanten her­
vorgerufen hat, war für diese Männer die einzig mögliche Form
für die Wiederherstellung der Seele.

Vor dem Beginn jedes ernsten Unternehmens wurde ein Blot­


fest abgehalten, bei welchem die Kraft sich vor der kommenden
Probe sammelte und die Teilnehmer ihre höchste Heiligkeit an­
legten. Wir wissen aus dem Leben der Bauern, wie das Jahr von
Neuanfängen durchzogen ist: Umzugsbier, wo ein Becher auf die
tom tebolycka, das Heil im neuen Wohnsitz, getrunken wurde,
Richtbier, wenn das Dach eines neuen Hauses errichtet wurde
und so weiter. Dies ist ein echtes Bild von dem Leben in alter Zeit.
Während die Schiffe klar zum Wikingzug lagen, tranken die
Männer daheim Abschiedsbier, „und es gab viel Trinken mit gro­
ßen Worten“ , das heißt Versprechen künftiger Taten. Mit den)
Trinkgelage in der H alle beginnt Beowulfs großes Unternehmen
gegen das Ungeheuer: „Setz dich nieder beim Biere, wirf starke
Taten unter die Männer, wie dein Sinn dich trieb“ , sagt Hrodgar,
und die stolzen Krieger nehmen Platz in der Bierhalle. Ein Mann
trägt die festlichen Bierkessel durch die Halle und gießt die klare
Flüssigkeit ein, man hört die laute Stimme des Sängers in Heorot,
der Jubel unter den Kriegern auf den Bänken steigert sich aufs
höchste, als Beowulf sein Versprechen ablegt. Die Königin schreitet
durch die H alle und reicht den Trank zuerst dem König, darauf
denen, die ihm am nächsten sitzen, einem nach dem anderen, bis
sie zu Beowulf kommt, ihn mit Dank für sein Kommen grüßt und
den krönenden Ausruf aus ihm hervorlockt, daß er entweder
zwischen den Jöten und dessen K op f gehen, oder in der Halle das
Todesgericht über sich selbst niederstürzen lassen will. Und noch
höher steigt der Jubel der Kampfrecken, jetzt voll Seligkeit, bis
der König die Gesellschaft aufhebt, um sich zur Ruhe zu begeben,
und Beowulf sich allein mit seinen Mannen hinlegt, um das Kom­
men des Ungeheuers abzuwarten.

183
D as Fest fand statt im Schatten des Grauens. Der Dichter muß
sich daran erinnern, wie oft schon früher große Versprechen in be­
zug auf denselben Grendel abgelegt worden sind, er kann sich nicht
enthalten zu erwähnen, daß der Ausgang jedesmal derselbe war:
beim Anbruch des Tages war die königliche H alle voll von Blut.
Aber der scheinbare Widerspruch zwischen den traurigen Erfahrun­
gen mit früheren Versuchen einerseits, die es zweifelhaft machten,
ob je jemand die Überlebenden vom Todesschicksal würde befreien
können, und der wilden Ausgelassenheit beim Feste andererseits,
hat seine Erklärung eben in der Tatsache, daß die Mutlosigkeit
von der Steigerung des Lärms verschlungen werden sollte. Das Fest
war für die, die daran teilnahmen, eine neue Stärkung im Heil,
eine Ermutigung in ihrem Gott. Sieg schritt durch die H alle in
dem Augenblick, da die Krieger auf ihren Auszug tranken, und
es war notwendig, ihn mit Kraft an sich zu reißen, wenn man ihn
haben wollte. Wenn er nicht so in die Männer einging, daß der
Jubel aus ihnen hervorbrach, war das Fest vergebens gewesen,
dann mußten sie sich lieber gleich verkriechen und Schutz suchen.
Jeder Anfang erfordert ein Blot, das die neue Zukunft mit der
Wirklichkeit des Heils zu beseelen vermag. Wenn ein Mann in
eine andere Sippe aufgenommen werden sollte, mußte der Ochse
oder der Widder neben dem Leiter der Zeremonie zum Schlachten
bereit sein, und der Schuh mußte neben dem Bierbottidi stehen.
Die Hochzeitsgäste mußten wissen, daß sie „dieses Bier getrunken"
hatten und daher für die Wirklichkeit des Ehebundes eintreten
konnten. Aber am Erbbier sehen wir am deutlichsten, wie das Blot
neu macht, wie man zur Quelle zurückgeht und das Leben von
vorn anfängt, wenn das alte plötzlich verdorrt ist. D as Christen­
tum war verwundert über die Heiterkeit, die die heidnischen oder
heidnischgesinnten germanischen Völker zu Ehren der Verstorbe­
nen entfalteten, und diese ihre Gewohnheit hielt sich trotz häufiger
Eingriffe sowohl persönlicher wie offizieller Art lange genug, um
alle Möglichkeiten des Staunens zur Entfaltung kommen zu lassen:
die Indignierten haben protestiert, die, die Ärgernis genommen
hatten, haben Vorwürfe gemacht, und schließlich hat die ästhetische
Logik sich über den Widerspruch zwischen dem traurigen Anlaß
und der unpassenden Ausgelassenheit der Gäste lustig gemacht.
Der englische Priester im 10. Jahrhundert empfängt die Ermah­
nung: „D u sollst nicht teilnehmen an dem Jubelschrei über die
Toten; wenn du zu einer Begräbnisfeier eingeladen wirst, dann

184
verbiete die heidnischen Lieder und das laute schallende Gelächter,
an dem die Leute ihre Freude haben.“ Ungefähr tausend Jahre
später können wir mit Sympathie über den Bauern lächeln, der
resigniert die Zeit herankommen sieht, wo „das Kirchspiel seinet­
wegen einen lustigen T ag haben soll.“
D as Erbbier war kein betrübliches Fest, wo Freunde und V er­
wandte sich zu gemeinsamer Versenkung in ihren Verlust versam­
melten, um die Trauer mit vereinten Kräften zu durchackern, so
daß sie, von Becher und Schüssel gestärkt, aufs neue hinausziehen
konnten, um den Bedürfnissen des Lebens entgegenzutreten. Aber
das Erbbier war eine ernste Angelegenheit, weil durch den Über­
fall des Todes auf die Sippe die H am ingja gefährdet worden war;
deshalb war es notwendig, die Freude anzuspannen und sie ihre
ganze K raft hergeben zu lassen. Es galt das Leben sicher über einen
kritischen Punkt zu führen, das Heil war zum Stillstand gelangt,
der Hochsitz stand leer als sichtbares Zeichen einer Lücke im Zaun,
die Verwandten fühlten sich zu unsicher, um es zu wagen, sich in
Männerversammlungen zu begeben. Erst beim Erbbier wurde die
Festigkeit durch Schaffung der neuen Form für das Dasein der
Sippe wieder hergestellt. Aus diesem Grunde ging es nicht an, dies
Fest zu lange aufzuschieben, nicht über das Todesjahr hinaus,
wenn wir der Geschichte in der Fagrskinna Glauben schenken dür­
fen, die in diesem Punkte im vertrauenerweckenden Widerstreit
zu anderen Berichten vom Erbbier König H aralds steht, in welchen
die Feier von Jah r zu Jah r verschoben wird, um die dramatische
Spannung der Erzählung zu erhöhen.
Stufe für Stufe führen die Gelegenheitsfeste zu den jährlichen
Kultfesten empor, die feste Punkte im Dasein bildeten, wo das
Leben regelmäßig erneuert und zu einer Zukunft gemacht wurde.
In ihnen opferte man, um Winter oder Sommer „willkommen“ zu
heißen, wie die Nordländer sagen, und das Verbum, das für be­
willkommnen gebraucht wird - fa g n a - schließt Freude ein und
bezeichnet die Fröhlichkeit, die notwendigerweise den rechten An­
fang kennzeichnen mußte.

Wenn das Blot erfolgreich gewesen war und seinen Zweck er­
füllt hatte, gab es den Teilnehmern Frieden im Herzen und ein
wunderbares Gefühl der Sicherheit, weil es eine Zukunft geschaffen
und eine Kette solcher kommenden Begebenheiten angefangen
hatte, die die Herzen der Verwandten erfreuen mußten. Als die

185
Ingimundsöhne fortzogen, um ihren Vater an seinem Töter, H rol-
leif, zu rächen, war ihre größte Besorgnis, daß Hrolleifs Mutter,
die alte Hexe, Zeit gewinnen könnte, ein Blot für ihren Sohn vor­
zubereiten. Sie reisten ohne Unterbrechung, um das Gehöft zu er­
reichen, bevor das Opfer beendigt wäre. „Seine Mutter wird ohne
Zweifel bloten, wie sie es zu tun pflegt, und wenn es ihr gelingt,
werden wir nicht die Kraft haben, unsere Rache auszuführen“ ,
sagte Thorstein.
Wenn sie in ihren Unternehmungen Erfolg gehabt hatten, opfer­
ten die Männer, um die glücklichen Ereignisse für die Zukunft zu
befestigen. Für den feierlichen Zweikampf war ein Stier oder eine
Kuh erforderlich, die vom Sieger niedergestochen werden sollte;
damit hielt er Blot und bestätigte seinen Sieg und die Überlegen­
heit, die er durch ihn gewonnen hatte, als dauernden Zustand der
Dinge für die Zukunft. Es wird zufällig von einem streitsüchtigen
Isländer, Vigastyr, erzählt, daß er nach erfolgreicher Erledigung
einiger schwieriger Streitigkeiten mit den Nachbarn versuchte, der
Gegenpartei den Weg zur Wiedergutmachung zu versperren, in­
dem er zwei Stiere niederstieß, so daß keine Rache für die Tötung
genommen werden konnte. Der Sinn ist der, daß er seine Über­
legenheit befestigte und die Zukunft zwang, sich nach dem von
ihm gemachten Entwurf umzugestalten, wo Vigastyr als der Held
dasteht, der die Ehre der anderen genommen hat und sie behält.
Ob das Blot erfolgreich gewesen war und seinen Zweck erreicht
hatte oder nicht, konnte durch sichere Kennzeichen festgestellt wer­
den. Die Männer gingen til fré ttar, das heißt, sie baten um die
Beantwortung einiger gestellter Fragen. Wie gefragt wurde und
auf welche Weise die Antworten empfangen wurden, wird uns
nicht mitgeteilt. Was wir erfahren, ist nur dieses, daß der Blot­
zweig geschüttelt wurde und daß man die Blotspäne fallen ließ,
und diese Ausdrücke finden keine Aufklärung in Tacitus’ Beschrei­
bung von dem Priester, der „zum Himmel emporblickte“ und las,
was auf einem Stäbchen, das er dem Haufen entnahm, geschrieben
stand. Wie wir auch über Tacitus denken mögen, es bleibt sicher,
daß der Wille der Götter erfragt wurde, bevor die Runen erfun­
den wurden. Das Fallenlassen des Zweiges deutet auch auf eine
Beobachtung des fallenden Spans hin, und zwar in bezug auf seine
Lage, nachdem er zur Ruhe gekommen ist, und auf seine Beziehung
zur Bewegung der Sonne, oder was sonst als bedeutungsvoll an­
gesehen worden sein mag. Ob nun das Los durch Runen oder

186
durch Bewegungen sprach, jedenfalls verdankte es seine Stimme
der Tatsache, daß es geblotet worden war. Es ist das Heil des
Blotes, das durch das Los spricht, und dasselbe Heil sprach in der
Freude der Gäste, in dem hellen Klang der Hörner, in der fließen­
den Beredsamkeit des Vorsitzenden des Gelages; kurz, in allem,
was geschah, nachdem die Kraft des Blotes in die Blotenden ein­
gekehrt war. Den besten Kommentar finden wir in solchen Ge­
schichten wie der von Ja rl Hakon, der an Land ging und ein
großes Blot hielt und aus dem Schrei der Raben erfuhr, daß er
Sieg gewinnen würde, wenn es zum K am pf käme. Die Aasvögel
erschienen als ein unverkennbares Zeichen, daß das Kam pffeld für
ihn bereit war. Die Blotenden blickten nicht zu den Göttern
empor, um von ihnen einen Wink zu bekommen, ob sie mit dem
Blot zufrieden seien und ob sie bereit seien, den Wunsch ihrer Ver­
ehrer zu erfüllen; die Männer blickten nach der Wirklichkeit, die
eben im Begriff war, Gestalt anzunehmen, um zu erfahren, ob Heil
und Schicksal geboren worden waren, wie H akon es sicher an dem
Erscheinen der Raben erkannte, die sein Heer grüßten.
Es gab warnende Zeichen, die dem Eifer der Fragenden ein
„noch nicht“ entgegenstellten; wenn er weise sei, solle er warten,
bis das Heil bereitet sei. Aber ein Germane, der ausgezogen wäre,
um einen G ott nach seinem J a oder Nein zu befragen, wäre eine
komische Figur gewesen, und wer zum Blot in der Erwartung ge­
gangen wäre, ein gutes oder böses Wahrzeichen zu erhalten, wäre
nicht mehr als komisch, sondern als wahnsinnig angesehen worden.
Die Alten opferten, um ein gutes Wahrzeichen zu schaffen, indem
sie die Wirklichkeit schufen, aus der die Wahrzeichen hervor­
gingen, sie verlangten eine mächtige, kräftige Bestätigung, die das
Heil durch und durch erwärmen könnte. Wenn das Formaeli ihnen
fehlschlug, war es in erster Linie Unheil, daneben aber auch ein
böses Wahrzeichen; es bedeutete, daß das Leben sich nicht durch
die Geburtsstunde hatte zwängen können und daß das O pfer ver­
gebens war.
Es heißt, daß Ja rl H akon eine prophetische W aage besaß, auf
welcher er das Schicksal wog. Zu den Waagschalen gehörten zwei
Gewichte, die wie Menschen geformt waren, das eine aus Silber,
das andere aus Gold. Wenn wichtige Sachen entschieden werden
sollten, legte er die Gewichte in die Schalen und sagte, was jedes
von ihnen bedeuten sollte, und wenn es so kam, wie er es wünschte,
rasselte das Gewicht immer in der Schale, sagt eine Überlieferung.

187
Aber es gibt eine andere Überlieferung, die weit besser verstanden
hat, was es bedeutete, wenn ein Heiling Formaîli hielt; sie sagt
gerade heraus: „Und es fiel immer so aus, wie es der Ja rl wünschte,
und das Gewicht rasselte in der Schale.“ Denn Hakon war ein
Jarl, der Heil in sich hatte, und er wurde mit Ehren Hakon der
Blot-Jar'l genannt.
Die Beantwortung der Frage, wie geblotet werden sollte, kann
die Geschichte von Floki geben oder die Geschichte von dem islän­
dischen Landnahmemann, der mit einem Blot von dem alten Lande
Abschied nahm. Er blotete, um sein Schicksal kennenzulernen; die
Antwort wies ihn nach Island, und er vollführte vertrauensvoll
seinen Plan. Wie man nicht bloten soll, wird in der Geschichte von
Vebjörn, dem Häuptling von Sogn, gezeigt. Er und seine Ver­
wandten hatten Streit mit Jarl Hakon und mußten Norwegen
verlassen. Sie opferten, um einen neuen Wohnort zu finden, und
der Ausfall zeigte ihnen, daß der Jarl dagegen blotete; in ihrem
Eifer, fortzukommen, ließen sie das Blot außer acht, stachen in
See - und erlitten SchifTbruch. Das Blot hatte seine Begrenzung
darin, daß der Blotmann vielleicht nicht genug Heil besaß, um
seine Absicht ganz durchzuführen und das Leben bis zum er­
wünschten Höhepunkt zu steigern. H alfdan der Alte blotete, um
300 Jahre als König zu leben, so berichtet die Sage eines alten nor­
wegischen Geschlechts; die Antwort war, daß er nicht länger als
ein Menschenalter leben sollte, aber in seinem Geschlecht sollte
durch 300 Jahre kein Mann ohne Häuptlingsheil geboren werden
und keine Frau.
Die beiden Seiten sind in Ausdrücken vereinigt, die den Zweck
des Opfers bezeichnen: man ging, um „Heil zu holen“ . Keine
Übersetzungskunst kann diese Redensart wiedergeben, weil sie
etwas ausdrückt, woraus jetzt zwei Dinge hervorgegangen sind.
Wir sind genötigt, das Wort in unseren Wörterbüchern zu zer­
legen in eines, das „H eil" bedeutet, und ein anderes, das „W ahr­
zeichen“ bedeutet. Ein Mann zog aus mit bösem Heil, wenn seine
Reise schlechten Erfolg hatte, und hier ist es nicht nötig, zu über­
legen, ob die Worte mit „böses H eil“ oder „böses Wahrzeichen“
übersetzt werden sollen, denn Heil enthält beide Bedeutungen. Sich
selbst zum Heil w arf der Landnahmemann seine Hochsitzpfeiler
über Bord, damit sie ihm den Weg zeigen und einen guten Platz
für ein Heim finden möchten.

188
S p ie l u n d G e lü b d e

Es gehört noch mehr als ein Opfer zu einem Fest, bei dem die
Menschen sich in ihrem Gott stärken. Nach der Mahlzeit erhebt
das Volk sich, um zu spielen. Wenn die Männer ihren Gefährten
zu seiner Ruhestätte im Hügel begleitet haben, wenn sie ihn an
den Ort geführt haben, wo es ihm gut gehen soll, und ihm die
nötige Wegzehrung mitgegeben haben, mögen sie Wettrennen und
Preissingen abhalten. Und ob nun diese Spiellust mit der Rücksicht
auf den Gott, den Toten oder die Lebenden begründet wird,
gipfelt die Erklärung in der Tatsache, daß die W ettkämpfe die­
selbe K raft und dieselbe Wirkung haben wie das Gelage im Hause
- sie sind ein Teil des Blotes.
Wir wissen, daß bei den Männerversammlungen in der Früh­
zeit alle Arten von Wettkämpfen gebräuchlich waren. Ballspiele,
Pferdekämpfe, Ringkämpfe kommen oft in den Festberichten der
Sagas vor, aus dem einfachen Grunde, weil das Blut der Isländer
oft so erhitzt wurde, daß die Wirkung lange hinterher in der O rt­
schaft zu spüren war. Über den Vorgang beim isländischen Pferde­
hetzen besitzen wir ausführliche Mitteilungen; es wird beschrieben,
wie die Hengste von ihren Besitzern gegeneinander geführt wur­
den, wie sie sich auf die Hinterbeine stellten und sich bissen, wäh­
rend die Führer die Tiere mit dem Roßstab in der aufrechten Stel­
lung stützten und sie gleichzeitig zum wildesten Angriff hetzten.
Diese K äm pfe galten als Proben der Ehre, der Besitzer war im
Geiste in seinem Kampfhengst anwesend, so daß der Sieg des
Hengstes sein Wachstum bedeutete, die Niederlage des Tieres den
Zerfall seiner Ehre. Und nicht selten folgte der Entscheidung durch
die Hengste eine nicht ganz zufällige Begegnung der Männer mit
den Waffen. Aber wir finden gar keinen Hinweis auf Beziehungen
zur Götterverehrung: der K am pf war scheinbar eine volkstümliche
Belustigung geworden.
Die norwegische Form der Pferdekämpfe aber hat deutliche E r­
innerungen an ihre ursprüngliche Anknüpfung an die Kultfeste
bewahrt. Diese skei, wie sie genannt wurden, fanden jedes Jahr

189
statt, in Sætersdalen an einem Sonnabend im August, in Tele­
marken am Bartholomäustag, und sie waren offenbar zu Anfang
ein Teil eines alten örtlichen religiösen Festes. Die Hengste wur­
den zu zwei und zwei herausgeführt, durch die Anwesenheit einer
Stute erregt, und nach den Kämpfen folgten wilde Ritte auf un-
gesattelten Pferden. Und das wußte man: „Wenn die Pferde gut
beißen, bedeutet es eine gute Ernte“ , ln diesem Doppelspiel zwi­
schen der Auffassung des Vorganges als einerProbe der Männlich­
keit und einer Sicherung des Heils liegt wahrscheinlich ein letzter
Überrest des alten Blotgedankens.
Kulturhistorisch gesehen ist es von Wichtigkeit, daß das W ort
leikr { la ik , Laich, Spiel) in den germanischen Sprachen Opfer be­
deuten kann, und es ist andererseits ebenfalls charakteristisch für
die Kultur, daß das Wort auch als Umschreibung für K am pf dient.
„H ilds Spiel“ ist nicht der wunderliche Einfall eines Dichters, der
Ausdruck hat eine tiefere Bedingtheit. Die Männer spielten viel in
jenen Zeiten, und sie packten immer fest zu, aber die schwieligen
Fäuste waren nicht allein die Ursache des festen Griffes. Der Ton
in unserem Worte „Spiel“ , das jetzt die überwiegende Bedeutung
einer Abstraktion von der Wirklichkeit hat, ist geradezu eine Ver­
leugnung dessen, was in alter Zeit die Seele des Spieles ausmachte.
Es sollte Ernst sein, sonst hatte es keine Berechtigung, sonst war es
Langeweile an Stelle von Kurzweil. Je grimmiger die beiden Par­
teien aufeinander losgingen, um so größere Freude hatten sie und
die Zuschauer an der Zusammenkunft. „Jetzt haben sie uns amü­
siert, laß uns nun die anderen amüsieren“ , sagte der Isländer, als
„sie“ - zwei aus der Gesellschaft - so gründlich aufeinander los­
gehauen hatten, daß der eine von ihnen tot auf dem Platz blieb.
Grettir fand sich einmal in der Zeit seiner Ächtung von einer dank­
baren Volksmenge umgeben. Es war, als er sich verkleidet in eine
Ortschaft schlich, wo die Männer beim Spiel versammelt waren,
und er durch seine Stärke die Käm pfe härter als gewöhnlich
machte. Als er die Gesellschaft verließ, klang warmer Dank dafür,
daß er so sehr zum Vergnügen beigetragen hatte, und es war
nichts Gezwungenes in diesen Danksagungen, wie bei Leuten, die
eine anerkennende Miene zeigen, um einen Eindrude von Männ­
lichkeit zu machen. Die Einherier von W alhall, die so glücklich
sind, jeden T ag mit der Aussicht aufzuwachen, daß sie einander
ganz töten werden, waren, wie alles Vollkommene in dieser Welt,
zu einer Zeit geschaffen worden, wo die Menschen nicht mehr das

190
Leben als eine Einheit beherrschten oder Poesie und Prosa des
Lebens im selben T ritt marschieren lassen konnten, und wo sie
also etwas schaffen mußten, was Ideal genannt wird. Die Männer
der Wikingerzeit waren ein ästhetisches Geschlecht, das den Kam pf
ums tägliche Brot aufgab und das Leben verfeinerte, indem es nach
unverdünnter Ehre strebte. T rotz all ihrem bezaubernden Glanze
gehören die Einherier doch in das silberne Zeitalter. Es ist auch
etwas den Einheriern Ähnliches bei den norwegischen und schwedi­
schen Bauern späterer Zeiten, wenn sie ihre Feiern mit Messern
und Äxten begingen; sie zogen im Triumph zu einem Feste und
wetzten ihre Messer vorher gut; ihre Frauen sorgten dafür, Toten­
hemden in die Versammlung mitzubringen, um ruhig dort sitzen
zu können, ohne den störenden Gedanken, irgendeinen Augenblick
aufstehen und schnell ihren Gatten nach Hause schaffen zu müssen,
bevor er ganz steif und kalt geworden war. Sie fragen nach der
Zahl der Getöteten, bevor sie ein Urteil darüber fällen, ob das
Fest gelungen war. Wir wundern uns über den Gleichmut, mit
dem der Bauer ans Säen ging, wenn die Frage, ob er seine Ernte
unter Dach bringen würde, davon abhing, ob sein Nachbar mittler­
weile Hochzeit hielt; Ungewißheit ist das erste, was wir sehen,
aber für sie war es die Spannung und die Erprobung der Kraft,
die jeden Gedanken an eine fröhliche Zusammenkunft beherrschten.
Auch die spätere Bauernkultur erscheint als ein silbernes Zeit­
alter, jedoch ein Zeitalter des gehemmten Wachstums, eine lang­
gedehnte Verfallzeit. Die alten Ideale und die alten Sitten blieben
im Kiirs, aber die Harmonie ist zerstört, weil die tief erliegende
Kultur durch die Zivilisation und die offizielle Religion davon ab­
gehalten wird, alle ihre Funktionen auszuüben, und sich auf einen
Bruchteil des Lebens beschränken muß; wie klein auch die Ver­
änderung äußerlich erscheinen mag - das Leben ist doch zu einem
Zerrbild seines früheren Zustandes geworden. Wenn aber die Ein­
herier zu einem silbernen Zeitalter gehören, so deshalb, weil sie
Sehnsucht nach etwas haben, das dem goldenen Zeitalter noch
natürlich erschien, und hiermit wird eben der Kultur, aus der sie
hervorgingen, ein wertvolles Zeugnis ausgestellt. Sie können uns
das alte Fest nicht heraufbeschwören, aber sie können das Wesen
der feierlichen Erwartung bannen.
Das Fest sollte ein Ereignis sein, das war das Verlangen der
alten Zeit. Etwas sollte geschehen. Deshalb drängten die Männer
sich um den Erzähler und den Sänger, die vergangene Begeben­

191
heiten wieder geschehen ließen. Heldentaten erleben, Käm pfe und
Siege erleben, das war das Vergnügen der Zuhörer, das war die
Festfreude.

Als das wichtigste von allen Festen sollte das große Blot ganz
und gar von dem Licht durchstrahlt werden, das das Leben ver­
klärte. Die mächtige Ehrenseite in der Seele mußte ein Gegen­
stück haben. Es genügte nicht, die Anwesenheit des Heils zu
fühlen, die Genossen mußten es wirken sehen. Es mußte aus­
geübt und vorgezeigt werden. Das Schwert wurde hervorgeholt
und der Gesellschaft beim Trünke gezeigt; sein Besitzer pries es,
erzählte von seinem besonderen Heil und ließ es wiederum kam pf­
freudig seinen Gang weitergehen, wie es uns der Angelsachse ge­
schildert hat. Die Kleinode sollten von ihrer Macht zeugen - ent­
weder im Waffen tanz, bei Pferderennen und Pferdehetzen oder
auf andere festliche Weise, die wir selber erraten müssen. Und
eine Vorführung ist nichts, wenn sie nicht zugleich eine Probe und
ein Beweis ist, eine Anspannung der H am ingja bis zu ihrer äußer­
sten Grenze.
Die große, dem Feste eigene Form von Heldentat heißt Ge­
lübde. Es erscheint in seiner eindrucksvollsten Gestalt bei dem
Feste für die Verstorbenen.
Um seinen Zweck zu erfüllen, muß das Erbbier notwendiger­
weise eine schöpferische T at enthalten. Daß das Fest eine Wieder­
aufrichtung sein sollte, ist durch das Gesetz betont, welches das
Erbbier als gesetzliche Begründung für das Recht des Nachfolgers
auf den Platz des Erblassers betrachtet; infolgedessen bedeutet
das alte Wort für erben — er j a - gleichzeitig „das Erbbier trin­
ken“ und „die Erbschaft antreten“ . Aus der Art, wie die in der
Geschichte so berühmten Erbbiere von König Svein und König
Ingjald beschrieben werden, sehen wir außerdem, daß das Fest der
Wiederaufrichtung sich um den Becher konzentriert, der zum
Gedächtnis des Verstorbenen getrunken wird. In dem Augenblick,
wo der Bragarbecher hereingetragen und das Gelübde ausgesprochen
wird, kommt der entscheidende Wendepunkt, wo das Geschlecht
ein Oberhaupt bekommt und das Leben aufs neue zu blühen
anfängt. Beim Beginn des Festes saß der Erbe auf der Stufe vor
dem Hochsitz, aber sobald er sein Gelübde abgelegt und den
Becher getrunken hatte, wurde er zu dem Platz geführt, den sein
Vater innegehabt hatte. „Dann hatte er das Recht zur Erbschaft“

192
nach ihm, „dann sollte er das Erbe und die Ehre nach dem Ver­
storbenen übernommen haben, aber nicht früher“ , sagen die Quel­
len, und wir mögen ihre Worte genau beachten, denn der Aus­
druck ist keiner Überlieferung entsprungen, die beliebig ersetzt,
was sie unterwegs verloren hat, er ist von Männern gewählt wor­
den, in denen das, was bezeichnet werden sollte, noch lebendig war.
Dieser eine Schritt, von der Stufe in den Stuhl, setzt eine Revo­
lution im innersten Wesen der Dinge voraus; nichts hätte den
Sohn aus der Asche des Fußbodens in den Sitz zwischen den hei­
ligen Pfeilern emporheben können, wenn der Auftretende dort
nicht selbst einen Einsatz geleistet hätte, der die Würde in ihm
hervorbrachte. Das Ziel, das der Gelobende erreichen sollte und
das er wirklich erreichte, ist sowohl in dem Namen b ra g a rju ll wie
in dem angelsächsischen gilp bezeichnet; das erste bedeutet einfach
Mannesbecher oder Tatbecher, das letzte weist auf das Gelübde
hin und auf die Ehre und den Ruhm, die die T at bewirkt.
Ohne Zweifel gab es leere Gelübde und wahre Gelübde - die
letzteren zeichneten sich besonders dadurch aus, daß sie ihre Bürg­
schaft in der Vergangenheit des Gelobenden hatten, seine Vor­
fahren natürlich mit eingeschlossen. In dem Augenblick, wo ein
Jüngling gelobte, „nicht weniger ein Mann zu sein als seine V or­
fahren“ , hatte er das Heil seiner Ahnen aufgenommen und sich
selbst in die Sippe geführt. Aber wir haben keineswegs die Fülle
des Augenblicks erschöpft, wenn wir nur an die Voraussetzungen
denken, die für die Geburt der T a t erforderlich waren. Ein Mann,
der ein solches Gelübde ablegte, leerte einen Becher, in welchem
seine Vorfahren ihr Schicksal gebraut hatten; er genoß ihre
H am ingja: große Feste zu feiern, Sieg auf dem Schlachtfeld zu
gewinnen, kühn und klug zur See zu fahren, während stets günstige
Winde die Segel füllen; und indem er dieses tat, eignete er sich
alle Feste und alle Siege an. Er war jetzt die Verkörperung des
Geschlechts, er galt als der, der die Vergangenheit gewirkt hatte.
Ohne zu prahlen, konnte er jetzt wie Thorkel H ak den Kam pf
mit dem Ungeheuer auf seinem Hochsitzpfeiler abbilden lassen
und sagen: „Ich war dabei.“
Unsere Vorfahren waren nicht geneigt, lautes Krähen für voll­
führte T a t zu nehmen. Diese Männer, die in Rechtshändeln wie
im Frieden die deutlichsten Beweise für die Gesinnung ihres Nach­
barn forderten, bevor sie den kleinen Finger rührten, hielten auch
hier in der Blothalle so ängstlich wie irgendein Skeptiker an dem

193
Grundsatz fest, daß der Erfolg der Anfang des Glaubens ist. Kein
Gelübde konnte im geringsten ihre Wachsamkeit abstumpf en, es
diente nur dazu, sie auf den Punkt zu richten, wo die Entschei­
dung fallen würde; sie achteten darauf, daß der Erbe trank, und
daß er den Becher ganz leerte. „Trink wohl“ , riefen die Anwesen­
den und meinten damit: „Vollführ es wohl.“ D arauf nahmen sie
selbst als Blotgenossen an der T at teil und leerten denselben
Becher. „Diesen Becher müssen alle, die beim Feste anwesend sind,
trinken“ , damit er Gültigkeit hat. Würden die Verwandten nidit
eins mit dem Erben, so hatte das Erbbier keine Kraft, die Sippe
wiederaufzurichten, und die Wirkung des Festes und des Gelübdes
mußte verlorengehen.
So wird der Schwur in den Göttern besiegelt, und so wird er
eine Zukunft, ein Schicksal. Die Geschichte von Hedin H jörvard-
son ist auf die Erfahrung gebaut, daß ein über den Bragibecher
getaner Schwur sich von selbst zum Willen des Schwörenden macht
und ihn von innen aus bindet. In dämonischer Verblendung hatte
Hedin auf der Bierbank damit geprahlt, daß er die Braut Helgis,
seines Bruders, gewinnen wollte, und vergebens irrt er auf wilden
Wegen umher, um seinen Bruder zu finden und ihm seine N ot zu
klagen. Helgi weiß nur eins: „Bierworte werden wahr, H edin.“ In
dieser Macht über die Zukunft ist der Wert des Schwures als einer
götterverehrenden Handlung begründet, er schafft die Freude, die
dem Blot antwortet. Der Sohn, der eine Ehrenernte heimzubringen
schwur, machte das Fest groß, bereitete ein gutes Jah r vor, genau
wie der Reiter, der am kühnsten ritt, oder der Hengst, der am
tüchtigsten biß. „W irf starke Taten unter die Männer“ , sagt
H rodgar zu Beowulf — das ist der wahre Gruß an den, der eben
beim Bier seinen Schwursitz einnehmen will, und die wahre Ant­
wort auf den Wunsch ist das „Lärmen der Siegerschar“ .
Ohne Zweifel spielt das Gelübde wegen des kritischen C harak­
ters des Festes eine besondere Rolle beim Erbbier; aber das Leeren
des Schwurbechers ist nicht für den antretenden Erben allein
eigentümlich. Es war eine ganz gewöhnliche Handlung beim Ab­
schied, wenn die Wikinger von Hause fortzogen, wie auch bei
einem solchen Fe6t der Vorbereitung wie in Heorot. Sveins Erobe­
rungsschwur hat sein Gegenstück in den Zusagen, die die Gefolgs­
leute mit dem Bier auf den Lippen gaben, wenn sie riefen, daß
sie ihren König rächen und nie fliehen wollten, solange er noch
stände; aus dem Osten und Westen hören wir von Schlachtfeldern,

194
auf denen Worte erfüllt wurden, die in Zeiten ausgesprochen
worden waren, wo die Männer sich behaglich auf den Bänken
streckten. In der Dichtung und in der Geschichte hören wir natür­
lich nur von den Schwüren, die groß genug waren, um das Blot
der Könige und der Eroberer auszufüllen, aber wir stehen nicht
ganz ohne Zeugnis von der Prahlerei im H ofe des Bauern, wo der
Blotsdiwur dem lokalen Ehrgeiz der Bauern entsprach. Eine islän­
dische Saga beschreibt den Verlauf von Begebenheiten, die von
einer Hochzeit auf Grund, einem H ofe in Svarfadardal, ihren
Ausgang nahmen. Als der Sohn des Hauses seinen Geist vom
Biere angeregt fühlte, erinnerte er sich eines Streites mit einem
Nachbarhäuptling, dem Goden Ljotolf, und versprach, diesen als
Feigling zu brandmarken, bevor drei Jahre vorüber seien. Ein
jüngerer Verwandter folgte seiner Führung und prahlte damit,
daß er Yngvild Schönwange zur Kebse haben wollte, ohne ihren
Bruder O laf oder etwa ihren besonders guten Freund, den Goden
Ljotolf, um Erlaubnis zu bitten; und schließlich verpflichtete der
Bräutigam sich, mit dem Schiffe hinzufahren, wo es ihm gefiel,
und, gleich wie der Wind sei, in jedem beliebigen H afen anzu­
legen; diese W orte waren nebenbei ein boshafter Hieb auf den
hohen und mächtigen Goden und seine Gefolgsleute, indem sie
darauf anspielten, daß Ljotolf in seinen Unternehmungen und
Händeln mit Männern wiederholt genötigt worden war, die Segel
zu streichen und zufällige H äfen anzulaufen. — Aus diesem klei­
nen Ausschnitt aus dem täglichen Leben, der in eine späte und
ziemlich verworrene Saga eingeflochten ist, sehen wir, daß der
Schwurbecher leicht große Unruhe im Leben der Ortschaft hervor-
rufen und große Begebenheiten auslösen konnte. Den alten Über­
lieferungen zufolge ist sogar die Besiedelung Islands die indirekte
Folge eines Trinkgelages, bei dem es viele Gelübde gab. Die Bluts­
brüder Ingolf und H jörleif wurden durch die Feindschaft mit den
Jarls auf Möri aufs Meer hinausgetrieben, und diese Feindschaft
entstand bei einem Feste, bei dem einer der Söhne Ja rl Atlis
schwur, H jörleifs Schwester H elga zu heiraten. H jörleif mußte
ein so anmaßendes Gelübde als ebenso kränkend betrachten, wie
eine wirkliche Entführung des Mädchens es gewesen wäre, und als
sie sich bei der nächsten Gelegenheit trafen, war ihr Abschied
derartig, daß Norwegen für Ingolf und H jörleif kein sicherer
Aufenthaltsort mehr war.
Schließlich wissen wir auch, daß das Mannesgelübde ein not-

195
wendiges Glied der festen Blotgelage der Sippe war. Der Jul-
sdiwur des Helden ist in der nordischen Dichtung ein stehendes
Them a geworden, in späteren Berichten degeneriert er zu einem
Kunstgriff, der irgendeine große Begebenheit ankündigen sollte.
Angantyr feierte den Heiligen Abend, indem er versprach, daß er
die Tochter des Upsalakönigs Yngvi gewinnen oder sterben wolle;
am ersten Julabend sehen wir in der H ördsaga die Helden auf
den Herdbalken treten und geloben, den Hügel des Wikings Soti
zu öffnen und die grausige M ajestät des Hügelbewohners aufzu­
suchen; es ist zur Julzeit, als Hedin in seiner Betörung schwört,
die Braut seines Bruders zu stehlen. Die Regelmäßigkeit dieser
Beispiele ist freilich verdächtig, aber es ist doch nichtsdestoweniger
deutlich, daß das künstlerische M otiv in einer Wirklichkeit ver­
ankert ist. Der fromme Sagaschreiber hat also volle Berechtigung,
einen Julabend als Hintergrund für den Ausruf eines Wahrheits­
suchers zu wählen: „An diesem Abend werden viele Gelübde getan
an Orten, wo es den Leuten nicht besser geht als hier, und deshalb
gelobe ich, dem König zu dienen, der am größten ist, und ihm
allein“ - und zwar eine bessere Berechtigung, als die Sehnsucht
nach dem Christentum, mit der er den Redenden ausstattet.

Neben dem Schwurbecher gibt es noch eine andere Form für die
Probe auf das H eil: den m an n jafn ad r, den Männervergleich.
Dieser bestand in einem geistigen Zweikampf, wo getane Taten
- oder vielleicht geplante - an Stelle der Schläge traten; ein Mann
verglich sich selbst mit seinem Gegner, oder seinen eigenen Helden
mit dem des anderen. Der Männervergleich kam leicht zustande,
wo zwei Kriegerverbände, von denen jeder um seine eigene Ehre
eiferte, sich auf der Bank zusammenfanden, aber er hatte sicher
einen guten Platz als Festspiel im kultischen Sinne, um die Götter
zu ehren. Das Spiel muß dann so durchgeführt worden sein, daß
Hieb und Parade durch Züge aus dem göttlichen Trank wirklich
gemacht worden sind. Ein Hinweis auf derartige Spiele findet sich
in einem angelsächsischen Gedicht, in welchem ein gottesfürchtiger
Mann das niedergelegt hat, was gute Christen von den Sitten der
H alle denken sollten. Oft sitzen stolze, beredte Kämpen bei ihren
Bechern, sprechen gewichtige Worte und versuchen herauszufinden,
wie tüchtig die Männer des Hauses beim Schwingen der Eschen-
speere sind, und das H aus ist voll von Lärmen und Schreien - so
klagt er und warnt seine Zuhörer, daß dergleichen gottlose Prah­

196
lerei und Überheblichkeit einen Mann unbedingt in den tiefsten
Teil der Hölle bringen muß, wo die Würmer ihn am schlimmsten
zerfressen.
In der späten Saga von ö rv aro d d gibt es einen sensationellen
Auftritt, in welchem der M annjafnad mit großer Wirkung ver­
wendet wird. Der alte H eld wankt unerkannt in einen H o f hin­
ein, der natürlich von den hochmütigsten Leuten, die man sich
vorstellen kann, bewohnt ist, und er muß es erdulden, zum nie­
drigsten Sitz, im Zuge der Türöffnung, geführt zu werden. Er ist
übertrieben bescheiden, als von Fertigkeiten und Spielen die Rede
ist; in solcher Gesellschaft, wo ohne Zweifel alle Anwesenden
Meister mit Pfeil und Bogen sind, wagt er kaum zu behaupten,
daß er jemals nach etwas gezielt habe, und er will ihnen natürlich
nicht gern zum Spott dienen; aber wenn sie darauf bestehen, ihren
Spaß daran haben zu wollen, kann er sie ja damit unterhalten,
an der Bogensehne zu zerren. Als vom Schwimmen gesprochen
wird, will er sich nicht erinnern, daß er jemals die große Zehe
bloß im Wasser gehabt hat, aber nach einiger Zeit läßt er sich
überreden, zu probieren, wie es wohl sein mag, zu schwimmen.
Seine Leistungen sind, es braucht nicht gesagt zu werden, recht
erstaunlich, gelinde ausgedrückt. Diese Saga gehört zu einer
Literaturgruppe* in welcher alte Sagen wiederaufgefrischt und
melodramatisiert worden sind, um biedere Bürger zu erquicken,
wenn sie in ihren Feierstunden nach dem schwerenTagwerk starke
Romantik brauchen; der H eld muß Schicht um Schicht seine Be­
scheidenheit ablegen, denn er tritt vor einem Publikum auf, dem
es gefällt, Tugend und Laster in Entkleidungsszenen zu sehen.
Aber merkwürdigerweise, die entscheidende Kraftprobe, in welcher
er sich zu seiner vollen Größe erhebt, ist ein Zweikampf mit
Worten und Bier, ein M annjafnad, wo die Schläge mit den vollen
Hörnern versetzt werden. Zwei Mundhelden schreiten über die
Diele, das H orn in der H and, und treten vor Odd, indem sie im
Gesang sich selber preisen und den Gast verspotten. Und Odd
leert das Horn, schreitet vor ihre Plätze hinauf, offenbart seine
Größe in Versen und trinkt ihnen zu. Und so wandert Odd auf
und ab, so wandern die anderen ab und auf, bis der Fremde sieg­
reich auf seinem Platz sitzt und den Schluß singt, während die
anderen lang auf dem Stroh liegen, und weder singen, hören noch
trinken.
In der Sagaliteratur hat der M annjafnad, wie auch der Jul-

19 7
schwur, das niedrige Amt bekommen, Begebenheiten auszulösen;
seine religiöse Farbe ist verblichen, aber etwas bleibt, das den
kultischen Wert bedingt hat: die Probe ist ein Urteil über den
Mann. Diese kleine Erinnerung an Odd mag so undeutlich und
verwischt sein, wie sie will, sie bildet doch einen farbigen Hinter­
grund für das Abschiedsbier der W ikinger; wenn die Schiffe klar
zum Segeln lagen, feierten die Krieger, wie wir gesehen haben,
ein großes Fest und hielten von ihren kommenden Taten bei den
Bierbechern inM annjafnad und großen Gelübden Generalprobe ab.

In der modernen Zivilisation, die sich hauptsächlich auf die


Erfahrung der Kaufleute und der Handwerker gründet, ist das
Leben in einen physischen und einen geistigen Teil zersplittert,
auf der einen Seite ist lauter tierisches Wesen, auf der anderen
Seite reine, verfeinerte Seele; und infolgedessen scheint die bloße
Möglichkeit, Körperübungen oder Spielen und Wettkämpfen einen
passenden Platz in der Kultur anzuweisen, für immer vorüber.
Dem religiösen Ernst der Spiele der Griechen und der primitiven
Völker gegenüber besitzen die modernen Menschen nur eine hilf­
lose Höflichkeit; und sie werden nie imstande sein, das tiefe
Pathos der Erzählung zu verstehen, in der berichtet wird, wie
Eindridi durch die hinreißenden Fertigkeiten König O lafs bekehrt
wurde. Der König hatte verschiedene Spiele mit dem empor­
strebenden Jüngling gespielt, und obschon der Knabe sich nicht
gegen den König hatte behaupten können, war er doch nicht über­
zeugt; als er aber den König auf den Rudern eines geruderten
Schiffes gehen und mit Schwertern jonglieren sah, fand er volle
Bestätigung für den neuen Glauben. Der junge angehende H äu pt­
ling sah den König an, als er nach dieser Leistung auf Deck kam,
er sah ihn an und schwieg; bis in die tiefsten Gründe seiner Seele
hat er das Bekenntnis holen müssen, daß es in seinem Glauben
weder einen Gott noch einen Engel gäbe, der einen Mann in der
Luft schwebend halten könnte.
Wenn aber der Mensch eine Einheit ist und keine Scheidewand
zwischen physischer und geistiger Kultur errichtet worden ist, kann
die Liebe zu K raft und Tüchtigkeit nie den Wert der Dichtung
beeinträchtigen; im Gegenteil, der Dichter ist dort eine K raft­
quelle, während sein moderner Kollege nur ein Spaßmacher oder
ein Tröster ist. Die Literatur der Isländer hat wie die der Griechen
ihren Ursprung in Festaufführungen. Die Heiligkeit des Festes

198
bildete die Grundlage für ihre Meisterschaft in der Erzählung von
Sagen und Sagas. In den feierlichen Lobpreisungen des Häuptlings
und seiner H am ingja wurde die Dichtkunst des Nordens geboren
und zu der festdekorativen Form gestaltet, die ihren T od herbei­
führte.
Die Formen des Lebens sind mit idealer Stilisierung im Beowulf
wiedergegeben, wo der Sieg über den Unhold das Volk in Fest­
rausch versetzt. Inmitten der Lobpreisung dieses Helden vor allen
anderen sprengen die Reiter im Wettrennen über das Feld davon,
und ein Mann des Königs, der einen Schatz von alten Liedern und
Sagen besitzt, beginnt das Preislied zusammenzufügen; feurig
berichtet er Wort für Wort von den Wanderungen Sigmund
Völsungs, von denen allein er und Sinfjötli, die beiden treuen
Gefährten, wußten, von Käm pfen mit Menschen, Käm pfen mit
Jöten, von unsterblichem Ruhme, den sie sich erwarben, indem
sie den Drachen erschlugen und sein Gold aus dem Felsen raubten.
Leider fehlen uns alle Mittel, diese idealen Bilder eines Festes,
so wie es sein sollte, in eine realistische Beschreibung mit richtiger
Reihenfolge und richtigen Proportionen umzusetzen; das letzte
Blot wurde gefeiert, bevor jemand da war, der es hätte unsterblich
machen können. Die Geschichte der Sippe und alles, was für die
Erinnerung wichtig war, wurde beim Feste ans Licht gerückt, und
wir brauchen uns nicht mit seiner Ursache zu beschäftigen, wenn
wir wissen, welchen Sinn es hatte. Das, was die Verwandten auf
dem Herzen hatten, mußte sich einen Weg erzwingen, weil die
Dinge der Vergangenheit nicht wie etwas kamen, das aus dem
Halbdunkel der Achtung und Erinnerung hervorgeholt wurde,
sondern weil sie die Seele selbst waren, die Leben heischte. Ehre
war darin, zu hören, daß über einen selbst oder über jemanden
aus der eigenen Familie gesungen wurde, und daß die eigene Saga
erneuert wurde, und diese Ehre war von gleicher Beschaffenheit
wie alle Wiederaufrichtung; sie ging in die Seele ein und machte
den Mann gesünder. Egil vermochte neuen Mut in sich hinein­
zusingen nach dem Tode seines Sohnes; als er sein „Sonatorrek“ ,
den Sohnesverlust, sprach, steigerte sich seine Lebenskraft, und als
er geendet hatte, war sein Entschluß, zu sterben, vergessen und er
ging in seinen Hochsitz. Die Männer fanden in vollem Ernst T rost
über den Verlust eines Verwandten, wenn sie das Lob des Toten
hörten. Völusteins Sohn, Egil, kam einmal zu Gest Olleifson,
einem hervorragenden Weisen, und fragte ihn, ob er nicht wüßte,

199
wie man den nagenden Schmerz lindern könnte, der seinen Vater
seit dem Tod seines Sohnes ögm und verzehrte. Gest unterzog sich
der Aufgabe und dichtete gleich den Anfang von ögm unds D rapa.
Die Toten kommen zum Dichter und Erzähler mit einem Dank
für das Leben, wie Vatnar von Vatnarshügel zu einem vorüber­
segelnden Kaufmann kam, der seinen Gefährten Geschichten er­
zählt hatte von dem Hügel, den sie am Strande sehen konnten.
„Du hast meine Saga erzählt, ich werde es dir lohnen“ , sagte der
tote Mann, „grab in meinem Hügel und du sollst den Lohn deiner
Mühe finden.“ Der alte Vatnar fühlte das Leben in sich wachsen,
als das, was er gewesen war, erneuert wurde, und daraus wissen
wir, was das Blot den Abgeschiedenen wie den Überlebenden
brachte, die das Leben ihrer Vorfahren noch einmal lebten. Vatnar
wurde wiederaufgerichtet, und auf ähnliche Weise mußte jede
Vergangenheit wiedergeboren werden, wenn sie nicht verschwinden
sollte. Eine der Aufmerksamkeiten, die man dem Toten bezeigen
mußte, war die erfidrápa, das Erblied, das wahrscheinlich beim
Erbbier vorgetragen wurde; in diesem Lied wurde das Leben des
Nachruhms begründet, wenn das Gedicht zum Formaeli beim
Trinkgelage gemacht und in der Umhüllung des Blotes mit W irk­
lichkeit erfüllt wurde.
Das Beowulfgedicht endet am Grabe. Als der alte Heldenkönig
seinem Schicksal begegnet war, bauten die Schweden auf der
Landzunge einen Hügel, der weit über das Meer sichtbar war.
Rund um den Hügel ritten die Kampfkühnen, sie betrauerten den
König und woben die Rede der Verse auf den toten Mann. Seine
Häuptlingschaft priesen sie, seine kräftigen Taten riefen sie laut
aus, so wie es sich geziemt, daß Männer ihren Führer und König
hoch in Worten ehren, wenn er den Körper verläßt. Er war von
allen Königen der Welt der mildeste, der freigebigste, der belieb­
teste und der ruhmgierigste.
So verklingt die alte Zeit über der Nordsee.

200
Das Blot
Das Verbum blóta, das Wort, das im Nordischen die H aupt­
bezeichnung für das aktive Verhältnis der Menschen zu den Göttern
ist, enthält die religiöse Handlung in ihrer ganzen Machtfülle. Es
drückt das Vermögen des Menschen aus, einen Gegenstand von
gewöhnlicher Heiligkeit so zu verwandeln, daß er mit der Kraft
der Göttlichkeit erfüllt wird und der menschlichen Welt Stärke
vermittelt. Als Floki im Begriff war, nach Island zu fahren, hielt
er ein großes Opferfest und blotete drei Raben, die ihm den Weg
zeigen sollten. D arauf baute er an der Stelle, wo das Blot statt­
gefunden hatte, eine Steinwarte, und stach in See. Bis zu den
Shetlandinseln und den Färöern wußte er, welcher Route er folgen
sollte, aber sobald die letzten bekannten Riffe dem Blick ent­
schwanden, schickte er seine Raben aus. Und sie fanden das Ziel
auf Wegen, die sein Heil nie gekannt hatte. Kein anderes Beispiel
bei den germanischen Völkern zeigt uns so deutlich die mächtige
Gabe des Menschen, seine Seele mit einer außerhalb stehenden
Seele zu vereinigen und über diese zu herrschen, nicht wie über
einen Sklaven, sondern wie über einen Teil des eigenen Ich; der
Mann zieht die eigentümlichen Eigenschaften der fremden
H am ingja in sich und benutzt sie, er versetzt sich in die andere
hinein und macht ihren Willen zu dem eigenen - und der Raben­
mann fliegt mit sicherem Instinkt über die See.
Zu derselben Kategorie wie Flokis Raben gehören auch die Blot­
rinder, die die Leute heimlich verehrten, als der Sturm der Be­
kehrung, von den O lafs entfesselt, am heftigsten übers Land fegte.
In den propagandistischen O laf-Sagas hat das Blotrind einen
ehrenvollen Platz unter den Geräten der Hölle, und oft genug
mußte das Bekehrungswerk einen Umweg über den Viehstall
machen, um an den Herrn des Hauses heranzukommen. Ein Stück
Missionsgeschichte ist in dem riesigen, wütenden Ochsen konzen­
triert, von welchem H arek auf Reina bei einem der Besuche O laf
Tryggvasons beichten mußte; der Mann wollte die Beschuldigung,
daß er das Tier verehre, nicht gelten lassen, er versuchte den

201
König zu überzeugen, daß es nur die ungewöhnliche Anhänglich­
keit des Tieres sei, die seine Gegenliebe erwecke. Aber O laf war
selbst Heide genug gewesen, um zu wissen, was solche Liebe be­
deutete, und er tat, was er nur tun konnte, um Hareks Gefühle
in eine höhere Sphäre zu lenken.
Es gibt eine Geschichte von König ö g v a ld auf ögvaldnes, die
uns einen kurzen Einblick in die Seelen gewährt, in denen die
ganze Vergangenheit sprungbereit hinter der dünnen Mauer stand,
die das Christentum zwischen Vergangenheit und Gegenwart er­
richtet hatte. Das Vorgebirge ögvaldnes war nach ö g v a ld be­
nannt, heißt es, nach einem König, der sein Vertrauen auf eine
Kuh gesetzt hatte. Aus topographischen Gründen könnte man
denken, daß ö g v a ld ebensogut an alle möglichen anderen Dinge
hätte glauben können, aber wenn wir die Geschichte in ihrer Ge­
samtheit hören, verstehen wir, daß die Kuh im Grunde die wich­
tigste Person war. Als O laf einmal zu Ostern auf der Karmtinsel
zu Gaste war, geschah es, daß Odin eines Abends hereingewandert
kam, ganz unschuldig, wie einer jener absonderlichen Landstreicher,
die im Lande umherziehen und ihren größten Reichtum im Munde
haben. Der fremde Gast weiß so viele Geschichten aus alten Tagen
und erzählt sie so lebendig, daß alle, die nahe genug sitzen, um
etwas aufzuschnappen, ohne Ausnahme die Ohren spitzen. Der
König vergißt Zeit und Schlaf, er vergißt, auf das Mißvergnügen
des Hofbischofs zu achten. Nach vielem Ausfragen und vielem
Erwidern kommt das Gespräch auf den Ort, wo sie sich aufhalten,
und auf seine Vergangenheit; auch darüber weiß der Gast Bescheid.
Er weiß zu berichten, daß der Ort nach König ö g v a ld benannt
ist, der seine Zuversicht dermaßen auf eine Kuh setzte, daß er sie
mitnahm, wohin er ging, auf dem Lande und zur See, und daraus
ist das Sprichwort entstanden, das der König oft gehört haben
mochte, daß K erl'und Kuh Zusammengehen sollen; zuletzt wurde
Ögvald in einem Hügel auf dem Vorgebirge bestattet und die
Kuh in einem anderen. Die Kunst des Erzählens hat bei den
Alten nie so schlauen Humor hervorgebracht wie hier, und der
Leser fühlt, daß diese Schelmerei einem Gemüte entstammt, das
sich wohl ein wenig nach der Vergangenheit zurücksehnt, aber
doch vollständig mit den Dingen zufrieden ist, wie sie sind; sie
ist der Ausdruck einer Resignation, die keine Wehmut ist, sondern
ein fröhliches Sichabfinden mit der Tatsache, daß, was vorbei ist,
unwiederbringlich dahin ist. Man weicht den alten Lebensprinzi-

202
pien aus, wenn sie tot sind, man zerstampft sie wild, wenn sie
noch eine kleine Spur von Leben zeigen, aber wenn sie sicher
gefesselt sind, zeigt man gern scherzend ihre Stärke —wie hier in
dieser Geschichte. Diesen Kämpfern des Glaubens, diesen Olafs
gegenüber, mußten Odin und seine Kampfgenossen sich eben
drücken und froh sein, wenn sie ab und zu die Gelegenheit wahr­
nehmen konnten, im Spaß einen Sieg über den Christengott zu
gewinnen. Die Weisheit des alten Gottes ist die Weisheit des
Zwerges geworden; und zielsicher bohrt er gerade dort hinein,
wo die hartnäckigsten Gedanken der Vorzeit eingekerkert saßen.
Das Blottier ist nämlich das Mittel, durch welches der Mensch
sich über seine Begrenzung emporzuheben vermag. Bloten heißt,
Eigenschaften bis ins Ungewöhnliche, ja bis ins Göttliche steigern.
W ir wissen, daß es bei den Tieren verschiedene Abstufungen von
Heiligkeit gab. Edle Tiere wie Brands Faxi standen hoch über der
gewöhnlichen Herde von Milchkühen und Lasttieren, und über
den edlen stand wiederum das heiligste von allen, das geblotete
Tier. In der christlichen Zeit nimmt das Partizipium »geblotet“ ,
von einem lebenden oder nicht lebenden Wesen gebraucht, die
Bedeutung von „verzaubert“ , „verhext“ an; es ist ganz natürlich,
daß der Träger mächtiger heidnischer Kräfte zu einem Werkzeug
des Bösen unter dem Himmel degradiert wird. Es war für die
Auswahl entscheidend, daß das Tier von der N atur durch Größe
und Schönheit ausgezeichnet war, aber außerdem entfaltete seine
K raft sich infolge der Weihe auch in der äußeren Erscheinung zur
Größe. Hareks Blotochse verwunderte alle durch seine ungeheuer
großen Glieder. Auf dem festen Boden der Wirklichkeit läßt die
Phantasie wilde Triebe emporschießen, wie in der Beschreibung
der Taten O lafs des Heiligen in Spanien, nach welcher die Leute
einen Eber bloteten und diesen als Schutzheiligen anriefen. Dem
König war die Bestie mit dem auf gesperrten Maul im Walde
begegnet, und er hatte selbst gesehen, wie ihre Borsten die Wipfel
der Bäume fegten. Und wie die Größe zunahm, so auch alle Kraft;
das Blotrind schwoll in der Vorstellung der Epigonen mehr und
mehr an. Ein König wie Eystein von Upsala, einem Ort, in dem
das Blot ehrwürdiger war, als es sonst in den nördlichen Ländern
bekannt ist, konnte sich eine Kuh leisten, die so sehr geblotet war,
daß niemand es aushielt, sie brüllen zu hören. Sobald die Schwe­
den ein feindliches Heer sich nähern sahen, ließen sie die Bestie
vor den Reihen der Kämpfenden los; gewöhnliche Sterbliche

203
flohen, wenn sie ihre grobe Sprache hörten, und was ihre sieg­
reiche Stimme verschonte, fiel vor ihren Hörnern.
Auf dieselbe Weise, wie das geweihte Tier über das alltägliche
Dasein als Haustier emporgehoben wurde, so wurde auch der
Blotmann von Kindheit an in eine Sonderstellung versetzt und zu
einem heiligen Manne Gottes gemacht. Thorolf weihte seinen Sohn
Stein dem Thor und nannte ihr Thorstein. Dieser Thorstein hatte
einen Sohn, der in der Wassertaufe Grim genannt wurde; sein
Vater weihte ihn dem Thor, bestimmte, daß er Priester am H eilig­
tum - hofgodi - sein sollte, und nannte ihn Thorgrim. Ein ande­
rer unter den Söhnen Thorolfs blotete ebenfalls seinen Sohn und
gab ihn Thor - und so hatte man es von den frühesten Zeiten an
getan. Der geblotete Mann war reines, ungetrübtes H eil; von ihm
hieß es mit Recht, daß er ein Auge hatte, das durch alles hindurch
sehen und alles voraussehen konnte - „nichts kam unversehens
über ihn“ . Er hatte ebenso viel körperliche wie seelische Kraft,
er konnte das Abwehrbare abwehren und das Unabänderliche
bewältigen; er trug eine geistige Rüstung, undurchdringlich für
jedes feindliche Heil.
Das Bloten von Söhnen geschah in solchen großen Häuptlings­
familien wie der von Thorolf Mostrarskegg, der den wichtigen
heiligen Sitz auf Mostr innehatte; Generation auf Generation
weihte sich in einem ihrer Mitglieder und natürlich gerade in dem
Mann unter den Verwandten, der das meiste Heil zu besitzen
schien - dem Häuptling der Sippe, wie er genannt wurde. Die
Einweihung bedurfte einer Bestätigung seitens der Sippe; in ihrem
heiligen H äuptling tat sie der Welt den ungewöhnlich starken
Charakter ihrer Hamingja kund, und gleichzeitig enthielt die
Handlung einer Erklärung des Rechtes hinsichtlich der Familie,
eine führende Stellung in dem sozialen und religiösen Leben des
Bezirks einzunehmen.
Flüchtig zeigen sich hier und da die Erinnerungen an diese her­
vorragenden Geschlechter, die sich durch ihre Götter und ihre
„fromme“ Macht auszeichneten, Sippen, die sich rühmten, große
Blotmänner zu sein - das heißt heilige, göttlichstarke Männer. Die
Unverletzbarkeit H arald Kampfzahns und sein großes Siegesheil
entspringen der Tatsache, daß er „gesegnet“ war - oder verzaubert,
wie es in der christlichen Wiedergabe heißt; und dieses Sippen­
zeichen ist so fest mit ihm und den Seinigen verbunden, daß das
H yndluljod in seiner Aufzählung von Ottars Verwandtschaft den

204
Zweig der Familie, der auf H arald zurückgeht, als „gottgesegnete“
Männer hervorheben kann.
Die Weihe machte sich in den Namen bemerkbar. Diese Thor­
steins und Thorgrims und Thorolfs in der Mostrarskeggsippe sind
vor größerer Wichtigkeit als alle die Thornamen, die in den folgen­
den Jahrhunderten, als die Bedeutung abgeschwächt war, den Norden
überfluteten. Ein braver Mann in Sogn, ein Blotmann namens Geir,
war stolz auf sein vé, und seine ganze Kinderschar trug es in ihren
Namen: Vebjörn, Vestein, Vedis, Vegest, Vemund. Die Stellung die­
ser Sippe im Bezirk ist durch den Beinamen angegeben, den der älteste
Sohn trug: er wurde „die Zuversicht der Leute von Sogn“ genannt.
Es ist die Feierlichkeit der Einweihung, die der Geschichte von
Eyvind Kinnrif a den stolzen Ton gibt. Eyvind war vom Mutter­
leibe her besonders geweiht und deshalb davon ausgeschlossen, das
Christentum anzunehmen. Die erbauliche Geschichtsschreibung um
König O laf schwelgt in der Beschreibung vom Ende dieses Heiden,
und mit jeder neuen Umdichtung der Geschichte Eyvinds sieht er
den Karikaturen von „armen, verfinsterten Heidenseelen“ ähn­
licher, die jetzt den Beitragsstiftern der christlichen Missionsgesell­
schaften das Herz erfreuen. Wir erkennen die psychologischen
Ungeheuerlichkeiten wieder, die den Geschichten aus dem Arbeits­
feld der Mission eigentümlich sind, wenn wir lesen, daß Eyvind
eine Frucht der Hexerei der „Finnen“ , der lappländischen Zau­
berer, ist, und daß diese Finnen verlangt hatten, daß er immer
Thor und Odin dienen sollte. Aber Eyvinds großes Bekenntnis
ist doch nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt worden, daß
man nicht sehen könnte, was ihn band und was ihn nicht nur „den
milden W orten“ des Königs, seinen „stattlichen Gaben“ und seinen
„großen Belehnungen“ trotzen ließ, sondern auch dem großen
Becken voll glühenden Kohlen, das auf seinen Leib gelegt wurde
und ihn zerstörte. „Nimm das Becken einen Augenblick fort“ , bat
er zuletzt, als das Ende sich näherte, „und laß mich ein kleines
Wort sagen, bevor ich sterbe.“ Und dann offenbarte er dem König
sein Geheimnis. Seine Eltern waren lange kinderlos gewesen, bis
sie zuletzt bei Riten und Beschwörungen (fjölkyngi) R at suchten.
D arauf wurde ihnen ein Sohn geboren, und sie gaben ihn den
Göttern. Sobald er selbst erwachsen war, wiederholte er die Ein­
weihung auf mannigfaltige Weise, so daß er jetzt nicht mehr
menschliche N atur hatte, sondern mit seiner ganzen Ham ingja an
die alte Religion gebunden war.

205
Dieses ist Eyvinds Bekenntnis: „H ier stehe ich, ich kann nicht
anders“ , und um dieses Bekenntnisses willen sollte es ihm ver­
gönnt sein, ein Leben des Nachruhms zu leben.

Der Blotmann hatte die göttliche Kraft nicht nur seinem eigenen
teuren Ich zuliebe; seine Kraft kam der ganzen Sippe zugute und
mehr als das: dem ganzen Volke war er eine Zuversicht. Und aus
dem Vertrauen der Sippe zu ihren Toten folgt, daß die Leute
dem Blotmanne nicht den Rücken drehten, wenn er zu seinen
Vorfahren gegangen war. Der Tote konnte so gut wie der
Lebende geblotet werden. Es wird von H alfdan dem Schwarzen
erzählt, daß sein Ernteheil und seine Volkstümlichkeit ihn nach
seinem Tode zu einem Gegenstand des Streites machten. Die Män­
ner auf Vestfold und die auf Vingulmark und die von Raumarike,
alle wünschten sie ihren Häuptling unter sich zu haben, und das
Ende war, daß sie die Leiche teilten und einen Hügel in jedem
Bezirk bauten „als Zuversicht und Blot für das V olk“ . Und nicht
nur große Könige waren es, die die Ehre genossen, nach ihrem
Tode umworben zu werden, es gab einen Siedler auf Island, des­
sen Großvater so beliebt gewesen war, daß er nach der Beendigung
seines gesegneten Lebens geblotet wurde. Aber niemand wurde
geblotet, weil er tot war. In einem Vebjörn, Vegeirs Sohn, Ve-
steins Bruder, wie in einem Thorolf, dem Vater der Tempelgoden,
ist der Segen durch das Sippenheil gegeben, zu dem der Hügel­
bewohner gehörte und das er in seiner herrlichsten Gestaltung
personifizierte. Es war kein Abgrund zwischen den Abgeschiedenen
und den Lebenden und also kein besonderer Unterschied in dem
Blotverhältnis zu den beiden; der tote Mann wurde nicht höher
eingeschätzt, weil er tot war, umgekehrt, seine Würde mochte
wohl nur so lange dauern, bis ein lebender Vertreter erschien, der
auf dieselbe Gipfelhöhe der Hamingja erhoben wurde.
Diese höchste Heiligkeit ließ sich nicht wie ein verborgenes
Leben tragen, das unbemerkt wirkte; mit dem höchsten Heil ver­
band sich die größere Auszeichnung vor den anderen. Der beson­
ders heilige Hengst und Stier mußte gewisse Rücksichten nehmen,
sich sowohl größere Selbstverleugnung auferlegen wie größere
Anforderungen an seine Umgebung stellen als gewöhnliche Tiere.
Hrafnkel, der Gode auf Adalbol, hatte sich und alles, was ihm
gehörte, dem Frey geweiht und hatte besonders einen Hengst aus­
gezeichnet, Freyfaxi, der als Träger des Göttlichen geheiligt wurde.

206
Er ging in der Herde der Stuten, aber er ertrug keinen Mann auf
seinem Rücken; als der H irt ihn einmal in einer Verlegenheit
benutzte, um nach einigen verscheuchten Rindern zu suchen, lief
er spornstreichs nach Hause und ließ durch unverkennbare Be­
wegungen seinen Herrn verstehen, daß etwas Furchtbares geschehen
sei. „Es geht mir an die Ehre, was dir da angetan worden ist;
gut, daß du es mir selber sagen konntest, es soll Rache genommen
werden“ , sagte Hrafnkel tröstend. W orauf Faxi zu seiner Weide
und seinen Stuten zurückging.
Unzweifelhaft führte auch die größere Gnadengabe in dem
Häuptlingpriester besondere Verpflichtungen der Art mit sich, daß
er sich verschiedener Alltagsverrichtungen enthalten und gewisse
rituelle Verhaltungsmaßregeln innehalten mußte, mit denen ge­
wöhnliche Männer nur gelegentlich zu tun hatten; mit einem
Wort, der Blotmann sollte sich sein Leben lang so benehmen, als
ob das ganze Jahr von Anfang bis zum Ende ein einziges Fest
wäre.
Die Heiligkeit des auserwählten Häuptlings kann über die
Zweckmäßigkeit die Oberhand gewinnen und zu priesterlicher
Absonderung führen. Vom höchsten Gipfel des Menschlichen ist
nur ein kleiner Schritt zum Unmenschlichen, und die Waagschalen
einer Kultur brauchen nur einen kleinen Ausschlag zu machen,
um zu bewirken, daß der höchste Nutzen in etwas Gefährliches
umschlägt. Wenn eine Epoche des Schaffens sich ihrem Ende zu­
neigt, kommt eine Generation, die nicht genügend kräftige Schul­
tern hat, um die große Verantwortung zu tragen, oder, anders
ausgedrückt, die Kultur kommt zu einem Punkt, wo sie nicht
vollauf damit beschäftigt ist, Taten auszulösen. Wenn sie nicht
mehr als geschlossene Impulsmasse wirkt, verlieren ihre ver­
schiedenen Seiten das rechte Verhältnis zueinander, und die H ar­
monie wird zerstört. Dann wird das Trefflichste unter schützende
Isolierung gesetzt. Der Häuptling wird von seinem Hochsitz in
die Stille des Tempels geführt, die Waffen entgleiten für immer
seinen Händen, die Taten, die der Sicherheit halber gemieden
werden sollten, nehmen an Zahl zu, bis er, wenn die Kultur Zeit
hat, ihre Bahn bis ans Ende zu durchlaufen, wie ein Gefangener
hinter Gittern sitzt, in Heiligkeit verwahrt. Die Nordländer
kamen nie so weit, ihre Könige waren und blieben heilige Krieger­
fürsten, die voranschritten und Begebenheiten nach sich zogen. Die
Angelsachsen waren ein ganzes Stück weiter, sehen wir; sie hatten

207
Priester, die nie einen Hengst reiten oder einen Speer schwingen
durften. W as die südlicheren Nationen betrifft, sind unsere Nach­
richten zu spärlich, um uns ein allgemeines Urteil zu erlauben.
In einem anderen Sinne, aber natürlich von derselben V or­
stellung von Einweihung ausgehend, werden Männer den Göttern
geblotet und getötet. Kriegsgefangene, das heißt Inkarnationen
einer H am ingja, die erobert worden war oder erobert werden
sollte, werden den Göttern geschenkt als Gewähr dafür, daß der
Feind in seinem innersten Heil gebrochen wird und daß ihm
H and und Fuß vom Willen der Eroberer gebunden werden. Die
Beute wird den Göttern geweiht. Wir wissen von Tacitus, wie
Arminius die Legionen des Varus vernichtete, nicht nur auf dem
Schlachtfelde, sondern auch später am heiligen Ort, indem er die
Gefangenen erhängte, die römischen Adler und Waffen den Göt­
tern weihte und sie im heiligen H ain aufhängte. In diesem Fall
vereinigt die Weihung nach unseren Begriffen zweierlei: heilig
machen und abscheulich machen. Aber für die Erfahrung der
Alten bedeutete diese A rt von Verfluchen und In-den-Bann-Tun
wirklich Einweihung, bei weither die Kriegsbeute außer Gebrauch
gesetzt und den Göttern übergeben wurde, damit die Ham ingja,
die sie enthielt, von ihrer Macht auf gesogen werden möchte. In
besonderen Fällen von Vergehen, wenn die Kränkung das Ge­
meinwesen in außergewöhnliche Gefahr brachte, wurde der Übel­
täter getötet, damit die Quelle der Schwäche vollständig beseitigt
und die Gefahr der Ansteckung überwunden werden möchte. Aber
die Tötung eines Mannes, der zu einer Friedensgemeinschaft ge­
hörte, war, auch wenn er sorgfältig vom Stamm getrennt wurde
und alle Bande zerschnitten wurden, die ihn mit seinen Verwand­
ten und mit dem Gesetz verbanden, immer eine Sache, die vor­
sichtige Handhabung erforderte. Um alle unglücklichen Folgen
abzuwehren, mußte die Exekution durch einstimmigen Beschluß
und in einem Zustande der Heiligkeit ausgeführt werden: der
Verbrecher wurde in Wahrheit von den Göttern getötet.
Aus derselben Schicht in der Vorstellung ist die Form von
Selbstmord hervorgegangen, von der im Norden berichtet wird:
sich im Tempel oder am heiligen O rt aufzuhängen; wer sich das
Leben nahm, sicherte sich wahrscheinlich auf diese Weise im
voraus, indem er sein Leben den Göttern übergab und sich also
gegen die Möglichkeit schützte, von der H am ingja der Sippe ge­
trennt zu werden.

208
Einen Schritt weiter in das Heiligtum hinein, und wir stehen
Angesicht zu Angesicht mit den Göttern. Die Götter oder den
H ain und den Felsen bloten - das sind Ausdrücke, die mit der
Einweihung von Männern und Rindern durchaus parallel gehen.
In der Religion der Germanen sind solche Ausdrücke wie
Gottesdienst und Anbetung, Buße und Versöhnung im jüdischen
und christlichen Sinne leere Worte, sie fallen machtlos zu Boden;
die Nichtübereinstimmung zwischen dem tiefsten Bedürfnis der
Religion und ihrer Bedeutung macht sie leer und oberflächlich.
Der Verehrer des Heiligen ging zu seinem H ain und zu seinem
Gott, um Stärke zu suchen, und er brauchte nicht vergebens zu
gehen; aber es hatte für ihn keinen Zweck, sich ständig als be­
dürftig zu melden und im stillen eine Auffüllung mit allen guten
Gaben zu erwarten. Es war seine Sadie, die Götter menschlich
zu machen, im alten, tiefen Sinne des Wortes, wo die Betonung
auf einer Identifizierung liegt und auf der daraus folgenden Ver­
kettung von Seele mit Seele. Ohne „Sinn zu mischen“ gab es keine
Möglichkeit von Vereinigung hier in M idgard — wer nicht seinen
Nachbarn mit sich selbst beseelen konnte, wurde nie sein Freund,
und kein Wille konnte dann vom einen zum anderen reichen.
Die Götter selbst konnten nichts tun, nein sie wollten nichts tun,
bevor ihre „A nrufer“ sie lebendig gemacht hatten, so wie Floki
die Raben blotete. Es waren die Menschen, die die Götter gnädig
machten, nicht indem sie ihre Sympathie erweckten, sondern indem
sie sie mit Frieden von ihrem Frieden beseelten. Dieses aktive
Zusammenwirken ist der Ursprung solcher Epitheta wie „milde“ ,
„sanft“ , „dem Volke gut“ , die im Nordischen mit den Göttern
verbunden werden, Lobesworte, die folglich in der Wurzel ver­
schieden sind von den Gedanken, die von diesen Worten getragen,
zu unseren Göttern emporsteigen. Aber noch größere Anforderun­
gen wurden an den Menschen gestellt, wenn er blotete - er machte
die Götter groß und stark. Es war mehr als männlicher Mut und
mehr als gewöhnliche Siegeskraft vonnöten, um eine Stadt anzu­
greifen, die als ein großer „Blotort“ bekannt war, oder eine
Stätte, wo gewöhnlich mächtige Blote abgehalten wurden. Es war
schwieriger, mit den Göttern zu ringen, die viel geblotet wurden,
als mit gewöhnlichen übernatürlichen Wesen - nach dem was
christliche Schriftsteller berichten.
Uber die kultischen Handlungen, die die Verschmelzung des
Menschlichen mit dem Göttlichen zustande brachten, haben wir

209
nur spärliche Nachrichten. Götter und Menschen teilten wohl
zweifellos das Schlachtopfer; der größte Teil des Opferfleisches
kam auf den Festtisch, und ein Teil ging, wie wir annehmen
können, in das Blothaus. Wenn die Sagen schildern, wie Thor mit
seinem Hammer in der Faust in dem „H o f“ steht und mit der
unerschütterlichen Ruhe eines holzgeschnitzten Götzen seine täg­
liche Ration von vier Laib Brot mit Fleisch verzehrt, können wir
die Gewährsmänner leicht erkennen: die guten Sagamänner hatten
nicht vergebens Kirchengeschichte studiert. Möglicherweise hätte
ein unverfälschter Heide nicht verstanden, daß er der Gegenstand
des Lachens war, wenn die Kirchenmänner ihre altbewährten
Witze über knabbernde Standbilder losließen, aber nichtsdesto­
weniger hielt er Tischgenossenschaft mit seinen Göttern.
Der Schwerpunkt liegt beim Opfer in dem Charakter des ge­
schlachteten Tieres. H ätte dieses nicht mehr als bloß tierische
N atur in sich gehabt, wäre das Opfer vergebens gewesen, und je
stärker seine H am ingja oder seine Göttlichkeit war, um so mäch­
tiger war der Friede, der zwischen Göttern und Menschen errich­
tet wurde. Zur Festzeit wurde in der Herde eine Auswahl ge­
troffen. Der Eber, der in den Sagen als das übliche Opfer auftritt,
war, wie der Nam e sonargöltr besagt, der Leiter der Herde — qui
omnis alius verres in grege battit et vincit - , welcher nach einer
langobardischen Verfügung gegen Diebstahl oder Raub durch eine
dreifache Buße geheiligt war. In außergewöhnlichen Fällen, wo
eine mächtige Steigerung der Kraft des Festes nötig war, mußten
sogar die edelsten Vertreter aus dem Viehbestand des Hofes das
Fest mit ihrem Fleische ehren.
Das Blut des Opfers diente als Mittel zur Verteilung der H ei­
ligkeit. Es wurde über den Stein oder über den Steinhaufen -
Stallr oder H örg —am heiligen Ort gegossen. Der Ring des H äupt­
lings, aufbewahrt in dem Heiligtum, wurde bei feierlichen
Gelegenheiten gerötet, und wir hören an einer Stelle von zwei
Isländern, die auf die Würde eines Priesterhäuptlings (godi) An­
spruch erhoben, daß sie die heilige Kraft hervorbrachten, indem
sie ihre Hände in dem Blut eines Widders röteten. Die Zweige,
die als Wahrzeichen dienten, wie auch der Ring auf dem Stallr
wurden in das Opferblut getaucht und auf diese Weise geblotet,
um ihre Aufgabe im Volk zu erfüllen. Als die Schweden den
christlichen König Ingi aus der Versammlung der Männer ver­
jagten und Blot-Svein an seine Stelle setzten, wurde nach der

210
H ervararsaga die Veränderung durdi ein Blot bestätigt; und es
besteht keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß die Saga in
den Einzelheiten recht hat, wenn sie sagt, daß ein Pferd auf das
Gesetzesthing geführt und in Stücke zerhackt wurde, wobei sein
Fleisch als Essen verteilt und sein Blut zum Röten des „Blot­
baum s“ benutzt worden sei.
Oft offenbart sich die Wirklichkeit spontan in den Bildern des
Dichters. Eine Sage erzählt vom schwedischen König Egil, daß er
seinen Tod von seinem eigenen Blotochsen empfing. „Es geschah
in Schweden“ , lautet die literarische Form, „daß ein Ochse, der
zum Bloten bestimmt worden war, alt war und so eifrig gefüttert
worden war, daß er wütend wurde; und als die Männer ver­
suchten, ihn zu fangen, floh er in die Wälder und stiftete großen
Schaden unter den Männern und dem Vieh.“ Einmal traf Egil
ihn auf der Jagd , und bevor der König sich verteidigen konnte,
hatte der Ochse Pferd und Reiter aufgespießt. Dieses wird in den
Versen Thjodolfs auf die Ynglinge folgenderweise ausgedrückt:
„Der Ochse, der lange den hervorstehenden H örg seiner Stirn im
Ostlande herumgetragen hatte, rötete den Speer seines Hauptes
in dem Könige.“ Der geblotete Ochse, der Hörg und das Röten
waren nicht drei ungleichartige Vorstellungen, die lose zu einem
Paar Verszeilen zusammengeschüttelt wurden; die Umschreibun­
gen wurden offenbar dem Dichter von einem Bilde aufgezwungen,
das ihm vor Augen stand.
Während des Blotes scheinen Götter und Menschen in dem­
selben heiligen Naß vereinigt gewesen zu sein, wenn wir der
Heimskringla glauben dürfen, die eine detaillierte Beschreibung
der Anwendung des Blothauses beim Opferfest gibt: „Alles Blut
von den Opfertieren wurde in Bottichen gesammelt, und in ihnen
standen Zweige, die zu Besen geknüpft waren; mit diesen wurden
der Stallr und die Wände des Tempels innen und außen gerötet,
und auch die Leute wurden besprengt.“ Der Verfasser hat deut­
lich seine Schilderung in Übereinstimmung mit der christlichen
Besprengung mit heiligem Wasser geformt, und sein Zeugnis muß
dementsprechend bewertet werden.
In dem Worte Blot sind also alle Handlungen enthalten, die
dazu bestimmt waren, die höchste Kraft der lebensvollen Hamingja
hervorzurufen. Die Menschen bloten die Götter mit Opfertieren,
mit Speise und Trank, oder indem sie Männer oder Tiere oder
Dinge weihen. „Männer bloten heidnische Mächte, wenn sie ihr

211
Vieh für andere als Gott und seine heiligen Männer ,segnen‘“ ,
heißt die Definition der christlichen „G raugans“ der Isländer, die
die heidnischen Greuel verurteilt.
Die Menschen bloten mit Worten; in nachheidnischer Rede und
noch heute in der schwedischen volkstümlichen Sprache ist das
W ort biota ein starker Ausdruck für beschimpfen und fluchen,
das heißt, etymologisch gesprochen, etwas von jemandem behaup­
ten und durch die Worte eine Eigenschaft in ihn hineinzwingen.
Beim Blot wurde eine volle und vollständige Einheit zwischen
Menschen und Göttern errichtet, und der geblotete Gegenstand
diente als Mittel und Medium für den Gebrauch der heiligen
Kraft. Ohne wesentliche Änderung der Bedeutung kann das Ver­
bum bloten durch „geben“ ersetzt werden. Wenn ein Sohn oder
ein Kleinod den Göttern gegeben wird, macht das Geben die
Gabe im höchsten Grade nützlich, weil „geben“ eine Erstarkung
des innigen Vertrauens der beiden Parteien bedeutet, und die
Gabe nimmt das Megin des Besitzers an. Um den abgrundtiefen
Unterschied zu verstehen, der die religiöse Bedeutung von Gabe
von unsern Vorstellungen trennt, müssen wir uns den Charakter
der Seele der Alten und die Erfahrung dieser Seele vergegen­
wärtigen; Gemeinschaft bedeutet Einheit von den innersten, ver­
borgenen Winkeln des Gedankens und den Verzweigungen des
Heils bis zum äußeren entsprechenden Handeln.
Wenn eine Einweihung wirksam sein sollte, war die notwendige
Voraussetzung, daß die Weihe bei einem Bier ganz oder wirklich
gemacht werden konnte, und die Macht des Bieres hängt davon
ab, daß die Männer sich in Eintracht versammeln. Wer ewig zu
leben wünschte, war kein solcher N arr, daß er sich nur um seine
Versorgung mit Speise und Trank nach dem Tode kümmerte; er
verlangte, daß zu seinem Gedächtnis Trinkgelage von Männern
gehalten werden sollten. Das Geheimnis des Blotes ist der Friede,
der die erste Bedingung des Lebens ist. Das einträchtige Handeln
aller Verwandten ist das, was jedem anderen Teil des Blotes sei­
nen Wert verleiht. Während vigja das Heiligmachen bezeichnet,
wie es vielleicht auch von einem einzelnen ausgeführt werden
kann, enthält das Wort blóta die unwiderrufliche Veränderung,
die dadurch bewirkt wird, daß die Einweihung in höchster Heilig­
keit ausgeführt wird, und zwar von einem Mann, der sich ge­
reinigt hatte, an einem Ort, der mit Göttlichkeit erfüllt war, und
mit der erstarkenden H ilfe einer heiligen Festversammlung, die

212
- nicht symbolisch, sondern im buchstäblichen Sinne des Wortes -
aus einem Herzen und einer Seele handelte.

Um frei und glücklich atmen zu können, muß der einzelne am


Blot teilnehmen; der einzelne konnte nichts ohne die Gemeinschaft
machen, aber auf der anderen Seite konnte die Gemeinschaft
ebensowenig ohne den einzelnen auskommen. Insofern ist es die
bestimmte Pflicht eines jeden Verwandten, das jährliche Fest zu
besuchen, aber er braucht durch keinen Befehl dazu angehalten
werden. Von der Zentripetalkraft — oder richtiger von den Ge­
wohnheiten, die sie in die Seelen hineingewirkt hatte —, stammen
die stehenden Befehle in den Gildegesetzen, sich bei den Festen
einzufinden, und die strenge Verurteilung der Brüder, die sich
aus Faulheit oder Bosheit fernhalten oder gar aus T rotz zur Fest­
zeit die Stadt verlassen.
Andererseits war der Zutritt zu der Feier für alle Fremden
gesperrt. Diese Zusammenkünfte, wo die Männer mit vollen
Schalen aus der Quelle der Kraft schöpften, waren nur für die
Mitglieder der Sippe, für die wahren Verwandten oder die wah­
ren Genossen. Die Abgeschlossenheit des Festes verursachte dem
Skalden Sigvat nicht wenig Ungemach auf einer Reise, die er am
Anfang des Winters als Sendbote O lafs des Heiligen zum Jarl
Rögnvald in Gautland unternahm. Er und seine Begleiter suchten
eines Abends Unterkunft in einem H of, aber die Tür war ver­
schlossen, und die Leute im H aus sagten, das Haus sei heilig. Am
nächsten Ort, wo sie hinkamen, stand die Hausfrau in der T ür­
öffnung und bat sie, draußen zu bleiben, denn es würde ein
alfablot (Opfer an die Alben) abgehalten. Am folgenden Abend
versuchten sie es mit vier Höfen, und auf dem vierten wohnte
sogar der beste Mann der Gegend (d. h. nach der nordischen Be­
deutung des Wortes „gut“ : der am gastfreiesten war) aber nie­
mand wollte sie einlassen. Das war ein unangenehmes Erlebnis zur
Winterzeit in ziemlich öden, ungastlichen Gegenden; die kalten
Nächte, die Sigvat und seine Gefährten in den Wäldern verbrach­
ten, prägten gewisse Seiten des Alfablotes tief in ihr Gedächtnis
ein: nicht eins dieser Teufelskinder, das nicht in seinem Hause den
Taten der Finsternis ergeben gewesen wäre; keines von ihnen
wagte es, ehrliche Leute sehen zu lassen, was es vorhatte - das
waren die Überlegungen des Dichters vor den verrammelten
Türen dieser heidnischen Ausländer.

213
Wir können sehen, daß Egil seinem Kreise etwas Ähnliches
über seine Erlebnisse in Norwegen erzählt hat, als er seine Händel
mit Bard auf Atley beschrieb, obschon der Kernpunkt in der
Komposition des Sagaerzählers verlorengegangen ist und durch
eine recht armselige Psychologie aus eigenem Fabrikat ersetzt
wurde. Eines Abends kam Egil zu dem H ofe des Königs auf
Atley und wurde von Bard empfangen, der die Zureisenden in
ein Nebenhaus führte und sie mit saurer Milch bewirtete. Der
Hausherr bedauerte sehr, daß er nur so einfache Kost anzubieten
hätte, aber Bier sei nicht zu haben - der Schelm, er erwartete sei­
nen Herrn, König Erik, zu Besuch und hatte das H aus voll vom
herrlichsten Bräu. Später wurden Egil und seine Gefährten nach
dem ausdrücklichen Befehl des Königs in die Stube eingeladen,
und es wurde ihnen reichlich Gelegenheit gegeben, den Milch­
geschmack aus ihrem Munde zu spülen, aber Egil hat nie gern
durch eigene Höflichkeit die Unhöflichkeit anderer ausgeglichen,
und am Schluß seines Besuches gab es ein unheilbares Loch im
Körper des armen Bard und viel Lärm bei der Jag d nach dem
ungestümen Reisenden, der König Erik um einen guten Verwalter
ärmer gemacht hatte. Der Verfasser der Saga weiß, daß das Fest,
das im Hause gehalten wurde, ein Blot war, und daß das Horn
in festlicher Weise „rings ums Feuer“ kreiste; er weiß auch, daß
der Wirt das Horn segnete, bevor er es Egil reichte, und er mag
recht haben, daß es nicht die sanfteste Gesinnung war, mit der
Bard den T ran k würzte, aber seine Klugheit reicht nur aus, um
einen Vergiftungsversuch daraus zu machen. So weit hält er sich
an die Überlieferung, weil diese Umstände nötig waren, um die
Begebenheiten in Gang zu setzen; aber was die Ursache für die
Ungastlichkeit des Wirtes gegen Egil betrifft, so ist er ratlos, und
er versucht eine Begründung zu geben, indem er Bard in sehr
dunklen Farben als einen geizigen Kerl malt, während er doch
indirekt die Tatsache bezeugt, daß zufällige Fremde zu einem
Blot keinen Zutritt hatten.
Das Fest dauerte, solange das Bier reichte. Erst wenn der hei­
lige Trank ganz abgezapft war und die letzten Überreste vielleicht
auf das Feuer oder auf die Blotstätte geschüttet worden waren,
konnten die Männer ihre Heiligkeit ablegen, die T ür öffnen und
das neue Jah r beginnen, das „willkommen“ geheißen oder viel­
mehr beim Feste vorbereitet worden war. Jedenfalls konnten
keine Überreste zum Gebrauch beim täglichen Tisch aufbewahrt

214
werden, so viel vermögen wir durch Analogien zu erschließen,
und diese Vermutung wird durch eine Überlieferung bestätigt, die
auf die früheste Zeit der norwegischen Mission zurückgeht. Es
wird von H akon Æthelstansfostri erzählt, daß er, als er es mit
List versuchte, den Männern in Norwegen sein Christentum auf­
zupfropfen, zuerst das Julfest in die Zeit der christlichen Feier­
tage verlegen ließ, und „dann sollte jedermann das Fest mit einem
Maß Bier begehen und so lange feiern, als das Bier dauerte.“
Wem auch die Ehre für diesen Vorschlag gebührt, der Reformator
war jedenfalls ein weiser Mann und ein großer Baumeister. Indem
er die herrschenden religiösen Gefühle benutzte, konnte er das
heilige Julfest und die volle Ehrung Christi sicherstellen, denn
alle Leute verstanden sofort, daß das Alltagsgeschäft ruhen und
die Feier herrschen sollte, solange das Bier im Hause war.

215
D as schöpferische F e st 1

Je länger wir das Blot betrachten, um so größer erscheint es


dem Auge. Ein Kreis von Männern sitzt um den Bierkessel - und
Götter werden geboren; die Männer beginnen miteinander zu
ringen oder erzählen sich wahre Geschichten — und die Götter
fühlen das Blut kräftiger durch ihre Adern rollen. Das Opferfest
umspannt Himmel und Erde.
Kein Wunder, daß mächtige Begebenheiten aus der Versamm­
lung der Männer in der Blothalle hervorgingen, denn das Blot ist
das Leben selbst, in dem festlichen Augenblick konzentriert als
Zusammenballung der Stärke. Die Verdichtung ist zu spüren in
der alldurchdringenden Heiligkeit, die zugleich große Kraft und
äußerste Gefahr ist. Wir wissen, daß die Seele eine homogene
Ganzheit ist, und das Schicksal der H am ingja ist jederzeit mit
allen ihren Offenbarungen verknüpft, so daß ein einzelnes Wort
oder eine einzelne Handlung üble Fo'gen haben kann, wenn ein
Ring zerbricht oder das Vieh stürzt, ein Verwandter stirbt oder
Spottworte gegen die Sippe geschleudert werden, so ist das ein
Zeichen, daß das Heil zerbrochen ist und mehr Unglück folgt,
wenn das Unheil nicht erstickt wird. Die Einheit der Menschen­
seele ist so absolut, daß es keinen Unterschied zwischen Mißgeschick
und Sünde gibt. Wir können die Tatsache des Verfalls von innen
her ausdrücken und sagen, daß Schwäche und Unheil eine Schuld
ist, die durch Entheiligung der Seele verursacht wurde; oder wir
können die Dinge von außen betrachten und sagen, daß Sünde ein
Riß ist, der bis in die Mitte der Seele geht und der zeigt, daß
die H am ingja einen Fehler hatte, der sich früher oder später
zeigen mußte. In der Sünde und im Leiden offenbart sich die
Ungesundheit eines Menschen; das Unheil, das in seiner Konsti­
tution lauert, „kommt heraus“ , wie die alten Sprüche sagen.
Deshalb gestaltet ein Mann in allem, was er tut, seine Zukunft.
Aber seine Taten nehmen gewaltig an Bedeutung zu in den großen

1 Vgl. u. die Abhandlung „Das kultische Drama“.

216
Augenblicken des Festes, wenn er mehr als sonst mit Seele erfüllt
ist und die ganze H am ingja unmittelbar mit aller Macht durch
alles wirkt, was er sagt und tut. Er ist ungeheuer stark und muß
infolgedessen darauf achten, seiner Stärke keine Blöße zu geben.
Wenn er im Zustande der Heiligkeit von Sünde befleckt wurde,
mußten die Folgen gefährlich, vielleicht verhängnisvoll sein, weil
die T at sofort die ganze H am ingja mit hineinzieht; wurde er von
etwas berührt, das nicht geheuer war, etwa von Zauberei oder
Fäulnis, so mußten die Folgen sich gleich bis in den Kern des
Lebens verbreiten.
In den Festtagen werden die Männer auf den höchsten Gipfel
des Lebens gehoben; durch das Blot wird die ganze H am ingja
hervorgerufen, und sie erfüllt die Teilnehmer und ihre Umgebung.
Das Blot schafft Götter. Als Floki die Raben blotete, tat er mehr,
als die Raben mit Menschen zu verbinden; er machte sie zu seinen
Göttern. Die notwendige Bedingung war, daß er seine ganze Per­
sönlichkeit und die Persönlichkeit aller seiner Angehörigen in den
Tieren konzentrieren konnte. Hinter den schlichten Worten: „E r
hielt ein großes Blot“ , liegt die Fülle des Lebens: eine Gemein­
schaft mit festlichem Lärmen, mit Erneuerung der Vergangenheit,
mit Bier und Gelübden. „D ort, wo das Blot gehalten worden
war, bauten sie eine Steinwarte“ - als eine Mahnung an die, die
später an den Ort kamen, dam it sie ihren Fuß vorsichtig au f­
setzten, denn der Ort war heilig; an dieser Stätte war eine
H am ingja herabgestiegen und hatte sie zu einem Gotteshaus ge­
macht.
In einem gewissen Sinne läßt sich mit einiger Wahrheit sagen,
daß der Mensch seine Götter in dem Fest schaffe; sehen wir die
Sache von einem anderen Gesichtspunkte aus, können wir mit der
gleichen Wahrheit behaupten, daß die Götter im Blot den Men­
schen schaffen - keiner der Sätze enthält aber die volle Wahrheit.
Der Charakter des Festes ist in der Tatsache gegeben, daß die
einzelnen Menschen vollständig beiseite geschoben werden oder
verschwinden und daß ihr Platz vorübergehend von dem ein­
genommenen wird, was erhabene, immer empfundene Wirklich­
keit ist: die Sippe oder ihre H am ingja, ihre vergangenen und
gegenwärtigen und zukünftigen Lebenszeiten in einer Spanne.
Für die primitive Erfahrung ist das Leben immer in zwei
Schichten geteilt. Hinter dem lebenden Kreis von Männern und
hinter ihren täglichen Beschäftigungen steht ein Vorrat an Stärke,

217
aus dem sie sich beständig neu versorgen. Die Geschehnisse und
die Begebenheiten des Alltagslebens bilden nur einen schmalen
Ausschnitt des Lebens, so daß das Leben der einzelnen Menschen
und ihre Handlungen sich nach rückwärts in große Tiefen des
Daseins hinunter erstrecken. Dieser Grundsatz beruht nicht auf
Spekulationen, was deutlich daraus hervorgeht, daß er sich in
praktischen Handlungen und religiösen Gebräuchen einen natür­
lichen Ausdruck schafft; er ist einfach Erfahrung, die in Über­
einstimmung mit allen anderen Erfahrungen wirkt. Für spätere
Zeiten ist der Mensch ein einzelnes Individuum, durch die Schran­
ken von Geburt und Tod ringsum eingeschlossen und von seinen
Nachbarn durch die Grenzen der physischen Persönlichkeit ab­
gesondert; und Persönlichkeit im Sinne von Charakter bedeutet,
nach den Bedingungen „moderneren“ Daseins, oft genug die
Summe von Erfahrung, die der Mensch in einer kurzen Spanne
von Jahren in seinem isolierten Gehirn aufspeichern kann. Aber
in der urtümlichen Kultur, wo die Erfahrung auf der breiten
Grundlage der Gemeinschaft gesammelt und nicht auf dem Indi­
viduum zu einem schmalen Obelisken aufgestapelt ist, ist der
Mensch eine ewige Persönlichkeit, die durch ungezählte oder un­
erforschte Zeitalter lebt, wechselnd in der äußeren Erscheinung,
aber nichtsdestoweniger fortdauernd und ununterbrochen in den
sich ablösenden Generationen. Seine Persönlichkeit ist nicht auf
seinen Körper oder auf die Gedanken und Gefühle beschränkt,
die in seiner isolierten Gestalt eingeschlossen sind; seine Seele ist
in Übereinstimmung mit der Tätigkeit seines Geistes in Vor­
stellungen, Gefühlen, Idealen, Überlieferungen und Eigenschaften
ausgedehnt, die unabhängig von seinem privaten Sein oder Nicht­
sein existieren. Tatsächlich lag, psychologisch gesehen, das Zentrum
seiner Persönlichkeit außerhalb seines Körpers, in den Vorstellun­
gen und Dingen, die von einer Generation zur anderen fortdauern,
während die individuelle Existenz vergeht und wiederauf lebt. In
der Fortdauer der Sippe, in ihren Erbstücken, ihrem Landbesitz,
sogar in ihren Viehherden, sehen primitive Menschen ganz natür­
lich stärkere Offenbarungen ihres Lebens als in sich selbst, so wie
das Leben des Mönches, auf den gleichen geistigen Erfahrungen
fußend, vom Kloster und von der Kirche verschlungen wird. Wir
erleben unser Dasein als isoliert und können es nicht vermeiden,
die Grenzen unserer Person als die entscheidende Kluft im Leben
zu fühlen, weil das Individuelle unsere Ordnung der Erfahrungs­

218
tatsachen darstellt, den Boden, auf welchem unser Leben auf­
gebaut ist, die Grundlage, auf welcher unsere Formen und Institu­
tionen ruhen, die Wirklichkeit, aus der sich unsere Freude und
unser Leid nähren muß. Ebenso lebt und erlebt der primitive
Mensch seine eigene Ewigkeit, indem er, vom anderen Ende her,
beginnt, die Tatsachen des Daseins praktisch und theoretisch zu
ordnen. Der einzelne Mensch existiert durch Ableitung von dem
großen Menschen seiner Gemeinschaft, und sogar alle Menschen
der Sippe bilden, in irgendeinem gegebenen Augenblick als Ge­
samtheit genommen, nur einen kleinen Teil der ganzen Ham ingja.
Im Feste bricht die Quelle frei hervor, und der ganze Mensch
nimmt Besitz von ihr, indem er durch alle handelt, nicht nur durch
die Körper und die Geister lebender Gesippen, sondern auch durch
ihre Eigenschaften und ihre Umgebung. Das H aus wird voll; die
Bänke und die Pfeiler, das Feuer und die Luft werden lebendig.
Es gibt keine Menschen; streng genommen, sind sie auch nicht
Götter, sondern nur Gott oder Gottheit.
Das ist die Ursache dafür, daß alle Worte und Handlungen mit
unendlichen Wirkungen geladen sind; der Raum ist voll von
schöpferischer Kraft, und jede Handlung gebiert kommende E r­
eignisse. Wenn die Männer sich zum Krieg oder Blot versammeln,
eingehüllt in die Macht der Heiligkeit, wird die Zukunft aus ihren
Handlungen geboren. Es war von den ältesten Zeiten ab Sitte,
eine Schlacht mit einem Zweikampf zwischen zwei auserwählten
Recken zu beginnen. Die beiden, die vor die Reihen der Krieger
traten, um sich miteinander zu messen, entschieden wirklich den
Willen des Tages; und wenn das Schicksal des Ganzen in ihre
H ände gelegt worden war, hatten die Übrigen nichts weiter zu
tun, als den Ausfall abzuwarten und dann entweder einen Sieges­
ruf zu erheben und Zins zu verlangen oder den toten Mann fort­
zutragen und sich der Notwendigkeit zu fügen; denn der Sieg
hatte sich selber angekündigt. In der Beschreibung des Tacitus von
den Vorbereitungen zum Krieg kommen wir der Blothalle nahe:
die Deutschen nahmen einen Gefangenen aus dem feindlichen
Volke und ließen ihn mit seinen eigenen Waffen gegen einen ihrer
Männer kämpfen, und der Ausfall des Zweikampfes zeigte ihnen,
ob ihr Glück im Steigen oder im Fallen war. Möglicherweise sind
die Erzählungen von Zweikämpfen vor der Front des Heeres in
der Hauptsache Reflexe solcher kultischer Vorbereitungen zum
Kriege. Aber uns entgeht die tatsächliche Aufregung des Auf-

219
trittes, wenn wir die kultische Handlung nur als einen Versuch
auf fassen, den Willen der höheren Mächte zu erkennen; in dem
Individuum versucht ein Schicksal zur Herrschaft über das geg­
nerische Schicksal zu gelangen. Der Kämpe konnte Sieg und er
konnte Niederlage in der kommenden Schlacht schaffen, weil er
als Gesamtvertreter der H am ingja eines ganzen Heeres dastand.
Ein anderer Ritus war der, daß der Heerführer seinen Speer über
die feindlichen Reihen schleuderte, bevor die Schlacht begann: til
heilla. Dieses „zum H eil“ bedeutet zugleich ein gutes Wahrzeichen
und den Beginn des Sieges. Zu Beginn unserer Zeitrechnung gelang
es den Hermunduren, einen entscheidenden Sieg über die Chatten
zu gewinnen, weil sie das feindliche Heer den Göttern und die
ganze Beute, Rosse, Männer und alles andere, der Zerstörung
weihten.
Diese Bilder aus dem Kriegserleben erläutern das erweiterte
Blot, in welchem durch das Gehaben und die Bewegungen der
blotenden Brüder die ganze Zukunft geschaffen und gestaltet
wurde. Die Mannheitsprobe im Spiel oder beim Schwurbecher war
der Entwurf, nach welchem die folgende Zeit sich gestalten mußte.
Wenn der norwegische Bräutigam sein Schwert in den Dachbalken
stieß und sich dadurch ein Eheglück schuf, genau so tief wie die
Kerbe, ist etwas vom alten Festteilnehmer an ihm; er kann in
aller Bescheidenheit neben H akon genannt werden, der blotete und
in seinem Heil die Schlacht durchführte, so daß die Raben an­
geflogen kamen, bevor noch der Feind erschienen war.
Noch etwas näher kommen wir an die Blothalle, wenn wir das
Darradlied hören, wie es auf Katanes im nördlichen Schottland
an dem Tage gesungen wurde, wo Sigurd, der Ja rl der Orkney-
Inseln, in Irland fiel. Ein Mann sah zwölf Frauen in einem H ause
sitzen; sie webten mit Gedärmen als Einschlag und einem Pfeil
als Schiffchen, und während sie webten, sangen sie den Speer­
gesang, das Darradlied:

„Speere werden klirren, Schilde krachen, Äxte Eisen schlagen.


Webet, webet Darrads Gewebe, später folgen wir dem Fürsten;
wo der Männer Schilde blutig sind, schützen Walküren den
König.
Webet, webet Darrads Gewebe, früher war es des Königs; vor­
wärts wir schreiten, stürmen in die Schlacht, wo die Waffen
der Freunde sich regen.

220
Es sollen über Länder walten, die schauernd saßen am Strand;
einem König, einem Mächtigen, verspreche ich den Tod. Jetzt
ist der Jarl vom Stahl gefällt.
Jetzt ist das Gewebe gewoben, das Kam pffeld gerötet. Todes­
boten gehen übers Land.“

Und als sie ihr Siegesgewebe gewoben hatten, sprengten sie da­
von, sechs nach dem Norden, sechs nach dem Süden, zu Pferd.
Das Lied gleitet von der Gegenwart in die Zukunft, denn dort,
wo diese Walküren weben, gibt es keine Zeit; die Schlacht wird
wirklich ausgefochten, während die Frauen singen, und sehr bald
wird ihr Siegesgesang „herauskommen“ und auf dem Kam pf feld er­
scheinen. Einer der Verse offenbart die Verbindung zwischen diesem
poetischen Symbol und der Wirklichkeit; die Frauen sagen zuletzt:
„Wahrlich, wir sangen vom jungen König Siegeslieder in
Menge; laßt uns singen mit Kraft; und wer es hört, lerne der
Speerlieder Menge und künde sie Männern.“

Wer dieser König ist, über den Siegeslieder gesungen werden,


wissen wir nicht, aber eins ist sicher, die Walküren verraten hier,
daß sie dem Blotmann das Wort von den Lippen genommen
haben. Nicht in dem Sinne, daß das Darradlied ein Kultgedicht
sei, es ist eher eine Phantasie, in einer Seele erzeugt, in der die
Stimmung des Blotfestes herrschte. Das Formaffi der Blotgenossen,
das Lied der Frauen am Webstuhl, kampf waltende Walküren und
die Zeitlosigkeit des Schicksals haben sich zu einem poetischen
Bild gestaltet, wie es vielleicht nur gemacht werden konnte, wenn
der Dichter halb von der alten Religion emanzipiert war. Und
obwohl das Gedicht, streng genommen, keine einzige wörtliche
Kultform el enthält, sind die Verse doch auf dem Formseli auf­
gebaut, und es ist vor allem das Formæli, das den Fluß der Worte
inspiriert. Es ist die Macht des Blotes, die die Frauen erfüllt, wenn
sie „mit K raft“ singen, denn diese Übertragung ist nur ein ge­
ringerer Ersatz für die Worte selbst, die bedeuten: mit der Kraft
des vollbringenden Heils.
Aus dem Blot werden gute Zeiten und W ohlfahrt gewonnen
zum Segen des kommenden Jahres, aber die Fruchtbarkeit wird
nicht allgemein geschaffen, wie der moderne Europäer es sich un­
willkürlich von seinen abstrakten Voraussetzungen aus vorstellen
muß, wenn er den primitiven K ult betrachtet. Der kultischen

221
Handlung entnimmt der Mensch die Kraft des schöpferischen
Lebens, aber er betrachtet nicht das Leben als eine plastische Mög­
lichkeit, die neugeschaffen wie formloser Lehm daliegt und die
später nach Belieben zu konkreten Geschehnissen geformt werden
soll. Die schöpferische H am ingja ist durch ihren Inhalt und durch
ihre Ziele individuell gekennzeichnet, sie ist nicht Heil, sondern
Sippenheil und Sippenschicksal - aldr Fruchtbarkeit bedeutet, daß
unsere Felder gedeihen und unser Vieh sich vermehrt, seiner Art
entsprechend; und nur, wenn wir uns die primitiven Vorstellun­
gen von Seele vergegenwärtigen, können wir die Bedeutung von
„unser“ hinlänglich schwerwiegend und treffend machen. Sippen­
heil bedeutet Geburt von Kindern, aber es sind Kinder von
unserm Gepräge in Körpern, Bestrebungen und Überlieferungen.
Kampfheil bedeutet Sieg über unsere besonderen Feinde, Macht
und Herrschaft in unserem jetzigen Zwist und Ruhmstreben -
Heil in der Richtung, die durch die individuellen Gaben des Be­
sitzers bestimmt ist, wie wir sagen könnten. Durch die Taten und
Worte der Opfernden ist nicht nur der Inhalt der Zukunft, son­
dern auch ihre Form und die Verkettung ihrer Begebenheiten vor­
ausbestimmt. Auf diese Weise zeigt es sich, daß das Formæli und
die Einweihung des heiligen Tranks in Wirklichkeit eins sind, ob­
schon sie für unsere Augen als zwei erscheinen : sie machen das Bier
göttlich und geben seiner Kraft ein Ziel.
Nicht nur die Zukunft mußte geschaffen, auch die Vergangenheit
mußte in dem Blot erneuert werden, um ihre Wirklichkeit zu be­
wahren. Die ewige Fortdauer des Lebens beruhte nicht auf der
Tatsache, daß es einmal angefangen hatte, sondern lediglich dar­
auf, daß es immer wieder neu angefangen wurde, so daß das
Opfer des Blotmannes rückwärts sowohl wie vorwärts zeigt. Um
dem Sinn des Blotes Gerechtigkeit zu erweisen, müssen wir sagen,
daß es nicht nur die Vergangenheit verdichtet und erneuert, son­
dern sie in vollem Ernste immer wieder neu erschafft.
Diese Wiederherstellung oder Erneuerung, wie wir sie nennen
sollten, ist keine Wiederholung eines Geschehens, das ursprünglich
und für alle Zeiten vor Jahren oder vor Zeitaltern geschaffen
wurde. Das jetzige Wiedergeschehen ist ebenso ursprünglich, eben­
so original wie das allererste Geschehen, und die Teilnehmer sind
keine Zeugen bei den Taten eines Helden oder Gottes, keine Wie­
derhersteller, die die T at wiederbeleben, sondern einfach und
buchstäblich die ursprünglichen Helden, die schicksalschwere Taten

222
in die Welt schicken, wie etwa Schlachten aus alter Zeit oder die
Erschaffung Midgards. In dem Erzählen der Sage, in der kultischen
Handlung wird die Erde für das Leben der Menschen vorbereitet,
sie wird aus der Tiefe gehoben, wird heore und fruchtbar ge­
macht; durch den rituellen Vorgang werden die Leute geboren,
die Feinde werden niedergeworfen, und Ehre wird gewonnen.
Mag so und so oft die Welt geschaffen, die Schlacht gewonnen
worden sein: jede folgende Erschaffung und jeder spätere Sieg ist
ebenso original wie jeder ihrer Vorgänger.
Leben und Geschichte nehmen ihren Anfang im Blot. Die Zeit
wurde vom primitiven Menschen nicht so erlebt, wie wir sie emp­
finden, wie einen Fluß, der vom Ursprung aller Dinge bis ans
Ende des Universums dahinfließt. Die Zeit beginnt immer wieder
aufs neue. Das Fest bildet, was wir einen Plan über dem Strom der
Stunden und der Jahre nennen könnten, eine Art verdichteter
Ewigkeit, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht
unterschieden sind und von den Blotenden in der Spannung und
Erregung als unmittelbar wirklich empfunden werden. Und von
diesem bestimmten Ursprung aus wird die Zeit, das heißt das
folgende ganze oder halbe Jahr, dahinfluten, geschwängert von
der Macht und den Geschehnissen der Blotstunden. Es ist also auch
buchstäblich wahr, daß die wirklichen Taten in der Blothalle ge­
tan werden, so daß die Schlachten und die Ernten der äußeren
Welt nur die äußere Vollführung der Handlungen sind, die zur
Festzeit geschaffen wurden. Sie sind die Entfaltung ritueller H and­
lungen. Das Feld wird wirklich gepflügt, wenn der Priester oder
H äuptling seine Pflugschar in den Boden schiebt und die Ochsen
etwa drei kultische Furchen ziehen läßt und dazu die gebührenden
Formeln spricht, oder die Sage vom ersten Pflüger hersagt, oder
was nun das Zeremoniell sonst vorschreiben mochte. Die Schlacht
wird im Kriegstanz oder in dem Gelübde, das mit einem Horn
voll Bier hinuntergespült wird, wirklich ausgefochten und ge­
wonnen, und das übrige wird als eine Selbstverständlichkeit folgen
oder wird herauskommen, wenn die Hamingja imstande ist, zu
vollführen, was sie sich vornimmt; wenn aber die Verwandten
ihre Bestrebungen nicht verwirklichen konnten, als sie in ihrer
ganzen Stärke handelten, werden sie bei der Probe mit materiellen
Waffen nicht gewinnen.
Jetzt sind wir imstande, die Götter zu suchen, wo sie wirklich
zu finden sind. Sie sind in den Begebenheiten als Kraft und in den

223
Opfernden als Personen anwesend. Der Vormann, der handelt
und spricht, seine Genossen, die mit Horn und Formaeli seiner
Leitung folgen, der Sänger, der seine Verse vorträgt, vermögen
vergangene Begebenheiten vor den Augen lebendig zu machen,
weil sie der alte Held sind, seine Taten vollführen und alle T eil­
nehmer als wirkliche Ausführende in den Strom der Begeben­
heiten hineinreißen, ob sie nun die äußerlichen Gesten machen
oder nicht. Der Rezitator und derjenige, der das Ritual ausführt,
sind nicht weniger Gegenstand des Gedichtes als der ursprüngliche
H eld selbst und nicht weniger verantwortlich für den glücklichen
Ausgang seines Unternehmens: der Bekämpfung von Jöten oder
menschlichen Feinden. Was die Vergangenheit der Sippe in zu­
künftigen Zeiten sein wird, hängt von Sieg oder Niederlage in
dem Kreis um den Blotkessel ab.
Diese Betrachtung führt zu einem anderen T y p von Geschichte
und einer anderen Art Dichtkunst, als es die unsrigen sind. Die
alte Geschichte kann in Wahrheit nicht in unsere Ausdrucksweise
übertragen werden, weil sie keine Theorie ist, sondern eine Er­
fahrung; wenn wir sagen, daß sie die Projektion des Wirklichen
auf die Leinwand der Vergangenheit ist, ersetzen wir nur die T a t­
sache durch eine Travestie und stellen unser System als einzig
geltendes Muster für die Geschichte auf. Die Geschichte war immer
veränderlich, da sie formbar war, aber sie war nichtsdestoweniger
konstant, weil sie ihre Wurzeln im nüchternen Sinn der Sippe für
die Wirklichkeit ihrer Vorfahren hatte und in ihrem gesunden
Bewußtsein, daß Taten und Ahnen nicht in das Dasein hinein­
geschmuggelt werden können. Um die Begebenheiten der Vergan­
genheit ausführen zu können, war es vor allem notwendig, eine
Vergangenheit zu besitzen, die solche Taten enthielt; um die Vor­
fahren noch einmal zu leben, muß man das Recht dazu haben, es
zu tun, und Recht ist, wie genügend gezeigt worden ist, in der
primitiven Gesellschaft nie eine formale Angelegenheit — es hat
nur Geltung, wenn es sich als Tatsache erweist. Große Leistungen
gehörten aber nicht den individuellen Menschen an, sondern der
Ham ingja, der Persönlichkeit der Sippe, die durch die Individuen
handelte, und daher konnte die Heldentat innerhalb der Schran­
ken der Verwandtschaft von einem Helden zum anderen wandern
- wie wir sagen können.
Was wir Poesie und Mythos nennen, ist nichts anderes als Ge­
schichte. Aber um die Bedeutung der Überlieferung, wie sie beim

224
Feste weitergereicht wurde, zu erfassen, genügt es nicht, die ge­
sprochenen oder gesungenen Worte zu verstehen; die Augen müs­
sen den Ohren helfen. Für die Teilnehmer selbst bestand die Ge­
schichte aus Handlungen, die durch Formæli und Verse ergänzt
wurden. Daraus folgt, daß wir nicht imstande sein werden, den
Sinn aus den Worten allein oder aus der Handlung allein zusam-
rnenzustellen; beide müssen zusammengenommen werden, um das
Ganze zur Klarheit zu bringen. Diese Doppeltheit verursacht die
scheinbare Zerrissenheit und Uneinheitlichkeit aller alten und
primitiven Poesie, solange die Dichtung nicht ihre Verbindung mit
dem Fest aufgegeben und eine unabhängige literarische Laufbahn
eingeschlagen hat. Aber auch wenn wir Handlung und Wort zu­
sammennehmen, werden wir möglicherweise außerstande sein, den
Sinn ohne weitere H ilfe zu verstehen; denn die Opfernden han­
delten und sprachen nicht, um eine Geschichte zu erzählen, sondern
um eine Tatsache zu erleben; das Thema lebte in allen Anwesen­
den als etwas Selbstverständliches, und der Vorgang in der Blot­
halle diente nur dazu, die Vergangenheit hervorzurufen und ihr
einen Weg in ein neues Leben zu eröffnen. Für uns sind die Auf­
tritte nichts als eine Reihe kurzer Eindrücke von einem Spiel, das
im Unsichtbaren vor sich geht und hier und da in Augenblicken
intensiver Konzentration den Schleier durchbricht.
Andererseits dürfen wir nicht erwarten, in der kultischen H and­
lung eine fortgesetzte Erzählung zu finden, die sich methodisch
von Akt zu Akt, von Auftritt zu Auftritt abrollt. Wenn wir das
Wort D ram a für die kultische Schilderung anwenden, tun wir es,
gestützt auf die historische Entwicklung, da Komödie und T ra­
gödie sich während des Verfalls der Religion aus der kultischen
Handlung entwickelt haben. Aber wenn wir unsere Bezeichnung
„D ram a“ für die religiösen Riten anwenden, müssen wir dem
Wort einen neuen Sinn geben, weil sämtliche Elemente der moder­
nen Bühne bei der ursprünglichen Aufführung fehlten. Unser
Dram a ist ein Thema, das sich innerhalb des dramatischen Ganzen
entwickelt; die dramatische Fruchtbarkeit eines poetischen Gegen­
standes zeigt ihre Macht, indem sie als eine Reihe von zusammen­
gedrängten Begebenheiten explodiert. In dem primitiven Drama
durchdringt das Thema die ganze Aufführung als ein allgegen­
wärtiger Geist, es explodiert in jedem Akt und macht jede Zwi­
schenhandlung zu einem konzentrierten Dram a an sich; obschon
jeder Ritus einen eigenen bestimmten Wert und eine eigene Wich­

225
tigkeit in der Entwicklung der H andlung haben mag, ist er nichts­
destoweniger von der Idee des Ganzen beseelt, so daß die Sage
den eingeweihten Männern in einer einzelnen Geste und Formel
offenbar wird.
Die Bedeutsamkeit der Gesten ist nicht von irgendeiner theatra­
lischen H altung der Ausübenden abhängig; obschon Nachahmung
bei der Aufführung wohl Vorkommen kann, braucht der Auftritt,
der für die Zuschauer so außerordentlich suggestiv ist, nicht durch
irgendwelchen dramatischen Schmuck vor anderen Auftritten aus­
gezeichnet zu werden, weder imitativ noch symbolisch - nach
unserer Bedeutung der Worte. In der T at ruht das primitive
D ram a nicht vollständig auf den menschlichen Ausführenden. Oder
mit anderen Worten, es gibt keine bestimmte Grenze zwischen den
Schauspielern und den Theaterrequisiten; der Gott kann ebenso­
gut von einem lebenden Mann wie von einem religiösen Werkzeug
vertreten werden, indem er während seines Wirkens von einer
Personifikation zur anderen wechselt. D a die Personen des Dramas
nur die H am ingja in ihren verschiedenen Offenbarungen sind,
wirkt diese ohne Unterschied durch die Männer oder durch ihre
Kleinode; Thors Hammer, der Schädel des Opfers und das Opfer
selbst in verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien des Lebens
und Todes sind ebensosehr wirkliche Agierende, wie es die Män­
ner sind, die diese Dinge in verschiedene Stellungen bringen.
Dramaturgisch gesprochen bedeutet dies, daß der Schwerpunkt in
den Worten und den Aktionen, nicht in den Agierenden und
Sprechenden liegt.
Während der moderne Zuschauer sein Vergnügen aus dem Um­
stand herleitet, daß er in fremde Szenen und Leidenschaften ein­
geführt wird, war das gleichzeitige Erleben von Spannung, Freude
und Erbauung im Opferfest eine Folge der nahen Vertrautheit mit
der stattfindenden Handlung. Die Bühne lag im Gottes Verehrer,
und ob er nun unmittelbar oder nur als H elfer an den Riten be­
teiligt war, er war ein Teil des Dramas und nicht nur ein unver­
antwortlicher Zuschauer. Die Auftritte, die sich vor seinen Augen
abspielten, bildeten das vitale Dram a des Lebens, und dadurch
wird es verständlich, daß jeder Auftritt mit eifriger Sorgfalt be­
obachtet wurde und die geringste Entgleisung von Hand oder
Zunge in allen Beteiligten Widerwillen und böse Vorahnungen
hervorrief. Das Horn, das vergangene und zukünftige Gescheh­
nisse schuf, wurde Richter der Männer und Prüfstein ihrer Recht­

226
schaff enheit; denn ein Mangel im Heil oder im Charakter eines
Mannes mußte im erhabensten Augenblick hervortreten und seine
Zunge über die schicksalschweren Worte straucheln lassen. Jetzt
verstehen wir, daß es eine Sadie von Gewicht war, das Horn zu
leeren, so daß verdienstvolle Männer gezwungen waren, sich vom
H ofe zurückzuziehen, wenn ihr Atem zu kurz wurde für das
rechte Trinken der Minne. Jetzt erkennen wir auch vollständig die
Schande der Niederlage, die Thor in der H alle des Jöten erlitt,
als er genötigt war, das Horn abzusetzen, ohne seinen Trunk be­
endigt zu haben; der Triumph der Unholde war aber nur illu­
sorisch, weil sie bloß durch die Überlistung ihres gefürchteten Fein­
des mit einem Horn, dessen Spitze ins Meer ging, imstande waren,
ihn zu überbieten. Doch in dem Augenblick, wo der Gott nach
seinem dritten Versuch das Horn zurückreichte, fühlte er sein
Heil und seine Göttlichkeit beim Blinzeln der glotzenden Trolle
wanken.
Die Sage oder der Mythos nimmt eine Sonderstellung ein, ge­
trennt vom kultischen Text. Im Mythos wird die Geschichte, die
in den Auftritten und Worten enthalten ist oder die vielmehr im
Hintergründe des Dramas liegt, zu einer erklärenden Erzählung
umgeschrieben. Die Sagen wollen uns nicht erzählen, was in diesem
oder jenem Jahr, chronologisch genommen, geschah; bei unserem
Verlangen nach einem Kern von historischer Wahrheit in den
Mythen setzen wir naiverweise voraus, daß die Schöpfer der
Mythen in einem ihnen unbekannten System denken sollten, unse­
ren annalistischen Studien zuliebe. Der Mythos enthüllt, was ge­
schah, als die T a t wirklich getan wurde, nämlich beim Fest, wo
die Schlacht gewonnen und die Erde bewohnbar gemacht wurde;
und daher ist das sine qua non für das Verständnis seiner Offen­
barung Einsicht in den Kult, seinen Verlauf und seinen Inhalt.
Abgesehen von der zentralen Kulthandlung mit dem Bierhorn
ist das germanische Ritual verlorengegangen, und wir werden nie
imstande sein, den Kult in seinem ganzen Verlauf zu rekon­
struieren; nur die Mythen oder vielmehr einige Sagen, die sich der
Vorstellungskraft der Nachwelt einprägten, sind uns hinterlassen
worden, und durch diese Erzählungen können wir nur schwach
wie durch einen Schleier den Kult erkennen. Die Gedichte der Edda
und die Geschichten, die von Snorri in seinem Handbuch für Dich­
ter erzählt werden, sind weit davon entfernt, Kultdenkmäler zu
sein, und können nicht einmal in allen Fällen Mythen genannt

227
werden. Die Verse und die Prosa haben einen starken Anstrich
vom neuen Geist der Wikingzeit bekommen; und teils durch ihre
Liebe zum Erzählen, teils durch ihre offene Empfänglichkeit,
welche sie für die Anregungen des Westens zugänglich machte,
schufen die Männer der Übergangszeit eine glänzende Literatur
aus dem alten Stoff. Aber der Stil der Geschichten trägt noch ein
Merkmal, das von ihrer Geburt in der Methalle zeugt. Obschon
die Dichter die Sagen zu Erzählungen verwoben haben, macht
doch das Plötzliche oder der sprunghafte Charakter der kultischen
Darstellung sich in der Technik der Verfasser bemerkbar. Im
K ult sind die Auftritte, Verse und Formeln nur Episoden, in wel­
chen ein darunterliegendes, zusammenhängendes Thema für einen
Augenblick aufblitzt und sofort nach dem Aufleuchten verschwin­
det; in den Gedichten sind die Blitze zu einer fortschreitenden
Enthüllung verbunden, aber die ursprüngliche Art der Darstellung
tritt in dem episodischen Charakter des Erzählens und in der ab­
gerissenen Einführung des Dialogs hervor.
Als Kunstwerk ist die Völuspa zugleich das fortgeschrittenste
und das konservativste von allen Gedichten der Edda. Der V er­
fasser ist ein durchaus originaler Denker, weder Christ noch
Heide; er hat seine eigene Philosophie, man könnte vielleicht
sagen: Religion, und in seinem Gedicht enthüllt er in der Verklei­
dung einer Kosmologie und einer Eschatologie seine Angst und
seine Hoffnung, indem er die Historie der Welt ausbreitet von der
Zeit ab, wo nichts war, bis ans Ende der Tage, wenn, nach Sünde
und Schuld, K am pf und T od, die neue Welt und der neue Gott
über den H orizont emporsteigen werden. Es ist eine Vision, die
kein Seitenstück in der Literatur hat, von einem Propheten ge­
schaut, der von der christlichen Apokalypse so tief erschüttert wor­
den war, daß eigene Gedanken und Grübeleien sich seinen Erleb­
nissen entrangen. Seine Beängstigung, als er die alten Bande des
Friedens von den ehrgeizigen und umherschweifenden Abenteurern
zerstört sehen muß - so daß Bruder gegen Bruder kämpft, jeder
um seinen eigenen Ehrgeiz zu fördern, Königreiche auf Augen­
blicken der Eroberung gegründet werden und Königreiche sich bei
dem Fall eines einzelnen Helden in nichts auflösen - all dies bricht
bei der befruchtenden Wärme des Christentums in einem Gericht
über die Menschheit aus; in dunklen Versen verkündet er die Ge­
schichte als ein Fortschreiten von Frieden und Ehre zu Schuld, von
Schuld zu Auflösung, wo jedermann gegen seine Verwandten

228
kämpft, von der Auflösung durch den letzten K am pf der Men­
schen und Götter, durch den allumfassenden T od und die Vernich­
tung zu einem endgültigen Zustand von Friede und Ehre ohne
Fehl. Aber bei der Gestaltung seines Bildes benutzt er souverän
den alten Stoff, das heißt Kultauftritte, und bei der Einordnung
der mythischen Szenen in ein neues Gefüge ändert er ihre Bedeu­
tung von innen heraus und beseelt sie mit einem neuen Sinn in
bezug auf das Ganze, ohne die Worte wesentlich zu ändern. Daher
sehen wir durch seine Schilderung in die Blothalle hinein. So etwa
in dem Bilde von der Erde und ihrem Glück. D a kann der Gott
Hoenir „die Stäbe der Wahrzeichen küren“ - in diesen Zeilen ist
der vollkommene Zustand der Menschheit zusammengedrängt, der
Zustand, wo die H am ingja immer ihre Wünsche und ihr Los zur
Vollendung bringen kann, wo sie immer in den Stäben sichere
Zeichen findet, daß ihr Schaffen gelungen ist; der Sinn des Satzes
liegt in dem Wort kjósa, das, äußerlich gesehen, bedeutet: glück­
liche Wahrzeichen empfangen, aber innerlich: Stärke haben, um
die Geschehnisse zu schaffen, die als gute Zeichen hervorbrechen.
Und die Inhaltschwere des Verses besagt, daß dieser Auftritt im
Ritual der Blothalle der Ausdruck für Sieg war. Ein anderes Bild
ist in dem letzten Vers enthalten, der durch seine Stellung im Ge­
dicht in eine Prophetie verwandelt wird, daß der T od nicht mehr
sein soll. „Der düstere Drache kommt geflogen, die gleißende
Schlange von den unteren Bergen, und er trägt Leichen in seinen
Fittichen, der Raubvogel der toten Männer, Nidhögg; er fliegt
niedrig über die Erde dahin, bald versinkt er.“ Sicher ist die er­
greifende Wirkung der Wortwahl in diesem Verse durch die Vor­
stellungskraft des Dichters und die Inspiration westlicher Visionen
gegeben, aber die Szene selbst ist unzweifelhaft dem Opferritual
entsprungen, bei welchem die Blotmänner die Schlange haben da­
hinschnellen sehen, heraufbeschworen von irgendeiner kultischen
Geste und bei dem Laut bezwingender Worte versinkend.
In anderen Gedichten sehen wir, daß der alte Kult die Grund­
lage der poetischen Komposition ist und das Fundament bildet,
auf welchem der Dichter eine literarische Form geschaffen hat;
wenn etwa die Beschreibung der Edda von Sigurds Drachentötung
und seiner Werbung um die schlafende, brünnengekleidete Frau in
einem rituellen Trinkspruch gipfelt, wo sie ihrem Befreier ein
Horn reicht und mit einem Formaeli sein Trinken einleitet, ist die
Reihenfolge der Auftritte möglicherweise durch den Vorgang beim

229
Feste bestimmt. Durch das poetische Sinnbild werfen wir einen
Blick in die Blothalle in dem Augenblick, wo die Begebenheiten
der Vergangenheit beim Kreisen des Hornes gefeiert und wirklich
gemacht wurden; der Zusammenhang zwischen der literarischen
Form und ihrem zeremoniellen Vorbild ist enger, als es zuerst
scheint, weil der Dichter indirekt die Taten beschreibt, wie sie
beim Feste geschahen, wo der Sprecher und die Trinkenden als
Personifizierungen der alten Helden agierten. Die Sage oder der
Mythos ist Heldengedicht geworden, aber der zugrundeliegende
T y p ist noch nicht gebrochen.
Obschon das Fehlen aller unmittelbaren Beschreibungen uns
daran hindert, die zeitliche Folge der Riten zu rekonstruieren,
sehen wir doch das Ritual des Festes in den Mythen und in dem
poetischen Wortschatz mit leidlich klaren Umrissen durchschim­
mern. Der erste Aufzug des Opferfestes wurde im Viehstall ge­
spielt, wenn die göttlichen Schlächter mit einem geweihten W erk­
zeug auszogen, um die für das Fest ausgesuchten Opfer zu töten.
Die dramatische Intensität des Schlachtens ist in dem Mythos von
Thors Reise zum Jöten Geirröd ausgedrückt, in welcher alle Um­
stände des Tötens in kosmische Bedeutsamkeit übertragen sind.
Einmal wurde Thor von Loki verlockt, sich in das R e ih der Jöten
zu begeben, ohne seinen Hammer und seine gewöhnlihe Aus­
rüstung, den Gürtel und die H andshuhe, anzulegen. Unterwegs
kehrte er mit seinen Begleitern, Loki und Thjalfi, im H aus eines
Jötenweibes ein, das Grid hieß und die Mutter Vidars war. Grid
warnte den Asen vor den Gefahren, die ihn auf dem H ofe Geir-
röds erwarteten, und shenkte ihm einen Gürtel und ein Paar
eiserne H andshuhe und außerdem ihren Stab, Gridarvöl. So aus­
gestattet zog Thor weiter und erreihte das U fer eines breiten
Flusses namens Vimur. Er legte Grids Gürtel an und watete d u rh
den Strom, indem er sih an dem Stabe festhielt, ihn gegen die
M ä h t der Wogen fest in den Grund stieß und n o h seine Freunde
stützte, die sih an seinen Gürtel klammerten. Als er mitten im
Strom war, sh w oll der Fluß so an, daß das Wasser ihm über die
Shultern stieg. Er w arf einen Blick auf die Berge hinauf und sah
die T o h te r Geirröds quer über dem Flusse stehen, und nun wun­
derte er s ih n ih t mehr darüber, daß die Flut so m äh tig war.
„Einen Strom muß man an der Quelle stauen", rief er und w arf
einen Stein n a h ihr, was bewirkte, daß das Wasser sank und er
eine Ebereshe, die am Ufer w uhs, fassen und auf diese Weise sih

230
selbst und seine Begleiter aus dem Strom herausziehen konnte.
Aus dieser Geschichte geht hervor, warum die Eberesche „Thors
Rettung“ genannt wird. Als Thor zum H ofe Geirröds kam, wurde
er in den Ziegenstall geführt, aber kaum hatte er sich hingesetzt,
da merkte er, daß der Stuhl sich unter ihm erhob, und er konnte
sich nur retten, indem er seinen Stab gegen die Decke stemmte und
sich zurückstieß, und gleich hörte man einen lauten Schrei, denn
als er seinen Stuhl gegen den Fußboden drückte, hatte er Geirröds
Töchtern den Rücken gebrochen. Was dieser Umstand als erfaß­
bare Tatsache in bezug auf die rituelle Behandlung des Opfers
bedeutet, kann nur unsicher erraten werden, aber der Sinn ist un­
zweideutig: jetzt ist das O pfer endgültig erledigt, und im Tiere
ist der Feind besiegt woren. D arauf wurde Thor in die H alle ge­
beten. Dort brannten mehrere Feuer den ganzen Raum entlang,
und die Leute waren beim W ettkampf. Hier wurde der endgültige
Sieg erkämpft, und die „ungeheuren“ Mächte wurden noch weiter
überwältigt. Er bekam einen Sitz dem Jöten gegenüber, und Geir-
röd nahm einen glühenden Eisenbolzen und w arf ihn nach dem
Asen, aber Thor fing ihn mit seinen Eisenhandschuhen auf und
hob ihn, bereit zum W urf. Erschrocken über die drohende H altung
des Asen lief der Jöte hinter einen Pfeiler, um Schutz zu suchen.
Thor w arf den Bolzen mit solcher Gewalt, daß er durch den Pfei­
ler ging und den Jöten, der sich dahinter verkrochen hatte, tötete.
Das Gedicht, das die Heldentat des Gottes beschreibt, enthält
in seinen Metaphern eine deutliche Erklärung der dramatischen
Form, in welcher der K am pf ausgefochten wurde: der fliegende
Bolzen war das H erz des Opfers, das dampfend heiß aus dem
Kessel genommen und von den menschlichen Inkarnationen des
Gottes verzehrt oder gekostet wurde. In diesem Sakrament mit
dem lebenswichtigsten und heiligsten Teil des geopferten Tieres
wurde Kraft eingenommen, und die Gegner des Lebens wurden
für immer niedergeworfen.
Wenn wir den Kult anderer Religionen - vor allem der indo­
germanischen Brüder der Germanen in Griechenland und Indien -
zum Vergleich heranziehen, sehen wir uns zu der Annahme be­
rechtigt, daß der K am pf des Asen im Dram a durch das Abschlach­
ten des Opfertieres ausgedrückt wurde, und in Snorris Umdich­
tung des Geirröd-Mythos sind noch Spuren einer alten Sage vor­
handen, die deutlich genug sind, um zu zeigen, daß der K am pf
zwischen Thor und Geirröd beim Feste dargestellt worden ist. Bei

231
seiner Ankunft wird Thor in den Ziegenstall geführt und von dort
in die Halle, wo der W ettkampf stattfindet: mit anderen Worten,
die Geschichte spielt beim Blot. Der Sagenmann hat sich offenbar
vorgestellt, daß der Empfang als verächtliche Geste gemeint war,
und von einem ziemlich zerfahrenen Abschreiber ist das Ziegen­
haus in ein „Gästehaus“ geändert worden, aber Thors Besuch bei
dem Kleinvieh darf keineswegs als eine romantische Episode im
heldischen Leben des Asen betrachtet werden. Die Sage deutet auf
einen dramatischen Auftritt beim Schlachten, wo der Ase oder, kul­
tisch gesprochen, der Vertreter des Asen unter den Blotenden, sich
mit seinen Gehilfen in den Stall begab, um das Opfertier und da­
mit symbolisch den Jöten zu töten. Zu diesem Zwecke war der
Leiter der kultischen Handlung mit einem Stabe versehen. In der
Regel schwingt der heldenmütige Jötentöter eine gewichtigere
Waffe, und der Mythos erklärt, wie es kam, daß der Ase auf den
K am pf nicht vorbereitet war und mit diesem schlechten Ersatz für
seinen berühmten Hammer vorlieb nehmen mußte. Diese Episode
aus dem Besuch bei Geirröd deutet darauf hin, daß der Blotende
an dieser Stelle des Dramas mit einem besonderen kultischen Gerät
ausgestattet war, und bietet also eine Parallele zum Frey-Mythos,
wo erzählt wird, daß der Gott seinen Gegner mit einem Hirsch­
geweih töten mußte, weil er sich von seinem Schwerte getrennt
hatte. In Wirklichkeit gibt diese Stelle des Mythos oder vielmehr
der Sage, die hinter dem Mythos steht, keine Erklärung, sie stellt
eine Kulthandlung dar, die das Blotfest eingeleitet hat und in
welcher der Kultleiter für sein Amt eingeweiht und mit den zu
dem Auftritt gehörenden Blotgeräten ausgestattet wurde. Daß der
Stab ein kultisches Gerät war, bestätigt schon sein Nam e L Erstens
wird der Stab durch das kultische Wort v ç lr bezeichnet, und
außerdem wird er in seiner Eigenschaft als kultisches Gerät be­
stätigt durch seine Beziehung zu einer Macht, die nur als „Thors
Freund“ bezeichnet werden kann.
Was das Aussehen dieses Geräts betrifft, so kann der erste Teil
des Mythos vielleicht einige Hinweise geben. Wir finden dort eine
genaue Beschreibung von Thors Reise nach Utgard. Er wurde bei
dieser Gelegenheit von reißenden Strömen aufgehalten, die ihn
sicher umgeworfen hätten, wenn er nicht seinen Stab fest in den
1 Anm. d. Herausg.: Sollte nicht der Name G r id a r v q lr mit g r id ,
„Friede“ , Zusammenhängen und der Name der Riesin sekundäre Aithio-
logie sein?

232
Grund gestoßen hätte. Wahrscheinlich wurde diese kühne T a t des
Asen, seine Durchquerung der eisigen Flüsse, die voll von Gift und
scharfen Schwertern waren, beim Blotfest in dem Augenblick dar­
gestellt, wo das Blut aus dem Opfer spritzte. Das Vergießen des
Blutes war ein Vorgang, bei dem größte Sorgfalt und Mühe ver­
wendet werden mußte, und es ist möglich, daß Thors gefährliche
Fahrt dramatisch und symbolisch in jener kultischen Handlung wie­
dergegeben worden ist, die notwendig war, um zu verhindern, daß
das Blut im Gefäß überfließt und verlorengeht. Die Verbindung
zwischen Sage und Kult wird ganz deutlich in dem Zuge, daß der
Ase, indem er eine Eberesche packte, sich selbst aus dem Flusse
heraushob; vielleicht mußte der heilige Stab aus Ebereschenholz
sein; die W orte: „Die Eberesche ist Thors Rettung“ klingen, als
ob sie aus einer kultischen Formel hervorgegangen wären oder aus
einer poetischen Kenning, die in einem feierlichen Spruch wurzelte.
Die folgenden Auftritte sammeln sich um die Kessel, in welchen
das heilige Fleisch gekocht wurde. Die Mythen geben Hinweise auf
Spiele und Bierfreude: die Zubereitung der göttlichen Speise
wurde behütet und erleichtert durch einen Trank und eine A uf­
führung, die von heiligen Sprüchen begleitet wurden. Immer wie­
der wird die Schlacht erneuert, der Angriff der Dämonen wird in
jedem Punkte abgewehrt, und die Überlegenheit des menschlichen
Heils wird bestätigt. Eine Sage, die sich auf diesen Teil des Festes
bezieht, ist in der Geschichte wiedergegeben, die berichtet, wie drei
Götter den Jöten Thiazi umbrachten. Einmal, als Odin, Hcenir
und Loki auf einer Reise waren, wurden sie hungrig und töteten
einen Ochsen, um sich eine Mahlzeit zu bereiten. Sie zerschnitten
das Fleisch und fertigten einen Kochofen an - offenbar ein
archaischer Zug, der auf eine alte A rt des Fleischzubereitens durch
Einschließung in heißen D am pf zurückweist. Als die Götter den
Ofen öffneten, sahen sie zu ihrem Erstaunen, daß das Fleisch noch
roh war, und als sie sich umsahen, erblickten sie einen Jöten, der
sie in der Verkleidung eines Adlers von einem Baum aus beobach­
tete. Der feindliche Zuschauer gab offen zu, daß er den Mißerfolg
verursacht hatte, und er verlangte Zutritt zu dem Feste. Aber als
der Gast unverhohlen seine Gier zeigte, indem er die besten Teile
des Ochsen schnappte, schlug Loki ihn im Zorn mit einer Stange,
und der Erfolg war, daß das eine Ende der Stange an dem Adler
hängen blieb, während die H ände des Gottes am anderen Ende
festklebten. Loki wurde von dem dahinfliegenden Adler über Steck

233
und Stein gezogen, bis er wahnsinnig vor Q ual war und gern auf
den Vorschlag des Adlers einging, das Mädchen Idun aus dem Be­
reich Asgards herauszulocken und sie dem Feinde auszuliefern.
Idun war die Göttin, die die verjüngende Speise hütete, und als sie
verschwand, wurden die H aare der Götter grau; sehr bald richtete
der Verdacht sich auf Loki, und er wurde gezwungen, sich auf eine
neue Reise zu begeben, um das Mädchen zurückzustehlen. Der
listige Gott verwandelte sich in einen Falken, und es gelang ihm,
die Göttin in seinen Klauen fortzutragen, aber seine Flucht weckte
den Jöten, der ihn in der Gestalt eines Adlers verfolgte; als der
Feind aber über die Mauer Asgards hereingesaust kam, fand er sich
plötzlich von Flammen umgeben; die Götter standen bereit, hatten
Späne von ihren Speeren geschnitzt, und im entscheidenden Augen­
blick steckten sie den Haufen in Brand, so daß die Flammen auf­
loderten und die Flügel des Eindringlings versengten. — In diesem
Mythos haben wir das Ritual für das Feuerzünden, das ein Mittel
darstellt, um die Mächte der Zerstörung oder der Krankheit, die
hinter allen Dingen in M idgard lauern, zurückzudrängen und da­
durch den vollen, schöpferischen Kessel zum Zwecke der Bewahrung
der Menschen und ihres Heils zu erhalten. In dieser Kulthandlung
erscheint wiederum der Stab oder ein ähnliches Gerät als kultisches
Zubehör. Welche Gefahr durch das Vorhaben des Jöten entsteht,
zeigt sich im letzten Teil des Mythos; wenn sein Plan gelungen
wäre und Asen und Menschen der geweihten Speise beraubt wor­
den wären, hätten sie alles Heil, Jugend und Gesundheit, verloren.
In einer anderen Sage ist es Hrungnir, „der Entführer von
T h rudr“ (d. h. der Kraft), der Tochter Thors, der gewaltig ge­
schlagen wird. Noch andere kultische Mythen erzählen davon, wie
das räuberische Streben des Jöten nach Freyja, der Göttin, mit der
das Licht der Welt verbunden ist, verteilt wurde. Welche Gestalt
die Mythen auch annehmen, sie zeigen den Hintergrund eines
kultischen Kam pfes, indem sie ausdrücken, was geschehen würde,
wenn das heilige Werk nicht zu einem glücklichen Ende gebracht
würde. Es war diese große zeitlose Schöpfung während des Blotes
und die Überwindung der Mächte des Chaos in ihm, die die G öt­
ter und Menschen zu Herren der Welt machten und die Jöten ge­
bannt hielten, in ohnmächtiger Wut, außerhalb ihrer Grenzen
lauernd. Der K ult bestätigte den Sieg, und die Sage feiert die er­
folgreiche Anspannung der Kräfte.
In dem K am pf um Weltherrschaft personifiziert das Opfer den

234
Feind, und das Schlachten stellt das Töten der „ungeheuren*
Dämonen dar. Aber das D ram a hat auch eine andere Seite, die ein
Ausdruck ist für die Heiligkeit und den Segen, die in dem ge­
weihten Tiere wohnen.
Der Mythos von Thor, der seine Böcke schlachten und als
Fleischgericht dienen läßt und sie wiederbelebt, indem er seinen
Hammer über die Knochen und Felle schwingt, zeigt uns einen
zentralen A uftritt beim Töten des Opfers. Die geschlachteten Tiere
waren nicht so und so viele Stück Herdenvieh, die aus dem Gehege
herausgenommen und niedergestochen wurden; sie repräsentierten
die heilige Herde, die den Opfernden als beseelende und stärkende
Speise ihr Wesen schenkte, ohne sich einem Verlust an Lebenskraft
auszusetzen; das Leben kehrte in seinen Ursprung zurück und
strömte in neuer Fülle hervor. Deshalb war es notwendig, das Blut
des Opfers am heiligen Ort zu vergießen und gewisse Teile des
Fleisches als Sitz der neubelebenden K raft aufzuheben. Die T a t­
sache, daß Thors Böcke hinkten, weil einer der Tischgenossen einen
Knochen zerbrochen hatte, um das M ark auszusaugen, zeigt, daß
die Knochen des geweihten Tieres im allgemeinen als heilig und
unverletzbar galten. Der Mythos holt, wie es seine Art ist, den
inneren Sinn hervor, indem er darauf hinweist, was das Resultat
wäre, wenn die kultische Handlung nicht ihren Zweck erreichte
oder wirkungslos gemacht würde, indem irgendein schöpferischer
Gegenstand vernachlässigt würde. Das Schlachten war weit davon
entfernt, eine Beeinträchtigung des Heils und der Fortdauer des
Viehs zu sein, es führt vielmehr eine neue Geburt mit sich, für die
Herde sowohl wie für die Menschen, die das Fleisch unter sich
teilten; durch die kultische Weihe des Opfers mit dem Hammer
oder einem anderen Gegenstand, der über dem Tierkörper ge­
schwungen wurde, ward die Herde geboren.
Es ist augenscheinlich, daß der Mythos eine realistische Schilde­
rung des Auftrittes gibt: die Knochen wurden gesammelt und auf
den Fellen ausgebreitet, um gesegnet zu werden. W ir können die
weitere Folgerung ziehen, daß dem Hirnschädel ein hervorragen­
der Platz in der H alle gegeben war und daß er bei den dram a­
tischen Vorgängen eine Rolle spielte. Diese Vermutung wird be­
stätigt durch einige Andeutungen der alten Literatur von einem
mythischen K opf, den Odin in Zeiten der N ot um R at befragte,
und sie bekommt noch größeres Gewicht durch einige deklama­
torische W orte des Papstes Gregor; der heilige Vater ist erschüt­

235
tert durch das unpassende Benehmen der Langobarden, die angeb­
lich um den K o p f eines Widders herumlaufen und ihn mit greu­
lichen Liedern verehren.
Es ist notwendig, das Tier zu töten, weil die Erschaffung und
Aufrechterhaltung der Menschen und ihrer W elt von seinem leben­
spendenden Fleisch abhängig ist; aber so unbedingt geboten die
Maßnahme auch sein mag, bedeutet der Angriff auf den Träger
der heiligen H am ingja nichtsdestoweniger nicht nur eine furcht­
bare Gefahr, sondern geradezu einen Überfall, der an Gewalt­
tätigkeit grenzt, ja er würde ein wahrer Gottesfrevel sein, wenn
er nicht durch die folgenden Weihehandlungen gerechtfertigt und
gesühnt werden könnte. Der norwegische Mythos von Skadi be­
zieht sich auf eine sühnende Handlung dieser Art. Als Thiazi ge­
tötet worden war, erschien, wie erzählt wird, seine Tochter in
voller Rüstung, um Mannesbuße zu fordern; die Asen empfingen
sie mit schönen Worten und boten ihr Versöhnung und Wieder­
gutmachung an, indem sie ihr die freie Wahl gaben, sich einen der
Asen als Ehegatten auszusuchen, bloß mit der einen Einschränkung,
daß bei der Wahl nur die Füße der Asen sichtbar sein sollten. Sie
wählte das schönste Paar Füße im Kreise, indem sie fälschlich
annahm, daß diese nur Balder, dem vollendet schönen, gehören
könnten. Anstattdessen sprang aber N jörd auf und forderte sie als
Braut. Sie machte nun ihre Zustimmung davon abhängig, ob die
Asen sie zum Lachen bringen könnten, und Loki befriedigte sie
durch eine Posse; die sagenhafte Beschreibung von Lokis kleinem
Scherz bildet offenbar das Programm eines dramatischen „Spiels“ ,
das aufgeführt worden ist, um die Freude der Kultgäste n a h
der finsteren A b sh lah tu n g wiederherzustellen, oder mit anderen
Worten, um den Erfolg der sühnenden Handlung darzustellen —
und dies bildet eine Parallele zu dem wohlbekannten Auftritt im
eleusinishen Drama.
In einer Burleske, in welcher ein eifriger Christ einen kultishen
Auftritt travestiert hat, der Völsi-Geschichte, erfahren wir, daß
das Zeugungsorgan eines Pferdes jedenfalls gelegentlich bei einer
Zeremonie benutzt wurde, die Befruhtung andeutete; das frag­
mentarische und re h t armselige Stückchen Satire gewinnt d ad u rh
großes Interesse, daß es uns einen Wink über die Stellung gibt,
die poetishe Formeln im Blot einnahmen. Jeder Anwesende, hören
wir, nahm den Gegenstand in die H and und sp ra h ein rhyth­
misches Formæli, auf Zeugung hindeutend, das mit den Worten

236
endete: Mörnir empfange dieses Blot. Die Völsi-Verehrung wird
von dem Verfasser als ein ländlicher Kult hingestellt, von düsteren
Heiden in einem abseits liegenden Gehöft ersonnen; es ist aber
wahrscheinlicher, daß es die Reminiszenz eines Aktes beim O pfer­
fest ist, der die wirkliche Zeugung darstellte, wo der zeugende
Samen in die Leiber von Frauen und Tieren einging und so jede
folgende Zeugung fruchtbringend machte.
Die Zurüstung des Bierfasses, oder in früheren Zeiten des Met-
kübels, ist nur in einer einzelnen Sage erwähnt, wo erzählt wird,
wie Odin dem Jöten Suttung durch Betrug den Met entriß, indem
er sich einen Weg in die Höhle bohrte, wo Suttung die köstliche
Flüssigkeit auf bewahrte, und wie er Suttungs Tochter durch Liebes­
erklärungen betörte. Diese Geschichte, die in zwei Versionen über­
liefert ist, eine bruchstückartig und abgerissen in Versen der Edda,
eine andere von Snorri wiedererzählt oder richtiger zu einer
humoristischen Erzählung umgeformt, kann nur auf das V or­
handensein eines umfassenden Kults hinweisen, vermag uns aber
kaum einen Schlüssel zu dessen Eigenart zu geben.
Aber der Kult ging nicht plötzlich mit der Schlacht gegen die
Jöten zu Ende. In der Mitte der H alle wurde die ganze Welt
dramatisch dargestellt, sie wölbte ihren Himmel über breite Flächen
mit weit dahinströmenden Flüssen; die Erde und alle Gewässer
der Erde waren in den Kesseln und der Feuerstätte enthalten und
darüber neigten sich die Zweige der Esche Yggdrasil, die mit ihren
ausgebreiteten Armen die Heimstätten der Götter, Menschen und
Jöten schirmte. Die H alle und die Feuerstätte, wie sie den Blot­
genossen erschienen, die mehr die darunterliegende Wirklichkeit
als die äußere Gestaltung erblickten, sind von Snorri nach den An­
gaben alter Verse geschildert worden. Die Zweige der Esche er­
strechen sich über die ganze Welt und reichen über den vollen
Himmelsbogen; die Esche sendet drei weitverzweigte Wurzeln
nach unten, die eine ist bei den Göttern, die andere bei den Jöten
und die dritte endet im Reiche der Toten. Unter den Wurzeln
sind Quellen, die eine ist die Quelle der Weisheit, eine andere,
Urds Brunnen, ist die Quelle von Leben und Schicksal.
Um zu verstehen, was die Augen der Alten sahen, müssen wir
unsere geographisch und räumlich beschränkte Erfahrung mit der
Wirklichkeit der primitiven Auffassung vertauschen. Das Megin
der Erde, ihre Weite und Breite, ist in einer Handvoll Erde ent­
halten, die auf oder rings um die Feuerstätte aufgehäuft ist, der

237
Stamm und das Laub des Baumes ist ganz und gar im kleinsten
Zweig vorhanden; genau so stellt jeder Teil, z. B. der Hirnschädel,
das ganze lebende Tier dar, dessen Flanken von den Pulsschlägen
des Lebens zittern, dessen Beine von ungesprungenen Sprüngen
beben - ja, noch mehr: er stellt alle Arten von atmenden und
springenden Tieren dar. Die Szene schildert gleichzeitig den schüt­
zenden Baum, der, eine tiefe Quelle überwölbend, vor dem Hause
steht, und das kultische Gegenstück des Baums und der Quelle, das
jetzt in die Kulthalle hineinverpflanzt ist, denn die beiden sind
identisch; beide sind heilig, d. h. sie sind der Prototyp oder der
schwangere Mutterleib der Welt, und mittels der Kraft des Festes
ist die ganze Hamingja am heiligen Ort konzentriert, so daß sie
nicht nur das Urbild aller existierenden Dinge, sondern die Welt
selber wird und die bloße Räumlichkeit von Erde und Himmel an
tiefer Realität überbietet.
Aber die Welt wird nicht auf dem Herde ausgebreitet als etwas,
was einfach existiert. Allmählich wie die kultische Handlung fort­
schreitet, erhebt die Erde sich und gestaltet sich zu der glücklichen
Wohnung des Menschen, und die himmlischen Lichter treten her­
vor und ordnen sich zu ihrem täglichen Rundgang. So wie das
Opfer zerschnitten und auf die Kessel verteilt wird, wird der
Urjöte Ymir von den Göttern getötet, sie erschaffen die Erde aus
seinem Körper, die Gewässer aus seinem Blute und den Himmel
aus seinem Schädel. D arauf entsteht das Geschlecht der Menschen,
oder vielmehr unser Geschlecht, durch den Vorgang, der in der
Völuspa beschrieben wird: drei Götter kamen zu dem Hause und
fanden auf der Erde Ask und Embla, ohne Kraft und ohne Schick­
sal; Odin gab Geist, Hcenir Klugheit, Lodur Lebenssaft und die
Farbe der Gesundheit, lå ok lito góda. Wie der letzte Teil der
Schöpfung im Kult ausgeführt wurde, ist in der Skaldenspradie,
in einer poetischen Metapher angedeutet, die mit Beziehung au f
das Ritual geprägt worden ist und in der der Inhalt des Horns
mit derselben Bezeichnung - lá - benannt wird. Einen weiteren
Kommentar liefert ein Vers der Edda, nach welchem Odin sich
freut, weil er den Met vom Reich der Jöten geholt und ihn „am
Rande des Heiligtums der Menschen“ hingestellt hat; er frohlockt
darüber, daß er „glücklich erworbene Farben“ gekostet hat. Die
kultische Bedeutsamkeit der Ausdrücke enthüllt sich in dem wie­
derholten Vorkommen der Bezeichnung litr, die in dem Vers in
der Völuspa gebraucht wird.

238
Die Erschaffung der Welt durch die Zerstückelung des Opfers
wurde ohne Zweifel von anderen ausmalenden Umständen be­
gleitet; die Mythen haben Hinweise auf die weiße Erde, die be­
nutzt wurde, „um die Wurzeln Yggdrasils zu überschütten“ , und
in einem Kataloggedicht wird gesagt, daß die Erde von den großen
Göttern au rr genannt wird, was wahrscheinlich bedeutet, daß au rr
eine kultische Bezeichnung ist. Wir hören außerdem, daß „das
Megin der Erde“ dazu gut ist, das Bier stark und gesundheit­
spendend zu machen, und aus dieser Andeutung sehen wir, daß
die Erde in dem Kult vertreten sein mußte, wenn das Blot voll
und ganz sein sollte.
Der Schöpfungssage zufolge entstand die Erde mitten im Ginnun-
gagap, in der gähnenden, leeren Kluft zwischen der glühenden
H älfte im Süden und dem eisigen nördlichen Teil; die Funken aus
dem Brand stießen mit den giftigen Tropfen aus der Kälte zu­
sammen und mit dem Nebel, der von den vereisten Flüssen auf-
stieg, und das Ganze erstarrte zu einer Masse, ähnlich der Schlacke,
die aus einem Feuer rinnt. Die Götter legten den Körper des er­
schlagenen Jöten Ymir in die Mitte von Ginnungagap, um daraus
die bewohnbare Welt zu bauen, und die fliegende glühende Asche
befestigte sich am Himmel und wurde zu Sternen und Himmels­
körpern. Diese Sage ist der T ext des Schöpfungsdramas, das an
der Feuerstätte im Spiel der Flammen und des Rußes aufgeführt
wird, die den heiligen Kessel mit dem Schlachtopfer in der Mitte
umkreisen.
Jetzt kommt die innere Wahrheit der Völuspa zum Vorschein.
Die abgerissenen Bilder ihres ersten Teils sind kurze Andeutungen
der Aufzüge in der Blothalle, und aus diesem tief suggestiven
Stoff konstruiert der Dichter ein fortschreitendes geschichtliches
und eschatologisches Drama. Er beginnt mit der Zeit, wo nichts
war, weder Sand noch See noch kalte Wogen; es war keine Erde,
kein Himmel oben, nur Ginnungagap und nirgends ein Grashaim.
Es war in den Urzeiten, als Ymir lebte. Da hoben Bors Söhne die
Erde und die Götter, die Midgard schufen, empor; die Sonne schien
von Süden auf die Fliesen der Halle, grüner Lauch deckte den
Boden. Die Sonne kannte ihren Platz nicht, der Mond kannte sein
Megin nicht. Die Götter gingen zu den Ratssitzen und gaben
Nacht und Morgen, Mittag und Abend ihre Namen. - So fängt
das mächtige kosmische Drama an. Die Verse eröffnen keinen Ein­

239
blick in das Chaos von Nichts und Nirgends, wo spätere christ­
liche Dichter den leeren Raum mit den Flügeln der Phantasie
überwinden, sondern in die deutlich bestimmte Umgebung der
Blotgenossen. Die neue Sonne trifft „die Fliesen der H alle“ mit
ihren Strahlen; in den Versen, die berichten, wie die Götter das
Land emporheben und zu den Sitzen gehen, wo das Schicksal ent­
schieden wird, haben die Worte eine exakte und gleichzeitig weit­
reichende dramatische Bedeutung.
Wahrscheinlich sind die Mythen in ihrer späten Form vom Ein­
fluß christlicher Schöpfungssagen berührt, aber die Umstellungen
sind nicht in ihren Kern gedrungen, und sie tragen noch das un­
verkennbare Zeichen eines lebenden Kults. Unsere Analyse aber
könnte leicht abgelenkt werden durch unsere traditionelle Vor­
stellung der Schöpfung, als ein für allemal, rein aus dem Nichts
vollzogen, die eine Periode der chronologischen Zeit voraussetzt,
wo die Welt nur als eine zukünftige Möglichkeit existierte. In der
primitiven Sprache bedeutet Schöpfung ein Werden wie jedes
andere Werden, ein immer neues und immer wiederholtes orga­
nisches Aufbauen, das das Dasein wirklich und zuverlässig macht.
Unsere Schlußfolgerung, daß ein Nichts dagewesen sein muß,
bevor ein Etwas entstand, hat hier keine Berechtigung, weil die
Voraussetzung, die diese Folgerung für unser chronologisch fort­
schreitendes Denken notwendig macht, in der primitiven Erfahrung
fehlte. Um einen Wert zu haben, müssen die Antworten, die die
Menschen auf ihre Probleme geben, latent in der Frage vorhanden
sein. Für uns ist das natürliche Problem: W as war, bevor die
jetzige Welt geschaffen wurde? Die primitive Erfahrung stellt die
Frage: Was wäre, wenn die Schöpfung fehlschlüge? Jener Schlund,
aus dem die Welt sich durch die mächtigen Taten der Götter
erhob, ist, wie die Raubüberfälle der Jöten, eine dunkle Möglich­
keit von Chaos, die ständig durch das Blot abgewehrt wird. Schöp­
fung bedeutet Sieg über die formlosen, zerstörenden Mächte, es
bedeutet die Welt heore zu machen, und deshalb beginnt das
kosmische D ram a mit der Tötung des Jöten und mit der Zer­
störung, die die ertränkenden Ströme seines Blutes über sein Ge­
schlecht bringen.
Der K ult enthielt einen Aufzug, der die Einweihung oder
Fruchtbarmachung der Kleinode genannt werden konnte. Gold,
entweder ein Ring oder ein anderer kostbarer Gegenstand, wurde
offenbar auf den Herd gelegt oder in den Kessel getaucht, wie es

240
am deutlichsten in den festen Metaphern der Dichter angedeutet
wird. Gold wird sehr häufig die Glut der Tiefe oder das Feuer
der Flüsse genannt, was bedeutet, daß es geboren und heilhaft
gemacht wird durch Versenkung in die urbildlichen Flüsse, die von
den Kesseln durch die Welt strömen. Dieser kultische Vorgang
wird in einem Vers der Grimnismal erwähnt, der sagt, daß die
Flüsse die „Schätze der Götter“ umfließen. Welche Rolle diese
Behandlung des Goldes im kosmischen Drama spielte, können wir
nicht sicher sagen, aber da wir die tiefe Bedeutsamkeit der Klein­
ode als Träger der Hamingja kennen, brauchen wir nur zu be­
denken, wie weit ausgreifend das Heil der Sippe war, und können
ungefähr erraten, welche repräsentative Wichtigkeit das Gold in
dem kosmischen Drama besessen hat. Es mag die Reichtümer der
Menschen personifiziert haben, mag vom ersten Ursprung der
Dinge ausgegangen sein und danach alle ihre Offenbarungen von
der Fruchtbarkeit des Bodens an bis zur Sonne mit einbezogen
haben. Von der Wirkung des Kults findet sich eine Andeutung in
dem Mythos von Draupnir, dem Ring der Götter, der auf Balders
Scheiterhaufen gelegt und aus der Unterwelt zurückgeschickt
wurde, und der die Gabe hatte, in der Nacht neue Ringe zu
träufeln.
Über die äußere Form oder die Ausschmückung des Dramas
haben wir keine Hinweise außer denen, die in der Terminologie
der Mythen enthalten sind. Die Ausschüttung von Erde auf die
Feuerstätte und das Hinstellen der Kessel, Manipulationen mit
den Kleinoden und Hirnschädeln und Bewegungen mit dem
„Thors-Ham m er“ , ebenso wie das Heben des Hornes waren
Handlungen, die voller Bedeutsamkeit waren, aber wir wissen
nichts über die Art, wie sie ausgeführt wurden. Und was die
Worte betrifft, die die Handlungen begleiteten, können wir nur
erraten, daß sie alle Abstufungen von kurzen Versen oder For­
meln in gebundener Rede bis zur Rezitation von Stammtafeln
und dem Vortrag von Sagenliedern aufwiesen. Wir können viel­
leicht aus der traditionellen Form der Eddagedichte schließen, daß
der Kult zum Teil in der Form von Fragen zur Ausführung kam.
Aus der Tatsache, daß das Wechseln von Frage und Antwort
regelmäßig in der Nähe von rituellen Stellen auftaucht, brauchen
wir nicht den Schluß zu ziehen, daß das Blot als eine Katechisa-
tion ausgeführt wurde. Doch ohne Zweifel ist diese Art, mytho­
logisches Wissen weiterzugeben, auf der Basis einer altertümlichen

241
Anrede emporgewachsen; wir wissen, wie der Vormann das H orn
„segnete“ und den Trank durch seinFormæli wirkungsvoll machte,
und wenn wir von diesem Bilde ausgehen, können wir uns einen
Auftritt vorstellen, wo die Genossen aufmerksam zusahen, wie
ihre Brüder die kultischen Gegenstände handhabten und auf das
Formadi warteten, das den Vorgang erklären und vollenden
sollte.
Die Einsicht, die wir durch Mythos und Sprache gewinnen, ist
reich an Andeutungen, aber nichtsdestoweniger in den Umrissen
sehr verworren, und eine Darstellung muß nach dem vorhandenen
Stoff geformt werden; eine Schilderung ist um so wahrer, je mehr
sie die Tiefe des Sinns und des Pathos des Blotes zeigt, ohne will­
kürlich die Umrisse des Bildes stärker aufzutragen.
Dies sind also die Hauptthemen des Kults; sie wechseln ohne
Zweifel in den Einzelheiten und der Gestaltung von einem O rt
zum anderen, aber sie sind in den Ideen und im allgemeinen
Charakter identisch. Die Geschichte der Sippe fügte sich nun die­
sem zeremoniellen Schema ein. Man hörte die Stimmen der Vor­
fahren, die sich mit der Rede der Götter mischten; aus dem K am pf
mit den Jöten entsprangen Taten früherer Generationen, die mit
sterblichen Feinden zu streiten hatten. Alle kultischen H and­
lungen waren wahrscheinlich von einem mitwirkenden historischen
Sinn angeregt, der von den Männern, in welchen die Vergangen­
heit eine lebendige, plastische Kraft war, deutlich verstanden
wurde, gleichviel ob er sich nun bloß im plicite behauptet hat oder
sich in unmittelbaren Anspielungen auf wohlbekannte Über­
lieferungen Ausdruck verschaffte, oder ob er in Rezitationen und
Preisliedern hervorgeströmt ist. In dieser Form sind die Stammes­
überlieferungen der Völsungen der Nachwelt erhalten geblieben;
die Heldentaten, die die Grundlage für den Ruhm und die Macht
der Sippe bildeten, sind in der Sage vom K am pf des Ahnen mit
dem Drachen Fafnir und von seiner Eroberung des schicksals­
schweren Andvarihortes verewigt. Die historischen Verhältnisse
der Erzählung sind in den Nebenumständen angegeben: Bevor
Fafnir zu einem Wurm wurde und auf sein Gold kroch, hatte er
seinen Vater getötet, um in den Besitz der Reichtümer zu ge­
langen, die von den Göttern stammten, und Sigurd, der Drachen­
töter, wird von Regin, dem Bruder Fafnirs, dazu erzogen, die
Rache auszuführen, die der Verwandte ersehnte - und doch ver­
wünschte. Als Sigurd die T at ausgeführt hat, während Regin

242
hinter den Büschen versteckt war, werden die finsteren zwei-
züngigen Pläne des Anstifters, der genötigt ist, die Tötung seines
Bruders zu ahnden, dem Helden von den Vögeln offenbart, die
über seinem K opfe zwitschern, und er vollendet kühn sein Werk,
indem er den Ränkeschmied denselben Weg schickt, den sein
Bruder gegangen war. Dann lädt er die Schätze auf sein Pferd,
wirft sich auf dessen Rücken und reitet zu neuen und kühnen
Abenteuern davon. Die Spuren der Familienüberlieferung sind
deutlich, aber die historischen Begebenheiten sind bis zur Un­
kenntlichkeit verkleidet, weil sie in der Gestaltung des Blotes
wiedergegeben sind. Die Sage spiegelt nicht nur die äußeren T a t­
sachen wieder, sondern erzählt die Geschichte noch einmal, wie sie
sich während des Festes in kultischen Worten und Taten ent­
faltete, wenn die Heldentaten in der Anwesenheit und der Kraft
der Götter wirklich gemacht wurden. Im nordischen Gedicht
werden Fafnir und Regin Reif-Thursen genannt, und das be­
deutet, daß ihnen das Leben beim Töten des Thursen, beim
Schlachten des geweihten Opfertieres genommen wurde. Ferner
schneidet Sigurd das H erz aus und brät es über dem Feuer, und er
trinkt das Blut des Erschlagenen — eine Szene, die das kultische
Kosten der inneren Teile und das Bespritzen mit dem heiligen
Blute wiedergibt, welches die vollständige Niederlage der Feinde
des Menschen, der menschlichen wie der dämonischen, gewähr­
leistete. Obwohl das Gedicht, wie es jetzt dasteht, eine bloße E r­
zählung geworden ist, deutet es doch durch die Form seiner Schil­
derung an, wie die beiden Seiten, die eine, die wir historisch
nennen, und die andere, die wir als kultisch bezeichnen, in dem
D ram a der Blothalle verschmolzen waren: rein menschliche Aus­
brüche von Schmerz und T rotz und Triumph sprudeln organisch
hervor aus der kultischen Behandlung des Fleisches vom O pfer­
tier und der Flüssigkeit aus dem Bierfaß.
In der Geschichte der Opferhalle ist der individuelle Krieger in
den Gott eingegangen oder, was dasselbe ist, in die ideale Personi­
fikation der Sippe, in den Helden. Diese Form von Geschichte
verursacht endlose Verwirrung unter den späteren Geschichts­
schreibern, wenn sie sich eifrig bemühen, die mythischen Über­
lieferungen als chronologische Begebenheiten zu ordnen und die
Heldentaten des Stammes in Annalen und in die Reihenfolge der
Könige einzureihen. Und die Verwirrung steigert sich ins Ab­
surde, wenn rationalistische Logiker beim Lichte der gesunden

243
Vernunft versuchen, den historischen Kern von der Spreu des
Aberglaubens zu trennen. In einer königlichen Gestalt wie der
des berühmten Froda, des Hardubardenfürsten, sind politische
Taten unentwirrbar mit kultischen Vorgängen vermengt. Einer­
seits ist er ein irdischer König, schlicht und einfach, wenn er Krieg
führt und sich mit dem benachbarten Hause der Skjoldunge durch
H eirat verbindet. Andererseits ist er eine Personifikation des
Friedens, der zur Festzeit herrscht, wenn er als der ideale Friedens­
stifter gepriesen wird. Während seiner Regierung, hören wir, war
es im Reich so sicher, daß ein Goldring jahrelang unberührt auf
der Landstraße liegen konnte, und daß man von keiner Tötung
hörte; sogar der Rächer ließ den Töter seines Bruders unbehelligt.
Der Friedensspender ist nichtsdestoweniger kein anderer als der
mächtige Kriegerkönig: seine Herrschaft wird durch die Bezeich­
nungen gepriesen, die vom Opferfest stammen. Keine deutliche
Linie scheidet den Gott von dem Fürsten, und der Geschichts­
forscher, der von modernen Grundsätzen ausgeht, wird, je nach
seiner Einstellung, dazu gebracht werden, entweder das mensch­
liche Element als verkleideten Mythos zu deuten oder den Kult
zu zwingen, eine symbolische Geschichte zu liefern; und in beiden
Fällen wird er in unlösbaren Schwierigkeiten enden. Diese Un­
gereimtheit, die durch die Tatsache verursacht wird, daß die
Geschichte in kultische Sprache übertragen ist, haftet der ganzen
Masse alter Sagen an und wird sie zu einem Apfel des Zankes
zwischen dem profanen Geschichtsschreiber und dem Religions­
historiker machen, solange Religion und Geschichte des Lebens als
zwei trennbare Gebiete betrachtet werden.
In der primitiven Kultur steht die Religion in enger Fühlung
mit der Alltagswirklichkeit. Im Fest wird das ganze Dasein, mit
Arbeit und Kam pf, Fischerei und Jagd , Essen und Zeugung
emporgehoben und verinnerlicht, ohne jedoch so vergeistigt zu
werden, daß es seine Tatsachenstofflichkeit verlöre. Es gibt eine
Dichtkunst des Lebens, die gelebt und nicht nur ausgedacht und
gesungen wird: Poesie und Kunst werden in dem Feste greifbar
gestaltet, das gleichzeitig Tragödie und Farce enthält und voll­
endete Freude bereitet, denn Leben und Erfolg hängen von dem
Spiel und den Scherzen ab. Dieser künstlerische Grundsatz erlaubt
keine Unterscheidung zwischen der poetischen Welt der schönen
Gefühle und der grauen Prosa des täglichen Daseins; eine rein
ästhetische Wertung von Schönheit und Kunst, wie sie notwendig

244
wurde, als die Religion vom Leben getrennt wurde, ist bei alten
und primitiven Völkern undenkbar, bei denen Religion eine Ver­
klärung der T o talität des Lebens und seiner Nöte ist. Die Worte
der Dichtkunst sind schön und begeisternd, wenn sie wirklich sind,
auf die innersten Quellen des Daseins zurückgreifen und Heil
schaffen; die Verse sind kraftvoll und nützlich, wenn sie die
Herzen der Männer bewegen, ihren Mut stählen und ihre H off­
nung beflügeln. Die Poesie der Worte ist nichts weiter als die
Sprache des Lebens, wenn es am stärksten und vollsten pulsiert,
sie ist die Sprache des Festes und also durchtränkt von dem
Geiste des Blotes; ihre Metaphern stellen die anregenden Bilder
der Opferhalle dar, und daher werden sie für uns ein Gefäß reli­
giöser Ideen und Gebräuche.
Es gibt ein Gebiet des Kultes, das einen besonderen Charakter
hat, nämlich das Ritual, das dazu bestimmt ist, ein Bindeglied zu
bilden zwischen den Menschen und der goldhaarigen Göttin der
Scholle. Der Kult der Germanen, wie der ihrer Vettern, der home­
rischen Griechen und der vedischen Völker, gruppiert sich um das
Viehheil als Mittelpunkt, und in vielen Gegenden blieben die
Herden der Grundstock des Reichtums. Ziegen werden häufig an
verschiedenen Stellen des germanischen Gebietes als Hauptbestand­
teil des Opferfestes erwähnt, und in Mythos und K ult nimmt der
W idder eine hervorragende Stelle ein, während die Färse aus­
geschlossen ist; später waren die Wiesen wohlhabender Leute voll
von Kühen und sogar von Pferden, aber in ärmeren Gegenden
bildete das Kleinvieh den Hauptunterhalt der Bevölkerung.
Die Kunst, die Erde fruchtbar zu machen, indem man ihren
Körper mit der Pflugschar aufriß und sie mit lebendem Samen
schwängerte, ist in prähistorischen Zeiten aus dem Süden ein­
gewandert. Und in der primitiven Kultur brachte die Einführung
neuer Geräte und Methoden geistige Ausdehnung sowohl wie
materiellen Fortschritt. Der Gebrauch des Pfluges und die Kennt­
nis seiner religiösen Belange und der rituellen Art seiner H an d­
habung sind unzertrennlich, denn niemand kann nur durch mecha­
nische Manipulationen Erfolge erzielen. Landwirtschaft lernen
heißt in einen K ult eingeweiht werden, und daher verbreiteten
sich die Zeremonien, die sich auf das Getreide bezogen, in sehr
frühen Zeiten durch Deutschland und Skandinavien; landwirt­
schaftliche Riten wurden in den Rahmen des gewöhnlichen Blotes
aufgenommen und in allem Wesentlichen mit den alten Aufzügen

245
und Formeln verschmolzen, und diese wurden mehr oder weniger
oberflächlich von ihnen geprägt, je nachdem die Landwirtschaft
die hauptsächliche Beschäftigung war oder nur als Behelf eine
Rolle im Leben des Volkes spielte.
Auf den weiten Ebenen im südlichen Skandinavien und im mitt­
leren Schweden war der Einfluß der Ackerbauriten weiter ver­
breitet und färbte die Feste stärker als in Norwegen. Wir müssen
bedenken, daß der Ackerbau nicht auf einmal eingeführt wurde;
er sickerte vielmehr langsam durch, eine Erfindung folgte der
anderen, und jede trug einen reicheren K ult mit sich. Diese Ein­
wanderung der Riten ist durch Tausende von Jahren fortgesetzt
worden, wie wir es aus den heutigen Gebräuchen der Bauern
sehen, die deutlich anzeigen, daß der Einfluß der Religion der
Mittelmeerländer nicht einfach mit dem Sieg des Christentums
erschöpft war, sondern daß er durch das Mittelalter hindurch fort­
dauerte und sich oft der Geistlichkeit zum Trotze durchsetzte, noch
häufiger aber vielleicht durch die förmliche Aufnahme vorchrist­
licher Riten in den Usus der Kirche sich ausbreitete. In Schweden
wurde das von den Vorfahren übernommene Blot so vollständig
von landwirtschaftlichen Zusätzen fremder A rt gefärbt, daß ge­
wisse fürstliche Familien ihren Gott mit dem Namen Herr, F rey r,
bezeichneten; im Stammbaum der Ynglinge, die in früheren Zeiten
im südlichen Skandinavien gewohnt haben mögen, aber später
jedenfalls ein Königreich in U psala gründeten, steht Frey un­
mittelbar über dem Urahnen, Yngvi.
Der reicher zusammengesetzte K ult führte Zeremonien mit, die
von sexueller Leidenschaft und fieberhafter Erregung stark gefärbt
waren. In den Überlieferungen des Nordens zeichnen sich die
Riten von U psala als außerordentlich dramatisch und überschweng­
lich aus, voll von wollüstigen Tänzen, obszönen Liedern und
menschlichen Schlachtopfern - wie spätere historische Schriftsteller,
ein Saxo und ein Adam von Bremen, uns berichten.
Die Hauptlinien des Kults sind aus diesen Andeutungen genü­
gend klar zu erkennen, so daß seine nahe Berührung mit den
Sitten feststeht, die an den Mittelmeerküsten wohl bekannt waren;
aber unser Stoff erlaubt uns nicht, den wirklichen Vorgang zu
rekonstruieren. Bei Tacitus finden wir eine kurze Erwähnung von
Prozessionen, in welchen die Göttin Nerthus auf einem Wagen
durch die Gegend fuhr, mit Jubelausbrüchen begrüßt, wohin sie
kam, bis sie schließlich in das Dunkel eines Hains verschwand,

246
wo rätselhafte Riten mit Waschungen und Tötungen stattfanden.
Aus Norwegen kommt eine höchst erbauliche Geschichte von
einigen amüsanten Abenteuern, die einem norwegischen Jüngling
in Schweden passierten. Der Ausreißer trifft eine hübsche Priesterin
und wird von ihr herausgeputzt, um den Gott Frey auf seiner
Fahrt durch das Land zu personifizieren, nachdem er den alten
teuflischen Götzen tapfer in kleinste Stücke zerschlagen hat; der
neue Gott benimmt sich sehr entschieden in seiner Forderung, die
Opfergaben zu Gold und beweglicher Habe verwandelt zu er­
halten, und er erfreut das H erz seiner Verehrer, als er seine Braut
mit einem Kinde schwanger macht. Zuletzt entflieht er, und es
gelingt ihm nicht nur, die Beute fortzuschaffen, sondern er sichert
sich auch noch den glücklichen Genuß seiner Reichtümer, indem er
sich taufen läßt. —Der widerspruchsvolle Charakter der Erzählung
macht ihren Wert als Zeugnis zweifelhaft, außer in bezug auf die
Tatsache, daß rituelle Reisen von der Art der Nerthus in einigen
Teilen von Schweden häufig, in Norwegen aber unbekannt waren.
Die Sage von dem Krieg zwischen den Asen und den Vanen
handelt von einem Streit zwischen zwei Stämmen oder Völkern
mit verschiedenen Ritualen, da die Vanen ein Volk von N jörd-
Verehrern oder Ackerbauern p ar excellence waren. Dieses Volk
muß materiell und religiös in einem Teil von Skandinavien vor­
herrschend gewesen sein, da sein Name als Bezeichnung für den
Götterstamm, der mit Feldbestellung und Ernte verbunden wurde,
in die Überlieferung eingegangen ist. Frey und N jörd - nahe
verwandt mit der Nerthus des Tacitus — und ihre Verwandten
werden in der Mythologie des Mittelalters als Vanen und Vanen-
götter bezeichnet, ihre Verehrer sind der Vergessenheit anheim­
gefallen. Die Mythen verbinden diese Götter mit der Vorstellung
von großem Reichtum und verewigen auf diese Weise die Erinne­
rung an Erfolg und Überfluß der Völker, die eine weite Ebene
beackern, und vor allem an diese nichtlokalisierbaren Vanen, die
wahrscheinlich eine Zeitlang ihre Heimat in Schweden hatten und
Landwirtschaft mit einträglichen Seefahrten und kaufmännischen
Unternehmungen in ziemlich großem Um fang verbanden. Der
Mythos von der H eirat zwischen Skadi, einer Stammesgöttin aus
dem nördlichen Norwegen, und N jörd weist, durch einige An­
deutungen in der historischen Literatur gestützt, darauf hin, daß
ein Teil von Norwegen um Drontheim herum eine enge Ver­
bindung mit dem Frey-verehrenden Volk in Schweden hatte.

247
Im Kielwasser des Rituals von Ackerbau und Fruchtbarkeit
folgte natürlich das Schwein, das überall das Haustier des Bauern
ist. Genau so wie Thor, die Personifikation der einheimischen
Kräfte, vom Bode unzertrennlich ist, so ist Frey überall von einem
Eber begleitet. In dem Kreis der Frey-Verehrer und noch weiter
mag der Eber beim Opfermahl das Kleinvieh ersetzt und die alten
Riten des heiligen Blotes auf sich genommen haben.
Die leidenschaftliche Spannung der fruchtbarmachenden K u lt­
handlungen, die von den Extremen sentimentaler Sehnsucht zu
sinnlicher Verzückung reichen, wie wir sie auch sonst bei den
Bestellern des Bodens finden, wenn sie hinausgehen und weinen
und köstlichen Samen bringen und die Garben mit Jubel heirn-
tragen, diese Stimmung spiegelt sich in den Mythen von Frey,
die merkwürdig schlecht zu der Besonnenheit des sozialen Lebens
bei den typischen Germanen passen. In einem der Gedichte der
Edda, den Skirnismal, ist die zugleich schmachtende und glühende
Sehnsucht der Riten, die die goldhaarige Erde in ihren Lieb­
habern hervorrief, in ein göttliches Liebesgedicht verwandelt, das
in der nordischen Literatur kein Seitenstück hat.

248
Die Götter

Uber das Wesen der Götter braucht nur noch weniges hinzu­
gefügt zu werden. Sie zeigen in ihrem Wesen, das den neutralen
Zustand von Macht mit Persönlichkeit verbindet, keine besondere
göttliche Kraft, denn das ist das Wesen des Lebens in all seinen
Offenbarungen. Sie wohnen an dem heiligen Ort und in den
heiligen Kleinoden, aber sie können jeden Augenblick hervortreten
und sich ihren Freunden offenbaren, entweder im Traum oder
beim Licht des Tages. Als Macht oder Heil werden die Götter im
Altnordischen rä d und regin genannt; rá d bedeutet R at: Weisheit
und Wille, die Kraft zu entscheiden und machtvollen Entschluß;
regin drückt einfach Heil und Kraft aus (vgl. I 156). In ihrer
persönlichen Erscheinung werden die Götter Asen genannt oder
in südlichen Dialekten Ansen, ein Name, der nach den Beobach­
tungen von Jordanes dahin erläutert wird, daß bei den Goten die
Häuptlinge, in deren Heil das Volk siegte, Ansen genannt wurden.
Ihrer Gestalt nach sind die Götter in einigen Geschlechtern männ­
lich, in anderen Familien und Gegenden weiblich; ihre weibliche
Erscheinungsform hat eine natürliche Erklärung in der Tatsache,
daß Frauen gewöhnlich einen höheren Grad von Heiligkeit als
der Durchschnittsmann vertraten. Die Frage, ob die Götter Tier­
gestalt annahmen, ist nicht ganz klargestellt. Freilich wanderte die
göttliche K raft der H am ingja in der Herde auf den Feldern um­
her und hauptsächlich in den Rindern, die geweiht und zu Führern
ihrer Schar ausgewählt oder Medien des Segens waren; und in der
Blothalle erfüllte die göttliche Stärke das Festopfertier. Das Tier
war Gott, aber es war nicht die Götter, und wir haben auch keinen
Hinweis darauf, daß die Mächte Tiergestalt annahmen, wenn sie
sich ihren Freunden offenbarten.
Zwischen Mensch und Gott besteht kein Artunterschied, jedoch
ein vitaler Gradunterschied, indem die Götter die ganze Hamingja
sind, die Menschen aber nur ein Teil. Die Grenze zwischen Göttern
und Menschen ist stets vorhanden, aber sie ist beweglich; sie ver­
schiebt sich nach unten, wenn die Menschen ihren täglichen Ge­

249
schäften nachgehen, und sie kann nach oben gerückt werden, wenn
sie ihr heiliges Gewand anlegen und in geschlossener Gemeinschaft
einen Ausfall machen, zum K am pf oder zum Fischfang. N ur im
Blot wird die Grenzlinie verwischt, aber während der Festzeit
gibt es keine Menschen, weil die H am ingja alles ist und in allen
ist. Die Göttlichkeit der Menschen im Zustand der Heiligkeit
kommt in den Metaphern der Dichtkunst zum Vorschein: wenn
der Krieger der Gott des Schwertes oder der Gott des Kam pfes
genannt wird, ist das nur eine Beschreibung der Tatsachen. Die­
selbe Wirklichkeit zeigt sich in der Benennung der Frau als
„Göttin des Geschmeides“ und noch bedeutsamer als „Biergöttin“ ,
was auf ihr heiliges Amt beim Trunkopfer hinweist.
Die einzige Möglichkeit, das Wesen Gottes zu erläutern, liegt
darin, daß das göttliche Element sich in verschiedenen Inkarna­
tionen offenbaren kann, stärker oder schwächer, umfassender oder
mehr beschränkt, mehr Gott als Mensch oder umgekehrt mehr
Mensch als Gott.
Eine fortgesetzte Linie von aufsteigender Göttlichkeit geht von
dem sterblichen Mann durch die Frau und den H äuptling zu den
ewigen Mächten, die aus dem Heiligtum hervorgehen. Ein Ver­
bindungsglied zwischen Menschen und Göttern bildet die Fylgja
oder der Schutzgeist, der die gestaltende Kraft der Ham ingja dar­
stellt. Wenn von der Fylgja die Rede ist, die zu einem einzelnen
Menschen gehört, bedeutet dies, wie der römische Genius, die
eigene Seele des Menschen und noch etwas darüber hinaus. In
Übereinstimmung mit der besonderen römischen Erfahrung und
dem streng patriarchalischen Aufbau der römischen Familie ist der
Genius die Seele oder die H am ingja des p ater fam ilias, der der
Vertreter des Geschlechtes ist und der, solange er lebt, die
H am ingja des Hauses in seiner Person sammelt. Durch seinen
Genius geht er in die zeitlose Persönlichkeit der folgenden Gene­
rationen auf, durch die Kraft seines Genius verehrt er die Götter
und herrscht; der p ater verehrt seinen eigenen Genius, weil dieser
die Familie ist, die in ihm wohnt, und seine Angehörigen verehren
seinen Genius, weil er das Glied ist, das sie mit der Ham ingja des
Hauses verbindet. So ist auch die Fylgja die Seele des Menschen
in enger Verbindung mit dem Heil des Geschlechts, wenn auch mit
wichtigen Variationen, die für das germanische System charak­
teristisch waren, welches weniger streng patriarchalisch war als die
römische Familie. Der freie Germane personifiziert das Geschlecht

250
in sich und verdankt keinem p ater seine Selbstbehauptung, aber
zugleich ist die H am ingja in dem Führer oder in dem H aupt der
Sippe stärker, und infolgedessen ist seine Fylgja eine vollere Ver­
körperung von dem H eil und der Macht des Geschlechts. In einer
Geschichte wie der von V igfus’ Fylgja, die beim Ableben des alten
Mannes zu seinem Tochtersohn Glum überging, nähert der Begriff
Fylgja sich an Würde der des römischen Schutzgeistes, da sie tat­
sächlich Träger der Macht und der Verantwortung in Verbindung
mit der höheren K raft ist, die in dem H äuptling der Familie
wohnte. Der Dichter H allfred starb auf einer Reise von N o r­
wegen nach Island; als das Ende sich näherte, „sahen sie eine
Frau hinter dem Schiff herschreiten, sie war groß und trug einen
Harnisch; sie ging auf dem Wasser, als ob es fester Boden wäre.
H allfred schaute sie an und sah, daß sie seine Fylgja war. Er
sagte: ,Idi verzichte auf jede Verbindung mit d ir/ Sie wandte
sich zu seinem Bruder und sagte: »Willst du mich willkommen
heißen, Thorvald?* Er lehnte es ab. D a sagte der junge H allfred:
,Bei mir bist du willkommen/ Die Frau verschwand. H allfred
sagte: ,Ich gebe dir das Schwert Königsnautr, mein Sohn, aber
meine übrigen Schätze sollen in meinen Sarg gelegt werden, wenn
ich an Bord sterbe/“
In H allfred war der K am pf zwischen der Liebe zum christlichen
König O laf mit seinem weißen Christ und der Sehnsucht nach
den alten Mächten schwer und endlos gewesen, und seine letzten
Worte des Verzichts waren sicher von der Furcht eingeflößt, daß
seine Fylgja ihn nach Orten mit sich ziehen könnte, wo es für
einen getauften Mann unheimlich wäre; aber die alten Gefühle
und Vorstellungen bestätigen sich doch in seinen letzten Ver­
fügungen: seine hochgeschätzte Waffe soll mit der Fylgja zu dem
Mann gehen, der den Willen und die Macht hat, die Ehre und das
Heil der Sippe aufrechtzuerhalten. Wenn von dem göttlichen
Schutzheiligen gesprochen wird als der Fylgja des Geschlechts
oder, in Mehrzahl, den Fylgjen der Gesippen, nähern diese Mächte,
„die die Verwandten begleiten“ , sich sehr der Identität mit den
Göttern: sie sind wirklich die göttlichen Mächte in ihrem Alltags­
kleid, die die Männer des Geschlechts außerhalb der heiligen Blot­
zeit führen und schützen, sie mit klugen Gedanken beseelen und
sie in Träumen warnen. Die Fylgja kann sich ebensogut in der
Gestalt der heiligen Tiere verkörpern und als Ochse oder Widder
erscheinen oder in anderen Fällen als W olf und Bär, wenn die

251
Ham ingja der Sippe Spuren der wilden N atur in ihrem Blute
aufweist. Was die zahlreichen Traum fylgjen betrifft, die in den
isländischen Sagas kommen und gehen, so müssen wir viele der
Schilderungen als späteren Witz und Symbolismus betrachten,
ähnlich wie wenn der Hugr eines Kriegers mit dem eines gierigen
Wolfes und der eines schlauen Mannes mit einem Fuchs verglichen
wird, so daß es Krieg bedeutet, von Wölfen zu träumen, und als
eine Warnung gegen Ränke auf gef aßt wird, wenn man von
Füchsen träumt. Nichtsdestoweniger erläutert dieser Symbolismus
das Wesen der Hamingja, indem die Vorstellungskraft von einer
grundlegenden Tatsache inspiriert wird, nämlich davon, daß eine
Sinnesmischung zwischen dem Krieger und dem Tier des Krieges
besteht und eine Identität zwischen einem Geschlecht und seinem
Vieh vorhanden ist.
Die Ham ingja ist, wie sie sich in ihren menschlichen Vertretern
offenbart, im Stammvater konzentriert, der im Blot anwesend
war und der durch seine Gesippen die Taten der Vergangenheit
ausführte. Er ist Gott und er ist nicht Gott, je nachdem wir diese
Bezeichnung auffassen. Ähnlich wie der Ring und andere Klein­
ode, die gleichzeitig das irdische Leben sind, das in das Unsicht­
bare hinausragt, und das Unsichtbare, das in das Alltagsleben
hineinstößt, so mag der Stammvater als das Göttliche betrachtet
werden, das sich in den Menschen hineinsenkt, oder als der
Mensch, der sich in das Göttliche hinausdehnt. Der Stammvater
trägt einen Namen, der für das Geschlecht bezeichnend ist; er ist
Yngvi bei den Ynglingen, Skjöld bei den Skjoldungen, Geat in
den angelsächsischen Stammbäuirten; und Gaut, das Odin als Bei­
name bekommen hat, ist der Geate oder der gautische Mann. Er
ist der ideelle Besitzer der Familienkleinode sowohl wie der
Geschichte und des Schicksals, in welchen sie sich offenbart haben.
Die Sippe, die später als die Jarlsfam ilie von H ladir berühmt
wurde, stammte von Männern ab, die in Halogaland, nördlich
von Drontheim wohnten; ihr Stammvater war Hölgi, der H alo-
galand-Mann, und wir hören, daß der Speer, der Hölgi gehört
hatte, in Jarl Hakons Blothaus aufbewahrt wurde. Der historische
Stammvater übernahm die Züge des Stammvaters der Sippe, d. h.
des Großvaters oder vielleicht des Urgroßvaters, je nach den Um ­
ständen, und er mochte unter einem in der Familie hochverehrten
Namen auftreten. Wir haben ihn in Ketil Lachshaken bei den
Hrafnistamännern getroffen und in O laf Geirstadaalf in dem

252
Ynglingatal; wir sehen ihn in H alfdan dem Schwarzen, dem
Vater H arald Schönhaars, der im alten Sinne des Wortes histo­
risch ist, was bedeutet, daß die individuellen Erfahrungen eines
einzelnen Mannes von der Familiengeschichte aufgesogen worden
waren.
In der primitiven Religion ist jede Frage nach Monotheismus
oder Polytheismus müßig, weil die Tatsachen das Dilemma, das
aus dem K ontrast zwischen Hellenismus und Christentum ent­
steht, nicht aufkommen lassen. Die göttliche Macht kann sich als
eine oder als viele offenbaren, je nach den Umständen. In der
H am ingja oder der göttlichen Kraft lag natürlich die Möglichkeit,
bei allen ihren Funktionen als Persönlichkeit hervorzutreten, und
so können wir annehmen, daß die verschiedenen Stellen im Hause
ihre schützenden Gottheiten hatten; unsere Nachrichten sind in
dieser Beziehung sehr spärlich, aber als andeutender Hinweis
können Snorris dogmatische Angaben über die Göttin Syn zitiert
werden: sie bewacht die Türen des Hauses und hält sie vor un­
willkommenen Gästen geschlossen. Das Gelübde beim Fest, das
den Bund zwischen Gatten und Gattin besiegelte, zeigt sich in der
Göttin Var, der „Treue“ . Der Satz, der bei der Scheinhochzeit
der Thrym skvida vorkommt: Leg den Hammer in den Schoß der
Magd, weihe unseren Bund mit Vars H and - er deutet an, daß
die auftretende Person die göttliche Macht der Treue darstellte,
oder, was dasselbe ist, daß sie die Treue in Person war, weil die
Worte in ihrer Person lebendig wurden.
Die göttliche Kraft der menschlichen Handlungen offenbart sich
überall, wo Männer miteinander zu tun haben. Syn oder „die
Abwehr“ ist auch mit der Aufgabe betraut, beim Gericht im A uf­
trag des Verteidigers gegen ungerechtfertigte Beschuldigungen auf­
zutreten, und sie war sicher nicht die einzige Gottheit, die in der
Volksversammlung anwesend war. Forseti, „der Vorsitzende“ , ist
vom Mythologen in eine himmlische Wohnung übertragen worden,
aber seine Urbilder arbeiteten ohne Zweifel auf den Thinghügeln
und taten, was sie konnten, um die streitenden Parteien zu ver­
gleichen, so daß „alle sich im Frieden voneinander trennten“ , um
den mythologischen Katechismus Snorris zu zitieren.
Die Kontinuität der Götter ist nicht davon abhängig, daß sie
als dauernde Persönlichkeiten ihr Leben von einem Jah r zum
anderen fortführen. In den Zwischenräumen zwischen ihren Er­
scheinungen ruhen sie im Stein oder Hügel, und jedesmal, wenn

253
sie hervortreten, kann man wohl sagen, daß sie aufs neue geboren
werden. Diese A rt des Daseins, gemeinsam für alle Wesen, mag
bei den großen Göttern der Gemeinschaft besonders ausgeprägt
gewesen sein. Die Geschichte zeigt uns, daß die Götter des König­
tumsoder des Jarl turns gewöhnlich die des herrschenden Geschlechts
waren, und für die große Masse des Volkes sprangen sie nur bei
den Gelegenheiten ins Dasein, wo die ganze Bevölkerung sich zum
Blot oder Krieg versammelte. Aber wir sind nicht berechtigt zu
sagen, daß der germanische Staat immer in einem Abhängigkeits­
verhältnis zur königlichen Familie stand, und die Heiligkeit der
gemeinsamen Versammlung oder des Gesetzesthings hatte natür­
lich ihre Mächte, die den Frieden vertraten, in welchem vorüber­
gehend alle Stämme vereinigt waren, die von dem gemeinsamen
Gesetz und Gerichtsverfahren zusammengehalten wurden. Die alte
Kultur wurzelt in jeder Beziehung in geistigen Tatsachen: kein
Beweis ist gültig, wenn er nicht in den Männern, die den K au f
abgeschlossen haben, eine innere Wirklichkeit bildet; kein Bund
erhält Wirkung, wenn er nicht in einer Mischung der Hamingjas
besteht. D as Gesetzesthing und die Gemeinschaft, deren soziales
und religiöses Zentrum es ist, existieren nur in den Perioden, wo
die Leute Zusammenkommen, um Recht zu sprechen, oder wenn
das Heer zu vereinigter T a t eingezogen wird; zu anderen Zeiten
konnten sie von irgendeinem Mitgliede ins Dasein gerufen werden,
das es ablehnte, Rache für eine Kränkung zu nehmen, und anstatt
dessen sich und seinen Gegner der Vermittlung oder dem Urteil
der Thinggenossen unterwarf, indem er in formalen Worten
Klage gegen seinen Gegner erhob und ihn vor die Gemeinschaft
laden ließ. In den Zwischenräumen zwischen den Gesetzes­
versammlungen bildeten die Sippen freie Einheiten, ohne andere
wechselseitige Abhängigkeit als die, die durch Bündnis und Ver­
schwägerung geschaffen wurde; und in ihre Tötungen und Aus­
einandersetzungen mischte sich kein Gesetzessystem, und sie über­
schritten auch kein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz. In
der Zwischenzeit schlief der Staat, aber er war sofort eine leben­
dige Wirklichkeit, wenn ein Mann den Pfeil herumschickte, um
die ganze Gesellschaft zum Gesetzesthing zu laden; wenn der
Friede erklärt wurde, verschmolzen die Männer zu einer Brüder­
schaft, und eine gemeinsame Ham ingja sprang hervor, nicht weni­
ger wirklich als die Seele, die alle Verwandten zu einer festen
Körperschaft zusammenballte. Der Friede des Things, der Gesetzes-

254
Versammlung und des Heeres war keine formale Etikette, sondern
eine lebende Seele, deren Körper alle die Mitglieder waren, durch
die er wirkte, und in seiner Heiligkeit mußten natürlich starke
Götter verborgen sein. Zu den Zeiten, wo die Gesetzesversamm­
lung aufgehoben war, lösten sich diese Götter auf oder hörten
auf zu sein - unserm Wörterbuch fehlt ein Wort, um diesen Zu­
stand des Unterdaseins auszudrücken — aber sie sprangen in dem­
selben Augenblick ins Leben, wo das Gesetzesthing einberufen
und die Seele der Gemeinschaft wiedergeboren wurde. Ihre Geburt
zeigte sich in den w-Bändern oder heiligen Seilen an, die aus­
gespannt wurden, um den Thingplatz zu umfrieden und ihn als
heilig und als Gerichtsstätte geeignet zu kennzeichnen, und aus
dieser Kundgebung ist wahrscheinlich der Name Bande - bönd —
abgeleitet, mit welchem die Götter in der skandinavischen Lite­
ratur bisweilen bezeichnet werden.
Gewöhnlich hatten die Götter keine Namen oder richtiger viel­
leicht: sie brauchten keine Namen; sie waren einfach die Götter
des Stammes, unsere Götter, die Frauen (d isir) des Stammes, die
Disen, die unsere Verwandten begleitet haben. Aber sie können
zu jeder Zeit durch irgendeine Reminiszenz aus der Vergangenheit
oder irgendeine Eigentümlichkeit an der Ehre und dem Heil des
Stammes gekennzeichnet werden; die Sachsen z. B. nannten ihren
göttlichen Urahnen Saxnot, den Schwinger des kurzen Schwertes,
des Sachses.
Die Familien, die zu historischer Größe aufstiegen, hoben auch
ihre Götter zum Ruhm empor, und in den unruhigen Zeiten der
Überfälle und Kriegszüge stellte die Erhabenheit der Erobererasen
der Wikingerfürsten die heimatlichen Mächte in den Schatten.
Odin riß die Welt mit, weil er die Kriegerscharen über die See
führte und kleine Gaukönige vom Hochsitz ihres Vaters als Ge­
bieter ganzer Völker auf den königlichen Thron erhob; die
Erhöhung dieser Gottheit der Franken zeigt, wie wertvoll das
geistige Bündnis mit den mächtigen Eroberern im Süden für die
ehrgeizigen Häuser des Nordens war. Die Loslösung der Wiking­
abenteurer vom heimatlichen Boden und die Wandlung der alten
Ehre zu einem unersättlichen Durst nach Ruhm inspirierten die
Dichter dazu, Himmel und Erde im Gleichnis der königlichen
Methalle umzugestalten und den Gott in ihren Hochsitz zu setzen
nach der Art der Eroberer, die in fremden Ländern saßen und
ständig neue Unternehmungen zu Wasser und zu Lande planten-

255
Die Vorherrschaft der Erobererkönige in der W ikingerzeit und
der überwältigende Einfluß, den ihre H öfe auf die Literatur aus­
übten, haben Odin und das Pantheon von Valhall so sehr in den
Vordergrund der hinterlassenen Mythologien gerückt, daß durch
die göttliche Familie, die gleich irdischen Königen einen H o f hält,
die ehrwürdigen Mächte der Häuptlinge und Gaukönige über­
schattet wurden und ihre Namen der Vergessenheit anheimfielen.
In einigen Fällen durften die örtlichen Götter am Leben bleiben,
weil sie als Folie für die strahlenden Neuankömmlinge gebraucht
werden konnten, indem sie zu Halbtrollen oder Jöten reduziert
wurden. Und manchmal werden sie sogar vollständig in eine Art
von Dämonen verwandelt, was natürlich besagt, daß ihre Verehrer
nur wilde Horden waren, wie wir sie jetzt benennen würden. Ein
deutlicher Fall ist der der Göttin Skadi, die zur Tochter eines Jöten
gemacht wird; ihre Ortszugehörigkeit und Stellung unter den
Häuptlingen des nördlichen Norwegens ist genügend in ihrer
Eigenschaft als Skiläuferin und Jägerin angezeigt und weiter durch
die Tatsache, daß sie in den Genealogien solcher Stämme wie der
der Jarle auf H ladir auftritt. Eine andere Göttin hat hartnäckig
ihren Platz im Gedächtnis der Menschen behauptet, obsdion sie
nie zum höfischen Pantheon in Beziehung gesetzt wurde: Thor­
gerd Hölgabrud. Der Grund ihrer isolierten Dauerhaftigkeit liegt
nahe: sie ist die Schutzgöttin der Jarle auf H ladir und wird durch
deren trefflichsten Sohn, Jarl Hakon, in die Geschichte eingeführt,
der mit den Königen auf den Thronen wetteiferte und lange Zeit
ganz Norwegen regierte. Aber man weiß nur wenig über diese
Tatsache außer dem Hinweis, der in ihrem Namen verborgen ist,
der einfach bedeutete: die Frau der Männer von H alogaland oder
die Frau von Hölgi (dem heros eponym os der Gegend). Wie wir
gesehen haben, wußten die christlichen Sagamänner noch, daß der
Speer, „der H ölgi gehört hatte“ , in einem Tempel ruhte, der
Thorgerd geweiht war und dem Ja rl Hakon gehörte. Thorgerd
ging mit dem auswandernden Zweig des Geschlechts nach Island,
wie wir zufällig aus einer Saga erfahren; denn es wurde erzählt,
daß Grimkel die Göttin in seinem Tempel hatte, und wir wissen,
daß er von dem berühmten Geschlecht der Jarle abstammte.
Die wenigen Benennungen, die aus den nordischen Quellen ge­
sammelt werden können, vermehren sich durch die Andeutungen,
die manchmal in lokalen Namen verborgen liegen, und noch mehr
durch Denkmäler und klassische Nachrichten über die Volks-

256
Stämme, die an den Grenzen des römischen Reiches wohnten und
die oft in Roms Legionen Dienst nahmen; da aber jede historische
und mythologische Aufklärung fehlt, sind die Namen für uns nur
leere Worte. Sie mögen insofern das Interesse erregen, als sie das
Bild ein wenig färben, das wir indirekt aus der volkstümlichen
Literatur von Geschlechtern und Völkern zusammenstellen können,
von denen jedes innerhalb der eigenen Heimat und des eigenen
Heiligtums die Mächte seiner Vorfahren verehrte; sie mögen so
mithelfen, ein für allemal die Chimäre eines gemeinsamen ger­
manischen Pantheons oder eines Systems von mythologischen Lehr­
sätzen, das überall im germanischen Gebiet Allgemeingültigkeit
gehabt haben soll, zu zerstören.
Eine besondere Klasse in der Welt der Götter bilden die gött­
lichen Wesen, die nur Personifikationen einer Phase im Kult sind.
Während des Blotes ist alles mit Göttlichem durchtränkt, und alle
Handlungen oder Zustände können sich zu der persönlichen Er­
scheinung einer göttlichen Macht kristallisieren oder, mit anderen
Worten, jede auftretende Person ist eine Personifikation der gött­
lichen Handlung, die durch ihre Einwirkung zustandekommt. Die
Götter Hoenir und Lodur, denen wir in der Schöpfungssage be­
gegneten, sind blasse Gestalten, wie wir sagen, weil sie kein
Dasein über den kultischen Dienst hinaus haben, der notwendig
ist, um das Opfer zu vollführen. Die interessanteste Person unter
diesen Kultgestalten, weil verhältnismäßig wohl bekannt, ist
Heim dal. Sein Charakter ist genügend durch seinen kultischen
Beinamen angezeigt; er wohnt im Opfer, denn er wird der Ge­
hörnte genannt und dadurch mit dem ursprünglichen und häufig­
sten Opfertier, dem Widder, identifiziert. Er ist von neun Müt­
tern geboren, deren Namen in mythologischen Verzeichnissen
bewahrt sind; unter diesen befindet sich die Jötin, die von Thor
bei seinem Besuch in Geirröds Viehstall getötet wurde, und man
kann mit Sicherheit vermuten, daß alle neun Schwestern Personi­
fikationen irgendeines Vorganges beim Blote sind. Der Mythos
von seiner Geburt beschreibt dann die buchstäbliche Wahrheit, daß
der Gott durch die Vorbereitungen zum Feste ins Dasein gerufen
wird. Er wird vom Blut des Opfers und von dem Megin der Erde
ernährt, d. h. er wächst während der Zubereitung des Fleisches
und des Opferherdes. Er ist der Wächter der Götter am Rande
der Welt; er ist der Vater der „heiligen Schar“ , die sich in der
Blothalle versammelt. Heimdal ist das Blot selbst, die Stille und

257
der Friede, nicht im modernen abstrakten Sinne, sondern als die
Macht, die im Hause weilt und die in die Menschen eingeht, sie
zu gegenseitiger Nachsicht zwingt und zu sorgfältiger Beobachtung
der notwendigen Regeln für die glückliche Durchführung der
Opferhandlungen; er ist der Geist, der gegen U nfälle und Über­
griffe von seiten der dem Blot feindlichen Mächte schützt und der
am Rande der W elt oder des kosmischen Herdes wacht. Wir
müssen hieraus schließen, daß der Hirnschädel des Opfertieres
nahe bei oder auf die Feuerstätte hingelegt wurde und eine sym­
bolische Rolle im O pferdram a spielte. Und wenn gesagt wird,
daß Heimdals Schwert in der poetischen Sprache sein K opf ge­
nannt wird, ist der Sinn wahrscheinlich der, daß er durch den
Schädel mit den Hörnern daran dargestellt wurde, und daß dieser
Schädel eine kultische Waffe war, die gegen die bösen Mächte
gekehrt wurde. Aber diese symbolische Personifizierung schließt
natürlich nicht die Möglichkeit aus, daß einer der Darsteller seine
Rolle in dem kultischen Dienst gespielt haben mag, genau so wie
der Häuptling, der das Schlachten und den K am pf mit den Jöten
im Viehstall und in der H alle ausführte, Thor verkörperte, den
Gott des Stammes, der im heiligen Hammer wohnte.
Zu dieser Klasse von göttlichen Erscheinungen gehören auch die
Tochter von Thor, Thrudr, die die „K raft“ ist, und Thors Söhne,
Modi und Magni, die sein mächtiger Mut und Entschluß sind. Um
diese Personifikationen zu verstehen, ist es notwendig, sich den
Unterschied zwischen primitiver Psychologie und moderner Ab­
straktion zu vergegenwärtigen und zu erinnern, daß psychische
Zustände als Eigenschaften der Seele erlebt wurden; alle Tugen­
den und Leidenschaften sind mit Persönlichkeit geladen, weil sie
Menschen in einem besonderen Zustand von Mut oder Furcht
vertreten und nicht Leidenschaften, die durch Analyse von der
Unterlage abgetrennt sind, wie in unserer Psychologie. In Modi
lebt der Entschluß, der Thor und seinen menschlichen Vertreter
fortwährend die gefährliche Arbeit ausüben läßt, das geweihte
Tier zu töten und die Dämonen zu bekämpfen.
Unter den Göttern nimmt Loki eine Sonderstellung ein. Seine
Rolle in dem heiligen Dram a ist die des Intriganten, der den
Konflikt auslöst und die Jöten zu dem Angriff führt, der mit
ihrer Niederlage endet. Sein Ursprung und seine raison d'etre
sind rein dramatisch; gleich seinen Mitbrüdern in anderen Ritualen
und Mythologien ist er ein Kind der „Spiele“ , und darin liegt die

258
Ursache für seine doppelte N atur. Als listiger Vater der Kunst­
griffe, dessen Aufgabe es ist, die dämonischen Mächte mit ins Spiel
zu ziehen und ihren Sturz zu bewirken, vertritt er nahezu das
Böse, und er ist somit mythisch mit den unheoren Unholden ver­
wandt, mit denen die Götter ringen; seine Kinder sind die
Schlange, deren H aupt Thor wiederholte Male zerschmetterte,
und der Fenriswolf, der Gegner Odins. Aber als heiliger Agieren­
der, der eine notwendige Rolle in dem großen Heilswerk des
Blotes spielt, ist er - d. h. seine menschliche Personifikation - ein
Gott unter Göttern, wohltätig und unverletzbar. Er ist der
Humorist und Spaßvogel der Riten, bösmäulig und voller Arg­
list. Unter dem Einfluß christlicher Ideen und Legenden ent­
wickelte sich dieser doppelzüngige Urheber schicksalschwerer Be­
gebenheiten zu einer Personifikation des bösen Prinzips im D a­
sein; die Sagen, in denen er eine hervorragende Rolle spielte,
waren ihrem Charakter nach so schwerwiegend, daß sie keinen
besonderen Druck benötigten, um sich zu der Lebensgeschichte
eines boshaften Dämons zu entwickeln. Loki wurde nahezu das
Gegenstück zum christlichen Teufel, aber sein Ursprung machte
ihn dem Vater des Bösen weit überlegen an feinen Abschattungen
des Charakters. Die Eschatologie der Wikingerzeit verdankt es
zum Teil dieser überaus menschlichen und so außerordentlich
dämonischen Gestalt, daß sie eine Tiefe und Größe bekam, in der
sie den strengen Dogmatismus ihres Vorbildes, oder richtiger:
ihres inspirierenden Beispiels, der Apokalypse der christlichen
Kirche, übertraf.

Das Opferfest liegt nun in seiner ganzen Tiefe offen vor uns.
Das Blot ist die Verklärung des Lebens, und wir werden uns nicht
wundern, wenn wir sehen, daß die Stimmung der Teilnehmer alle
Abstufungen des Lebens umfaßt. Das Fest stellt eine Hemmung
im Strom der Geschehnisse dar, es bewirkt, daß das Leben an­
schwillt und den Menschen mit seiner Kraft erfüllt, bis er beinahe
aus seinem Sitz gehoben wird.
Die große Spannung in den Seelen besagte, daß das Heil weit
über das tägliche Maß hinaus eine Kraft in den Menschen ge­
worden war, daß die hohe Heiligkeit nach seinem Willen in ihnen
herrschte und ihnen keine Freiheit ließ, nach den zufälligen Im­
pulsen des Augenblicks zu handeln. Alle Bewegungen der Seele
und des Körpers waren stärker als gewöhnlich, aber auch gewich-

259
tiger. Die Heiligkeit band sie. Die Menschen bewegten sich in der
täglichen Heiligkeit wie in etwas Großem, das ihnen gemäß war.
Das Leben im Feste wurde als das weit Größere, sie Überschat­
tende empfunden.
Jede Handlung und jedes Wort ist ewig, und sie wirken nicht
wie bei der alltäglichen Beschäftigung auf einen begrenzten und
einzelnen Gegenstand zu einem besonderen Zweck, sondern wie
wir sagen würden: sie wirken als U rbild; sie gehen von der
H am ingja als einem Ganzen aus und beeinflussen ihr Schicksal
als ein Ganzes. D as Blot ist Schöpfung im tiefsten und weitesten
Sinne des Wortes. Im Opfer ziehen die Menschen die Götter in
sich hinein und schöpfen den lebenspendenden Trank aus der
Quelle der H am ingja; und auf der anderen Seite erschaffen sie die
Götter und das Leben selbst. Durch das Schlachten und das Essen
nehmen sie die dem Leben des heiligen Tieres innewohnende
H am ingja in sich auf, aber nichtsdestoweniger erschaffen sie die
Herden und lassen sie in ein neues und fruchtbares Dasein ein-
gehen. Wenn alles gesagt ist, zeigt sich die Wahrheit: das Blot
besteht nicht darin, daß Menschen Götter erschaffen oder Götter
Menschen erschaffen, sondern es ist ein Schöpfungsakt, aus dem
Götter und Menschen und alle Dinge hervorgehen. Die grund­
legende Erfahrung des primitiven Lebens, die sich oft unmittelbar
in dem Geist und der Morphologie der Sprache ausdrückt, ist:
Sein und Werden, Handeln und Leiden - wogegen sich das Leben
für uns um das Individuum konzentriert, das ist oder wird, das
handelt oder leidet; unser Satz hat seinen Mittelpunkt in einem
Subjekt, das das Verbum beherrscht, aber hinter dieser Sprache
liegt ein anderes System, in welchem das Verbum die Seele ist
und der Mensch viel eher Erscheinung und Medium als Subjekt.
Die beste Erläuterung dieser Auffassung ist in den nordisdien
Wörtern enthalten, die die Götter bezeichnen: rá d und regin , die
beide Neutra sind und Macht oder Ham ingja bedeuten, die Mächte,
die die Eigenschaft der Persönlichkeit besitzen, aber persönlich
sind durch etwas, das tiefer und weiter ist (vgl. II 249).
Es war noch etwas darüber hinaus: eine feierliche Spannung,
die jede kleine Einzelheit in den Handlungen der Kultgenossen
begleitete, weil eine Zukunft, deren Umkreis die Welt war, und
deren Tilgung die Zertrümmerung dieser Welt bedeutet hätte,
allmählich durch die Zeremonien aus der Welt der Möglichkeit
in die Welt der Wirklichkeit verschoben wurde. Von Mann zu

260
Mann wanderte das Horn durch die H alle, der eine nach dem
anderen unter den Anwesenden richtete den Blick nach ihm, und
die Stimme des stehenden Trinkers klang durch eine erwartungs­
volle Stille; ob seine Worte ohne Stottern von den Lippen flössen,
ob er richtig trank, ob er den ganzen Becher leerte, diese Dinge
entschieden Heil und Ehre.
Spannung war in dem Opfer, aber keine Furcht. Gewißheit in
bezug auf Mittel und Zweck war eine Notwendigkeit für den
Blotmann. Er konnte nicht vortreten und sein Formadi sprechen,
wenn er nicht das in sich empfand, was die Worte ganz, heil
machte; sobald er die Welt nicht meistern konnte, war die Blot­
zeit für ihn und sein Geschlecht für immer vorüber. Aber die
Gewißheit war voll von starker, religiöser Glut, weil sie von dem
Willen und von der Kraft der Menschen abhing, sich einer end­
gültigen Ordnung der Dinge zu fügen, die für den, der in der
Mitte stand, Stärke bedeutete, aber für jeden, der einmal das
Gesetz kreuzte, den Tod.
All dies enthält das Wort Blot. Seine latente Inbrunst spürt
man, wenn man beobachtet, wie es der Erfahrung des Christen­
tums dient. Die meisten Stämme schafften es ab, da es viel zu
stark mit alten Vorstellungen und Gefühlen durchtränkt war;
aber die Goten stellten es in den Dienst des neuen Gottes, indem
sie das Verbum blótan für die Verehrung Gottes durch einen hei­
ligen Körper, der Gott gefällig war, verwandten und es auf Anna
bezogen, auf die Prophetin, die mit Fasten und Beten Nacht und
T ag Gott diente, und auf die heiligen Anbeter Gottes, die seinen
Willen tun.
Eine eigene Stille war beim Blot geboten.
Die Andacht des Blotfestes verklang nicht in Unachtsamkeit.
Wir finden einen Widerhall in den mittelalterlichen Gildegesetzen
über die Trinksitten der Brüder. An alles wird sorgsam gedacht:
zu allererst soll der Minnebecher ohne Unterbrechung herum­
getragen werden, alle sollen in ruhiger Erwartung sitzen und dem
Vorgang ihre volle Aufmerksamkeit schenken, weder ihre Plätze
verlassen, noch während der Feier sich auf den Bänken schlafen­
legen, die einzelnen sollen sich erheben und richtig und vollständig
die religiöse Pflicht mit dem Becher vollführen, bevor sie sich
wieder hinsetzen; es besteht auch eine Vorschrift für den Fall,
daß jemand den Minnebecher aus der H and gleiten ließe oder es
ablehnte, ihn zu nehmen, wenn der Nachbar ihn ihm reichte, oder

261
daß er sich weigerte, aufzustehen und die Minne zu feiern, wenn
er angeredet würde, wie auch für den Fall, daß er mit angelegtem
Dolch und bedecktem H aupt auf der Diele stände und die Minne
spräche. In diesen Befehlen, die das betreffen, was getan und was
gemieden werden soll, wenn die Minne gesegnet oder gesungen
wird, steckt die Ehrfurcht vor dem Kult. In der T at kann der
Umstand, daß die Schicklichkeitsregeln aufgezwungen oder im
N otfall durch Strafe aufrechterhalten werden mußten, nur den
Eindruck verschärfen, den sie auf uns machen; denn viele der
Regeln waren rein traditionell, so daß ihre Einhaltung nur eine
tief eingedrungene Gewohnheit bezeugt.
Aber die Stille mußte ein genaues Gegenstück im festlichen
Lärm haben, im lauten Jubel über den Sieg des Lebens. Das Ge­
lage mußte mit Macht getrunken werden, alle mußten fühlen, daß
der Gott im Hause war. Wenig Freude war bei dem Feste, so
klingt die Klage über ein mißlungenes Blot.

Als Symbol für das Minnetrinken können die Einleitungsverse


der eddischen Sigrdrifumal Aufmerksamkeit erheischen. Sie sind
eine poetische Phantasie über den K ult des Lebens, verallgemei­
nert in dem Bilde zweier Helden, d. h. typischer Menschen, unter
den heilig mächtigen Formen, die ihre Kultur zusammenhielten.
Als Sigurd die Brünne der Sigdrifa mit seinem Schwert zer­
schnitten und sie dadurch aus ihrem Zauberschlaf erweckt hatte,
setzte sie sich auf, sah den Mann an und sagte:
„W as traf meine Brünne? Was löste mich aus dem Schlaf? Wer
freite mich aus dem schlummer-blassen Bann?“
Er antwortete:
„D as tat Sigmunds Sohn und Sigurds Schwert - eben hat es den
Raben ein Fest bereitet.“
Dann fragte er nach ihrem Namen, worauf sie ein Horn mit
Met nahm und ihm einen Minnetrank reichte:
„Heil T ag, Heil T ags Söhnen, Heil Nacht und der Schwester
der Nacht; mit milden Augen schaut hernieder und gebt denen
Sieg, die hier sitzen.
Heil Asen und Heil Asinnen, Heil dir, vielnützliche Erde, gib
R at und Rede uns Edelingen beiden und heilende Hände, solange
wir leben.“
Dieses Wort heill zu übersetzen, durch welches den Göttern

262
Glück gegeben wird, und durch das sie um Glück gepriesen
werden - das bedeutete, unsere Kultur in jene zu übertragen, die
in ihrer späten Blüte diese Verse geschaffen hat.

263
Exkurs über das kultische D ram a

Das primitive Drama


Es ist eine beinahe hoffnungslos schwierige Aufgabe, die Kultur
und die Religion eines primitiven Volkes in moderner Sprache
schildern zu wollen. Unsere Worte sind nicht fähig, Vorstellungen
wiederzugeben, die nicht nur inhaltlich, sondern auch der Dimen­
sion nach von den unsern abweichen. Wenn wir versuchen wollen,
das Gedankenleben jener Völker wiederzugeben, müssen wir zu­
nächst unsere eigene Psychologie verlernen und eine andere er­
lernen, die nicht weniger auf Vernunft gegründet und doch prin­
zipiell von ihr verschieden ist. Primitive Vorstellungen, Gefühle
und Empfindungen haben eine ganz eigentümliche Harmonie und
Spannung, weil im primitiven Volke die geernteten Erfahrungen
von anderem Gesichtspunkte aus verwertet und auf Grund einer
uns fremden Anschauungsweise ins Bewußtsein auf genommen
werden, um eine Wirklichkeit aufzubauen, die so weit von der
unsrigen verschieden ist, daß Worte wie Gott und Mensch, Leben
und Tod, so wie wir Europäer sie verstehen, in ihrer Sprache
keinen Sinn haben.
Lieber als die Bezichnung „prim itiv“ — der die falsche V or­
stellung von etwas Anfänglichem und daher weniger „Entwickel­
tem“ anhaftet - möchte ich vorschlagen, das Wort „klassisch“ zu
benutzen, um die Kultur zu bezeichnen, die uns bei den alten
Völkern in Griechenland, Rom und Indien und heute noch bei
Völkern außerhalb der Grenzpfähle der europäischen Zivilisation
begegnet.
Der Gegensatz zwischen klassischer und moderner romantischer
Kultur tritt am deutlichsten in dem Umstand hervor, daß die
erstere eine Auffassung von Zeit und Raum voraussetzt, die mit
unseren elementarsten Begriffen unvereinbar ist und zu unserem
Erleben in schroffem Widerspruch steht. Für unsere Erfahrung
ist die grundlegende Eigenschaft eines Körpers Ausdehnung, aber
in der klassischen Kultur herrscht grundsätzlich die Vorstellung

264
von einer K raft oder schlechthin von Leben. Die Erde ist nicht in
erster Linie die Ausdehnung des fruchtbaren Bodens, sondern die
Fruchtbarkeit selbst, und die Wirklichkeit der geräumigen Erde ist
ebenso vollständig in einem Erdklumpen, den ich in der H and
halte, wie in den weitgedehnten Feldern vorhanden; ein Mund­
voll Wasser ist Wasser in demselben Sinne wie alle Flüsse und
Ozeane der Welt. So ist auch Zeit für unsere Erfahrung ein Strem
von Begebenheiten, aus unbekannten Nebeln des ersten Beginns
unaufhörlich in eine Zukunft, in das Unbekannte, hinabflutend.
Aber für die Menschen des klassischen Zeitalters war wirkliches
Leben das Resultat eines wiederkehrenden Anfangs und hatte
seinen Ursprung in dem religiösen Fest. Das Fest ist für sie eine
Schöpfung oder eine Neugeburt außerhalb der Zeit, es könnte
ewig genannt werden, wenn das Wort nicht wie alle anderen
irreführend wäre und ungeeignet, eine Erfahrung von vollkom­
men anderem Charakter wiederzugeben. Wenn der Gode oder
der H äuptling die kultische Furche pflügt, wenn man die erste
Saat sät, während der Mythos von der Entstehung des Korns
feierlich gesprochen wird, wenn die Krieger das Kriegsspiel auf­
führen, wird Geschichte gemacht, wird wirkliche Arbeit getan, ein
wirklicher K am pf gekämpft, und wenn nachher die Männer mit
dem Pflug, der Saat oder den Waffen ausziehen, verwirklichen sie
nur, was schon in der kultischen Handlung geschaffen wurde. Mit
der Vergangenheit verhält es sich ähnlich wie mit der Zukunft: die
religiösen Handlungen schaffen Wirklichkeit, und das Leben er­
langt Wirklichkeit, insofern es die Erfahrungen, die in der Welt
der Götter gemacht wurden, in aufeinanderfolgenden Ereignissen
und endgültigen Einzelheiten entfaltet. Während des Festes be­
herrschen die Götter die ganze Stätte, alles ist von göttlichem
Leben, von Schöpfungskraft erfüllt: die Menschen und ihr Besitz,
das Haus, in welchem das Opfer gebracht wird, die Zeit von der
Eröffnungsfeier an bis zur letzten Weihehandlung, alle H and­
lungen sind ewig und kraftgeladen, wie ein Samenkorn, das in
seinem Kern die künftige Pflanze birgt. Die feierlichen H and­
lungen mögen an Heiligkeit verschieden sein, aber sie sind von
gleicher A rt: alle geben sie den Zügen der Zukunft ihr unaus-
löschbares Gepräge. Die Trächtigkeit des Lebens während des
Festes ist erkennbar an der gespannten Sorgfalt der Festteilnehmer
und drückt sich in strengen Regeln aus, die jedes Tun, das der
Zukunft schädlich werden könnte, ausschließen. Der Weg der

265
Blotenden ist sowohl durch Verbote wie durch Anordnungen und
Befehle bezeichnet, es ist ein Weg, der zu Freude und Stärke
führt, aber er ist durch Tabus abgesteckt, welche zu vermeidende
Gefahren bezeichnen.
Die klassische Kultur ist deshalb ihrem Wesen nach aktiv. Für
unsere Erfahrung sind Zeit und Geschichte gegebene Tatsachen: sie
sind Schicksal und verketten das Leben des Einzelnen mit dem
Leben der Vorfahren. Die Zeit ist ein Strom von Begebenheiten,
und wir können nicht verhindern, daß wir Wogen dieses Stromes
sind, die durch das bloße Gewicht der Vergangenheit vorwärts­
getragen werden. Der urtümliche Mensch fühlt die Bedeutung der
vergangenen Begebenheiten ebenso stark wie wir, und er erkennt
ihren entscheidenden Einfluß noch stärker, aber für ihn ist die
Vergangenheit Energie. Er empfängt freudig sein Schicksal oder
vielmehr das Schicksal seines Volkes, wie es sich in seinen V or­
fahren offenbart, als seinen eigenen Willen, und anstatt auf die
Vergangenheit zu reagieren, handelt er von ihr aus und formt sie
neu zu lebendiger Wirklichkeit.
Daraus folgt, daß seine Religion wesentlich dramatisch ist; seine
Frömmigkeit zeigt sich nicht in Ergebenheit und Unterwürfigkeit,
in Beten und Empfangen, sondern in Handlung. Das Leben muß
gewonnen, der Tod, die Sünde, das Böse müssen besiegt werden.
Einen wahren Begriff von dieser Eroberung des Lebens erhalten
wir, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß klassisches Denken in
seinem innersten Wesen konkret ist; für unsere Erfahrung ist das
Leben etwas Abstraktes, Kraft oder Energie, die in vielen ver­
schiedenen Formen auf treten, aber für die klassische Kultur be­
deutet Leben „H eil und Ehre“ . D as Leben offenbart sich im
Charakter der Sippe, in ihrer Geschichte, in ihren ererbten Freund­
schaften und Feindschaften gegen andere Kreise von Menschen und
in ihrem individuellen Verhältnis zu den Mächten und Wesen der
N atur. D as Fest schließt die Geschichte der Sippe oder des Volkes
in sich ein, und zwar vom ersten Anbeginn an bis zu dem Festtage
selbst, in eine einzige erschütternde Handlung zusammengezogen.
So wird das Leben neugeschaffen, nicht als plastische Möglichkeit,
als Ton, der zu irgendeiner Form geknetet werden kann, sondern
als Schicksal, als eine bestimmte Reihe von Begebenheiten, Krieg,
Wirtschaft, Heirat, Geburt oder Gründung von Freundschaften,
wie sich die Geschichte in die Zukunft fortsetzte. Derjenige, der in
der kultischen Handlung den K am pf führt, ist der Gott, ist die

266
Sippe, in einem Helden personifiziert, wie wir sagen würden, und
sein Gegner, durch den Jöten verkörpert, ist nicht nur ein Einzel­
feind, sondern stellt alle Feinde des Volkes dar, die geistigen so­
wohl wie die materiellen; wenn Thor den Jöten zerschmettert
oder Indra den Vrithra erschlägt, sind in diesen Taten alle die
Kriege enthalten, die im Gedächtnis der Sippe leben, und der
Erfolg sichert ihr die Wiederholung ihrer Siege in der Zukunft.
Der Gott kämpft den K am pf kat* exochen und gewinnt den Sieg
k a t' exochen. D a unsere Wörter außerstande sind, die Ganzheit
oder den Reichtum der klassischen Erfahrung auszudrücken, sind
wir genötigt, sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus begriff­
lich zu bestimmen, z. B. indem wir die Vorgänge beim Feste
„urbildlich“ nennen. Um die Fülle, die ewige oder universelle
K raft des Festes auszudrücken, sind wir versucht, sie gleichsam
durch Abschälung auf annehmbare Begriffe zu reduzieren, z. B.
indem wir sagen, daß der K ult eine Art göttliche Handlung oder
Begebenheit darstellt, während er zugleich die Geschichte der
Sippe symbolisiert. Dies ist vielleicht unser einziger Weg, wenn
wir uns der klassischen Erfahrung nähern wollen, aber nichts­
destoweniger haben wir durch eine solche Erklärung rettungslos
den Sinn der kultischen Handlung mißdeutet und die organische
Ganzheit ihres Gedankens zerstört. Das religiöse Prinzip erlaubt
weder eine Analyse nach unserer Art noch eine Übertragung in
unsere historischen Formen.
Die kultische Handlung ist von vornherein durch den aktiven
Charakter der klassischen Kultur bestimmt. Es gibt in Wirklich­
keit keine besonderen religiösen Formen in dem Sinne, daß
fromme Andacht Handlungen und Gesten schüfe, die nur der
Verehrung angehörten. Die kultischen Handlungen sind lediglich
Vorgänge des täglichen Lebens: Essen, Trinken, Arbeiten, Jagen,
Pflügen, Käm pfen - alle durch das Fest emporgehoben und in
ewige, urbildliche, trächtige Handlungen gesteigert. Tatsächlich
wird aus jeder Handlung, die während der geheiligten Zeit aus­
geführt wird, eine kultische Handlung. Wenn die Umstände es
erfordern, daß die Teilnehmer sich von einem Ort zum anderen
bewegen, wird ihr Gang eine Prozession, ein schöpferischer
Marsch; wenn ein Gerät in eine andere Lage gebracht werden soll,
entsteht eine heilige Handlung von religiöser Bedeutung; wenn
die Teilnehmer beim Essen und Trinken zusammensitzen, gestaltet
sich das Mahl zu einem Sakrament. Die religiösen Formen variie-

267
ren nach dem Charakter und den Gewohnheiten des betreffenden
Volkes. Bei Jägervölkern werden Vorgänge der Jag d wieder­
gegeben, bei Bauern Bilder des Pflügens, Säens und Erntens, bei
Hirtenvölkern die Opfergelage und bei Kriegern einzelne A uf­
tritte aus dem K am pf, kurz gesagt, der K ult wiederholt die Ge­
schichte und das tägliche Leben des Volkes in den größeren Dimen­
sionen der Heiligkeit. Das herrschende M otiv des Dramas bei den
arischen Völkern ist der K am pf: der große Wettstreit zwischen
den Göttern oder den lebenspendenden Mächten und den Jöten,
die unaufhörlich eine Gelegenheit suchen, T od und Zerstörung zu
säen und die ganze schöne Welt in eine wüste Einöde zu ver­
wandeln.
Die Verschiedenheit der Erfahrung bewirkt einen radikalen
Unterschied in den tragenden Grundlagen des klassischen und des
modernen Dramas. Ein modernes Schauspiel ist aus einer Reihe
von Begebenheiten auf gebaut, die vor den Zuschauern chronologisch
abgerollt werden, und wir betrachten sie mit derselben erwar­
tungsvollen Anteilnahme, mit der wir einen Vorgang auf der
Straße im V erlauf seiner Entwicklung beobachten; wir erwarten,
daß uns eine neue Geschichte erzählt werden wird, daß uns Per­
sonen vorgestellt werden, die uns bis dahin fremd waren, und
daß wir in ihr Schicksal eingeweiht werden, indem wir ihrem
Gespräch und ihrem Zusammenspiel folgen. Mit eifrigen Blicken
betrachten wir sie, und gespannt erwarten wir zu erfahren, wie
die Katastrophe vorbereitet, auf welche Weise der Konflikt ge­
schürt und schicksalhaft gestaltet und wie das Problem gelöst
wird. Im kultischen D ram a gilt das Umgekehrte, denn das klas­
sische D ram a setzt voraus, daß die Fabel den Teilnehmern gegen­
wärtig ist, die Zuschauer brauchen weder Aufklärung hierüber
noch nähere Angabe des Themas, denn das D ram a ist ihre eigene
Geschichte, und seine Entfaltung geht aus ihrem eigenen Schicksal
hervor. Sie sind in Wirklichkeit nicht Zuschauer, sondern A uf­
tretende, und durch ihre Anwesenheit entsteht das Schauspiel. Sie
sind nicht gekommen, um zu erfahren, wie die Geschichte ver­
läuft, sondern um sie zu erleben und sie bis zu ihrem glücklichen
Ende durchzuführen. Sie wissen genau, was geschehen soll und wie
es enden soll, und sind doch alle für eine Durchführung verant­
wortlich, die eine mögliche Katastrophe in einen Sieg des Lebens
verwandelt. D a ist kein Raum für ein Gefühl wie unsere N eu­
gierde, und an Stelle unserer eifrigen Erwartung ist eine Anteil­

268
nähme von viel stärkerer Spannung getreten, denn sie erwarten
mit angehaltenem Atem, daß die Geschichte sich selbst verwirk­
liche und siegreich in ein neues, machtvolles Dasein hineinschreite.
Es ist im Wesen des kultischen Dramas begründet, wenn es in
seiner äußeren Gestaltung vollkommen von dem abweicht, was
uns natürlich erscheint. Das moderne Drama erhebt sich in seinem
Verlauf, von der Exposition durch den Konflikt bis zur Lösung,
wie ein fest geschwungener Bogen, wogegen dem kultischen Drama
eine innere Kraft und Verdichtung eigen ist, die in keiner uns
bekannten Form ihresgleichen findet. Wenn wir uns von dieser
Darstellungsweise einen klaren Begriff bilden wollen, müssen wir
in der klassischen Kultur selbst eine passende Illustration sudien
und uns ins Gedächtnis rufen, daß das Leben dort nicht an eine
bestimmte Erscheinungsform gebunden, noch als Wirklichkeit von
einer sichtbaren Manifestation abhängig ist, sondern als eine Kraft
existiert, die eine außerordentliche Fähigkeit besitzt, in Gestalten
zu erscheinen, die den Sinnen wahrnehmbar sind. Das kultische
D ram a entwickelt sich nicht etwa im Gehege des Festes, nein, das
Fest selbst ist das Drama, und sein ganzer Inhalt ist in jedem
Augenblick gegenwärtig und erscheint während des Festes in jedem
einzelnen Auftritt. Wenn etwa die vedischen Kultteilnehmer das
O pfer töten, wenn man dessen Fleisch beim Kultmahl verzehrt,
wenn Soma ausgepreßt, herumgereicht und getrunken wird, so
wird bei jedem dieser Vorgänge den Teilnehmern Indras K am pf
lebendig gemacht.
D a Fest und Dram a identisch sind, muß jede für praktische
und kultische Zwecke notwendige Handlung den ganzen drama­
tischen Vorwurf ausdrücken. Die Wendung einer H and, das A uf­
blitzen eines Messers, das Aufheben des Opfers vom Boden, die
Zerlegung des Fleisches - alle diese Dinge spielen eine Rolle.
Infolgedessen wird ein außenstehender Zuschauer nie imstande
sein, die Bedeutung der Bewegungen sofort zu erkennen. Er ist
darauf angewiesen, den Sinn zu erraten, es sei denn, daß er ihn
auf Grund von positiven Mitteilungen der Eingeweihten erklären
kann. Das kultische Dram a besteht also zum großen Teil aus
symbolischen Handlungen und gibt keineswegs eine realistische
Darstellung, aber die feststehenden Gesten gehen allmählich in
nachahmende Bewegungen und Stellungen über, die mehr oder
weniger an das Spiel auf unsern Bühnen erinnern. Daher läßt sich
auch unsere Unterscheidung zwischen symbolischer Darstellung

269
und realistischer Nachahmung für das kultische D ram a nicht au f­
rechterhalten. Die Wörter „Sym bol“ und „symbolisieren“ sind an
sich schon geeignet, Irrtümer hervorzurufen, insofern sie oft genug
nur eine erdichtete oder zufällige Parallele zwischen Form und
Inhalt bezeichnen. A uf den folgenden Seiten dient das Wort
Symbol daher nur dem praktischen Zweck, solche dramatischen
Gesten und Gegenstände zu bezeichnen, deren Bedeutung dem
Uneingeweihten nicht verständlich ist.
Aus dem auf gestellten Satz: „D as Fest ist das D ram a“ folgt
ferner, daß in der kultischen H andlung keine Grenzlinie zwischen
den Auftretenden und den Geräten gezogen werden kann. Der
Gott mag durch einen Mann verkörpert sein, es ist aber auch
möglich, daß er in der Gestalt eines Schädels, eines W idderkopfes,
eines Hornes oder irgendeines anderen Gegenstandes erscheint, der
auf der geheiligten Stätte ruht, und daß er sowohl in dieser Ge­
stalt als auch in dem Spiel und den Bewegungen der Blotenden
auf tritt.
In der klassischen Kultur bilden H andlung und Rede die T o ta­
lität des Dram as, so daß keins von beiden fortfallen konnte, ohne
daß das Dram a selbst auseinanderfiel oder sich auflöste. Unsere
Spiele sind auf dem Grundsatz aufgebaut, daß die Worte den
Inhalt oder die Handlung enthalten, und zwar so, daß der Leser
die Geschichte der Personen vollkommen kennen würde, wenn er
den Dialog läse; das Schauspiel wird auf geführt, um die Bege­
benheiten, die in den Worten vorausgesetzt sind, ans Licht zu
bringen. Im primitiven D ram a ergänzen Spiel und Rede einander
so innig, daß das D ram a gerade durch dieses Ineinandergreifen
entsteht.
Der Inhalt und das Ziel des kultischen Dramas werden in einer
Sage wiedergegeben, die beinahe als das Programm des Spiels
bezeichnet werden könnte. Die Sage wiederholt die Geschichte, wie
sie wirklich geschehen ist, das heißt, wie sie während des Festes
auf der kultischen Szene feierlich dargeboten wird. Für Augen,
die an andere Formen der Überlieferung gewöhnt sind, mag es
den Anschein haben, daß die Sage wirkliche Begebenheiten mit
anderen Bestandteilen vermischt. Eine eingehende Prüfung der
klassischen Geschichte im Gegensatz zu modernen Berichten über
die Vergangenheit würde aber einen Unterschied aufdecken, der
nicht in voneinander abweichenden Uberlieferungsformen besteht,
sondern von unvereinbaren Arten des Erlebnisses herrührt. Unsere

270
historischen Begebenheiten bewegen sich im Tempo der Chrono­
logie vorwärts, die klassische Geschichte dagegen ist eine ewige
schöpferische Wiederholung, die im Feste vor sich geht und eine
Erneuerung des täglichen Lebens bewirkt. Unsere Vergangenheit
wird als eine Reihe von Tatsachen aufbewahrt, und diese sind in
sich abgeschlossen, unveränderlich und nach den Daten wie ge­
trocknete Beeren auf Fäden gezogen; die klassische Geschidite
aber lebt und atmet, sie wird dauernd in neuen Kombinationen
und neuen Harmonien der Erfahrung verwirklicht, wie es bei
lebendigen Dingen und Wesen der Brauch ist. Diese Geschichte ist
es, die sich im D ram a und in der Sage offenbart. Jede neue Art
des Erlebnisses schafft sich, ihrem Bedarf entsprechend, ihre eigene
Form, und selbstverständlich können diese Formen nicht gegen­
einander abgewogen werden, und keine Analyse, keine Formel
oder Theorie dessen, was man den primitiven Seelenzustand nennt,
vermag sagenhafte Geschichte in einen chronologischen Bericht zu
verwandeln. Die Auslegung der Mythen durch die europäische
Analyse trifft weit vom Ziel, weil der Analytiker gewöhnlich
seine eigene historische Auffassung auf den Sagenerzähler über­
trägt, als ob es für den klassischen Menschen möglich gewesen
wäre, aus sich herauszugehen und sich selber von außen zu be­
trachten. Der Ethnologe betrachtet den Mythos als ein Stüde bild­
licher Verkleidung oder als Notbehelf und sucht nach einem
Körnchen Tatsache unter den Verzierungen der mythischen Phan­
tasie, als ob diese wissenschaftliche Behandlung bewirken könnte,
daß der „prim itive“ Mann fähig würde, seine eigenen Vorstellun­
gen und Gefühle von einem ihm gänzlich fremden Gesichtspunkt
aus zu prüfen, und sie nur aus Mangel an Zeit und Gelegenheit
zur Entwicklung seiner seelischen Kräfte auf ungeeignete Weise
gestaltet hätte. Sobald der ursprüngliche Charakter der Sage er­
kannt ist, wird die Mythologie einen neuen Standpunkt ein­
nehmen und sich als eine Sammlung wertvoller „historischer
Dokumente“ enthüllen.
Der einzige Weg zur Deutung der Sagen eines Volkes geht über
ein gründliches Studium seiner Erfahrungen und seiner Vorstellun­
gen, oder richtiger gesagt: durch die Erfassung seiner individuellen
Harmonie von Erfahrung und Vorstellung als der Grundlage
seines Lebens und seiner Institutionen. Der Religionshistoriker
wird nicht die Möglichkeit haben, den K ult und die Sagen eines
klassischen Volkes zu erläutern, bevor es ihm gelungen ist, sich

271
selbst mit den Blotenden zu identifizieren — sofern eine Identifi­
kation dem modernen Menschen möglich ist —, ja, bis es ihm ge­
lungen ist, die Dinge mit ihren Augen zu betrachten, Himmel und
Erde, Tiere und Pflanzen neu zu erleben und diese neue Erfahrung
in angemessene Vorstellungen zu kleiden. Keine allgemeine Unter­
suchung der Bräuche und Mythen der „primitiven“ Kultur kann
mehr tun, als den Boden bereiten für eine Untersuchung jedes
einzelnen Volkes als einer Persönlichkeit.
Die Sage ist nicht durch den Kult als eine Erklärung der Ge­
bräuche und feierlichen Handlungen entstanden. Alle Spekulatio­
nen über den Ursprung des Mythos sind zwecklos, denn in den
meisten Fällen entstammt er Zeiten, die so fern sind, daß sie sich
unserm Blick entziehen, auch wenn wir mit den stärksten Fern­
rohren der vorgeschichtlichen Theorien ausgestattet wären. Der
Ursprung des Mythos, seine Abstammung und die Frage, ob er
dem eigenen Boden entsprossen oder von außen hereingekommen
ist, das alles sind Dinge von untergeordneter Bedeutung, denn die
Mythen sind wahr, insofern sie dem Kult einverleibt und in dra­
matische Vorwürfe verwandelt worden sind. Bei der Prüfung des
mythologischen Stoffes stehen wir einem wichtigeren Problem
gegenüber, nämlich dem der Unterscheidung zwischen wahrer
Sage und freierfundenen mythologischen Fabeln oder Erzählungen.
Die letzteren sind nichts anderes als Unterhaltungsgeschichten, wie
sie überall zum lustigen Zeitvertreib erzählt werden mögen, wäh­
rend jene dem Feste einverleibt war und lediglich zu gewissen
Zeiten und vor bestimmten Kreisen von Menschen erzählt werden
konnte. Die norwegische Literatur weist mehrere Proben solcher
Märchen auf, zum Beispiel die Geschichte von Thors Besuch bei
Utgarda-Loki (S E 44). Berichte dieser Art sind ungemein inter­
essant, weil sie die Vorstellungen und Gefühle der Erzähler und
Zuhörer beleuchten. Die Posse von dem Gott, der in dem Netz
von Illusionen zappelt, das die Jöten geknüpft haben, gibt ein
packendes Bild der unheimlichen Erlebnisse des Norwegers in
Utgard. Auch der Form nach tragen solche Fabeln den Stempel
der Vorstellungskraft, die in den Sagen zum Vorschein kommt,
denn die Menschen haben nur eine Vorstellungskraft, die in den
Mußestunden bei Scherz und Spiel sowohl wie in den stark leiden­
schaftlich bewegten Zeiten herhalten muß - und so kommt es, daß
die Bilder der Sage die feierliche Bilderwelt des Kultes angedeutet
haben. Einige der Auftritte in den Geschichten von Thor, wie

272
z. B. die Tötung seiner Böcke, gehen deutlich auf rein kultische
Motive zurück, aber gerade in bezug auf diese Sage ist das Pro­
blem durch die Tatsache erschwert, daß die nordischen Mythen
einer literarischen Behandlung unterworfen gewesen sind. Ver­
mutlich hatte Snorri oder einer seiner Vorgänger seine H and mit
im Spiel, wenn eine lustige Geschichte durch Beimischung von
Zügen aus verschiedenen anderen Quellen in Kunst verwandelt
wurde.
Die Sage entwickelt nicht nur die dramatische Handlung zur
erzählenden Form, sie entfesselt auch die Idee der Handlung, und
damit die Gefühle der Festteilnehmer, ihre Angst, ihre Spannung,
ihren Sieg. Die Bosheit und Feindseligkeit der Jöten, die im
Hintergründe des Dramas wie ein finsteres, drohendes Gewitter
ruhen, das durch die glückliche Vollbringung des Kultes zerstreut
werden soll - sie werden durch die Sage in epische Aktivität ver­
wandelt. Wenn die Götter nicht unaufhörlich die Anschläge der
bösen Mächte vereiteln, wenn sie nicht immer wieder die Welt
aufs neue schaffen, werden die Jöten sie verwüsten, sie werden
Thors Hammer stehlen, die Sonne und den Mond verschlingen
und das Licht der Welt auslöschen, die Göttin mitsamt ihrer
lebenspendenden Speise entführen, das Bier verbergen und alles
unheore, das heißt unheimlich machen, und in der Sage ist diese
entsetzliche Möglichkeit zeitlich verwirklicht, als ob sie schon ein­
getreten wäre und Abhilfe notwendig machte. Wenn die Schlange
nicht immer und immer wieder getötet wird, werden die Bege­
benheiten im Ragnarök, die in der Sage geschildert werden, sofort
eintreten: die Midgardschlange speit nahe und fern Gift und
erfüllt die ganze Luft und das Meer mit ihrem tödlichen Atem,
und der Bericht des Mythos über die Zerstörung des bösen Rates
der Jöten durch den Gott wird lauten wie in den Versen der
Völuspa (25 f.): „Wer hat die Luft mit Gift erfüllt und die Göttin
in das Reich der Jöten entführt? — Thor erhob sich, er bleibt nur
selten sitzen, wenn solche Dinge seine Ohren erreichen.“
In der klassischen Kultur ist die Religion das H erz des Volkes.
Im Feste wird das Leben auf den höchsten Gipfel erhoben; das
kultische D ram a ist eine leidenschaftliche Darstellung des vollauf
genossenen Lebens, das Spiel oder Kunst wird. In der modernen
Zivilisation, wo Kunst und Religion getrennt sind, verlassen die
Menschen ihre Arbeit, um zu spielen; sie geben sich den Spielen
hin, um sich zu erholen, sie lassen das Tagw erk ruhen, um in

273
poetischer Einsamkeit über das Leben und ihre eigenen Seelen
nachzusinnen, Lieder zu singen und Dramen zu dichten, die sich
mit dem Leben befassen. Das Spiel hat seine eigentliche Berech­
tigung darin, daß es absolut ist und in sich selber ruht, mit ande­
ren Worten in seiner Unabhängigkeit von den Gesetzen, die das
wirkliche Leben leiten, also in seiner Unwirklichkeit, die so nach­
drücklich zu Worte kommt in einem Ausdruck wie Vart pou r
Vart, Kunst um der Kunst willen, sei es nun, daß diese Phrase
bedeuten soll, daß die Kunst überhaupt keinen Zweck außer sich
selbst hat, oder daß ihr zugemutet wird, indirekt ein geistiges
Stärkungsmittel zu sein, um Glück und Moral gewöhnlicher Men­
schen zu fördern. Welche Bedeutung man dem Worte audi bei­
legen mag, so ist unser intellektuelles Leben das Leben eines
Zuschauers beim Spiele, und unsere literarischen und künstlerischen
Interessen haben eigene Formen entwickelt; durch diese Zwei­
teilung des Lebens ist die Kunst als selbständige Einheit ent­
standen, und das ästhetische Vergnügen wird geboren - neben
der religiösen Hingabe und also im Gegensatz zu ihr. In der klas­
sischen Religion kann die Kunst nie von der Religion getrennt
werden, weil Religion Kunst an sich ist und dadurch Kunst wird,
daß sie in einer Sphäre weit über den Nöten des Alltags wirkt.
Das kultische Dram a war ein Spiel in einer für uns fremden Be­
deutung, denn es enthielt einen wirklichen Streit, und das Inter­
esse, das es erweckte, beruhte darauf, daß der Ausgang von größe­
rer Bedeutung war als alle weltlichen Entscheidungen, daß seine
Gefahren alle denkbaren Wagnisse des Alltagslebens übertrafen
und seine Auswirkungen weit bedeutungsvoller waren als irgend­
ein praktischer Erfolg. Die Freude am Spiel ist so fest im leiden­
schaftlichen Ernst verwurzelt, daß das Spiel seinen Reiz ganz
verlieren würde, wenn es in eine bloße Vorstellung oder „Vor-
machung“ verwandelt würde. Himmel und Erde, Heil und Ehre,
Vergangenheit und Zukunft, Glück in materieller und seelischer
Bedeutung wurden auf die W aage gelegt und durch das Spiei
gewonnen - oder verloren. Kein Wunder, daß das Spiel in sieg­
reicher, überwältigender Freude endet — Jubel herrscht in der
Halle.
Wenn hier gesagt wird, daß die durch das Fest hervorgerufenen
Gefühle intensiv, ja ausschließlich religiösen Charakters waren,
bedeutet das also, daß sie das einschlossen, was wir die ästhetische
Freude über die Handlung als Kunst und die Sprache als Poesie

274
nennen. Der Kult bewegt sich in einem Bereich der Sprache, der
hoch über unserm gewöhnlichen Alltagsgespräch liegt: er schafft
sich einen Wortschatz, der überreich ist an Umschreibungen und
Bildern und an feierlichen, ernsten Sätzen, die schon in ihrem
Rhythmus und Fortschreiten von gleichem Gewichte sind wie
Gesang. Diese zeremonielle Redeform ist Poesie, denn sie ist die
leidenschaftliche Sprache des Lebens selbst in seinen höchsten und
stärksten Augenblicken; sie ist nicht der Aufschrei einer Seele, die
sich künstlerisch und ästhetisch durch hochgestimmte Gefühle und
ekstatische Ausbrüche in eine Spannung hineinsteigert, halb Freude
und halb Schmerz, sondern es sind die nüchtern inbrünstigen
Worte des Lebens selbst, die in den Wehen der Neugeburt, 3m
Rande des Abgrundes schwebend, siegreich sich selbst erlösen. Die
klassische Poesie gibt Kunde davon, wie die Geschichte - und
zwar die Geschichte der Sippegenossen - lebendig wird und durch
die Neugeburt Kräfte sammelt, um noch größere und siegreichere
Taten zu vollführen. Die poetische Sprache unterscheidet sich von
der gewöhnlichen Sprache durch das prächtigere Gewand und den
leidenschaftlicheren Geist, aber sie ist nicht weniger natürlich und
echt; ihre Bilder und Umschreibungen erheben sich über die ver­
trauten täglichen Redewendungen, weil sie die Tatsachen des
Lebens erläutern, wie sie sich auf dem kultischen Schauplatz zei­
gen: das Leben, wie es wirklich ist.
Die Poesie der Germanen hat die kultische Sprache in der
Form von Kenningar und Beinamen bewahrt. Die stilistische
Regel der Skaldendichtung, daß Helden durch einen göttlichen
Namen umschrieben werden sollen, wie zum Beispiel: der T yr des
Schwertes, entspringt der Tatsache, daß die Männer während des
Festes Götter waren. Wenn die Frauen Disen oder Göttinen des
Mets genannt werden, sehen wir, wie die heilige Gestalt die
Schale durch die H alle trägt, die Reihen der Festteilnehmer ent­
lang. Ungefähr im elften Jahrhundert wurde die poetische Sprache
zu einer besonderen literarischen Ausdrucksweise, fast zu einem
Jargon, und die meisten Kenningar sind eigentlich nur Klischees,
aber diese Klischees verdanken der Pracht des alten Dramas, daß
sie dennoch gangbare Münze sind. Wenn Gold als das Licht des
Wassers umschrieben, ein Schild Ulis Schiff genannt wird, das
Schwert als Heimdals K opf und Odin als Hoenirs Freund bezeich­
net wird, dann sind diese Kenningar nichts anderes als drama­
tische Auftritte - und Mythen — in eine Gestalt hineinstilisiert.

275
In der Hofdichtung wurden die Kenninger später allmählich zu
bloßen Ersatzbezeichnungen für das nackte Wort, und sie werden
willkürlich eingefügt, je nachdem es Rhythmus und Reim er­
forderten. Ihr Gebrauch war ursprünglich nicht durch die ästhe­
tische Phantasie, sondern durch wahre künstlerische Rücksichten
bestimmt, d. h. durch die religiöse Wirklichkeit, und sie wurden
benutzt, um einen wirklichen Auftritt zu erläutern oder ein be­
stimmtes Bild aus der dramatischen Szene wiederzugeben. Der
literarische Handwerker machte Odin zu Hœnirs Freund, wenn
aus metrischen oder ästhetischen Gründen eine Abwechselung er­
wünscht war, oder wenn er fühlte, daß seine Verse ein wenig
mehr Schliff nötig hatten. In der kultischen Dichtung deutet die
Kenning auf einen Auftritt hin, in welchem Odin und Hcenir zu­
sammen handeln. In der dichterischen Umschreibung, wo Odin der
Räuber des Biers oder des Mets genannt wird, wollte der Skalde
nur einen ziemlich abgebrauchten Namen auf hübsche Weise er­
setzen; in der Sage dagegen wurde durch die Kenning ein Auftritt
von lebendiger Wirkung und also von überwältigendem Einfluß
auf die Vorstellungskraft der Zuhörer her auf beschworen. Die
ursprüngliche K raft der poetischen Sprache tritt in den Versen der
Grimnismal (50) hervor, die eine Aufzählung der Namen Odins
enthalten: „Ich nannte mich Svidurr und Svidrir in dem Hause
Sökkmimirs, als ich meinen Namen vor dem alten Jöten verbarg
und seinen Sohn Midvidnir tötete.“ Die frühesten Skalden hatten
sich von der Wirklichkeit des Festes nicht ganz freigemacht; oft ist
eine Flut von poetischen Ausschmückungen an die Stelle der engen
Umschreibungen der Sagendichtung getreten, aber gelegentlich
leuchten die scharfgeschnittenen Bilder des Dramas durch ihre aus­
gearbeiteten Vergleiche hervor. Ein ausgezeichnetes Beispiel bieten
die einleitenden Verse von Eyvinds H aleygjatal (vgl. u. S. 327 f.).
Der dramatische Charakter des Festes findet eine Bestätigung
im Stil der Eddadichtung, der noch deutlich von ihrem Ursprung
aus der ergreifend lebendigen Schauspielkunst des Dramas Zeug­
nis gibt. Diese Dichtung besitzt keins von den besonderen Merk­
malen der ruhig schreitenden epischen Poesie. Die Gedichte der
Edda berichten nicht einmal den Gang der Geschichte; ein Auftritt
folgt dem anderen, manchmal hervorgerufen durch das auf­
blitzende Sichtbarwerden einer bestimmten Haltung oder eines
Schwertes, das auf einen K opf niedersaust, manchmal durch das
Bruchstück eines Gespräches. Die Bilderfolge weist auf eine Kette

276
von Begebenheiten hin, die eine gewaltige, leidenschaftliche Ge­
schichte darstellen, aber es ist dem Gedächtnis - nicht der Vorstel­
lungskraft - der Leser überlassen, die Bindeglieder zwischen ihnen
herzustellen.
In der Fülle seiner Andeutungen und Anspielungen wendet
dieser Stil sich also nicht an die Vorstellungskraft, sondern an das
Gedächtnis oder vielmehr an eine imaginative Erinnerungskraft
und gibt die Mythensprache wieder, wie sie, durch verschiedene
Entwicklungsstufen hindurchschreitend, allmählich ein Mittel der
Dichtkunst wurde. Einige dieser Gedichte sind beinahe reine
Mythen, andere sind so weit entwickelt, daß sie Gedichte mit
sagenhafter Grundlage geworden sind und Bruchstücke des kulti­
schen Stoffes enthalten.
Weitere Belege für das Blotfest der Germanen sind in dem
Worte enthalten, das für Spiel oder Wettspiel gebraucht wurde;
altnordisch leikr — angelsächsisch lác — bedeutet Spiel und Opfer,
ln Norwegen kommt leikr vor in Kenningar, die Schlacht bedeu­
ten, eine Tatsache, die die Heiligkeit der Krieger und den reli­
giösen Charakter des Krieges andeutet (H ild a r leikr usw.).
Auf Grund einer Untersuchung dieser Überreste, die in poeti­
schen Gleichnissen enthalten sind und durch den in den Mythen
verborgenen Sagenstoff vervollständigt werden, dürfen wir die
Hoffnung hegen, einmal eine klare Vorstellung über den Kult bei
den nordischen Völkern zu erhalten. Doch würden die Spuren des
Dram as kaum erkennbar sein, wenn das Auge des Forschers nicht
geschult wäre durch Erfahrungen aus anderen Gegenden, wo die
religiösen Formen in ihrer Vollständigkeit und in ihrer ganzen
K raft hervortreten. Der bruchstückartige Zustand des Stoffes wird
immer einer Rekonstruktion des Dramas im Ganzen hinderlich
sein, aber die Fragmente dürften doch wohl zahlreich genug sein,
um eine Anzahl verschiedener Auftritte zu rekonstruieren, die den
Charakter des Blotes zeigen. Der hier behandelte Stoff ist bei
weitem nicht vollständig. Er enthält keinen Bericht über eine
ganze Menge von Forschungsversuchen, die den Entdeckungs­
reisenden vor Hypothesen stellten, von denen nur das eine gesagt
werden konnte, daß die Möglichkeit besteht, daß sie wahr sind;
aber ich bin überzeugt, daß es einem erfinderischen Geist und einer
stärkeren gestaltenden Kraft gelingen wird, die Fäden, die hier
noch ungeknüpft und ungeordnet hängengeblieben sind, zu einem
wirklichen Muster zu vereinigen.

277
D er K a m p f m it dem Jä te n

Der Gegenstand, der im nordischen D ram a hauptsächlich be­


handelt wird, ist der K am pf zwischen den Asen und den Jöten.
Durch die spätere Bearbeitung und nicht am wenigsten durch
Snorris Erzählergabe sind die Mythen von Thor in rei diver zierte
Kunstwerke verwandelt worden, aber all der dichterischen Kunst­
fertigkeit des Geschichtsschreibers zum Trotz ist der Stempel ihres
Ursprungs als Sagen oder Programme der kultischen Dramen doch
nicht ganz verwischt, und in einigen Fällen sind die Spuren eines
zugrundeliegenden Dramas deutlich zu erkennen - ganz besonders
in dem Mythos, der von Thors Besuch bei dem Jöten Geirröd be­
richtet (s. o. II 230 ff.).
Zufällig ist diese Sage in einem Gedicht, das uns erhalten ge­
blieben ist, der „T horsdrapa“ Eilifs, dichterisch behandelt worden.
Eine nähere Untersuchung der Strophen zeigt, daß der Dichter
mit der Sprache des Dramas Fühlung gehabt und höchstwahr­
scheinlich selbst den Mythos aufgeführt gesehen hat; seine Ken-
ningar sind nicht bloße Wortgepränge, aus dem Wörterbuch der
höfischen Skalden hier und da zusammengelesen und zusammen­
gestellt, wie der Stil und die Versfüße es verlangten, sondern sie
sind - zum größten Teil jedenfalls — so ausgewählt, daß sie den
Vorgängen im D ram a entsprechen. In Eilifs Umschreibungen wer­
den die reißenden Flüsse „das Blut der Jötin “ , „der spritzende
Strahl ihres Blutes“ , „das schwerterzeugte N aß “ genannt. Der kul­
tischen Darstellung treu bezeichnet er den Flimmel als das Dach
der Halle. In V. 7 hat er Teile des Opferspruches bewahrt: Die
einzige Rettung - ráÖ - , die für Thor übrigblieb, als der Strom
ihn beinahe um warf, war, laut zu rufen: „Mein Megin wird
bis in das Dach wachsen, wenn das Blut der Jötin nicht gestillt
w ird.“ In Snorris Wiedergabe ist dieser Spruch in epische M y­
thologie verwandelt: „Steigt nicht höher, Vimurs Gewässer, ich
muß bis zum Sitz des Jöten eure Fluten durchwaten; wisset,
wenn ihr höher steigt, wird mein Asenmegin hoch bis in den
Himmel wachsen.“ Der Stoff ist in Eilifs Gedicht derselbe
wie in Snorris Erzählung, aber in der poetischen Fassung ist
der Vorgang den aufregenden Auftritten in der Blothalle ent­
nommen.
Was die kultische Bedeutung des Stabes betrifft, so erfahren
wir durch den Mythos hierüber nichts, aber einige Andeutungen,

278
wenn auch nicht eine vollständige Erklärung, sind vielleicht in
einer Geschichte enthalten, die der Landnama eingefügt ist. Ein
isländischer Bauer, Lodmund, war in einen langwierigen Streit
mit seinem Nachbarn Thrasi verwickelt. Eines Tages bemerkte der
letztere, daß eine Wasserflut vom Berg oberhalb seines Hofes
herabströmte; er kam auf den glücklichen Gedanken, sich dieses
Naturereignis zunutze zu machen, und durch eine Kunst, die er
allein kannte, leitete er das Wasser so gut und weise, daß es über
den H o f seines Gegners hinabstürzte. Lodmund saß in der Halle,
als einer seiner Knechte mit verschlagenem Atem hereinkam und
seinem Herrn zurief, daß vor dem H aus ein See entstehe. Der
alte Mann, der blind war, erhob sich und bat den Knecht, ihn bis
an das Ufer des Sees zu führen und seinen Stab in das Wasser zu
stoßen, dann ergriff er den Stab, setzte seine Zähne in einen daran
befestigten Ring, und sofort machte das Wasser kehrt und lief
den Feldern Thrasis zu. Thrasi nahm die Herausforderung an,
und nun folgten die beiden Weisen dem Strome und leiteten ihn
Drehung um Drehung, bis sie sich am Rande eines Abgrundes
trafen und einig wurden, den Fluß durch diese Kluft den kürze­
sten Weg nach der See zu schicken. Diese Erzählung, oder diese
Sage, wie sie richtiger genannt werden muß, zeigt, daß der Stab,
von kundiger H and geführt, über fließendes Wasser Macht hat,
und sie kann gedeutet werden als ein Hinweis auf den Gebrauch
des Stabes beim Blot, wo er verhindern sollte, daß das Blut neben
das Gefäß lief, das es aufnehmen sollte.
Der Geirröd-Mythos vermittelt uns einen Schimmer von einem
feierlichen Auftritt, bei welchem ein Stab benutzt wurde, und in
der Form eines Kommentars wird noch hinzugefügt, daß diese
kultische Handlung symbolisch die Reise des Asen nach Utgard
enthält. Der Mythos deckt nur einen Teil der Vorgänge, nämlich
das Aufsammeln des Blutes; für die Tötung des Opfers und die
dadurch ausgedrückte Erschlagung des Jöten muß ein besonderer
Mythos vorhanden gewesen sein, der verlorengegangen ist. Selbst­
verständlich symbolisierten die Reiseerlebnisse auch den Sieg über
die Jöten; aber aus der Art, wie den Jötinnen der Rücken ge­
brochen wurde, können wir keine Schlüsse auf die Art der Tötung
des Opfers ziehen. Der dramatische Gedanke, der in der Sage
erklärt wird, ist nicht bildhaft mit dem Kult identisch und kann
nicht als Ausgangspunkt für unsere Vermutungen über die feier­
liche Handlung selbst benutzt werden. Eilifs Kenning, die auf das

279
Blut als „das Schwerterzeugte“ anspielt, weist direkt auf andere
Auftritte des Kultdram as hin.
Der A uftritt in der H alle Geirröds ist nicht weniger reich an
Anspielungen auf das Drama. Wir hören, daß Thor in die H alle
gebeten wird, um an den „W ettkäm pfen“ teilzunehmen, und daß
er seinen Platz dem Jöten gegenüber erhält. In der Episode mit
dem eisernen Bolzen erheischt das Kam pfm otiv einen neuen Aus­
druck, und wiederum zeigt uns Eilifs Gedicht den Charakter des
hinter der Sage stehenden Kults.
Wir wissen, daß ein kultisches Kosten der Eingeweide oder der
inneren Teile, die als besonders lebensvoll und heilig angesehen
wurden - Homers crrrXdYua x^daavTo—, als Einleitung zum O pfer­
mal stattgefunden hat. Der heilige Wert dieser Teile gab den K ult­
gästen durch die Handlung des Kostens göttliche Kräfte und ver­
setzte infolgedessen den Jöten einen mörderischen Hieb. In Eilifs
Umschreibung wird das rotglühende Stück Eisen - oder die Masse
von rotem Eisen, was es wahrscheinlich bedeutet — bezeichnet
als „ein Stüde Fleisch, in der Schmiede gekocht“ , oder als „das
rote Gebiß der Zangen“ und „der emporgehobene M undvoll“ , und
entsprechend ist Thors greifende H and umschrieben mit: „Thor
gaffte mit dem Munde des Armes und schlang mit dem eifrigen
Rachen des Armes.“ Schließlich ist das Fleischstück wiedergegeben
mit segi, einem Wort von kultischer Bedeutung, der heiligen Be­
nennung für H erz; es kommt in einem kultischen A uftritt vor in
der Zusammenstellung fjö rseg i, das Fleisch des Lebens oder das
Herz. Die Kenningar sind so eigenartig und feststehend - ja ge­
rade in ihrer Künstlichkeit von ererbten Vorstellungen abhängig - ,
daß sie unter der mythischen Schale einen dramatischen Kern auf­
weisen. Trotz ihres schwülstigen Stils unterscheidet sich die
Thorsdrapa doch stark von der künstlichen Poesie des elften Jah r­
hunderts, der Dichter wendet sich nicht an die Mythologie wie
an ein Warenhaus, das mit Masken und Prachtgewändern voll­
gepfropft ist, sondern er zielt durch die W ahl seiner Bilder auf
wirkliche dramatische Situationen. Man darf ruhig annehmen, daß
er die D rapa unter dem Eindruck des alten Kults gestaltet hat.
In der Geirröd-Sage spielt Thor die Hauptrolle, wogegen in
der Sage von Thiazi Odin die Hauptperson ist; dieser Unterschied
besagt nur, daß die Mythen kultische Dramen repräsentieren, die
ursprünglich in verschiedenen Kreisen von Blotenden beheimatet
waren. In H arbardslied 19 ist eine Form des Thiazi-M ythos be­

280
zeugt, in der Thor den Mittelpunkt bildet. Die Mythen stimmen
darin überein, daß sie den Gott zusammen mit zwei anderen Asen
auf treten lassen; dadurch wird die Tatsache hervorgehoben, daß
bei einigen Kulthandlungen der Blotleiter in seinem Amte von
zwei Helfern unterstützt wurde. Die Regel, daß bei gewissen
Weihehandlungen drei Offizianten oder, vom dramatischen Stand­
punkt aus gesehen, drei Auftretende amtieren, von denen jeder
besondere Pflichten zu erfüllen hat, ist durch viele verschiedene
Mythen bezeugt; hier sind es Thor, Thialfi und Loki oder Odin,
Hcenir und Loki, in anderen Fällen sind es Odin, Lodur und
Hcenir oder Odin, Vili und Ve. Eine der kultischen Bezeichnun­
gen Odins ist Thridi, der Dritte, das heißt die bedeutendste Person
unter dreien; eine andere ist Tveggi, was vielleicht bedeutet: der
Ase, der mit einem anderen zusammen handelt. Sowohl die Thors-
drapa wie die Haustlöng weisen in ihren Kenningar auf die
dramatische Situation hin; weit davon entfernt, nur poetische
Wortgebilde zu sein, dienen ihre Umschreibungen dazu, dem A uf­
tritt Wirklichkeit zu verleihen, indem sie auf ein gemeinsames
Wirken von Göttern in einem kultischen Auftritt anspielen; Loki
und Odin sind „Hcenirs Freunde“ , so wie auch Hoenir „Odins
Freund“ ist, und es wird der Hypothese nicht allzusehr Gewalt
angetan, wenn man annnimmt, daß auch der Rest der Kenningar
—wie zum Beispiel diejenige, die Loki „den Verwandten des Far-
bauti“ nennt - nicht der dichterischen Phantasie entsprungen ist.
Was die kultische Betätigung dieser Auftretenden betrifft, so
geben die Sagen nicht viel Aufklärung. Lokis Charakter kommt
in der Sage zum Vorschein, er ist derjenige, der Streit entfacht
und dadurch den Sieg herbeiführt, aber über den Kult, der diese
T a t wiedergibt, erfahren wir nichts. Aus der Haustlöng sehen wir,
daß Hcenir die Aufgabe zufiel, das Feuer anzuzünden und anzu­
blasen: H oenir h laut b lása heißt es in V. 4, und es muß noch be­
tont werden, daß das Verbum hljó ta eine kultische Bedeutung
hat. Die Endstrophe der Thorsdrapa: „Zornig stand der Bruder
Röskvas, Magnis Vater war siegreich, weder Thors noch Thjalfis
Herz bebte“ , ist alles andere als ein poetisches Füllmaterial; die
Worte weisen auf eine kultische H altung hin, die die handelnden
Personen einnehmen mußten, um einen guten Erfolg zu sichern.
Schließlich schenkt uns die H austlöng eine Anzahl Kenningar, die
von der Betätigung der Götter beim Aufsagen der angemessenen
Sprüche zeugen; sie werden seg jan d i genannt, Sprecher - segja be­

281
deutet kultisches oder juristisches Sprechen. Odin wird h a þ ta
sn ytrir genannt (V. 3), der Lehrer der Götter oder, mit anderen
Worten, der Leiter der Kulthandlung (s. u. S. 320); sagn a hrcerir
(V. 9) bedeutet vielleicht: Der Gott, der Sprecher ist oder heilige
Worte aufsagt.
Die Schlachtung des Tieres ist eine heilige Handlung, die für
die Erhaltung von Leben und Heil notwendig ist; das Leben des
Tieres muß genommen werden, um die heilige Speise zu beschaf­
fen. Dieser Vorgang ist äußerst gefahrvoll und zugleich frevelhaft,
denn er bedeutet einen Eingriff in etwas Heiliges und Göttliches;
er ist eine Verletzung des Unverletzbaren, die, obwohl unvermeid­
lich, darum doch nicht weniger schrecklich und verderblich ist —
al 6’ ô\ô\uEav OuYOT^peç. Um die bösen Folgen und die Schuld,
die diese Handlung nach sich zieht, abzuwenden, wird das Schlach­
ten durch strenge kultische Formen geregelt. Die Rücksichtslosig­
keit und Gefährlichkeit der Handlung ist auch in einer kultischen
H andlung dramatisiert, die die Wiedergutmachung, die Buße und
Sühne bewirkt, wie es z. B. auch beim Töten des Stieres in Attika
der Fall war, wo die Opfernden zum Schein vor einem kultischen
Gericht des Mordes angeklagt wurden. In den Sagen wird die
Ehrfurcht der Blotenden dadurch ausgedrückt, daß der Ase mit
Furcht geschlagen wird und sich - ähnlich wie Indra nach der
Tötung Vrithras - verbirgt, oder dadurch, daß er flüchtet und
eine kultische Reinigung durchmacht, wie Apollo, als er Python
getötet hatte.
Im Drama war das Opfer ein Symbol des Sieges über die Jöten,
die Mächte des Bösen, und infolgedessen bedeutete die kultische
Sühnehandlung eine Art Wiedergutmachung oder Mannesbuße,
die die Asen ihren Gegnern für die gewalttätige Handlung schul­
deten. Die Überreste vom Fleisch des Opfertieres oder seine
Knochen wurden als heilig verehrt, sie waren Gegenstand der An­
betung, was damit übereinstimmt, daß diejenigen Teile des Opfers,
die nicht gegessen wurden, unantastbar waren (vgl. den Mythos
von Skadi, II 236).
Die hier erwähnten Mythen bezeichnen nur einen Teil der kul­
tischen Handlungen, die bei der Schlachtung des Opfers erforder­
lich waren; wahrscheinlich konnte jeder Augenblick eine Sage ent­
stehen lassen, und eine dieser Sagenreihen ist in einem Mythos
enthalten, der auf die Zerlegung des Opfers hinweist und die
Erschaffung der Welt symbolisiert (s. u. S. 288 ff.).

282
Eine andere Form des göttlichen Kam pfes finden wir in dem
Mythos von Thors K am pf mit Hrungnir. Der Jöte prahlte damit,
daß er den Asen töten und die Asinnen Frey a und Sif entführen
wollte, und er forderte Thor auf, sich ihm an der Grenze bei
G rjotunagard zum Zweikampf zu stellen. D a die Jöten wußten,
daß ihr ganzes Leben von Hrungnirs Sieg abhing, bauten sie auf
dem K am pfplatz einen Mann aus Lehm, neun Meilen hoch und über
der Brust drei Meilen breit, aber sie konnten kein Herz finden,
das groß genug war, bis sie eins aus einer Stute herausschnitten
und es ihm in die Brust setzten. Neben diesen Lehmriesen stellte
Hrungnir sich auf, er deckte sich mit einem Steinschild und hatte
als W affe einen Wetzstein. Thor kam mit Blitz und Donner an­
gefahren, aber Thjalfi lief im letzten Augenblick vor und riet dem
Riesen, seinen Schild unter die Füße zu schieben, da Thor unter
der Erde angefahren käme, um ihn von unten anzugreifen. Thor
w arf von weitem seinen Hammer, und der Hammer traf den
Wetzstein in der Luft, erreichte aber doch den K opf des Jöten,
und während dieser auf seinen Schild niedersank, machte Thjalfi
kurzerhand mit dem Lehmmann ein Ende. Bei seinem Falle kam
Hrungnir auf Thor zu liegen, der eine seiner Füße drückte den
Nacken des Asen zu Boden, und keiner der Asen war imstande,
den Bruder zu befreien, bis sein Sohn Magni dazukam und den
Fuß mit einem Griff zur Seite w arf. Ein Stück vom Wetzstein
blieb in Thors Stirn sitzen und konnte nicht herausgenommen
werden.
Diese Sage enthält verschiedene Hinweise auf eine dramatische
Aufführung in der Blothalle: der Umstand, daß die Jöten einen
Lehmmann errichteten und ihm das H erz einer Stute gaben, und
daß sein Fall auch Hrungnirs Fall bedeutete, hat seinen Ursprung
offenbar in einer kultischen Anordnung; ferner heißt es von
Hrungnirs K opf, daß er aus Stein gewesen sei und dreieckig wie
das Zeichen, „das Hrungnirs H erz genannt wird“ , und das tatsäch­
lich ein kultisches Zeichen war. Wenn der Jöte auf einem Schild
getötet wird, gibt dies unmittelbar eine kultische Handlung wie­
der. Die Haustlöng bestätigt einfach, daß er auf seinen Schild fiel,
und gibt keine andere Erklärung als: „so haben es die Asen be­
fohlen, so haben es die Disen angeordnet“ ; also fand der T od des
Jöten auf einem Schilde statt.
In dem Mythos, der davon berichtet, wie Thor die M idgard­
schlange tötete, erscheint der Jöte in der Gestalt eines Wurms oder

283
eines Drachen, aber dieser Mythos ist uns nur in einer literarischen
und ziemlich verwässerten Form überliefert. Thor begleitete den
Jöten Hymir auf einen Fischzug, hängte das H aupt eines Ochsen
als Köder an seinen Angelhaken und angelte nach dem Wurm; als
der K opf der Midgardschlange über der Oberfläche erschien, er­
schrak Hymir dermaßen, daß er die Schnur durchsdinitt. Thor
w arf seinen Hammer nach dem Kopfe, als dieser gerade unter­
tauchte, aber niemand kann sagen, ob der W urf geglückt ist. Im
Drama mußte Thor den Jöten töten, und die ursprüngliche Fassung
ist in Bruchstücken von Thordichtungen angedeutet. Der K am pf
ist in der Völuspa erwähnt; hier muß er notwendigerweise mit der
religiösen Anschauung des Dichters in Einklang gebracht werden,
aber obschon der Gedanke des Gedichtes erfordert, daß Asen und
Jöten einander töten, gönnt es der Verfasser dem Thor doch,
seinen Sieg einige Augenblicke zu genießen.
Das Trinkgelage, das dem Opfermahl folgte, hat dasselbe dra­
matische M otiv; wenn das Bier geweiht und das Horn geleert
war, war der Jöte gänzlich geschlagen. Dieser Vorgang ist genau
auf dem Kreuz von Gosforth abgebildet; der Blotende ist hier mit
dem Horn in der H and neben dem Leichnam des Jöten dargestellt.
Das Trinkgelage war eng mit dem Blot verbunden: das Bier
leitete geistig seine Kraft und sein Heil von der Tötung des O pfer­
tieres und der Vergießung seines Blutes her. Die Tatsache, daß der
Lebenstrank durch den im Opfer gedhaffenen Segen vergeistigt
wurde, wird in einem Vers der Grimnismal (25) mythisch aus­
gedrückt: der Met fließt aus dem Euter der Ziege Heidrun. Weiter
ist sie im Mythos von Kvasir entwickelt, dessen Blut in das Met-
faß lief. K vasir wird das weiseste von allen lebenden Wesen ge­
nannt, er wurde von Zwergen getötet, die sein Blut in einem Bot­
tich sammelten, es mit Honig mischten und auf diese Weise einen
köstlichen Trank, den Met, herstellten; später waren sie gezwun­
gen, ihn dem Riesen Suttung als Lösegeld für ihr Leben auszu­
liefern.
Das Bier hieß kultisch Içgr, und nach den Kenningar zu schlie­
ßen, bezog sich diese Bezeichnung auch auf das Blut des O pfer­
tieres.
In der kultischen Handlung, die mit dem Brauen des Bieres und
dem Herumreichen beim Trinkgelage verbunden ist, wurde der
Sieg gewonnen und gefeiert; das hinter der Kulthandlung stehende
Dram a wird in einem Mythos umschrieben, der davon berichtet,

284
wie Odin das lebenspendende Naß dem Suttung raubte. Snorri hat
mit feinem Humor den Mythos in einer Fassung wiedergegeben,
die zahlreiche Überreste des Kults mit Bestandteilen aus verschie­
denen Märchen vermengt, und das verworrene Gebilde bietet allen
Versuchen der Analyse Trotz. Die Hauptzüge kehren wieder in
einer Reihe von Strophen, die den H avam al einverleibt sind, und
diese Fassung hält sich offenbar viel näher an die ursprüngliche
Form der Sage: „Ich besuchte den alten Jöten, und jetzt bin idh
zurückgekehrt. Nicht viel gewann ich, als ich meine Zunge im
Zaume hielt, durch viele tapfere Worte tat ich mich hervor. Gunn-
löd wies mir einen Sitz im goldenen Stuhle an und gab mir einen
Trunk vom köstlichen Met; übel wurde sie gelohnt für ihren treuen
Sinn und ihre große Liebe. Ich ließ Rati durch den Fels einen Gang
nagen, unten und oben waren die Wege der Jöten; meinen K opf
setzte ich aufs Spiel durch diese T at. Glücklich genoß ich den ge­
wonnenen’ Trank, ein kluger Mann erreicht sein Ziel. Jetzt ist der
Kessel Odrcerir heraufgeholt und auf die heilige Stätte der Men­
schen gestellt worden. Kaum wäre ich vom H ofe der Jöten ent­
kommen, hätte nicht Gunnlöd mir geholfen, die edle Magd, die in
meinen Armen ruhte. Am Tage darauf schritten Reif jöten in H ars
H alle, sie fragten nach Bölverk, ob er unter den Asen weile oder
von Suttung erschlagen wäre. Ich glaube, Odin schwur einen Eid
auf seinen Ring; wer kann auf sein Wort bauen; er hat Suttung
um seinen Met betrogen und Gunnlöd in Tränen verlassen.“
Diese Fassung zeigt durch ihre Reihenfolge von kultischem Ge­
spräch und kultischen Bildern, daß sie eine echte Wiedergabe der
dramatischen Aufführung ist. Snorri ergänzt noch die Andeutun­
gen, wenn er beschreibt, wie Odin sich einen Weg durch den
Felsen — die Wege der Jöten — mit H ilfe eines Bohrers, Rati,
bahnt, und weiter durch die Mitteilung, daß der verkleidete Odin
den Namen Bölverk angenommen habe; andere kultische Überreste
aber hat er weggelassen, zum Beispiel den Stuhl, auf dem Odin
saß, und den Schlußauftritt, wo die Jöten erscheinen, um Wieder­
gutmachung zu fordern, und wieder um ihr Recht betrogen werden.
Odins T at ist uns in einer Anzahl Kenningar erhalten. Dieser
dichterische Nachlaß des Blotes ist zwar in poetische Flitter zer­
fallen, aber hier und da zeigt sich doch der ursprüngliche Charak­
ter, so in dem Prolog zu Eyvinds H aleygjatal. Er redet den Gott
Odin an als den Asen, der das Lösegeld der Zwerge auf mächtigen
Flügeln aus Surts dunklen Tälern in der Unterwelt herauftrug -

285
ór S u rts S q k k d q lu m ; die Namen S q k k d a lir und S q k k m im ir kom­
men auch anderswo als kultische Bezeichnungen der Unterwelt und
ihres Herrschers vor.
In der Wikingerzeit wird das Bier hauptsächlich als die Quelle
gefeiert, aus welcher Dichter und Weise ihre Inspiration holen.
Schon in der frühesten Zeit quoll der Becher über von rá d : Rede,
mächtigen Worten, weisen Gedanken —die Macht des Bieres machte
die Überlieferungen der Sippe immer frisch und stark - , aber die­
ser Segen war nur ein Teil eines noch gewichtigeren Heils, das
reich genug war, um Körper und Seele der Sippegenossen wie auch
ihr ganzes Wirken und ihren Besitz zu erneuern. Durch ihre ein­
seitige Lobpreisung des Bieres als Macht der Inspiration haben die
Skalden seinen Wert als Lebenstrank überdeckt. Snorris Umschrei­
bung des Suttungs-Mythos gibt ein Bild von den Gefühlen der
Wikingerzeit, wogegen die Strophen der H avam al uns vom Met
eine echtere Auffassung überliefern, und zwar als eines stärkenden
Tranks, der die Backen mit der Farbe blühender Gesundheit färbt,
dem Zeichen von Jugend und Kraft, und der das Blut heiß und
rot in den Adern fließen läßt. „Glücklich gewann ich lita r und
habe sie glücklich genossen“ , heißt es; lita r bedeutet einfach Farbe,
K raft und Gesundheit.
Die großen Momente des Festes, wie das Opfer, das Festmahl
und das Trinkgelage, sind, religiös gesehen, nur hochragende
Gipfel, die von der allerersten Vorbereitung an bis zur Entlassung
der Kultgäste auf vielen Stufen in einen Irrgarten von kultischen
Begebenheiten hinabsteigen. Jeder kleine Vorgang: das Brauen des
Bieres, die Reinigung der Gefäße, wurde mit kultisch feierlichem
Ernst ausgeführt, und jeder einzelne kultische Vorgang enthielt
wiederum den ganzen dramatischen Vorwurf des Festes. Was die
vorbereitenden Handlungen betrifft, so haben wir nur eine Nach­
richt über sie, und diese ist in einer Sage enthalten, die sich mit
der Herbeischaffung des Bierbottichs und seiner Reinigung befaßt.
Die H ym iskvida - der Form nach eins der am durchgreifendsten
literarisch überarbeiteten Gedichte der Edda, aber nichtsdesto­
weniger fest in der kultischen Sage verwurzelt — zeigt uns das
Programm für den Vorgang beim Brauen oder einen Teil davon.
Die Asen hatten beschlossen, ein Biergelage zu feiern, und die
Wahrzeichen verlangten, daß Agir das Bier zubereiten sollte. Als
er geltend machte, daß ihm ein geeigneter Bottich fehle, zog Thor
aus, um den Bottich von den Jöten zu holen. Diese Sage zeigt, wie

286
Heiligkeit und Heil für das Brauen und für die dabei benutzten
Geräte hergestellt wurde; daß es kultisch bedeutsam ist, zeigt sich
ferner darin, daß die Erbeutung des Gefäßes eng mit der Sage von
dem K am pf des Asen mit der Midgardschlange verbunden ist.
Durch eine vergleichende Untersuchung der im Mythos enthal­
tenen Zeugnisse und der Belege, die wir dem skaldischen W ort­
schatz entnehmen können, vermögen wir uns eine Vorstellung von
dem kultischen D ram a bei den nordischen Völkern zu bilden, und
dieses weist Züge auf, die für primitive oder klassische Religionen
typisch sind. Die dramatisierten Begebenheiten leben in den T eil­
nehmern, und ihr Gedächtnis und ihre Vorstellung sind von Bil­
dern erfüllt, die schon immer bereit lagen und bei der leisesten
Andeutung hervorspringen. Sie sahen den Asen über die ab­
schreckenden Einöden Utgards schreiten, durch gefährliche Schluch­
ten, wo furchtbare Stürme tobten, er watete durch eisige Flüsse,
die ihm mit ätzendem Gift und spitzen Schwertern ins Fleisch
schnitten, um den Riesen in seiner ungeheuren Größe und Furcht­
barkeit aufzusuchen; diese Visionen werden erläutert oder richtiger
verwirklicht in dem Auftritt, wo das Opfertier zu Boden fällt
und das Blut aus seiner Wunde spritzt. Die in der Erinnerung auf­
gespeicherten Bilder werden ins Leben gerufen durch die jubelnde
Freude des Sieges, und sie erscheinen in den bei der Handlung
verwendeten Gegenständen, in den Handlungen und Bewegungen,
die notwendig waren, einfach weil das Blot es verlangte. D as
Dram a war zu einem großen Teil aus solchen kultischen Vorgän­
gen aufgebaut, die ihre Existenz und ihre dramatische Kraft kei­
nem theatralischen oder künstlerischen Impuls verdanken; anderer­
seits gehen die rein kultischen Handlungen unmerklich in Haltungen
und Bewegungen von ausgesprochen dramatischem Charakter über,
von der Art derer, auf welche die Schlußstrophen der Thorsdrapa
anspielen: „Zornig stand der Bruder Röskvas, Magnis Vater war
siegreich, weder Thors noch Thjalfis Herz bebte.“ Aber auch in
solchen Fällen hatte die H altung in erster Linie einen kultischen
und religiösen Zweck, was wir aus ähnlichen Formen in anderen
Religionen ersehen. Um den frevelhaften, aber heiligen Angriff
auf das Tier ausführen zu können, muß der Blotende seinen eige­
nen Gefühlen Gewalt antun und sich auf feierliche Weise starr
und hart machen, und diese kultische Notwendigkeit verleiht der
Geste ihre dramatische Kraft. Die kultischen Vorgänge werden all­
mählich echte Nachahmung und nachahmendes Spiel.

287
Und doch wäre es ein verkehrtes Beginnen, wollten wir ver­
suchen, den Gedankengang der primitiven oder klassischen K ul­
tur zu erfassen und die Psychologie, die hinter diesen Vorstel­
lungen liegt, in moderne Erfahrung zu verwandeln. Wir möchten
den Geist des Dramas auf eine uns gemäße Art erklären, als ob die
den Kultgästen innewohnenden Erinnerungen durch das drama­
tische Ritual erweckt worden wären; was aber für unsere Denk­
weise sekundär ist, ist von einem klassischen Gesichtspunkt aus
primär: das D ram a schafft Wirklichkeit, und die Vorstellungen
oder die Erinnerungen sind lediglich Rückstrahlungen der mäditi-
gen Begebenheiten, die im Drama erlebt werden.
Wahrscheinlich wurden auch die Jöten im kultischen Dram a
symbolisch dargestellt, aber in bezug hierauf haben wir nur außer­
ordentlich spärliche Nachrichten. Man muß immerhin beachten,
daß gan dr, der Stab oder das magische Gerät der Hexen, in der
Mythologie und wahrscheinlich auch im Kult als ein Synonym für
Jöte erscheint. Es wird der Midgardschlange angefügt - Jörmun-
gandr - und dem W olf in der Zusammensetzung Vanargandr, die
noch eine Anspielung auf den Fluß Van in der Unterwelt enthält.
Das Kreuz von Gosforth stellt die Jöten in der charakteristischen
Form von breiten Bändern dar, die umeinander geschlungen sind
und in einen K opf mit einem offenen Rachen auslaufen; es be­
steht die Möglichkeit, daß der Bildner dieses Muster gewählt hat,
weil es der gewohnten Gestalt in der Blothalle ähnlich sah oder
an sie erinnerte.

D ie Schöpfung

Das Blot schuf eine Wiedergeburt des Lebens; die Blotenden er­
neuerten ihre Ham ingja oder ihr Heil, und durch diese Erneue­
rung wurde die Welt neu erschaffen, die „Nützlichkeit“ - der
Segen, die Fruchtbarkeit der N atur - zu neuem Leben erweckt.
Durch das Blot wurde diese schöne Erde mit ihren laufenden, flie­
genden und wachsenden Geschöpfen und der Himmel mit Sonne
und Mond, Licht und Wärme davor gerettet, in die H ände der
Jöten zu fallen und unheore , nicht geheuer, zu werden; in der
Sprache der Mythen ausgedrückt: die Welt wird den Jöten abge­
rungen, sie entsteht neu und stark aus ihrem Tode. Die Folgerung
liegt nahe, daß das nordische Drama einen schöpferischen Auftritt
enthalten hat, wo die Welt und die Sippe oder das Volk geboren

288
wurden, wie in anderen ähnlichen Religionen; diese Annahme wird
durch Sagen bestätigt, die einen kräftigen dramatischen Sinn be­
zeugen und, noch mehr, Spuren davon tragen, daß sie einst auf
dem kultischen Schauplatz aufgeführt worden sind. Wir verdan­
ken unsere Kenntnisse der alten Kosmologie hauptsächlich Snorris
Bericht in seiner Edda. Snorri hat offenbar verstreute Überliefe­
rungen zu einer umfassenden Geschichte der Welt verarbeitet, und
seine Wiedergabe hat zwar den Charakter eines ausgeglätteten
Textes, aber im großen und ganzen treten die ursprünglichen Züge
der Sagen in seiner Nacherzählung doch stark hervor.
In den Urzeiten gab es weder Erde noch Himmel, kein Meer
schlug gegen die Küste, in der Mitte war nur ein ungeheurer
Schlund, Ginnungagap. Im Norden erhob sich das eisige Niflheim,
wo grimmige Stürme in dunklen Nebeln tobten, und mitten in
Niflheim entsprang die Quelle Hvergelmir und ergoß sich in eine
V ielfalt von Flüssen. Im Süden leuchtete Muspelheim so glühend
und heiß, daß nur, wer hier heimisch war, in dem sengenden
Feuer leben konnte. Surt heißt der Hüter dieses Landes, und sein
Schwert ist die lodernde Flamme.
Als die Asen noch nicht geboren waren, wuchs das Eis in Gin­
nungagap, reißende Ströme schossen hervor, und in den Nebel­
schwaden, die über Niflheim brüteten und hin und her wogten,
erstarrten die Ströme wie Schlacken, die aus einem Feuer fließen,
das Eis staute sich in schweren Gletschern, die sich Woge auf
Woge vorwärtsschoben und in Ginnungagap ansammelten. Der
Nebel und Regen, der auf dem Eise brütete, erstarrte zu einer
Rauhreif decke. Aber aus Muspelheim blies ein heißer Wind gegen
das Eis in Ginnungagap und stand zitternd wie die Luft an einem
schwülen Sommertag. Als der Reif mit der Wärme zusammen­
stieß, schmolz er und träufelte in lebenden Tropfen herunter, und
die Tropfen nahmen menschliche Gestalt an. So entstand ein ge­
waltiger Riese, Ymir, der bei den Reifjöten Aurgelmir genannt
wird. Während er noch im Schlafe lag, brach ihm am ganzen
Körper der Schweiß aus; aus seiner linken Armhöhle wuchsen
ein Mann und eine Frau hervor, und sein rechter Fuß zeugte
einen Sohn mit dem linken. Von diesen Kindern des Urriesen
entsproß eine Brut von Riesen oder Jöten, die bald die Welt
erfüllten.
Die Rauhreifdecke schmolz weiter und träufelte herunter, und
aus den Tropfen sprang eine Kuh, Audumla, hervor, und von

289
ihrer M ildi nährte sidi Ymir. "Während der Riese an ihrem Euter
sog, leckte sie die salzigen Steine, die aus dem Gletscher hervor­
ragten; am Abend wuchsen die H aare eines Mannes aus dem Stein
heraus, am nächsten T age war es schon ein K opf geworden, am
dritten Tage sprang der Mann auf und stand frank und frei auf
dem Felde. Er war schön, von großer Gestalt und vielen Kräften,
sein Nam e war Buri. Buris Sohn Bor heiratete eine Frau aus dem
Geschlecht der Jöten und wurde Stammvater der Asen: Odin, Vili
und Ve.
Als die Asen wuchsen und kräftig wurden, töteten sie Ymir, und
sein Blut floß in Strömen und überschwemmte die Welt, so daß
sein ganzes Geschlecht in den Fluten umkam. N ur einer, Bergel-
mir, kletterte, um sich zu retten, auf einen liidr und wurde mit
seinem Weibe zusammen gerettet; dieses Paar zeugte eine neue
Brut von Jöten, und diese Sippschaft ist es, die noch immer in
dieser Welt Unheil anrichtet. Die Asen trugen Ymir in die Mitte
von Ginnungagap und schufen die Erde aus seinem Körper; sein
Blut strömte aus ihm heraus und wurde zu Flüssen und Meer, sein
Fleisch wurde Erde, seine Knochen Berge, seine Zähne und seine
Knochenstücke wurden als Gestein und Blöcke verstreut. Die Asen
leiteten die Gewässer fort, bis sie in einem Kreise um die Erde
herumflossen, und auf diese Weise befestigten sie die Wohnstätten
der Menschen und der Asen mit dem großen Meere. Sie setzten
Ymirs Schädel über die Erde und m ähten aus ihm das Himmel-
d a h , und sie stellten einen Zwerg als Hüter an jede der vier
Ecken, Ost, West, N ord und Süd. Unter dem Himmel shw ebt
Ymirs Gehirn, daher sind die Wolken kalt und finster wie Jöten-
gedanken.
Die Funken, die aus Muspelheim kamen und in der Luft her­
umwirbelten, wurden am Himmel befestigt, so daß sie über der
Erde leuchteten. Die Asen bestimmten Bahnen für alle Himmels­
körper, damit sie nacheinander dahinshreiten, so wie T ag auf
N a h t und N a h t auf T ag folgen.
So ist es gekommen, daß die Erde mitten im tiefen Meere ruht.
Am äußersten Meeresrand wiesen die Asen den Jöten einen Wohn­
sitz an. Aber in der Mitte der Erde heiligten sie ein Land und um­
zäunten es mit Ymirs Augenwimpern, und diese Einfriedung
wurde M idgard, die Wohnung der Menshen, genannt.
Dieser B erih t wird d u rh einen Vers in den Vafthrudnismal
(29) vervollständigt, wo die Namen der aufeinanderfolgenden

290
Generationen von Jöten genannt werden: Aurgelmir, Thrudgel-
mir, Bergelmir.
Diese anschauliche Beschreibung der Urgeschichte, wo die be­
wohnbare Erde durch die kämpfenden Kräfte von Hitze und
Kälte gestaltet wurde, entsprach der nordischen Auffassung der
N atur. Die Männer, die diese Sagen formten, hatten in ihren
Ohren das Brüllen des Meeres, sie kannten die Kälte der wüsten,
felsigen Einöden und die eisigen Winde, die von den Gletschern
herwehten. Ihre Auffassung von den Kräften, die in der Welt
wirksam waren, entsprang weder der abstrakten Spekulation, noch
ist sie in schwachen, fließenden Theorien über einen hypothetisdien
Zustand der Dinge begründet; aber ganz abgesehen davon, ob
diese kosmologisdie Weltanschauung spekulative Bestandteile ent­
hält oder nicht, sie beurteilt und erläutert sie in Bildern, die dem
D ram a und der heiligen Stätte des Kultes entliehen sind. Das Bild
der jüngeren Edda von den Gletschern, die wie Schlacken aus dem
Feuer fließen, ist sicher nicht Snorris stilistischer Erfindungsgabe
entsprungen; dieser Zug geht auf die Sagen zurück, über welche
er seine literarische Darstellung geformt hat. Es ist tatsächlich
höchst wahrscheinlich, daß die Beobachtungen, die in Snorris er­
läuterndem Gleichnis Vorkommen, bis an die Wurzel der norwe­
gischen kosmologischen Spekulation reichen. Daß Hvergelmir in
die Mitte von Niflheim verlegt wird, setzt durch die Genauigkeit
der Angabe nicht nur ein dramatisches Bild voraus, sondern auch
noch ein Ineinandergreifen des kultischen Erlebnisses und der kos-
mologischen Spekulation über die Kräfte, die in den Grundelemen­
ten der Welt am Werke sind. Diese Sage wurde gewiß von einem
Manne geschaffen, der die konsolidierenden Kräfte von Feuer und
Wasser bei der Schöpfung der Welt in Wirksamkeit gesehen hatte.
Den Mittelpunkt des schöpferischen Auftrittes im Drama bilden
das Feuer und die Blotkessel. Ymirs Tod ist ein alter Blotmythos,
der dem Programm eines Schöpfungs-Spieles ähnlich sieht; die
Wortwahl der Sage trägt noch den Stempel ihres dramatischen U r­
sprungs: Die Asen trugen Ymir n a h Ginnungagap und legten ihn
in die Mitte des öden Abgrundes. Wenn wir wüßten, was die
Namen Bergelmir, Thrudgelmir und Aurgelmir bedeutet haben,
die die Urjöten trugen, so würde die kultishe Darstellung in allen
Einzelheiten ein tieferes Relief haben - so aber müssen wir uns
mit der allgemeinen Feststellung begnügen, daß es einen symboli­
schen Shöpfungskult gegeben hat, der mit dem Zerlegen des

291
Opfertieres und seiner Zubereitung zum Kochen verbunden war.
Ein einziger Auftritt, der zu diesem Dram a gehörte, ist noch
zwischen den mythologischen Trümmern erhalten geblieben, näm­
lich der Mythos von Bergelmir, in dem auf ein Vorkommnis bei
der Geburt der Gewässer angespielt wird; leider aber ist er in zu
knappen und dunklen Worten abgefaßt, als daß wir das Bild
wiederherstellen könnten. In den Vafthrudnismal wird der Jöte
eingeführt, indem er sagt: „D as erste, worauf ich mich besinnen
kann, ist, wie Bergelmir geboren und auf einen lú d r gebracht
wurde.“ Diese Strophe ist offenbar die Wiedergabe eines kulti­
schen, dramatisch bedeutsamen Auftrittes, aber leider ist die E r­
klärung von einem Worte abhängig, dessen Bedeutung unbekannt
ist. In dem Grottalied bedeutet lu å r der Kasten einer Handmühle;
wie das Darradlied (s. o. S. 220/21) ist dieses Gedicht freie Erfin­
dung, durch einen kultischen Auftritt eingegeben: das kultische
Drama, das Reichtum und Heil für den König „m ahlt“ . In einem
Skaldengedicht verbindet eine Kenning lúdr mit dem W orte für
Malz, und die Zusammenstellung bezeichnet den Bräubottich.
Ferner kommt lú d r in einem Sprudl vor, der benutzt wurde, um
gutes Wetter zur See zu erwirken: „g g g n - Heil, wahrscheinlich
Blotheil - und das Blotnaß mögen sich zu deinem Heile verbinden
und dir eine friedliche Reise sichern.“ Aus einer vergleichenden
Untersuchung geht hervor, daß verschiedene Blot-Gefäße mit dem
Wort lúdr bezeichnet werden, und wir wissen nicht, was es in der
Geschichte von Bergelmir bedeutet.
Diese verstreuten Überreste werfen ein neues Licht auf die Be­
schreibung der Völuspa von den ältesten Zeiten. Die einleitenden
Strophen führen geradewegs in die H alle in dem Augenblick, wo
das schöpferische D ram a aufgeführt wird: „In den fernen Zeiten,
als Ymir lebte, gab es weder Meer noch sandige Küsten, gegen die
sich kalte Wogen brachen, weder Erde unten noch Himmel oben,
nur Ginnungagap, wo kein Grashalm keimte, bevor Burs Söhne
den Boden hoben und den schönen M idgard schufen; die Sonne
stand im Süden und schien auf die Fliesen der H alle, und der
Boden war mit grünen Kräutern bedeckt.“ Dieses Emporheben der
Erde, das Anwachsen des Bodens, wurde, so vermuten wir, durch
eine kultische Handhabung der Geräte und des Körpers des O pfer­
tiers dargestellt sowie durch kaum merkbare Gebärden, H an d­
bewegungen und andere symbolische Handlungen, die zum Teil
noch erkennbar sind; wir wissen aus den Grimnismal (42), daß

292
das Wegnehmen der Kessel vom Feuer als schöpferischer Auftritt
ein Bestandteil des Dramas w ar: „D a öffnen sich die Welten als
neugewonnener Besitz vor den Asen“ (s. u. S. 295). Obschon die
Völuspa unser Wissen in bezug auf Reihenfolge und Charakter
der Handlungen nicht bereichert, führen uns ihre Verse doch in
die Aufmachung und Ausstattung des Dramas ein; die H alle ist
die Welt, so wie das Dach des Hauses in dem Auftritt in der
Thorsdrapa der Himmel ist; die Strahlen der Sonne treffen die
Fliesen der heiligen Stätte. In der Beschreibung der Erde oder des
Landes gebraucht die Völuspa einen poetischen Ausdruck, b jç d ,
wahrscheinlich kultischen Ursprungs, der den Kultgästen den A uf­
tritt, wo die Erde sich zeigte und ihren Platz einnahm, auf leben­
dige Weise nahebrachte.
Nach der Schilderung der Völuspa zu schließen, folgte der E r­
schaffung der Welt im D ram a ein Auftritt, in welchem chaotisch
verstreute himmlische Körper in feste Ordnung und rhythmische
Bewegung versetzt wurden. Zuerst hatten Sonne und Mond kein
H eil und kein Megin (vgl. I S. 256 f.), sie wanderten ziellos über
den Himmel, bis die Asen ihnen Bahnen schufen und sie dazu be­
stimmten, Jahre und T age anzugeben; Strophe 6 zeigt den Kult
in klaren Worten: „D ie Asen gingen zu ihrem Ratsitz und gaben
der Nacht und dem mondlosen Dunkel, dem Morgen und dem
M ittag, dem Nachmittag und dem Abend Namen zur Zählung
der Jah re.“
Die Schöpfung endet mit der Erschaffung des Menschen, der
Entstehung der Sippe. Drei Asen fanden Ask und Embla auf dem
Boden liegend, Wesen, die noch kein Heil, keine Bestimmung noch
Ziel hatten. Odin gab Atem, Hcenir Seele, Lodur warmes Blut
und Farbe (vgl. o. S. 238); so wuchsen die Menschen allmählich
heran von schicksallosen Wesen zu Männern von Ehre, deren
Leben Zweck und Ziel hatte. Diese Beschreibung ist ganz durch
das D ram a bestimmt; als der Dichter die drei Asen einführt, be­
nutzt er einen Ausdruck, der eine Andeutung enthält: „Drei
kamen vom Rate, mächtig und huldreich“ ; wir brauchen unsere
Vorstellungskraft nicht sehr anzustrengen, um zu sehen, wie drei
Offizianten aus der Menge der Blotenden schreiten, um ihres heili­
gen Amtes zu walten.
Eine andere Kulthandlung, die auf einen hieros gam os weist,
wird wiederholt angedeutet, aber niemals so, daß sie klare Um ­
risse annimmt (vgl. u. S. 337).

293
D ie S y m b o lik der heiligen S tätte

Aus dem Grundprinzip des Lebens, aus jener Form von Erleb­
nis, die bei den Germanen Gedanken und Handlungen - und deren
Harmonie und gegenseitiges Ineinanderspielen - bestimmt, ergibt
sich, daß das Blot kosmische Bedeutung hat. Diese grundlegende
Eigenschaft des Festes führt zu einer Betrachtung der heiligen
Stätte als kosmologisches Symbol, und die Hypothese wird be­
stätigt, wenn wir verwandte Kultformen in anderen Teilen der
Welt zum Vergleich heranziehen, nicht zuletzt, wenn wir die Be­
lehrungen der Brahmanas über den O pferplatz (Vedi) betrachten.
Die heilige Stätte war eine dramatische Nachahmung der ganzen
Welt, wie wir es in unserer Sprache ausdrücken möchten, Urbild
und Ursprung der Wohnung der Menschen, wie es die Germanen
und ihre geistigen Verwandten ausdrücken mußten. Im Norden
bildeten die Feuerstätten und die Kessel zusammen mit den Bier­
bottichen eine kosmische Bühne, überreich an Symbolen, wovon
jedes einzelne im Dram a eine Rolle spielte, auf dieser Bühne oder
auf diesem Altar waren Himmel und Erde vertreten, wie wir es
einer Anzahl verstreuter Anspielungen entnehmen können. Die
Karte der Welt, die wir in der jüngeren Edda vor uns ausgebreitet
sehen, wird verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß sie
Sagen entstammt, die in kultischer Darstellung wurzeln. Die Ge­
wässer, woraus alle Flüsse entspringen, die die Erde nähren, sind
in den heiligen Kesseln dargestellt und tragen noch Namen, die auf
diesen Ursprung hinweisen: Hvergelmir oder Kesselgelmir und die
beiden Kerlauge oder das Kesselnaß.
Der kosmische Charakter des Altars trägt in hohem Grade da­
zu bei, einige dunkle Strophen in den Eddagedichten zu erläutern.
In den Grimnismal (42) wird eine dramatische H andlung ange­
deutet. Zwischen den Feuern sitzend, sagt Odin: „U li und alle
Asen werden dem Manne hold sein, der am Feuer behilflich ist,
denn offene Welten dehnen sich um alle Asensöhne, wenn die
Kessel vom Feuer gehoben werden.“ Die Worte des Asen in einer
vorhergehenden Strophe lauten: „H eilig ist das Land, das ich nahe
den Asen und den Alfen liegen sehe“ , und sie zeigen uns den
Raum rund um das Feuer, wie er sich dem Blick des Blotenden
darbot. Durch die H avam al erfahren wir ein wenig davon, wie
lebhaft bewegt dieser A uftritt w ar: „Jetz t ist Odroerir herauf­
gebracht und auf seinen Platz am Rande der Erde gestellt wor-

294
den“ , nämlich am äußersten Rande der heiligen Stätte der Mensch­
heit. Dieselbe Strophe enthält eine dramatische Darstellung von
Odins Hinabsteigen in die Unterwelt, von wo er den Lebenstrank
holen wollte, wie im Suttung-Mythos berichtet wird. Durch diese
Strophe werden wir Zuschauer bei dem Schlußauftritt, wo der
Kessel feierlich auf seinen Platz in der Halle gestellt wird.
Diese Andeutungen weihen uns in die mythische Geographie
des Altars ein und gleichzeitig in die kosmische Bedeutung solcher
Handlungen wie die Unterbringung der Kessel auf dem Feuer
oder ihre Wegnahme. Diese Beobachtungen beleuchten wiederum
den dichterischen Aufbau der Grimnismal und deuten auf einen
inneren Gedankenzusammenhang der mythologischen Einzelheiten,
die sich beim ersten Blick wie ein Haufen Gerümpel ausnehmen.
Der Dichter beginnt damit, Odin zwischen den beiden Feuern
sitzend zu schildern, und geht dann dazu über, eine Aufzähiung
der H öfe und ein Verzeichnis von deren Hausgerät zu geben; nun
verstehen wir, daß die belehrende Übersicht des Verfassers über
die göttlichen Wohnungen durch sein Erlebnis in der Blothalle be­
dingt ist. Es ist auch auffällig, daß er eine kultische Bezeidmung
für Feuer, fu n i, benutzt, wie es der Dichter der Fafnismal in einem
Auftritt kultischen Ursprungs ebenfalls tut.
Der Altar trug ein Symbol, das die nützliche, fruchtbare Erde
darstellte und das vielleicht aus einem kleinen Häufchen Erde be­
stand. Der kultische Name dieses kosmischen Erdhügels ist a u rr -
„Erde heißt bei den hohen Asen a u rr“ , erfahren wir aus den lehr­
haften Alvismal. Der au rr wird als weiß bezeichnet, sicher nicht
mit Bezug auf die Farbe, sondern als Ausdruck seiner Kraft, reini­
gend und segnend zu wirken. Dieses heilige Symbol war weiter
die Kraft oder das Heil - Megin - der Erde genannt, und aus
anderen Formeln geht hervor, daß es zum Zwecke der Einweihung
auch mit anderen Kultsubstanzen, wie dem Wasser und dem
Kesselsaft, vermengt wurde. Dieser au rr wurde über die Wurzel
der Weltesche ausgegossen, um den Baum frisch und grün zu er­
halten. Die Völuspa (14) gibt uns einen Hinweis auf diese Stelle
im Kult, wenn es von den neugeschaffenen Zwergen heißt, daß
„sie sich von den Fliesen in der H alle nach au rv an g a sjç t begaben“
- nämlich zü dem Orte der a u rr- Felder.
Den Mittelpunkt der Welt bildet die heilige Esche Yggdrasil,
aus ihren Wurzeln entspringen die lebenspendenden Gewässer.
Nach dem, was die jüngere Edda berichtet, strecken sich die Zweige

295
der Esche gegen den Himmel und breiten sich über die ganze Welt
aus; sie hat drei weitverzweigte Wurzeln, eine bei den Asen, eine
andere bei den Reifjöten, dort wo einst Ginnungagap war, und
eine dritte über Niflheim; unter dieser Wurzel fließt Hvergelmir,
und der Drache Nidhögg nagt an der Wurzel. Unter der Wurzel
nach den Reifjöten zu ist Mimirs Brunnen. Die dritte Wurzel ist
im Himmel, und die heiligste Quelle, der Urdbrunnen, befindet
sich unter ihr. Beim ersten Blick macht diese Beschreibung den
Eindruck, daß ihr der innere Zusammenhang fehlt, und es mag so
sein, daß sie auf mehrere Sagen verschiedenen Ursprungs aufge­
baut ist; aber es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß der A ltar
mehrere Sinnbilder des Wassers trug, nämlich Urds und Mimirs
Brunnen (Hvergelmir, s. o. S. 289). Der heilige Baum und die
Quelle gehörten zur heiligen Stätte im Freien, aber das Grund­
prinzip des Blotes machte es unumgänglich notwendig, daß sie auf
dem Altar vertreten waren. Wenn gesagt wird, daß die Flüsse in
der Mitte der Welt entspringen, so bedeutet dies, daß sie aus dem
Blotfest fließen und aus der idealen - d. h. der realen - W elt ent­
springen, die auf dem Altäre auf der heiligen Stätte lag.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der Baum in Gestalt eines
Zweiges oder eines Astes in die H alle getragen. D a der Kosmos
der Völuspa, wie wir gesehen haben, vom Gesichtspunkt des Festes
aus dargestellt ist, so ist anzunehmen, daß die V ölva, wenn sie
sagt, daß sie sich an die Zeit erinnert, wo der Baum unter dem
Erdhügel war, jenes dramatische Bild vor Augen hat, wo der
Zweig in oder neben dem au rr eingepflanzt wurde.
Der Baum findet in der Völuspa ehrenvolle Erwähnung durch
das Epithet h eidvan r, und dies ist sicher keine dichterische Aus­
schmückung. Aus dem Kompositum geht seine Bedeutung unmittel­
bar hervor: etwas, das mit einem Gegenstand oder einer Person
namens held verbunden ist, vielleicht etwas, das heid braucht und
es nicht entbehren kann. Dieses Wort kehrt in einigen mythischen
Zusammensetzungen von deutlich kultischem Ursprung wieder. In
einem Falle wird eine Ziege erwähnt, Heidrun, die von den B lät­
tern von Lærad lebt und die Bierbottiche mit dem Strom aus
ihrem Euter füllt; in einem anderen Falle spricht die Sigrdrifa
von einer Runenweisheit, die H roptr in dem Naß fand, das aus
dem Schädel Heiddraupnirs und dem Horn Hoddrofnirs floß.
Leider wird aber der Vers nicht durch irgendwelche entsprechen­
den Überlieferungen hinsichtlich dieser rätselhaften Bilder er­

296
läutert. In der Skaldenpoesie wird „Gedicht“ mit „Odins M et“
umgesdirieben, und in einem der Gedichte Kormaks finden wir in
dieser Bedeutung h aptsœ nis heid. Die Bedeutung von haptscenis
ist unklar, aber wahrscheinlich hängt sie mit són, Biergefäß, zu­
sammen; heidr ist somit der Inhalt des göttlichen Kessels. Eine
Untersuchung von heid führt also zu der Hypothese, daß heid-
v a n r sich auf ein Biertrankopfer bezieht, das über dem Baume, der
den a u rr auf dem Altar beschattete, ausgeführt wurde.
Wie schon erwähnt, wurden die Gewässer von den Kesseln und
den Bierbottichen vertreten. „Alle Gewässer entspringen aus Eik-
thyrnirs H orn: Körm t und ö rm t und die beiden Kerlauge“ , lesen
wir in den Grimnismal. Durch diese Kessel hindurch kam Thor
zu Yggdrasil, oder mit anderen Worten, der Gott im D ram a geht
in seinem feierlichen Zug an den Kesseln vorbei, „denn die Asen-
brücke steht in Flammen und die Himmelswasser sieden“ (h ló a;
vielleicht ist H lorridi ein kultischer Name, der in Verbindung mit
diesem K ult erklärt werden kann).
Die Bierbottiche und die Fleischkessel sind in den Sagen kaum
zu unterscheiden, vielleicht aus dem Grunde, weil sie vom drama­
tischen Gesichtspunkte aus dasselbe waren, sei es denn, daß sie die
heiligen Wasser oder das Urbild des Meeres und der Flüsse dar­
stellten; ihr kultischer Name ist Içgr (vgl. o. S. 284), Bier und
Blut, was daher in der dichterischen Ableitung der kultischen
Sprache Meer und Wasser bedeutet.
Wie früher im T ext gezeigt worden ist, waren die Kleinode
und Erbstücke der Sippe eine Verkörperung von Leben und Heil
des Geschlechts; der Ring des Häuptlings, gleichzeitig ein Symbol
seiner Ehre und ein Pfand seiner Herrschaft, begleitete ihn in die
Schlacht und zum Thing, er wurde benutzt, wenn ein Eid ge­
schworen wurde, und er ruhte auf dem sta llr des Blothauses (vgl.
II S. 12). W ir können ruhig aus dem heiligen Charakter der
Kleinode schließen, daß sie mit in das Blot hineingehörten; ihre
Anwesenheit war notwendig, weil sie die Ham ingja der Sippe
verkörperten, und andererseits mußten auch sie, wie diejenigen,
die sie trugen, an der Neugeburt, die aus dem Blot hervorgeht,
teilnehmen (vgl. II S. 167). Die kultische Macht der Kleinode ist
symbolisch in Draupnir dargestellt, in dem Ring des Asen, der
jede neunte Nacht acht Ringe von gleichem Werte träufelte.
Ein Vergleich mit dem vedischen Kult läßt vermuten, daß das
Gold in die Urgewässer getaucht wurde, und diese Vermutung

297
wird durch die Verse der Grimnismal bestätigt, wo es heißt, daß
die Flüsse, die aus Hvergelmir entstehen, um den h o dd oder die
Kleinode der Asen herumfließen. In der Skaldensprache findet
sich dieser dramatische Vorgang versteinert in einer Anzahl von
Kenningar, die das Gold als das Licht oder den Glanz des W as­
sers umschreiben. Der Schwur, der im zweiten Lied von Helgi
Hundingstöter erwähnt wird: „Bei dem hellen Wasser des Lichtes
und dem kalten Stein der Woge“ , deutet vielleicht auf einen feier­
lichen Auftritt hin: Worte, die durch die heilige Flüssigkeit und
das Gold, das mitten in ihr ruhte, bestätigt wurden.
Der kultische Name für Gold und Besitz oder richtiger für das
Heil der Erbstücke und des Besitzes ist au d r (vgl. I S. 402); au d r
und Freude zu verlieren, ist der Tiefpunkt menschlichen Elends
und gleichbedeutend mit einem Dasein als Neiding oder W olf.
Dieses au d r ist personifiziert worden und in die kosmische Genea­
logie als naher Verwandter von Erde und T ag und Nacht einge­
gangen, in Anerkennung der Tatsache, daß a u d r in dem Drama,
das die Schöpfung der Welt darstellte, eine Rolle spielte.
Schlußfolgerungen aus dem Kulte anderer Völker berechtigen
ferner zu der Annahme, daß die kultischen Geräte, die auf dem
Altar ruhten, im Drama mitspielten; sie symbolisierten eine Per­
son oder einen Ort und konnten nicht gehandhabt oder von einem
O rt zum anderen getragen, aufgehoben oder niedergelegt werden,
ohne daß es einen mythischen Vorgang bezeichnete. Während das
Gold mitten im Wasser ruhte, mag es eine Welt dargestellt haben,
die eben erschaffen wurde, oder einen Ort in der neuerschaffenen
Welt. Die dramatische Anwendung der Symbole läßt sich aus der
Mythologie und aus den dichterischen Umschreibungen erkennen.
Es überrascht uns nicht, unter den kultischen Gegenständen, die
auf dem Altar ausgelegt waren, ein Schwert hervorblitzen zu
sehen. Die Fjölsvinnsmal stellen eine Aufzählung von kultischen
Bildern dar, da sie aber nur aus abgerissenen und kurzen Andeu­
tungen bestehen, machen sie auf uns den Eindruck einer Rumpel­
kammer voll von Rätseln; die Strophen 31-32 sprechen aber
wahrscheinlich doch von einer H alle, die stets auf der Spitze der
Schneide bebt und von einem Feuer, v a fr lo g i , umgeben ist (s. u.
S. 335). Diese Anspielung erinnert an einen Vers in der Völuspa,
durch welchen wir das Bierhaus eines Jöten kennenlernen: es liegt
in Ókólnir, dem Ort, wo es nie kalt ist, und der Name der H alle
ist Brimir. Weiter wissen wir aus den Grimnismal, daß Brimir der

298
Nam e eines Schwertes ist — das trefflichste Schwert wird es ge­
nannt, mit einer Umschreibung, die benutzt wird, um göttliche
oder kultische Gegenstände als solche hervorzuheben. Diese ver­
streuten Anspielungen verschmelzen und bilden irgendwie einen
Zusammenhang, wenn sie einem Satz der kultischen Sprache, der
in den Sigrdrifumal zitiert wird, gegenübergestellt werden: „Er
stand auf dem Hügel mit Brimirs Schärfen und mit einem Helm
bekleidet; da sprach Mimirs H aupt das erste weise W ort“ ; der
betreffende „er“ ist H roptr, der in den Tropfen aus Heiddraupnirs
Schädel Runenweisheit fand. Dieses Bild ist eine Schilderung des
opfernden Häuptlings, wie er sich, um Wahrzeichen zu nehmen,
dem Altar näherte und das Schwert erhob, das am Blotfest teil­
genommen hatte und dadurch mit Heil erfüllt war. Im Lichte
dieses Satzes verlieren die anderen Verse, die oben angeführt wur­
den, etwas von ihrer Undurchsichtigkeit; das Schwert - oder in
den Fjölsvinnsmal möglicherweise der Speer - mag, wie auch das
Gold, einen Ort in der idealen Welt versinnbildlichen.
Von diesen Andeutungen über die Rolle, die Brimir im Kult
spielte, kommen wir zu einem Vers in der Lokasenna, der ver­
muten läßt, daß die Fesselung des Jöten Loki durch einen kulti­
schen Auftritt in der Blothalle erläutert wurde, und daß in diesem
Auftritt ein Schwert vorkam : „Die Asen werden dich mit den Ge­
därmen deines eiskalten Gesippen auf das Schwert binden.“ Der
Mythos, auf den hier angespielt wird, erzählt uns, daß die Asen,
als sie den Betrüger gefangen hatten, seinen Sohn Vali töteten
und seine Gedärme herausrissen, um Loki damit zu binden; jetzt
steht der Kult deutlich vor uns: der Jöte wird mit den Eingewei-
den des Opfertieres in Fesseln geschlagen. Durch die Haustlöng
können wir einen Blick auf die heilige Stätte in diesem Augenblick
werfen, nämlich durch V. 7, der noch durch V. 11 erläutert wird,
wo auf Loki hingewiesen wird als den, „den die Asen gefesselt
sehen“ ; das Gedicht enthält die Beschreibung einiger mythischer
Auftritte, die auf einem Schilde gemalt waren, und der betreffende
Satz deutet in erster Linie auf dieses Bild auf dem Schilde hin.
Aber dieses Bild ist wiederum die Darstellung eines Auftrittes in
der Blothalle, wo - wie die W ortwahl des Satzes schließen läßt -
Götter und Menschen den gefangenen Jöten in irgendeinem Sym­
bol vor Augen hatten. Dies veranschaulicht den dunklen Sinn einer
Strophe in der V öluspa: „Sie sah liegen unter dem H olz der
Kessel - dem Baum an der heiligen Stätte - in Fesseln etwas

299
Düsteres, dem Loki ähnlich“ , nämlich ein kultisches Symbol des
gefesselten Loki. Dieses kultische Bild gibt dem Dichter die An­
regung zu seinen ergreifenden Einleitungsstrophen zum Tage des
Jüngsten Gerichtes: „Die Esche erbebt, der alte Baum, der Jöte
kommt los“ — nämlich der Jöte, der an Händen und Füßen ge­
bunden unter dem Baum in der H alle liegt, bricht seine Ketten.
Die Weisheit, die durch das Blot geschaffen wurde, war in den
heiligen Gewässern unter dem Baum verborgen; gute Ratschläge,
Weissagungen und Wahrzeichen flössen aus der Quelle und wur­
den durch kultische Mittel auf gespeichert; aus der Quelle wurde
das Schicksal geboren oder, in mythischer Vermenschlichung, die
Nornen, die Hamingjas, die den Menschen Zukunftsheil geben.
Diese Weisheit oder Macht der guten Weissagung war vertreten
durch Mimir, den Berater Odins. Manchmal erscheint Mimir als
ein H aupt, und ein Mythos, den Snorri wiedergibt, erklärt, wie
es kam, daß sein H aupt von seinem Körper getrennt und zum
Zwecke der Weissagung bewahrt wurde. Die Sage ist in einer
kultischen Tatsache begründet: ein weissagendes H aupt —das ent­
weder in dem Schädel des Opfertieres oder im Kessel oder noch
wahrscheinlicher in beiden Symbolen vermutet werden kann —
stellte Mimir, die Macht der Weisheit, dar. Mimirs Quelle, der
Bierbottich, bildete den M ittelpunkt in einem kultischen A uftritt,
auf welchen der Vers der Völuspa hinweist, und ebenso die be­
lehrende Prosa der jüngeren Edda, wo Odin sein Auge verpfän­
det, um Weisheit zu erlangen. D a aber die Überlieferung so ab­
gerissen ist und jede Vergleichsmöglichkeit fehlt, sind alle Ver­
suche, den kultischen Vorgang wiederherzustellen, von vornherein
verfehlt.

Die Völuspa

I.
Unter den treibenden Wrackstücken der alten Literatur sehen
wir einzelne Trümmer des kultischen Dramas vor uns auftauchen.
Es existiert zum Glück ein Werk, das einen Gesamteindruck des
Kultfestes gewährt, nämlich die Völuspa. Aber um den Wert
dieses Gedichtes in seinem Verhältnis zu den Blotvorgängen und
deren religiöser Bedeutung abzuschätzen, ist es notwendig, N ähe­

300
res über den Standort seines Verfassers in der geistigen Entwick­
lung der Wikingerzeit zu wissen.
Die Völuspa ist nicht geschaffen worden, um eine Erläuterung
des Blotes zu geben. Ihr Verfasser ist ein Mann erhabenen Geistes,
der über das Schicksal der Menschen und den Sinn der Geschichte
tief gesonnen hat, und seine Gedanken steigern sich machtvoll zu
einer Vision der kosmischen Tragödie vom Anbeginn der Zeiten bis
zu ihrer Vollendung. Um diese Vision in Worten zu gestalten, tritt
er in der Maske der Völva auf, der weisen wahrsagenden Frau der
nordischen Völker; ihre Augen durchdringen mit ihrem Blick alle
Welten und schauen in die Zukunft — in die noch nicht „heraus­
gekommene“ - und in die dunkelsten Tiefen der Vergangenheit.
Das Gedächtnis der V ölva reicht bis in die Zeit zurück, wo
nichts existierte, weder kühle Wogen noch grünes Gras noch ein
Himmel, der sich über der Erde wölbte; es war nichts da als ein
tiefer Schlund. Aus diesem Abgrund wird die Erde von mächtigen
Wesen emporgehoben, von grünen Pflanzen sprießend; die Sonne
scheint von einem klaren Himmel und beginnt ihren geordneten
Lauf. Die Asen treten hervor und schreiten im schönsten Schmuck
der Jugend über die neugeborene Erde. Sie errichten Heiligtümer
mit hohen Dächern, sie schmelzen Erz und schmieden Kleinode -
Gold gibt es in Überfluß; sie sind voller Freude und sitzen auf
dem grünen Rasen vor der T ür beim Brettspiel. Über ihren K öp­
fen breitet Yggdrasil, die Weltesche, ihre Zweige, ihre immer­
grünen Blätter rauschen, und zwischen ihren Wurzeln steigen die
Schicksalsjungfrauen herauf.
Plötzlich geschieht eine Veränderung mit der W elt; die Asen
stellen sich in Schlachtordnung auf gegen die Schar der Vanen.
Odin schleudert seinen Speer für Heil und Sieg. Der Krieg ist in
die Welt gekommen, man hört das Stampfen der Krieger.
Vor den spähenden Augen der V ölva erscheint ein Kreis von
düstren Gesichten, der das leuchtende Reich der Asen eng um­
schließt. Die Asen waren zu Rate gegangen und hatten beschlos­
sen, einen W all zu bauen, um die Jöten fernzuhalten; nach einem
Vertrage, den sie mit dem Riesen schlossen, sollte er ihnen seine
Kräfte für das Werk leihen und zum Lohn Sonne und Mond er­
halten. Als aber der Wall seiner Vollendung nahe war, hatten die
Asen keine andere Wahl, als den Jöten um seinen Lohn zu be­
trügen, um das Licht der Welt zu retten. Seitdem hat es die Jöten
immer nach den himmlischen Lichtern und nach der Liebe der

301
Göttin gelüstet, und die Asen müssen zu den Waffen greifen, die
sie mit T rug und gebrochenen Gelübden geschmiedet haben, um
sich gegen die Tücken und die rohe Kraft ihrer Feinde zu wehren.
Voll banger Ahnungen sucht Odin die V ölva auf, die im Dunkeln
weilt, um bei ihr R at zu holen; sie sieht Walküren mit donnern­
den Hufen über das Land reiten.
Das Schicksal vollzieht sich. Einer der Asen liegt blutend im
Kreise seiner Verwandten; Balder steigt in das Reich der Toten
hinab, seines Bruders Pfeil trägt er in seiner Brust. Eine Stimme
klagt, die Asin Frigg trauert über W alhalls Weh. Und nun zeigt
sich ein Ausblick in den düsteren Ort, wohin die Strahlen der
Sonne niemals dringen; das fahle Reich Naströnds wird von W ild­
bächen durchtobt, die von Schwertern strotzen und von Gift schäu­
men, und Neidinge, Schwurbrecher und heillose Mörder waten
durch die reißenden, wirbelnden Ströme. In der H alle, die auf
dem öden Vorgebirge steht, öffnet sich die T ür gegen Norden,
und vom Dache träufelt giftiger Tau.
Im wilden undurchdringlichen W alde vermehren sich die Wölfe.
Ihre Brut stürmt in den Himmel hinauf und schnappt nach der
Sonne, sie verschlingt die Leichen der Gefallenen, Blut geifert aus
ihren Mäulern, es träufelt auf die Sitze der Asen hinab und färbt
das Sonnenlicht düster rot.
Die Welt hallt wider von unheilkündenden Stimmen; das schal­
lende Singen des Jöten von seinem H orst auf dem Hügel, das
Krähen der Hähne, die aus getrennten Welten einander antwor­
ten: Der goldkämmige Hahn, der die Bewohner W alhalls weckt,
der feuerrote Hahn der Jöten und der rußrote Vogel, der von Hels
Zaun her kreischt. Und über all dieses wirre Getöse dröhnt das
heisere Heulen des Hundes vor der Höhle im Felsen.
Das Leben ist verdorben, und von den Asen verbreitet sich der
Fluch bis in die Wohnstätten der Menschen. Durch den Aufruhr
der N atur und durch die Auflehnung in ihren eigenen Seelen wer­
den die Gedanken der Menschen verfinstert und verstört, und in
ihrer Verwirrung handeln sie gegen die tiefsten Gesetze des Lebens.
Die Bande der Sippe werden in blinder Leidenschaft verletzt;
Brüder kämpfen gegen Brüder, Verwandte verwunden einander,
keiner traut dem Nächsten, es graut eine neue Zeit: die Zeit der
Schwerter und Äxte; die Menschen hören jetzt nur das Getöse
krachender Schilde und das Heulen der W ölfe, die an den Leichen
der Erschlagenen zerren.

302
Die Zweige der Esche beben, die Erde hallt vom Stampfen ruh-
loser Schritte, stöhnend stehen die Zwerge vor ihrem steinernen
Tor.
Von den Felsen schallt das gellende Heulen des Hundes zurück,
jetzt reißt er die Fessel, der W olf rennt über das Land. Von allen
Seiten nahen die Heere: die Midgardschlange windet sich durch
die Tiefe und peitscht die Wellen mit ihrem Schweif; auf dem
Nebelwege drängen sich tote Männer hinauf; die Männer von
Muspelheim kommen von Osten gerudert, und Loki steht am
Steuer; eilig naht Surt aus dem Süden, die Kriegssonne blitzt von
seinem Schwert.
Das Schicksal, dem die Göttin lange schon nachgesonnen, voll­
zieht sich jetzt: Odin zieht wider den W olf, Frey kämpft gegen
Surt, Asen und Jöten töten und werden getötet. An der Schlange
kühlt Thor seinen Zorn und trägt seinen Sieg neun Schritte über
das Schlachtfeld.
Die Sonne verfinstert sich, das Land sinkt zurück in das Meer,
wie Regen stürzen die Sterne hinab, und himmelan lodert das
Feuer. Als der Weltbrand flackernd erlischt, ertönt das Hunde­
geheul zum letztenmal. Das wilde Getöse und alle Stimmen ver­
stummen - und neu erhebt sich die Erde aus den Fluten, frisch
ergrünend. Von den Hügeln springen Bäche herab, hoch oben aber
kreist der Aar und späht in die Ströme hinab. Auf den Feldern,
die ohne Aussaat sprießen, begegnen sich die Asen, sie gedenken
der Sagen von tapferen Taten und der alten Weisheit, und im
Gras zu ihren Füßen finden sie die goldenen Tafeln. Eine neue
H alle erhebt sich mit goldenem Dache, schöner als die Sonne; hier
wird ein Geschlecht edelgesinnter Menschen mit fröhlichen Herzen
wohnen.
Dann steigt der Mächtige, der Allmächtige, von oben herab. Der
finstere Drache fliegt fort, seine Flügel, von den Leichen der Toten
beschwert, streifen den Boden. Er versinkt im Abgrund und ent­
schwindet.

Diese dichterische Vision ist näher mit der Eschatologie des


Christentums als mit der Kosmologie der alten Germanen ver­
wandt. Zweifellos ist sie unter dem Einfluß der apokalyptisdien
Prophezeiungen der Kirche entstanden. Aber hier wie überall, wo
wir es mit lebenden Menschen zu tun haben, sind die Worte „A n­
leihe“ und „Einfluß“ wertlos; die analytische Methode, die Men­

303
schenseelen zerfetzt und zersetzt - indem sie die Gedanken von
irgendwoher hernimmt und die Bilder oder Formen von anders­
wo —, diese Methode sollte sich gründlich ausruhen, nachdem es
ihr glücklich gelungen ist, in der Religions-, Literatur- und sonsti­
gen Geschichte überall die Welt der lebendigen Menschen zu zer­
stören und in ein Häufchen intellektueller Brocken zu verwandeln.
Weit entfernt davon, christlich zu sein, tragen die Gedanken
und Gefühle des Dichters und die Vision, in welcher seine H off­
nung und seine Furcht vereint erscheinen, keinerlei christliche Züge.
Seine Angst entspringt nicht der Furcht des Christen vor der
Sünde und den Folgen des Ungehorsams, sondern der Furcht des
Germanen, der seine tiefe Ehrfurcht vor Geschlecht und Sippe
durch Ehrgeiz und Machtgier unterhöhlt sieht. Der Verfasser hat
den Stoff für sein Dichtwerk aus den Schatzkammern der alten
Religion geholt. Die Vorstellungen, die seine Bilder beseelen und
sie zu einem D ram a von Gericht und Auferstehung gestalten,
wurzeln im Glauben seiner Vorfahren: voll Schrecken sieht er den
Umsturz der Zeit — die Ehre, die Quelle jedes Vorzugs, wird er­
sticht, edle Menschen werden vom stürmischen Schicksal ergriffen
und von seiner blinden Wut mit fortgerissen. Die Heiligkeit des
Friedens ist es, die seinem Gedicht dramatische Spannung verleiht,
und in dem alten Gegensatz zwischen Asen und Jöten erreicht die
Katastrophe des Dramas ihre Höhe. Es ist schon richtig, daß der
Dichter durch Bekanntschaft mit der christlichen Eschatologie in­
spiriert worden ist; durch die apokalyptischen Bilder angeregt,
lernte er seine eigenen Gedanken lesen und die Erfahrung seiner
eigenen Epoche, der Wikingerzeit, in Worte fassen.

II.

Die Männer der Wikingerzeit betrachteten das Leben als ein


Abenteuer. Aber diese großen Könige und kleinen Häuptlinge, die
über die Meere schweiften und an vielen Gestaden kämpften, waren
nicht nur Abenteurer; viele unter ihnen waren zumindest auch
noch gewiegte Politiker, die in die Welt zogen, um sich ein König­
reich oder einen Landbesitz zu sichern. Aber der Abenteurergeist
ist am stärksten und sich selber am besten treu, wenn er von Ziel­
losigkeit und Zufallsglück nichts wissen will. Der Abenteurergeist
floß den Wikingern durch die Adern und erzeugte ehrgeizige

304
Pläne; je besser diese Pläne erdacht waren, vom Geiste des Aben­
teuers beschwingt, desto größer war auch der Mut der Abenteurer
und ihre Kam pflust.
Des Bauern Leben auf dem H ofe daheim hatte einen ruhigen,
langsamen G ang; die Begebenheiten folgten einander so stetig und
regelmäßig, wie eine Jahreszeit der anderen folgt. Die ehrgeizigen
Pläne und Unternehmungen der Söhne waren mit den Taten der
Väter eng verknüpft, sie gingen aus ihnen hervor, denn sie waren
von den Überlieferungen und dem Heil der Sippe eingegeben.
Unter den umherschweifenden Häuptlingen war das Leben gleich­
sam ein Spiel um Ruhm und Macht, ein Spiel, in welchem der
Krieger sein eigenes Dasein einsetzen mußte, immer wieder mit
dem äußersten W agnis: alles oder nichts.
Für die Germanen bedeutet das Leben Kam pf, der Mann hält
seine Waffen scharf, indem er sie dauernd an seiner Ehre schleift.
Trotzdem war es nicht der Krieg, sondern die Arbeit, die den
Inhalt des Lebens bestimmte und den gesellschaftlichen wie den
religiösen Gebräuchen Gestalt gab. Ein Mann behauptete sich in
seiner Vornehmheit aber ebensosehr, wenn er mit Heil seinen
Acker bestellte und eine großzügige Gastlichkeit erwies, wie durch
den Mut seiner Taten. Wenn die enge Verbundenheit mit dem
Tagw erk und den Alltagspflichten verletzt wurde, wie es in den
Heeren geschah, die sich auf fremden Boden niederließen, nahm
der Krieg von allem Besitz. Das echteste, ja das einzige Zeugnis
für die Vornehmheit eines Mannes schlechthin waren dann Taten,
mit der A xt vollbracht. Diese tapferen Krieger waren oft geneigt,
auf das treue Wirken des Broterzeugers verächtlich zu blicken, wie
aus einem Epigramm im Harbardslied hervorgeht: „Die Jarle hat
Odin, die da fallen im Feld, das Knechtsvolk hat T hor.“ Von
alters her waren Krieg und Fest unzertrennlich; an den Höfen
heiliger Könige kreiste das Horn festlich in der Runde. Wenn der
König seine H alle in ein fremdes Land verlegte, wenn sein Heil
aus den Äckern und Weiden rings um seinen H of herausgerissen
wurde, gestaltete sich das Leben notgedrungen als eine Folge von
Schlachten und Trinkgelagen.
Das Heil und die Ehre einer Heimstätte war ein Sippenkleinod,
das von Geschlecht zu Geschlecht weitergereicht und durch die
vereinte Kraft der ganzen Sippe erhalten wurde. Draußen in der
Welt aber mußte jeder einzelne Mann mehr oder minder allein
sein Glück erringen und auf eigene Faust den Stand seiner Sippe

305
behaupten. Und so wie der Athlet der Askese sich selbst zu über­
bieten versucht, weil er den gesunden sozialen Maßstab verloren
hat, so war der W iking leicht versucht, übers Ziel zu schießen:
seine Ehre wird immer anspruchsvoller und geht knurrend umher,
wie ein gieriges, nie zu sättigendes Raubtier. Mancher Wiking
hatte Königreiche entstehen und zerfallen sehen. Als die stärkste
Persönlichkeit wurde der betrachtet, der zu sagen vermochte: ein
Königreich ist verlorengegangen, aber es ist Zeit, ein neues zu
gewinnen. In einer Zeit, wo die moralische Stärke eines Mannes
weniger darin bestand, sich seiner Ehre würdig zu zeigen, als
darin, Ruhm zu gewinnen, war das Sterben eine ebenso große, ja
vielleicht eine größere T a t als das Siegen. In den Ruhmesworten
des kommenden Geschlechts das Leben nach dem Tode zu erneuern,
war schönster und bester Gewinn. Die Ehre, die der Sippe stets
das tägliche Brot gewesen war, verwandelte sich jetzt in den star­
ken T ran k der Unsterblichkeit, der hinter der Pforte des Grabes
ein Reich der Freude sich öffnen ließ.
Der Einfluß der Geschichte auf das Geistesleben der W ikinger­
zeit ist am stärksten in der Auffassung des Schicksals zu spüren.
Im Heim atlande war das Schicksal mit dem H eil der Sippe ver­
bunden gewesen, die Nornen gestalteten - „kürten“ - das Leben
des Kindes, indem sie ihm Inhalt verliehen, eine Anzahl von
Jahren, Begebenheiten,sie auszufüllen, und Ziele, die die Anstrengung
lohnten. Und diese „Kürung“ wurde nicht als Befehl empfangen,
sondern als Wille empfunden. Im Leben des Wikings dagegen
wirkte das Schicksal als eine Gottheit mit eigenem Willen, die ihm
oft genug die Waffe aus der H and schlug. Dem Geiste seiner V or­
fahren treu, nahm der W iking die Fügung des Geschicks als un­
vermeidlich entgegen; er setzte seine Ehre darein, nicht zu klagen,
wenn er dieser willkürlichen Macht gegenüberstand, die bald hier
einen Mann auf den Königssitz hob und die ihn dort mit einer
H andvoll Männern an den Rudern aufs Meer hinauszutreiben
vermochte. Moralische Stärke bewies ein Mann, wenn er vor dem
Winde zu segeln verstand, solange der seine Segel blähte, und
lachend unterzugehen, wenn sein „ T a g “ gekommen war.
Nirgends werden in der W ikingerzeit die Grundgesetze der
germanischen Kultur preisgegeben; die Eroberer und Gründer
neuer Königreiche bewahren in treuen Herzen die Überlieferungen
ihrer Vorfahren. Auch die schärfsten Nachforschungen werden
keine Änderungen der Gedanken und Gefühle, der Ideale und

306
Institutionen zutage fördern; aber die alten Gefühle werden zu
fieberhafter Glut gesteigert und durch ihr Anschwellen gewandelt.
Und in dieser Vergeistigung nimmt auch die Religion eine neue
Gestalt an, durch die veränderte Betonung gewinnen der Kult und
die ihm zugrunde liegenden Vorstellungen neues Gewicht, wie auch
die Gemeinschaftsformen neuen Zwecken dienen mußten. Wenn
die nordischen Völker übers Meer fuhren, war ihre Auswanderung
nicht nur eine Bewegung von einem Platz zum anderen. Zu Hause
konnten sie die Welt, wie groß sie auch war, von der Wohnstätte
aus mit den Augen der Seele überschauen. Doch als dieser Gesichts­
kreis jetzt vor ihren Augen zerrann und ein neuer sie einkreiste,
verlor das alte M idgard seine Geltung, und an seine Stelle trat
etwas, das mit unserem Universum näher verwandt war. Dieser
veränderte Rundblick hat eine neue Anschauung von Göttern und
Menschen geboren. Die lokalen Gottheiten, deren Machtbereich
mit dem örtlichen Bezirk ihrer Verehrer zusammenfiel, wurden
durch eine Gemeinschaft von Göttern ersetzt, die die Welt regierte.
Die heilige Stätte mit ihrem Blothaus, die den Mittelpunkt Mid­
gards gebildet hatte, wurde erhöht und in eine göttliche Fürsten­
halle verwandelt. Altehrwürdige Mythen, die von den Taten
unabhängiger Gottheiten berichteten, wurden in dichterische
Mythologie umgestaltet, und es entstand eine Götter-Sage, ähnlich
der, die ein früheres Geschlecht von Wikingern geschaffen hatte
- die Griechen Homers.
Diese Religion gebar einen neuen Gott, Odin, den Führer der
Männer, den Herrn des Schlachtfeldes. Odin ist jung - im selben
Sinne wie seine Verehrer. Er stammt von einem Häuptlings­
geschlecht im Süden und war die Verkörperung von dessen
Hamingja, und ähnlich wie er, der zuerst auf der heiligen Stätte
der Sippe ruhte, sich von einer örtlichen Gottheit in einen kriege­
rischen Genius verwandelt, wandelt sich die Geschichte seines
Volkes. Uber seinen Geburtsort können nur Mutmaßungen an­
gestellt werden; schon in den ältesten Zeiten finden wir ihn in den
Sagen über Sigurd und Sigurds Geschlecht, aber es fehlen uns
sichere Grundlagen, um die Identität der Völsunge festzustellen
oder überhaupt zu entscheiden, ob die Völsunge die Ur-Verkör-
perer des Dramas waren. Aus den Andeutungen der Geschichte
und der Sagen geht jedenfalls so viel hervor, daß Odins Einfluß
sich in den Jahrhunderten der Umwälzung, die der Geburt des
mittelalterlichen Europas vorausgingen, durch Bündnisverträge

307
zwischen den führenden Häusern stark ausgedehnt hat. Aus den
Stammtafeln und Familienüberlieferungen erhellt, daß die ehr­
geizigen skandinavischen Fürsten entweder durch H eirat oder auf
andere Weise eifrig nach Bündnissen mit solchen königlichen Ge­
schlechtern strebten, deren Stolz es war, die H am ingja der Völ*
sunge zu besitzen.
In der Odin-Religion sind die Ideale der Krieger in Weltgesetze
umgestaltet. Krieg ist der Sinn des Lebens, die Jahre werden nach
Ruhmesernten gezählt, der T od wird als der Einzug in das Helden­
paradies gefeiert, dort wird die Kam pflust jeden T ag erneuert,
und das Bier fließt jede Nacht. W alhall ist ein göttliches Ebenbild
des Königshofes: der Gott thront im Hochsitz, die Krieger lassen
den Becher kreisen im Angedenken vergangener Taten und viel
mehr noch in Erwartung zukünftiger; sie sind vom roten Licht
des Feuers überflutet, es spiegelt sich in Schilden und Schwertern,
die das Heil ihres Häuptlings verkörpern.
Odin trägt die Züge eines edlen Königs. Wanderer wird er
genannt. Auf den Schlachtfeldern in allen Teilen der Welt tritt er
auf und zeigt seine Macht mit einer Bewegung seiner H an d; seine
einzige Freude ist das Schwerterklirren und der Aufmarsch von
Männern, die die Gabe eines ehrenvollen Todes zu geben und zu
nehmen wissen. Er hetzt die Könige aufeinander im Kam pf, immer
eifrig, seine Bänke in W alhall mit Einheriern zu füllen. „In W al­
land war ich und wanderte zu Schlachten, schuf Fürsten Fehde,
doch Frieden nie“ , sagt er von sich selber im Harbardslied.
Odin schreitet von einer Schlacht zur anderen, aber er geht auch
von einem Stelldichein zum anderen. Im Harbardslied prahlt er
mit seinen siegreichen Liebesbegegnungen - „V ollauf genoß ich ihr
Wohlwollen und ihre Wonne“ - , und die vielen Abenteuer, die
die Sagen von ihm berichten, rechtfertigen diese Prahlerei. Die
Odinsmythen geben ein Bild von der lärmenden Lustigkeit eines
H ofes, von seiner Verherrlichung des Krieges, seinen Scherzen und
Sticheleien, seiner ausgelassenen Freude und seiner Bewunderung
der Dichter.
Durch diese Neigung zur Vergöttlichung des Königs trat auch
der Dichter in den Vordergrund. Wenn er in einem Gedichte die
Heldentaten seines Königs verherrlichte, wollte er nicht etwa die
Fröhlichkeit der Stunde damit erhöhen; die wuchtigen Ornamente
und üppigen Bilder seines Liedes dienten dazu, dem König und
seinem Gefolge ein ewiges Denkmal zu errichten. Die neue Be­

308
tonung von H eil und Ehre bewirkte auch im Kult eine Um­
stellung. Der Becher, der früher von der Fruchtbarkeit der Men­
schen, der Tiere und des Feldes und von Kampfheil überquoll,
schäumte jetzt über von hehren Waffentaten und von unsterblichem
Ruhme. Und als die Ehre sich zum Ruhm nach dem Tode kristal­
lisierte, wurde aus dem Dichter ein Priester der Ehre, der den
König durch seine Lieder unsterblich machte und buchstäblich den
Körper schuf, in welchem der Krieger durch kommende Geschlech­
ter weiterleben sollte.
Diese Umwandlung drückt den Sagen ihren Stempel auf: Odin
erobert sich einen Platz als kühner Räuber des lebenspendenden
Bieres und der Unsterblichkeit, aber der Kessel, den er aus der
Jötenwelt mit heraufbringt und siegreich am Rande des Blotherdes
hinstellt, enthält jetzt die dichterische Inspiration. Die uns über­
lieferten Sagen sind von der Wikingerzeit scharf geprägt. Mit
feinem W itz erzählt Snorri den Mythos von dem Asen, der durch
eigene List die Tücke des Jöten vereitelte, tollkühn in die Felsen­
höhle des Riesen eindrang, seine Tochter durch Liebe betörte und
mit dem köstlichen Naß, sicher in seinem Leibe aufbewahrt, ent­
floh. Er schließt seine Erzählung mit einer artigen Verbeugung
vor den Dichtern, die durch die Gunst des Asen zu der wahren
Quelle der Inspiration freien Zutritt haben.
Diese Fassung Snorris zeugt von dem Selbstbewußtsein der H of­
skalden; da Snorri aber einem ästhetischen Zeitalter angehörte,
hat er die Geschichte durch ein wenig literarische Kritik verbessert:
Odin entflieht glücklich der Verfolgung des Jöten und überfliegt
gerade noch zur rechten Zeit die Mauer Asgards, so daß er von
den Schüsseln Gebrauch machen kann, die seine Verwandten schnell
aufgestellt haben, aber in seiner augenblicklichen Aufregung läßt
er einen Teil des Metes nach hinten fahren, und diese Tropfen
sind unbehütet; hier erfahren wir, woher die schlechten Dichter
die Inspiration für ihre Afterkunst holen.
Der Gott, der im Hochsitz saß, trug die Züge eines Königs,
sagten wir vorhin. Aber die Linien in seinem Antlitz sind tief
eingegraben und offenbaren und verhüllen in geheimnisvoller
Weise einen Geist, der sich mit seinen eigenen Gedanken berät und
ihren Ratschlag für sich behält; es ist dasselbe unberechenbare
Rätsel, das die Krieger im Antlitz des Schicksals sahen. Seine
Entscheidungen sind die unerforschlichen oder vielmehr launischen
Entscheidungen des Schicksals, er zeichnet die Männer zum Sieg

309
oder zum Tod, wie es ihm gefällt, er kürt seine Lieblinge unter
den Königen, ohne nach Recht oder Wert zu fragen, er stachelt
sie auf zum härtesten Ehrgeiz und durchkreuzt ihre Pläne in dem
Augenblick, wo sie erfolgreich sind. Immer führt er sie mit starker
H and, wie es ihm beliebt.
Diese Wikingerreligion ist in ihrer äußeren Form auf uralten
Grundlagen aufgebaut, die Stifter haben keinerlei Neuerungen
eingeführt. Die ständig wiederkehrenden Biergelage in der H alle
des Königs, die Bedeutsamkeit der Dichtkunst oder der kultischen
Sprüche für das Leben nach dem Tode, der Raub des Mets, die
Tendenz und der Inhalt der Sagen, ja sogar die Liebesmotive in
der chronique scandaleuse Odins: wohin wir sehen, überall be­
gegnen uns die altehrwürdigen Elemente des Kults und des
Dramas. Und doch hat sich alles geändert. Das Leben selbst hat
einen neuen Rhythmus bekommen, und mit dem veränderten Zeit­
maß meldet sich eine neue Harmonie. Wenn Gedanken, Gefühle
und Taten in ein neues Gleichgewichtsverhältnis eintreten, kann
dadurch ein so merkwürdiger neuer Ton entstehen, wie er von
keiner revolutionären Lehre hervorgebracht werden könnte. Genau
wie in der alten Zeit sind im Leben der Wikinger K am pf und
Ehre das, was wir die grundlegenden Lebenswerte nennen, aber
sie sind jetzt gesteigert in Grundregeln des Lebens, durch welche
das Universum selbst gelenkt wird: Durch sein Leben und durch
seinen T od trägt der Krieger —als Krieger oder Sdhwertmann muß
hinzugefügt werden - dazu bei, das Schicksal des Universums zu
gestalten.
In den Gedichten der Wikingerzeit hallt es vom Kriegsgetöse
und Krachen der Schilde; sie sind vom Feuer brennender Städte
erhellt. Aber das ungestüme und fast schrille Odinslied, das von
der Schönheit des Krieges singt und von der M ajestät des mutig
ertragenen Todes - es hat einen traurigen, beinahe tragischen
Unterton. Die Männer, die mitten im Wirbel des Streites standen,
hielten manchmal plötzlich inne, erschrocken über die geistige und
soziale Umwälzung, die dieser K am pf um Ruhm und Macht her­
vorrief. A uf ihren Heerzügen und ganz besonders in den fernen
Niederlassungen waren diese Männer ganz aus ihrer gewohnten
Umgebung herausgerissen und in eine neue Kameradschaft hinein­
gestellt worden, die die alten verwandtschaftlichen Verpflichtungen
oft in den Schatten stellte oder doch hemmte. In ihrem Streben
nach Herrschaft wurden Brüder als Feinde gegeneinander ge­

310
schleudert, und die Ichsucht konnte sich in manchem so sehr stei­
gern, daß sein Ehrgeiz das Gehege des Friedens durchbrach. Die
Germanen konnten das Leid und die äußerste Verzweiflung nicht
tiefer ausdrücken als in den Worten der Völuspa: „Brüder kämp­
fen und bringen sich T od, Brudersöhne brechen die Sippe.“ Das
ethische Leben hatte seinen Ursprung und sein Wesen im Gefühl
der Verwandtschaft, aber wenn die Wurzel aller Tugend vergiftet
war, wurde auch der Wille zur Ehre zerstört. Wenn Brüder sich
entzweien, folgt ein Zeitalter nicht nur der Schwerter und Äxte,
sondern auch der W ölfe; die Völuspa sagt: „Ehebruch geht um,
T rug, Meineid und Meuchelmord.“ Der moralische Zerfall rührt
an die tiefsten Wurzeln des Lebens, sagt der Dichter weiter; denn
die Freuden des Lebens, seine Fruchtbarkeit und alle seine Güter,
die greifbaren wie die geistigen, sind mit der Ehre verknüpft, und
wenn die Ehre fehlt, ist das Heil, die T atkraft des Lebens, verletzt.
Das Zeitalter der Kriege versinkt in ein Zeitalter von Stürmen,
vernichteten Ernten - Winter und Frost herrschen das ganze Jahr,
verkündet die Völuspa.
Unter der Lobpreisung des Krieges als des Maßes der Menschen
und unter der Verherrlichung des Todes als Maßstab des mensch­
lichen Wertes lauert ein Ton heimlichen Zweifels, ob nicht das
Schicksal sich zu einem Gewitter ballt, das plötzlich losbrechen
und die ganze Welt durch einen Blitz vernichten kann. Die Ge­
schichte von Balders T od ist, wie wir sie von den Isländern emp­
fangen haben, ein von der tragischen Stimmung der Wikingerzeit
inspiriertes Dichterwerk. Es ist von einer schicksalsschwangeren
Düsterkeit überschattet, die von dem tragischen Auftritt ausgeht,
wo die Asen, vor Angst und Verzweiflung stumm, sich um den
Leichnam ihres Bruders drängen. Wenn innerhalb der Sippe Blut
vergossen wurde, w arf die T a t einen Schatten kommenden U n­
heils über den ganzen Besitz der Verwandten. Hier ist der Schat­
ten so breit, daß er die ganze Welt in das Dunkel des Todes hüllt.
Die Geschichte von Balder (s.o. I 103 und 109) entstammt einem
alten Mythos. Es sind reichlich Merkmale der Sage erhalten, die
deutlich genug sind, um die Hypothese zu bestätigen, daß die
Erzählung über ein Blotdram a geformt wurde, das wahrscheinlich
zum Freykult Beziehungen hatte; wir sind aber nicht imstande,
es in seiner ursprünglichen Form und mit seinem ursprünglichen
Inhalt wiederherzustellen. Ein ungenannter Dichter der Wikinger­
zeit hat diesen Stoff in die eigene Erfahrung getaucht und aus dem

311
Mythos ein Gedicht mit bestimmter Tendenz, wie wir sagen
würden, gestaltet. Indem er alle Vorgänge eng mit dem Gedanken
einer göttlichen Schandtat — nidin gsverk — verknüpft, so daß die
Qual der Asen, als sie mit gesenkten Köpfen und zitternden
Händen dastehen, jedes "Wort wie mit eiskalter Furcht vor kom­
menden Geschicken überzieht, wandelt er ein Fruchtbarkeitsdrama
in ein dichterisches Symbol des Inhalts, daß der Lauf der G e­
schichte sich unaufhaltsam einem Tage des Gerichtes zuneigt.
Der Verfasser der Geschichte von Balder war in den damaligen
erregten Zeiten keine Ausnahme. Die Literatur der Wikingerzeit
zeigt, daß auch andere Denker einen weiten historischen Überblick
hatten und die Menschheitsgeschichte als kosmisches D ram a — im
modernen Sinne des Wortes — auffaßten, ein D ram a, das sich
dem Verhängnis näherte und seinem Untergang in einer end­
gültigen Kraftprobe zwischen den Asen und den bösen Mächten
entgegenging. Im Lichte dieses Gedankens wird das Schicksal, oder
der Wille Odins, enthüllt und offenbart ein weitreichendes Ziel.
Der Ase starrt in die Zukunft, seine Augen deuten die Zeichen am
fernen Horizont, er weiß, es wird das Schicksal der Welt ent­
scheiden, ob seine Kriegerreihen tief genug sind, wenn sie gegen
den W olf und seine Brut in Schlachtordnung aufgestellt werden.
Ein tiefer Plan liegt im Grunde seines Entwurfs. Er spornt die
Könige an ohne Rücksicht auf ihre eigenen Ziele und ihren eigenen
Ehrgeiz. Um seine Bänke mit den besten Männern zu füllen, führt
er die Könige auf das Feld des Todes und kümmert sich nicht um
ihre Freundschaften oder Feindschaften.
Dieser Geist hat einen grandiosen Ausdruck in den Eireksmal
gefunden, einem Liede, das zum Andenken an König Blutaxt
gedichtet wurde (s. I 322). Das Kampfgetöse von Eriks letzter
Schlacht gab in Odins H alle dröhnenden Widerhall. D as Gebälk
krachte, es war, als ob tausend Männer hergezogen kämen. Odin
erwacht, er hatte geträumt, daß die Bänke in W alhall mit frischem
Stroh gedeckt und die Bierkessel zum Em pfang der Helden nach
der Schlacht bereitgestellt wären. Ein Gefühl freudevoller E r­
wartung sagt ihm, daß ruhmreiche Krieger unterwegs seien, don­
nernde Schritte künden Eriks Ankunft. — „W arum erwartest du
Erik vor anderen Königen?“ wird gefragt. — „Weil er in vielen
Ländern seine Klinge gerötet und sein Schwert, schwer von Blut,
weit und breit umhertrug.“ - „W arum nahmst du ihm das K am p f­
glück, wenn er kühn dich dünkte?“ - „Keiner weiß, was kommt, der

312
graue W olf schielt nach dem Asensitz.“ —Erik zieht ein, von fünf
Königen umgeben und an der Spitze von tausend Gefolgsmannen.
Vom Sturm der Schwerter zieht er nach den Sitzen des Gottes.
Während ihres Aufenthaltes auf den britischen Inseln kamen
die nordischen Völker mit religiösen Vorstellungen in Berührung,
die von denen ihrer Väter abwichen. Jeder, der die Literatur der
Wikingerzeit liest, muß erkennen, daß die Bilder und Gedanken
des Christentums und besonders seine Eschatologie auf die Skalden
Eindruck gemacht haben. Aber der Strom der christlichen Gedanken
hat die nordischen Völker nicht überschwemmt. Weit entfernt
davon, dem Einfluß der englischen Kultur zu unterliegen, ge­
wannen sie aus dem Kontakt mit Männern anderen Glaubens
neue Stärke. Die Geschichte jener Zeit besteht nicht aus einer Reihe
von Heerfahrten, die sich nur in der Errichtung kurzlebiger König­
reiche und der Beimischung skandinavischen Blutes auswirkten;
eher wäre es berechtigt, sie als eine geistige Auseinandersetzung
zu bezeichnen, die für die moralische Entwicklung der Eroberer
wie der Eroberten weitreichende Folgen hatte. Die Skandinavier,
die in das Land einfielen, begnügten sich nicht damit, einen ver­
wunderten oder gierigen Blick auf das Äußere der englischen
Kirchen zu werfen, sie verkehrten mit den Christen und erwarben
intuitiv eine keineswegs oberflächliche Auffassung der neuen Weis­
heit. Es ist ein starker Beweis für ihre geistige und moralische
Stärke und die Eigentümlichkeit ihrer seelischen Struktur, daß sie
durch die neu einbrechenden Gedanken und Vorstellungen nicht
überwältigt wurden; sie nahmen sie frei auf und verwandten das
Gelernte frei für ihre eigenen Zwecke. Die christliche Eschatologie
wirkte in ihnen wie eine Inspiration, aus der sich ihre Erfahrung
neu herauskristallisierte, und die Gefühle bewegten die Komödie
und Tragödie der wirren Zeit und formten sie zu scharfgeprägten
Ideen. Der geistige Gewinn, den sie aus der Befruchtung durch
die englische Kultur zogen, war zunächst ein freier Blick auf die
Welt und eine originelle Auffassung der Geschichte und des Kam p­
fes der Menschheit. Das zehnte Jahrhundert war in Wahrheit ein
Zeitalter kultureller Ausdehnung. Die lebhaft wechselnden Bege­
benheiten moralischer und politischer Art wirkten anregend auf
den germanischen Geist und fanden ihren Niederschlag in einer
Literatur von eigentümlicher Tiefe und Schönheit. Sie überschritt
die nationalen Grenzen und nahm einen Platz ein unter den
Werken, die der Welt gehören.

313
III.

In dieser Literatur nimmt der Dichter der Völuspa eine beson­


dere Stellung ein. Sein Gedicht hebt sich von anderen literarischen
Werken aus derselben Zeit dadurch ab, daß ein Meistergedanke
die Strophen so fest miteinander verbindet wie einzelne Glieder
einer Kette und sie gleichzeitig mit dichterischer Kunst von ge­
spannter, beinahe überspannter Kraft erfüllt. Nach seiner Ansicht
wurde die Geschichte der Welt dadurch bestimmt, daß Unredlich­
keit und Streit in sie kamen. Das Leben ist im innersten Wesen tra­
gisch, und diese T ragik haben die Götter selber geweckt: Durch
Betrug und Gewalt haben sie ihre Herrschaft erkauft, und darum
krankt sie an einer inneren Schwäche. Seit dem ersten Krieg trägt
die Welt an einer geheimen Schuld, die durch ihre eigene Wucht
weiterrollt und Götter und Menschen unaufhaltsam gegen den Ab­
grund des Todes treibt. Um sich Ehre und Heil zu erhalten, müssen
die Götter immer aufs neue ihre Zuflucht zu Arglist und Tücke
nehmen. Gerade weil sie Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit hoch
in Ehren halten, müssen sie immer wieder die Schleichwege der Ehr­
losen gehen; soll die Welt gerettet werden und nicht in die Klauen
der Jöten geraten, so müssen sie ihren hinterlistigen Ränken mit
schlauer Verschlagenheit begegnen.
Bei jedem Sieg, den die Götter über die Mächte der Finsternis
und der rohen Gewalt gewinnen, säen sie Zerstörung und T od.
Die herkömmlichen mythologischen Szenen sind von dem Dichter
so geordnet, daß sie zeigen, wie diese Saat keimt und Früchte trägt,
die am Jüngsten T ag im großen Ragnarök geerntet werden sollen.
Der erste Schatten fiel auf die Welt, als Odin seinen Speer in
die Reihen der Vanen schleuderte und den ersten Krieg herbei­
führte; er wurde noch düsterer, als der Riese um seinen Lohn
betrogen wurde. Durch diese Bilder leitet der Dichter über zu
der Vision einer Welt, in welcher die Sterblichen im Dunklen
tasten, von den Taten der Götter geblendet. Balders T od ist der
Eingang zu einer Hölle auf Erden, wo die Menschen ihre eigenen
Seelen vergiften, indem sie die heiligsten, erhabensten Gesetze, die
Grundgesetze des Lebens, verachten. Die Schatten werden länger,
und am Horizont ballen sie sich zu einer schwarzen Wolke zu­
sammen; plötzlich Schlägen die Flammen hoch hinter der dunklen
Wolke aus dem Todesreich der Jöten und verwandeln sie in ein
Feuer von düsterem Rot und Gelb.

314
Doch der Dichter schließt nicht mit Tönen der Verzweiflung.
Er blickt vorwärts in der starken Hoffnung auf einen T ag der
Wiedergeburt, auf eine neue Welt voll Frieden und Gerechtigkeit.
Der Fluch wird in seinem eigenen Feuer verzehrt, Götter und
Menschen beginnen ein neues Leben voll Ehre, Heil und Frieden,
und die Lauterkeit und das Wohlwollen dieses Lebens ruft den
Mächtigen aus der Höhe herab. Der T od wird aus der Welt ver­
trieben. Die letzte Vision, die vor den Augen des Dichters vorbei­
zieht, ist der alte Drache, der in den gähnenden Abgrund sinkt.
Dieser Dichter ist nicht der Mann aus dem Norden, der den
Glauben an Odin und Thor auslegte, wie es eine Generation von
romantischen Historikern vermutete; er ist auch nicht unter den
Heiligen des neuen Glaubens zu finden. Er predigt eine Religion,
die weder christlich noch heidnisch ist; sie hat Verbindung mit den
Gedanken und Gefühlen großer Kreise unter den Norwegern in der
Wikingerzeit, ist aber im höchsten Maße ursprünglich, das Be­
kenntnis einer individuellen Seele. Wahrscheinlich hat die Religion
der Völuspa nie mehr als einen einzigen Anhänger gehabt, näm­
lich den Mann, der diese Vision hatte. Doch er behauptet trotz­
dem seinen Platz unter den religiösen Sehern der Welt.
Der Dichter erreicht sein Ziel durch meisterhafte Behandlung
des alten Stoffes. Der größte Teil des Gedichtes ist aus uralten
Sagen zusammengesetzt, ganz einfach in der Form wiedergegeben,
die unter den Zeitgenossen des Verfassers geläufig war, aber durch
ganz wenig Anpassung gelingt es ihm, den Stoff neu zu beleben,
indem er ihm sein eigenes Erlebnis einflößt. Die Wirkung wird
durch freie Anordnung der Mythen erzielt, und diese ist so fein
ausgestaltet, daß schon durch ihre Rückwirkung aufeinander ein
historischer Überblick gegeben wird. Eine Erzählung bekommt oft
eine neue Bedeutung lediglich durch Eingliederung in eine Reihe
von Visionen, so der Krieg der Götter oder die Geburt der Wölfe.
Eingeschoben zwischen den Ritt der Walküren und den Einblick
in Hels finsteres Reich, wird die Geschichte von Balders T od eng
mit der Vergangenheit verknüpft und als ein Wendepunkt in der
Geschichte betont. Durch die Ermordung des Asen wird die ätzende
Schuld, die das H erz des Lebens zerfrißt, sichtbar und verdunkelt
die ganze Welt. Manchmal wird das Thema vom Dichter durch
eine kleine Wendung noch einmal zugespitzt, so bei der Ober-
tölpelung des Riesen: mit feiner künstlerischer Berechnung dämpft
er den triumphierenden Ton, der dem Mythos eigen ist, und setzt

315
an seine Stelle ein angstvolles Grübeln über das moralische Gesetz,
daß der Sieg sich notwendig am Sieger rächen muß, wenn er
gezwungen ist, ihn um jeden Preis zu erkaufen. Die größte Anzahl
der Sagen, die vom K am pf mit den Jöten handeln, werden für den
letzten Teil des Gedichtes aufbewahrt, um die Grundlage für die
Beschreibung des Jüngsten Tages zu bilden; da werden die Asen
von ihrem tragischen Schicksal verschlungen, eine neue Welt tritt
an die Stelle der alten, von Streit und Blut befleckten. Mit dem
sicheren Griff vollendeter Kunst gliedert der Dichter seinem Ent­
würfe einige wohlbekannte Erzählungen ein und erreicht damit
eine starke Betonung des Schreckens. Die Strophe, die den Riesen
schildert, wie er auf seiner Warte auf dem Hügel lustig singt, das
Krähen der Hähne, die von hoch droben, vom Reich der Götter
bis tief in die Unterwelt der Toten hinunter, einander rufen, das
Bellen des Hundes - alles bildet ein Mosaik bekannter Vorstel­
lungen, aber im dichterischen Entwurf veranschaulichen diese
Bilder das nahende Unwetter und die vor dem Ausbruch mit
Angst geladene Atmosphäre.
Die Einzelheiten sind so sorgfältig gewählt, daß kein Zug über­
flüssig ist. Durch eine meisterhafte Komposition ist jede Einzelheit
in die Vision aufgenommen und durch den beherrschenden Plan
so belebt, daß die Vergangenheit wie durch einen furchtbaren Blitz
beleuchtet wird und unheilkündende Strahlen weit in die Zukunft
dringen.

IV .

Die K raft und Größe der Völuspa strömt zum großen Teil aus
der suggestiven Macht ihrer Bilder; die Verse sind oft wie Bäume,
die sich krachend vor dem Sturme beugen, manchmal aber sind sie
voll sanft hinabflutenden Lichtes, etwa dort, wo geschildert wird,
wie die W asserfälle von den Felsen springen und der Aar auf
breiten Schwingen seine Kreise zieht. Aber nie erreicht der Dichter
sein Ziel durch übertriebene Schilderungen. Die tiefe Wirkung sei­
ner Bilder, die visionäre Klarheit und Plötzlichkeit der Auftritte
sind die Folge einer bündigen, anspielungsreichen Verwendung des
Wortes. Er entfaltet nie die Begebenheiten des Dramas, in einigen
kühnen Strichen läßt er eine Situation entstehen, und die Geschichte
wird durch die Gruppierung und die H altung der Personen wieder­
gegeben. Aber über diese beziehungsreiche, fast impressionistische

316
Lebhaftigkeit der W irkung hinaus liegt in der Wahl der Worte
und Bilder eine unheimliche Macht, die keine Analyse dieser Kunst
ausschöpfen oder erklären kann. Der Leser, der sich zum erstenmal
in das Gedicht vertieft, wird möglicherweise das Gefühl haben,
durch eine Reihe von finsteren Plätzen zu schreiten, die nur durch
Lichtstreifen voneinander getrennt sind. Der Dichter gibt die
H andlung nie in erzählender Form. „Wer hat die Luft mit Gift
erfüllt und Oths Braut verraten Riesensöhnen? Thor schlug den
Schlag, Eide wurden gebrochen“ , dies ist der Bericht über die Aus­
einandersetzung zwischen den Asen und dem Jöten, der den W all
um Asgard baute, und dem als Lohn für seine Arbeit das H aupt
zerschmettert wurde. Wenn wir diesen Mythos nicht aus anderen
Quellen kennten, wären wir nie fähig, die Folge der Begeben­
heiten oder auch nur den Gang der Geschichte zu rekonstruieren.
Der Dichter behandelt seinen Stoff meisterhaft, aber diese voll­
kommene Kunst war vor ihm da, wie der Stoff lag sie bereit, um
von seinen Händen in ein vollkommenes Kunstwerk geformt zu
werden; tatsächlich waren beide unzertrennlich, weil die Kunst
dem Stoff innewohnte. Der Verfasser brauchte die Geschichte nicht
erst zu erzählen; er konnte sich nicht nur darauf verlassen, daß
seine Zeitgenossen die alten Geschichten kannten und imstande
waren, sie bei der leisesten Anspielung in sich wachzurufen; er
konnte sich unmittelbar an ihre Erfahrung wenden, denn sie waren
Zeugen der Begebenheiten gewesen, von denen die Sagen berich­
teten. Durch seine Worte zwang er die Zuhörer zum Sehen, und
er hatte diese Macht, weil seine eigenen Augen und die seiner
Freunde vom pulsierenden Leben des Festes voll waren und daher
in den Bildern des Blotdramas mühelos die ganze Welt zusammen­
gedrängt sahen. Das überwältigende Pathos des Gedichtes rührt
von der K raft seiner Bilder her. Eine leise Andeutung genügt,
nicht nur eine Situation darzustellen, sondern ein ganzes Dram a
aufzubauen, das in die Tiefen des Lebens und bis an das Ende
der Welt reicht. Um die Zauberkraft seiner Bilder nachzuemp­
finden, müssen wir, so weit wir es können, den schweren Reich­
tum und die volle Intensität des urtümlichen Dramas zu erfassen
suchen, seine religiöse, d. h. seine lebende Verbindung mit der tat­
sächlichen Lebenserfahrung und seinen Einfluß auf das äußere und
innere Heil.
Moderne Theaterbesucher mögen ergriffen, sogar tief ergriffen
sein, wenn eine neuentstandene Sympathie sie mit fremden Per­

317
sönlichkeiten und Schicksalen verbindet; aber bei dem klassischen
K ultgast wurzelte jeder Gedanke und jedes Gefühl in seinem
heiligen D ram a oder vielmehr darin, daß der Zuschauer die Be­
gebenheiten des Dramas durchlebte. Es war nicht die Aufgabe des
Dichters, die Bedeutsamkeit seiner Visionen zu demonstrieren,
denn seine Zuhörer waren mit dem dichterischen Kult großgezogen,
mit Bildern von kosmischer und ewiger Bedeutung. Wenn der
Verfasser seine Erzählungen aneinanderreihte, verschmolzen sie
und bildeten unter einem beherrschenden Gedanken eine Ganzheit,
genau wie im Blot die dramatischen Einzelheiten ihre Einheitlich­
keit dem alles durchdringenden M otiv verdanken, das in einer
religiösen Formel Ausdruck fand: der Feindschaft zwischen dem
Guten und dem Bösen. Sein eschatologisches Gedicht war nach alter
Art geformt - mit dem einen entscheidenden Unterschied, daß der
beherrschende Gedanke erstaunlich neu war. Der Dichter hatte es
nicht nötig, sein Evangelium auszulegen oder seine Neuigkeit aus­
drücklich zu verkünden, denn er konnte sich darauf verlassen, daß
es den Seelen sofort einleuchten würde: sie waren darauf ein­
gestellt, die Bedeutsamkeit dieser Dinge zu erfassen.
Kein Wunder, daß die Völuspa heute ein schwer zugängliches
Werk ist. Obschon es den Leser unwillkürlich mit unbestimmter
Ehrfurcht ergreift, läßt es sich doch kaum übertragen, denn es ist
so voll von alten Vorstellungen und Bildern, daß die Tiefe und
K raft seiner Strophen in modernen Worten nicht wiedergegeben
werden kann. Einige der springenden Punkte mögen durch eine
Umschreibung in Erscheinung treten, aber auch auf diese Weise
kann eigentlich nur der Weg gezeigt werden, auf dem man sich
seinem Mysterium zu nähern vermag, nämlich durch ein umfassen­
des Einleben in die nordische Kultur in ihrer Gesamtheit.

V.

Wenn wir die Völuspa als religiöse Urkunde betrachten und uns
ein Urteil über ihre Beziehung zu den geistigen Käm pfen der Zeit
gebildet haben, wird es uns möglich, das Werk als zeitgenössische
Beschreibung des alten Festes zu lesen. Was der Dichter uns hier
schenkt, ist keine photographische Aufnahme des Dramas oder
etwa ein Verzeichnis über die kultischen Auftritte in der rechnen
Reihenfolge; er gibt in seinem Werke eine geistige Überschau über

318
das Dram a, so wie es sich vor den Augen der Kultteilnehmer ent­
wickelte, und mittelbar, aber mit großer Kraft, stellt er nicht nur
die Auftritte in all ihrer Lebendigkeit dar, sondern noch mehr
- die Poesie, die Tiefe des Gefühls und die Schärfe des Gedankens,
das Erlebnis einer Wirklichkeit, wirklicher als das Alltagsleben,
die in den Kultgästen brandeten, wenn die Asen über die A ltar­
szene schritten.
Rein zufällig bereichert das Gedicht uns mit einigen Einzelheiten
von beträchtlichem Interesse für unser Wissen über die Technik
des Blotes. Das wichtige Unternehmen der Götter wird durch
einen feierlichen Akt eingeleitet, der in den Versen so beschrieben
wird: „D a gingen alle Asen zu ihren r æ k -Sitzen und hielten R at“
- dort besprachen sie Fragen wie diese: Wie die himmlischen Lich­
ter benannt und in den Himmeln geordnet werden sollten, wer
die Erschaffung der Zwerge auf sich nehmen solle, ob die Götter
den Vanen Zins zahlen sollten, wer der Jöte gewesen sei, der die
Luft vergiftet habe und der Schuld daran sei, daß Oths Braut an
die Riesen verlorenging. Diese Strophen zeichnen eine Episode des
Blotfestes, nämlich die kultische Beratung, die den feierlichen A uf­
tritten vorangehen muß. Dort findet eine Probe der Bewegungen
und Sprüche statt, damit die Aufführung ohne Zögern und Stocken
verlaufe, dort wird der künftige Kultleiter ernannt —natürlich in
Übereinstimmung mit einem festen Brauch - , mit anderen Worten:
er ging zu dem r æ k - Sitz, wo ihm die Würde verliehen wurde, sein
heiliges Amt zu verrichten.
Dieselben Sitze wurden benutzt, wenn heilige Sprüche ge­
sprochen, wenn Überlieferungen und Stammbäume aufgesagt und
Regeln und Weisheitssprüche wiederholt werden sollten. Die ganze
Weisheit, die der Sippe gehörte und die für ein rechtes Leben not­
wendig war, wurde hier eng mit der feierlichen Handlung ver­
bunden. In der Völuspa sind dem Auftritt, wo die Zwerge von
dem „schäumenden“ Blut des Opfertieres hervorgerufen werden,
eine Reihe von Namen angehängt, und es finden sich auch noch
andere Hinweise auf ein Hersagen der mythologischen Kunde in
Begleitung der dramatischen Aufführung. Solche kultischen Rezi­
tationen bildeten die Grundlage einiger Lehrbücher der Mytho­
logie und der Kosmologie wie der Grimnismal, Vafthrudnismal
und Fjölsvinnsmal, oder der kultischen Terminologie wie der
Alvismal. Aus diesen Gedichten erfahren wir, daß sich die Rezi­
tationen häufig als Zwiegespräche gestalteten, der eine der K ult­

319
träger fragte und zog auf diese Weise das kultische Wissen des
Leiters - hapta snytrir - heran. Wenn wir von diesem Gesichts­
punkte aus das Hyndlulied untersuchen, wird es wahrscheinlich,
daß dieses Gedicht den Vortrag der Genealogie eines norwegischen
Geschlechts darstellt, freilich ein wenig geändert, um sie dem lite­
rarischen Stil des zehnten Jahrhunderts anzupassen. In der didak­
tischen und kultischen Sammlung der H avam al sind uns auch die
Formen der kultischen Aussprache bewahrt, und ein Teil dieses
Gemisches ist ohne Zweifel eine direkte Auslese aus den kultischen
Texten. Das Gedicht schließt in der T a t mit dem alten Spruch,
der alles Vorgetragene umschloß und das Heil der Worte auf die
Kultgäste „befestigt“ : „Jetzt sind H ars Worte in H ars H alle
gesprochen, nützlich den Söhnen der Menschen, nutzlos den K in­
dern der Jöten, zum Heil für den Mann, der sprach, zum Heil
für den Mann, der weiß, zum Genuß der Worte für den, der
lernte, zum Heil für die, die lauschten“ (dazu vgl. II 19 und 80).
Durch die Völuspa finden wir nun auch den Weg zum Ver­
ständnis des technischen Ausdrucks, womit diese kultischen Ge­
spräche und Verkündigungen bezeichnet wurden, nämlich dcema,
urteilen. Drekka ok dcema, trinken und urteilen, ist ein Kompo­
situm, das die Vorgänge beim Fest bezeichnet. Die Schlachtung
wird durch einen Auftritt eingeleitet, wo die Männer, bevor sie
in den Schafstall ziehen, dcema. Im Hyndlulied dcema die Ge-
sippen über Verwandtschaft und Familie, in den H avam al über
Runen. Und als die Asen nach der Ragnarök-Schlacht Zusammen­
kommen, dcema sie über die mächtigen Begebenheiten und die
ungeheure Midgardschlange.
Das entsprechende Substantiv ist dómr, das natürlich die kul­
tische Rede und die kultische Handlung zugleich bezeichnet, näm­
lich die heilige Geschichte, die den Auftritten des Festes innewohnt.
Die neugeborenen Asen erinnern sich an die schicksalsschweren
dómar, die sie durchgemacht haben. Der berühmte Vers der H av a­
m al: „Besitz stirbt, Sippen sterben, du selbst stirbst wie sie. Eins
weiß ich, das nimmer stirbt, dómr über den Toten“ , ist eine An­
spielung auf den Nachruhm - eptirmœli - , die Fortsetzung des
Lebens durch das Blot. Norna dómr, das Urteil der Nornen, ist
mit dem Schicksal oder dem Heil verbunden, das der Quelle am
Fuße Yggdrasils entspringt, und es tritt hervor in den W ahr­
zeichen, die während des Blotes von dort empfangen werden. Als
das christliche Evangelium eine Benennung brauchte, die in den

320
Ohren der Nordländer einen bekannten Klang hatte, wurde ganz
natürlich hinn dýri dómr, der teure dómr, die Bezeichnung für die
Worte und Taten des neuen Gottes.
Jetzt verstehen wir auch den Namen des göttlichen Sitzes; rcek
ist gleichbedeutend mit dómr: kultische Rede und deshalb auch
die im D ram a verkörperten heiligen Begebenheiten. „Du kennst
alle die rcek der Asen“ sind die Worte, die Odin benutzt, um in
den Vafthrudnismal den Riesen herauszulocken. Und in den Alvis-
mal will Thor den Zwerg dazu bringen, sein Wissen zum Wett­
kam pf zu stellen, indem er ihm ein wenig schmeichelt: „Du kennst
rcek fira“ , nämlich das kultische Wissen, das für den Blotenden
notwendig war.
Die rcek-Sltzt (die Richtstühle) sind nicht weit entfernt, sie
hatten ihren Platz nahe an der Stelle, wo das Heil, das Glück
des Festes, sich besonders verdichtete, bei der Quelle am Fuße des
Baumes, innerhalb der Blotumzäunung. In der Sprache der Sage
gehen Thor und die Asen zu Yggdrasil, um zu dcema; diese Stelle
in den Grimnismal gibt uns eine Andeutung der rituellen Praxis,
wenn die Asen in der Kulthandlung zu ihren rcek-Sltzen gingen.
Die Mythologie desselben Gedichtes gibt noch ein zweites Bild
vom Aufzug zu den rcek-Sitzen im K ult: „Durch diese —die hei­
ligen Gewässer - schreitet Thor jeden T ag zu Yggdrasil, denn die
Brücke der Asen steht in Flammen, und die heiligen Fluten sieden“ ;
wir sehen die Blotenden an den Feuern vorüberschreiten zu den
rcek-Sltzen hinter den kochenden Kesseln unter dem heiligen
Zweig, der die Weltesche symbolisiert.
Eine der Reden der H avam al beginnt mit diesem Spruch: „Jetzt
ist es Zeit, heilige Worte zu üben - pylja —vom Sitz des Sprechers
- pular stól — bei Urds Brunnen“ ; dieses Verbum weist deutlich
auf kultische Rede hin, und zwar nicht in dialogischer Form, wie
sie in singendem Tone von der heiligen Stätte aus vorgetragen
wurde - es wird von Dichtern benutzt, die ihre Werke aufsagen,
und von Menschen, die mit sich selbst sprechen.
Als Eilif, der Verfasser der Thorsdrapa, den neuen Glauben an
Christ angenommen hatte, bekannte er seine Ergebenheit für den
neuen Gott, indem er sagte: „Christ sitzt im Süden bei Urds
Brunnen.“ Das heißt übertragen, daß Rom der Ort des „teuren
dómru war, der rcek Jesu, seiner Worte und Taten.

321
Sippengötter und Kultgötter
Von unserem Gesichtspunkt aus gibt es zwei Gruppen von Göt­
tern: die Götter der Sippe, die göttlichen Vertreter des Verwand­
tenheils oder der Hamingja - und die Kultgötter, die einen Vor­
gang im Dram a vertraten. Eigentlich war das ganze Fest mit dem
Kreis der Kultgäste, dem Hause, in welchem das Blot stattfand,
mit den kultischen Geräten, Auftritten und den Worten Gott,
aber diese Gottheit nahm persönliche Gestalt an, oder sie wurde
in jedem bedeutenden Auftritt als Persönlichkeit herausgestaltet,
wie es die Funktionsgötter der Römer dogmatisch erläutern. Diese
kultische Offenbarung der Hamingja in einer bestimmten Haltung
ist in Wahrheit mit dem Blotenden selbst identisch, wenn er die
heilige Handlung vornimmt und die Sprüche sagt, die zu der
Handlung gehören.
Solche kultische Gottheiten sind nicht im Besitz irgendeiner
eigenpersönlichen Dauerhaftigkeit außerhalb des Auftrittes, in
welchem sie erscheinen; ihr Dasein beginnt und endet mit dieser
Episode; sie werden also niemals das erhalten, was wir einen
deutlichen persönlichen Charakter nennen.
In Gedichten und Bruchstücken von Mythen, in Kenningar und
Namens Verzeichnissen sind uns eine große Anzahl kultischer Bei­
namen erhalten, mehr als genügend, um den verwickelten Aufbau
des Dramas zu bestätigen, aber in den meisten Fällen sind diese
Namen für uns nur Stichwörter zu Auftritten, die für immer
verlorengegangen sind. Manchmal können wir in dem Beinamen
undeutlich die kultische Bezeichnung eines Amtes erkennen, das
einem Gott oder seinem Darsteller zuerteilt war, z. B. wenn von
Odin in den Grimnismal gesagt wird: „Ich trug die Namen
Svidurr und Svidrir im Hause Sökkmimirs.“
Zu dieser Gattung gehört die Dreiheit, die in Verbindung mit
dem Jötenkam pf und der Schöpfung erwähnt wird. Es zeigt sich,
daß Hoenir derjenige ist, der das Blotfeuer anfacht und Leben
schenkt; die Völuspa erwähnt ihn als den, der die Wahrsage-
Stäbe „kürt“ , und deutet damit auf ein zweites Amt, das ihm
beim Bloten auferlegt war. Die seltsame Bemerkung in der Heim-
skringla, daß Hoenir als Herrscher von Mimirs Weisheit abhängig
war und sich in jeder Schwierigkeit auf ihn mit den Worten berief:
„Andere mögen entscheiden“ - sie könnte sehr wohl eine rationa­
listische Deutung einer kultischen Tatsache sein.

322
Ein interessanter Beiname, der sich, soweit wir sehen können,
auf Hoenir bezieht und auf ein anderes seiner Ämter hinweist, ist
Meili; der Name bezieht sich auf ein gemeinsames kultisches A uf­
treten mit Thor zusammen bei seinem Kam pf gegen den Jötcn.
In der poetischen Umschreibung der Haustlöng wird Thor Meilis
Verwandter genannt. Der Name kehrt wieder in einer Zusammen­
stellung Fet-Meili, der Wanderer oder Schreiter. Aus diesen An­
deutungen können wir uns einen einigermaßen klaren Begriff hin­
sichtlich der Bedeutung dieser Anrede bilden. Wie Vishnu im vedi-
schen Kult muß Hcenir eine kultische Umschreitung ausführen, um
den Platz zu weihen, ihn sicher zu machen und dadurch den
Erfolg der heiligen Auftritte, die auf dieser Stätte aufgeführt
werden sollen, zu verbürgen. Ein ähnliches Umschreiten fand statt,
wenn ein Ansiedler ein Stüde Land erwarb. Auf dasselbe kultische
Amt wird durch andere Umschreibungen hingewiesen, wenn Hoenir
bezeichnet wird als „der schnelle Ase und der Langfuß“ . Der Bei­
name aurk on u n gr weist auf eine Beziehung zu dem a u rr hin.
Es ist möglich, daß der Gott Uli in die Gruppe der Kultgötter
gehört. Die Tatsachen, die herangezogen werden können, um
seine Sonderart zu erläutern, sind zunächst, daß er Thors Stief­
sohn genannt wird, und zweitens, daß er enge Beziehungen zu
einem Schilde hat, und diese beiden Tatsachen bezeugen gemein­
sam dasselbe. Die erste Benennung bezeichnet seinen Platz im
Dram a als Thors Begleiter und Helfer - auf dieselbe Weise wie
bei Hoenir, aber in anderen Situationen. In der Thorsdrapa wird
die Verwandtschaft zwischen den beiden Gottheiten durch ein kul­
tisches Wort von unbekannter Bedeutung bezeugt: gttlli. Die Art
ihres Zusammenwirkens wird genügend durch den Schild bezeich­
net, der in beiden Dramen eine Rolle spielt: im ersten ist es der
Schild, auf welchem Hrungnir getötet wurde, im zweiten der
Schild, der Thors Begleiter vor dem Ertrinken rettete, als sie den
Strom der Unterwelt durchquerten. Das Programm zu diesen Auf­
tritten gibt die jüngere Edda: „Schild kann Ulis Schiff genannt
werden, oder er kann umschrieben werden mit einer Anspielung
auf Hrungnirs Fuß.“ Aus dieser Bemerkung entnehmen wir, daß
ein Schild zu den Kultgeräten gehörte, und ferner, daß die KuJt-
gottheit, die zu diesem Schilde gehörte, Uli genannt wurde. Die
Stelle in der Hrungnir-Sage, wo erklärt wird, daß der Riese den
Schild unter seine Füße schob (oder in der Fassung Haustlöngs:
auf dem Schilde erschlagen wurde), weist auf die Darstellung auf

323
der kultischen Bühne hin. Vielleicht spielten der Schild und der
Schild-Gott, wie Ull poetisch benannt wird, auch in anderen Situa­
tionen eine Rolle als in denen, die zufällig in der uns überlieferten
mythologischen Literatur erwähnt sind.
In den Grimnismal findet sich eine weitere Einzelheit, die A uf­
klärung über die Funktion Ulis im Dram a gibt: die Strophe (s. o.
S. 294) deutet an, daß der Gott eine gewisse Beziehung zum Blot­
feuer und zu den Kesseln hatte. Vielleicht gibt das Eddagedicht
B ald rs d rau m ar eine weitere Erläuterung, denn hier heißt es, daß
der heilige Bierbottich mit einem Schilde bedeckt war: „Für Balder
steht hier gebraut der Met, der reine Trank, der Schild liegt
darauf.“ Weitere Beinamen Ulis sind Bogenmann, Skiläufer, Ja g d ­
gott, aber aus Mangel an erklärenden Sagen oder anderen H in­
weisen muß die Bedeutung dieser Namen dahingestellt bleiben.
Snorris Bemerkung, daß es der Mühe wert sei, ihn vor einem
Zweikampf anzurufen, deutet wahrscheinlich auf seine kultische
Rolle als Thors Helfer.
Wenn also unser Wissen in bezug auf den Gott U ll etwas un­
sicher und oberflächlich bleibt, sind wir auf um so festerem Boden,
wenn wir uns mit der Gestalt Heimdals befassen. Obschon uns
der vorhandene Stoff nur kurze Einblicke in seine Stellung im
Kult gewährt, ist er doch von vielen Seiten beleuchtet, so daß wir
einen sehr deutlichen Eindruck von seiner Eigenart und kultischen
Bedeutung erhalten. Nach dem recht systematischen Bericht der
jüngeren Edda ist er der Wächter der Götter und sitzt am Rand
des Himmels, um die Brücke gegen die Jöten zu hüten. Wenn
dieses symbolische Bild in eine kultische Tatsache umgesetzt wird,
besagt es, daß er der Schützer der Heiligkeit des Festes ist. Wie
Varuna in den Veden ist Heimdal die Verkörperung - der Funk­
tionsgott - des Festfriedens. Er wacht über die Kultgäste, damit
kein Mitglied des heiligen Kreises die Vorschriften und Verbote,
von deren Einhaltung das Heil des Blotes abhängt, verletzt und
etwa durch ein Versehen die heilige Stätte dem verderblichen Ein­
fluß der Jöten ausliefere. Kraft dieses Amtes wird er der weiße
Ase genannt, der weißeste und reinste der Götter, und von einem
anderen Gesichtspunkt aus: sif sifja d r, die Verkörperung des Frie­
dens und der Gemeinschaft der Sippe.
Die Kultgäste werden das heilige Geschlecht oder die Söhne
Heimdals genannt, denn sie sind geweiht und damit den Gesetzen
des Festfriedens unterworfen. Im besonderen bedeutet dies, daß

324
Heimdals Söhne oder Heimdals Geschlecht der heilige Name für
die Versammlung ist, wenn sich die Handlung gerade auf die
Weihung oder die moralischen Pflichten beim Fest bezieht, ähnlich
wie sich der Kreis der Gottverehrer im vedischen Kult an Varuna
und Mithra als die Hüter des Opferfestes wendet.
Die Heiligkeit des Festes fordert euphemia: kultisches Schweigen
und fromme Aufmerksamkeit, solange die Aufführung währt und
das Sprechen der heiligen Sprüche; in der heiligen Sprache heißt
diese euphemia hljód, und hljód ist gebunden an Heimdals Horn,
das Symbol oder die Verkörperung seiner Macht. Das Horn wird
einfach sein hljód genannt, und nach der Völuspa war es ver­
borgen — d. h. es ruhte - unter der Weltenesche an der heiligen
Stätte. Die Völuspa beginnt mit der Strophe: „Hljód heisch ich
heiliger Sippen, hoher und niederer Heimdalsöhne“ , Zeilen, in
denen ein kultischer Spruch umschrieben oder, wahrscheinlicher,
unmittelbar festgehalten ist.
In der Dichtung der Wikingerzeit erscheint Heimdals Horn als
die Posaune, durch die die Ragnarök-Schlacht angekündigt wird.
Ob diese Fanfare nun eine dichterische Erfindung der kam pf­
erhitzten Vorstellungskraft der Ragnarök-Dichter ist, oder ob sie
ihren Ursprung im alten Kult hat, mag dahingestellt bleiben.
Keiner der kultischen Beinamen weist darauf hin, daß das Horn
je geblasen worden ist, aber ihr Schweigen ist kein Beweis dafür,
daß es nicht doch als Musikinstrument benutzt wurde.
Heimdals kultisches und dramatisches Auftreten ist klar er­
kennbar. Er war in dem Horn anwesend, das auf der Blotstätte
ruhte. Der A uftritt ist vielleicht durch die Umschreibungen der
Skalden angedeutet, wenn sie das Schwert „Heimdals Haupt**
nennen; wir erfahren ferner, daß das Symbol das Horn eines
Widders, des Opfertieres, war, denn Heimdal ist der kultische
und poetische Nam e für W idder; hallinskidi, „W idder“ , ist einer
der Beinamen Heimdals. Die jüngere Edda gibt die Aufklärung,
daß Heimdals H aupt Schwert genannt wird auf Grund einer
Geschichte des Inhalts, daß er von dem K opf eines Mannes durch­
bohrt wurde, lostinn mannz-hofdi i gognum, und in Fortsetzung
dieser erstaunlichen Neuigkeit lesen wir: „D as ist der Grund,
weshalb das H aupt Heimdals mjçtudr oder Schicksal genannt
wird, und Schwert bedeutet Mannes-Schicksal.“ Es ist deutlich,
daß irgendwo ein Glied der Gedankenkette fehlt; jedenfalls hat
der Verfasser zwei Umschreibungen oder Beinamen durcheinander­

325
geworfen, nämlich, daß das Schwert Heimdals H aupt genannt
werden kann als Anspielung auf einen kultischen Auftritt, in dem
das Horn eines Widders vorkam, und andererseits, daß der Gott
vom H aupt eines Mannes durchbohrt wurde; die logische Schluß­
folgerung des Verfassers: H aupt ist Heimdals Schicksal, Schwert
ist des Mannes Schicksal, also ist H aupt gleich Schwert, macht den
Eindruck eines künstlichen Notbehelfs. Aller Wahrscheinlichkeit
nach entstand diese Behauptung, weil der Verfasser gern den Sinn
eines Beinamens finden wollte, dessen Bedeutung dunkel oder ganz
verlorengegangen war; dies schließt jedoch die Möglichkeit nicht
aus, daß er zwei verschiedene Kenningar zur Verfügung hatte, die
vermischt worden waren. Sollte das der Fall sein, so deutet der
letzte Beiname auf einen unbekannten Kultspruch, entsprechend
der Sage vom Kessel, der Odins Pfand genannt wurde.
Wir kommen jedoch ein wenig näher an die Bedeutung heran,
wenn wir das Wort mjçtudr untersuchen, das vom Verfasser als
Stütze seiner logischen Ausführungen benutzt wird. Mjçtudr ist
ein kultischer Ausdruck für Glück oder Schicksal, es ist die Zukunft,
so wie sie an das Blot gebunden ist und durch dessen richtige Aus­
führung erschaffen wird. Dieses Schicksal verdichtet sich, wie wir
schon gesehen haben, auf der heiligen Stätte um den Brunnen und
ist also eng mit Heimdals Horn verbunden und mit der Welten­
esche, die den heiligen Ort beschattet. Es heißt, der Baum besitze
unter den Menschen mjçtudr — die Kraft - , Frauen in Geburts­
wehen zu helfen. Die Völuspa hat eine parallele Form mjçtvidr.
Das müßte Baum des Schicksals bedeuten, aber wir verdanken
wahrscheinlich diese Zusammensetzung einem späteren rationa­
listischen Bearbeiter, der sein bestes getan hat, um den dunklen
T ext verständlich zu machen. Nach der Völuspa wird der K am pf
zwischen Asen und Jöten dadurch angekündigt, daß der mjçtudr
in Brand gesteckt wird, wenn Heimdal das alte Gjallarhorn erhebt
und laut hineinstößt. Der Satz ist nicht klar, aber er bezieht sich
offenbar auf die Tatsache, daß der Baum mjçtudr genannt wurde,
ähnlich wie Heimdals Horn hljód, weil es das „Sym bol“ der
euphemia war.
Heimdal wird der Wächter der Asen genannt, er sitzt am Ende
der Welt, wo der Himmel die Erde berührt: ein mythischer Aus­
druck für die Tatsache, daß er vid jardar prçm ruhte, am Rande
der heiligen Stätte der Menschen, nämlich des Blotplatzes, wo die
wirkliche oder ewige Welt zu finden war. D ort hat er seinen Platz

326
in naher Verbindung mit dem heiligen a u rr; Loki neckt ihn damit,
daß er das Leben eines Hundes führe, und daß sein Rücken mit
Schlamm beschmiert sei: aurgu baki, eine Travestie, die in den
Grimnismal ein mythisches Gegenstück hat: Heimdal trinkt in
Himinbjörg freudevoll seinen Met.
Die Einweihung Helmdals oder, mythisch gesprochen: seine
Geburt, wird in Worten geschildert, die den Kult und seine
Sprüche widerspiegeln. Nach dem Hyndlulied (38) wurde seine
Macht vom Megin der Erde geschaffen - ja r d a r m egin, das in dem
a u rr wohnte —, von den kalten Wogen und dem Naß der Opfer­
kessel. Er ist der Sohn von neun Müttern. Durch diese abgerissenen
Aussagen erfahren wir ein wenig über den Kult, der das Fest ein­
leitete und seinen Frieden herstellte: D as Horn des Widders wird
herangetragen und auf den „A ltar“ gestellt, es wird als Hüter des
Blotes geweiht und ist von neun Müttern geboren, neun Kult­
handlungen, wie wir aus Mangel an besserem Wissen nur sagen
können. Später nahm erne Reihe von Kulthandlungen ihren Aus­
gang von diesem Hüter, oder sie hatten sein Symbol zum Mittel­
punkt, wie es in dunklen Anspielungen auf das Horn angedeutet
wird.
In den Prosaworten, die die Rigs/?ula einleiten, wird Heimdal
mît Rig, dem Vater der Menschen, identifiziert, aber der wirkliche
Wert dieser Erläuterung ist ziemlich zweifelhaft. Es ist nicht ganz
undenkbar, daß diese Identifizierung einer echten Überlieferung
entstammt, etwa der Art, daß Heimdal bei der Geburt der Sippe
im Dram a eine Rolle gespielt hätte, aber das Gedicht selbst ent­
hält keine nähere Mitteilung darüber, daß Rig als ein Avatar von
Heimdal betrachtet worden sei.
Während der Dauer des Festes stand die Versammlung unter
dem Schutze Heimdals, aber in den Augenblicken, wo die heiligen
Worte von den rcek -Sitzen gesprochen wurden, wurde die Feier­
lichkeit der Stunde durch ein anderes kultisches Wort ausgedrückt.
D as Vor gesprochene ist H ars Rede, die Versammlung findet in
H ars H alle statt, und aus diesen Formeln erfahren wir, daß ein
anderer kultischer Gott, H ar oder H avi, das Sprechen leitete und
den richtigen Wortlaut der heiligen Texte überwachte. Ein kul­
tischer Satz, der auf diese Anschauung des Blotes hinweist, taucht
in dem Gedicht auf, das Eyvind zu Ehren Jarl Hakons verfaßt
hat: „Ich heische h ljó d in H ars Versammlung.“
Die einleitenden Verse lauten: „Ich heische Gehör in H ars Halle,

327
wenn ich den Met hebe - die Mannesbuße des Riesen — und das
Geschlecht des Jarls aufzähle bis zu den Göttern in Odins Kessel­
flut - Içgr — die er auf mächtigen Flügeln trug aus Surts tiefen,
dunklen Tälern.“ Auch wenn wir unsere Worte bis zum äußersten
spannen, werden wir nie die genaue Bedeutung und den genauen
Sinn dieser Verse wiedergeben können; der einzige Weg ist viel­
leicht, die Fassung von Eyvinds Gedicht zu schildern. Er hatte ein
Lied zu Ehren des Jarls von H ladir verfaßt, und das Thema, das
er sich aussuchte, war die Überlieferung von Hakons Abstammung;
er gibt in seinen Strophen eine Aufzählung der Vorfahren des
Jarls oder einen Abriß seiner Hamingja — in den Namen des
Stammbaumes liegt natürlich die Geschichte, die diese verschiedenen
Gestalten darstellten. Ein solches Gedicht ist ein ræ k oder dó m r;
es schenkt dem Jarl wirkliche Ehre, indem es den Ruhm seiner
Sippe neu ins Dasein ruft und auf diese Weise seine Macht und
sein Hell erhöht. Daraus folgt, daß es nur bei einem Feste als ein
Teil des Kultes vorgetragen werden konnte, wenn es erst durch
den heiligen Becher geweiht und „ganz“ gemacht worden war.
Eyvind beginnt sein Gedicht ganz selbstverständlich mit einer kul­
tischen Anrede, indem er seine Zuhörer mit feierlichen Worten auf
ihre Heiligkeit „in H ars H alle“ hinweist. Er kleidet ferner seine
einleitenden Worte in Bilder, die auf das Bier anspielen, wiederum
ein Zeichen des Festes, bei welchem sein Gedicht das Formceli
bildet. Es ist keine leere poetische Umschreibung, wenn sein Gedicht
und die Sage vom Bier sich in einer zusammenfassenden Vorstel­
lung vereinigen: dem Vortragen der D rapa und dem Bierreichen.
Nun fühlen wir allmählich die Kraft der Kenningar in solchen
Strophen: „Der das Bier auf mächtigen Flügeln trug aus Surts
tiefen dunklen Tälern.“
Alles, was vom Asen Vali zu sagen ist, kann in dem einen Wort
ausgedrückt werden: der Rächer. Der Sage nach wurde er zum
Zweck der Rache von Odin gezeugt, und im zarten Alter von
einer Nacht, bevor er seine Hände gewaschen und sein H aar ge­
kämmt hatte, brachte er seinen Widersacher auf den Scheiterhaufen
(s. I 109). Diese mythologische Biographie wird durch sein drama­
tisches Amt hinlänglich erläutert: er ist der Ase, der nach der
Tötung des Opfertieres die Harmonie wiederherstellt, er ist zu
diesem Amt „geboren“ wie auch Heimdal, und er hat kein per­
sönliches Dasein außerhalb dieses Auftritts der Wiederherstellung.
Zu derselben Gattung gehören Götter wie Modi und M agni:

328
göttliche Stärke und Macht oder Megin bedeuten ihre Namen. Sie
stellen irgendeine Situation im D ram a dar. Die übrigen kultischen
Götter sind für uns nur Namen und mögen weiter im Zwielicht
der zerrissenen Überlieferung verharren.
Aus dem Grundgesetze des kultischen Dramas ergibt sich eine
innere Spannung, die - nach unserer Ansicht - in einzelnen A uf­
tritten eine störende Verworrenheit erzeugt. Der tote Körper des
Opfertieres ist das Heiligste von allem, aber er spielt zugleich die
Rolle des Jöten; die Erklärung hierfür liegt in der schöpferischen
Macht des Kultes, in dem das tiefste Grundgefühl der Germanen
Ausdrude findet: Um rein und wahr zu sein, muß das Leben immer
wieder der Gewalt der Jöten entrissen werden - um gut und
fruchtbar zu sein, muß die Erde auf ihren Leichen aufgebaut
werden. In der jüngeren Edda wird die Frage gestellt: „W as
machte Odin, bevor die Welt erschaffen wurde?“ , und sie erheischt
die Antwort: „Er wohnte bei den Reifthursen.“ Diese Worte haben
ihren Ursprung in einer alten Sage und spiegeln die Vorgänge im
Kult. Nicht nur große Dinge wie Himmel und Erde, Sonne und
Mond, sondern auch kultische Symbole wie der Bierkessel und das
Bier selbst müssen den Jöten geraubt oder genommen werden.
Die Mythen weisen häufig auf eine kultische Beziehung hin zwi­
schen den göttlichen Mächten und den Gewalten von Jötenart, auf
Ehe- oder Liebesbündnisse zwischen Göttern und Mädchen, die
der Jötenwelt angehören, wie z. B. Thors Freundschaft mit Grid,
durch die er Gridarvöll erhielt — nach der jüngeren Edda war
V idar ein Sohn Grids —, oder die Liebeshändel zwischen Frey und
Gerd, Odin und Gunnlöd.
So kommt es, daß die kultische Handlung die Zusammen­
wirkung von Wesen - entweder menschliche Darsteller oder han­
delnde Geräte - erfordert, die zugleich heilig und verwünscht
sind; verwünscht, weil sie - eine Zeitlang - den tückischen Einfluß
der bösen Mächte verkörpern, heilig, weil sie im Drama erscheinen,
um vernichtet zu werden, und weil sie nicht am Kult teilnehmen
können, ohne der Versammlung der geweihten Kultträger anzu­
gehören. Ihre besondere Aufgabe ist es, Gegenstände oder Kräfte
darzustellen, die „geheuer“ (heore, n ýt) gemacht werden sollen,
und es darf nie vergessen werden, daß die Schöpfung der Welt,
die Eroberung des Goldes oder des Bieres, die Tötung des Jöten
usw. keineswegs bloße Phantasiebilder sind.
Zu dieser Gattung kultischer Gestalten gehört die Tochter des

329
Jöten, deren Aufgabe es war, die feierliche H andlung der Ver­
söhnung einzuleiten. In der Sage sehen wir Skadi die Bühne be­
treten, um den Asen Gelegenheit zu geben, sich von der Schuld zu
reinigen, die sie durch Thiazis T od auf sich geladen hatten. Die
H austlöng und die Thorsdrapa haben noch den kultischen Namen
dieser Gestalt erhalten: Mörn, und es ist ein Rest von diesem
D ram a, wenn der Jöte „Mörns V ater“ genannt wird. Diese feier­
liche Benennung kommt auch in der Völsi-Geschichte vor, einem
Beispiel christlicher Verspottung bäuerlicher Abgötterei (vgl. II
S. 236). Hier finden wir einen weiteren Spruch, der den Namen
Mörn enthält: Mörnir empfange dieses Blot. Allem Anschein nach
kommt die Benennung noch einmal in einem Zaubervers vor, der
als Spottlied auf einen dänischen König gedichtet wurde.
Die Skadi der Sage entstammt sicher einem Dram a, das seine
H eim at in einem Kultkreis in der Gegend von Drontheim in N or­
wegen hatte; die Bedeutsamkeit dieser Gestalt im K ult ist durch
die Tatsache bezeugt, daß sie Stammutter der Jarle ist: „O din und
Skadi waren die Vorfahren dieses Geschlechts.“
Im R at der Götter gibt es keine Gestalt, die so fesselnd ist wie
Loki. Er war bei den Dichtern der Wikingerzeit äußerst beliebt.
Sie gaben ihm reichlich Gelegenheit, die Rolle des Schurken zu
spielen, und in ihren poetischen Mythen beschäftigten sie sich stets
aufs neue mit der Schlauheit, Doppelzüngigkeit, Prahlerei, Frech­
heit, List, Feigheit und Tollkühnheit, die hinter seinen glatten,
einschmeichelnden Zügen lauerten. Er wird die Hauptperson in
der W elttragödie, die interessanteste in der Geschichte der Asen,
und gleichzeitig die finstere Macht, .die durch die Stärke ihrer
Schwäche und die Frechheit ihrer Feigheit das Weltenschicksal
formt. Die Fäden des Schicksals, in das Asen und Menschen gänz­
lich verstrickt werden, laufen in seinem erfinderischen Gehirn zu­
sammen und werden durch seinen immer bereiten Witz und seinen
hämischen Spott gesponnen, bis sie ein Netz geworden sind, das
die ganze Welt in den Abgrund des Todes zieht. Mit seiner D op­
pelzüngigkeit und seinen schlüpfrigen Reden, mit seinen geschick­
ten Späßen und Kniffen geht er zwischen den Asen und den Jöten
hin und her; immer wieder lockt er die Asen bis an den Rand des
Verderbens, aber jedesmal findet er einen Ausweg, um seinen eige­
nen K opf zu retten. Durch sein Doppelspiel bereitet er langsam
aber sicher den T ag vor, wo die Feinde des Lebens losgelassen
werden, wo er an ihrer Spitze über das Schlachtfeld ziehen wird.

330
Dieser geschmeidige Freund der Asen hat sich immer ziemlich
widerspenstig gezeigt, wenn es galt, ihn mit den sorgfältigsten
Methoden der Analyse in mythologische und volkskundliche Ele­
mente zu zerlegen. Natürlich ist er einmal ums andere aufgegrif-
fen und auf den Seziertisch gelegt worden, sein Körper ist ana­
tomisch zerlegt und seine inneren Organe sind numeriert worden,
es wurde festgestellt, daß sie teils einem Korngeist, teils einem
Naturgeist, teils etwas anderem angehören; aber es ist keiner Ana­
lyse gelungen, ihm seine Flinkheit und Geschicklichkeit zu rauben,
unter den Händen der Anatomen gleitet er weg und springt sogleich
mit einem anstößigen Witz auf die Füße. Als einzige Erklärung
seines Charakters kann das mächtige historische Dram a dienen, in
welchem er die Hauptrolle spielt. Die Skalden der Wikingerzeit ver­
menschlichten die Götter und machten sie beinahe zu Charakter­
studien, aber an diesem göttlichen Spaßmacher und Gaukler war
ihre feinste Kunst verloren, so daß sie ihn beinahe zu einem Sym­
bol der Geheimnisse der menschlichen Seele machten. Wenige Ge­
stalten in der großen Porträtgalerie der Menschheit können sich
mit diesem schlauen Kenner der Menschheit oder richtiger der
Gottheit messen, der in seiner aufrichtigen Bosheit verblüffend zu­
sammengesetzt ist, von einer Tollkühnheit besessen, die seiner
Feigheit gleichkommt, in einer Scheide von zynischer Schwatz­
haftigkeit und Zanklust trägt er die schärfste Klinge der feinsten
Verschlagenheit, und diese Waffe versteht er auch noch in hoch­
mütiger Unterwürfigkeit zu gebrauchen - ein listiger Schalk, der
großzügig einen Kniff des Kniffes wegen liebt, der fähig ist, auch
noch die eigenen Fehler zu seinem Vorteil auszunutzen, der seine
Zeit damit verbringt, in Schwierigkeiten zu geraten, um sich Ge­
legenheit zu verschaffen, seine Schlauheit auszuprobieren, indem er
sich wieder daraus retten muß, und der immer wieder mit der
größten Anmut auf die Beine kommt, wenn er durch sein eigenes
Pulver in die Luft gesprengt wurde.
Diese Gestalt von dämonischem Humor ist keineswegs durch
reine psychologische Erfindung aus dem Nichts entstanden; sie hat
mit ihren reifen Gaben eine alte dramatische Vergangenheit. Die
Skalden gestalteten Loki, aber sie haben ihn nicht erschaffen. Er
war, um es kurz zu sagen, der kultische Spieler, der die Aufgabe
hatte, den Jöten herauszulocken, die Feindschaft zum Schwären zu
bringen und auf diese Weise den Sieg vorzubereiten - daher die
Doppelheit seiner Natur. Um diese Rolle spielen zu können, muß

331
er an der Heiligkeit und Göttlichkeit des Opferkreises teilnehmen,
und wenn die kultische Tatsache in die Sprache der Sage über­
tragen wird, nimmt sie diese Form an: Loki stammt von Jöten
ab, er ist in Utgard geboren und wurde in den Kreis der Götrer
aufgenommen, als er mit Odin Freundschaft schloß und mit ihm
Blut mischte. In der Lokasenna fordert er kraft dieses Bundes
triumphierend einen Sitz, er erinnert Odin daran: Haben wir
nicht in alten Zeiten miteinander Blut gemischt? Du hast geschwo­
ren, nie an einen Becher zu rühren, wenn nicht auch ich mein Teil
bekäme. Die „alten Zeiten“ — á rd a g a r — weisen auf den Beginn
der Zeit im Blot hin, und diese Strophe der Lokasenna ist wahr­
scheinlich die Reminiszenz eines kultischen Auftrittes, eines R at­
schlages, abgehalten in den ree ^-Sitzen, den Richtstühlen, als Vor­
bereitung zu der eigentlichen Handlung. Eine solche Gestalt muß
den ganzen Schimpf der Kniffe und Finten tragen, die notwendig
sind, um den K am pf ums Leben heraufzubeschwören, sie wird eine
komische Figur, ein Gauner, der dazu vorbestimmt ist, überlistet
zu werden. Die philosophischen Dichter der Wikingerzeit malen
Loki auf dem Hintergründe alter Erzählungen, und es ist anzu­
nehmen, daß der Humor dieses Wesens schon in der kultischen
Gestalt vorgebildet war. Die Auftritte, in denen dieser Jöte dar­
gestellt ist, wie er durch seine eigenen Ränke gefangen und kopf­
über ins Verderben gestürzt wurde, waren von grimmigem Humor
durchtränkt, aber durch das verächtliche Spottgelächter klang ein
klarer Siegeston, denn die Männer, die da lachten, verstanden es,
der gefährlichen Stärke ihrer Feinde Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Die Kultgäste spöttelten nicht über die Jöten; wenn sie die
Angriffe des Bösen abwehrten, mußten sie ihre äußerste Kraft ein-
setzen, und durch den gefährlichen K am pf hatten sie ihre eigene
Kraft erprobt und die Macht ihrer Götter kennengelernt.

D as D ram a als die Geschichte der S ip p e

Weil das Blotdrama die Geschichte der Sippe von Urbeginn an


bis zum heutigen Augenblick des Blotes enthält - daher das Schick­
salsschwere der verschiedenen Auftritte - , bildet es ein Ganzes, das
der Vorstellung widerspricht, die für uns von grundlegender Be­
deutung ist: der Vorstellung, daß sich kosmische oder mythische Be­
gebenheiten von historischen Tatsachen unterscheiden. Der K am pf
mit dem Jöten bedeutet den Sieg über den Feind in jeder Form,

332
nämlich die Überwindung des Feindlichen schlechthin; in diesem
Auftritt gewinnt die Sippe ein für allemal ihre Schlachten. Dies
bedeutet nach unseren Begriffen, daß die Sage einen doppelten
oder vielmehr einen vielfachen Sinn hat, denn wir sind außer­
stande, eine seelische H altung von so zusammengesetzter oder
besser noch zusammengedrängter Art zu erfassen. D a wir mit
unserer Erfahrung vom chronologischen Standpunkt ausgehen, sind
wir gehindert, die Geschichte als eine Ganzheit oder Fülle zu er­
kennen, die ihren inneren Zusammenhang nie verliert, auch wenn
sie bereitwillig in Episoden zerfällt, sobald irgendein Geschehnis
ins Gedächtnis zurückgerufen wird.
Im K am pf mit dem Drachen werden die Überlieferungen der
Sippe umgestaltet und gefeiert; daher hat diese Szene einen be­
sonderen persönlichen Ton, entsprechend der Erfahrung der ver­
schiedenen Geschlechtergruppen (vgl. II S. 33 u. f.). Die Sage schil­
dert nie die wirklichen Begebenheiten, die für uns als Geschichte
gelten, sondern sie gibt die Ereignisse so wieder, wie sie in der
kultischen Handlung ins Gedächtnis gerufen wurden. In Skandi­
navien sind die alten Überlieferungen unter dem Einfluß englischer
und irischer Erzählerkunst in literarischer Form neu gestaltet wor­
den, aber hie und da sind die Spuren älterer Formen unter der
Oberfläche zu erkennen, und in einem Falle ist der dramatische
Aufbau der Geschichte deutlich zu ersehen und von der Phantasie
des Dichters nur leicht überarbeitet.
Unter den skandinavischen Fürstengeschlechtern waren ver­
wandtschaftliche Beziehungen zu den Königshäusern im Süden
hoch geschätzt und eifrig erstrebt. Häuptlinge von ruhmreicher
Abstammung und von weitreichendem Ehrgeiz fühlten mit Stolz
das Blut der Völsunge in ihren Adern fließen und ihre Hamingja
in ihren Plänen schaffen. Daher ist es kein Wunder, daß die Sage
von Sigurd dem Drachentöter in den Geschlechtsüberlieferungen
eine hervorragende Stelle einnahm. Dieser Mythos ist immer wie­
der neuen dichterischen Bearbeitungen unterzogen worden, aber er
hat das zum Glück in einer Form überlebt, die noch den Stempel
der Sage trägt und uns zeigt, daß die Geschichte Sigurds, in Ge­
stalt des Kam pfs mit dem Drachen, immer aufs neue aufgeführt
worden ist. Eine Gruppe von Eddaliedern, die die Fafnismal, die
Reginsmal und die Sigrdrifumal umfaßt, sind über dieses Drama
oder über die entsprechende Reihenfolge dramatischer Begeben­
heiten beim Blot geformt worden.

333
Die Einleitung, die das Wirken der drei Asen Odin, Hoenir
und Loki schildert, ist ein reiner Blotmythos. Der zweite Teil ist
dadurch mit dem Blot verknüpft, daß der K am pf in Bildern wie­
dergegeben wird, die vom Blot herrühren - der Sieger kostet das
H erz des Opfertieres - , und die Strophen enthalten kultische Be­
zeichnungen wie fu n i für Feuer und fjç rse g i für Herz. Der Feind
erscheint noch in der Gestalt des Jöten: nicht nur werden Fafnir
und Regin Jöten genannt, an ihre Namen werden auch die kulti­
schen Bezeichnungen des Jöten geknüpft: der alte Jöte, der frost­
kalte Jöte, wie etwa in den Vafthrudnismal, wo von Ymir gesagt
wird: „Der Himmel wurde aus dem Schädel des frostkalten Jöten
erschaffen“ , in der Lokasenna, wo Loki mit den Därmen gebunden
wird, die aus „seinem frostkalten Sohne“ herausgerissen sind, in
den H avam al: „Suttung, der alte Jö te “ , und in der Völuspa: „D ie
Alte, die Mutter der W ölfe“ usw. Der dritte Teil, wo die Begeg­
nung Sigurds mit der W alküre geschildert wird, trägt die Merk­
male eines Trinkfestes: Sie reicht ihm das Horn und begleitet
diese Handlung mit einem Formasli, das nichts anderes als ein an­
rufender Eröffnungsspruch ist. Gleichviel ob sie eine buchstäbliche
Wiedergabe oder eine dichterische Umschreibung der Worte dar-
stelíen, die beim Blot gebraucht wurden, enthalten diese Strophen
die herrlichste kultische Anrufung, die uns erhalten ist.
Daß wir hier eine Wiedergabe der Einzelheiten des Dramas
vor uns haben, wird ferner durch zahlreiche d ó m ar, Sprüche, be­
zeugt, die gleichzeitig mythisches Wissen und sittliche Ratschläge
darstellen. Die genannten Gedichte bilden eine wertvolle Ergän­
zung zu den Erläuterungen der Völuspa und der H avam al über
den Vortrag der Sprüche im Gefüge der Kulthandlungen: Die
Tötung des Jöten bildet die Einleitung zu einem Zwiegespräch
über das Schicksal und die Nornen sowie über den K am pf zwischen
den Asen und Jöten. Durch die Darreichung des Hornes wird eine
Belehrung in der Runenweisheit angeregt, und eine andere Be­
gebenheit führt zu einer Erörterung über praktische und sittliche
Weisheit. Den H avam al zufolge wurde die amtierende Person, die
nach dem rcek-S itz schritt, um Kultisches zu verkünden, in dieser
Eigenschaft bisweilen pulr, Sprecher, genannt; das Gedicht weist
zufälligerweise auch auf diese Seite des Blotes hin, indem es dem
Namen Regin das kultische Beiwort p u lr anfügt.
Der dramatische Ursprung des Gedichtes kommt ferner in der
Psychologie der Heldin zum Vorschein. Soweit wir wissen, ist

334
Brynhild in zwei Personen geteilt, die Frau und eine sagenhafte
Doppelgängerin Sigrdrifa; die Ursache des scheinbaren Wider­
spruchs ist, daß wir das D ram a von außen betrachten und uns des­
halb an der einfachen Tatsache stoßen, daß die Heldin im Dram a
durch eine Gestalt, die mythische Merkmale aufweist, dargestellt
wird. Die Waberlohe, die ihr Lager umgibt, mag an den Schau­
platz erinnern, auf dem ein Teil der Kulthandlung aufgeführt
wurde, ist also nichts anderes als das Kultfeuer. Dieses symbolische
oder dramatische Feuer kommt auch anderswo vor, z. B. in den
Skirnismal, in einem A uftritt kultischer Art, und sollten weitere
Beweise notwendig sein, so liefert sie in unzweideutigen Worten
eine Redewendung der Fjölsvinnsmal: „W ie heißt die H alle, rings
umhüllt von der Waberlohe? - Sie trägt den Namen H y rr“ -
Feuer, wahrscheinlich eine kultische Benennung — „und sie bebt
stets auf der Spitze der Schneide“ (vgl. o. S. 298).
Das primitive D ram a vereinigt Festigkeit in der Form mit Be­
weglichkeit in der Verwendung. Es ist an ein vorbestimmtes
Muster gebunden, das den beherrschenden Gedanken oder das
M otiv des Blotes ausdrückt, aber das Muster ist insofern an­
passungsfähig, als es gern der Schilderung örtlicher Vorgänge, der
Geschichte in unserem Sinne des Wortes, Raum gibt.
Wenn sich göttliche und menschliche Geschichte auf diese Weise
durchkreuzen, wird es bei modernen Lesern oft ein Gefühl der
Verwirrung wachrufen, das entweder eine völlige Ablehnung eines
solchen, für sie ziemlich leichtfertigen Umganges mit den „T a t­
sachen“ hervorruft oder, bei Gelehrten, etwa den Anlaß bildet,
riesenhafte Heldentaten der Analyse und Deutung zu vollbringen.
Ein Fall, wo das letztere zutrifft, ist die Geschichte von Balder,
die in zwei parallelen Fassungen erhalten ist, in einer isländischen
und in einer beim dänischen Geschichtsschreiber Saxo. Anscheinend
hat Saxo bei seiner romantischen Erzählung aus unbekannten
Quellen geschöpft, die ihren Ursprung in echten Sagen hatten, also
in Wiedergaben eines Sippendramas. Seine Sagen von Balder und
Ollerus sowie die von H adding stellen göttliche Mythen dar, die
historische Überlieferungen verkörpern, und sie schließen sich
darin dem Sigurdmythos an. D a Saxos Quellen unbekannt sind,
wird es uns vielleicht nie gelingen, zu erfahren, wie stark die
rationalistische Parteilichkeit des Mönches bei der Gestaltung seines
Stils gewirkt hat, und sein Werk wird immer ein etwas vorsichtig
zu behandelndes M aterial für die historische und mythologisdie

335
Forschung sein. Wenn wir aber zu Redit annehmen, daß er echte
Sagen zur Verfügung gehabt hat, müssen wir ihn vom Vorwurf
der Eigenmächtigkeit in der Behandlung des Stoffes freisprechen —
denn die Sagen boten ihm wohl einen Anknüpfungspunkt für seine
rationalistische Theorie.
In Eilifs Thorsdrapa hat die Sage noch ihren ursprünglichen
Charakter behalten. In der Mitte des Gedichts wird zwar der Be­
richt über Thors Heldentaten zugunsten einiger Strophen zurück­
gehalten, die dem Lobe eines zeitgenössischen Heerzuges oder
mehrerer Heerzüge gewidmet sind. Diese so sehr aktuellen Sätze
werden manchmal von der modernen Forschung als Einschachte­
lungen, die gegen die Einheit des Gedichtes verstoßen, sanft bei­
seite geschoben. Sicher wäre es richtiger, sie als den Kern des Ge­
dichtes zu betrachten, denn der Dichter verwebt die wirklichen
Schlachten mit dem Sieg über die Jöten, und in Übereinstimmung
mit dem Hauptthema läßt er seine Kenningar auf wirklichen
ethnologischen Namen spielen — Gandvikr Skotum, Skyldbreta,
vikingar usw. —, was alles beweist, daß er mit den kultischen For­
men der Dichtkunst in naher Fühlung war oder vielmehr in seiner
D rapa ein Kultdrama neu gestaltet hat. Wenn wir die Möglich­
keit hätten, seine Anspielungen wieder ans Licht zu heben, wäre
es uns wahrscheinlich ein leichtes, den König festzustellen, an des­
sen H ofe Eilif sein Gedicht vortrug.
„Heimdal kämpft mit Loki um das Brisingenhalsband bei der
Vágasker und dem Singastein“ , so heißt es in Snorris leider zu
kurzer Wiedergabe einer wichtigen Sage, die sich mit der Ge­
winnung des Goldes befaßt; über diese kurze Inhaltsangabe des
Mythos hinaus besitzen wir nur eine Andeutung, nämlich, daß der
kostbare Halsschmuck inmitten des Wassers ruhte, und daß Heim­
dal den Preis gewann. Der Mythos stellt einen W ettkampf im
Drama dar, abgehalten, um die Kleinode der Sippe vor dem
räuberischen Zugriff der Jöten zu bewahren und zugleich das Heil
zu erneuern, das dem Sippenbesitz innewohnt. Der Dichter der
Völuspa hat dieses Drama in Gedanken vor sich, wenn er Heim­
dal und Loki in der entscheidenden Schlacht zwischen den Göttern
und den Jöten als Gegnerpaar aufstellt. Die Tatsache, daß in
unserer Fassung des Mythos das Halsband, Brisingenschmuck ge­
nannt, im Mittelpunkt steht, ist vielleicht ein Rest einer indivi­
duellen Form des Dramas, das einem Brisingengeschlecht zuge­
hörte. Diese Brisinge waren eine süddeutsche Sippe, und wenn

336
ihre Sage in Skandinavien eingeführt wurde, beruht das auf ehe­
lichen oder anderen Bündnissen, ähnlich wie es bei der Sigurdsage
deutlich der Fall ist. Der K am pf zwischen dem Asen und dem
Jöten trat als Teil des Blotdramas überall in Erscheinung - er ist
identisch mit der Tötung Fafnirs - , und er setzt sich fort in einer
Reihe von Kenningar oder kultischen Sprüchen, die das Gold als
Lager der Schlange oder des Jöten bezeichnen. Der Grund dafür,
daß in unserer Fassung der Sage die Rolle des Retters Fleimdal
zugewiesen wird, liegt nicht fern: Das kultische Gold, das auf dem
„A ltar“ seinen Platz hatte, wurde während der Handlung durch
Heimdals Macht behütet.
Eine andere Sage, die auf historischem Hintergrund ein kulti­
sches D ram a wiedergibt, ist uns unter dem Titel erhalten: Der
Krieg zwischen den Asen und den Vanen. In dieser Gruppierung
der alten Götter in zwei streitende Parteien spiegelt sich ein Kam pf
zwischen verschiedenen Kulten oder vielmehr zwischen verschie­
denartigen Religionen. Die Asen sind die Götter des viehzüchten-
den, die Vanen die Götter des ackerbauenden Bauern. Das O pfer­
tier der letzteren ist das Schwein, und im Mittelpunkt ihres
Dram as stehen der Pflug und die Sense. Die Religion der Acker­
bauern unterscheidet sich vor der der Viehzüchter nicht nur durch
die Eigenart der Kulthandlungen, sondern mehr noch durch einen
Geist ungestümer Leidenschaftlichkeit. Das Schöpfungsdrama ent­
hielt gewöhnlich einen hieros gam os oder irgendein anderes Sym­
bol der Fortpflanzung, und es ist anzunehmen, daß auch der Kult
der Asen Handlungen enthielt, die sich auf die Geburt der Sippe
oder des Volkes bezogen. Aber in der Religion der Bauern waren
die kultischen Handlungen der Befruchtung und der Empfängnis
von einer sinnlichen Glut durchsetzt, die den Hirten fremd, ja ab­
stoßend war. In der alten norwegischen Literatur ist die erotische
Dichtkunst nur durch ein einziges Gedicht vertreten, die Skirnis-
mal, und diese Skirnismal sind die Umschreibung einer Sage, die
zum K ult der Vanen gehörte.
Wo der Ackerbau auf kam, führte er mit den landwirtschaft­
lichen Geräten seinen Kult ein; der Pflug war nichts nütze, wenn
er nicht von Anweisungen begleitet wurde, wie diese neue Erfin­
dung auf rechte Art zu handhaben sei, aber bei diesen Gebrauchs­
anweisungen hilft uns unsere Unterscheidung zwischen werkmäß*.-
gen und kultischen Anstalten nicht weiter. Alle Regeln, die die
Bodenbereitung und die Aussaat angaben, wären nichtssagend

337
gewesen, wenn sie nicht eine Einführung in die Kulthandlungen
enthalten hätten, die notwendig waren, um das Säen erfolgreich
zu machen, es mit „H eil“ zu erfüllen. Als der Ackerbau bei den
Nordländern eingeführt wurde, mußte dieser Kulturapparat dem
einheimischen Blot einverleibt und seinem D ram a eingefügt werden.
Der Vanenkult geht in Skandinavien auf die Zeit zurück, wo
der erste Pflug den Boden ritzte und die erste H andvoll Gerste in
die Furche gestreut wurde. Aber der Einfluß der Vanenreligion
wechselte erheblich, je nachdem, ob der Ackerbau eine Neben­
beschäftigung blieb, wie in großen Teilen Norwegens bis zur
Einführung des Christentums, oder als „Stab des Lebens“ den
Hauptunterhalt bildete wie in Dänemark und auf den breiten,
fruchtbaren Ebenen Mittelschwedens.
In unseren Worten ausgedrückt, zeugt der Streit und die Wie­
derversöhnung der Asen und der Vanen von einem Auf einander­
prallen wetteifernder Götter oder streitender Kultrichtungen, aber
diese Behauptung bedeutet, daß die ursprünglichen Tatsachen um­
gestaltet werden müssen, um sich unseren quasihistorischen Ab­
straktionen anzupassen. In Wirklichkeit erinnert der Mythos an
einen Krieg zwischen einem Stamm von Thor-Verehrern und einer
anderen Gruppe von Männern, die dem Frey opferten, und dieser
K am pf wurde durch kulturelle Vorurteile noch verschärft. Der
Einfluß der Vanen wird durch die unheimliche Verführerin Gull-
veig symbolisiert, in deren Gestalt der Abscheu erkennbar ist,
den die Thor-Verehrer gegenüber gewissen leidenschaftlichen und
erotischen Erscheinungen empfanden. „Sie trieb Zauber, behexte
die Sinne; immer ehrten sie arge Frauen“ , heißt es mit den star­
ken Worten der Völuspa (Str. 22). Der Krieg endete mit Versöh­
nung und Bündnis, und im Sinne des alten Friedens bedeutete
Freundschaft Mischung von Heil, also kultische Gemeinschaft. Diese
bedeutsame Begebenheit wurde der Geschichte des Volkes einver­
leibt, oder mit anderen Worten, sie wurde gefeiert und ständig im
Dram a erneuert, und die Sage kann nur einen Bericht der Be­
gebenheiten geben, wie sie wirklich geschahen, d. h. wie sie von
späteren Geschlechtern in der Blothalle aufgeführt wurden. Die
dramatische Situation wird vom Dichter der Völuspa anschaulich
wiedergegeben: „Zum rcek -Sitz schritten alle Götter, berieten, ob
Zins die Asen zahlen sollten oder alle Götter am Feste teilnehmen“
- damit wird die Kulthandlung eröffnet, indem dafür gesorgt
wird, daß sie auf rechte Art vonstatten gehen kann. Nun kommt

338
das Kultdram a selbst: „Odin w arf seinen Speer in die Schar, die
Umzäunung der Götter wurde durchbrochen, ihren Kampfschrei
ausstoßend, stampften Vanen die Flur.“ Die Begebenheiten, die
zum Kriege führten, werden in kultischen Ausdrücken wieder­
gegeben, die keine noch so scharfsinnige Zerlegung in historische
Darlegungen wird umbilden können: „D ie Götter spießten Gull-
veig auf Speere und brannten sie in der H alle H ars, dreimal
brannten sie die dreimal Geborene, oft, nicht selten, lebt sie doch
noch.“
In der Beschreibung der Vanengötter werden ihre Verehrer mit
abgebildet; es sind die Besitzer reichen, fruchtbaren Bodens, Pferde­
züchter, kühne Seefahrer. Selbstverständlich bezieht sich diese
Schilderung auf das Volk, dessen D ram a in der norwegisdien
Überlieferung enthalten ist, und sie stellt eine Art von Selbst­
bildnis dar. Ob sie wirkliche Ähnlichkeit mit dem Volke hatte,
das ursprünglich unter Freys Banner kämpfte, ist eine andere
Frage, die vielleicht bejaht werden kann, aber nicht durch das
Zeugnis der norwegischen Sage. Nach den durch spätere Berichte
bestätigten Andeutungen der Völuspa hatte die Religion der Vanen
eine besonders leidenschaftliche Kultform entwickelt, seiðr genannt,
in welcher der oder die Ausübende im Rahmen eines unheim­
lichen, eindrucksvollen Rituals sich durch Gesänge selbst hypnoti­
sierte. Es ist anzunehmen, daß die selbstberauschenden, spiritisti­
schen Aufführungen des seið finnischen oder lappischen Ursprungs
waren, und für die Vanenreligion ist es bezeichnend, daß schama­
nistische Elemente mit in den Kult hineingezogen und leicht assi­
miliert wurden.
Die Sage von dem Kriege zwischen den Göttern gibt uns keinen
Aufschluß über ihre Herkunft. N ur ein einziger gebrochener Licht­
strahl erhellt das Dunkel, das über den Urkunden ruht. Die
mythischen Namen der Freyja unterscheiden sich von allen ande­
ren Beinamen durch eine besondere Eigentümlichkeit: sie wird die
Göttin der Vanen genannt, die Frau der Vanen (v an a-g o d , v an a-
dis, v an a-b ru d r), und dies deutet darauf hin, daß „Vanen“ ur­
sprünglich die Benennung eines Volkes war, die dann später durch
ehemalige Gegner auf die Vanengötter übertragen wurde. Aus
den Sagas sehen wir, daß die norwegische Verehrung Freys
ihren H auptsitz in der Gegend um den Fjord von Drontheim
hatte, und daß sie durch Familien, die aus diesem Teil Norwegens
stammten, nach Island gebracht wurde. Die Vermutung, daß die

339
Sagen Käm pfe widerspiegeln, die sich vor langer Zeit in der Land­
schaft um Drontheim abgespielt hatten, wahrscheinlich Käm pfe
mit schwedischen Königen, trifft sicher nicht weit vom Ziel. Die
Leute dieser Gegenden mischten sich mit besonderer Vorliebe in
die Händel der umgebenden Welt, von früher Zeit ab kamen sie
mit ihren östlichen Nachbarn in Berührung, und später hielten
sie scharfe Ausschau über den Ozean. Die Stammbäume der Jarle
bezeugen, daß diese Häuptlinge einen eifrigen Verkehr mit den
Königreichen im Süden unterhielten und auch in den dänischen
Gewässern nicht fremd waren.
Es ist ohne weiteres verständlich, daß der Ackerbau nicht voll­
ständig und mit einem Schlag eingeführt wurde. Ein ständiger
Strom ländlicher Kultsitten ging vom Mittelmeerraum nach dem
Norden. Die eingesammelten volkskundlichen Zeugnisse aus dem
Bauerntum in Mittel- und Nordeuropa zeigen unverkennbar, daß
dieses Durchsickern bis weit ins Mittelalter hinein stattfand, nach­
dem das Christentum die klassischen Religionen kultisch und intel­
lektuell abgelöst hatte. Aber unsere Quellen fließen viel zu spär­
lich, um eine Hypothese über Ursprung und Entwicklung der
Vanenreligion zu rechtfertigen oder auch nur eine Analyse zu ge­
statten, die Aussicht bieten könnte, spätere Entwicklungsstufen im
Freykult aufzuspüren. Durch ein eigentümliches Zusammentreffen
von Umständen haben die angelsächsischen Runenverse den Über­
rest einer dramatischen Situation bewahrt, die der norwegischen
Sage ähnlich ist: „Ing wurde zuerst bei den Ost-Dänen gesehen,
er zog nach Osten über das Wasser, sein Wagen kam nach.“ Diese
Zeilen geben deutlich das Bild eines kultischen Auftrittes, und die
Ausdrucksweise zeigt, daß die zugrundeliegende Sage und damit
auch das Drama im Kult des Gottes und seines kultischen Wagens
eine Anspielung auf historische Vorgänge enthalten hat.
Bei unsern Versuchen, den Sinn der Sagen zu deuten, sind wir
durch die Tatsache gehemmt, daß uns die skandinavische Götter­
lehre in harmonisierter Form überliefert worden ist. Die Mythen
sind aus dem Boden gerissen, in dem sie gewachsen waren, sie sind
durcheinandergemischt, zu Systemen zusammengesetzt und in
Literatur umgeschmolzen worden. Wenn es uns zum Bewußtsein
kommt, daß unsere Nachrichten zum großen Teil aus nordnorwe­
gischen Quellen stammen, dürfen wir uns darüber nicht wundern.
Die historischen Urkunden, besonders die Landnama, zeugen von
der Rolle, die die hochsinnigen Geschlechter dieser Gaue bei der

340
geistigen Umwälzung, oder, wie es auf diesen Blättern genannt
worden ist, bei der kulturellen Ausdehnung des Nordens gespielt
haben. Den Namen Wikinger können sie in mehr als einem Sinne
beanspruchen, denn sie haben sich ebensosehr auf Entdeckungs­
fahrten in die geräumige Welt des Geistes gewagt wie in die
schönen Länder der Erde. Diesen kühnen Auswanderern verdan­
ken wir es vor allem, daß die Weisheit und die Ideale ihrer Vor­
fahren über die engen Grenzen des Stammes hinausgetragen und
in Formen gekleidet wurden, die einen Platz in der Literatur der
Welt einnehmen. In einigen Fällen aber trägt die Sage noch den
Stempel ihres Ursprungs. Im Thiazi-Mythos übernimmt Skadi die
Rolle des kultischen Rächers, und auch in den Händeln zwischen
den Asen und Vanen erscheint sie als die Hauptperson. Ihr Platz
in der Welt ist durch den kultischen Stammbaum festgestellt, den
Eyvind in seinem H aleygjatal benutzt hat, wenn er sagt: „Odin
und Skadi waren die Altvordern der Sippe.“

341
Anhang

8. Vadium , P f a n d 1
(siehe II 67)

Die altertümliche Form konnte im Mittelalter ohne Schwierigkeit auf


komplizierte geschäftliche Vorgänge übertragen werden. Das Vadium
war der Ausweis des Mannes im gesellschaftlichen Leben, und die Weiter­
entwicklung des Vadiums gibt uns wie in einer Nuß die ganze Geschichte
der Kultur. Ganz allmählich muß die Wirklichkeit des Pfandes dem
Formalismus weichen, und schließlich wird die Form wie ein Klumpen
toten Stoffes in neue Gedanken eingekapselt. Die Urkunden, in weldie
die jüngeren Generationen ihre Taten eingetragen haben, sind geistige
Palimpseste, aus denen der Erforscher des Mittelalters und der Erforscher
der Frühzeit ihre eigene Geschichte ablesen können.
D a das Vadium die Macht hat, Geber und Empfänger zu verpflichten
und einen Vertrag bindend zu machen - norwegisch fe s ta - , bildet es das
Ende jeder Zwietracht zwischen Männern, denn mit ihm wird die Ver­
gangenheit abgeschlossen, so daß die Sache erledigt ist. Wir sehen dies
in dem Falle jenes Töters, der sich mit dem Rächer friedlich über die zu
zahlende Buße einigt und gleich sein Pfand für die endgültige Zahlung
anbietet (Roz. 511), und ebenso bei Theoderich und Urso, die zum
Kloster des heiligen Vaters Benedict, Floriacus genannt, kommen und
demütig um Verzeihung für die Sünde bitten, die sie gegen Gottvater
und den heiligen Benedict mit seinen Mönchen begingen, als sie ihnen
unrechtmäßigerweise die Gabe entzogen, die ihr verstorbener Verwand­
ter für sein eigenes Seelenheil und das seiner nächsten Gesippen gespen­
det hatte. Der Abt erkennt die Aufrichtigkeit ihrer Reue und dankt
Gott dafür; und Seiner gedenkend, der nicht gleich die Bösen straft, son­
dern sie zu Reue führt, nimmt er das Pfand an, das sie als Sicherheit
für ihre Bereitschaft zur Wiedergutmachung anbieten (Thév. 73). Es mag
auch Vorkommen, daß ein Mann gedankenlos das Haus seines Nachbarn
in einer Weise betritt, die er nach reiflicher Überlegung vielleicht nicht
gerade gewählt hätte - ob er nun dem Herrn des Hauses sein Vadium
1 Anhang 1-7 siehe Band I, S. 399 ff.

342
gibt oder, wenn der Wirt des Hauses nicht zugegen ist, sein Vadium auf
die Türschwelle legt, jedenfalls werden ihm aus diesem Anlaß keine Un­
annehmlichkeiten über den Betrag von 3 Soldi hinaus erwachsen (Lex
Baj. 11,4).
Auch beim Abschluß eines Gerichtsstreites findet das Vadium seine
Anwendung. Die Waffe des Klägers ist eine kühne, scharfe Beschuldi­
gung, die durch Heil und Ehre, Mark und Bein schneidet, wenn sie nicht
durch gesetzliche „Verteidigung“ pariert wird. Die Waffe des Gegners
ist der Eid, durch welchen er sich von dem Makel befreit, den die Macht
des Wortes ihm zufügt. Der Besiegte bestätigt seine Niederlage, indem
er durch das Vadium den ungerechten Mammon zurückgibt und ebenso
durch das Vadium die nötige Wiederaufrichtung leistet oder das Ver­
sprechen abgibt, die andere Partei in dem weiteren Genüsse ihres Rechtes
nicht zu beeinträchtigen. Lange bevor der Rechtsstreit die Stufe des Ver­
gleiches erreicht, hat das Vadium jedoch schon eine Rolle gespielt. Die
gekränkte Partei geht zum Gegner und sagt: „Du bist der Mann! Was
willst du nun tun, um mir mein Recht zu geben?“ Der andere antwortet
freundlich und gibt ihm sein Recht, oder er sagt: „W as habe ich mit dir
zu schaffen? Ich habe das Recht, und hier ist mein Pfand darauf, daß
ich dich zufriedenstellen werde, indem ich mein Recht beweise.“ Jetzt
hat er sein Wort darauf gegeben, daß er zu verabredeter Zeit erscheinen
und den Eid schwören wird, der allen Wortstreit endet. Das Vadium ist
also die Achse geworden, um welche der Rechtsmechanismus sich dreht;
die Verpflichtung, vor Gericht zu erscheinen, besteht von dem Augenblick
an, wo der Beklagte die Beschuldigung anerkennt und sich verpflichtet,
zur rechten Zeit zu erscheinen. Das gerichtliche Verfahren kulminiert in
dem Urteil, das dem Beklagten befiehlt, des Klägers Unbill wiedergut­
zumachen und ihm - dem Kläger - durch Pfand zu versprechen, seine
eigene Behauptung an einem näher angegebenen Zeitpunkt zu beweisen
oder Wiedergutmachung zu leisten. „Petrus, Martin klagt gegen dich,
daß du nicht zu Recht besitzest, was du hast; kannst du dein Eigentums­
recht beweisen?“ Petrus meint, er sei imstande, dies zu tun. „Gib dann
Martin dein Pfand darauf, daß du zur rechten Zeit erscheinen und den
Beweis mitbringen wirst.“ Wenn Petrus ordnungsgemäß mit seiner „Ver­
teidigung“ in Bereitschaft erscheint, hat er sich gereinigt, und sein Gegner
kann nichts mehr sagen; wenn er aber nicht mit einem langen Gefolge
von Eideshelfern vor Gericht erscheinen, sie in Reih und Glied aufstellen
und durch seinen und ihre Eide laut sein Besitzrecht verkünden kann,
wird die Ham ingja oder der Wille des Vadiums ihn dazu nötigen, die
Buße zu zahlen (Liut. 62, 3).

343
Petrus und Martin sind Langobarden, und so wie sie sich benehmen,
benehmen sich nicht nur alle Langobarden, sondern auch viele, die mit
ihnen geistig verwandt sind. Die Franken haben gewissermaßen ihre
eigenen Sitten: sie „werfen“ ihre fe stu c a - die dem oben erwähnten
Vadium entspricht - in die Arme der anderen Partei. In diesem Vor­
gang ist ein Überbleibsel aus der alten nachdrücklichen Art enthalten,
Eigentum so zu übertragen, daß es sich ganz und gar dem Empfänger
auslieferte. Das Schwert, durch welches Männlichkeit und Anteil an dem
Erbe des Herrschers auf Beowulf übertragen wurde, wurde „in seinen
Schoß gelegt“ . Die fränkische Geste hat vielleicht auch eine ganz beson­
dere eigene Betonung: der Geber überreicht den Gegenstand, ohne ihn
unterwegs zu berühren, und schickt ihn voll und ganz dem Empfänger
zu (Beow. 2194 vgl. B A Po. I 339 [25] und Beow. 2404, Satan 672.
Vgl. auch nordische Überbleibsel in einem Wort wie k n ék ast).
» . . . und der also angeschuldigte Mann war selber anwesend und leug­
nete in keiner Weise die Sache, im Gegenteil, er gab zu, daß er den
Mann getötet habe, auf welchen sich die Klage bezog. Das Urteil wurde
gesprochen, daß er mit seinem Vadium die Buße zahlen solle, und zwar
soundso viele Soldi, und es geschah“ (Roz. 467). So endet eine germa­
nische Gerichtsverhandlung. Indem er sein Vadium überreicht, hat er
gezahlt. - Die Worte waren ursprünglich in ihrer buchstäblichen Bedeu­
tung zu nehmen, gleichgültig, welche juristische Wendung später aus
ihnen entstanden ist. Das Urteil hat es nicht nötig, über den Bereich des
Gerichtshofes hinauszublicken und für endgültige Abrechnung zwischen
den beiden Parteien Vorkehrungen zu treffen, denn durch die Übergabe
des Vadiums war die Zahlung ebenso geleistet, als hätte der Mann seine
Kühe vor dem Gegner aufgestellt. Das Vadium bildete die Krönung des
ganzen Vorganges, denn in ihm war weit mehr enthalten als in soundso
vielen Kühen oder Ellen Tuches, nämlich das Leben - Wille, Ehre und
Heil - des Gebeis.
Wenn der Schwerpunkt in die feierliche Handlung selbst hineinverlegt
wird, entwickelt diese letztere eine natürliche Neigung zur Ausdehnung, so
daß es z. B. nicht mehr genügt, nur die fe stu c a zu werfen, der Vorgang
muß dadurch abgerundet werden, daß sie erst vom Boden aufgehoben
wird (Mon. Germ. Leg. V 421). Das Vadium wird ein Zeichen, das seine
Stärke aus der Bedeutung ableitet, die ihm der Gerichtshof als öffent­
liches Beweismittel beimißt (Thév. 170, Loersch 97, Redon Nr. 179 usw.);
es dient nicht mehr dazu, den Willen der Männer zu festigen, sondern
ihr Gedächtnis und ihre Gedanken an das, was geschehen ist, zu festigen.
Jetzt handelt es sich darum, so häufig wie nur möglich das Gute zu tun

344
(vgl. Thév. 52, 124). Von hier aus ist kein weiter Weg mehr zu den
Zeiten, wo die Form sich genügend gefestigt hat, um harten juristischen
Köpfen als Prüfstein zu dienen; Interpretation, Kombination, Erklärung,
Definition - hier ist Raum für die Erfindungsgabe, Arbeit für geschulte
Gehirne, die knarrend Schrot für ihre Mühle fordern. Wie mögen dem
Schreiber in seinem geschäftigen Wohlbehagen die Finger gejuckt haben,
wenn er eine feierliche Handlung aufzeichnete, z. B. eine langobardische
Verlobung, bei der der Vater des Mädchens erst das Vadium geben muß,
durch welches vereinbart wurde, daß die Hochzeit an diesem oder jenem
Tage im Februar stattfinden solle, und dann mit - p e r - einem Stab
buchstäblich seine Tochter dem Freier übergab, um sie im nächsten
Augenblick auf genau dieselbe Art zurückzuerhalten, worauf sie in seiner
Obhut bleibt bis zu dem verabredeten T ag in dem verabredeten Monac
(Loersch 78). Wir spüren, wie der Dogmatiker mit den überlieferten
Formen Wucher treibt, indem eine Gabe, die als Entgelt überreicht wird,
im langobardischen Gesetz als förmliche Quittung festgelegt wird, z. B.
wenn ein Bewerber das Jaw ort durch Überreichung einer Gabe bestätigt,
oder wenn bei einer Rechtsentscheidung die eine Partei in gleicher Weise
der anderen versichert, daß alles vergessen sein solle (Roth. 143 Form.,
Expos. § 7; 184). Wenn einer sieht, daß sein Gegner bereit ist, einen Eid
zu schwören, und sein Gewissen ihm sagt, daß er lieber gleich alles zu­
geben müsse, um dem anderen den Eid zu ersparen, so wird diese T at
des Verzichtes vom anderen mit einer Gabe als Entgelt anerkannt (Tosti:
Monte Cassino [1842] I 222, Cod. Cav. I N r. 115 f. usw.; I N r. 377; als
Zahlung, Cod. Cav. II N r. 208, 302, vgl. Ficker N r. 48 S. 71); mit einer
ähnlichen Gabe bestätigt der Bewerber, daß er eine bejahende Antwort
erhalten, wenn er auch schon eine Zahlung geleistet hat, die als Ver­
lobungsgabe gilt (Thév. 48).
Vielleicht ersetzt hier das Symbol die Wirklichkeit, wenn z. B. der
Handschuh den Begriff der Hand vertritt (vgl. Thév. 137, Hist. Fris.
N r. 421, Thév. 121) - ähnlich die Deutung des Brautringes, der von der
römischen Gesellschaft übernommen, aber als eine Form von Vadium
gewertet wurde, s. Liut. 30, Cart. Lang. 16.
Die Übergänge sind so fein, daß es unmöglich ist, irgendwo den Fin­
ger daraufzulegen und zu sagen: Hier hört das Erlebnis auf. Im Laufe
der Zeit entstand die Kunst des Schreibens, und daraus gingen die Doku­
mente hervor. Jetzt konnte ein Mann sein Testament von einem Schrei­
ber aufsetzen lassen, doch mußten auch solche juristischen Mittel wie die
Dokumente sich den alten Sitten anpassen, um rechtsgültig zu sein. Dem
Schreiber müssen erst Tinte und Pergament überreicht werden, damit er

345
bevollmächtigt wird, das Schreiben auszufertigen. Dort wo früher Pfand
und Handschuh als greifbarer Stempel auf den Papieren lagen, werden
jetzt Pfand, Handschuh und Pergament aufeinandergehäuft (Thév. 42,
52, 105, 136, 143, 173, vgl. fe stu c a n o ta ta , Thév. 52; 105).
W ed , v a d iu m im Angelsächsischen: In der Bedeutung v a d iu m : Lieb.
228 (3, 2), 230 (7, 12), 92 (8); vgl. Anglo-Sax. Chron. <*.926, 1014 usw.;
Gen. 2070, Elene 1283, wo die ursprüngliche Bedeutung mit dem norwe­
gischen fe s ta d ó m identisch ist, aber gebraucht in der übertragenen Be­
deutung von: seine Strafe erleiden, sühnen, Beow. 2998. Als Umschrei­
bung benutzt = Versprechen: Lieb. 238 (5), 166 (3), 181 (10); = Traktat,
Verpflichtung: Lieb. 142 (5), 208 (1, 5), 46 (1), vgl. Gen. 2309, And. 1631.
Im Angelsächsischen ist die ursprüngliche Bedeutung noch erhalten:
w e d -b ró d e r = Bruder durch Gabe, vgl. A S Vocab. 225 (7), wo der
Kommentator w e d und g ifu nebeneinander stellt.
Das skandinavische v e d hat völlig eine Bedeutung im pekuniären Sinne
angenommen, die dem modernen „Sicherheit“ entspricht, vgl. Skånel. 182.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Formen der Verlobung
bei den Langobarden, den Angelsachsen und den Schweden zu vergleichen.
• Wenn der langobardische Bewerber freien geht, reicht er dem Vater
des Mädchens sein v a d iu m , wodurch er sich verpflichtet, dem Mädchen
alles zu geben, was einer rechtmäßigen Gattin zusteht. Der Vater wie­
derum verlobt seine Tochter durch Schwert und Fäustling, die der Freier
empfängt. D arauf bringt der Vater ein Vadium als Bezeugung, daß er
seine Tochter mit pflichtgemäßer Ausstattung als Frau hergeben will,
und der Bewerber seinerseits ist bereit, mit seinem Vadium zu bestätigen,
daß er seine Braut empfangen will, wie es ein rechter Ehemann soll.
Nachdem die Summe, die für das Mädchen gezahlt werden soll, verein­
bart worden ist, dankt der Bewerber durch eine Gegengabe für alles
Wohlwollen und für das Mädchen (Roth. 182 Form. [ = Thév. 48] vgl.
Roth. 195, Cart. Lang. 16).
Der angelsächsische Bräutigam tritt vor die Verwandten des Mädchens
mit seinem Versprechen, durch w e d bestätigt, was besagt, daß er ihre
Verwandte nach dem Gesetz Gottes zur Frau haben will, und an seiner
Seite stehen seine Gesippen, bereit, für ihn einzustehen. Er gibt nun
kund, was er für ihr Wohlwollen zu bieten gedenkt, und sein Ver­
sprechen wird durdi w ed bestätigt. Wenn alles zur Zufriedenheit ver­
abredet worden ist, „befestigen“ die Verwandten des Mädchens ihre Ge-
sippin an dem Bewerber (Lieb. 442).
Der schwedische Bewerber schenkt dem Vater oder dem Vormund des
Mädchens eine t i l g a f , eine Gabe, die ihm das Wohlwollen des anderen

346
sichern soll; wenn dieser die Gabe empfängt, verspricht er damit dem
Bewerber die H and seiner Verwandten, und die Vereinbarung wird
durch h an d sel bestätigt. Wenn das h an d sel getätigt ist, wird die Gabe
Eigentum des Vormundes, und die Verbindung ist geschlossen (Västg. I
Gipt. 2 vgl. Vestm. II Æ rf. 1, Upl. Æ rf. 1).
Beispiele für den Gebrauch des Vadiums im Gerichtsverfahren:
Die römische a rr h a ist mit dem Vadium verschmolzen und von dem
germanischen Gedanken beeinflußt worden, daß die Gabe bindende Kraft
besitze.
In bezug auf K auf und Zahlung: Roth. 366 vgl. Form., Liutp. 16
Form., Cod. Lang. I Nr. 52, Lex. Sal. Extrav. VI.
Bei Verlobungen: Cod. Cav. I N r. 163 vgl. N r. 92; Roth. Form. 182,
195, Cart. Lang. 16, Thév. 135.
In bezug auf Teilung des Nachlasses: Cod. Cav. I N r. 143, 158,164.
Bei Zahlungen: Redon N r. 48.
Bei Kaufverträgen und Übertragung von Geschenken: Thév. 117, Roz.
118, 133, 159, 200, 228, Pérard S. 152, Redon 37, 68, 83, 92, 144, 275;
Hist. Fris. Nr. 212, 402, Cod. Lang. N r. 92, Cod. Cav. I N r. 126, 165,
172. - Durch das Vadium ist das Eigentumsrecht gesichert, denn der Be­
sitzer verpfändet sich zu a n tista r e et d e fen d ere, z. B. Cod. Cav. I N r. 11,
21/2, usw.
In bezug auf Vergebung einer Verpachtung: Das Vadium wird von
der einen interessierten Partei oder der anderen übergeben, Cod. Cav. I
N r. 156, 183, 187 - Nr. 91, 95, 159, 205 vgl. gegenseitig ebd. N r. 119.
Bei Übereignungen wird das Vadium erwähnt, indem der Vorsatz des
Verkäufers ausgedrückt wird: Pérard S. 57, 64; Cluny I N r. 10; Thév.
124, 136, 143; Cod. Lang. Nr. 127, 146; Chartas I 23, 110 usw., usw.
In bezug auf Übertragung von Machtbefugnissen: Thév. Nr. 76; Roz.
391; Vaissete II 100; Hist. Fris. Nr. 308, 366 vgl. 412.
Bei Verabredungen: Thév. Nr. 73; Cod. Cav. I Nr. 148, 194.
In bezug auf die Verpflichtung, einen Eid zu schwören: Thév. N r. 167,
Lex. Sal. Extrav. B I/II, Roth. 360 ff.; Liut. 61, 77 (78) Form., Cod.
Cav. I N r. 114, 148, 186, Murat. Ant. I S. 504, 505, 746, 975 usw. in in f.
- Nach langobardischem Gebrauch bot auch der Gegner Vadium an als
Zeichen, daß er den Eid als entscheidend annehmen oder anerkennen
würde.
In bezug auf die Verpflichtung, Beweis oder Rechtfertigung zu be­
schaffen: Roth. 232; einen Eid zu schwören oder vielleicht eine Geld­
strafe zu zahlen: Roth. 361/2 (360) Form., Liut. 30 (31), 60/1 (61) Form.;
durch Kam pf zu entscheiden: Roth. 146 Form., 232 Form. vgl. Mon.

347
Germ. Leg. I ll 337 (IV). - Eine besondere Entwicklung ist es, wenn das
Vadium bedeutet, daß die betreffende Partei ihre Angaben in der Sache
und die Entscheidung, die das Gericht auf dieser Grundlage trifft, als
bindend anerkennen wird: Abh. Bayr. Akad. X II S. 220 N r. 15.
Bei Versprechen, sich der Entscheidung des Gerichts zu unterwerfen,
Buße zu zahlen usw.: Thév. N r. 38, 96, 114; Roz. 465, 467, 511; Mon.
Germ. Form. 256 (39), Mon. Germ. Script. I 528; Cod. Cav. I N r. 106,
Murat. Ant. I 534, Script. I 2, 363 vgl. Lieb. 92 (8).
Bei dem Verzicht auf Forderungen: Thév. Nr. 66; Hist. Fris. I N r. 122,
244; Cod. Cav. I Nr. 184, II Nr. 211; Murat. Script. I 2, 470.
Bei der Anerkennung von Verpflichtungen: T ardif Nr. 202.
Bei der Verpflichtung, einen umstrittenen Gegenstand abzuliefern :
Thév. N r. 62, 80, 100 ter, 102, 103, 107, Loersch 36, Roz. 451, 462, 474;
Mon. Germ. Form. 464 (3, 4), Mon. Germ. Dipl. I 103 (Nr. 16), 107 (21,
22), T ardif N r. 92, Bibi. Éc. Chartes 5 Sér. IV 167; 6 Sér. V 427, 430,
432; Pérard S. 34 (13), Grénoble Nr. 24; Cluny I N r. 3; Hist. Fris. I
Nr. 121, 125, 127; Cod. Lang. N r. 95; Murat. Ant. I 463. Vgl. betr. d.
Sachsen: Mon. Germ. Script. I 156.
Bei Zahlungen: Mon. Germ. Dipl. I 68 (77).

9 a. F estu ca
Der Verkäufer wirft die Festuca von sich, indem er gleichzeitig das
Heil und das Recht, das dem verkauften Besitz innewohnt, aufgibt - p e r
fe stu c a m se ex itu m d ic e re (fa c e r e ). Die psychologische Grundbedeutung
dieser Zeremonie, die sie gesetzlich bindend macht, ist mit den Worten
ausgedrückt: a b sa c ito fe c i, Thév. 105,143, Loersch 50, Cod. Lang. N r. 9C6,
oder ex so rtem re d d id i, Thév. 136. Dieselbe Tatsache geht aus einem
anderen Fall klar hervor: Der Stab wird geworfen, um anzuzeigen, daß
die Gefolgschaft widerrufen ist, Grimm: Rechts. 123.
Festuca wird beim Verkaufen oder Schenken benutzt: Thév. 29, 124,
148; Loersch 23; Roz. 255, 289; Pérard S. 40 (Nr. 26), 57, 162; Roz. 256.
Wenn Festuca beim Gericht benutzt wird, bedeutet es, daß auf den
umstrittenen Gegenstand oder auf Ansprüche, die sich auf ihn beziehen,
verzichtet wird.
Gerichtsverfahren beim Totschlag: Roz. 511.
Vergebung einer Erbschaft: Thév. 108.
Besitzergreifung: Thév. 103, 130, 131, 135, 141, Mon. Germ. Dipl. I
103 (16), 107 (21, 22), Mon. Germ. Script. 21, 344; Pérard S. 153; Cluny
I 272.

348
Die andere Möglichkeit - nämlich daß die Gegenpartei das Heil und
Recht, das dem übertragenen Gegenstand innewohnt, annimmt - wird
durch L eso v erp ire ausgedrückt. Übertragung von Machtbefugnissen, der
Gegenstand ist das Ding oder die Sache: Loersch 16, Lex Sal. 46 - ebenf.
77, vgl. Roz. 392. Ein Mann v e rp it zu einem anderen, vgl. Thév. 133,
164; c o n tra, Thév. 108, 130, 131; Cluny I Nr. 799, II Nr. 1087. Die
andere Partei hob die Festuca auf, Thév. 173 {v ir g u la liegt auf dem
Altar).
Bei der Überreichung von Festuca wurde vorausgesetzt, daß der Emp­
fänger sich das Heil des Gegenstandes aneignete, um es genießen zu
können, und gleichzeitig sicherte man ihm das volle Eigentumsrecht zu,
nicht nur Uber am , sondern ß rm issim am p o testatem .
Ursprünglich sind Vadium und Festuca identisch, und man findet noch:
p e r v a d . id est f. res in m an u A . red d ere et g u erp ire , Vaissete V 121
vgl. die Formel Murat. Ant. I 381, und Loersch 31, wo p ro je c ta f. reka­
pituliert wird in v a d iu m et obs. Die mittelalterlichen Gesetzgeber haben
aber mit ihrem Sinn für Formalistik die überlieferten Formen, die immer
starrer und unnachgiebiger geworden waren, differenziert und systema­
tisiert; die Wirkungen dieser scholastischen Ummodelung treten auch auf
diesem Gebiete deutlich hervor - vgl. z. B. p e r v . red d ere et p er /. se
ex it. face re , Thév. 73, 103, Bibi. Êc. Chartes 6 V S. 427, Bouquet V 697.
A d h ra m ire , ach ram ire vertreten unter den Franken in der Gerichts­
sprache das skandinavische fe sta .
Beim Versprechen, erscheinen zu wollen: Thév. 107, Roz. 454, 456,
Mon. Germ. Cap. I 284 (15) vgl. Ficker Nr. 23.
Beim Versprechen, einen Eid schwören zu wollen: Thév. 100 ter, 109,
Roz. 479, 481, 486, 498; Mon. Germ. Cap. I 70 (32), 149 (14), 284 (14),
440 (26).
Beim Versprechen eines Kam pfes: Thév. 160.
Beim Versprechen, Zeugen stellen zu wollen: Thév. 36, 100; Vaissete
II Nr. 6, 90; Pérard 34 (15), 36 (19).
Beim Versprechen, Beweise aufbringen zu wollen: Lex Sal. 37, 47.
Beim Versprechen eines Nachweises: Thév. 123.
Beim Versprechen, Sicherheit leisten zu wollen: Thév. 118.
Beim Versprechen, eine Leistung oder eine Verpflichtung erfüllen zu
wollen: Thév. 114.
Wenn die Form ad h ra m ire spezifiziert wird, heißt sie: p ro je c ta f. a.,
Thév. 107, oder p e r su a f. a ., Roz. 454, 479, 486; Mon. Germ. Dipl. I 53
(59), Mon. Germ. Form. 464 (3) vgl. Lex Rib. 30, 1, Mon. Germ. Dipl. I

349
59 (66). Dann ist Lex Rib. 71 leicht zu verstehen; Lex Cham. 16, 48:
a. p e r v a d . = sich selbst binden, für einen einzustehen.
Die Form ist nicht auf das gerichtliche Verfahren beschränkt, sondern
kann bei allen Arten von Verpflichtungen benutzt werden, Thév. 108.
Beim K auf werden fe stu c a und a n d e la n g in einem feststehenden Aus­
druck verbunden: Roz. 118, 133, 159, 172, 200/01, 228, 242, 273, 331.
Bei der Überreichung von Festuca wird das Wort auf den Stab
„gelegt“, und in dieser Weise werden Wille und Versprechen buchstäb­
lich überreicht: vgl. Beispiele wie Ficker N r. 43, 51, Murat. Script. I 2,
467 vgl. 468, II 2, 525 Note, usw., ferner die Folge der Berührung der
Urkunde, Tosti: Monte-Cassino I 222, Archiv. Stor. Ital. 3 Ser. 13 S. 27.
In enger, wirklicher - d. h. psychologischer - Beziehung hierzu steht der
Gebrauch des Stabes als Bestätigung der Aussage: Lex Sal. 50, 3, s. o. II
127. Ed. Chilp. K . 6 (Lex Sal. S. 85): Wenn ein Mann vors Gericht
geladen worden ist und weder Testimonia besitzt noch jemanden, der
bürgen wird, daß er einen Beweis beschaffen würde, kann er die Festuca
in seine Linke nehmen und mit der Rechten sein Versprechen anbieten.
Dies ist sicher kein alter Rechtsbrauch, sondern man hat sich augen­
scheinlich bemüht, einen Mangel beim gerichtlichen Verfahren durch
Wiederaufnahme und Anpassung eines alten Brauches abzustellen.
Der Stab wird von allen germanischen Völkern als gerichtliches Gerät
benutzt; in den Urkunden wird er ju ste , v ir g a ,b a c u lu m , lign u m genannt.
Im Fall der Übertragung: p e r ju s t e , Thév. 116 vgl. Pérard S. 65; p e r f .
et ju s t e : Cod. Lang. N r. 138, 236, 370; Ficker N r. 11 (S. 17), N r. 62
(S. 86); Murat. Ant. I 529, Mon. Germ. Leg. IV 601 (Cart. L. 21); v ir g a ,
Cod. Cav. I N r. 108, Redon N r. 21; b acu lu m , Thév. 135 vgl. Mon. Germ.
Script. I S. 43, Murat. Ant. I 381; lign u m , Murat. Ant. I 299; Ficker
Nr. 48 (S. 71). Vgl. p ed u m p a sto r, Ughelli: Italia Sacra V III 82. Bei
Vergleichen und Versprechen, daß alles vergessen sein soll: Roth. 143
Form., Tosti: Monte Cassino I S. 222. Es wird vom Stab gesagt, er sei
in der Hand des Verkäufers: p e r ju s te q. in su is ten eb at m an ib u s in v e-
stiv it usw., Cod. Cav. I N r. 108; Murat. Ant. I 299, 498, ebenf. Script. I
2, 12; Thév. 116, Grénoble N r. 24, Ficker Nr. 54/5; daß er ihn ergreift:
Murat. Script. I 2, 467; Sublac. N r. 78, 118, Cod. Lang. N r. 673, Archiv.
Stor. Ital. 3 Ser. 13 S. 24, S. 29; Ficker N r. 26 (S. 33); daß er der anderen
Partei überreicht wird, Roth. 143, Expos. § 7; Murat. Ant. I 494, Script. II
2, 525 Anm.; Ficker N r. 43 (S. 66), N r. 51 (S .7 5 ); Mon. Germ. Hist.
Dipl. Reg. et Imp. I S. 466; ebenf. Script. X X I 64 2 .1 6 , vgl. 65 Z. 30;
vgl. auch den Ausdruck Ficker N r. 48 S. 71.
Der Stab ersetzt den kriegerischen Speer (der Eid wird ste f). In

350
Schweden wird das Wort noch durch das lateinische h a sta übersetzt, vgl.
sc a p t, sc a p tle g i, Graff II 96, VI 460. Bei langobardischen Verlobungen
wurden Schwerter benutzt, Roth. 182, 195 Form., Cart. Lang. 16. Später
sind diese v i r g a oft Stöcke, die von dem übertragenen Acker genommen
worden sind; hier ist die mittelalterliche Vorliebe für Symbole einleuch­
tend - aber natürlich der alten Betrachtungsweise angepaßt (Heil und
Recht dem Besitz innewohnend).
Bei allen feierlichen Übertragungen war das Wort notwendig, um die
Gültigkeit der Handlung zu gewährleisten. Die Schweden drücken beides
durch s k a l und sk a p t aus, vgl. im Falle der Heirat: g i p t a r m a p m u n d
o k m a p m a l a , Västg. I Arf. 7, 8, d. h. durch die Summe, die für die
Braut gezahlt wurde, und die dazugehörenden geeigneten Worte. Der
Mann, der die Formel sprach - der sk ilja firir mußte -, wurde fo r sk ia la -
m an, sk ilam an genannt. - Die anderen Gesetze setzen die Worte als
Bestandteil der Handlung als selbstverständlich voraus. In Schweden
kommen Versprechen durch Händedruck und durch sk a p t gleichzeitig
vor; das letztere ist augenscheinlich die stärkere Form: Amira I S. 269
u. folg. Versprechen eines Eides auf t r a wird in ö stg . Ræfst. 22 erwähnt.
Eine gerade Entwicklungslinie führt von der Bestätigung p e r fe stu c a m
bis zu dem auf Waffen geschworenen Eid, vgl. Sv. Grundtvig: Om de
gotiske Folks Våbened.
Beispiele aus dem täglichen Leben: Ammian. X V II 12, Mon. Germ.
Script. I 198, 386, Fredegar IV K . 74; vgl. Grimm: Rechts. 166 oben:
u squ e a d san g u in is eff.
Gerichtliche Formen: Lex Rib. 33, 1; 66, 1; Lex Alam. 86 vgl. Lex
Baj. Legg. I l l S. 351; Lex Sax. 8, Lex Sal. 102; Roth. 359, 366, vgl. Lex
Alam. 81.
Im Friesischen ist ste f ein Pseudonym für Eid geworden: Rieht. 1046;
vgl. auch Thorsen: Stadsretter 159 (14).
Während der Mann ursprünglich bei seinem eigenen Schwerte schwur,
wird die Waffe im Laufe des Mittelalters ein Gerichtsgerät —so wie die
Bibel es in unserer Zeit ist, Thév. 24, Roz. 491 S. 593; aber auch diese
Entwicklung geschah sicher in enger Anlehnung an die alten Bräuche; die
Männer des Königs schwuren auf die Waffen ihres Herrn, das Schwert
des Königs wurde das Symbol für den Frieden des Königs, Saxo 109
vgl. N G L II K. 31 S. 422, Lieb. 652/3 und 392.
Eine Form der gegenseitigen Verpflichtung war c o llisio arm o ru m , eine
stärkere Form des Händedrucks, s. Dudo bei Duchesne S. 96 vgl. Heims.
III 346, Mork. 207, vgl. A. D. Jörgensen: Saml. Afh. I 323/4. Als gesetz­
liche Bestätigung wurde sie in den skandinavischen Ländern angewendet:

351
Gul. 267, 292; And. Sun. 90 vgl. Skånel. 139. Verwandt damit ist das
langobardis che g a ire th in x , Roth. 386.

9 b. L agak efli
Natürlich war nicht eine Waffe notwendig, um den Willen eines
Mannes zu bestätigen; ein Stab oder ein Stock konnten volle juristische
Gültigkeit haben, vorausgesetzt, daß man „seinen Willen auf ihn legte“
- oder mit anderen Worten: Heil und Seele auf ihn übertrug. Vgl.
Heims. III 107: Magnus reichte seinem Verwandten H arald ein Rohr und
damit die Hälfte des Königreichs Norwegen (m e d p e im fo r m a ta = eo
ten ore). Ähnlich wie im Schwedischen la g a k a r (vgl. Anm. zu II 155),
bedeutet im Norwegischen la g a die Anerkennung von k e fli als ein vor
dem Gericht bindendes Mittel; aber diese gerichtliche Anerkennung von
k e fli beruht natürlich auf dem Gedanken, daß k e fli - wie auch die Bier­
schale - eine geistige Realität war. L a g a k e fli wurde in Norwegen zum
„vorwerfen“ benutzt, um das Urteil zu bestätigen (fe stu c a ) - Frost. X
11 -, aber es konnte auch etwa auf einem Feld errichtet werden, um
dieses vor dem Zutritt Fremder zu schützen; in der Folge war der Ein­
dringling, der das k e fli mißachtete, dem Zorn des Besitzers ausgeliefert,
und wenn ein Prozeß daraus hervorging, hatte der Eindringling sowohl
geistig wie gesetzlich unter dem Mangel an Heil und Recht zu leiden.
Wenn zwei Männer sich um ein Stück Land stritten, konnten sie durch
la g a k e fli eine gerichtliche Entscheidung erzwingen; einer von ihnen oder
beide konnten in dieser Weise ein Verbot gegen die Beackerung des
Bodens erlassen, bis das Eigentumsrecht durch ein Gerichtsurteil (Iç g -
f e s t a ) entschieden wurde - Frost. X IV 11, X III 23, vgl. Gul. 72, N G L
IV, 767 N . Später wurde die wirkliche Handlung durch eine formelle,
gesetzliche Bekanntmachung oder durch Vorführung von k e fli vor Gericht
als reine Formalität ersetzt, analog der Tatsache, daß die Übereignung
vom Acker verlegt werden und nun vor Gericht stattfinden kann, N G L
II 116 K. 19, vgl. Frost. X III 14.
Parallelen zu la g a k e fli finden sich bei anderen germanischen Völkern:
Liut. 134, 148; Ratchis 14 ( v if a ) \ Lex Baj. X 18 (309).
Eine Variante zwischen Tabu-Symbolen und fe stu c a ist die mittels
Stab oder Stab und Handschuh durch den Gerichtsbeamten angekündigte
Verbannung, Lud. 16 Form., Ficker N r. 20, 47, 48, 57 usw., Hist. Fris. I
Nr. 1217.

352
10. H andfesta
Der Händedruck:
A. Um Zahlung usw. zu bestätigen, Grågås I 9, 88, 115, 124 (77); II
124/5, 145/6, Gul. 36, 51 ( g jç f ) .
B . Um K auf, Übertragung von Gütern usw. verbindlich zu machen,
Grågås I 233, II 80 vgl. Glúma 22 (62), Laxd. 182 (16), Eyrb. K . 14,
Gul. 40 vgl. Frost. X 21.
h a n d a rb a n d , Dipl. Norv. III N r. 935 (vgl. N r. 681) usw. vgl. Fritzner
s. V.; Er. L. III 3, Skånel. 76, And. Sun. 39, 143/4.
C. Verlobungsvertrag, Grågås, Stad. 162 (126) vgl. Grågås II 35,
N jála 42, Islend. 207, Gul. 51.
D . Übertragung von Recht, Vollmacht, Grågås I 38, 40 (21), 128,
234; N jála 718/19 vgl. Islend. 146.
E . Aufnahme in den Frieden, in Dienst, Grågås I 40 (22), Gul. 70,
Skånel. 215.
F . Um die feste Absicht, beim Gesetzesthing erscheinen zu wollen, zu
bekräftigen - ob das Gesetzesthing privat oder öffentlich ist, macht in
bezug auf die Form keinen Unterschied -, Grågås II 108.
G. Um die Versöhnung und die Absicht, sich einem Schiedsrichter zu
fügen, zu bestätigen, Grågås I 84, 108 (60), II 189/90, Ljósv. 179 (70)
vgl. Stad. 449, vgl. And. Sun. 48 (279), Er. L. III 27.
H . Um einen Eid zu bestätigen, Egil 243, Gul. 37, 57, 254, Frost. I l l
3, IV 8, V 19, X III 11, X V 4, E r.L . II 51, III 22, Vald. L. I ll 13,
Skånel. 65, 140.
I . Um Erfüllung eines Gerichtsspruchs zu versprechen, Forns. 74 Z. 25/6,
Egil 305, Gul. 266/7 vgl. Frost. X 28.
K . Als Zugeständnis, daß man im Unrecht ist, und um den Schaden­
ersatz zu bestätigen usw., Gul. 37, Frost. I 1, II 22, X III 11.
L . Um Geldstrafen zu bestätigen, Er. L. II 10 f., Skånel. 65, 96, 182.

Dieselbe Terminologie in schwedischen Gesetzen:


A. ö stg . Bygd. 12.
B . Västg. I Jord. 2.
C. Västg. I Gipt. 2, ö stg . Gipt. 4.
E . ö stg . Bygd. 12.
H . ö stg . Krist. 19, V aþ. 17, Ræfst. 5/6, bem. Æ rf. 10.
L . ö stg . Ræfst. 26, Upl. Manh. 10; vgl. Andeutungen eines Hände­
drucks wie Västg. I Gipt. 2, Jord. 2, und andererseits Andeutungen einer
Zeremonie, die mehr in die Einzelheiten geht; s. Anhang 8.

353
11. K a u f einer Braut
Die Ehe war in alter Zeit auf Geschenken aufgebaut. Von größter
Bedeutung waren die Geschenke des Bräutigams - oder richtiger seiner
Sippe - an die Familie der Braut; aber diese Hauptgeschenke wurden
durch zahlreiche kleinere Geschenke ergänzt; Schmucksachen wurden vom
Bräutigam der Verlobten und später der Frau geschenkt, und dasselbe
schenkte der Vater bei der Hochzeit seiner Tochter; weitere Gaben
wurden wahrscheinlich von der Familie des Brautvaters den Verwandten
des Bräutigams und von der Frau den Hochzeitsgästen überreicht (Roth.
184, Thrym. 29), und vielleicht machte der Bräutigam jedem seiner
Schwäger ein Geschenk.
Der Sinn der verschiedenen Geschenke ist in dem Verhältnis zwischen
Geber und Empfänger psychologisch begründet; die Summe, die für die
Braut gezahlt wird, soll den guten Willen der Sippe sichern, die Morgen­
gabe soll die Liebe der Braut gewinnen (nach skandinavischem Brauch
g e fa til). Im Schwedischen wird die Summe, die für die Braut gezahlt
wird, v in gtef genannt, das Verlobungsgeschenk tilgoef; dasselbe Wort
kann für Handgeld auf Bodenzins verwendet werden (gegeben „til“ ,
d. h. zu dem Zweck, einen Zins von dem Boden zu sichern). Im Norwe­
gischen mag g j ç f r m u n d r und Morgengabe zusammenfassen; in Gul. 54
bedeutet es m u n d r, vielleicht auch ib. 115; in Gul. 51 bedeutet es Morgen­
gabe. Die Regel muß wie folgt verstanden werden: um richtig zu hei­
raten, muß man die Frau durch m u n d r ehelichen und ihr am Morgen
nach der Schließung der Ehe in Übereinstimmung mit früheren Ver­
sprechungen eine Morgengabe geben; wenn dieses geschehen und die
Verlobung bei einem „Bier“ geziemend gefeiert worden ist, sind die
Kinder rechte Erben. Gul. 124 muß ohne Zweifel nach dieser Definition
gedeutet werden, so daß g j ç f mit Morgengabe identisch ist. Die angel­
sächsischen volkssprachlichen Gesetze entspringen aus demselben Brauch,
wenn die Summe, die für die Braut gezahlt wird, s c a t genannt wird,
Lieb. 8 (77, 83) und g ip t, Lieb. 102 (31) oder Gabe, vgl. lat. p retiu m .
Exod. 22, 17 (B A Prosa I 152) ist korrekt übersetzt; vgl. b r y d g ifu und
A S Vocab. 225, 1, 7, d o s = w ed , g ifu v e l f a d r e n fe o h , wo der Kom ­
mentator offenbar sowohl die deutsche wie die lateinische Bedeutung
berücksichtigt hat.
Im großen und ganzen wird in den deutschen und skandinavischen
Gesetzen in bezug auf das Verhältnis zwischen Ehemann und Frau nicht
mehr der ursprüngliche Gedanke eines Brautkaufes ausgedrückt. Wäh­
rend die Gesetze gestaltet wurden, veränderte sich die alte Gesellschaft

354
unter dem Einfluß der römischen Kultur; die sozialen und insbesondere
die wirtschaftlichen Revolutionen haben für die Ehe und die Stellung
der Frau verhängnisvolle Folgen gehabt. Die Besitztümer haben sich aus
lebendigen in wirtschaftliche Werte verwandelt; die Geschenke des Ehe­
mannes an seine Frau werden als eine Sicherheit für die wirtschaftliche
Stellung der Frau betrachtet - sie werden auf ein Drittel oder ein Viertel
seines Vermögens festgesetzt und als ein Gegenstück zu der Ausstattung
der Frau (g a g rtg ja ld ) registriert; aber die Entwicklung muß innerhalb der
alten Formen stattfinden und ihnen soweit wie möglich angepaßt werden;
die Verpflichtungen des Ehemannes werden jetzt bald mit der Braut­
kaufsumme, bald mit der Morgengabe und auch mit beiden zusammen
behandelt, bis die wirtschaftliche Betrachtungsweise vollends eingeführt
wird und sowohl die Zahlung für die Braut wie die Morgengabe nur
noch reine Rudimente ohne jegliche praktische Bedeutung sind. Seit alten
Zeiten waren die Besitztümer des Ehemannes und der Frau durch das
Heil ihrer beiden Sippen gekennzeichnet, sie gehörten zu diesen, und im
Falle einer Auflösung der Ehe kehrten sie selbstverständlich zu den
Sippen zurück; sobald aber die moderne Auffassung des Besitzes als
Vermögen oder pekuniären Wertes überwog, war die Möglichkeit einer
ökonomischen Regelung gegeben mit der Folge, daß die Vermögen von
Mann und Frau gemeinsam administriert wurden, obschon grundsätzlich
als getrenntes Eigentum. So beschreibt die Entwicklung eine ununter­
brochene Linie des Fortschritts.
Die wirkliche und psychologische Begründung der Ehe liefert das Wort
m u n d r, das im Norwegischen und Schwedischen für die Summe ange­
wendet wird, die man für die Braut zahlt, und das auch bei den Lan­
gobarden bekannt ist. Mund ist das Glück und der Friede der Familie,
wie diese sich zeigen als das Recht der Männer auf Herrschaft und als
ihre Pflicht, die Frauen und die Schwachen zu beschützen (Roth. 182, 195
u. f., 204). Es bezeichnet den aktiven Charakter des Heimfriedens und
enthält die höchste Steigerung des Friedens: die Heiligkeit. Im Angel­
sächsischen wird dieser letzteren viel Bedeutung beigemessen, so daß
das Wort nicht nur die heilige Macht bedeutet, die dem Gesippen Ge­
walt, Recht und Pflicht gegenüber den freigelassenen Männern der
Familie (Lieb. 13 [8] vgl. 134 [12]) und vermutlich auch ihren Frauen
verleiht, sondern gleichzeitig die Heiligkeit bezeichnet, und zwar sowohl
die passive Seite, die Unverletzbarkeit, wie auch die aktive (Lieb. 458
[7] vgl. Christ 93). Die Mund des Königs ist des Königs Friede (Lieb.
392 [4]), die Mund des Ortes ist der Friede des Ortes (Lieb. 470 [3],
vgl. 381 [19], und Friede 50 [5]). Also bedeutet Mund: Ehre, der gei-

355
stige Wert eines Mannes und die Buße, die ihm als Entgelt für Ver­
letzung der Ehre zusteht, genau so wie rêttr in den norwegischen Gesetzen
den gesetzlichen Wert des Mannes und die Strafe für verletzten rêttr
bedeutet, s. Lieb. 7 (75/6) vgl. 254 (34), 264 (5) und 381 (19), wo die
Einheit der beiden Bedeutungen deutlich zu ersehen ist. Ags. mundbyrd
— Heiligtum und Buße für Friedensbruch. Also ist Mund die innere
Gewalt und Ehre, die der Ehemann erwerben muß, damit er seine Frau
zu erhalten und zu halten vermag - und es ist die natürliche Bezeichnung
für die Gabe, mit welcher er ihre Mund gewinnt.
Mann und Frau treten in einen lebenslänglichen Ehrenbund ein, aber
die Frau verliert dadurch nicht die Fühlung mit ihren eigenen Gesippen
- und ihre Kleinode verlieren nicht die ursprüngliche K raft; ihre Ge­
sippen sind natürliche Hüter ihrer Ehre, zusammen mit oder eventuell
auch gegen ihren Ehemann, vgl. o. I 86, und z. B. ö stg . V aþ. 10, Roth.
200, 202, Lex Thur. 55; Lieb. 442 (7) vertritt also eine altertümliche
Auffassung, vgl. Vinogradoff a. a. O. 34 und z. B. Gud. III 8.
Die Feierlichkeit bei der Schließung einer Ehe umfaßt zwei Stufen, die
beide durch Geschenke bestätigt wurden: Verlobung und Hochzeit. Die
langobardischen Gesetze und die norwegisch-isländischen Bräuche setzen
voraus, daß eine gewisse Zeitspanne zwischen den beiden Feierlichkeiten
lag, aber dieser Aufschub war grundsätzlich kaum notwendig (vgl. Frost.
III 13 mit Gul. 51).
Die älteste Form für diese Institution ist in den schwedischen Gesetzen
zu finden; Västg. I erwähnt ein tilg *f, d. h. eine Freiergabe, die dem
Vormund zusteht, sobald alle Vereinbarungen getroffen worden sind,
und weiter ein v in g *}, die Gabe, die die Ehe stiftet, und die erst, wenn
die Ehe vollzogen ist, Eigentum der Schwäger wird (I Gipt. 2), die aber
auch während der Hochzeit gezahlt werden muß (II Gipt. 2 vgl. Amira I
522). Sie ist das Zeichen einer gesetzlichen Eheschließung, II Gipt. 9
vgl. 3; I Gipt. 6; g ip t*r m *p mund ok m *p mœlœ, eine stehende Wen­
dung = mit den rechten Feierlichkeiten (I Arf. 7, 8); mundgipt (I Arf. 8).
V in g *} wurde vom Vater oder eventuell vom Bruder oder arvi emp­
fangen, II Gipt. 2 vgl. II Anh. 8; von derselben Person, die für sie ver­
antwortlich ist, II Drap. 11. Ohne Zweifel setzt Västg. eine Verlobung
voraus, die eine gewisse Zeit vor der Hochzeit stattfand; aber die beiden
feierlichen Handlungen sind nicht als verschiedene Kategorien ausein­
andergehalten. Durch v in g *} wird die Frau fast, d. h. sie tritt in die
Rechte einer verheirateten Frau ein, I Gipt. 6, II Gipt. 9. In ö stg . fallen
vingafir noch den Gesippen zu, und sie werden unmittelbar nach der
Verlobung gezahlt - nur nicht an den Vormund, der seinen Anteil erst

356
erhält, wenn er die Braut übergeben hat, Gipt. 10. V ingaf ist natürlich
in diesem Fall die Gabe, die die Schwägerschaft zustandebringt, und
grundsätzlich besteht kein Unterschied zwischen Verlobung und Hoch­
zeit; die Brautkauf summe wird gewöhnlich bei der ersten Verabredung
gezahlt, ö stg . V aþ. 14 hat den Auslegern unnötige Schwierigkeiten ver­
ursacht. Nach dem Gesetze war es Sitte, daß eine Frau, die geschändet
worden war, die Hälfte der ihr zustehenden Buße ihrem Vormund über­
ließ. Von dieser Regel gibt es drei Ausnahmen: 1. wenn die Frau ohne
seine Billigung geheiratet hat, so daß er seiner Gewalt beraubt ist, dann
verliert sie jeden Anspruch auf die Buße, und er nimmt alles; die beiden
anderen Ausnahmen sind: 2. daß sie selbst ihr Unglück verschuldet hat,
und 3. daß sie mit der Zustimmung ihres Vormunds geheiratet hat - in
den beiden letzten Fällen sind die Folgen nicht angegeben. Es ist voraus­
zusetzen, daß die Bußen an den Vormund in diesem Falle ausfallen; es
ist unmöglich, im Falle von selbsterzeugter Kränkung Schadenersatz zu
fordern, und im letzten Falle gehen die Bußen an den Ehemann.
Die Franken haben die Entwicklung nach modernen Grundsätzen
fortgeführt, so daß der Brautkauf vollkommen verschwunden ist, nur
ein dos wird als der Frau zufallend erwähnt, Lex Sal. 72/3 vgl. Kap.
V III 4, Geffcken S. 84. Die erwähnten Raten mögen vielleicht in Ver­
bindung stehen mit der alten Vorstellung von Mund, vgl. Lex Rib. 37.
Nur der ideale Zug ist geblieben, nämlich die Macht, eine Ehe zu
schließen, welche von der Brautgabe auf dos vererbt worden ist: ohne
dos sind die Kinder unehelich - wie in Norwegen, wenn die Mutter nicht
„durch Mund gekauft worden war“ . Roz. 130, 261 kann nie als Zeugnis
dienen, daß der grundlegende Gedanke etwas Nichtgermanisches ent­
halten sollte, vgl. auch 228 ff. - Gregor IX 20 S. 113 zeigt, wie der neue
Begriff des Vermögens von den alten Benennungen gedeckt wird: tarn in
dote quam in morganegyba. Die Verlobungsgabe, tilgtef, ist erhalten als
solidum et denarium, Fredegar III 18, Thév. 42, Cluny I N r. 86, Roz.
228 ff., Gregor X S. 178. Die anderen Gesetze sind zu kurz, um mehr
als Andeutungen eines Übergangszustandes zu sein. Die alte Mund-Rate
ist erwähnt Lex Alam. 54, Lex Sax. 40; außerdem ist auf das Interesse
der Verwandten an der Summe, die für die Braut gezahlt wird, hin­
gedeutet in dem Brauch in Lex Sax. 40. Der spätere mittelalterliche
Brauch beweist, daß die Morgengabe ein Tribut des Mannes an die Frau
gewesen ist, vgl. Lex Burg. 24, 42, 62.
Während die fränkischen Gesetze uns nur den endgültigen Ausgang
des Duells zwischen Vergangenheit und Gegenwart übermitteln, bieten
die langobardischen beides, den Anfang und das Ende. Die ältesten For­

357
men enthalten einen wirklichen „K au f“ . Die Summe, die für die Braut
gezahlt wurde - meta - wurde bei der Verlobung gemeinsam festgelegt,
Roth. 178 u. f., 182, 190 ff., sie wurde an den Vormund gezahlt, 215,
und das Gesetz hat jedenfalls Regeln bewahrt, die auf der Voraussetzung
fußen, daß die Verwandten einen Vorteil daraus zogen, 160/1 und
ebenso die altmodische Formulierung von 200.
Andererseits ist deutlich zu ersehen, daß der Nachdruck verlegt worden
ist; die Hauptsache bei den Verhandlungen zwischen dem Bräutigam
und dem Vormund ist nicht mehr meta, sondern der Teil seines Ver­
mögens, den der Ehemann seiner Frau verspricht. Nach den Ermahnungen
Liutprands mag es den Anschein haben, daß der Grund die übertriebene
Freigebigkeit der verliebten Jünglinge sei - aber die Wahrheit kommt
an den T ag : die Mädchen wurden als mehr oder weniger erwünschte
Partien angesehen, je nach ihrer Aussicht auf mehr und weniger reich­
lichen faderfio, Roth. 182 vgl. 181; 199/200, 216/17; T h év.48: sub
mundio cum rebus ad earn pertinentibus, und Roth. 215, welches An­
deutungen auf das Interesse enthält, das der Ehemann an ihrem Besitz
hat.
Insofern ist die Folge also, daß meta, nachdem es eine Gabe an die
Sippe gewesen ist, als Teil der Ausstattung der Frau eingegliedert wird,
Roth. 178, 199, Liut. 89, 114, aber im Laufe der Zeit kann meta ihre
Stellung nicht aufrechterhalten und ist zuletzt nur noch ein formelles
Überbleibsel, wie die Formeln zeigen. Der Freier gibt caballum oder
crosnam oder crosnam et lanceam pro mundio, s. Roth. 182 Form. =
T h év.48; Roth. 195 Form., Cart. Lang. 16, und diese Gabe ist so rein
formell geworden, daß der Vormund sie als Vadium benutzen kann, um
die Übereinkunft zu bestätigen, s. Thév. 135.
Die neue Gabe mag formell eingeordnet werden sowohl unter meta
und Morgengabe wie unter beide als gemeinsamen Begriff: Liut. 7; 89
- Cod. Cav. I Nr. 1, 92, 154, 163; 32 usw.; Cart. Lang. 1 - Dipl. Lang.
N r. 117 - Roth. 199; Liut. 103. Zuletzt bekommen die Verpflichtungen
des Ehemannes einen eigenen Namen: antifactum, welcher beides, meta
und Morgengabe, zusammenfaßt. Die ganze Summe mag mit einem pleo-
nastischen Ausdruck antifactum et morgincaph (Thév. 48) genannt wer­
den - woraus natürlich unmöglich geschlossen werden kann, daß anti­
factum mit meta in derselben Weise wie metphio et morgincap und
fränkisch dos et morganegyba identisch sei.
Der ideelle Gesichtspunkt, daß meta eine rechtliche Ehe bestätigt, ist
formell in Kraft geblieben, vgl. Liut. 114, so wie es bei den Franken
der Fall war.

358
In Norwegen ist die Entwicklung, obgleich auf anderen Wegen, zu
demselben Endziel gelangt. Der Ursprung ist in der Terminologie der
Eheschließung erhalten; m u n d i k a u p a ist der Ausdruck für Heiraten und
Hochzeitfeiern, Gul. 25, 27, 51, 124; g ja ld a m u n d v id , Gul. 104, ist die
rechte Art, eine Braut zu gewinnen; die Absicht der Mund ist ausgedrückt
in g e fa m. til, d. h. um zu gewinnen, Gul. 64, 124, vgl. den Brauch Od-
drun. 22. Mund ist das grundlegende Kennzeichen der Ehe: es sichert die
Gesetzlichkeit der Verbindung und die eheliche Geburt der Kinder, Gul.
58, 103, Frost. III 13.
Neben Mund ist aber auch ein neuer Grundsatz in g a g n g ja ld , t ilg jç f ,
einer Gegengabe, festgelegt, oder in Frost, p r id ju n g s a u k i, d. h. in bezug
auf die Größe der h e im a n fy lg ja der Frau gebunden - vgl. die Formulie­
rung des Grundsatzes Gul. 54, wenn Hertzberg (s. u. m y n d a ) mit seiner
Auffassung recht hat. Mund wird dann ein konventionelles Geschenk,
das mit g a g n g ja ld zusammenfällt und also der h e im a n fy lg ja beigefügt
wird; Gul. 54 und Frost. X I 14 ergeben, daß es ein Besitz des verheira­
teten Paares ist. Von diesem Gesichtspunkt aus muß das Wort t i l g jç f als
eine Summe verstanden werden, die besonders oder als Entgelt gegeben
wird; ursprünglich hat es dieselbe Bedeutung wie das schwedische tilgtef
(und das norwegische gefinn til k o n u ) gehabt, und es hat vielleicht auch
noch ältere Bedeutung in Gul. 115.
Die Morgengabe bleibt in Norwegen - unbeeinflußt von der Entwick­
lung - die Gabe des Ehemannes an seine Frau, daher verschwindet sie
früh unter den neuen Verhältnissen.
England ist das einzige Land, wo die Umlegung der Werte in Bargeld
so folgerichtig durchgeführt wird, daß der K auf einer Braut als ein Geld­
geschäft im römischen Sinne betrachtet werden kann, vgl. Lieb. 5 (31).
Aber das Forschungsmaterial ist hier wie in Dänemark spärlich. Wir
können nach Lieb. 443, wo die Summe, die „der Ehemann seiner Frau
bewilligt“ , höchst bedeutend ist, vermuten, daß eine ähnliche Entwicklung
stattgefunden hat wie an anderen Orten. Die alte Mund ist rationalisiert
worden als Entgelt an die Eltern für Beköstigung und Bekleidung der
Kinder; aber die alte Überlieferung ist darin erhalten, daß die Gabe das
Eigentum der Sippe, eventuell des Vormundes, war.
Abgesehen hiervon haben wir nur Andeutungen in dem Brauch, der
mit dem norwegischen übereinstimmt: c e a p i g e c e a p o d , in s c a t h e w y d d o d ,
Lieb. 7 (77, 83); die Glossen d o s — m o rg e n g ifu , A S Vocab. 115 Z. 13;
d o s — v itu m a , 18 Z. 22, und die oben zitierten.
Tacitus hat einige Tatsachen erfaßt, wenn er, Germ. K. 18, sagt: In
htec m u n era u x o r a c c ip itu r a t q u e in v icem ip sa a r m o r um a liq u id v ir o

359
a ffe rt, obschon die Tatsachen durch seine sentimentale Romantik ziemlich
verdunkelt sind. Als die germanischen Gesetze niedergeschrieben wurden,
war diese h e im a n fy lg ja beinahe in Eigentum verwandelt worden, das
fa d e rß o benannt und zum Gegenstand solcher Paragraphen wie Lex
Alam. 54, Lex Baj. V III 14 usw. gemacht werden konnte. Die ursprüng­
liche h e im a n fy lg ja bestand aus Kleinoden, durch welche die Ham ingja
der Frau in die ihres Ehemannes einging; die epischen Formeln bezeich­
nen diese Aussteuer mit g a d a g u lli, die Braut wird mit Gold schön ge­
macht, GudnSnarhvöt 16, Oddrun. 15, Gud. II 1, 26, Helg. H j. 5, vgl.
das Brisingamen in Thrym. - besonders andeutungsreich Hynd. 13:
m o d u r i t t i p in n f a d ir m en ju m g ç f g a . Beow. 2025: g o ld h ro d en , be­
schreibt das ideale Weib, oder - was nach germanischer Psychologie das­
selbe bedeutet —die Frau, wie sie wirklich ist, und das Adjektiv bezeich­
net die Ehre und das Gedeihen, das aus der Verbindung mit einer wah­
ren Frau fließt, vgl. Faf. 40. Nach einigen Gesetzesparagraphen ging der
Schmuck der Frau auf ihre Töchter über; sein Wert aber ist durch die
Tatsache verringert, daß die persönlichen Schmucksachen der Frau zu der
Zeit lediglich Einzelheiten aus der ganzen Reihe ihrer Besitztümer waren,
Lex Thur. 32, 38; Lex Burg. X IV 6, LI 3, L X X X V I 1; vgl. auch Frost.
IX 9.

12. D as R e d it der Erben

Das Recht der Sippe auf Beteiligung an der Entscheidung wird nicht
nur bestätigt, wenn der Besitz der Familie ihr entgleitet, sondern auch,
wenn der letzte Besitzer stirbt oder den Besitz zu verkaufen wünscht,
Grág. I 247, 249, vgl. besonders Stad. K . 79; Frost. IX 17/18 vgl. Amira
I 526, 573/4, 594; II 701 u. ff., Er. L. III 2, Jy . L. I 34; Skånelag. 50,
was durch And. Sun. 19 geschichtlich erklärt wird.
Betreffs der anderen Völker s. Amira: Erbenfolge 53, 105, 134, 201,
212; vgl. Roth. 168, Liut. 65. - Die früheren Forderungen der Sippe sind
bewiesen durch die detaillierte th in g atio , s. Anhang 13.
Bei dem „K au f“ leistet der Verkäufer oder Geber eine Garantie gegen
Einspruch seitens seiner Familie, Roz. 267/8, Thév. 105, 117, Cluny I
N r. 14, 20 usw. H e re d e s werden gewöhnlich erwähnt; der Typus ist er­
sichtlich aus Thév. 52, 118, Roz. 159, Cod. Cav. I N r. 44 - oder h ered es
et p ro h ered es, Thév. 73, 105, Roz. 200, 268; p ro p in q u i wird zugefügt
Vaissete II Nr. 78, Redon N r. 64, 91, Chartæ I Nr. 60.
Der Verkäufer oder Geber muß darauf vorbereitet sein, das Recht des
Käufers zu verteidigen, Thév. 52, Lex Baj. 16, 12 (Mon. Germ. Leg. III

360
323, vgl. 337 IV). Im N otfälle bestätigt der Verkäufer das Recht des
gegenwärtigen Besitzers durch eine Wiederholung der Übereignung, die
er schon einmal unternommen hat.
Der Verkäufer verpflichtet seine Erben, das Recht des Empfängers zu
a n tista re et d e fe n d e r e ; der Typus ist ersichtlich aus Roz. 268, 273; Cod.
Cav. I N r. 2 u. f., 43; Cluny I N r. 43.
Der K äufer mußte sich vergewissern, daß der Verkauf unumschränkt
seine Gültigkeit behielt, nicht nur hinsichtlich des Verkäufers selbst, son­
dern auch hinsichtlich seiner Erben: ut a m o d o et sem p er tu, tu iq u e h eredes
ab h ered ib u s ab ere et p o ssid ere v a le a tis, Cod. Cav. I N r. 30. Er mußte
ausdrücklich das Recht des Besitzes, des Schenkens und des Austausches
sichern, Thév. 117, Cod. Cav. I 176, Cluny I Nr. 14, 20, Roz. 268/9 usw.
So entwickelte sich langsam und schwerfällig aus dem alten germa­
nischen K auf ein moderner Verkauf. Die verschiedenen Stufen der Ent­
wicklung sind in den schwedischen Formen der Übereignung eines Be­
sitztums klar zu erkennen; Gabe und Verkauf stellen verschiedene Ab­
schattungen desselben Phänomens dar. Bei einem wirklichen Verkauf muß
die Tatsache, daß der Gegenstand unwiderruflich Besitz des Käufers
wird, besonders betont werden; aber es gab immer eine latente Neigung,
die Endgültigkeit durchzuführen, s. Amira I 510, 550. Und auch wenn
der Verkauf in der jetzigen Form durchgeführt wurde, blieb der alte
K auf oder die alte Gabe als eine Variante bestehen, und in diesem Falle
hat die Übereignung nur für den Empfänger und vielleicht noch für
seine direkten Erben Gültigkeit, vgl. Brunner in Sitzungsber. der Berl.
Ak. 1885, S. 1173 ff.
Eine interessante Variante ist auch w a p s k ö tn in g im Gegensätze zu
w a r u lz s k ö tn in g , vgl. Anm. zu II 67. - Ein Mann kann sein Besitztum
verkaufen und sich gleichzeitig das Recht sichern, es nach einer Reihe von
Jahren zurückzukaufen - z. B. Redon N r. 60, 95 -, und er kann es ver­
pfänden, und „wenn es nicht innerhalb von 5 Jahren zurückgekauft
ist“ . . . usw., s. Redon N r. 68, 73, 170, 182 usw. So wird der alte K au f
differenziert in etwas, was wir heutzutage teils bedingten Verkauf, teils
Verpfändung nennen würden.
Die mittelalterlichen Regeln hinsichtlich des Rechtes des Königs auf
alles, was er „verschenkt“ hatte, haben auch ihren Ursprung in der alten
Gabe - s. den Brauch bei Roth. 177, vgl. Brunner in Sitz, der Berl. Ak.
1885 S. 1190 Anm.
Die alten Begriffe von Eigentum behaupteten sich natürlich sehr lange
- vor allem in dem Falle von Verkauf des Landbesitzes; aber auch wenn
es sich um fahrende Habe handelte, konnte die Übereignung nur unter

361
umständlichen Zeremonien vor sich gehen, s. z. B. Er. L. III 23, 39/40,
ö stg . Vins. Balk. vgl. Amira I 284/5, 346/7. Die Verantwortung des
Verkäufers bleibt dieselbe bei fahrender Habe wie bei Landbesitz; wenn
das Eigentumsrecht eines Mannes angezweifelt wurde, mußte er sich auf
die Person berufen, von der er den fraglichen Gegenstand erhalten hatte;
die Verantwortlichkeit ist rückwirkend von Mann zu Mann. Aber ab und
zu wurden die Fälle so unentwirrbar, daß es notwendig war, die eine
oder andere Begrenzung festzulegen, z. B. bei dem dritten Mann, Västg. I
þjuf. 8, 17; östg. Vins. 6, 7; Upl. Manh. 44; Vestm. I Bygd. 35; vgl.
Amira I 558 u. f., II 682, 692/3: Er. L. III 21/2; Lex S al.4 7 ; Thév. 49
vgl. Roth. 232, auch Liut. 43 vgl. mit östg. Vins. 9.
Die psychologische Grundlage, die sich vollkommen von den modernen,
abstrakten Verpflichtungen unterscheidet, tritt zutage in dem schwedischen
h em u la, das bedeutet, einen Mann n jó tr zu machen und die Rechte, die
dem n jó tr innewohnen, auf ihn zu übertragen (vgl. o. II 79 ff.). Dieselbe
Tiefe ist in dem entsprechenden norwegisch-isländischen h eim ill, b eim ild
usw. vorhanden, vgl. die Wörterbücher und das Vokabular zu N G L ,
ebenso Schlyters Vokabular zum Skånelag.
Es ist bezeichnend für die Zähigkeit der alten Vorstellungen, daß die
alte Gabe nach der Einführung moderner ökonomischer Wertung der
Verpflichtungen und Leistungen durch eine besondere Gabe, o v e rg av e ,
für welche keine Zahlung gefordert wird, erhalten bleibt, s. Dipl. N orv. I
N r. 718, 795, V N r. 721, X I Nr. 116, 171, usw. Es ist interessant zu
sehen, wie die Rücksicht auf die Verwandten betont wird, Dipl. Norv. X
N r. 161, III N r. 935 u. f. Diese besondere Gabe findet sich auch bei der
Festsetzung von Bußen, III N r. 691, V N r. 529, vgl. N jála 638 und Jy .
L. II 26, III 21: gö rsu m , wofür später Geld gefordert wurde, der T at­
sache zum Trotz, daß die Benennung (schwedisch: g ö rsim a ) ursprünglich
„tragbares Eigentum“ , „Schatz“ bedeutet.

13. T h in g atio

Das Interesse der Sippe und ihr Recht, an der Entscheidung der wich­
tigsten Dinge beteiligt zu sein, werden auch durch die langobardische
th in g a tio erhellt. Nach den Gesetzen zu schließen wurde dies in fol­
genden Fällen verlangt:
Bei Freisprechung, wenn der Freigelassene gleichzeitig in die Sippe
aufgenommen oder von jeder Art der Abhängigkeit vom früheren Be­
sitzer gelöst wurde, s. Roth. 156, 222, 224, Liut. 9, 140.

362
Bei außerordentlicher Übergabe des gesamten Besitzes, Roth. 171,173/4,
367, eventuell an Fremde, in welchem Falle der Verkäufer seine Sippe
verläßt, vgl. Roth. 360.
Vielleicht überhaupt im Falle von großen Gaben, deren Schenkung
ursprünglich die Zustimmung der Gesippen erforderte, vgl. Liut. 54,
73 (?.)-
Bei Schenkungen an uneheliche Kinder und ihre Nachkommen, Roth.
156/7.
Bei Schenkungen an freigelassene Ehefrauen, d. h. praktisch im Falle
der Aufnahme in die Sippe.
Wir kennen den Verlauf der Zeremonie nicht genau, aber sie muß eine
feierliche Bekanntmachung des Kontraktes enthalten haben. Jedenfalls
war es wichtig, daß sie öffentlich geschah, s.. Roth. 172. - Der Name
deutet auf eine Art H of, entweder eine gesetzgebende Versammlung
oder ein Gesetzesthing (wahrscheinlich das erste). Die Variante g a ire th in x
weist darauf hin, daß die Entscheidung durch eine Zeremonie mit Waffen
bestätigt wurde; th in x = g aire th in x , s. Bibi. École Chartes 2 Sér. I l l
S. 45. Bei der Betrachtung dieser Regeln muß man immer im Gedächtnis
behalten, daß das Sippensystem, obschon es bei den Langobarden zu der
Zeit noch einen gewissen Einfluß auf die Gemüter besaß, doch praktisch
jede gesellschaftliche Bedeutung verloren hatte; das Recht der Gesippen,
privat bindende Vereinbarungen zu treffen, weicht allmählich der öffent­
lichen Kontrolle.

14. D ie Stellun g der unehelichen K in d er

Ein Kind, gezeugt mit einer unfreien Frau, ist unfrei.


Roth. 222 Form, beweist, daß das Kind keine Freiheit und kein Erb­
recht besitzt. Liut. 66 bestätigt, daß ein natürlicher Sohn entweder wegen
der besonderen Umstände von der Adoption ausgeschlossen ist (n ec), oder
daß er Freiheit erwerben kann, aber in bezug auf Erbschaft als zweiter
kommt (ta n tu m m o d o ); die absurde Behauptung, ein Kind, von. einer
Sklavin geboren, sei eo ip so frei, kann nicht aus dieser Regel geschlossen
werden. Roz. 137 bezeugt, daß der Vater ausdrücklich das Kind frei
machen muß, das er mit seiner a n c illa gezeugt hat. - Lex Baj. X V 9 : daß
ein germanischer Gedanke in einem einzelnen Punkte mit einem biblischen
Lehrsatz identisch sei und daher unter Beeinflussung durch die Geistlich­
keit von einem Zitat aus Paulus bestätigt werden mag, ist gewiß kein
genügender Beweis dafür, daß das Zitat der Urheber der Regel ist;
s. Brunner, Zs. d. Savigny Stift., Germ. Abt. X X II I 202. Nach Frost.

363
X 47 muß das Kind befreit werden f r å h o rn i o k f r å n a p p i; dazu Gul. 57,
104; Skånel. 61.

D e r uneheliche So h n ist gesellschaftlich u n terg eo rd n et

Roth, stellt den Bastard bei der Verteilung des Erbes in eine benach­
teiligte Lage (154, 158 ff. vgl. 156, 171) - und auch in anderer Beziehung
(161,162).
In Norwegen haben die unehelichen Söhne nur ein sehr bedingtes Erb­
recht, s. Gul. 104, Frost. V III 8. Außerdem besteht ihr Anteil in einem
freiwilligen Geschenk des Vaters, Gul. 129, Frost. IX 17. In bezug auf
ihre Stellung sonst beachte man den Widerspruch Frost. X 47, Gul. 57,
104 (vgl. Fagr. 21/2).
Auf Island ist es dem Vater nur erlaubt, dem unehelichen Sohn ein
Geschenk von höchstens 12 Öre zu machen, Grág. I 247; als Vorkämpfer
für die Sippenehre in Rachefällen muß er den nächsten wirklichen Ver­
wandten den Vortritt lassen, Grág. I 167/8.
In Schweden: Nach ö stg . I Æ rf. 4 kann der Bastard niemals erben,
sondern muß zufrieden sein, wenn der Vater ihm ein Geschenk macht.
Bei Bußen für Mannestötung ist ein unehelicher Bruder einem legitimen
Sohn gleich, was in Drap. 7 ausdrücklich bestätigt wird. Västg. versagt
in dieser Beziehung vollkommen; Add. IV 14 S. 297 ist zu schwierig zu
enträtseln - es mag bedeuten, daß anerkannte Bastarde degradiert wer­
den, oder daß Bastarde daran verhindert werden, ihre Forderungen
(vielleicht zweiten Grades) zu behaupten —, und schließlich kann es eine
mythisch-historische Erklärung von derselben Art wie so viele rechtliche
Überlieferungen sein. - Die anderen Gesetze sagen implicite, daß unehe­
liche Kinder ein Recht zweiten Grades haben, Vestm. I Gipt. 9, Söderm.
Æ rf. 3, Hels. Æ rf. 14.
In Dänemark zeigen die Unsicherheit und der Mangel an Folgerichtig­
keit, die für die Gesetze bezeichnend sind, wie die Gesetzgeber des Mittel­
alters mit den Problemen ringen mußten. Die Grundlage ihrer Arbeit
ist die. Tatsache, daß Bastarde eine Ausnahmestellung einnehmen, und
der Unterschied zwischen ehelichen und unehelichen Kindern beruht dar
auf, ob die Mutter gulfoest ist oder nicht, Skånel. 59, vgl. la g h g iv a n ,
Vald. L. II 45. Der Bastard soll sein Recht als ein Geschenk vom Vater
empfangen, während dieser noch lebt, Skånel. 58 vgl. 62, Vald. L. II 45,
Er. L. I 18.
Der grundlegende Gedanke in Roz. 130 stimmt derartig mit einer Ge­
dankenfolge überein, die wir aus dem Germanischen kennen, daß nur
ungewöhnlich starke Gründe sein Zeugnis erschüttern können (s. Brunner:

364
Savigny Stift. X V II, 23). Soviel ist sicher, daß germanische Bastarde
eine Ausnahmestellung hatten, und dies ist eine Folge der Tatsache, daß
ihre Mutter nicht durch Mund gekauft wurde. Aber diese Ausnahme­
stellung kann eine Fülle von Abweichungen aufweisen; anstatt zu ver­
suchen, ein grundlegendes System zu konstruieren, sollte man die ab­
weichende Behandlung des Problems in den verschiedenen germanischen
Stämmen betonen.
Brunner ist der Entwicklung nachgegangen und hat gezeigt, daß hin­
sichtlich der Bastarde eine Verschlechterung der Verhältnisse in jeder -
oder so gut wie jeder - Beziehung stattgefunden hat. Er meint natürlich
nicht, daß es nur durch eine Rückverfolgung der Entwicklung möglich
sein sollte, den ursprünglichen Stand der Dinge zu erfahren; aber da
seine Argumentation polemischen Charakter hat, wird er dazu veranlaßt,
die Tatsache in den Hintergrund zu schieben, daß der Gegensatz sich
gerade in der germanischen Gedankenwelt so tief verwurzelt zeigt. Es
gab eine doppelte Anschauung bei der germanischen Behandlung des un­
ehelichen Kindes, die die Kirche benutzen konnte, um den Unterschied
zwischen ehelich und unehelich hervorzuheben, während die Kirche gleich­
zeitig gewissermaßen die Grenzen zwischen gesetzmäßiger und unvoll­
ständiger Ehe verwischte. Das Problem ist nicht nur, so wie wir es sehen,
einseitig juristisch, sondern vor allem psychologisch; die Bastarde wurden
aus ihrem Kreise ausgeschieden, weil ihre Seelen sich von denen der
anderen Leute unterschieden, und aus dieser Tatsache heraus entstand das
Problem hinsichtlich ihrer sozialen Stellung.
Das Kind muß in die Sippe geboren oder geführt werden: b e ra i <ett,
k o m a i œtt, Skálholtsbók 423, Stad. 192 vgl. Grág. I 169, II 25. Keine
spätere Heirat der Eltern des Kindes kann die Geburt des ursprünglich
unehelichen Kindes irgendwie verbessern; vgl. betreffs sk ö tsetu b arn und
der besonderen Beschränkung Frost. III 11, wo gezeigt wird, daß die
altertümliche Auffassung eine Anerkennung nach späterer Ehe nicht gut­
hieß (s. W ilda 279 f.).
Die Grundlage einer Entscheidung in bezug auf die Stellung der
Bastarde bildet die Aufnahme in die Sippe, die Adoption oder, nach der
alten Auffassung, die Geburt in die Sippe hinein, wodurch das Kind ein
Gesippe wurde. Die Einwilligung des Vaters (oder eines Verwandten,
Gul. 57, letzter Teil) ist ursprünglich genügend, um dem kleinen Kinde
die Stellung eines Gesippen zu sichern. Das Zitat Brunners, Zs. d. Sav.
Stift., Germ. Abt., X X II I , 203 sagt lediglich, daß die Männer das Recht
zu behalten wünschten, ihren Söhnen die volle Ehre zu übertragen. Der
Sohn wird dann direkt in die Familie hineingeboren und trägt einen

365
ihrer Namen - vgl. die Bastarde der fränkischen Könige; Höskuld
nannte seinen unehelichen Sohn O laf - den späteren O laf Pfau - nach
den mütterlidien Verwandten seines Vaters, und dies ist typisch auf
Island, s. o. I 314.
Der adoptierte Sohn ist ein wirklicher Verwandter, was deutlich her­
vorgeht aus der Tatsache, daß er dieselben Pflichten und dieselben Man­
nesbußen wie die Verwandten hat; hier lauten die norwegischen Gesetze
urtümlicher als die schwedischen, die eine niedrigere Mannesbuße für den
adoptierten Sohn festsetzen, weil er halb unfrei geboren ist.
Es war aber möglich, dem Knaben den guten Willen der Verwandten
zu sichern oder zu bekräftigen, indem man sie alle versammelte und sie
an der Adoption teilnehmen ließ, wie es in Norwegen bei der Adoption
einer erwachsenen Person in ihrem späteren Leben der Fall war, Gul. 58,
Frost. IX 1. Roth. 155 macht anscheinend eine ähnliche Andeutung.
Die Entscheidung, welche Form benutzt werden soll, ist nicht recht­
licher Art - der Hauptpunkt ist nicht das Recht des Vaters, die Adop­
tion vorzunehmen, sondern die Frage, ob sein Heil stark genug ist, um
dem Sohn im vollen Sinne des Wortes Leben zu geben. Das ist - wie
auch Brunner betont hat - die Ursache, weshalb die königliche Familie
länger als andere Leute das Recht zur Adoption behielt. Aber die Be­
teiligung aller Verwandten war in jedem Fall eine Sicherung gegen
spätere Anzweiflung; denn wir wissen, daß z. B. Schmähungen nicht nur
einen Zweifel ausdrückten, sondern direkt eine schwächende Wirkung
ausübten, und dies war wahrscheinlich der Grund, warum der adoptierte
Sohn durch die ganze Sippe unterstützt wurde, wenn die Gültigkeit
seiner Geburt angezweifelt wurde.
Gul. 58 und Frost. IX 1 geben die folgerichtige Formulierung. Die
schwedischen und die dänischen Gesetze zeichnen sich durch spätere An­
passungen und Kompromisse aus, so Västg. I Mandr. 2, vgl. II Drap. 7;
Skånel. 58, Er. L. I 18, Vald. L. II 45. Aber ein solcher Kompromiß ist
nur möglich, wenn er auf alter Überlieferung beruht - d. h. auf dem
psychologischen Aspekt der Sache: Die Stellung des Kindes war davon
abhängig, ob es ein Verwandter sei, und nicht von der formellen An­
erkennung. Der gesetzliche Zustand und die Anerkennung müssen in
einer Realität begründet und deren Ausdruck sein.
Bei der gesetzlichen Bestätigung muß eine andere Möglichkeit beachtet
werden: die feierliche Handlung bedeutete nicht unbedingt volle Adop­
tion; es war möglich, den adoptierten Sohn in eine anerkannte Stellung
zu- bringen, die keine Gültigkeit in bezug auf die Geburt verbürgte.
S. den Vorschlag ö stg . Æ rf. 4; Västg. I Æ rf. 23 deutet auch an, daß

366
eine Stellung, die weniger bedeutete als volle Adoption, gesetzlich an­
erkannt werden konnte; vgl. Västg. II Æ rf. 32: adoptiert und vor dem
Gericht zugelassen zu der Sippe.
Wie auch die schwedischen Gesetze andeuten, war die gesetzliche An­
erkennung nur ein Teil der notwendigen Zeremonien, sie setzt eine wirk­
liche Geburt von derselben Art wie die norwegische voraus - vgl. o.
betreffend sk ö tse tu b arn I 244/5. Ferner deckt der Ausdruck tage i a t
(zur Sippe zulassen) zwei verschiedene Handlungen: volle Adoption und
Zutritt als Untergebener; die zweite Verwendung des Ausdrucks ist
wahrscheinlich als Folge einer Verwischung der Grenze im Mittelalter
entstanden, die ermöglicht hat, daß der Ausdrude auf das Verhältnis
zwischen dem Freigelassenen und seinem Schutzherrn übertragen wurde.
Der Bastard wird h o rn u n g genannt. In Norwegen beschränkt sich das
Wort auf die Bezeichnung eines Kindes, das offen mit einer freien Frau
gezeugt ist, Gul. 104; auf Island ist es der Sohn eines Freigelassenen mit
einer freien Frau, Grág. 1 224; in bezug auf die friesischen Verhältnisse
s. Rieht, und hinsichtlich der weiteren Verbreitung Fritzner s. v . Die
Etymologie zeigt deutlich den Ursprung: das Kind in der Ecke, das Zu­
rückgesetzte; das Wort hat einen Beiklang von Verachtung, Herv. 274
vgl. Ham. 14, H alf. 39, Laxd. 56, Bisk. I 35, Flat. I 101, und es besteht
kein wesentlicher Unterschied zwischen h o rn u n g und p ý b o rin n (vgl. Fagr.
21/2: der Sohn einer Sklavin, verwendet für eine Person, deren Mutter
nicht nur frei, sondern auch von hoher Geburt w ar); gewöhnlich gehen
die beiden ineinander über: man beachte die Gleichheit in Gul. 104;
Gul. 58 wie auch Frost. IX 1 fußen auf der Ansicht, daß diese beiden
Arten von Wesen eine gewichtige Sache vermissen lassen: das Heil einer
Sippe. Infolgedessen ist p ý b o rin n nahezu das Wort für den zurück­
gesetzten oder nur halb anerkannten Gesippen geworden - genau wie
p ý su n im gotländischen Dialekt direkt Sohn einer Beischläferin bedeutet.
In dieser Hinsicht gibt es auch keinen Unterschied zwischen einer
Sklavin und einer freien Kebse, denn die letztere ist von keiner Sippe
unterstützt, und es fehlt ihr also der wesentliche Zug der Freiheit und
der sozialen Stellung. Der Sohn einer Kebse hat keine mütterliche Sippe;
in diesem Sinne ist es möglich, daß alte Gesichtspunkte der schwedischen
Regel zugrunde liegen, daß der freigelassene Mann nur halbe Mannes­
buße fordern kann. Die Möglichkeit, daß ein Mann in die mütterliche
Sippe aufgenommen werden konnte, ohne väterliche Verwandte zu be­
kommen, bestand auf germanischem Gebiet nicht - bevor das Problem
der sozialen Stellung des unehelichen Kindes von einem modernen Ge­
sichtspunkte aus erforscht wurde.

367
15. W ergeid

Vgl. Vinogradoff in der Zs. f. Sozial- und "Wirtschaftsgeschichte V I I 1 ff.


Norwegen: Gul. 218 ff. und die andere Reihe Gul. 243 ff. ist grundsätz­
lich nicht von diesem verschieden; der bemerkenswerteste Zug ist die Art,
wie die drei „Ringe“ nach allen Seiten hin mit besonderen Zugaben verbun­
den sind. Es ist für mich unmöglich, dem Vorschlag Amiras beizutreten,
wonach b raed ru n g ar von dem Ring getrennt werden müßten (s. Germania
32,131); aberVinogradoff teilt diese seine Ansicht, weshalb ich die Leserauf
seine Ausführungen verweisen muß; andererseits kann ich nicht die Folge­
rungen anerkennen, die Vinogradoff hinsichtlich eines agnatischen Stammes
zieht, was schon aus meinen Theorien ersichtlich geworden sein wird.
Dänemark: Am besten in Er. L. III 26 ft. vgl. II 11, 38; Skänel. 84, 91.
In Schweden bestand die Mannesbuße aus zwei Teilen: Zufolge Västg.
I Mandr. 1 war sie geteilt in eine Buße an die Erben, a r v a b o t , und eine
Buße an die Sippe, a t t a r b o t ; die letztere ist eine Wiedergutmachung an
väterliche und mütterliche Verwandte (je ein Viertel), umfaßte aber auch
den a rv i. Nach ö stg . Drap. 7 war der Bruder der Führer der Zahler von
a t t a r b o t , vgl. Västg. II Drap. 7, und hier sind die Verwandten väter­
licherseits doppelt soviel wert wie die Verwandten mütterlicherseits. Es
ist unmöglich, aus diesen bruchstückartigen und offenbar halbverfallenen
Regeln irgendeinen festen Schluß zu ziehen.
Lex Sal. 58: Empfang der Mannesbuße, 62, vgl. 101. C h ren e c ru d a
bedeutet ursprünglich nicht eine Übertragung von Besitz, sondern eher
ein Umlegen der Verantwortung. Die ganze feierliche Handlung kann
nicht von einem modernen Gesichtspunkte aus verstanden werden, für
den die Übertragung eines Gegenstandes Recht oder Wert mit einschließt
und nur unter dem Aspekt der Vermehrung des Besitzes betrachtet wer­
den kann. Für den Germanen war genau soviel Pflicht als Recht, soviel
Ehre als Heil in einem Ding oder einem Verhältnis; und in einem Falle
wie dem vorliegenden stellt die Überreichung den Empfänger unter eine
Verpflichtung, die vollkommen unabhängig davon ist, ob der Boden ihm
eine Vermehrung seines Besitzes bringt oder nicht. Die Handlung ist
natürlich psychologisch identisch mit Übereignung, aber unter diesen Um­
ständen ist das Resultat eine Übereignung der Pflicht, die der Besitzer
nicht erfüllen kann.
Wenn es so schwierig ist, die scheinbar widerspruchsvollen Worte zu
versöhnen, ist der Grund der, daß die Männer, die den Paragraphen
schrieben, von Grundsätzen ausgingen, die für unsere Überlegungen keine
Gültigkeit haben. Es ist keine Frage nach entweder - oder, nach soforti-

368
ger oder allmählicher Übernahme der Verantwortung; alle Gesippen
nehmen Teil an der Verantwortung der Sippe, und jeder Mann muß
nicht nur seinen eigenen Teil zahlen, sondern auch das beschaffen, was
sein Bruder nicht leisten kann. Die Erklärung, die Brunner für in teg ru m
d e b itu m und to ta lege gibt (Zs. d. Sav. Stift., Germ. Abt., III 38 f.), ist
im wesentlichen richtig, aber es muß hinzugefügt werden, daß to ta lege
sich vielleicht auf die ganze Summe beziehen könnte, insofern sie einem
einzelnen Manne zufallen kann, und dies tun muß in dem unwahrschein­
lichen Fall, daß er als einziger Mann imstande wäre, die Verpflichtung
der Sippe zu erfüllen. Das Kapitel befaßt sich nicht mit der besonderen
Pflicht der Verwandten, ihren Teil der Mannesbuße zu zahlen, sondern
mit dem Frieden, der sie für das Leben des Töters verantwortlich macht,
wenn er selbst außerstande ist, seinen Teil zu bestreiten.
Lex Sax. 19: Zwei Drittel wurden vom Töter und von seinen Söhnen
bestritten, ein Drittel von der Sippe.
Lex Fris. I 1, dasselbe Verhältnis; X I X 2 handelt von Mord inner­
halb der Sippe, und nichts kann daraus entnommen werden, was sich auf
regelrechte Erbschaft oder Mannesbuße bezöge.
Die angelsächsischen Gesetze zeugen von Verfall und sind zu bruch­
stückhaft, um ein zusammenhängendes System zu ergeben. Eins ist sicher,
die Verantwortung der Gesippen war vollkommen anerkannt, Lieb. 4
(23), 154 (6, 1), 174 (1, 4). 392 zeigt ihre Tätigkeit, um zu einer O rd­
nung zu kommen; vgl. 266 (23, 25) und 120 (74,1/2) —es ist ihre Pflicht,
zu helfen - mit dem modernisierenden 186 (1 ff.): „mit H ilfe der Ver­
wandten“ . Beachte auch 100 (24, 1), 190 (7), interessant durch ihre über­
lieferte Terminologie: an die Verwandten zahlen. Sowohl Verwandte
väterlicher- wie mütterlicherseits nahmen teil, 54 (8, 3), 66 (27). Viel­
leicht können wir aus dem Verhältnis, nach dem die Eideshelfer ange­
ordnet sind, schließen, daß die väterliche Seite doppelt soviel zahlen
mußte wie die mütterliche, 392 (3), vgl. Schmid: Gesetze der Angels. 628.
Die nächsten Verwandten nahmen die erste Rate der Mannesbuße, den
h als fa n g , aber wir müssen annehmen, daß sie ihren Teil an der späteren
Zahlung hatten; es ist übereilt, hieraus zu schließen, daß die angel­
sächsische Mannesbuße nicht aus zwei „Ringen“ bestand.
Lex Rib. 12 und Lex Baj. V III 20 deuten auf die Solidarität der Sippe
hin, indem sie ihr Recht leugnet. Der Übergang wird vorbereitet durch
das Umlegen der Verantwortung auf die Nachkommen. Die anderen Ge­
setze schweigen, und der Grund mag sein, daß die Sippe ihren Zusam­
menhang verloren hat, aber Lex Thur. 31 beweist keineswegs, daß ein
einzelner Mann die ganze Mannesbuße zahlte.

369
Die Solidarität ist durch die Tatsache deutlich nachgewiesen, daß die
Zahlung der Mannesbuße eine Angelegenheit der ganzen Sippe ist; ein
individueller Friedensschluß steht außer Frage, s. a. a. O .; vgl. auch
Frost. V 9. Angelsächsische Paragraphen werden häufig unter der Vor­
aussetzung geformt, daß die Sippe dazwischentritt und für den Sünder
zahlt, z. B. Lieb. 100 (24, 1), 120 (74). Lieb. 186: die Verwandten haben
keine andere Möglichkeit, sich der Verantwortung zu entziehen, als in­
dem sie den Missetäter verleugnen, und die Worte beziehen sich augen­
scheinlich auf den ganzen Betrag der Mannesbuße; 66 (27) zeigt, daß
keine festen Grenzen zwischen den individuellen Anteilen bestanden.
Lex Sal. 62 gibt keinen Schlüssel für die Vergangenheit; ein scharfer
Steuereinheber zog Vorteil aus jeder Schwäche in den alten Institutionen;
vgl. Liut. 13, wo zufällig der Verfall der Sippe aufgedeckt wird (Brun­
ner, Zs. d. Sav. Stift., Germ. Abt., III 32 öffnet uns keinen Ausblick auf
Zeiten, die älter sind als Lex Sal.).
Die Solidarität der Sippe bringt es mit sich, daß alle Gesippen zahlen
oder leiden müssen, wenn der Töter flüchtet; wenn er stirbt, hebt sein
e rv in g i die Axt auf - er muß seine Rolle übernehmen und seinen Anteil
zahlen, Gul. 218; nur ein Prozeß vor Gericht auf Verleugnung des Misse­
täters befreit die Sippe. Eine spätere gesetzliche Neuerung versucht die
Sache zu bessern, indem sie dem Töter erlaubt, „mit seinem eigenen Teil
zu flüchten“ , und dies kann zu der merkwürdigen Folge führen, daß die
Verwandten für einen Verbannten zu zahlen haben, s. Lieb. 4 (23), 66
(27), vgl. Er. L. II 9, III 30; Gul. 218; vgl. die Sprache des alten Frost.,
s. Germania X X X I I 138. Ein Schritt weiter: Jy . L. 22, der Betrag wird
beim Tod des Töters herabgesetzt, vgl. o. I 425, Anm. zu S. 94.
Die Gesetze versuchen auch die Grenzen der Verwandtschaft festzu­
setzen durch Bezeichnungen wie „das dritte Knie“ oder „siebenter Mann“ ,
z. B. Jy. L. 11,22, ö stg . Drap. 7 vgl. Gipt. 8; Västg. I Mandr. 1; Vald.
L. I 20, Roth. 153, Lex Baj. X V 10, Lex Rib. 56,3, aber die Forscher
haben sich nicht über die Bedeutung dieser Grade einigen können. Lex
Sax. 18 macht sieben Verwandte zusammen mit dem Töter verantwort­
lich, doch die Zahl sagt uns nichts, da wir nichts über die Personen oder
die Art wissen, wie sie gezählt wurden. Die beschränkenden Bestimmun­
gen stammen in vielen Fällen aus Zeiten, in denen die Pflicht nicht gerne
angenommen, sondern eifrig umgangen wurde, vgl. Jy . L. II 26.
In Dänemark wurde eine rein formelle Grenze gezogen, vgl. o. I 366,
Er. L. III 26, Skånet. 91; Seite an Seite mit dieser finden wir das unbe­
schränkte: e m eth h an s fr a n d su m er, vgl. Er. L. I 17, Skånel. 33.
Die ganze Mannesbuße mußte gezahlt werden, ob die Sippe in allen

370
ihren Zweigen in voller Kraft stand oder nicht; aber das hindert nicht,
daß die Möglichkeit bestand, die Buße, je nach dem Vorhandensein
solcher Verwandter wie Stiefbrüder und Ziehbrüder, zu variieren. In
die Mannesbuße waren wahrscheinlich seit alter Zeit gewisse „Gaben" an
die nächsten weiblichen Verwandten eingeschlossen; sie mögen gesondert
erwähnt werden, wie in Gul. 221, oder sie mögen einen Teil der Buße
bilden, wie in Lex Sal. 101 angedeutet.
Es mögen auch alte Beziehungen bestehen für Helsingelagen, Man-
hœlghis-Balker 38, aber so wie wir sie bewahrt haben, ist die Regel ohne
Wert für unsere Bemühungen, die alten Vorstellungen zu verstehen, da
sie eine vollkommen andere Stellung der Frau voraussetzt.
Die Redaktoren arbeiteten unter kaum zu bewältigenden Schwierig­
keiten, weil sie Wirklichkeiten in Paragraphen umsetzen mußten. In alter
Zeit umfaßte die Sippe Männer, die wußten - und fühlten —, daß sie
Verwandte waren; nun gab die Geschichte unsern Vorfahren die Auf­
gabe, den „Frieden“ in einer Formel zusammenzufassen, die alle Arten
von Sippen, klein oder groß, von junger Tradition oder von altem
Ruhm und weitreichendem Einfluß vereinigen sollte. An vielen Stellen
arbeiteten die Redaktoren außerdem zu einer Zeit, wo die Macht der
Sippe im Abbröckeln war.

16. H ö rg

H örg = eine Steinsetzung, Landn. 158; beachte die Parallele zwischen


Kreuz und Hörg, Gul. 29, Sverris Krist. 79 vgl. Hynd. 10. Beachte den
Gebrauch Flat. III 246, h am ra ok h ç r g a , sicher ein überlieferter Aus­
druck; b ren n a b o f und b r jô ta h ç r g a vertritt ohne Zweifel eine alte Sitte,
Flat. I 285, Fornald. II 288, auch wenn die Form von anderen Konstruk­
tionen gekreuzt ist: Flat. I 287, Fornald. II 288, Fornm. I 283 vgl. den
Vers Flat. I 285 (Rekstefja 9 = Skjald. 527 [9]), Fornm. II 41. Ferner:
N G L IV 7, und die Bedeutung in alten Mundarten, s. Beispiele bei
Fritzner s. v . h ç r g r am Ende, Rietz: Svenskt Dialekt-Lexicon 244.
h o f und h q rg bilden eine dauernde Verbindung, Vsp. 7, V af. 38, Helg.
H j. 4, Flat. I 285 usw. Als traditioneller Gebrauch Stjórn 580, 582, K ar-
lamagn. 131,137.
hörg = Blot-Haus, vgl. Grim. 16, Gylfag., S E (A M ) K. 14, cum v a r .,
beide Lesarten in der Wirklichkeit begründet (S E [A M] I 62, II 260).
hörg = ein Ort oder ein Gegenstand der Anbetung, Sverris Krist. 79,
Gul. 29, Bisk. I 20.
Ags. h earg umfaßt die vollen Inhalte vom heiligen Ort bis zur gött-

371
lichen Macht; oder in christlicher Sprache zum Idol, Dan. 181 vgl. 715,
Christ 485, And. 1687, usw. Ags. Vocab. übersetzt h earg durch lu en s, 433,
23, fa n u m , sacellu m , 517, 13; 519, 10; 199, 10, lu p e rc a l, 433,22.
h a r g t r a f — Blot-Haus, Beow. 175.
h earg = Heiligtum, nicht notwendig Gebäude umfassend, Beda, ags.
Übersetzung II 13,15, III 30 = Early English Text Soc. 95 f., 136 f.,
142, 250; II 13, getim b ro wird so erwähnt, daß H örg in diesem Fall ein
Haus bezeichnen, aber vielleicht auch nur eine Einzäunung bedeuten kann,
vgl. B A Prosa I 178, 30.
In der angelsächsischen Übersetzung der Bibel ist es auf einen festen
Gebrauch eingeschränkt. Das Bild selber wird g o d genannt (B A Prosa
I 74,19; 164,17); h earg ist der Gegenstand der Anbetung, das Idol (164,
15; 175, 2; 177,1: h e arg und god, die zusammen die Idole bezeichneten),
wobei immer eine materielle Manifestation in Betracht gezogen wird,
„Stöcke und Steine“ (vgl. 178,30).
Ahd. h aru g = lu cu s, fa n u m , a r a , Graff IV 1015 vgl. altnorwegisch vê,
ags. veoh , ahd., altsächs. w ih , und ags. ealh, ahd. a la h , got. alh s -, die
der Bedeutung nach Duplikate von h q rg sind.

17. Kultische Form eln und T e x te


a) F o r m a li
(vgl. II 167 ff.)

Juristische Formeln: Heid. 98 (23, 27), 100 (9), N jála, Kap. 8 (22),
Forns. 124, Sturl. II 158, vgl. z. B. Jy . L. I 21, III 21. M ed p e im fo r m a ta
= eo tenore, Heims. III 107. Vgl. le g g ja á , v a d iu m d e d it eo o rd in e u t,
sk ilia fy r ir , s. o. Anh. 9 a, S. 350.
Opferformeln: m a la fy r ir , Heims. I 192, Flat. I 283, II 452, Sturl. 1 17,
Unger 219(11), Herv. 283 f. (beachte den Text des formaeli), vgl. Flat. I
280. Formæli: Fornm. I 90, Egil 208, Mork. 20. Formáli: Heims. II 219,
Flat. II 184, Egil 263, Kormak 20. Vgl. die christliche Anpassung des
Wortes = Gebet, Bisk. I 140,167; N G L III 254 N r. 41, bezüglich ein­
leitender Worte bei Beichten; und die interessante Stelle Fornm. V II 198;
Grågås Stad. 442 vgl. Finsen: Register til Skálh.
Norwegisch: sk ille f o r sk aale n , N . h. T . 2 III 204, vgl. den Rechtsaus­
druck sk il, Worte und Handlungen, die gesetzlich binden; sk il ja fy r ir ,
s. o. und z. B. Flat. III 274 Z. 2, Västg. I Gipt. 2; 9.
Uber das Grab sprechen: Heims. I 219; über die Hochsitzpfeiler,
Landn. 7.

372
Das fo r m á li der Nornen: Vois. 100; vgl. den Segen des Vaters, welcher
ein typisches formáli ist.
m a la fy r ir , Heil wünschen, segnen: Forns. 148 (3), 136 (16), Sturl. II
104.
m a la f y r ir , fluchen: Grettir 94, Fornald. II 250, vgl. auch Bisk. I 774
Z. 35, Grettir 177, Islend. 59, Norr. Fornkv. 324, H rolf 56, Fornald. II
287.

b) k jó sa

Die Bedeutung des Wortes k jó sa ist bestimmt durch den aktiven Cha­
rakter des alten Denkens. Wenn ein Germane wählt, fügt er sich weder
der Notwendigkeit, noch macht er das beste aus ihr, sondern er bejaht
sie in einer solchen Weise, daß die Wahl sein Wille und sein Schicksal
wird, oder er entscheidet die Zukunft durch seine Handlung; daher geht
k jó sa allmählich in die Bedeutung über: „mittels einer höheren Macht
eine Entscheidung treffen“ (Beispiele s. Fritzner s. v .).
In der religiösen Welt, wo die Aktivität aufs höchste gesteigert ist,
bedeutet k jó sa „durch Opfer wählen“ , d. h. Heil und eo ip so gute Wahr­
zeichen schaffen - daher in volkstümlicher Sprache: Zauber treiben.
(Helg. H j. 32, Faf. 12, Vsp. 63: nur gute Wahrzeichen erhalten = in Zu­
kunft immer glücklich leben.)
Nach Strabo V II K. 2 konnten Wahrzeichen unmittelbar dem Blut des
Opfertieres entnommen werden; Hym. 1 zeigt möglicherweise in dieselbe
Richtung, bedeutet aber doch eher: erwartete gute Wahrzeichen. Die
Freude der Opfernden, seled reäm , Weisheit, erleuchtende Vorstellungen,
prophetische Einsicht, waren an sich gute Wahrzeichen.

e) g e f a - fó r n

Die Gabe bedeutet Mischung von Seele und Leben, Gemeinschaft upd
Inspiration, und diese Wirklichkeit wird im Verhältnis zu den Göttern
gesteigert. Zu besitzen - e ig a - bedeutet lebende Verbindung zwischen
dem Besitzer und dem Gegenstand, und das Verbum eig n a bedeutet, Leib
und Seele übertragen, wie wir sagen würden, um die Übertragung wirk­
lich zu machen; so sind g e f a und eig n a religiös gesehen identisch mit
b io ta - Fagr. I 283: Ö d n i er Ql geß t o k ásu m eru fu ll e ig n u d ; Fagr. 85:
eign atfu p a n f u ll hin um rik astu m fr a n d u m sin um . Ein interessantes Echo
in Fornald. III 389: gefinn, d. h. auf seinen Platz gewiesen, mit Leben im

373
Grabe erfüllt, indem das Bier und das Opfertier geweiht wurden. Daher
umfaßt ein Wort wie ags. lá c natürlich die Bedeutung: „Spiel“ , „K u lt“
und „Gabe“ .
Der technische Name für eine Gabe, die den Göttern geweiht ist, ist
fó r n , vgl. Flat. I 144,213; in der christlichen Terminologie wird es ge­
braucht für Votivgabe und Opfer, s. Fritzner s. v ., vgl. Atlam. 5. Geben
oder weihen: Forns. 143, Herv. 233, Austf. 96, Eyrb. K ap. 7 usw.; Ol.
Tr. 24.
Das geweihte Opfertier konnte b ló t-n a u t genannt werden, aber das
Wort kommt in dieser Bedeutung nicht häufig vor, Egil 244.

374
Anmerkungen

K lein od e

S. 8: fridu-sibb, Beow. 2017


S. 8: gipt, siehe Anh. 11. — Blundketil, Islend. 162. — Einar, Ljósv. 172.
S. 9: Die Njalsöhne, N jála 561. — tbingatio, siehe Anh. 13. — Schwe­
den, ö stg . Vins. 9, Bygd. 46 vgl. Gul. 129. — Grågås I 247 vgl. die Ter­
minologie der Alltagssprache, z. B. N jála 188, Flat. III 57. — Steinun,
Landn. 123 vgl. Grettir 20. — Geschenk als Entgelt, Liut. 73 vgl. Rothar
175, 184, Thév. 59, 61, Cod. Cav. I Nr. 176, Cod. Dipl. Lang. Nr. 22,
57, 64, usw. usw. usw. in infinitum, vgl. Liut. Form. 72 (73).
S. 10: arrh a, siehe Anh. 8 S. 342.
S. 11: Refr. Fornald. III 40 u. f. vgl. Saxo I 433/4. — Eine Gabe for­
dert Gegengabe, Gisli 28, H áv. 145.
S. 13: Beow. 1013 u. f., 1192 u. f.
S. 15: Odyss. X III 215. — Beow. 2725 u. f. — Egil 290.
S. 16: Die Eriksöhne, Fagr. 53. — „Frodis Mehl“ , S E 106, Beow. 1719.
— Gudrun, Vois. 152 vgl. Hildebrandslied 33 u. f. — Egil 175.
S. 17: Kjartan, Flat. 1311. — Knechte, Flat. II 245. — Des Königs
Zorn, Flat. III 433. — Einar, Egil 291.
S. 18: nautr, Vigfússon: Dictionary s. u. nautr, Regin. 4, ein bezeich­
nendes Alltagsbeispiel Austf. 229. — Glúma 19, 76/7.
S. 19: Höskuld, Laxd. 90 vgl. Fornald. III 606, II 326, 352, 360. —
Grettir 38. — Die Axt von Olafs Sippe, Dipl. Norv. X Nr. 203. —
Volkssagen, Thiele I 134, 292, Möllenhoff: Sagen usw. d. Herzogtümer
Schleswig, Holstein und Lauenburg, Kiel 1845 S. 327 u. f., Grimm:
Deutsche Sagen, 3. Ausg. I 27.
S. 20: Gram, Völs. 108, vgl. Heims. I 448. — Hörd, Islend. 9, 15.
S. 22: Vieh, das Heil hat, Islend. 10, Forns. 54 u. f. — Goldzierat,
Thrym. 23, Helg. H j. 4, Fornald. III 30, Laxd. 105/6, Austf. 186 u. f. —
Glaube, Forns. 55 Z. 15 vgl. z. B. Glúma 19, Herv. 297. — hoch schätzte,
Islend. 9, Grettir 68 vgl. Forns. 18 Z. 10, Flat. I 261/2.
S. 23: Die Merowinger, Eginhard: Vita Caroli K. 1 vgl. Lex Sal. 3 IV,
taurus regis und sein Pferd, ib. 38 II. — Dieb, siehe z. B. Gul. 253, Frost.
X IV 12, Skånel. 145, Västg. II þjuf. 24, Drap. 19, Upl. Manh. 37/8,
Rothar 32 vgl. Västg. þjuf. 4, Upl. Manh. 41, ö stg . Drap. 2, Lex Sal.
32, Rothar 42, Lieb. 4 (24), Skånel. 109, usw. — Diebstahl und Räu­
berei, Räuberei wird oft kompliziert, weil sie mit Heimfrieden und
anderem Frieden in Widerstreit steht, aber der Standpunkt ist ganz klar,
vgl. eine Formulierung wie Skånel. 84.

375
S. 24: Männer in Südschweden, Gaslander 284, 301. — g o r v a r g r , die
ursprüngliche Bedeutung von g o r ist wahrscheinlich die halbverdaute
Nahrung in den Eingeweiden, aber das schwedische g o r t ju f und g o r k ä tti
deutet auf einen weiteren Sinn, g o r tju f, östg. Y aþ a 32, Västg. I Orb. 9,
II þjuf. 16 vgl. 58, Söderm. Bygd. 33, Skånel. 166, And. Sun. 110, Jy . 1.
III Er. 53, 1. I ll 41, N G L II 523, Frost. V 21, Stac?. 374, Grågås I
117, vgl. Lex Alam. 65, Lex Rib. 18.
S. 25: Bardi, Heid. 54 u. f. vgl. Laxd. 173/6 über Kjartans Schwert,
das ihm der König gegeben hatte mit dem Versprechen, daß es ganz be­
sonderes Heil hätte, Laxd. 162 vgl. Flat. I 454; als Kjartan sein Schwert
wiedergewinnt, hat er das Zutrauen zu ihm verloren, und „jetzt schätzte
er cs viel weniger als früher“ .
S. 26: Grendel, Beow. 1557 vgl. Fornald. II 369, 371.
S. 27: Angrvandill, Fornald. II 391/2 vgl. Helgis Rede 374, und N jála
114, Glúma 19, 76, Laxd. 162 vgl. Flat. I 454. — Svart, Forns. 134. —
Arngrim, Herv. 206.

D a s Siegesschw ert
S. 28: Jökul, Forns. 48. — Beow. 1528. — d ó m , siehe Anh. 3. — Sti-
gandi, Forns. 27. — Siegeswaffen, Beow. 804 vgl. Gisli 4, Herv. 205,
Heid. 61 und das literarische Überbleibsel in Fornald. III 475. Beispiele
von mittelalterlicher Bekehrung zu und Verschmelzung mit fremder
Denkart z. B. Will. Malm. I 150.
S. 29: Sköfnung,. Landn. 57, Thord. H r. 8, 49, 54, 55, 62, H rolf 100,
Kormak 20, Laxd. 214 vgl. das Schwert Dáinsleif in S E 119, vgl. Islend.
48, Fornald. II 368 u. f., usw. usw. — Paul. Diae. II 28. — Skirn. 9 vgl.
Grettir 44, H rolf 70. — Beow. 1459. — Stigandi, Forns. 30. — Der
Langwurm, Flat. I 520.
S. 30: Kormak 19/20. — Fußbeißer, Laxd. 104 vgl. Islend. 48, 106,
bem. 115; literarisches Echo: Fornald. III 476. — Grauseite, Gisli 4 vgl.
82, 18, 22, 28. — Beow. 2155.
S. 31: Selthorir, Heims. II 298. — Beow. 2610 vgl. 454, 1202. —
Grettir 32. — Völs. 88. — Bödvar, H rolf 60 vgl. 56.
S. 32: Thryms. 30. — Skrukke usw. N. h. T . 2 III 159, 166 vgl. Paul.
Diae. I 27.
S. 33: Hrani, Flat. II 7, Ol. s. h. h. 2/3. Die Siegeshemden und die
wundervollen Schwerter, die Gemeingut der Romanen des Mittelalters
wurden, sind oft von den nordischen Sagenerzählern übernommen und
einem vernünftigen Zweck dienstbar gemacht, Flat. I 529, Völs. 186,
Ragnar 156, 158, Fornald. I 352, II 198, III 250, 397, 415 usw. usw.
Nichtsdestoweniger geschieht allmählich eine Veränderung, wenn solche
Gegenstände benutzt werden mit Rücksicht auf die Wirkung: sie ver­
wandeln sich langsam in Requisiten der literarischen Taschenspielerkunst,
sobald sie vom Besitzer getrennt und mit eigenen wundersamen Eigen­
schaften versehen werden. Was den Mantel Thorir Hunds, Heims. II 492,
Flat. II 356, 372, betrifft, so muß man bedenken, daß ehrliches Heil von
der alten Art von guten Christen als magisch und schlecht betrachtet
wurde, und Thorir wird uns vorgestellt, so wie ihn O lafs Bewunderer

376
und die Möndie, die mit seinen Reliquien Wunder wirkten, sahen. S E 27
sind mystisch verwandelte Schätze.
S. 34: Verehrung durch Geschenke, Islend. 148. — Beow. 1880 vgl.
z. B. Egil 176. — Upl. Ærf. 4 = Söderman. Gipt. 3.
S. 35: Kühnheit, H rolf 23. — Schande, Tac. 6, Lex Sal. 30, 6, N jála
361. — Verwünschung, Helg. Hund. II 33 vgl. hier I 90.
S. 37: Die Ynglinge, Heims. I 27 u. f.
S. 38: Das Kampferz, Atlak. 27. — Sigurd, Faf. 10. — Die Gjukunge,
Sigurd, sk. 16. — Hervor, Herv. 211 u. f., 224/5.
S. 39: Die Hrafnistamänner, Fornald. II 109 u. f.
S. 41: Orm, Flat. I 521 u. f., vgl. 521, 531 mit Fornald. II 109/10, 355.
Thorkel, N jáía 618; eine andere Erbwaffe des Geschlechts, w ^chwert
Dragvendill, führt auch zurück zu dem Stammvater, Egil 226, Fornald.
II 122 vgl. 144/5.
S. 42: etwas „Auferlegtes“ , Kormak 27 über Skrymir, vgl. Fornald. II
327, 464.

N a m e und E rbe

S. 43: richtet ihn auf, siehe II 33/9 über die Geburt Olafs des Heili­
gen, vgl. Finnb. 19; h eillir, siehe I 320. — Sigmund, Völs. 100, Helg.
Hund. I 1/2 vgl. Ragnar 136. — Helgi, Helg. H j. 6 u. f. vgl. Herv.
346 V 73.
S. 44: Zahngabe, Ol. s. h. h. 4 vgl. Grim. 5, Flat. I 235, Laxd. 61. In
solchen Institutionen wie denen, auf welche Tac. 13, Paul. Diae. I 13,
Lieb. 491 (15) hinweisen, spielte die geistige Beziehung zwischen Geber
und Empfänger sicher eine Rolle, auch wenn die Handlung im ganzen
genommen etwas anderes betraf. — Theodorik, Cass. IV 2 vgl. V III 9.
— Norwegen, Dipl. Norv. I 253.
S. 45: H allfred, Flat. I 326 vgl. 213, 262, 418, I I 153, Fornald. II 332,
359, Svarfd. 46, Bj. H . 46. — Die Langobarden, Fredegar III 65, Paul.
Diac. 1 8 . — H arald, Heims. III 515.
S. 46: Glück und Heil, vgl. z. B. Flat. I 340 Z. 28 mit dem, was später
geschah, 342. — Der Ring der Skjoldunge, H rolf 17 u. f. — Beow. 1202
vgl. Islend. 16, Austf. 64 und die Rolle, die der Halsschmuck spielte in
Sprlaþáttr, Flat. I 275/6, welches verglichen werden muß mit Ragnarsdr.,
Skjald. 1 2 . — Schwert, Ring und Mantel, über diese Dreiheit vgl. Glúma,
Flat. II 8, Fornald. II 371, 390.
S. 47: H jalti, Rannveig, N jála 692, 370. — Deutsches Gesetzbuch, Lex
Thur. 31. — Beow. 2188.
S. 48: Sippenknauf, Forns. 43. — Gunnthram, Gregor VII 33 vgl. Paul.
Diac. I 15, Mon. Germ. Lang. 378 (156). — Zepter, Paul. Diac. VI 55.
S. 49: alt, Beow. 795, 1488, 1558, 1903, 2563, 2610 usw., B A Po. I
360 (47), Fost. 31, Grettir 32: — oft zitiert, z. B. Pérard 3, 72.
S. 50: Sohn des Sohnes, vgl. Amira: Erbenfolge 17, 133, Heusler II,
579 u. f. — Adoptiert durch den Großvater, vgl. Roz. 132 u. f. Andeu­
tung alter Sitte, Fornald. I 358, Eyrb. K 7.
S. 51: Hreidmar, Regin. 10/11, vgl. Gud II 28 und hier 11,44, Lex
Rib. 48, Flat. I 21. — Lex Sal. 59; dieselbe alte Lebensweisheit liegt zu-

377
grunde in Lex Thur. 26 u. f. ; ebenfalls Nachwirkung in Lex Burg. X IV 2.
Der Grundsatz, dem man gelegentlich in germanischen Gesetzen begegnet,
daß der Vater der Erbnehmer seines Sohnes ist, mag insofern eine Neue­
rung genannt werden, als die Erbschaft betrachtet wird als Mittel zur
Übertragung von Besitz, aber diese Ordnung ist die natürliche Folge der
alten Wirklichkeit; ein Mann ohne Kinder ist ein toter Zweig, und sein
Vater muß einen neuen Sohn „gebären“ , um den Verlust wiedergutzu­
machen. — Thorlaug, Ljósv. 237, Reykd. 123, 126/7. Es gibt auch einen
anderen Gesichtspunkt, siehe I 284; in Wirklichkeit sind die beiden
identisch. Wir wissen nicht viel über die Stellung der Mutter.
S. 52: Sippenknauf, Grettir 32 vgl. Landn. 211. — Vigfus, GMma 19.
S. 53: Vigfus’ Hamingja, Glúma 26/7. — Bæsing, Flat. II 12. — Her­
vor, Herv. 225/6. — Jüngling, siehe hier I 320. — Ausschluß der Frauen,
siehe Anh. 11.
S. 54: Tenkterer, Tac. 32. — Der letzte des Geschlechts, Beow. 223
u. f. Die Übersetzung von 2252 läßt mehrere Deutungen zu; 2253, fe o r-
m ie bedeutet: anständig behandeln. 2258, meine Übersetzung von g e b á d
soll nur darauf hinweisen, welche aktive Art der Erfahrung und des Er­
lebnisses b id an andeutet.

G abentausch
S. 55: Ein Gefühl der Einheit, siehe z. B. Islend. 161 u. f. — m u n d r,
siehe Anh. 11. — Solidarität, Lex Burg. 66 vgl. Rothar 160/1. — Tac. 18.
S. 56: Freundschaftsgaben, z. B. Egil 38, 148/9, 226, 278, Heims. II
301, Bisk. 1 36, N jála 562, usw. usw. — Austausch von Geschenken,
Gisli 13. — Geschenke anbieten, z. B. Ljósv. 167, 200, Heims. I 232,
Islend. 33. — Andreas 471.
S. 57: Gregor VI 29 vgl. Heims. II 101.
S. 58: Der Wind weht, Richthofen: Friesische Rechtsquellen 491. —
Eriks Gesetz, Er. 1. II 6, 9. — Island, Grág. I 206, vgl. auch Västg. I
Orb. II Add. 7, 10.
S. 59: Thorgeir, Islendingabóc 11, Bisk. I 24.
S. 60: Will. Malm. I 143. — Chlodwig, Mon. Germ. Hist. Script. Mer.
II 256/7 (Übersetzung von Giesebrecht). Die Geschichte von Chlodwigs
Heiratsantrag ist interessant als Beispiel der germanischen Diplomatie;
um andere Leute seinen Zwecken zu unterwerfen, muß er Herr werden
über ihr Wollen und ihre Hamingjas, Gregor II 19 und besonders Mon.
Germ. Hist. Script. Mer. 99.
S. 61: Gundowald, Gregor V II 38. — Thrond, Flat. III 314.
S. 62: Liebe, z. B. Forns. 11, Laxd. 18, usw. — Morgengabe, ö stg. Eþz.
19, Gipt. 10; Upl. Æ rf. 4; Västg. I Gipt. 4, 9, II Gipt. 2, III 67; Vestm.
II Ært. 4; Hels. Æ rf. 4; Söderm. Gipt. 3 vgl. Gul. 51. Lieb. 8 (81).
Rothar 182, 199, 200, 216; Liutp. 7 vgl. Cod. Cav. I Nr. 1, 154, 163 in
a lia d ie n u p tiaru m . Lex Burg. 42 (2), Lex Alam. 54, Lex Rib. 37.
S. 63: Margarethe, Flat. III 324. — Upl. Æ rf. 4. — Einschätzung der
Bewerber, Bild aus dem isländischen Alltagsleben: Eyrb. K . 41, N jála 43,
Laxd. 25; aus der poetischen Sphäre: Signe, Saxo I 338; Brynhild; Heims.
I 101.

378
S. 64: Thurid, siehe I 34/5. — seine Gabe legen, in Schweden brachte
der Bräutigam der Braut seine Liebe verkörpert als förningar, vgl. Upl.
Æ rf. 1, Magn. Er. Landslag Gipt. 7; vgl. auch hier II 17/18. — Ingeld,
Beow. 2024 u. f.
S. 65: Brynhild, S E 1 0 4 u. f., Völs. 155, 159 Z. 17 vgl. Sigurd. I 15.
— Gudrun, Laxd.
S. 68 : Sinn mischen, die Gesetze enthalten interessante Beispiele von
Psychologie der Liebe, wie wenn z. B. das Überreichen der Gabe „oben
darauf“ auf die Verlobungsgaben eines früheren Freiers Strafe nach sich
zieht, Upl. Æ rf. 1, Hels. Kyrk. 15. Die Absicht ist, den Mann zu be­
schützen, der seine Ehre an eine Partie gebunden hat und der daher ver­
letzt werden könnte durch einen Appell an den Willen des Empfängers.
— Blutsbrüder, Fost., vgl. Forns. 39, Fornald. III 375; vgl. ags. w ed -
b ro ð e r.
S. 69: Der zivilisierte Römer, Tac. 14 vgl. Ammian. Marcel. X V I 12
(60). — Die Treue der Jünger, Heliand 3994. — Hallfred, Forns. 111/12.
S. 70: W iglaf, Simrocks Übersetzung, Beow. 2862 vgl. z. B. Skjald. I
24 (15/16). — Godrik, B A Po. I 356/7 (186, 203, 246, 289) vgl. A S
Chron. a. 755. — Das Bjarkalied, Saxo I 90 u. f.; ein verblaßtes Gegen­
stück in H alf. 31 u. f.
S. 72: Bedingungen des Lebens, der Gefolgsmann liebt und haßt, so
wie der König liebt und haßt; es ist keine Übertreibung in dem Spruch
Lieb. 396 (1).
S. 73: era, Thord. Hr. 4 vgl. Flat. I 454, usw., Heliand 3771. — Die
Zurückweisung, Islend. 32/3 vgl. Gisli 21, Laxd. 167.
S. 74: Thorstein, Flat. III 319/20. — Des Königs Geschenke, vgl. die
vorhergehenden Zitate aus der Hofdichtung, z. B. der Auftritt H rolf 84/5.
— Der König von Norwegen, Flat. III 117 und hier in der Folge.
S. 75: Thronforderer, Mork. 19. — Asgrim, Flat. III 433, Landn. 110
vgl. Heims. II 275. — Svein, Flat. III 273. — nicht ausgeschlossen, z. B.
Mork. 61/2, vgl. auch Egil 118 u. f. und hier II 17.
S. 76: Gunnar, N jála 201. — Egil, Skjald. 36 (15) vgl. hier II 17.
S. 77: Der Eid der Gerechtigkeit, Er. 1. III 27, Skånel. 110/11, And.
Sun. 46 vgl. Västg. I Vaþ. 4, östg. Krist. 13, Norweg. Bjark. 31/2, 90
vgl. Lieb. 500 (10,2). — Verwandte im Geldbeutel tragen, z. B. Grettir 55.

K a u f und P fa n d
S. 78: Sagenhafte Isländergeschichte, Fornald. II 393. — Vorsicht der
Bauern, siehe z. B. Cavallius II X L III, I 386, H . Aminson: Bidrag till
Södermanlands Kulturhistorie V 85, O. Nicolaissen: Fra Nordlands For­
tid I 21, Gaslander 275 (27) vgl. 302 Z. 1.
S. 79: sk ey tin g , Skånel. 36, 77 u. f., 83, And. Sun. 37/9 Sk. Stadsret 1
(Skånel. S. 400), Er. 1. I 29. — auf dem Gesetzesthing, Skånel. 49 N. 67,
51, Vald. 1. II 44, III 8, Er. 1. I 18, III 3, vgl. das stillschweigend Mit­
einbegriffene II 49 (S. 50); Jy. 1. I 37, aus der Begründung hervorgehend;
Zeugen waren wirklich die Männer, die die Zipfel des Mantels hielten,
And. Sun. 38. — Norwegen, Gul. 292 vgl. 279; vgl. ö stg. Eghn. 1; bem.
die Vergangenheit, die in Västg. III 67 angedeutet wird. — Südliche

379
Formen, Torf, schwarze Erde: Thév. 29, 100 ter, Hist. Fris. Nr. 484,
Redon Nr. 99, 142, Pérard S. 57, Cluny I N r. 10, Kemble, Cod. Dipl.
Æ. Sax. I N r. 114; Messer: Thév. 105, Chartæ N r. 23, 110, usw.; Zweig,
Thév. 52, 98, 136, 143, Loersch 97, Hist. Fris. I Nr. 492, Mon. Germ.
Leg. IV 602 (Cart. 24) vgl. ib. I l l 337 (Lex Baj. App. IV), Cod. Lang.
N r. 127,146, 243, 247, Chartæ I N r. 23, 40, 55,110; Tür, Angel, Schwelle,
Thév. 30, 124, Loersch 70 vgl. 54, Hist. Fris. N r. 538, 607, Cod. Lang.
Nr. 184, 191, 228, 232, 257, 266, 269, 291, Mon. Germ. Form. S. 200 (34),
Roz. 256, 258, 288, 289, Cluny I Nr. 91; Stock, siehe Anh. 9 a.
S. 80: Zweikampf, Lex Alam. 81; dasselbe geschieht bei dem Eide,
wenn er geschworen wird, während man den Gegenstand des Streites be­
rührt, Lex. Rib. 33, Er. 1. III 21. — Die Sachsen, Widukind I 5/6 —
natürlich sagenhaft, aber eine Sage, die grundsätzlich verstanden wurde.
— ihnen nichts „auferlegt“ , Herv. 205, Regin. 6/7; bem. f á r , das ganz
genau die böse Gesinnung als gefährlich bezeichnet und ebenfalls das Un­
heil, das entsteht, wenn es sich durchsetzt.
3 .8 1 : bedeutungsvoller Ausspruch, Grettir K . 17, Beow. 1045, 1216,
2162, 2812. — genießen, z. B. Norr. Fornk. 57 (112 usw.), 64 (164), 224
(29), 239 (8) usw. usw. vgl. B A Po. I 372 (308) und Beow. 2165: über­
reichte ihm seinen guten Willen, d. h. ohne ihm den Inhalt zu neiden, sein
Heil wie ein Heil, gab es ihm un Vorbehalten aus heilem Sinn, vgl. 2157:
daß ich dir erst seinen Willen, sein Wesen künden sollte, und 1194, 2149:
unvorbehalten, aus heilem Sinn; est ist der gute Wille zum Frieden, z. B.
Beow. 2378, B A Po. III 200 (24), und bem. die gleichbedeutenden Worte
Gen. 1443: der gute Wille des Wirtes = Gastlichkeit. Beow. 3075 ist
dunkel, aber soviel ist sicher, daß der Vers sich auf den Willen des Be­
sitzers bezieht, vielleicht weist er auf die Tatsache hin, daß Beowulf sei­
nen Sinn nicht kannte, da er nicht mit ihm vertraut war. — Gebrauch,
vgl. z. B. And. 229. — Heil folgt ihm, N jála K . 82 (82). — Handschuh,
siehe Anh. 8. — w ed , siehe Anh. 8. Auf gleiche Art wurde die Macht über­
tragen, oder wie ein Wort in Norwegen besagt: rá d , vgl. I 276/77 und
Ann. 1. Beim Abschiednehmen wendet sich der König an Beowulf o n d
him hael a b é a d , w ín-<ernes g e w e a ld ; so bekommt Beowulf festen Stand
in der Halle, Beow. 652 u. f., vgl. 1044; vgl. sp ed , Beda (Early Eng. Text
Soc. 95/6) S. 230 (28), 256 (10). Das Heil, das als Macht geboten wird,
ist dasselbe wie das, das als Willkommen geboten wird; Beow. 652, 2418
und Elene 1002 sind vollkommen gleich.
S. 82: Worte recht lenken, es ist die Formel, die den Unterschied macht
zwischen w x p sk ö tn in g und w aerulzskötn in g (a d p erp etu u m d o m in iu m ),
Skånel. 83 vgl. Amira II 229 u. f. und I 207 u. f., 220, wo die Tatsachen
den modernen Vorstellungen entsprechend geordnet sind. — auferlegt, in
Norwegen wurden die Worte dem Pfeil auf erlegt, wenn er ausgesandt
wurde, daß die Ablieferung eine unwiderstehliche Macht ausübte. Frost.
IV, 24. Die Sache oder der Name des Angeklagten wurde auf den Pfeil
gelegt, Frost IV 39, Gul. 151, 156, und beide Parteien — du selbst und
der andere Mann — waren durch die Auferlegung gebunden. Vgl. Aus­
drücke wie: v a d iu m d e d it eo o rd in e ut und dergleichen. In Skandinavien:
sk il ek f y r ir u n d ähnliches, m ed p e im fo r m å la = eo te n o re, Heims. III
107 vgl. Rothar 366, Ratchis 5, Lex Sal. 46. Siehe auch Anh. 9 b und 17 a.
S. 83: Handschlag, siehe Anh. 10. — zwei Öre, Skånel. 76, And. Sun.

380
391. — „H andel“ , Ljósv. 192 Z. 58; hinsichtlich der übrigen Germanen
siehe Grimm: Rechts. 138 u. f.
S. 84: Einen Gegenstand verwenden, siehe II 81 und Forns. 136 Z. 11.
S. 85: Der Wert einer Kuh, Tac. 12, 21 weist auf eine andere Welt
hin als die im isländischen k á g ild i, vgl. Grågås II 192/3, Lex Rib, 36
(11). — Ingeld, Beow. 2047. — Isleif, Flat. II 140 vgl. den Wortlaut
in Mork. 201 Z. 20/1.
S. 86: Das Recht der Erben, siehe Anh. 12. Nachdem, was gesagt wor­
den ist, ist es sicher nicht notwendig hinzuzufügen, daß die geistige und
gesellschaftliche Einheit der Sippe nicht im geringsten den privaten Besitz
beeinträchtigte. — Zwiespalt, Sinn und Form im Widerstreit, wenn ein
bezeichnendes Beispiel gewünscht wird, genügt ein Hinweis auf Amira I
320 u. f.
S. 87: Ehevertrag, siehe Anh. 11. — Die Verpflichtung des Verkäufers,
siehe Anh. 8. — Frühzeitlicher Handelsbegriff, Grågås I 247, Stad. 84/5,
ö stg . Vins. 9, Bygd. 46, auch Liut. 43, 72 (73) vgl. Form., und siehe
Anh. 8.
S. 88: t i l g a f , siehe Anh. 8. — G jafa-Refr, siehe II 11/12. — Gunnar,
Sigurd, sk. 15. — Tac. K. 21.
S. 89: Ingimund, Forns. 29.
S. 90: Sigmund, Völs. 88 u. f.

T ischgemeinschaft
S. 91: Magnus, Flat. III 273. — zutrinken, z. B. Egil 263, Heims. I
192, Bisk. I 848, vgl. solche Ausdrücke wie gefin til f j á r usw. usw. —
d re k k a b m ö la u p til, z. B. Flat. I 66, 157. — til, vgl. tilg œ f usw., siehe
II 106. — Magnus, Flat. II 419 vgl. Bj. H . 7.
S. 92: Der König trinkt zu, Heims. III 227. — Ehrenbecher, Småst. 25
vgl. Skråord. 83 (25), Sv. Landsm. Bih. I 235/6 (aus dem 17. Jahrh.). —
mitkommen, Ljósv. 141 vgl. die Sitte, die in Egil 133 angedeutet wird,
Fornald. II 267, Djurklou: Kinds H ärad 60, Topogr. Journ. V III 26ste
hæfte 52, Nicol. 84; vgl. im ganzen die Ermahnung in Laur. Petri: (Troil)
Skrifter och Handlingar till sv. Kyrk. Hist. V 71 u. f. — H arald, Flat.
III 317; Christen und Heiden konnten nicht miteinander trinken, weil
sie verschiedene „Glauben“ hatten, Flat. I 457; siehe auch Grönbech.
S. 93: Gunnthram, Gregor V 11 (.17) vgl. II 26 (35). — Adam Brem.
I l l K. 17. — Island, Flat. II 171, III 200. — Norwegische Hochzeit,
Folkevennen V II 386 u. f. vgl. Dithmarschen, Neoc. I 104/5, Stadslag,
Schlyter X I Gipt. 7. — Norwegische fe sta r- oder fastn aÖ arö l, Fritzner
s. V. — p e r cibnm usw., Thév. 84, Redon N r. 53. Deutsch litk o u f, Grimm:
Rechts. 191. Der Begriff L id k ø b , wie er in den Gesetzen der skandina­
vischen Städte ausgedrückt wird, ist mehr deutsch als skandinavisch,
Stadsretter udg. af Thorsen 14 (52), 72 (38), Kolderup-Rosenvinge:
Danske Gårdsretter 49 (3/4), 119 (102), 320 (52), 401 (38) usw. Skånel.
400 (3), Sv. Bjark. (Schlyter VI) 6, Feilberg s. v. lid k ø b und z. B. G as­
lander 258, Dipl. A. M. I 324 (sk ø d e tø n d e ), vgl. auch Da. Gild. I 167
(6 ).
S. 94: Ehe, Grågås I 222, östg. Gipt. 8 vgl. Ärfd. 8; Bjark. 132 vgl.

381
Gul. 51, 124, Frost. X I 8 (ö lb ú sv itn i). — Anderes zu tun als zu essen,
Islend. 148.
S. 95: Chilperidi, Gregor V 12 (18). — Theodolind, Paul. Diae. III 35.
S. 96: n jó tsm in n i , Fornm. VI 52 vgl. n jösm in n e in Aasen: Norsk Ord­
bog, Formeln von lid k ø b , Syv II 299 vgl. Feilberg s. v . lid k ø b . — erhielt
seine Freiheit, Gul. 62, Frost. IX 12, Bjark. 166.
S. 97: Haus und Kost teilen, Grågås I 154/5. — Das Brautpaar, N . h.
T. 2 III 198, Topogr. Journ. 26ste hæfte 45 vgl. Wille 260/1. — Schwe­
den, ö stg . Gipt. 8/9 vgl. die Bestimmung der verschiedenen Sorten Bier,
Västg. 1 Mandr. 13; Neoc. I 110 u. f.
S. 98: Sigurd, Völs. 143 vgl. Gud. II 21 u. f. vgl. Drap Nifl., Hynd.
45. — Hedin, Flat. I 278 u. f. — Bösmer, Danm. gl. Folkev. II 104 vgl.
Fornald III 299, 302, 309, 313, 335/6. Das Bewußtsein von den geisti­
gen Wirkungen des gemeinsamen Essens war nicht ganz verlorengegangen,
wenn es auch neue Begründung suchen mußte, siehe z. B. Cavallius I 401.
S. 100: Tischgenosse, Grågås I 228. — Der innerste Kern der Sippe,
nicht so, daß der gemeinsame Tisch von allergrößter Bedeutung oder
entscheidend gewesen wäre, aber Verwandtschaft bedeutete: am selben
Tisch sitzen und dieselbe Speise zu sich nehmen entweder jeden T ag
oder bei den periodisch wiederkehrenden Festen. Je vertrauter der ge­
meinsame Tisch, je stärker das Gefühl des Friedens. Aber dieses setzte
nicht andere Faktoren außer Kraft, siehe I 356 u. f. — jeder Kreis,
Beow. 343, usw. — Bier trinken, Gul. 126 vgl. den Wortlaut Frost. IX
20, Fritzner s. v. m n n g a ö a rm a ö r. — im Metsitz sitzen, Beow. 3065. —
Friesland, Vita Liudg. K . 6/7 (Mon. Germ. Hist. Script. II 406), vgl.
Grågås I 222.
S. 101: óœll, Grågås I 12, Gul. 202, Västg. I Mandr. I, östg. Eþz. 10,
Upl. Kun. 9, Er. 1. III 46; Skånel. m atb an K . 139, Lex Sal. K. 55 (2).
Reminiszenzen in den Gilden, z. B. Da. Gild. I 35 (1) vgl. Auflösung der
Verwandtschaft, Lieb. 186 (1,1). — Frost. IX 9. — Gabe und Bier, Beow.
2431, Tac. 14. — die Königin, Beow. 612, 1980, 2020, Atlak. 35. —
Garibald, Paul. Diae. III 30.
S. 102: Brynhild, Vois. 137. — Norwegische Hochzeitsgebräuche, N . h.
T. 2 III 190 u. f., Wille 257. — Schweden, Västg. I Gipt. 9, ö stg .
Gipt. 8/9. — Einweihungstrunk, Hym. 8, Heims. I l l 228 vgl. Atlak. 33
und, aus dem Leben der Bauern, Daae I 96.
S. 103: Priskos, Corp. Script. Hist. Byz. 207. — „Willkomm“ , Djurk-
lou 42. — Dithmarschen, Neoc. I 146, Nitzsch: Das alte Dithmarschen
14 vgl. Zutritt zu der Gilde, Småst. 117.
S. 104: Zurückhaltung, vgl. z. B. Saxo I 185.
S. 105: sich ihm ausgeliefert hat, Forns. 11. — Alboin, Paul. Diae. I 23.
— Tac. 21.
S. 106: Neidwerk, Budst. II 747 vgl. Lex Burg. 38 (1). — Cæsar VI
23. — Sinn mischen, H áv. 44. — die Pflicht des Wirtes, Lieb. 11 (15),
Lex Rib. 31, ö stg . V aþ. 32, 3 vgl. den Hintergrund, der in Rothar 274
angedeutet wird, und z. B. die Psychologie in N jála 41 u. f., 88/9, 91.
Auf der anderen Seite: Grågås I 173 Z. 12, Austf. 197, 199/200, Ljósv.
145. Vgl. es ist die Pflicht des Gastes, dem Wirt zu helfen, z. B. Eyrb.
K . 45 usw.

382
S. 107: Prokop IV 27. — Die Ehre des Hauses, infolgedessen muß
Sigrd. 5 buchstäblich genommen werden. — Heorogar, Beow. 2158. —
Jökul, Grettir 32. — Ein Gedicht auf den Geber, Egil 292, Bragis Ragnar-
drapa, Skjald. 1.

H e ilig k e it

S. 109: Hieb seine Axt, Landn. 85 Z. 29 und bem. im großen und


ganzen Z. 32; vgl. 62 Z. 20, 64 Z. 16. — Gesetzesstab siehe Anh. 9 b. —
Waffen, Gisli 6, N . h. T . 2 III 159, N jála 374 vgl. Fornald. III 577. —
Thorgils, Laxd. 247. — H alfdan, Fagr. 4, Heims. I 93/4.
S. 110: Skalm, Landn. 23 vgl. Spámaðr, Flat. I 419. — Tac. 10. —
Hochsitzpfeiler, Landn. 7/8, 31, 92, 95, 97, Laxd. 6, Eyrb. K. 4. Die
Bemerkung in Aarb. f. nord. Oldk. 1909 261 stimmt nicht mit dem Text
überein.
S. 111: Der Raum, den diese Pfeiler begrenzten, z. B. Eyrb. K . 4. —
Odin, Norr. Fornk. 76, 90, S E 16. — in den Sitz geführt, Heims. I 160
vgl. Gregor V 11 (17). Vielleicht bezieht sich das Wort Tischgenosse,
Paul. Diae. I 23, auf den Hochsitz? Gul. 115: Der Erbe übt die Herrschaft
und tut seine Pflicht vom Hochsitz her. — Herdbalken, Landn. 115, 34.
— Wetterfähnchen, Landn. 83, Grettir 89/90 vgl. Forns. 123 Var. Die
nahe Verwandtschaft zwischen den Wetterfähnchen und den hochgeschätz­
ten Gallionsfiguren ist auch zu beachten, vgl. Landn. 65 Z. 16/17. Siehe
im ganzen V. Gudmundsson: Privatboligen 153 u. f. — Durch Feuer
weihen, Landn. 63, 65, 73, Eyrb. K . 4. — Glúma 79.
S. 112: Das Feuer wahrsagt, vgl. Austf. 199 Z. 28, Forns. 6; bem. Zu­
sammenhang. Bem. den Ausdrude in Grågås II 136: Mit Herd und Feuer
auf dem Boden eines Mannes gehen = sich ansiedeln. — spätere Ge­
bräuche, siehe Feilberg u. skorsten. — der Norweger, Gul. 292 vgl. Frost.
X 4, wo die Heimstätte gekennzeichnet wird durch Feuer, Herd, Hoch­
sitz und Bedeckung der Bänke, und Skånel. S. 215; b ran sten können wir
sicher wie Schlyter in der Bedeutung Brennpunkt lesen. Es ist für den
Pächter wichtig, seine Zinsen zu bekommen innerhalb der Grenzen des
Heimfriedens des Hofbesitzers. Gud. II 23 vgl. ags. heorÖ, Herd, in der
Bedeutung Haus, vgl. Guðrúnarhv. 10. — Herdhammer, Feilberg: Dansk
Bondeliv i I 43 vgl. Budst. II (1820) 748. — Hvamm, Islend 166. —
Völsung, Völs. 87/8.
S. 113: Helgafell usw., Eyrb. K . 4, Landn. 32, 80, 81, 110. — Über­
reste, wahrscheinlich bezieht es sich auf die Überreste von den heiligen
Mahlzeiten, die auf der heiligen Stätte aufgehoben wurden, um zu ver­
hindern, daß sie entheiligt wurden. — Snorri, Eyrb. K . 28. — Thorstein,
Landn. 110 vgl. literarischer Nachklang in Bard. 7. — Tac., Ann. X III
57, Hist. IV 14.
S. 114: Fositesland, Vita Willibrordi, Jaffé: Bibi. Rer. Germ. VI 47/8.
— Adam Brem. IV 3 ist in einer gelehrten Zusammenstellung begründet,
aber der Name Heiligland ist interessant.
S. 115: Thord Gellir, Landn. 158. — h eill, Nicol. 171, Neoc. I 117. —
Hreidar usw., Landn. 65, 23, 32. — Aud, Landn. 156 u. f. — Thornstein,
Eyrb. K. 11.

383
S. 116. v éy siehe Wimmer: Danske Runemindesnuerker (Glossar). —
Die Friedhöfe, vgl. N . h. T. 1 IV 493, siehe auch eine schwache An­
deutung Forns. 67 Z. 4. — Das Gesetz, Smålandsi. Krist. 17, Eids. II 39.
— Seines Vaters Hügel, Flat. II 70, Herv. 273.
S. 117: Zurück zum Hügel, z. B. Dipl. Norv. III Nr. 122, X Nr. 257.
Bern, auch die Form der Stammtafeln, Christ. Videns. Sels. Forh. 1875
S. 100 u. f. vgl. östg. Eghn. 10 (und Anm. in Freudenthals Ausgabe) —
eine alte Sitte umgekehrt. — Mannhelg auf ihn legen, östg. Æ rf. 17 vgl.
den Wortlaut Vald. 1. III 13 (62).
S. 118: Der Fenriswolf, S E 32 u. f.
S. 119: Glúma 56; derselbe Ernst bildet den Hintergrund von der
Ehrfurcht, die den Hochsitz umgab, wenn im Hause einer gestorben war.
— Ein Kind heiligen, Überbleibsel dieser Terminologie Frost. III 11. —
heilige Waffen usw., schwache Erinnerungen wie in Heliand 1722; Stellen
wie Gen. 1017, 2039, 2780 und besonders 201 mögen einige Beziehung
haben zur alten poetischen Terminologie. — Das Land heilig machen,
Landn. 31, 65, 85, 105, Glúma 79. — Thorhadd, Landn. 94. — der Vor­
gang der Übertragung, Flat. I 291 vgl. Bisk. I 165, usw. — Blut ver­
gossen, Nachklang in Lex Sal. 74, Västg. I Mandr. 14, Vestm. Manh. 4/5
— auch in einem entstellten Überbleibsel wie in Sv. Landsmål. Bih. 210.
S. 120: Der fränkische Totschläger, Lex Sal. 58; die andere Seite wird
gesehen z. B. in dem Spruch Flat. II 122. Die Erzählung in Saxo I 176
hat wahrscheinlich denselben Ursprung. — Hebt die Axt auf, Gul. 218
vgl. Rothar 307; moderne Reaktion gegen alten Brauch, Skånel. 104. —
Halber Manneswert, Grågås I 192, Stað. 190. — Auf heiligem Grunde,
Herv. 266. — Ehrb. K. 9. — Oberherrschaft; der Tempel, den Thorhadd
nach Island versetzen ließ, gehörte seiner Familie an, aber die Worte be­
sagen, daß die Nachbarschaft an ihm interessiert war, vgl. Flat. I 439.
S. 121: Heimfriede, Er. 1. II 3, 5, 8, 9, Vald. 1. II 29, Jy. 1. III 22.
ö stg . Eþz. 1 Drap. 2, Västg. I Drap. 9, II Orb. 1, Upl. Manh. 12, 29,
Söderm. Manh. 12, 26, Vestm. I Manh. 3, II Manh. 11; Gut. S. 15, Gul.
178, Eids. II 40, bem. v a rg r. Lex Sax. 27, Lex Fris. Add. 1. Lex. Alam.
44 erlaubt sofortige Rache im Hause des Töters, aber wenn die Rache
aufgeschoben wird, behauptet sich der Heimfriede, vgl. Lex Sal. 42, 1,
Recapit. B. 31 (S. 105) und den Vorzug gegeben in ags., Lieb. 10 (11 u. f.).
S. 122: Ächtungsspruch, östg. Drap. 2, bem. den Wortlaut Söderm.
þjuf. 4, Upl. Manh. 39, Lex Sax. 28. Während der Heimfriede noch seine
Macht im Christentum behauptet, wird natürlich die Unverletzbarkeit
des Opferplatzes mit der christlichen Achtung vor der Kirche eingetauscht;
infolgedessen können aus dem Recht auf Zuflucht in der Kirche keine
Folgerungen gezogen werden in bezug auf ältere Verhältnisse bei den
Germanen. Vgl. aber Fornm. X I 40 und Mon. Germ. Hist. Leg. Sect. II
1 S. 68 und Lex Fris. Add. 11. Bem. den Ausdruck Er. 1. II 8: die Kirche
ist so heilig wie das Haus. Die Heiligkeit der Kirche wurde ohne Zweifel
auf die eigenen Felder übertragen, sowie es die schwedischen Gesetze aus­
drücklich bringen; vgl. isländisch ö rsk o tsh elg i, Landn. 108 und Grågås,
siehe die Zitate in Fritzner und z. B. II 182. Die mittelalterlichen Maß­
regeln in bezug auf die Sicherheit auf dem Felde und der Wiese sind
wahrscheinlich konstruiert, aber vielleicht steckt eine Überlieferung hinter
der Kasuistik. — Frost. IV 5 vgl. Lex Thur. 50, Lex Sax. 30, Vestm. II

384
Manh. 11, Upl. Manh. 12, Hels. Manh. 6; von besonderem Interesse ist
die Formulierung Jy . 1. III 22, wo auf die Heiligkeit des Pfluges hin­
gewiesen wird. — Heiligkeit der Frau, vgl. I 161, Austf. 160, Bj. H . 68,
Rothar 200, 201 (schlimmer als Mord) vgl. 26 mit dem folgenden; Lex
Sal. 24 II, 6, 7; 20; 31; 41, 3; Lex Sax. 15; Lex Alam. 45 u. f., 59 u. f.;
Västg. I Orb., Upl. Manh. 11, 29, Söderm. Manh. 12, 26, Vestm. I Manh.
3; 18; im christlichen Mittelalter ist das Ansehen der Frau im Sinken,
die Andeutung in östg. V aþ. 27, Lex Fris. Add. V. Später wird die Frau
als dem Mann unterlegen betrachtet, und wo das ursprüngliche Gefühl
von der Unverletzbarkeit einer Frau erhalten bleibt, werden neue Argu­
mente meist herbeigeholt, um dies zu erklären, Rothar 378, vgl. Lex
Baj. IV 29. Die Bestimmungen in Lex Sal. (und Lex Thur. 48 — es ist
unmöglich aus Lex Alam. 56 in bezug auf das Verhältnis zwischen ver­
heiratet und unverheiratet etwas zu schließen) haben die Geburt eines
Kindes als ein Kriterium gegen Tötung genommen, aber dieser Gesichts­
punkt ist nicht auf andere Kränkungen übertragen worden, und in 41, 3
ist das alte noch nicht rationalisiert. Nicht so in Lex Sax. 15, wo die alte
Auffassung der Jungfrau vielleicht noch vorherrscht.
S. 123: Ahnungen usw., bem. den Ausdruck Völs. 89 Z. 17. — über­
hörte nicht — aber wenn er es tat, war es um soviel schlimmer für ihn
selber —, siehe z. B. Eyrb. K. 63, Ljósv. 185, Heid. 77, Forns. 67/8, Austf.
53, 64, 71, Flat. III 324, Atlak. 10/11 vgl. Sigrdr., stilisiert Fornald. III
594, 604 usw., vgl. auch Heims. I 19. In Norwegen war es die Pflicht der
Frau, den Sendestab, der bei Tötung herumgeschickt wurde, ausschicken
zu lassen, Gul. 151. Die schwedischen Gesetze sind in diesem Falle wie
auch in anderen Fällen charakterisiert durch formellen Konservatismus
auf der Grundlage von moralischer Rationalisierung. — Tac. Germ. 8,
Hist. IV 61, 65, V 22. — vor Tacitus’ Zeit, Strabon V II K . 2, Cæsar I,
50, Plutarch: Cæsar 19. — in der Heiligkeit des Heims (isländisch innan
sto k k ), Eyrb. K . 15, Forns. 71 Z. 19, Grågås II 44, N G L II 51.
S. 124: Die Heiligkeit des Knaben, Lex Sal. 24, 1. Upl. Manh. 11/12,
Vestm. I Manh. 3, II Manh. 11, Söderm. Manh. 26, Hels. Manh. 14. —
Heiligkeit wohnt in den Haaren, Lex Sal. 24, 2. — Die H aare der Frau,
vgl. Lieb. 7 (73). — mit der Hand um den Zopf, Grimm: Rechts. 897/8.
Schwören mit der Hand auf der Brust bedeutet dasselbe als: bei sich
selber schwören, Lex Alam. 54, 3. — Abschneiden der H aare verboten,
Lex Sal. 69, vgl. auch die Abstufung Sv. Bjark. (Schlyter VI) 14, 18. —
Gudrun, Guðrúnarhv. 16, vgl. Gesta Dagob., siehe Zitat in dem Folg.
h a d d r bedeutete die langen Haare einer Frau, vgl. s k ç r für den H aar­
wuchs des Mannes, vgl. Grågås II 203. Die H aare wurden bei den N ord­
ländern hoch verehrt, auf diese Tatsache weist ihre Verachtung des kahlen
Knechtes hin, Flat. I 130, Völs. 191 vgl. Thév. 38; Rig. 15, 34; bei der
Wirtschaft der Knechte andererseits sind die Haare überhaupt nicht er­
wähnenswert. — Gelockt als offizieller Titel, Cass. IV 49. — Die Fran­
ken, Gregor II 8 (146), VI 16 (24), V III 10, Agathias I 3, Gesta Dagob.
I K. 14 (in M on .G erm .M ero v .il), Eginhard: Vita Caroli K. 1, Vita
Leodeg. K. 3 (Bouquet II 613). — Des Königs H aare schneiden, Gregor
II 30 (41), III 18.
S. 125: Die Nahanarvalen, Tac. 43. — mit offenem H aar, Västg. I
Retl. 5 vgl. vielleicht Fornald. II 131. Wahrscheinlich trugen die unver­

385
heirateten Frauen die Haare lose? In Skandinavien trug die Braut ein
leinenes Kopftuch, und in Norwegen und auf Island ist diese Sitte ver­
bunden mit der Morgengabe (lin fé ), S E 105 vgl. Flat. I 373. Lex Sal.
76 steht vielleicht in Verbindung mit dem lin. ln c a p illo , Liut. 2 u. f.,
bezieht sich vielleicht auf die lose hängenden Haare eines Mädchens. —
Zu der nächsten Familie gehörte, vgl. von einem anderen Gebiet des
Lebens Bisk. I 10/11, Prok. II 14.
S. 126: Paul. Diae. VI 53 vgl. IV 38 und Lex Sal. 101; wahrscheinlich
auch Vita Germer (Bouquet III 386). — Tritt auf den Stock, H rolf 85,
Islend. 42, Fornald. II 293, III 297. — auf den Stein stieg, Islend. 166
vgl. H e lg .H u n d .il 31, Gud. III 3 vgl. auch Lex Alam. 81 und Eid auf
der Türschwelle, Rieht.: Fries. Rechtsquellen 166 (109). Dem Eid auf
Tiere wird dieselbe Kraft zugeschrieben, Herv. 283, Helg. H j. 30 Prosa
vgl. Vkv. 33; vielleicht können wir hier zitieren Mon. Germ. Cone. I 90
(16) vgl. Hist. Fris. N r. 159: u terq u e m an u s p o su it su p er ipsu m et p acifi-
c a ti sun t eo m o d o. — Schwur am Schwert u. f., siehe Anh. 9 a II S. 351.
S. 128: Kriegers Friede, Lex Sal. 41, 3; 63; Lex Fris. 17, 1; Lex Alam.
25, 26; Lex Sax. 37; Lex Rib. 63; Lieb. 74 (40), 350 (61), Lex Aistulf 21,
vielleicht nicht neu im Geiste; Upl. Manh. 11, bem. die Art der Defini­
tion; Kg. 11; þing 14; Söderm. Manh. 26; Gul. 47; Er. 1. II 49; Skánel.
S. 416 (38), Jy. 1. III 22. Diese Paragraphen sind interessant, obschon sie
nur reine Überbleibsel sind, denn sie bezeugen die besonderen Verhält­
nisse, die durch den Krieg entstanden, und die Parallele, die im Heim­
frieden, Festfrieden enthalten ist. Es ist gut möglich, daß alter Brauch
der Grund ist, daß Diebstahl bei dem Verbot ausgelassen wurde. —
Tac. 7.
S. 129: Die Sachsen, Gregor V 9 (15). — H arald Schönhaar, Heims. I
103. — Tac. Hist. IX 61. — Die Chatten, Tac. 31. Man beachte den
scharfen Kontrast zwischen Tacitus’ Moralisieren und den Tatsachen, die
er schildert, vgl. K. 38. — Die Jomsburgwikinger, Flat. I 166. — K am pf­
heiligen, Ham. 28.
S. 130: Die Fischplätze, siehe I 157. — Das Schiff, Frost. IV 61 vgl. 5;
daher die gesetzliche Wichtigkeit des Schiffes, Gul. 292, auf dieselbe Weise
wie ö ld rh ú s, östg. Eþz. 33, Hels. Manh. 14; in Bjark. (Schlyter VI) 13,
Magn. Er. Stadsl. Skip. 2 liegt vielleicht nur ein formelles Überbleibsel.
— Das Schiff des Herdes, Skjald. 7 V. 4, 11 V. 24. Kenningar wie h v il-
b e ö ja r h q lk v ir sind vielleicht vom selben Ursprung, siehe Gering u. h v il-
b eör. — Die Schiffsreling, Vkv. 33, Thorsen: Stadsretter 158 (14), 240
(23). — Festfriede, Landn. 116, Egil 153, Forns. 124, Gul. 187, Vestg. I
Mandr. 13, II Drap. 27, Frost. IV 58, 61, Gul. 198; Lieb. 11 (13, 14), 92
(6, 5), 228 (1, 2).
S. 131: „W olf im Heiligtum“ , v a r g r i véu m , Forns. 124 (Hochzeit),
Egil 153 (Blot). — Heilige Sitze, Vestm. I Gipt. 2 vgl. Söderm. Gipt. 2.

D er Tem pel

S. 132: Lopt, Landn. 114. — Norwegen, Ol. Tr. 2, 39, Flat. III 246.
S. 133: Schweden, Upl. Kirk. 1, Hels. Kirk. 1, Gut 7, 63 vgl. auch For­
nald. II 132; bei dem Folgenden vgl. Grimm: Myth. I 56 u. f.

386
S. 134: Agathias 1 7 . — Bonifazius, Mon. Germ. Hist. Script. II 343/4.
— Tac., Germ. 9, 39, 40, 43, Annal. I 61, II 12, Hist. IV 14.
S. 135: Das Gotlandgesetz, siehe oben. — frith -g e a rd , Lieb. 383 (54)
vgl. Beda II 13: cum sep tis q u ib u s eran t circ u m d ata, vgl. v ébçrtd, Fritz.
s. V. — Hörg, siehe Anh. 16. — ein h o f bauen, z. B. Landn. 73 Z. 11, 79
Z. 25, 95 Z. 12. — Thorolf, Eyrb. K. 4, Forns. 26.
S. 136: Ausgrabungen, siehe Dan. Bruun und Finnur Jónsson in Aarb.
f. nord. Oldk. 1909 S. 245. — Egil 132/3 vgl. Gisli 27; vgl. auch den
Ausdruck Flat. I 280 Z. 18/19; offenbar ist der Sprachgebrauch korrekt,
man konnte ein vornehmer Herr sein, ohne ein „H o f“ zu besitzen. —
Blot-Haus, Forns. 42, Austf. 148, Islend. 109, Ol. kon. 106, Flat. II 190,
Fornm. II 263.
S. 137: Jorfjara, Flat. II 452. — H of und Hörg bilden eine dauernde
Verbindung, siehe Anh. 16.
S. 138: Das norwegische Gesetz, Sverris Krist. 79. — sich direkt an das
Wohnhaus anschloß, z. B. Bisk. I 39; Kodrans sp á m a ð r wohnte in einem
großen Stein dicht am Wohnhause. — Hakon, Flat. I 144.
S. 139: die anderen germanischen Tempel, Beda II 13, siehe Anh. 16.
— Tac. Germ. 9, Annal. I 61 vgl. 51 und Germ. 39, vgl. auch hier im
Folg. Lex Fris. Add. X I.
S. 140: Thorstein, Islend. 109. — st a llr oder stallt, Eyrb. K. 4, Eids.
Krist. I 24; der Sitz der Heiligkeit, vgl. Fjöls. 40, Skjald. 9 (12), Bisk.
I 6 vgl. 206; benutzt vom christlichen Altar, Stjórn 335, Heilagra manna
sögur I 312. — Ring, Landn. 96, Glúma 76, Austf. 154, Eyrb. K 4 vgl.
H áv. 110, Atlak. 30. — Snorri, Eyrb. K . 44. — Alfred, Anglo-Saxon
Chronicle a. 876. — Tacitus 31.
S. 141: Draupnir, Skim. 21, S E 99. — Hakon, Flat. I 144, 369. —
Zeichen, Tac. Germ. 7, Hist. IV 22, Heims. I ll 105, Mork. 116, Flat. I
227, N jála 895; vé N jála 900, Skjald. 31 (5), H alf 36, Asser in Mon. Hist.
Britann., ed. Petrie (1848) 481; sta llr der Fußstuhl von Götzenbildern,
Flat. 1321, II 190, Fornm. X 255 usw.; entsprechend v e o fo d , v igb ed , ge­
braucht bei der Übersetzung biblische Texte vorm Altar, B A Prosa I 40,
20; 44, 7; 79, 1; 143, 15; 148,24 u. f.; ags. Wörterverzeichnis 108, 10; 126,
24; 354,13; Beda, Early Eng. Text Soc. 95 S. 142; Lieb. 11 (16,2); 13
(8, 18/19); 262 (6, 3) usw.; es ist also identisch mit h earg, Orosius ed. by
Sweet S. 8 Z. 17 (zitiert in Bosworth-Toller).
S. 142: Thorolf usw., Eyrb. K. 4, Landn. 94.
S. 143: Die Götzenanbeter von Drontheim, Heims. II 221 usw. vgl.
auch Andeutungen Ol. Tr. 28. — Laxdoela 98 u. f., Skjald. 128 u. f.;
Hrut hatte ein „H o f“ bei seiner Heimstätte (Laxd. 58); er hatte sein
eigenes Heil, das nidit — zum Unterschied von Höskulds — verwoben
war mit dem Heil der Männer auf Hvamm, vgl. Laxd. 8 u. f. mit Landn.
157, 159. — Festhalle, Landn. 8 Z. 23.

U m den Bierkessel

S. 144: Ljot, Forns. 42; im Dunklen oder im Verborgenen, vgl. Kor-


mak 46 und Skjald. 80 (47).
S. 145: Thord, siehe II 142. — Die Weihung des Gesetzesthings, Grá-

387
gás I 27, 97, 112, Orig. Isl. (Vigfússon und York Powell) I 328 vgl.
Glúma 83. — Heiligkeit des Gesetzesthings, Gul. 198, Frost. I 5, Grågås
I 97. — Grettir K. 72 u. f. vgl. Edd. Min. 129/30; christliche Ableitung,
z. B. Dipl. Norv. III 27, Södermanslands äldre Kulturhist. hæfte X I I 16,
vgl. auch Lieb. 597 (81).
S. 146: vom Opfer mitzuessen, Heims. I 192, 194, Gut. 63/4. — Saeh-
rimmr, S E 39, Grim. 18. — Die Vorgeschichte des Mets, siehe II 284/85.
— Willkommbier usw., in bezug auf das folgende vgl. Cahen und z. B.
Heims. II 43, Dipl. Norv. III 954 vgl. Gaslander 257. — Die Hochzeit
trinken und brauen, z. B. Flat. I 149, Gut. 37, Vestm. Gipt. 2 vgl.
ö lstä m n a , ö stg . Gipt. 8, Västg. I Mandr. 13, Gipt. 6 usw.; als abschlie­
ßend im Sinne des Gesetzes, Frost. IX 12. — Bierfrieden usw., Hels.
Æ rf. 2, Västg. I Gipt. 9, ö stg . Gipt. 8, vgl. die ags. Ausdrücke h eórsele,
b eó rsetl, m eod u h eal, m eo d u b en c usw. und z. B. g eb eô rscip e , B A Prosa
I 59 (Gen. K. 21, 8). — Die Gilden, Da. Gild. 29 (42), 89 (1), Småst. 20,
44, English Gilds 55, 59, 61, 63 usw., Gross: The Gild Merchant II 160,
290.
S. 147: Da. Gild. I 26 (66), Småst. 106, 115, 129 (8), Skråord. 70 (45),
Gross I 58, 188, Riedel: Cod. Dipl. Brandenb. X V Nr. 112, 82 u. f. S. 86.
— Da. Gild. I 12 (34) — I 12 (34), 26 (26), 69 (2), 70 (4), Gross II 96,
153 usw. — Småst. 117. — Jarl Sigurd, Heims. I 192. — Bier den Göt­
tern geweiht Flat. I 283, II 184, vgl. den Gang der erbaulichen Predigt
Flat. I 323. — Gelübde, Flat. I 307; Forns. 91 läßt das Bier aus. —
sa m b u rð a rö l, Flat. II 271, Gul. 6/7 vgl. Frost. II 21, annähernd ein Maß
Bier ist = die Menge Bier, die aus einem halben Scheffel Malz (Scheffel
= 36,348 Liter) gebraut werden konnte.
S. 148: Vedastus, Mon. Germ. Hist. Script. Merov. III 4 1 0 ,— Colum-
banus, ib. IV 102.
S. 149: Gertrud usw., Grimm: Myth. I 49/50, Zingerle in Sitzungsber.
Wien. Akad. Bd. 40.
S. 150: Das mächtige Geheimnis des Bieres, daß Bier wahrscheinlich
einen früheren Brau, Met, ersetzt hat, macht in bezug auf den Kult nichts.
— Tacitus’ Zeitgenossen, Germ. 22 wird durch die nordischen Gebräuche
erläutert, vgl. Hist. IV 14, wo ausdrücklich gesagt wird, daß das Trink­
gelage im Hain stattfand; wieviel zwischen den Zeilen in Annal. I 50/1
gelesen werden kann, ist fraglich. — sk a p k e r, Gul. 58 vgl. Grim. 25, Flat.
II 33, Fornm. VI 241, Fornald. II 175, Unger 219 (18), Småst. 144 (22),
Saxo I 59. — Horn, Heims. I ll 227 vgl. Fornm. VI 240/1; wir können
vielleicht zitieren Sturl. II 107; Landn. 211 Z. 8, Dipl. N orv. II N r. 668;
wichtig als Nachklang Fornm. III 190, Fornald. III 140, 163/4, II 390,
auch III 637, Flat. I 360/1 vgl. Fornm. III 195 u. f.; die Verbindung
zwischen dem Schicksal des Mannes und dem des Kornes wird angedeutet
189; vgl. auch spätere Bräuche, N. h. T . 2 III 178, Jens Nilssøns Visitats-
bøger (Y. Nielsen) 393, Daae II 27, und Nachklang in Volksmärchen,
Thiele I 54, 109, das Ol. Tr. erklärt.
S. 151: Tisch, siehe Gudmundsson: Privatboligen 186, vgl. m os fra n c o -
ru m , Gregor X 27 und Waltharius 304 u. f. — Hardeknud, Anglo-Saxon
Chron. a. 1042; siehe ferner: Skråord. 108 (26), Småst. 122/3, 132 u. f.,
146 (37). Dipl. N orv. X I S. 676 N r. 598, ein Auftritt aus dem Feste: Der

388
Mann, der steht und trinkt, seinem Nachbarn zugekehrt. Da. Gild. I 66
(42), 172 (12), II 8 (35) vgl. Cavallius II 446, Djurklou 43, Gaslander
267 vgl. Topogr. Journal hæfte 26 S. 52.
S. 152: in den Händen der Männer, Atlak. 10, buchstäblich: der Reihe
nach von Hand zu Hand, vgl. Sv. Med. 511; Sv. Landsm. 192; Lieb. 11
(12), wichtig nicht nur in bezug auf den Inhalt, sondern auch, weil es als
gesetzliche Bestimmung bezeichnet wird. — Priskos, Corp. Script. Hist.
Byzant. I 202/3.
S. 153: Fagr. 85, einfacher und ursprünglicher in Heims. I 321/2 und
Jómsvik. (Petersens 1882) 94 (Jómsvik. lateinische Übersetzung, Gießing
1877, S. 37).
S. 154: Gilden, Småst. 150, Da. Gild. I 66 (42) vgl. II 209 (30), Småst.
112 vgl. 123, 132 (21); Heims. I 187.
S. 155: Norwegische Gildegesetze, N G L V 9 (22), 12 (11/12) vgl.
Einleitung S. 7 (1); vgl. auch Gul. 6/7; andererseits Unger 219 (11).
S. 156: Viele Hörner kreisten, Atlam. 8. — Egil 133; m in n ik ar, la g a -
k a r bezeichnet einen Abschnitt des Festes, z. B. Småst. 132; dieses erklärt
den Paragraphen N G L II 445. — Gotländer, Gut. 37/8, 60. — höchste
Minne, Småst. 123, 132, 144 (9), 146/7.
S. 157: das niedere Volk, Cavallius I 169/70, 209, Jens Nilssøns Visi-
tatsb. (Y. Nielsen) C X II vgl. Sv. Med. 511, Olaus Magnus X V I 17,
Danske Magasin II 404. — Waffentrank, ö stg . Gipt. 9. — Die Gilden,
Småst. 116, 132 (21), 150, 159, Skråord. 112 (47), Gut. 38.
S. 158: Wohlseinsbecher, Fornm. III 191, Egil 135. — aus demselben
Gefäß, östg. Gipt. 9 .— Dithmarschen, Neoc. 118 vgl. Schütze: Holstein.
Idiotikon I 88.
S. 159: Ehrfurcht vor dem Dreifachen, Gering s. u. p r ir , ö stg . Gipt. 8,
Lex Sal. K. 44, 50, Glúma 76, Landn. 96.
S. 160: Die Diele herabschreiten, z. B. Ljósv. 141; m ótsm in n i, Flat. I l l
273, wird wahrscheinlich durch dieses til m o ts erklärt, vgl. Heims. I 68.
— tv im e n n in g , Egil 18, 147, Kormak 52. — ums Feuer, Heims. I 187,
III 226, Egil 150: sk y lld i p a r um g o lf g a n g a a t m in n um ç llu m = eun-
dum . Die Beschreibungen in Egils Saga sind eine Mischung von Über­
lieferung und Anachronismus, erläutert durch S. 152 u. f.: obschon der Ver­
fasser weiß, daß die Tötung eine Kränkung des Heiligtums schlimmster
Art war, gibt er eine phantastische Erklärung von Thorolfs Ablehnung
der Geldbuße. S. 133 hat den ursprünglichen Zug, daß das Trinkhorn
geleert werden muß, und daß „im N otfälle ein Freund Wiedergut­
machung leisten muß“ , vgl. Fornm. VI 240. Wenn auf S. 152 gesagt wird
daß sie im Anfang gemeinsam tranken, darauf til m o ts , ist dies sicher
ein Anachronismus, der späteren isländischen Sitten entsprungen ist (Sturl.
II 107: Im Anfang tranken sie gemeinsam, darauf h n ý filsd ry k k ju r, d. h.
jeder Mann hatte sein Horn), ein m en n in gr, S. 262, scheint die eigene Er­
findung des Sagamannes zu sein und soll eine kultische Trinkweise bedeu­
ten; außerdem ist auf S. 262 das Ritual, das bei einem Trinkgelage be­
folgt wurde, sehr genau beschrieben trotz der verwirrten Darstellung, vgl.
z. B. 263 Z. 5 u. f. und 264 Z. 23. Glums tó lfm e n n in g verdient keine
Hypothese, h v irfin g mag eine dänische Bezeichnung kultischen Trinkens
sein, die mit den Gilde Verordnungen verbreitet worden ist; Kolderup-
Rosenvinge: Danske Gaardsretter og Stadsretter 101, 128, 442, Thorsen:

389
Stadsretter 162 (20), Da. Gild. I 216; Gilden, siehe auch Fornm. VI 440;
kultisches Trinken, siehe Heims. II 219, Ol. kon. 61, Flat. II 185 vgl.
Fornm. VI 440 (15), wo wir sehen, daß die Gilden das verchristlichte
Blot annehmen. — die Frau hat ihre Heiligkeit beigesteuert, siehe II 221.
— Biergöttin, Skjald. 18 (20), 71 (7) usw. — Beow. 612 u. f., 1980 u. f.,
B A Po. I 346 vgl. Norr. Fornk. 202 und Flat. III 271/2, vielleicht auch
Unger 219 (17).
S. 161: Olaf der Heilige, Ol. s. h. h. 18. — O laf Kyrri, Fornm. VI
439, 442, Fagr. 306, Mork. 126, Heims. III 226/7. Von den Nachbarn im
Trinkkreis sagte man, daß sie sitja fy r ir á d ry c k ju , ein anderer Ausdruck
Fornm. VI 442 : d re k k a m in n i á — beide bedeuten: trinken und das Horn
an den Nachbar im Kreise weiterreichen, Flat. II 271, III 317, 380, Bisk.
I 19, Egil 150. Am norwegischen Hofe wurde es Sitte, zwei entgegen­
gesetzte Hochsitze zu haben; da das Trinken dem Rang entsprechend
geschah, mußte das Horn vom Mann im Hochsitz um das Feuer herum
zu dem Manne gegenüber am Tische getragen werden, bevor es zu kreisen
begann. Mork. um p v e ra n bedeutet: um das Feuer herum nach der ent­
gegengesetzten Seite = Fagr. um . Olafs beide Hörner, Flat. I 360, soll
vielleicht zeigen, daß die beiden langen Bänke in großen Häusern gleich­
zeitig trinken durften; dieses würde Fornm. III 189 ein gewisses Inter­
esse verleihen. Eine solche Sitte ist unvereinbar mit dem Grundprinzip
des Blotes und ist wahrscheinlich nach der Einführung des Christentums
auf gekommen. — Dithmarschen, Neoc. I 107 vgl. Bisk. I 848: Bei be­
sonders festlichen Anlässen pflegte Bischof Laurentius einen Becher mit
jedem von seinen Priestern zu trinken und einen Becher mit jedem Gast,
welches eine m inni oder Runde für jede geehrte Person bedeutete. —
Thorstein, Fornm. III 191.
S. 162: Die Heiligkeit machte ein strengeres Zeremoniell notwendig,
bem. die Bezeichnung Hels. Æ rf. 2; Bierfriede und la g a k a r wie früher,
d. h. der Festfriede und das zeremonielle Kreisen der Becher soll wie
üblich stattfinden.
S. 163: Wikingergesetz, Heims. I 67. — Die Gefolgsleute des Königs,
in späterer Sprache und Sitte wurden daher die Trinkgelage des Königs­
gefolges als m inni- Trank angesehen, Bisk. I 728, Fornm. VI 240, 442,
vgl. die Bedeutung von m inni, Fornm. III 196.

G ebet und O p fe r

S. 164: Bier, vgl. Egil 261/2. — Telemarken, N . h. T. 2 III 174/5. —


Alrck, H alf. 3.
S. 165: v ig ja , Flat. I 280, vom Formæli gebraucht, vgl. Thrymskv. 30,
S E 45, Wimmer: Danske Runemindesmærker, Ordsamling X X IV ; auf
christliche Sitte übertragen Eids. Krist. 48/9; gewöhnlich verdrängt durch
sign a, worauf dieses Verbum übertragen wird auf altertümliche Berichte
der Vergangenheit, Heims. I 187 (9), 192 (8), Flat. I 56, II 184, Egil
134/5, Gul. 6, 7, 23 (15), Sigrdr. 8 v gl.‘Ancient Laws and Institutes of
England 356 (32). — Hakon, Heims. I 192.
S. 166: sich vollsaugen, es ist hier interessant zu lesen, was J. M. Lund
in seiner Beschreibung der oberen Telemarken (236) berichtet: Dicht bei

390
einem Hofe war ein Berg mit einer tiefen Höhle; beboerne sa tte deres
nybryggede juleøl endnu ind i denne hule, i det håb at det her sk al blive
desto kraftigere. — macht seine Böcke heil, S E 45. — Thrymskv. 30.
S. 167: Signy, Islend. 15. — Olaf, Flat. II 186. — m a la fy r ir , siehe
Anh. 17 a.
S. 168: Die Nornen, Vois. 100. — Gjuki, Vois. 143.
S. 169: Nord. Mus. Främjande (1891) 31 vgl. Stiernhöök. De Jure
Sveonum (1672) 163. — zu ehren, Upl. Æ rf. 3. — njótsm inni, Fornm.
II 52, vgl. Fritzner. — Die berühmte Friedensformel, Grågås I 205,
Staðarh. 406, Heid. 99. — Jahr und Friede, Heims. I 187, Fagr. 31,
Flat. I 318, Gul. 6, N G L V 7 (1), 11 (46) vgl. II 337, Frost. II 32,
S E 7 (K. 5); Thorarinn Glælognskv., Skjald. 301, (9); willkürlich von
fremder Götterverehrung benutzt Flat. II 27.
S. 170: til árb otar, Flat. II 184, siehe ferner Gut. 3 vgl. Heims. II 134,
Flat. II 69, das aber nicht als echt schwedische Urkunde aufgefaßt wer­
den darf; Sv. Med. 512, Cavallius I 169, Dipl. N orv. X I S. 676. —
Isländisch, Dipl. Island. II Nr. 171.
S. 171: Zauberverse, Grågås I 22 (K. 7). — Die Minnen wurden ge­
sungen, Da. Gild. I 66 (42), II 209 (30), Fornm. X 19, Småst. 132 (21).
— Nachklänge, Syv II 202 vgl. das Zitat in K alkar: Ordbog til det
ældre danske Sprog, s. u. arin d e, Sv. Landsm. 192, Cavallius I 168, 170.
— Das Formali, siehe Sigrdr. 1 u. f.
S. 172: Das Formali deckt, vgl. auch Egil 263. — ö stg . Gipt. 9/10. —
Gebet, Flat. I 191 vgl. Islend. 109. — mal heill, z. B. Flat. II 196, Islend.
262, Mork. 39, Fornm. VI 240, Flat. II 613, vgl. gef heill, das gleich­
zeitig eine Segnung des Empfängers und des Gebers ist.
S. 173: Egil 208.
S. 174: Sei heil, Geoffrey of Monmouth VI 12, Gaimar (ed. H ardy &
Martin) 3811 vgl. Heims. I 68: Allir heilir Ylftngar at Hrólfs minni
kraka. Dies bedeutet ursprünglich, daß die Trinkgesellschaft sich stärkt
durch das Heil, das in H rolf und seinem Geschlecht war, und auch, daß
sie ihm Heil und Ehre geben, indem sie auf sein Wohl trinken; siehe
Anh. 4, vgl. auch das Fränkische: Auf des Königs Wohl zu trinken und
sich selber im Heil seiner Götter bestärken, Mon. Germ. Hist. Cap.
R. Franc. I 64 (26). — Hagbard, Saxo I 344.
S. 175: Æthelfried, siehe I 154. — Thorgils, Forns. 147.

U m Erntesegen und Frieden


S. 176: fu ll, Heims. I 187 wünscht zu unterscheiden zwischen dem fu ll
der Götter und dem m inni der Vorfahren; die Minne der verschiedenen
Verwandten zu trinken, Heims. I 321 und Fagr. 85, Egil 134, Sigrdr. 8,
Skjald. 50 (36) vgl. das ständige b rag arfu ll. — veig, Norr. Fornkv. 80
(25), 106 (8), 136 (7), 162 (50), 199 (46), Herv. 274, Fornald. II 522,
Fornm. IV 350, Skjald. 43 (3), Beow. 481, 495, 1982, 2021, 2253, 2282
vgl. 615, 1015, 1169, 1192. — Minne hat eine besondere Geschichte, hier
können wir auf Cahen hinweisen.
S. 177: Fagrskinna 85. — Deutschland, betr. deutsch minne siehe Wör­
terbücher. — in am ore, Hincmar, Migne: Patrol. Lat. C X X V 776, vgl.

391
das Folgende: seiner Seele zutrinken, ferner z. B. Mon. Germ. Hist. Script.
III 300 (70). — munr, vgl. I 348 Anm. — Sigrdr. 5. — Zum Jah r und
Frieden (Altnordisch: til års ok frið a r) enthält natürlich Sicherheit und
Wohlergehen; siehe Besprech. des Friedens in Band I. — sich zusammen
trinken, siehe II 91; bem. die merkwürdige Geschichte Flat. I 580: trin­
ken, d. h. versuchen, Wohlwollen und H ilfe zu erreichen. — H ladir,
Heims. I 192; das Gefühl, das die Leute in Drontheim erfüllte, dauerte
mit unverminderter Kraft an im Jahre 1519, wie ein Vorfall zeigt, der
in Dipl. Norv. X IV Nr. 277 berichtet wird.
S. 178: Gilden, z. B. Småst. 133, 149, Skråord. 112; die Kirche bemühte
sich sehr, den Frieden der Gildebrüder in den christlichen Frieden zu ver­
wandeln, und segnete ihn zu diesem Zweck, indem sie Bibelsprüche
zitierte, vgl. z. B. Da. Gild. I 68, 88 mit 736, 762, II 135, Småst. 40;
aber sein wirklicher Charakter, der Rache einbefaßt, kommt überall in
den Gesetzen zum Vorschein. Siehe hier I 44, 52/53, 86. — Thingbücher,
Cavallius I 209 vgl. 169.
S. 179: Småland, ib. 169. Bem. die Weisheit der Sprichwörter, Syv I
537 Anm.; es ist immer Gottes Minne, von der man H ilfe erhofft; vgl.
Sitzungsb. Wien. Akad. 40, 180 usw. — Der Weihnachtsabend in N or­
wegen, Nord. Mus. Främjande (1890) 36/7 vgl. Folkevennen V II 406.
S. 180: rücksichtsvolle Gäste, N. h. T. 2 III 174/5.
S. 181: Hjörleif, Landn. 7/8. — Sorge um die Zukunft, Daae II 24,
Dipl. Norv. III Nr. 7, bem. den W ortlaut; Svensk Dipl. I N r. 638: mit
Bier und Speise; Nr. 737. — Die Gilden, N G L V 10 (34, 41), 12 (10,
12), Unger 219 (12, 19), Småst. 44, 132, 145 (34), 147 (52,57), 150, Da.
Gild. I 14 (47), 28 (36), 64 (24), 70 (4), 90 (4), 104/5 (30, 40), usw. —
Drontheim, Flat. II 184/185 vgl. Fagr. 69/70, Skjald. 119.
S. 182: Sich selbst aus dem Geschlecht sagen, usw., Flat. II 146, Fornm.
V 326. Siehe die starken Verse von H allfred, die auf Heil und Sippe
hinweisen, Skjald. I 158 V. 6/7, Bisk. I 10 vgl. den Ausdruck Eyrb. K. 5.
— Gottneiding, N jála 887, Flat. I 239, II 360 vgl. a tta rsp illir, Flat. I
323. — Radbod, Acta Sanct. Mart. III 147, siehe auch Grønbech 112,
H 4.
S. 183: tom tebolycka, Cavallius I 277, siehe auch Feilberg u. Gilde. —
während die Schiffe klar zum Wikingzug lagen, Heims. I 241 vgl. Austf.
96 Z. 17, usw., vgl. die Lage Egil 62, Atlakv. 9/10, Atlam. 8; bem. daß
das Trinken vor der Schlacht eine Selbstverständlichkeit ist. — Beow.
489 u. f. vgl. Wace: Rou 7349 u. f.; dieses wirft ein Licht auf die germa­
nischen Sitten, wie sie Tacitus andeutet, Ann. I 65, Hist. IV 14, V 15
vgl. oben II 150. Anm.
S. 184: ihn mit Kraft an sich zu reißen, vgl. Flat. I 290; Tacitus hat
offenbar nicht den wahren Grund erfaßt, warum die Germanen die Dinge
über ihrem Becher besprachen; aber wie gewöhnlich entwickelt er seine
rationalistischen Erklärungen auf einem Hintergründe von wahren T a t­
sachen. — Aufgenommen in eine andere Sippe, Gul. 58. — Hochzeit, z. B.
ö stg . Ærf. 8 vgl. den Ausdruck IX 12. — Erbbier, Ancient Laws and
Institutes (Thorpe) 448 (35) vgl. N G L II 92 und Gut. 38.
S. 185: Tausend Jahre später, Feilberg: Dansk Bondeliv II 107. —
Fagr. 84 versus Flat. I 163/4. — fa g n a , Heims. II 223, Gisli 18. — Die
Ingimundsöhne, Forns. 41.

392
S. 186: Der feierliche Zweikampf, Egil 244, Gisli 80, Kormak 47/8, 49.
— Vigastyr, Heid. 14. — seinen Zweck erreicht hatte, das Blot hatte
keinen Wert, wenn es keine Zukunft schuf und eo ipso die Teilnehmer
mit Sicherheit erfüllte und die kommenden Begebenheiten offen vor ihren
Augen ausbreitete, Flat. I 402, II 425, Bisk. I 39 vgl. Forns. 98 Z. 19.
horfin-heilla bedeutet einen Mann, dessen Heil fort, und für den die Zu­
kunft dunkel ist. Das Christentum mußte sich in dieser Beziehung recht-
fertigen, bevor es gegen die alten Götter Front machen konnte, Heid. 22,
Eyrb. K. 49 vgl. Grønbech 102/3. blot und fré tt, Landn. 7, Ol. Tr. 2,
Heims. I 33, 70, Flat. I 213, Fornald. II 8, Lieb. 312 (5), 383 (48), Tac.
K . 10. — Blotspäne, Fagr. 76, Landn. 65, Heims. I 70, Fornald. III 31,
Herv. 227; hreytir, Skjald. I 105, bedeutet offenbar: der die Wahrzeichen­
zweige ausschüttet, vgl. den Gebrauch des Verbums Rig. 38, Atlam. 46;
siehe auch Anh. 17 b.
S. 187: Jarl Hakon, Heims. I 303. — „noch nicht“ vgl. Caesar I 50,
auch 53, Tac. 10, Agathias II 6. — eine prophetische Wage, Flat. I 188/9,
vgl. Jómsvik. utg. af Petersens (1882) 110 usw.
S. 188: Floki, Landn. 5, siehe o. II 201. — Abschied nahm, Landn. 7
usw. — Vebjörn, Landn. 47. — H alfdan, Flat. I 24; alte Gedanken
machen sich bemerkbar hinter der christlichen Tendenz in Vita Ansgar,
K. 27. — Der Landnahmemann, Landn. 7 usw.

Spiel und G elübde

S. 189: Wettkämpfe, Flat. I 579. — Pferdehetz, Glúma 38, 51, Grettir


K. 29, Bj. H . 47, N jála 264 u. f., Reykd. 53. — skei, Top. Journ. 26ste
hæfte 55 u. f., N. h. T . 2 III 171, Daae I 51.
S. 190: leikr, vgl. Grimm: Myth. 32; in bezug auf ags. muß ich mich
mit einem Hinweis auf Bosworth-Toller und Grein begnügen. Interessant
ist auch der Gebrauch von leikr = Kult, Flat. II 93; S E 89/90 vgl. Anh.
17 c = Kam pf, z. B. Skjald. 170; von besonderem Interesse wegen der
tiefen Assoziationen: Jul trinken = Freys leikr feiern, ibid. 23 (6). —
uns amüsiert, Reyd. 100. — Grettir K. 72.
S. 191: Totenhemden, z. B. Lund 142. — Die mächtige Ehrenseite, eine
Äußerung wie Halls hier hat nichts Bildhaftes an sich, Flat. I 419 Z. 34.
S. 192: Der Angelsachse, B A Po. I ll 1, 196. — Waffentanz, vgl. Tac.
K. 24. — Erbbier, Heims. I 65/6, Fagr. 84/5 vgl. Variant. Die Bedeutung
des Festes liegt in der Tatsache daß die Erben bei dieser Gelegenheit ihre
Erbschaft antreten, vgl. Gul. 23 mit diesem Werk II 111 und mit dem
Gebrauch in Fagr.; auch Sv. Dipl. I Nr. 584. — er ja , betr. der Bedeu­
tung des Wortes siehe N G L Wörterverzeichnis und Atlam. 75, Fagr. 84,
Heims. I 321, Egil 286/7, Unger 219.
S. 193: gilp bedeutet sich selber der Zukunft verpflichten, im Guten
oder Bösen, Beow. 829, 640, 675, B A Po. I 370 (274); das Verbum gilp an
bedeutet sich der T at erfreuen, des Ruhmes fähig sein, Beow. 2055, 2583,
Gen. 2017, so ist gilp auch der Ruhm durch die T at gewonnen; siehe
Bosworth-Toller (obschon nicht jede Einzelheit, die unter diesem Titel
bei ihm verzeichnet ist), vgl. Beow. 868. — Weniger ein Mann als seine
Vorfahren, Forns. 121. — Thorkel H ak, siehe II 41.

393
S. 194: „Trink wohl“ , Flat. I 180. — alle müssen trinken, Heims. I
321. — Hedin, Helg. H j. 33. — Der Wert des Schwures, Gelübde und
Gottesverehrung sind der Überlieferung gemäß verbunden, Flat. I 180,
Fornald. III 633, Jómsvikingadrápa 11 (Skjald. II 3). — Starke Taten
werfen, Beow. 489. — Heorot, siehe II 183, vgl. Flat. I 66, Saxo I 94
(siehe hier II 70/71), BA Po. I 368.
S. 195: Grund, Svarfd. 57 vgl. Islend. 166. — Ingolf, Landn. 6.
S. 196: Angantyr usw., Herv. 207, 300 vgl. 233, Islend. 42, Flat. I 388
vgl. Fornald. I 345, II 125, III 633, 661, bem. Fornm. X I 26. — m an n -
ja fn a ö r , Flat. I 126, II 271, ib. I 66; betr. m a n n ja fn a ö r siehe auch Eyrb.
K. 37, Forns. 149, Mork. 186/7. — Angelsächsisches Gedicht, B A Po. III
1, 144/5, bem. den Wortlaut V. 15/16.
S. 197: örvarodd, Fornald. II 265 u. f., 546; vgl. Glúma 16/17, bem.
den traditionellen Ausdruck le ita ð i orÖ beilla, vgl. hier I 155 mit Anm.
S. 198: Eindridi, Flat. I 456 u. f. — Ursprung in Festaufführungen,
s. Sturl. I 19, Beow. 856 u. f. vgl. 1063 u. f.
S. 199: Geschichte, Daae I 52 bringt interessante Überlieferungen aus
dem Leben des niederen Volkes. — Egil 286. — Völustein, Landn. 171.
— Vatnar, Origines Island. I 272 vgl. Flat. I 214/15.
S. 200: e r fid r á p a , bem. den Ausdruck Egil 286; noch bewahrte erfid rá-
p u r Skjald. 57, 150, 164 vgl. Jordanes 41; siehe auch den charakteri­
stischen Paragraphen Söderm. Æ rf. 7. — Beow. 3157 u. f.

D a s B lo t

S. 201: Floki, Landn. 5. — Harek, Flat. I 261.


S. 202: ö gv ald , Flat. 375.
S. 203: bloten, z. B. Ragnar 133, Fornald. I l l 211; merkwürdiger­
weise wird es in seiner abgeleiteten Verwendung identisch mit b e illa. —
O laf der Heilige, Flat. II 25 u. f. vgl. ib. I 526. — Eystein, Ragnar
132/3, 138 vgl. 131; trotz des seltsamen Namens Sibylle ist der zugrunde­
liegende Gedanke echt.
S. 204: Blot-Mann, Eyrb. K. 7, 11, Landn. 42; die Lesart von Gislis
Saga 140 mit dem Dativ ist ein Mißverständnis, siehe H rolf 85 Z. 23
mit Variant, vgl. die Geschichte von Brand, der Gott-Brand genannt
wurde, Flat. I 23. Verwandt hiermit ist das „Selbstbloten“ des Kriegers,
Ol. Tr. 29, Flat. I 88, II 72. — Der Häuptling der Sippe, Bisk. I 473,
bem. den Ausdruck Eirik 56 Z. 17. — H arald Kampfzahn, Fornald. I
374, Saxo I 361, Hynd. 28 vgl. Fornald. III 210, II 242 Z. 1 u. f.; der
ungeheure Unterschied zwischen diesen Zeilen und ihrer kulturellen
Grundlage ist ganz klar; doch ist es ebenso leicht zu sehen, wie gering
die Veränderung im Gedankengange ist, die den Umschlag bewirkt hat.
Flat. I 292 beschreibt ebenfalls, in sagenhafter Form, die Züge, die die
Stärke des heiligen Mannes charakterisieren.
S. 205: Vegeir, Landn. 47. — Eyvind, Flat. I 385, Ol. Tr. 36 vgl. Flat.
I 393 u. f.
S. 206: H alfdan usw., Flat. I 566, Landn. 12 (der merkwürdige Bei­
name soll uns nicht erschrecken), Flat. II 7; was unter den alten Göttern

394
Stärke und Heiligkeit war, wurde Bosheit und satanisrhe Macht, als die
Leute zum Christentum bekehrt wurden, siehe I 215 und Grönbech 120.
— Freyfaxi, Austf. 97 u. f. Ágrip. K . 12, eine Anspielung auf eine be­
sondere königliche Ethik. Vergleiche die Tatsache, daß gewisse Leute im
ganzen heiliger waren als andere, sie waren „Blotleute“ , Tac. 38 vgl. 31,
und daß das Land, das den heiligen Häuptlingen gehörte, „Blotland“
war; vgl. hier II 121.
S. 207: die Angelsachsen, Beda II 13.
S. 208: Tac. Ann. I K. 61, 59. — der Übeltäter getötet, Eyrb. K . 10.
Lex Fris. tit. X I, Islend. 404. — Selbstmord, Herv. 227, Landn. 17.
S. 209: den Hain bloten, s. II 113. — die Götter bloten, Gul. 29,
Grågås I 22, Flat. I 264 Z. 37, 387, 439, Skjald. 42 (2), 158 (6), Helg.
Hund. II 29 Prosa, Fjöls. 39 usw.; in Schweden war der Wortgebrauch
vielleicht anders, Upl. Kirk. 1, aber vgl. Gut. 63 (22); wir haben keine
Beispiele von blótan als Hinweis auf heidnisches Opfer in ags. Texten.
— milde, sanft usw., Vaf. 17, Grim. 6, Lokas. 4, Oddrun. 9, V af. 13, 25,
Skjald. I 119 (16). — Ein großer Blotort, z. B. Ragnar 130 vgl. Fornald.
II 132 u. f. — geblotete Götter waren schlimmer, vgl. z. B. Flat. I 292.
S. 210: die Sagen, Flat. II 190, Heims. II 345. — son argöltr, Helg. H j.
30 Prosa, Herv. 233. — nach einer langobardischen Verfügung, Rothar
351; s. auch Sievers in Paul und Braunes Beiträge X V I 540; vgl. Flat. I
419. — Stallr oder Hörg, Flat. II 184, Hynd. 10, Herv. 228 vgl. Kormak
48. S. auch hier II 135/136 und Anh. 16. — der Ring, Glúma 76. — Blut
eines Widders, Ljósv. 126. — Blot-Svein, Herv. 297.
S. 211: Egil, Heims. I 50, Skjald. 10 (17) u. f. — Heimskringla I 186
vgl. den Bericht der christlichen Sitte Bisk. I 195, Flat. I 394. — Die
Götter mit Opfertieren bloten, Forns. 50, Bisk. I 23, Fornm. I 174 vgl.
Atlam. 78, Gut. 63 (22); mit Speise und Trank, vgl. den Ausdruck
Heimf. I 192 Z. 10/11, Gut. 7 (5), 63/64. — Männer oder Tiere oder
Dinge weihen, z. B. Landn. 165, Grågås I 22, Landn. 121 vgl. Forns. 141
Z. 1. Siehe auch Anh. 17 c. Blot ist alles, was geweiht und als Mittel zur
Macht gebraucht ist; Eids. Krist. 24 erwähnt m atblo t und la irb lo t als
verbotene Gegenstände in einem christlichen Haushalt, vgl. Flat. III 246,
Skjald. I 82 (52).
S. 212: Mit Worten bloten, Cavallius II 382, Rietz: Ordbok 42 vgl.
Forns. 36 (24), Gisli 53, N G L II 418, Flat. II 643 und Bisk. I 43 mit
seinem religiösen Hintergrund. — Bloten kann durch „geben“ ersetzt
werden, siehe Anh. 17 c.
S. 213: Pflicht, vgl. Glúma 16 (25) mit der Bern. Adams von Bremen
betr. weniger exklusive Kreise, IV 27. — Die Gilden, N G L V 13
(29/30), Unger 219 (7), Da. Gild. I 12 (34), 26 (29), 70 (6), 91 (5), Smast.
42, 129, 132. — Sigvat, Heims. II 170 u. f.; spätere Sitte, Budst. II 744,
E. Holme: Fra Telemarken (1911) 33, Nicol. 72, Gaslander 256, 271.
S. 214: Egil 130 u. f., vgl. 152/3. Was die Teilnahme der Frauen am
Feste betrifft, so wissen wir nur, daß sie bedienten, das Horn herum­
trugen, vgl. Bcow. 612, 1980, Sigrdr. 1 Prosa und hier II 101. T v im en -
ning, siehe hier II 160, wird wiederholt gebraucht von dem gemeinsamen
Trinken von Männern und Frauen, welches vielleicht hinweist auf fest­
lichen Verkehr bei weniger zeremoniellen Gesellschaften. Frost. IX 9
scheint anzudeuten, daß die Frauen bei gewissen Gelegenheiten ihre eigene

395
Trinkzeremonie hatten; bem. den Unterschied zwischen y fir p v e r t g o l f
und um pverart. Aber das übrige ist dunkel.
S. 215: Hakon, Heims. I 185 vgl. N G L V 11 (3).

D a s schöpferische F est

(In bezug auf das Folgende siehe: Das kultische Drama, II 264 u. f.)
S. 216: Wenn ein Ring zerbricht, usw., z. B. Islend. 10, 16, Flat. I 67.
Der Wert von Waffen, Schmucksachen und Eigentum im allgemeinen war
von der Hamingja des Besitzers abhängig. Wenn ein Gegenstand wirklich
angeeignet wurde, ging er in das Leben und Heil des Besitzers ein und
hatte genau denselben Wert wie seine früheren Besitztümer; die Waffe
ist so alt wie die Hamingja, die sie erfüllt, denn Alter bedeutet nicht nur
eine große Anzahl Jahre, sondern Fülle und Tiefe des Heils und der
Ehre, vgl. II 48/9. Auf gleiche Art muß eine neue Stätte der Verehrung
alt oder mit dem Heiligtum, das sie ersetzen soll, identisch gemacht
werden, z. B. Austf. 96 Z. 16/17, das Megin muß auf gelesen und zu dem
zukünftigen Heim geführt werden, und dieses wird durch ein Blot be­
wirkt, in welchem die Hamingja der Götter verdichtet wird, vgl. II 201.
— ein Riß, z. B. Heid. 82 u. f., Glúma 53 vgl. N jála 698/9, usw.; auch
Heims. I 94. — „kommt heraus“ , H alf 11, Laxd. 115, 245; erfahrene
Menschen mögen die kommende Verletzung finden, indem sie den Körper
abtasten, Reyk. 29, Heid. 77.
S. 219: Zweikampf, Saxo I 132/133, 170/171. — Tac. 10 vgl. Agathias
I 2, Paul. Diae. I 12, Gregor II 1 (2); vgl. schließlich den Wortlaut Flat.
I 577/8.
S. 220 til h eilla, Eyrb. K . 44, Flat. II 72. — Die Hermunduren, Tac.
Ann. X III K. 57. — Schwurbecher, dies ist es, was das Gelübde so wert­
voll macht. Es ist ein vollständiges Vorausgreifen der Zukunft. Wenn
gelegentlich die Alternative „oder sterben“ hinzugefügt wird, hat dieses
nicht den Vorbehalt, den wir ihm gewöhnlich zuschreiben. Es ist zweifel­
haft, ob es im Anfang ein Teil des Gelübdes war. Vgl. die anderen Ge­
lübde II 194 u. f. Dieses ist auch die Annahme, auf die wir unser Urteil
gründen müssen in bezug auf den scheinbaren Widerstreit zwischen der
Abneigung dagegen, das Erbbier zu feiern und den Hochsitz zu besteigen,
bevor die Rache vollzogen war, und dem starken Wunsch, das Erbbier
sobald wie möglich zu überstehen. Das Gelübde war so viel wert wie die
Tat, wenn die Männer imstande waren, es wahr zu machen, Islend. 166.
Man braucht nicht Gisli 25, 31 zu bezweifeln, wo Erbbier vor Rache geht,
vgl. Herv. 264. Analog ist das Versprechen von H arald Schönhaar, seine
Haare nicht zu schneiden, s. II 129. Hinsichtlich der normalen Zeit für
die Feier des Erbbieres wissen wir nicht viel, vgl. Laxd. 15, Bisk. I 837,
Gul. 23. In á rsm ó t und dergleichen spielt die christliche Auffassung eine
Rolle. — Der norwegische Bräutigam, Top. Journ. hæfte 26 S. 45 vgl.
Lund 153 und Yng. Nielsen: Træk 61, vgl. auch z. B. Gaslander 271. —
Darradlied, N jála 898 u. f. vgl. die Ausgabe in Edd. Min.
S. 227: Das Horn leeren, Heims. I 66, Egil 262, 133, Vois. 143, Fornm.
I ll 189/190, usw., vgl. Småst. 123, Da. Gild. I 173 (22). — verdienstvolle
Männer, Fornm. VI 240 vgl. Egil 133; im N otfall muß ein Freund

396
Wiedergutmachung leisten, dies ist auch mit enthalten in Borghilds höh­
nenden Worten, Norr. Fornk. 202 vgl. Fornm. III 196, die als etwas
Besonderes betonen, daß zwei das Horn teilten, und Mork. 46, Sturl. II
107. Sleitu liga und ähnliches bedeutet: so daß der Kult nicht durch­
geführt wird — oft von einem Mann gesagt, der nicht seinen Anteil
trinkt, Egil 262, Fornm. VI 241 vgl. Flat. II 452. Als Nachklang alter
Sitte siehe z. B.: Gud give dem livet så let, som jeg drikker skålen ret,
usw., N . h. T. 2 III 199, Syv II 299. — Die Reaktion gegen das ge­
zwungene Trinken kann zurückverfolgt werden bis zu den Gildegesetzen,
z. B. Da. Gild. I !226 (13), 254 (2), 265 (6), 539 (32), II 19 (19) usw.,
Lübeck Urkund. VI N r. 301 S. 332 usw.; aus früheren Zeiten: Mon. Germ.
Hist. Cap. R. Franc. I 64 (26), Migne: Patrol. Lat. (Hincmar) C X X V
776. — Thor, S E 50/51.
S. 228: Völuspa, siehe auch II 305 u. f.
S. 229: die Stäbe der Wahrzeichen küren, Vsp. 631. — in einem
rituellen Trinkspruch, Sigrdr. 1 u. f.
S. 230: Geirröd, S E 88 ff.
S. 231: Das Gedicht, Skjald. I 139 ff.
S. 232: Hirschgeweih, S E 38.
S. 233: Thiazi, S E 68 ff., Skjald. 14 ff. — Hrungnir, S E 85 ff. —
Freyja, S E 41 f., Thrym., Vsp. 25.
S. 234: In diesem Mythos, die Sage von Thiazi wird durch Thjodolfs
GediehtHaustlöng kommentiert; Geirröds Vorhaben wird in der Thors-
drapa durch die Kenning gebrandmarkt: der Räuber der Sonne; in der
Haustlöng wird der Jöte als der Dieb der Schätze bezeichnet.
S. 235: Der Mythos von Thor, S E 44/45. — Odin, S E 20/21, 63, 64,
Sigrdr. 14.
S. 236: Gregor, Greg. Dial. I l l 28. — Skadi, S E 70. — Völsi-Geschichte,
Flat. II 331 u. f.; bloeti bedeutet alles, was die Macht des Blotes enthält,
Worte und Taten sowie Gegenstände.
S. 237: Suttung, siehe II 284 f.
S. 244: Froda, Beow. 2016 u. f., Heims. I 23, S E 106/107, Saxo V
247, 254 u. f. — Bezeichnungen, die vom O pfer stammen, z. B. Grotta. 6.
S. 245: Ziegen, Epist. 66 (Jaffé), Greg. Dial. I l l 28. — in Mythos und
Kult, z. B. S E 44/45, 27, Thrym. 21, Skjald. 17 (15). — Kühe und
Pferde, siehe II 201 u. f.
S. 246: Saxo III 120/1, VI 278/9, IX 441. — Adam Brem. K . 26/7. —
Tac. K. 40.
S. 247: Norwegen, Flat. I 337.
S. 248: Schwein, S E I 176, 344; van in gi = Schwein, S E I 591, Helg.
H j. 30 Prosa, Herv. 233, usw. — Skirnismál, vgl. A S Deor 15.

D ie G ö tter

S. 249: raÖ und regin, z. B. Skjald. 59 (18). auch M. Cahen: Le mot


„D ieu“ en vieux-scandinave, Paris 1921; Vsp. 6 (9, 23, 25), Grim. 4,
Lokas. 41, usw. — Jordanes X IV (78).
S. 250: in verschiedenen Inkarnationen, Landn. 96, 101, Grågås Kgsb.
22, N G L I 430, II 308, Frost. III 15, Heims. I 317, Egil K . 60, Landn.

397
102 (die bösen Mächte nach dem Tode Hjörleifs). — Fylgja, siehe I 271
u. f., Gluma 26/7, Forns. 114, 58, 50, Flat. I 88, Laxd. 247, Völs. 89
Z. 17, Ljósv. 244, Gull. 17, Thord. Hr. 31/32; Fylgja = Tier, Thord Hr.
38, 17, Gull. 38 vgl. Flat. I 252/3 und N jála 172/3, Gull. 23, Svarfd. 77/8,
Fornald. II 403, 417 usw.; Traum-Fylgjen, Fornald. II 172, Austf. 53,
160, Ljósv. 198, 226, N jála 93, 284, Austf. 233/234.
S. 252: Geat, Nennius § 31, siehe z. B. R. W. Chambers: Beowulf
(Cambridge 1921) 195/196, Asser: De Reg. Æ lfr. K. 1. — Hölgi, S E
110, Heims. I 127 = Skjald. 24 (14); Flat. I 213, Arkiv II 124 u. f. —
Ketil Lachshaken, s. II 39 u. f. — Olaf, s. I 380.
S. 253: Halfdan, Heims. I 86. — Syn, S E 36. — Var, S E 36, Thrym.
30. — Forseti, S E 31.
S. 255: w-Bänder, siehe Egil 187, N G L Wörterverzeichnis s. v. —
bond, Lex. Poet. (1013/16) s. v. band, H áv. 109, S E 127. — d isir, Grøn-
bech 89 u. f., Völs. 107 Z. 11, 171 Z. 18, H alf 27, Flat. I 420, Glúma 16.
— Saxneat, Saxnot, ags. Stammbäume, Braune: Althochdeutsches Lese­
buch.
S. 256: Thorgerd, S E 110, N jála K . 88, Flat. I 144, 213/14, 407/8,
Heims. I 127. — Grimkel, Islend. 59, Landn. 139 vgl. 15.
S. 258: Thrudr, S E 80, Skjald. I 143 (17), 1 (1). — Modi und Magni,
S E 60, 80, 87, Hym. 34, Vaf. 51, Harb. 9, 53.

D a s kultische D ra m a
D as primitive Drama
S. 277: lác = Spiel und Opfer: z. B. Gen. 975, 1497, 2843, 2933; von
der Messe gebraucht: Guthl. 1084; daher die Bedeutung Gabe: z. B. Beow.
43, 1863, B A Po. III 183 (1); vgl. u. S. 279. — leikr, in Kenningar,
H ild a r leikr usw.; vgl. Beow. 1561 usw.

D er K a m p f mi t dem Jöten
S. 280: fjörsegi, Faf. 32, s. u. 334.
S. 281: Odin, Hcenir und Loki, vgl. Regin. — Odin, Lodur und
Hœnir, Vsp. 18.
S. 283: Hrungnir, S E 85 vgl. 115, Skjald. I 17, Harb. 14. — die Mid­
gardschlange, Hym. vgl. S E 54 u. f.
S. 284: Thordichtungen, Skjald. 132 vgl. 129. — Völuspa 56. — Kreuz
von Gosforth, Aarb. for nord. Oldk. 1902 S. 161 und Anmerkungen;
auch Haas: Bilderatlas zur Religionsgeschichte I Nr. 49. — Kvasir, S E
60, 71, 79. — Içgr, Sigrd. 8, 13, Alvis. 34, Hym 6.
S. 285: Snorri, S E 60. — Hávam ál 104 u. f. — Háleygjatal, Skjald. 68.
S. 286: kultische Bezeichnungen, Grim. 50, Ynglingatal 2, S E 197. —
litar, H áv. 107.
S. 288: gandr, S E 35 vgl. Solar 54.

D ie Schöpfung
Snorris Bericht, siehe auch Neckeis und Niedners Übersetzung der jün­
geren Edda in Sammlung „Thule“ , 2. Reihe, 20. Band.

398
S. 290: Vafthrudnismál, 35.
S. 292: lú ðr, mit dem Worte für Malz verbunden: Siehe Lex. Poet.
s. V. lú ð r; in einem Spruch: Gro. 11 vgl. Thorsdr. 21.
S. 293: eine Andeutung, Vsp. 17. — hieros garnos, vgl. Lokas. 26.

D ie Symbolik der heiligen Stätte


S. 294: Kessel, S E 11, 21. — Der kosmische Charakter des Altars,
Grim. 4, H áv. 107. — ódrœrir, die Übersetzung nach der zwingenden
Konjektur Bugges.
S. 295: Fafnismál, 32, 37 vgl. Alvis. 26. — au rr = megirt der Erde,
z. B. Hynd. 39; zum Zwecke der Einweihung gebraucht: Gud. II 21; über
die Wurzel der Weltesche ausgegossen: Vsp. 19. — Edda, S E 20/1.
S. 296: heið, h eiðv an r: Vsp. 27 vgl. Sigrd. 36; Heidrun: Grim 25, S E
40; Hroptr: Sigrd. 13; Kormak: Skjald. 79.
S. 297: hlôa, Grim. 29. — Draupnir, S E 58/9, 97 u. f., Skirn. 21.
S. 298: Grímnismál 27. — Kenningar, siehe auch Lokas. Prosa (An­
fang). — Schwur, Helg. Hund. II 31. — auÖr, Dasein als Neiding: Helg.
Hund. II 33; personifiziert: S E 16, 92, Skjald. 147. — Bierhaus eines
Jöten, Vsp. 37 vgl. S E 65. Brimir, brím is bloöi (Vsp. 9, Cod. Reg.),
diese Stelle ist belanglos, da die Lesart falsch ist, vgl. Parallele; der
Name eines Schwertes: Grim. 44; in der kultischen Sprad : Sigrd. 14.
S. 299: Lokasenna 49. Völuspá 35.
S. 300: Mimir, V af. 49, S E 20, 63, Vsp. 20, 46, Sigru. 14, Vsp. 27, S
E 21, Heims. I 13.

D ie V ö l u s p a

II
S. 305: Harbardslied, Harb. 24.
S. 308: Harbardslied, Harb. 24, 18.
S. 311: Freykult, s. auch G. Neckel: Die Überlieferungen vom Gotte
Balder, 1920.

V
S. 319: ræ k - Sitz, vgl. die einleitenden Verse d. Hym. — Hersagen,
vgl. Vsp. 18, 20, 37.
S. 320: d rek k a ok dœ m a, bem. z. ß. Rig. 32, Sigurd, sk. 2. — H áva-
mál 77.
S. 321: hinn d y ri dóm r, Lex. Poet. s. v. — Vafthrudnismål, 38, 42. —
ein zweites Bild, Grim. 29. — Hávam ál 111, s. Fritzner s. v . und vgl.
dänische Runeninschriften.

S i p p e n g ö t t e r und K u l t g ö t t e r
S. 322: Grímnismál 50. — Heimskringla I 13.
S. 323: Haustlöng 14 vgl. Harb. 9. — Fet-Meili, Haustl. 4. — andere
Umschreibungen, S E 84. — aurkonungr, ib. — das Programm, S E 115.

399
S. 324: Grímnismál 42. — B a ld r s d r a u m a r 7. — Snorris Bemerkung,
S E 31. — Heimdal, der Wächter der Götter: S E 30; der weiße Ase:
S E 30, 83, Thrym. 15; s if s i f ja ð r : Hynd. 43.
S. 325: Heimdals Söhne, Vsp. 1. — h ljó ð , Vsp. 27. — h a llin sk íð i , s. I
428 S. 201, S E 30, 209. — Heimdals Haupt-Schwert, S E 83, 145.
S. 326: m jçtu Ô r, m jç t v iô r , Fjöls. 22, Vsp. 2.
S. 327: v ið ja r ö a r p ro m , Hynd. 35. — Loki, Lokas. 48, Grímnismál
13. — H ar oder H avi, H áv. 109, 111, 164. — Eyvind, Skjald. 60 vgl.
ó r p v í lib i, Vsp. 17 und H áv. 111.
S. 328: Vali, S E 83, Hynd. 29, Bald. 11.
S. 329: in der jüngeren Edda, S E 11. — Liebeshandel, vgl. Hym. 8.
S. 332: á r d a g a r , vgl. besonders Vaf. 55, Hynd. 35.

D as Drama als die G e s c h i c h t e der Sippe


S. 334: alt, frostkalt, Vaf. 21, Lokas. 49, H áv. 104, Vsp. 25, usw. —
p a ir , H áv. I l l , Fáf. 34.
S. 335: Fjölsvinnsmál 31/32.
S. 336: das Brisingenhalsband, S E 83. — die Brisinge, vgl. Traditio­
nen von einem ähnlichen Schatz, einer anderen Familie, den Brosingen,
zugehörig, Beow. 1119.
S. 338: Die dramatische Situation, Vsp. 23/24.
S. 339: Gullveig, Vsp. 21. — Freyja, S E 90, 100 vgl. 82.
S. 340: Ing, B A Po. I 335 (67).

Literaturverzeichnis siehe Band I, S. 393 ff.

400
Seitenvergleich
mit der deutschen Originalausgabe. Es ist jeweils angegeben, auf welcher Seite der n e u e n
Ausgabe die betreffende Seite der Originalausgabe b e g i n n t . (O = Originalausgabe,
N — Neue Ausgabe)

O -N O -N
o
Z
O -N O -N

i
7 -7 4 1 -4 9 7 5 -9 2 109-135 143 - 177
8 -8 4 2 -5 0 7 6 -9 3 1 1 0 -1 3 6 144-178
9-9 4 3 -5 1 7 7 -9 4 1 1 1 -1 3 8 1 4 5 -1 7 9
1 0 -1 0 44 - 53 7 8 -9 6 1 1 2 -1 3 9 146-181
11-11 4 5 -5 4 7 9 -9 7 1 1 3 -1 4 0 1 4 7 -1 8 2
1 2 -1 3 4 6 -5 5 8 0 -9 8 1 1 4 -1 4 2 1 4 8 -1 8 3
1 3 -1 4 4 7 -5 6 8 1 -9 9 1 1 5 -1 4 3 1 4 9 -1 8 4
1 4 -1 5 4 8 -5 7 8 2 -1 0 1 1 1 6 -1 4 4 1 5 0 -1 8 6
1 5 -1 6 4 9 -5 8 8 3 -1 0 2 1 1 7 -1 4 5 1 5 1 -1 8 7
1 6 -1 8 5 0 -5 9 8 4 -1 0 3 1 1 8 -1 4 6 1 5 2 -1 8 8
1 7 -1 9 5 1 -6 1 8 5 -1 0 4 1 1 9 -1 4 7 1 5 3 -1 8 9
1 8 -2 0 5 2 -6 2 8 6 -1 0 6 1 2 0 -1 4 9 1 5 4 -1 9 0
1 9 -2 2 5 3 -6 3 8 7 -1 0 7 1 2 1 -1 5 0 155-191
2 0 -2 3 5 4 -6 4 8 8 -1 0 9 1 2 2 -151 1 5 6 -1 9 2
2 1 -2 4 5 5 -6 6 8 9 -1 1 0 1 2 3 -1 5 2 1 5 7 -1 9 3
2 2 -2 5 5 6 -6 7 9 0 -1 1 1 1 2 4 -1 5 4 1 5 8 -1 9 5
2 3 -2 7 5 7 -6 8 9 1 -1 1 2 1 2 5 -1 5 5 1 5 9 -1 9 6
2 4 -2 8 5 8 -6 9 9 2 -1 1 3 1 2 6 -1 5 6 1 6 0 -1 9 7
2 5 -2 9 5 9 -7 1 9 3 -1 1 5 1 2 7 -1 5 7 1 6 1 -198
2 6 -3 0 6 0 -7 2 9 4 -1 1 6 1 2 8 -1 5 9 162 - 200
2 7 -3 1 6 1 -7 3 9 5 -1 1 7 1 2 9 -1 6 0 1 6 3 -201
2 8 -3 2 6 2 -7 4 9 6 -1 1 9 130-161 1 6 4 -202
2 9 -3 4 6 3 -7 6 9 7 -1 2 0 1 3 1 -1 6 2 1 6 5 -203
3 0 -3 5 6 4 -7 8 98 - 121 1 3 2 -1 6 4 1 6 6 -204
3 1 -3 6 6 5 -7 9 9 9 -1 2 2 1 3 3 -1 6 5 1 6 7 -2 0 5
3 2 -3 8 6 6 -8 0 1 0 0 -1 2 4 1 3 4 -1 6 6 1 6 8 -2 0 7
3 3 -3 9 6 7 -8 1 1 0 1 -1 2 5 1 3 5 -1 6 7 1 6 9 -2 0 8
3 4 -4 0 6 8 -8 3 1 0 2 -1 2 6 1 3 6 -1 6 9 1 7 0 -2 0 9
3 5 -4 1 6 9 -8 4 1 0 3 -1 2 7 1 3 7 -1 7 0 1 7 1 -2 1 0
3 6 -4 3 7 0 -8 5 10 4 -1 2 9 138-171 1 7 2 -212
3 7 -4 4 7 1 -8 6 1 0 5 -1 3 0 1 3 9 -1 7 2 1 7 3 -2 1 3
3 8 -4 5 7 2 -8 8 1 0 6 -1 3 2 1 4 0 -174 1 7 4 -2 1 4
3 9 -4 6 7 3 -8 9 1 0 7 -1 3 3 141-175 1 7 5 -2 1 6
4 0 -4 7 7 4 -9 1 10 8 -1 3 4 1 4 2 -1 7 6 1 7 6 -2 1 7

401
O -N O -N O -N O -N O -- N

177-218 205 - 253 2 3 3 -2 8 9 261 -3 2 5 289--362


1 7 8 -2 1 9 206 - 255 234 - 290 262 -3 2 6 290--363
179-221 207 - 256 235 - 292 263 - 3 2 7 291 --365
1 8 0 -2 2 2 208 - 257 236 - 293 264 -3 2 8 292--366
1 81-223 209 - 259 2 3 7 -2 9 4 265 - 3 3 0 293--367
1 8 2 -2 2 4 2 1 0 -2 6 0 2 3 8 -2 9 6 266 -3 3 1 294- -369
1 8 3 -2 2 6 2 1 1 -2 6 1 2 3 9 -2 9 7 267 -3 3 2 295--370
1 8 4 -2 2 7 2 1 2 -2 6 2 240 - 298 268 - 3 3 4 296--371
1 8 5 -2 2 8 213 - 264 241 -2 9 9 269 - 3 3 5 297--373
1 8 6 -2 2 9 2 1 4 -2 6 5 2 4 2 -3 0 1 270 - 3 3 6 298--375
187-231 2 1 5 -2 6 6 243 - 302 271 - 3 3 7 299--376
188 -2 3 2 216 - 267 244 - 303 272 -3 3 9 300--377
1 8 9 -2 3 3 2 1 7 -2 6 9 245 - 304 273 -3 4 0 301--379
1 9 0 -2 3 4 2 1 8 -2 7 0 246 - 306 274 -3 4 2 302--380
1 91-236 21 9 -2 7 1 247 - 307 275 -3 4 3 303--381
1 92-237 2 2 0 -2 7 2 2 4 8 -3 0 8 276 -3 4 4 304--383
1 93-238 221 - 274 249 - 309 277 -3 4 6 305--384
1 94-239 222 - 275 2 5 0 -3 1 1 278 - 3 4 7 306--385
195-241 2 2 3 -2 7 6 2 5 1 -3 1 2 279 -3 4 8 307--387
1 9 6 -2 4 2 224 - 278 2 5 2 -3 1 3 280 -3 5 0 308--388
1 9 7 -2 4 3 225 - 279 2 5 3 -3 1 4 281 -3 5 1 309--390
198-245 226 - 280 2 5 4 -3 1 6 282 -3 5 2 310--391
1 9 9 -2 4 6 22 7 -2 8 1 2 5 5 -3 1 7 283 -3 5 4 311 --393
200 - 247 2 2 8 -2 8 3 2 5 6 -3 1 8 284 -3 5 5 312--394
201 - 2 4 9 2 2 9 -2 8 4 257 - 320 285 - 3 5 6 313--395
2 0 2 -2 5 0 2 3 0 -2 8 5 2 5 8 -3 2 1 286 -3 5 8 314--397
2 0 3 -2 5 1 231 -2 8 7 259 - 322 287 - 3 5 9 315--398
204 - 252 2 3 2 -2 8 8 260 - 323 288 -3 6 0 316--400

402
N am en - u n d Sachregister f ü r B a n d 1 u n d 11

ä, ac sowie ö, oe stehen nach dänischem Brauch jeweils am Schluß des Alphabets

A Alöf, die Tochter Ragnars 418


Alrek II 164
Abimelech 399, 402 Alrek Agnason 378, 382, 383. II
Abraham 134, 400 37
Achaier 206 Allschnell 287
ach ram ire , ad h ram ire II 349 Alter, s. a ld a r
Adalbol II 206 Alvismal II 295, 319, 321
Adam (162), 403 Am 375
Adam von Bremen II 93, 114, 246 a m a l 296
Adils 379, 381, 412, 414; s. a. Ead- Amalaberg, -fred, -ric 296
gils Amaler 312, 316
Adler 411 Amira II 368
Adoption 312 ff. II 44, 48, 49, 56, An 417
150, 168, 184, 363 ff. An Bogsveigir, Bogenschwinger
Ausgestoßene, s. Ächtung 266, 419
a fh ú s II 136 a n d e lan g II 350
Agathias II 134 Andreas II 56
Agdi Jarl II 162 Andvaranautr, Andvarihort, siehe
Agilulf von Turin II 95 Nibelungenhort
Agnar Hroarson II 46 Andvari II 18, 36, 90
Agni 378, 382. II 37 Angantyr 348, 376, 421. II 36 f.,
a lb 310 38, 53, 196
Albo II 178 das Angantyrgeschlecht, s. die Her-
Albofleda 310 vör-Heidreksippe
Alboin 127. II 29, 105 Angantyr Heidrekson 50. II 37
a ld a r , a ld r , Alter 263 f., 311, 316, Angelsächsische Lehrgedichte, Merk­
382. II 222 verse 234, 336
Alemannen 93, 137. II 134, 149 Angelsächsisches Runenlied, Runen-
A lf 374 verzeichnis 229, 242
A lf Alrekson 378, 382. II 37 Angrboda 250
A lf der Alte 374 Angrvandill II 27
a lf a b ló t II 213 Anna II 261
Alfhild 344 Ansen, s. Asen
Alfred der Große II 140 a n tifa c tu m II 358
Ali von den Opiändern 374, 378, Apollo II 282
381 a r, å rle as 133 f.
Almveig 374 til á r b ó ta r II 17C
Alöf, die Tochter Bödvars 420 á r d a g a r II 332

403
Arinbjörn II 15 Atli 47, 197, 272. II 36, 156
Ariovist 231, 247 Atli, Jarl von Gaular (Mœri) 264,
Arminius II 208 373. II 195
Arnbjörn 421 Atli Hasteinson 258, 264, 265
Arnbjörn Asbrandson 83 Atlakvida, Atlamal, Atlilied 121,
Arnbjörn Slettubjörnson 433 (297) 202, 272, 274, 351
Arnfriðr 433 (297) Attika II 282
Arngrim 421 Attila II 103, 151; s. a. Atli.
Arngrim Eygrimson 375. II 27, 39 and 310
die Arngrimsöhne 375. II 39 Aud (mythische Kenning) 225
Arnkel 284 Aud, die Tochter Hakons 415 (416)
Arnijot Gellini 136 Aud hin d ju p au ö g i 375, 416
Arnmod Jarl 373 Aud, die große Witwe 416, 421.
die Arnmœdlinge 373 II 115, 135, 137, 138
Arnoddr 433 (297) Aud, die Tochter Vesteins 47, 161
Am or Kerlingarnef II 52 Audbjörg 245
der Arnunga-Stamm 373 Audefleda 310
Arnvid 373 die Audlinge 375
arrha II 10, 347 au ðr, eád, eádig 203, 402 f. II 298
á r s a ll 135 Auduin 434 (310)
ársm ót II 369 (22C) Audumla II 289
arv i II 356, 368 Audun II 27
a rv a h ó t II 368 Audun Skökull 418
Asa 379 Aufrichtung des Geschlechtes II
Asbjarnarnes II 25 51 f.
Asbjörn Selsbani 115 Augen 266 f., 279, 285
Asdis II (31), (49), 52 Augustus 349
Asen, Ansen z. B. II 230 ff., 247 f., Aun der Alte 378, 381
249, 256, 321, 337 ff. Aurgelmir II 234, 289, 291
Asfeld II 105 aurkonnngr II 323
Asgard 103, 259. II 234, 309, 317 au rr II 239, 295, 297, 323, 327
Asgeir Ædikoll 420 Aurvanga II 295
Asgrim von Fiflavellir II 75 Aussetzung 280, 299, 342. II 10C
Asgrim Ulfson 260 Austria 284
Ask II 238, 293 Authari II 95, 101
Askel, Gode aus Rcykdal 55 f.
Aslak Bifrakari 417
ásm egin 257 B
ásm óör 258 Babel 401
Asmund Kappabani 49 bald 296
Asmund von Langaholt 325 Balder 103 f., 109 f., 159, 226, 322.
Asolf 375 II 143, 236, 241, 302, 311, 314,
Assyrer 203, 204, 403 315, 324, 335
Asta 123, 419. II 33 f., 53 Balderdichtungen 109 f., 248
Astrid, die Tochter Bödvars 418 Baleyg 225
Astrid, die Tochter Eriks 360,418 f. Bandamannasaga 61
Astrid, die TochterTryggvis (172 f., Banner II 113, 133
360), 385 Bard 414
Astrid, die Tochter Vigfus’ 418 Bard auf Atley II 214
Atley II 136, 156, 214 Bard der Weiße 115

404
Bardi 373 Björn Erikson 170
Bardi Gudmundson 345. II 25 f. Björn Gullberi 437 (358)
Bardistad 373 Björn Hitdœlakappi 43
Bárdr Bårekson 433 (297) Björn Hringson 273. (II 31)
Bataver II 114 Björn Steinarson 418
„Becher“ , s. Bier Björn Thorgrimson 60
Beda II 139 bjgÖ II 293
„befestigen“ , „bestätigen“ II 43, Bladnir II 27
83, 320, 344, 346, 353; s. a. Blauland II 40
fe sta bliÖ lati 145
Benedict II 342 bloeti II 397 (236)
Beow 386 Blot, bloten II 144 ff., 157 ff., 192,
Beowulf 69, 70, 72, 104, 196 f., 195, 199 f., 201, 203 ff., 207 ff.,
205, 261, 348, 400, 401, 402. II 216 ff. ,259 ff., 213 ff., 389 f. (160),
13, 14 f., 28, 29, 31, 34, 46, 81, 393 (186), 395 (211), 396 (216)
183, 194, (199, 200), 344, 380 blóta, blótan II 201, 212, 261 f.,
(81) 395 (209)
das Beowulflied 51 f., 70, 72, 83, Blothaus (244). II 136 ff., 166,
104, 121, 126, 136, 143, 158, 252, 307
186 f., 191, 194, 196, 197, 202, Blotland II 359 (206)
296, 344, 348, 381, 386, 402, Blotmann, -leute II 204 ff., 221 ff.,
412, 421, 422. II 13 f., 15 f., 28, 229 f., 187, 395 (206)
64, 81, 101, 160, 199, 200, 380 Blot-Svein II 210
(31) Blotvieh, blótnaut II 201 ff., 206 f.,
Bera 273 (II 31) 211
Königin Bera 378 (382). (II 37) Blotzweige, Wahrsage-Stäbe II
Berg Kurzbein 245 186, 210, 229, 322, 393 (186)
Bergelmir II 290, 291 f. Blundketil II 8
Bergthora 34, 84 f. Blut in dem Opferfest II 210 f,.
berht 296 233, 235, 238, 240, 243
berserkir 274 Blutsbruder, s. Ziehbruder
Bersi 415 b la d 404
„bestätigen“ , s. „befestigen“ Bock II 235, 248, 270, 273, 325 f.
bid an II 378 (54) Bolli 67, (111), 160. II 30, 65
„Bier“ z. B. 307. II 91 ff., 130, Bolm 375, 376
144 ff., 170 f., 176 ff., 192 ff., Bonifazius 113. II 134
197, 212 ff., 222, 223, 227, 237, Bor II 239, 290, 292
250, 284 f., 328, 329, 352, 354, Borg 355
388 (150), s. a. Blot Borghild II 397 (227)
Bifröst, Bilröst 183 Borro 379
Bil 288 bót II 57
Bisinus, Bissa 310, 434 (310) Bragarbecher, brag a rfu ll II 153,
Bjargny 75 155, 192 ff., 396 (220)
Bjarkalied II 70 ff. Bragi 322, 422. II 155
Bjarkeyjarrétt II 94 Bragi, der Skalde 300
Bjarni Kolbeinson 231 Brahmanas II 294
Björgulf 115 Brand, s. Faxibrand
Björn Austroeni 420 Brand Jarl 414
Björn Buna, die Björn Buna Sippe Brand ö rv i II 85
359 f., 437 (359) Brandkrossi II 22

405
Brattahlid 239 c
Brautgabe, s. Morgengabe
Breidaförde II 121, 135 Cassiodorus 127, 312
die Bresasöhne, die Bresifamilie ceol 296
415 Ceolred 310
Brimir II 298 Ceolric, -weald, -wulf 296
Brisingamen, Brisingenhalsband II Chararic 434 (310)
336, 360 Charibert 311
die Brisinge II 336 Chatten II 129, 140, 220
die Briten 154 Cherusker 296
Broddr 375 child 296
die Brosinge II 400 (336) Childebert der Erste II 125
der Brosingenhalsschmuck II 14 Childebert der Zweite II 48. 93
Bructerer II 123 Ckilderic 310 f.
Brunanburh II 60 Chilperich 171. II 95
Brunner II 365, 366, 369 chlod 296
Brynhild II 16 /., H ff., 88, 95, 98, Chlodomer II 125
102, 334 Chlodwig 137, 309, 310, 434 (310).
Brynjolf 414 II 60, 73, 378 (60)
broeÖrungar II 368 Chlotar der Erste II 125, 148
Budli II 88 Chlotar der Zweite 171 f.
Bugge 23. II 399 (294) Chramn 311
Bui II 153, 159 chrene cruda II 368
Burgunden 92 f., 95, 97, 142, 310, Christ 156
376. II 60, 73 Chrodin 284
Buri II 290 chrote, Chrotesind 310
Busla 342 Chrotild II 60 (125)
Buße z .B . 82, 86 ff., 97 ff., 298, Civilis II 129
coen 296
362 £F. II 23, 24, 25, 47, 57, 76,
Coenred 310
121, 282, 328, 342, 344, 348,
Coenwealh 309
357, vgl. Wergeld
Conwealh von Wessex 309
b y r s a ll 105, 109
collisio armorum II 351
Byzanz, Byzantiner, byzantinisch Columbanus II 148 f., (166)
168. II 103, 107, 152
Convenæ II 61
Bär 63, 227, 233 f., 238, 272, 280,
cupa II 149, 166
291, 410
CHth 296
Bäume 229 f., 224, 429 (229). II Cuthgisl, -red, -wine, -wulf 296
133, 134 f. Cäsar 17, 26, 246, 268. II 106
Bæsing II (33), 34, 53 Cædmon 207
Bödvar Bjarki 272. II 29, 31, 73
(Bödvar Egilson 34, 36 f., 321, 355. D
II 199)
Bödvar Sigmundson 59 Dag 240 f., 378, 382 f.
Bödvar Snæthrima 417 Dag Högnason 334
Bödvar Thorleifson 417 Daglinge 382 f.
Bödvar Vikingakarason 418 Dagr 235
Bölverk II 285 Darradlied II 220 f., 292
bond II 255 Dellingr 235, 288
Bösmer II 98 Diagoras 77

406
Dieb,-stahl 84,92. 1123, 25 f., 35, Ehe z. B. 305. II 55 f., 62 f., 93 f.,
386 (128) 184, 354 ff.
Dio Cassius 349 Ehre 74 ff., usw. usw.
Dichter, Dichtkunst,-ung z. B. 407. Eiche 209 f. II 112
II 198 f.. 224 f., 308, 309 f., Eid z.B . 21, 39, 53, 100, 246, 351,
325, 330 f. 360, 367. II 67, 77, 83, 112,
Disen, d isir II 225, 275 126 ff., 130, 140, 153, 176,
Dithmarschen II 103, 115, 158, 192 ff., 197, 343, 345, 347, 350 f.,
161 351, 353, 386 (126)
d ó m , d ó m r, doem a 404, 422, 431 Eideshelfer 39, 53, 100, 361, 367
(261). II 28, 320 f., 328, 334 eiga, eign a II 373
Domaldi 142, 377, 382 Eikthyrnir II 297
Domar 377, 382 Eilif II 278, 279 f., 321, 336
d o s II 354, 357, 359 Einar Bogenschüttler II 41, 74, 75
Dragvendill II 377 (41) Einar Eyjolfson 353. II 8
Draupnir II 141, 241, 297 Einar Skalaglam II 17
d re á m 409 Eindridi Asbjörnson II 198
D rifa II 37 Eindridi Einarson II 74
Drontheim, -gau, -einwohner 176, Einhart 93
177, 415. II 119, 143, 167, 170, Einherier 322, 327. II 190 f., 308
177, 181 f., 247, 252, 330, 339. ein m en n in gr II 389 (160)
392 (177). Eireksmal 322, 422. II 312
Drontheimer Förde II 119, 339 der „Eisenwald“, Jarnviðr 185,
die Droplaugsöhne 245. II 136 406
Drot 51, 382 das Eismeer II 175
Dyggvi 378, 382 Eldjam Amorson (360). II 52
Eldjam der Milde 360. II 52
eleusinisch II 236
E
Elfenland II 98
eád, eádig, s. auör.
Ella II 11
Eadgils 381 Embla II 238, 293
Eadric II 152 Enoch 401
ealh 296 eo rcon 296
Ealhfled, -frith, -red, -ric 296 Eorconberht, -gote 296
Eanmund 381. II 31 eorm en 296
Eberesche II 230, 231 Eormenbeorh, -gyth, -hild, -red,
Edda, -lieder 194, 198, 200 f., -ric 296
2 0 2 /., 264. II 51, 88, 129, 166 f., Eowa 310
227 ff., 237 ff., 241, 248, 276, era II 73
286, 294, 333 f.; d. jüng. Edda, Erbbier 332. II 37, 130,146, 153 f.,
Snorra Edda, s. Prosaedda 159, 177, 184 f., 192 ff., 200, 393
Egil Aunson 378. II 211 (192), 396 (220)
Egil Skallagrimson 34, 36 ff., 34 /., Erbe z .B . 306, 314, 434 (304). II
60, 82, 107 f., 111, 153, 224, 47 ff., 86, 116, 192 f., 360 ff.,
272, 321, 333, 3 55. II 15, 16 /., 377 (50), 393 (192)
34, 76, 136, 173, 199, 214, 389 Erde 194, 205, 222, 224 /., 232 /.,
(160) 256, 290, 291, 4 0 9 ; gesetzlicher
Egilsaga 115. II 156 Gebrauch: 364 f., Ursprung: II
Egil Völusteinson II 199 289 f., 292, 301, 303; im Blot:

407
II 223, 227, 237 ff., 292, 293, Eyvind Skaldaspillir 225,413,419,
329; s. a. aurr 422. II 276, 285, 328, 341
erfa II 192 f. Eyvind Smidr 359
er fid ráp a II 200
Erik Agnason 378, 381, 383. II 37
Erik Bjodaskalli 418 F
Erik Blutaxt 257, 272, 322, 422.
II 173, 214, 312 fad erfio II 358, 360
Erik Jarl 139. II 41 fåb , fa i, fégi, feigr, fæ ge 331 f.,
Erik der Rote 239, 324. II 111 435 (332); s. a. feige
Erik der Siegreiche 170 fæ st, gu l fæ st II 356, 364
Erik Steinarson 418 Fafnir 197, (258), 343, (375), 402.
Erik Väderhat 135 II 20, 36, (65), 90, (199. 299),
„Eriksgata“ 244 242, 334, 337
die Eriksöhne 142. II 16 Fafnismal II 295, 333
Erlend 177 fa g n a II 185
Erling Skakki 149 f. Fagrskinna II 153 f., 177, 185
Erling Skjalgson auf Soli 111, 172, f å r II 380 (81)
174, 360, 376, 385, 416 Farbauti II 281
Ermanrik, Jörmunrek 110, 375. II Farria II 114
129 Faxi II 21 f. (23), 2C3
Um Erntesegen und Frieden 139 f. Faxibrand II 21 f., 23, 203
II 169 f., 176, 177; s. a. til fcalu 232
árb ó tar feasceaft 72, 349
Erp II 130 feige 280, 331 f.
Essex 296 der Fenriswolf 250. II 118. 259,
ést II 380 (81) (288, 303, 312)
Estland, die Esten 169, 379, 381 feorm ie II 378 (54)
Eva 207, 399 ferah, ferah t 401
êwa 305 fe sta II 342, 346, 349, s. a. befesti­
Eyfura 375, 421 gen
Eygrim Bolm 421 Festfriede z. B. II 130, 324 f., 327,
Eyja 421 386 (128)
Eyjolf Thordson 161 festu ca II 344, 346, 348 ff., 352
Eyjolf Thorsteinson 60 fe s a il 135
Eyolf Valgerdson 64 Feuer z. B. 237, 244 /., 410. II
Eylaug 375 I II f., 119, 383 (111, 112); im
König Eylaug 421 K ult: II 234, 324, 335
Eylimi 375 Finn 69
Eymund 421 Finn Arnason 160
Eymund 374 Finn Skjalgi 419
Eymund Akraspillir 418 Finnen, Finnland 169, 377, 382. II
Eyrbyggja 324, 327. II 120 f., 136 37, 205, 339
Eyri 75 Finnmarken II 40, 41
Eystein 421 Finnvid der Findling 373
König Eystein 379 Fischheil II 24, 130
Eystein Halfdanson 379 fjölkun n igr, fjö lk y n g i 275, 436
Eystein von Upsala II 203 (340). II 205
Eyvind Austmaðr 413, 416, 421 Fjölnir Yngvifreyson 140, 377
Eyvind Kinnrifa II 205 f. fjö ln ý t fo ld 187

408
Fjölsvinsmal II 2 9 8 , 319, 335 Frey 378, 379, 384. II 119, 147,
f jö r 2 5 7 , 263, 277. II 33, 39 155, 206, 232, 246 f., 303, 311,
fjö r se g i II 280, 334 329, 338 f.
Flatcetal II 113 Freyfaxi II 206 f.
Flateyjarbok 413, 417 Frey ja 259. II 166, 234, (273), 283,
Flaug II 41 (317, 319), 339
Floki II 188, 201, 209, 217 Friaut 374
Floriacus II 342 Fridleif 154
Flosi 438 (369). II 132 f r i ð s a l l 140
fo r m á li, fo r m œil, tr.æla fy r ir z. B. friÖ u-sibb II 7, 55, (101)
(433 [298]). II 18, 167 ff., 178, Friede 42 ff., 283 usw. usw. II 63,
187 f., 200, 221, 222 f. 229, 237, 304, 355, 369
242, 328, 334, 352, 372 f. Friedensformeln II 58, 62,145,169
fó r n II 373 Friedlose, -igkeit, s. Ächtung
Fornjot 226, 288 Friesen, Friesland, friesische Ge­
Fors II 113 setze 45, 94, 99. II 100, 114
Forseti II 253 Frigg 103, 226. II 302
fo r sk ia la m a n , sk ila m a n II 351 frith -g e a r d II 135
fr já ls g ja fi II 96
Fositesland II 114
Fradmar 375 Froda, Frodi hinn freekni 71, 378,
381, 383, 416, 421. II 64, 71,
Franken 93, 139 f., 171 f., 296, 244
298, 302 f., 309, 364 £., 384, 386, Frodi 375
424 (79). II 23, 46, 48, 51, 60 f., Frodi, Vater der Hledis 374
61, 120, 124, 126, 127 f., 148, „Frodis Mehl“ II 16
150, 255, 344, 349, 357, 391 Frostathinggesetz 80, 87, 91, 368.
(174) II 101
Frauen z. B. 18, 20, 29, 30, 69, 94, Frosti II 37
95, 110 ff., 247, 288, 291, 303 ff., fr ý ju o r ð 100
386. II 7, 51 ff., 63 f., 101, f r a n d a s kom m , Sippenschande 112,
122 f., 124, 144, 160, 164, 249, 123, 130. II 182
250, 255, 275, 385 (122), 395 / u lb orn 315
(214) fu ll II 176, 391 (176)
Freawaru 71, (381). II (64) fu n i 410. II 295, 334
Fredegunde 171 Fußbeißer 67. II 30
„frei“ 42 Fylgja 271, 272, 276, 280. II 109,
der Freigelassene z. B. 281, 304. II 251 f.
120, 362, 367 Fyrir 377, 382
Freki 375 die Färöer, färöisch 34, 124, 177,
fr e k r 237, 410 179. II 201
fre o ð tt 68 fö r n in g a r II 379 (64)
fr e ó n d sp é d 164
til f r é t t a r II 186
Freude, froh 7 0 f ., 77, 133 f., 186, G
203, 278, 326. II 105, 108,184 f.
freudlos, -igkeit 72, 105, 121, 278, g a g n g ja ld II 355, 359
344 ff. g a ire th in x II 352
„Freund“ , f r a n d i 42, 43, 317 g a m a n 71, 133
Freundschaft II 68 g a n d r II 288

409
Gandvíkr Skotum II 336 154 ff., 167, 170, 176, 178, 181.
der Gardakönig II 69 213, 261, 392 (178), 397 (227)
Garibald II 101 g ilp , g ilp a n II 193, 393 (193)
Gastfreiheit II 91, 103 ff., 213 f. Ginnungagap II 239, 289 f., 291,
Gaular 373. II 132 292, 296
Gaut II 252 g ip tu v œ n lig r 164
Gauthild 380 Giselbert II 29
Gautland, gautländisch 320, 359, Gisli Surson 47 f., 52, 160, 436
379, 380, 381, 412, 421. II 40, (345)
213 Gislis Saga 160. II 394 (204)
Gautrek II 10, 11 f. Gizur (in der Hervararsaga) 420.
Gautreksaga II 10 421
Geat II 252 Gizur Gudbrandson 420
Geaten 71, 127, 205, 381. II 31, Gizur der Weiße 420
64 Gjafa-Refr, s. Refr
g e fa II 373 Gjallarhorn II 326
Geir II 205, 206 Gjuki 375. II 36, 98, 168
Geira 360 die Gjukunge 35, (72, 195, 351.
Geirhild II 164 384). II (36), 38, (98, 99), 156,
Geirmund Björnson 437 (358) 168
Geirmund Gny II 30 Glam 322, 345
Geirmund Heljarskinn 285, 300, Glum 124, 301 f., 316, 360, 418. II
373 18 f., 21, 27, 47, 51 f., U l f . ,
Geirmund Sæmundson 59, (147 f.), 119, 120, 251
150 g o d II 372
Geirröd II 161, 230 fí., 257, 278, Godgest 412, 414
279, 280, 397 (234) Godhialt 414
Geirstad 295, 380 Godrik II 70
Geirthrud 360 g o rn iö in g r, g o r v a r g r II 24, 375
Geitir 280 Kreuz von Gosforth II 284, 288
Genealogien z. B. 311, 371 ff., Goten, gotisch 111, 127, 168 f.,
4 1 2 ff. 312, 405. II 44, 57, 103, 134,
Genesis 69, 71, 74, 164, 217 f. 249, 261
Genius II 250 Gotland, -lander 96, 98, 366. II
Gensimund 312, 316 133, 135, 154, 156, 170
Gepiden 127. II 105, 107 Gott 69, 74, 134, 156, 186 f., 399,
Gerd II 329 401 f.
Gesetze z. B. 44 f., 86 ff., 112 f., Gott-Brand II 394 (204)
206, 298, 303 f., 307, 312 ff., Gottneiding II 182
350 f., 363 ff. II 9 f ., 23 f., 47, g ç g n II 292
49 f., 51, 57 f., 83, 94, 97, 109, Gram II 20, (31, 90, 113)
120, 121, 127 f., 133, 135, 138, Grani II 36, (243)
148, 152, 155 f., 168 f., 172 die Graugans 90. II 9, 83, 87, 120,
Gespenster, s. Tod 212
Gest Olleifson II 199 Grauseite II 30
gift> gipty Gabe z. B. II 8, 53 ff., Gregor, Papst II 236
353 ff. Gregor von Tours 112, 137, 302,
G ifterm ål II 8 434 (310). II 57, 61, 95
Gilden z. B. 52 /., 62, 86. II 146 f., Gregorius Dagson 100

410
Grendel 69, 187, 196, 203, 349 Gudrun, die Tochter Usvifs 67,
403. II (13), 26, 184, (199) 160. II 65 f.
die Mutter Grendels 69. II 13, 26, Gudrunlieder 46, 48
28 Gudröd 379, 380, 383
Grenland 380 Gulathing 172, 175
Grettir 322, 335, 338, 345 f ., 436 Gulathinggesetz 91, 371
(345). II 21, 31, 49, 52, (145), g u lli II 323
190 Gullthorir 416
Grettirsaga 324, 345 f. II 19, 145 Gullveig II 338 f.
g r ið II 145 Gundhartus 93
Grid II 230, 329 Gundowald II 61
Gridarvöl II 230 ff. Gunnhild (160), 257, 272. II 173
Griechen, -land 18,27, 41,77, 194, Gunnar der Gjukung 46, 121, 197,
205 f., 219, 221, 253, 430 (229). (202), 271, 375. II 65 ff., 88,
II 15, 103, 133, 198, 231, 245, 156, 168
264, 307 Gunnar von Hlidarendi 84, 338,
Grim II 22 419. II 41, 47, 76, 109
Grim Droplaugson 245 Gunnar Ulfljotson 417
Grim, Horn II 161 Gunnlöd 232. II (237), 285, (309),
die Grimme II 151 329
Grim Wollwange II 39 die Gunnsteine II 113
Grim N jalson 84 Gunnthram 140, 270 f., 276, 302.
Grimhild II (98), 168 II 48, 93
Grimkel II 20, 256 gu n th , Gunthram 310
Grimnismal II 241, 276, 284, 292, Gusir II 41
294 /., 297, 298, 319, 321, 322, G u sisn a u ta r II 41
324, 327 Gylaug 378, 414
g r tp ir II 167 Gylfaginning, s. Prosaedda
Gris 141. II 69 Gyrd 375
Grjotgard 414 f. g œ fu ley si 149
Grjotunagard II 285 g ö rsim a, g ö rsu m II 362
Gro 269
Groa (151), 245
Grönland 239, 324. II 68, 175 H
Grottalied II 292
Grund II 195 Haare z. B. II 124 f., 128, 385 f.
Gudbrand 419 (124, 125)
Gudbrand K ú la 420 Habicht 411
Gudbrand Thorsteinson 64, (258), Hadaland 294
420 Hadbrod 414
Gudbrandskreise 419 Hadding 135, 186, 334 f., 341. II
Gudbrandstal 419 335
Gudlaug 378 h a d d r II 385 (124)
Gudmund von Glasisvellir II 151, Hadubarden 381, 412. II 64, 244
162 H afr II 145
Gudmund der Mächtige 59, 353. H afragil 67
H 8 H agbard II 174
Gudrun, die Tochter Gjukis 46 Hagny 300
48, 62, 72, 110, 196, 209, 258, Hain, „H olz“ II 133, 134 f.
351, 375. II 16, 68, 98, 124, 129 Hakon Æthelstansfostri 225, 257,

411
(312), 316 f., 422. II 146, 165, 226, 249, 250, 252, 253, 260, 322,
177, 215 360
Hakon Jarl 124, 136, 140, 142, etja ham ingju 165
176 f., 224, 301, 309, 318, 373, ham ingjum estr 149
413 ff. II 138, 141, 153, 182, h am ingjusam ligr 150, 164
187 /., 220, 252, 256, 327 ham r, ham o 273 ff., 276 ff.
Hakon Jarl der Jüngere 344 ham ram r, Hamramheit 274 f., 432
Hakon Grjotgardson 318, 414 (273), 436 (340). II 37
Hakon Hakonson 80, 87, 91, 161 ham stoli 274
Hakon Herdibreidr 100 Hamund Heljarskinn 300
Hakon Magnusson 351 hand festa II 353
Hakongeschlecht 414. II 328, 330 „H andel“ , handsel II 83, 347
Hakonarmal 422 Hanef in Othveginstunga 55
Hakonsnautr II 19 h apta snytrir II 282, 320
Haleygjatal 412, 413 f. II 276, Har, H avi II 285, 320, 327 /., 339
Harald Blauzahn II (153), 185
285, (327), 341
Haralds, H alfdans Geschlecht 123,
Halfdan 49 ff. 136, 142 f., 176, 294, 373, 382 f.,
Halfdan der Alte II 188 413, 422
H alfdan å r sa li, der Schwarze 142, H arald der Gestrenge 139. II 92,
293, 309, (373). II 110, 206, 253 141, 352
Halfdan Eysteinson 379 H arald Gilli (164, 346). II 45 f.
Halfdan Hvitbein 379, 380, 383 H arald Goldbart 293
H alfdan der Skjöldung 374 H arald Grenski II 33 f.
H alfsaga 360 H arald Graumantel 225
Hall Gudmundson 110. II 25 H arald Halfdanson 293 f.
Hallbjörn H alftroll II 40 H arald Jarl 415
H alldor Olafson 111 H arald Kampfzahn 139, 375, 415.
Hallfred 151 II 204
Hallfred Hallfredson II 251 H arald Schönhaar 82, 115 f., 123,
Hallfred der Schwierigkeitskalde 128, 142 f., 148, 152, 165, 176,
54, 70, 141, 152, 224, 360, 409. 177, 179, 293, 309, 310, 311,
II 44, 69 /., 251, 392 (182) 317 f., 373, 380, 382 f., 385, 387,
Hallgerd 84 414, 419. II 28, 75, (110), 129,
Hallgrini 79 253, 396 (220)
Halli Sigmundson 59 H arald Trygill 414
hallinskiÖi II 325 Haramarsey 324
Hallvard 316 Harbardslied, -Ijod II 280, 305.
Halogaland 318, 414. II 182, 252, 308 f.
Hardeknud II 151
256
Harek auf Reina II 201, 203
Hals 64 Harek von Thjotta 419
h alsfan g 438 (367) h asta II 351
ham ask 274 H aus-Drapa II 143
Hamdir (110). II 130 Haus-, Heimfriede II 121 f., 130,
Hamdismal II 129 375 (23), 384 (121), 386, (128)
hamingja z. B. 164 f., 171, 177, Haustlöng II 281, 283, 299, 323,
268, 274 ff., 285, 293 f., 307 f., 330, 397 (234)
315 f., 355, 386 ff., 420 f. II 130, H ávam ál 70,281. II 285,286,294,
142, 173, 177, 180, 216 ff., 224, 320, 321, 334

412
H avar 414 264, 265, 266, (267), 278, 323,
H avar Handrammi 414 326, 327, (335, 402), 436 (348).
H avard 161 II 43, 168
H avard Isfirding 74 /., 77, 79, 80, die Helgilieder 224, 240, 263, 264,
106 (278). II 298
H avi, s. H ar Helgi Magri 415 f., 418, 421
hearg II 372 Helgi Njalson 85
Hedin Hjarrandason II 98 f. Helgi der Skjöldung 296. II 46
Hedin Hjörvardson II 194, 196 Heliand 60, 261. II 69
Hegranes II 145 Hellas, Hellenen, s. Griechen, Grie­
heið II 296 chenland
Heiddraupnir II 296, 299 Herning 415
Heidrek, -rätsel 223, 420, II 36, hem ula II 362
37, 38. Hengest 69, 348
Heidrun II 284, 296 heore, hýrr, „geheuer“ 187, 190,
h eiö van r II 296 244, 247 f., 249 f. II 223, 240,
Heil, heill 135 ff., 404 f. II 117 329
174, 262, 320 Heorogar 296, 381. II 30, 107
h eilagr II 117 Heorot (187), 203. II (13), 14,
heill hugr 157, 401, 405. II 81, (29), 183, 194
380 (81) Heoroweard 296
heil rað 152, 157, 405 heoru 296
g e f heill II 391 (172) „herauskommen“ , kom a fram II
heim ta heill, „Heil holen“ II 115, 216, 221, 223, 301, 396 (216)
188 Hercules II 134
m a l heill 405. II 172 Herdbalken II l l l f . , 126, 196
til heilla 405. II 220 Herebeald 51 f.
heillir 320. II 43 Heremod 121, 344. (II 16)
h e im an fy lgja II 359, 360 Hergils 414
Heimdal II 166, 257 f., 275, 324 f f ., H crjolf 56, 64
327, 336 Herlaug 414
Heimgest 414 Hermann, s. Arminius
heim ild, heim ill II 362 Hermod 109, 322, 422
Heimskringla (169, 175 f.). II Hermunduren 114, 220
153 f., (194), 211, 322 Hersen 172 ff.
heipt 278 Hersir 414
Hel 37, 103, 104, 108, 227, 250, Heruler 168. II 44, 48
321, 378, 379, 406. II 302, 315 Hervor, die Tochter Thorgerds 421
h elga II 119 Hervor 348, 421. II 36, 38, 53
Helga, die Tochter ö rn s II 195 die Hervör-Heidrek-Sippe 385 f.,
H elgafell 327. II 113, 114, 115, 413, 420 f. II 36 f., 38
119, 121, 135, 140 Hervarar-, Hervörsaga 50, 385,
Helgi 415 413, 420. II 36, 211
Helgi Asbjörnson 305 Hessen II 134
Helgi Droplaugson 245, 305 hieros gam os II 293, 337
Helgi H adingjaskati 264 H ild 227. II 190, 277
Helgi Hjörvardson 264. II 43 f., Hildebrand (der Vater) 49 f., (101)
194, (196) Hildebrand (der Sohn) 49, (101)
H elgi Hundingstöter 128,196, 208, Hildebrandslied 49 f., 101

413
Hildiger 49, 50 H rafn Thorfinson 258, 264
Hildigunn 375 Hrafnkel Freysgode 149, 151. II
HUderid 115, (118) 206 f.
die Hilderidsöhne 115 ff., 149, 302 Hrani II 33 f.
Himinbjörg II 327 Hraudung 375
Himinleig 414 Hredel (51 f.), 72, 104, 106. 203.
Himmel 409 II 47
Hirsch, -geweih 410, 232 Hredrek 296
hiröskrá 262 Hreidmar II 35, 51, 80, (242)
H jalli 121 Hremsa II 41
HjaltÍ Skeggjason II 47 hreth, hroth 296
Hjardarholt (155, 261). II 143 Hring 342
Hjarrandi 305 Hringstad II 43
Hjuki 288 Hroald 417
H jör 300, 373 Hroar II 46, s. a. Hrodgar
Hjördis (343), 375. II 20 Hrodgar (69,127), 134, 136,(196),
Hjörleif 80, 124, 333, 417. II 181, 203, (205, 261), 296, 381, 400. II
195 14, 30, 34, 64,183, 194, 380, (81)
Hjörvard 272 Hrodmar 417
Hladir 176, 177, 318, 373. II 147, Hrodmund 296
155, 177 Hrodny 417
die Jarle auf H ladir 176, 413 ff., H rodulf 134, 296, 381, vgl. H rolf
420. II 252, 256, 340 Kraki
Hledis 374, (376) Hroi 141
hljóð II 325, 326, 327 Hrok II 46
hljó ta II 281
H rolf II 113
hlóa II 297 H rolf aus Bergi 417
Hlorridi II 297 H rolf Kraki 272, 379, 381, 387,
Hlotære II 152 416, 421. II 12, 29, 71 f., 391
hnýfilsdrykkjur II 389 (160) (174)
Hochzeit z. B. 93, 96, 102, 130, H rolf der Alte 375
156, 158, (159), 161, 168 f., 184 H rolf Sigmundson 59
Hocin II 148 Hrollaug 414
hodd II (241), 298 Hrolleif 58 f., 147 f., 150, 167. II
H o d d ro fn ir II 296 136, (144), 186
H of, hof II 132, 1 3 ! f., 137, 142, Hromund Gripson 417
143, 371, 387, (135) Hroptr II 296, 299
Hofstad II 135 Hroßbjöm 415
Holofernes 203, (204) Hrungnir II 234, 283, 323
H oltar 379 Hrunting II (28), 29
Homer 194, 198, 200, 202, 205, Hrut 160, 162. II 387 (143)
206. II 280, 307 Hræsvelgr 185
hörfin-heilla II 393 (186) Hrœrek II 71
hornung II 367 Hrærek Spangenwerfer 266, 375,
Hraban 93 416
die Hrafnistamänner 135. II 3 9 f } ., Hugr, hugi, hugr 157, 257 f., 269 f.,
252 272, 276, 280, 285, 299, 316,
Hrafn II 89 336, 349. II 109, 252, s. a. ham r
Hrafn Heimski 415 und Sinn

414
Huld 414 Indra II 267, 269, 282
Hundasteinar 418 Ing II 340
Hunding 402 Ingeld, Ingjald 381, 383, 416, 421.
Hunnen 421. II 152 f. II 64 f., 85
Hvamm 416. II 112, 115, 138, 140, König Ingi 171
387 (143) Ingi Steinkelson II 210
Hvergelmir II 289, 291, 294, 296, Ingimund Jarl 295, (298), 359
298 Ingimund der Alte 59, (115, 150),
h v irfin g II 389 (160) 167, 295, 298, 317, 319, 359,
Hygelac 70, (127), 128, 197, 381. 419, 420. II 28, 29, 89, (186)
II (30), 46 die Ingimundsöhne 147 f., 151,245,
Hymir II 284 336. II 21, 136, 144, 186, s. a.
Hymiskvida II 102, (284), 286 f. Jökul Ingimundson d. Jüngere,
Hyndlulied, -ljod 374 ff., 382, 385, Thorstein Ingimundson
386, 413. II 204, 320, 327 Ingjald Illradi 379, 380. II 192
die Hym inge II 151 Ingolf 80, 333, 437 (359). II 9,
H yrr II 335 110, 181, 195
Hödur 109. (II 302) Ingolf Thorsteinson 64, 258, 437,
Höfdathord 385 (359)
Höfudlausn 272 Ingomar 310 f.
Höfund II 37 Innstein 374, (376)
Högni 379 Irland II 220
Högni der Gjukung 46, 121, 202, der Isfjord 74
271, 375. II 156, 168 Isleif II 85
Högni Halfdanson II 98 Ismael 341
Högni Ingimundson 359 Isolf 375,
König Högni 265 Israel, Israeliten 77, 110, 203, 253,
Högni auf Leka 116 Italiker II 133
Högni der Weiße 360 Ivar Weitfahe 375, 379, 380, 383,
Hölgi II 252, 256 416
Hörd II 21, 74, 167 J
Hördakari, die Hördakarlinge
376, 416 f. Jarnvidr, s. „Eisenwald“
Hördaland 360 Jesus Christus 137, 156, 207, 261,
die Hördsaga II 21, 74, 137, 140, 400, 401, 403. II 321
167, 196 Jomsburgwikinger 177. II 129
Hörfi 375 Jomsvikingadrapa 231
H örg II 135 210, 211, 371 f. Jordanes 169, 434 (310). II 249
Höskuld Dalakollson 155, 261, Jorfjara II 137
314. II 19, 48, 366, 387 (143) Jorun, die Tochter Ingimunds 359,
Höskuld Hvitanesgodi II 9 420
Höskuld Njalson 85 Joseph 69
Hœnir II 229, 233, 238, 257, 275, Juden, s. Israel
281, 293, 322 /., 334 Judith 203, 204, 403
Julfest, -becher II 147, 179 f., 196,
I 197 f., 215
Jupitereiche II 134
Idun 278. II 234, (273) Justinian 168
Ilias 202, vgl. Homer Jökul Bardson (345), 436 (345).
Indien II 231, 264 II 52

415
Jökul Ingimundson der Ältere Ketil Flatnef 421, 437 (359)
(125), 295, 320, 359 Ketil H ördakari 417
Jökul Ingimundson der Jüngere Ketil Lachshaken 240. II 39, 41,
147, 295, 317, 359. II 21, 28, 252
31, 48, 52, 107 Ketil Raum 125 f., 128, 415
Jöns von Tubbemåla II 178 Ketil in Vinreid 373
Jöns von Ware II 178 Kimbern II 123
Jörmundgandr II 288 Kinderbaum II 113
Jörmunrek, s. Ermanrik klassisch, s. primitiv
Jörund 378 K jallak 420
Jösumar 375 Kjalncsingasaga 421
Jötunbjörn 415 Kjartan 67, 111, 160, 437 (359).
Jötunheim II 103, 151, 161 II 17, (22), 30, 65 f., 376 (25)
Jüten, Jütland, jütländisch 146, k jó sa II 229, (306, 322), 373
377, 379, 382. II 20 K lyp 375, 376, 384
Jütländisches Gesetz 97 Knechte, Unfreie z. B. 80, 88, 107,
114, 121, 126,281, 2 84 f ., 300 ff.,
306, 314, 325, 333, 339, 343,
K 433 (303). II 131, 145, 181, 305,
363, 367, 385 (124)
Kain 69, 133 k n é k ast II 344
Kalf Arnason 160 Knöttr 415
Kampfheil, Siegesheil 136, 137, Kodran II 387 (138)
139, 140, 309. II 32 Kolbcin 295
der Kanal 140 Kolga 224
K ar der Alte 324, 326 Kolli 43
Kara, die Tochter Halfdans 264 k o m a fr a m , s. herauskommen
Kari 375 k o n u n g sn au tr, Königsnautr II 19,
Kari Sölmundson II 47 251, (376 [25])
Karl Martell II 126 Kormak II 30, 297
die Karmtinsel II 202 Kostbera 271
Karolinger 93 Kraku-Hreidar II 115
Karstad II 140 Krossavik II 22
Katancs II 220 Krossavik (der H of) 280
Kauf, k au p z. B. 307, 361. II 7 ff., Kurland 169
33 ff., 64, 65, 66, 74, 78 ff., 84, Kvasir II 284
93 if., 128, 169, 174 k v e ð a , k v a ö i II 171
Kaun 417 Kveldulf 82, 165, 432 (274)
Kelten 17, 28 f., 31 die Kveldulfsöhne 165 f.
Kenningar z. B. 36 f., 195, 199 ff., Kvitcseid II 32
223 ff., 241 f., II 15. 16, 130, 160, k y n sx ll 163
190, 229, 231, 232, 233, 238, Königsheil 133 ff., 148 f., 152 f.,
240, 249 f., 275 f., 278 f., 281 f., 165 f., 167 ff., 299
284, 285, 295, 298, 299, 322 Königstöter II 30
323 f. Körmt II 297
Kent 296, 310
Kcrlauge II 294, 297 L
Ketil 375
Ketil Bifra 417 lá II 238
Ketil i Djupadal 417 lá c , la ik , s. le ik r

416
la g a k a r II 352, 389 (156), 390 Lofoten 240
(162) Lofund 379
la g a k e fli II 352 fa g f esta II 352
Lagarfljot 151 fa g r II 284, 297, 328
lan d m u n r 348 Loki 258, 259. II 18, 80, 166, 230,
Landnama 285,385,419,430 (244). 233 f., 236, 218 /., 281, 299, 303,
II 132, 135, 279, 340 327, 330 /., 332, 334, 336
Landnahmemänner 80. II 109 fî., Lokasenna II 299, 332, 334
119 f., 132, 135, 142, 168, 188, Lopt 438 (369). II 132
206, 323 Lot 134, 400
Landverwüster II 141 lú ð r II 290, 294
Langobarden, langobardisch 76, 94, Lund II 113
97, 101 f., 126, 304, 307, 315, Lügen-Tor fi II 26, 28
367, 389, 434 (310). II 9 f., 29, lœ irb lot II 395 (211)
45, 48, 87, 95, 105, 210, 236, Laerad II 296
343 f., 345, 347, 351, 352, 356, læ so v erp ire II 349
362
der Langwurm II 29
Lappländer, Lappen 109, 252. II M
205, 339
Laugabol 74 m ag n a 431 (257)
Laumellum II 95 Magni II 258, 281, 283, 287, 328
Laurentius II 390 (161) Magnus Baarfuß 163, 346, 427 f.
Laxdæ la 66 f., 157, 437 (359). II (163)
143 Bischof Magnus II 46
le g g ja å , „auferlegt“ , „untergelegt“ Magnus Erlingson 159
241. II 42, 76, 80, 82, 350, 352, Magnus der Gute 139, 299, 344. II
380 (82) 61, 63, 75, 91, 92, 352
Leif 300 Magnus’ Hofgesetz 88
Leif, s. H jörleif m a g r 438 (369)
Leif össurson 35 die Schlacht bei Maldon II 18, 70
le ik r II 190, 277, 393 (190) m an n d reám 71, (327), 409
Lejre 381 m an n b eill 145, 163, 404
Leka 115, 116 m an n h clg II 117
Leuchtmähne 287 m a n n ja fn a ö r II 196 ff.
Leuvigild II 57 m an n k au p II 74
lid k ø b II 96, 381 (93) Mar 100
der Limfjord 378 Margarethe auf Stokkar II 63
liss 70 Maria 69
litr II 238, (284), 286, (293) Markomannen 27
Liutprand 94. II 9, 126, 358 Martin II 343
Ljot (58, 148). II 136, 137, 144, m a tb lo t II 395 (210)
(186) Meer 199, 232, 409 f.
Ljot Hallson 82 Megin 256 /., 274, 276, 277, 288,
Ljotolf der Gode II 195 406, 431 (267). II 177, 212, 237,
Lodin 360 239, 257, 278, 293, 295, 327,
Lodin öngul II 113 329, 396 (216)
Lodmund II 279 Meili II 323
Lodur II 238, 257, 281, 293 Menia 434 (310)
die Lofdunge 379 Mercia, Mercier 136, 309

417
Mermedonen II 57 Mæliberg II 115
Merowinger 273, 296, 310 f. II 23, Maeri II 119, 143
95 Mödruvellir 353. II 8
Met z. B. II 146, 237, 238, 284, Mord II 9
309, 324, 328, 388 (150) Mörn, Mörnir II 237, 330
m eta II 358 Moeri 324, 415
Metaphern, s. Kenningar die Jarle von Moeri 359, 373, 415.
Midfjardarskeggi II 29, 30 II 195
Midgard, m id garðr 183 ff, 220,
232, 236 f., 248 f., 256, 287, 289.
II 116, 209, 223, 234, 239, 290,
292, 307 N
die Midgardschlange 250. II 143,
(259), 273, 283 f., 287, 288, 303, n áb jargir 353
320 Nacht 287 ff., 408
Midvidnir II 276 „Nacken“ 430 (241)
Mimir II 296, 299, 300, 322 Nahanarvalen II 125
Mimirs Brunnen II 296, 300 Namen, -gebung 238, 261, 263,
Minne II 149, 153 ff., 161, 162, 266, 295 ff., 306 ff., 320, 358 ff.,
167, 169 ff., 181, 227, 261, 262, 430 (238), 433 (297). II 43 ff.,
390 (163), 391 (177) 168, 174
m innikar II 389 (156) Nanna, die Tochter Nökkvis 375
Mithra II 325 Naum a 416
Mittagshügel 230 Naumudal 320, 414
Mittförde II 40 Naströnd II 302
Mjölnir II 166, (210, 226, 230, n autr 411. II 18 f.
231 f., 235, 241, 253, 273) Neid, -stange II 21, 173
m jçtu ô r, m jçtviÔ r II 326 Neiding z. B. 86, 99, 101, 105 ff.,
Modi II 258, 328 112, 114, 120, 122, 123, 129,
móÖr, s. Mut 131, 133, 155, 160, 161, 180,
der Mond 222, 226, 244, 246 f., 188, 190, 262, 281, 299, 331 ff.
256, 287, 289, 408. II (238), II 23 f., 35, 58, 71, 101, 118 f.,
239, 273, 293, 301, 329 131, 168, 179, 180, 298, 302
Mord, Mörder 102, 128, 246, 346, Neidingschaft, niÖingsverk 79,105,
390. II 23 108, 119, 122, 144, 158 f., 160 f.,
»Morgengabe“ 307. II 34, 62 f., 163, 246, 346 f., 390, 424 (79).
168, 172, 354 ff., 387 (135) II 23 f., 34 ff., 67, 82, 99, 106,
Mostr 317. (II 204) 121, 128, 180, 182, 312
til m ots II 160, 389 (160) neótan II 18, 81
Mummolus II 61 Nerthus II 134, 246
Mund, m undr (307), (313). II 37, Nibelungen 383; s. a. Gjukunge
55, 94, 351, 354 ff., 365 Nibelungenhort 197. II (18), 36,
m undbyrd II 356 (68), 90, 242
Mundill der Alte 414 nicht-geheuer, s. unbeore
m ungátstiöir II 146 Nid 288
munr, muns 278, 348, 436, (348). Nidhögg II 229, 296
II 177 Niflheim II 289, 291, 296
Muspelheim II 289, 303 N jal 34, 82, 84 f., 161, 332, 419.
Mut, m óör 258, 276, 277 II 9, 47, 76
m a la fy rir, s. fo r m a it N jála, N jalsaga 117, 419

418
die Njalsöhne (82), 84 f., 161, 164, O laf Havardson 74 f., 79
332. II 9, 47 O laf Kyrri II 103, 150, 161
n jó ta , s. n eó tan O laf Pfau 111, 155, (261), 314,
n jó tr, n jó tsm in n i II (81), 96, 169, 338. II 19, 22, 30, 47, (48), 143,
362 366
N jörd II 155, 236, 247 O laf Sigtryggson II 60, 73
Noah 74, 203, 218 O laf von Schweden 169 f.
die Nordsee 420. II 200 O laf Thorevilson II 19
Nomen 50, 263. II 168,300,(301), O laf Tretelgja 379
306, 320, 334, 373 O laf Tryggvason 70, 123, 135,
normannisch 140 139, 141, 143, 152, 153, 172,
Northumberland, -länder 154, 310, 174, 176 f., 275, 360, 385, 418 f.
422 II 17, 29, 44, 69 f., 138, 141,
N y 288 151, 198, 201 f., 202, 205, 251,
n ý t II 329 390 (161)
Nächstförde II 40 O laf Ugæfa 149 f.
N ökkvi 375 O laf der Weiße 416, 421. II 115
die Olafs 135, 420. II 201, 203
die Olafsagas II 201
O Ollerus II 335
Olo Vigetus 267
Odd 274 om en, Wahrzeichen, z. B. 50. II
Odd Ufeigson 61 186 f., 188, 373
Oddbjörg 159 Onar 225
Odin 36, (38), 103,109,139,224 f,. Onar Thorirson 417
226, 232, 322, 326, 327, 384, Onela 381. II 31; s. a. Ali
414, 422. II 20, 31, 90, 111, Ongentheow 421
113, 130, 141, 147, 149, 154, die Opiänder 152, 381. II 33
162, 165, 176, 202, 205, 233, o rö h eill, Wortheil 155 f., 164, 241,
235, 237, 238, 252, 255, 259, 427 (155), 429 (203)
275, 280, 281, 285 f., 290 ff., die Orkney-Inseln II 137, 220
295, 297, 300, 301, 303, 305, Orm Skeljamoli 415
307 ff., 312, 321, 322, 326, 327,
328, 329, 330, 332, 334, 339, Orm Storolfson II 41
341 Orny 280
odrærir II 285, 294 os 296
die Odyssee 202 Oslac, -laf, -weald, -wulf 296
Odysseus II 15 Osmod 310
Offa 143 Ostangeln 136
Ohthere 381. II 31 Ostgoten 296
Ókólnir II 298 die Ostsee 141, 379, 384. II 152
O laf Asgeirson II 195 Oswald 310
O laf der Heilige 111, 122 f., 128, Oswiu 310
138, 140, 142, 160, 169, 173, Otr 240. (II 80)
175 f., 177, 178, 295, 344, 345, Ottar Egilson 378, 381
419. II 33 f., 44, 53, 61, 85, Ottar Heimski 374 ff., 384, 385,
143, 161, 167, 170, 181 f., 203, 386, 387. II 204
213, 376 (33) Ottar Thorvaldson (55), 64
O laf Geirstadaalf 295, 380. II o v e r g a v e II 362
33 f., 53, 252 ó a l l II 101

419
P Ragnarök II 273, 314 f., 320, 325,
Ran 37, 222, 223 f., 226, 227, 232
Paulus II 363 Randver 375
Paulus Diaconus 76, 126. II 29, Rannveig II 47
95, 126 die Familie Rantzau II 19
p a x 68, 424 (68) Rati II 285
Penda 136, 308 f. Ratlosigkeit 50 f., 72, 105, 107,
Penelope 195 108, 170
p e r cibum et potum II 93 Raud 275
Petrus II 343 Raum 415
Pferdekämpfe II 189. 192 Raumarike II 206
Phtia 205 „Recht“ 91 f., 425 (92)
Phäaken II 15 red 296
Phönix 403 rede, s. rå b
Pippin II 126 Refr II 10 f., 88
Pisen 434 (310) regin II 249, 260
Plutarch 231 Regin 197. II 20, 36, 90, 242, 334
das primitive Drama II 224 ff., Reginsmál II 51, 333 f.
264 ff., 335 ré ttr II 356
Priscos II 103, 152 der Rhein 384, 386, 387. II 36
Prokop 111, 168. II 107 das Rheinerz 402. II 38; vgl.
Prosa-Edda 103, 109, 200, 264. II Nibelungenhort
227, (231, 237, 253), 289, 291, Reykdal 55
294 f., 300, 323, 324, 329 Rig II 327
Pybba 308 Rigsþula II 327
Python II 282 rik 296
Rind 109
Qu Ring z. B. II 11, 14, 17, 18, 34.
46 f., 72, 138, 140 f., 252, 297,
Quaden II 127 345
die Quelle der Weisheit II 237; Rom, Römer, römisch 17 ff., 27,
s. a. Mimirs Brunnen 91, (167), 430 (229). II 114,
123, 127, 139, 250, 257, 264,
R 321
Rothar 94, 112
Rabe 217 f., 411. II 187, 201, 209, Rotkäppchen 234
217, 220 Ruhm z. B. 259 ff., 269
Rache, z. B. 57 ff., 99, 106, 128, Ruben 403
130 f., 134, 155, 332, 339, 362. Rugier 385
II 47, 384 (121) Rußland 384, 387, 420, 421
r á ð , râ d , „R at“, r á d , rede 150 ff., Rätsel 194, 223
156 f ., 277, 399 f . II 83, 249, Ræning 379
260, 278, 286, 380 (81) Rögnvald Brusason II 92
Radbard 375 Rögnvald Heidumhaerri 376, 380,
Radbod II 182 382, 383, 414
Rafn, s. H rafn Rögnvald von Mœri (372), 413
Ragnar Lodbrok 387, 416, 418 Rögnvald Ulfson II 213
das Ragnar-Geschlecht 384 Röskva II 281, 287
Saga von Ragnar Lodbrok 385 roek, r æ k -Sitz II (294), 319 ff,,
die Söhne Ragnar Lodbroks 385 327, 332, 334, 338

420
s Selbstbloten II 394 (204)
seled reám 409
die Sachsen 93, 113, 303. II 80, sels, s. s a li, s a l i
129, 255 Selsbani, s. Asbjörn
Sagittarius 302 Selsrächer (111). II 30 f.
sa g n a h rœ rir II 282 Selthorir II 31, 110, 115
sa k a u k a r 371 Shetlandinseln II 201
Saldis 159 sib 68 f.
Salisdies Gesetz 93. II 51 f. sich in die Sippe führen 124 ff. II
Sam 149 192 f.
sa m b u rö a rö l II 147 Siduhall 82, 417. II 59, 74
Samuel II 111 Siedler, s. Landnahmemänner
Satan 156, 400, 403 Siegesheil, s. Kampfheil
Saul II 111 Sif II 283
Saxnot II 255 s if s i f ja ð r II 324
Saxo 49, 50, 51, 109, 135, 154, Sigambrier 349
186, 267, 334. II 70, 246, 335 f. Sigarsholm II 44
sc a p t, sc a p tle g i II 351 Sigdrifa 140. II 177, 180, (229 f.),
Schicksal z. B. 166, 263 ff., 268, 262, 335
279, 283, 386. II 107, 159, 187, sige 296
193, 238, 240, 3 0 6 , 309 ff. Sigebeald, -beorht, -heard 296
Schild II 323 f. Sigeberht 137, 434 (310)
Schnee der Alte II 37 Siggeir 61 f., 276. II 90
Schonen 379, 380 Sigmund 59
„Schoßkinder“ , sk ø tse tu b a rn 313 fï. Sigmund Brestason 34 f., (77 f.),
II 365, 367 124. II 138 f., 141
Schottland II 220 Sigmund Karlson 59 f .
Schwert z. B. 4 1 1 . II 14, 23 ff., 46, Sigmund Lambason 84
109, 192, 298 f., 325, 351 Sigmund der Völsung 61 f., (343),
Schwur, s. Eid 402, 422. II 20, 31, 43, 90, 113,
Scyld, s. Skjöld 199, 262
Scyldinge, s. Skjoldunge sig n a, „segnen“ II 165 f., 169 f.,
s c a t II 354, 359 204 f., 211 f., 242, 390 (165)
se a x 296 Signe II 174
Seaxbeald, -red 296 Signy (169)
See, s. Meer Signy, die Tochter Valbrands II
Seefahrer 261 20 f., 167
Seeland 379, 381 Signy, die Tochter Völsungs 61 f.,
Seele, z. B. 192,210 ,2 1 3 ff.,2 2 6 ff., 66, 276. II 90
247, 249, 254, 2 5 6 ff., 263, 298, die Sigrdrifa, Sigrdrifumál II 262,
300, 311, 431 (257), 436 (340). 296, 299, 333 f.
II 79, 84 Sigrid, die Tochter Skjalgs 111
Seele, Sinn mischen, tauschen 239 f ., s ig r s a li, - s a li, s. Kampfheil
243 ff., 251. II 8 {., 68, 107, Sigrun 196, 208, 264, 322, 326,
209, 252, 254 334
Segestes, Segimerus, Segimundus Sigtrygg 374
296 Sigurd Jarl 318, 414. II 147, 155,
segi II 280 165, 177
se g ja , se g ja n d i 281 f. Sigurd, der Jarl der Orkney-Inseln
se ið r II 339 II 220 f.

421
Sigurd Ðjodaskalli 418 Skurhild 375
Sigurd Fafnirstöter (46, 62, 72), Skuta 377
140, 195, 197, 258, 266, 343, Skyldbreta II 336
375, 383, 385, 387, 400. II 16, Skythen II 103
20, 36, 38, 65, 67, 90, 95, 98, s k a l II 351
99, 113, 168, 229, 242 f., 262, Skæreid 379
307, 333 f. Sköfnung II 30
Sigurdlieder, -sage 47, 386. II sk ø tsetu b arn , s. Schoßkinder
335 f., 337 s k ç r II 385 (124)
Sigurd Mund 177 Slawen 76
Sigurd Sau 122 f. II 161 sle itu lig a II 397 (227)
Sigurd Slembi 163, 346, 427 (163) Slettubjörn 433 (297)
Sigurd Thorlakson 35, 332 slitk h erd e 202
Sigvalde 76, 77 Småland 337. II 179
Sigvaldi Jarl II 153, 159 Smidr Ingimundson 359
Sigvat, der Skalde II 213 Snorra Edda, s. Prosa-Edda
Sinfjötli (61), 160, (197), 422. II Snorri der Gode 83, 164, 285. II
199 113, 140
Singastein II 336 Snorri Sturluson 169, 175, 201,
Sinn Z.B. 151, 157, 164, 165 377, 381. II 153, 154, (211),
sip p e 438 (369) 227, 231, 237, 253, 273, 278,
Sippenknauf II 28, 31, 48, 49, 52, 285 f., 289, 291, 300, 309, 324,
90 336
Sippenschande, s. fro en d ask ö m m Sodomiten 400
Sirtfelder II 71 Sogn 293. II 188, 205
Skadi 414. II 236, 247, 256, 282, Solfjöll II 43
330, 341 són II 297
Skagafjord 385 so n a rg ö ltr II 210
(Skallagrim 166) Sonatorrek 3 6 ff., (107 f., 333,
Skalm II 110 355). II 199
sk a p k e r II 150 die Sonne 188, 191, 222, 228, 234,
sk a p t II 351 244 ff., 247, 251, 256 f., 287,
Skarphedin 84 f., 164, 332. II 47 408. II 152,186, 239, 273, 292 f.,
sk a u t II 79 301, 302, 329
sk ei II 189 f. Soti II 196
Skekkil 375 Spanien II 203
s k ey tin g II 79, 96 Spakbessi 245. II 137
sk ilam an , s. fo r sk ia la m a n sp éd , sp é d ig 400 ff.
Skilfinge 374 f., 378 Spiele, Wettkämpfe II 189 f., 231,
sk il ja firir, f y r ir II 351 236, 258 f., 273 f., 280, usw.
Skinfaxi, s. Leuchtmähne usw.; s. a. Blot und le ik r
Skiringssal 379 sp o d 401
Skirnismal II 29, 248, 335, 337 Stab II 230 f., 232, 234, 278 f.,
Skjalf 378. II 37 345; vgl. Festuca und la g a k e fii
Skjöld 195, 384, 386. II 252 sta llr II 136, 140, 141, 210, 297
Skjoldunge 134, 296, 344, 374, ste f II 350, 351
376, 381, 383, 412. II 30, 46, Steinar II (33), 109
73, 90, 244, 252 Steinar Ja rl 418
Sklaven, s. Knechte Steinar Onundson 54
Skrukke II 32, 33, 109 Steine 211, 213 ff., 218, 219, 226,

422
(229), 230, 236, 266. II 130, Sætersdalen II 190
133 Sævaldi 343
Steingrim von Eyjafjord 56, 64 Sölgi, Sölvi 417
Steinthor auf Eyri 75. II 140 Sörli (110, 336), 435 (336). II 129
Steinun II 9 SQrlaþáttr II 377 (46)
Stiflusund 379 Sökkdalir II 286
Stigandi II 28, 29 Sökkmimir II 276, 286, 322
Stiklastadir 138 f., 160, 174
Stil 194 ff., 407
die Sturlunge 415 T
Stödvarförde II 119
Sueben 27, 231, 368. II 57, 129, Tacitus 20 ff., 246, 305, 325, 356,
149 370. II 54, 55 f., 69, 88, 105,
die Sursöhne II 30 110, 113, 123, 125, 128, 134,
Surt II 285, 289, 303, 328 139, 141, 150, 186, 208, 219,
Surt Ingolfson 437 (359) 246, 359 f., 386 (129), 393 (187)
Suttung II 237, 285, 286, 295, T ag 195, 235, 247, 287, 288, 289,
(309), 334 407
Svafa 375 Teit Ketilbjömson 420
Svafa, die Tochter Eylimis 264. II Telemarken, -marker 260. II 32,
(44, 194, 196) 75, 164, 190
Svafrlam i II 27 Tenkterer II 54
Svan der Rote 374 th eod 296
Svanhild 110, 267. II 124, (129) Theodolind II 95, (101 f.)
Svarfadardal II 195 Theodomer, -ric 296
Svarfdoela 320 Theodomer II 57
Svart Eisenschädel II 27 Theodoric der Große 310, 312. II
Svasi (Jotunn) 417 44, 48
sv á ss, s v á s 70 Theodoric II 342
Svasudr, „Luft-Süße“ 235 th in g atio II 9, 360, 362 f .
Sveigdir 377 Thialfi II 230, (235), 280, 283, 287
Svein Estridson II 75, 91 Thiazi II 233 f., 236, (256), 281,
Svein Gabelbart 141. II 153, 159, 330, 341, 397 (233, 234)
192, 194 Thjodolf 376 f., 413. II 211, 397
Sverdhjalt 414 (234)
Sverrir 159 f., 177 f. Thjostolf Alason 171
Svidrir, Svidurr II 276, 322 Thomas 261. II 69
Svina Bödvar 417 Thor 225, 248, 257, 258 f., 276,
Sybille II (203), 394 (203) 409, 431 (267). II 119, 143, 147,
Syn II 253 153, 162, 165 /., 204, 205, 210,
s a 296 226, 227, 230 ff., 233, 234, 248,
Sæbeorht, -weard 296 257, 258, 259, 267, 272 f., 278,
Saefari 374 280, 283 f., 286, 297, 303, 305,
Sæheim 317 315, 317, 321, 323, 324, 329,
Sæhrimnir II 146 336, 338
Saekonnung 375 Thora, die Tochter Ketils 417
s a li, s a i l 162, 171, 405 Thora, die Tochter Saxis 346
s a m ilig r 164 Thora, die Tochter Sigmunds 34 f.
Sæming 414, 416 Thora Mosterstang 317 f.
Sæmund 58 f., 167 Thora, Mutter der Helden 375

423
Thorarin Bullibak 373 Thorir Skeggjason auf AdaldaJ
Thorarin Loftunga 142 345
Thorarin Thorirson 58 Thorir Snepil II 113
Thorarin der Weise 344. II 25 f., Thorir Sviri 417
28 Thorisfelsen II 115
Thorbjörn Brunason II (25), 26 Thorkel Farserk 324
Thorbjörn Gaul verski II 132 Thorkel H ak Thorgeirson II 41.
Thorbjörn von Laugabol 74 f., 79 193
Thord Gellir II 8, 112, 115, 126, Thorkel K rafla 126, 144
138, 140, 145 Thorkel der Hohe II 153
Thord Illugi 359 Thorkel Surson 47 f., 52
Thord Kolbeinson 43 Thorlaug 415
Thord Thorlakson (35), 332 Thorlaug, die Tochter Glums 360.
Thord Thvari 415 II 51
Thordis, die Tochter Ingimunds Thorleif 152
des Alten 359 Thorleif H valaskuf 417
Thordis, die Toditer des Jarls Thorleif Kimbi 83 f.
Ingimund (320), 359 Thorleif Midlung 417
Thorfin Jarl II 91 f. Thormod 415
Thorfin Karson 324 Thormod Kolbrunarskalde II 67
Thorgaut II (25), 26 Thorolf Boegifot 322
Thorgeir der Gesetzessprecher II Thorolf Halmi 415
Thorolf Kveldulfson 82, 115 f.,
59 f \ 149, 165 f., 302
Thorgeir Havardson II 67
Thorgeir Skorargeir II 47 Thorolf Mostrarskegg II 110, 113,
Thorgerd, die Tochter Egils 36, 115, 119, 120, 132, 135, 142,
111 204, 205, 206
Thorgerd Hölgabrud II (138), 141, Thorolf Skallagrimson (38). II
256 389 (160)
Thorgest II 111 Thorolf Thorgnyson 320. (II 43,
Thorgils Hallason II 109 53),
Thorgils Skardi 295 Thoroif Thorsteinson 320. (II 43,
Thorgils Thordson 127 f., 239. II 53)
27, 175 Thorsdrapa II (231), 278, 280 f.,
Thorgny der Gesetzessprecher 287, 293, 321, 323, 328, 336,
169 f. 397 (234)
Thorgrim der Gode 47 f., (160). Thorsnes II 135
II 204, 205 Thorstein, der Vater Siduhalls 417
Thorgrim Helgason II 19 Thorstein Asgrimson 260
Thorgrim von Karnsa 126 Thorstein Bœjarmagn II 161
Thorgrim Ljotolfson 59 Thorstein Dorschbeißer 327. II
Thorhadd der Alte II 119, 120, 115 f., 204, 205
132, 142, 384 (120) Thorstein Egilson 54, 60
Thorir 418 Thorstein Gullknappr II 137, 140
Thorir, s. Selthorir Thorstein Ingimundson 147 f., 150,
Thorir Anson 419 151, 298, 317, 359, 420, 437
Thorir, Bruder des Königs II 92 (359). II 21, 48, 136, 186
Thorir Hund 111. II 376 (33) Thorstein Ketilson 125, 295, 320,
Thorir Ingimundson 359 359
Thorir der Schweigsame 359 Thorstein Ochsenfuß 280, 341

424
Thorstein Raudnef II 113 T yr 378. II (102), 275
Thorstein Siduhallson 299. II 74 Tyrfing 386. II 27, 32, 36 f., 38,
Thorstein Thorgnyson 320 (53), 99
Thorvald Krok 58
Thorvald Ottarson II 251 I’
Thoten 379
Thrasi II 279 þ e g n sk a p a rm a ð r 120
Thridi II 281 p rið ju n g sa u k i II 359
Thrond 414, 415 p u lr II 321, 334
Thrond von Gata 34 f., 43 p ý b o rin n , p ý su n II 367
Thrond von den Opiändern II 61 p y lja II 321
Thrudgelmir II 291
Thrudr II 234, 258 U
Thrymskvida II 32, 166, 253
Thurid 110 Ufeig 61
Thurid, die Tochter Eyvinds 416 ú g œ fu sam lig r 161
Thurid, die große Witwe 25 ff., ú giptu bragÖ 164
332. II 64 ú g ip tu sa m lig r 163
Thurisind II 105, 107 U lf 374
das Thvera-Geschlecht 301 f. U lf Uggason II 143
„Thüringen“ , „thüringisch“ 310, u lfh e ö n a r 274
434 (310). II 80 Ulfljot 376, 417
Tiere 192 f., 201 f., 207 f., 231, ú lfr 239
238 ff., 249, 286 f., 290 f. II Uli II 275, 294, 323 f.
251 £ * s a. Vieh „Umgehen“ 119, 353, 437 (353)
t i l g a f , t i l g jç f II 88, 346, 354, 356, Uneheliche Kinder, z. B. 303 ff.,
357, 359 311 f., 314 f., 434, (304,315). II
Tod, die Toten z. B. 107 f ., 119, 119, 363 ff.
188, 220, 3 1 9 ff., 346 f., 352 ff., Unheil 160 f., 163 f., 187, 335,
435 (336). II 28, 33 f., 181, 339 f., 345, 352 f., 427 (163). II
184 f., 189, 196, 199 f., 206 122, 174, 216
to m teb o ly ck a II 183 „unheilig“ 347
Tonga-Insulaner 329 unheore, ú h ý rr 187 ff., 248 ff., 333,
Torgar 115, 118, 149 337, 341, 348, 405, 436 (342). II
Trank, Trinken z. B. II 91 ff., 107, 217, 231, 235, 259, 273, 288
146 f., 149 ff., 183 ff., 192 ff., „Unland“ 187, 188, 248, 251, 348
381 (92) Unn 160
Troja, -aner 205 Unnar 343
Troll 348, 435 (326), 436 (348) u n rede, u n r à d 150, 399 f.
Tryggvi O laf son 360 unséls 162, 405
Träume 151, 153, 436 (345). II u n sp é d ig 402
251 u n sp u o d 402
t r a II 351 Uppland 382
Tubal Cain 401 das Upplandgesetz 101, 313. II
tu d d o r sp é d 402 34, 63
tu n II 121 u p p n àm am en n 371
Tunga 111 Upsala 169, 170, 376, 379, 380,
Tungu-Odd 415 382. II 37, 203, 246
Tveggi II 281 Hort von Upsala II 37, (46, 47,
tv îm en n in g II 160, 162, 395 (214) 90)

425
Upsi 380 Vedastus II 148, 150
Urd II 237, 321 Veden, vedisdier Kult II 269, 294,
Urds Brunnen II 242, 296, 321 297, 323, 324
Urso II 342 Vedis II 205
Utgard 183 ff., 232, 236, 239, 248, Vedrargrim der Herse 421
251, 257, 289, 341, 344, 349, Vedrhalt 414
354, 405 f . II 166, (230 f.), 232, Vegeir, s. Geir
272, 279, 287, 332 Vegest Geirson II 205
Utgarda-Loki II 272 Vegtamskvida 326
v e ig II 176
Vemund Fjörleifson 55 f., 64
V Vemund Geirson II 205
Vendil 378
Vadium II 93, 97, 342 ff., 348, Verlobung 361. II 83, 87, 93, 345,
358 346, 355 f., 379 (68)
V adla 379 v e rr fe b r u n g r 124, 129. (II 192 f.)
v a fr lo g i, Waberlohe II 298, 335 Verwandte, -sdiaft z. B. 63 ff.,
Vafthrudnismal 288. II 290 f., 319, 102 ff., 180 ff., 279 ff., 360 ff.
321, 334 usw. usw. II 302, 310 f.
Vagasker II 336 Vesperspitze 230
Vali 109. II 328 Vestein 47
Vali Lokason II 299 Vestein Geirson II 205, 206
Vallaljot 59 Vestfold 122, 126,175, 380. II 206
Van II 288 Vestmar 380
v a n a -b r ú ð r , -d is, -g o ð , Vanen- Vidar II 230, 329
götter II 247, 339 v id e rb o ra , v ird ib o ra 304
Vanargandr II 288 Vieh II 22 ff., 109, 119. 20 1 ff.,
Vanen II 247 f., 301, 314, 319, 206 f., 209, 230, 232, 235 f., 245,
337 ff. 248, 249
Vanlandi 377, 382. II 37 Viehheil 147, (157). II 22 f.
Var II 253 Vigastyr II 186
v a r g r 239, 351. II 24, 131 Vigfus 420
v a r g r i véu m , W olf im Heiligtum Vigfus Glumson 301, 316. II 119
II 118 f., 131 Vigfus Vikingakarason 124, 418.
Varuna II 325 II 18, 21, 52 f., (111), 251
Varus II 139, 208 v ig ja II 165, 212, 390 (165)
Vatnar II 200 Viken 177
Vatnarshügel II 200 Vikingakari, Wikingkari 301, 418.
Vatsdal 126. II 28 n 2i
Vatsdœla 58 f., 125 ff., 319, 320 Vikingakarlinge 418 ff., 420
das Vatsdœla-Geschlecht 126, 319, VilÍ II 281, 290 f.
(320), 359 f., 415, 419. II 28, Vimur 257. II 230, (232), 278
31, 48, 49, 52, 89, 107 Vindsvalr, W ind-Kalte 235
Vatshyrna 416 vin gtef II 354, 356 f.
Ve II 281, 290 Vingulmark II 206
vé II 116, 133, 135, 137, 141, 165, Vinheide II 17
182, 205, 255 Vinogradoff II 368
Vebjöm Vegeirson II 188, 205, Vinreid 373
206 v in s <ell 145
v e ð II 346 v irg ttla II 349

426
v irgœ II 350 Widder, s. Bock
Visbur 377, 382. II 47 Wiedergänger, s. Tod
Vishnu II 323 „Wiedergekommen“ 263, 295 f.
Vitadsgjafi II 40 W iglaf II 14, 31, 70
Voergaard II 20 Wikingkari, s. Vikingakari
Vrithra II 267, 282 Wikinger, -zeit 22 f., 26, 158, 248,
v o ir II 223 319 f., 322, 327 330, 386, 421.
Völsi-Geschidite II 236 f., 330 II 34, 42, 80, 163, 183, 191,
Völsung 61 f., 375. II 90, 112 194, 198, 228, 255, 259, 286,
Völsungasaga 61 f., 160, 240, 276, 304 ff., 325
385. II 16, 20, 35 /., 168 Wilhelm der Eroberer 140
die Völsunge 376, 383, 386, 422. Wilhelm der Rote 140
II 21, 31, 43, 90, 242, 307, 333 William von Malmsbury II 60
Völuspa 109, 158 f., 248 f., 288. II Willibrord II 114
2 2 8 f., 238 ff., 273, 284, 292 f., „Willkomm“ II 103
295, 296, 298, 3 00 ff., 322, 325, „willkommen“ heißen II 214
326, 334, 336, 338, 339 Wodan II 45
Völustein II 199 Wolf 185 f., 188, 195, 196, 207 f.,
die Völva II 296, 301 211, 218, 229, 237, 239 /., 253 f.,
Vörvi 378 258, 287, 336, 344, 351, 406,
410. II 58, 90, 131, 251, 298,
302, 315
W Wolfram II 182
Worms 385
Waberlohe, s. v a fr lo g i Worte z. B. 84 f., 87, 92, 100 f.,
Wacho 434 (310) 152 ff., 241. II 76, 81 f., 122 f.,
Wahrsage-Stäbe, s. Blotzweige 126 ff., 172 ff., 193 ff., 212, 216,
die Verordnung Waldemars 95, 96 229, 241, 350
Walhall 322, 326, 353, 422, II 168, Wulfhere 310
190, 256, 302, 308, 312 Wylfing, s. Ylfing
Walland II 40, 308 Wyn 408
Walküren 265, 322. II 44, 220, Wärend II 179
221, 302, 315, 334 w œ rtilzsk ötn in g, v œ p sk ö tn in g II
Wealtheow (134), 204, (403). (II 361, 380 (82)
14, 160, 183)
w ed II 81, 87, 346, 354 X
w e d b r o b e r II 346
Weisheitsheil 147 f., (150) Xenophon 198
Wenden 172. 174, 360
Weohstan II 31, 70 Y
Wergeid 91, 93 f., 95 f., 363 f.,
367, 368, 369, 371, 425 (94). II Yggdrasil (190), 208. II 237, 239,
57, 120, 236, 282, 285, (328), 295 ff., (241), 301, 321, (325,
366, 368 ff . 326)
toes b ale , sei heil 405. II 174 Ylfing, Wvlfing 240, 260, 273
Wessex, Westsachsen 296, 309, 422 Ymir II 238, 239, 289 ff., 334
die Westsäle 109 Ynglingasaga 240, (376 ff.), 380 ff.,
das Westgötagesetz 169 413
Wetterfähnchen II 111, 383 (111) Ynglingatal 376 ff., 412, 413. II
Wetterheil, Windheil, s. b y r s a ll 253

427
die Ynglinge 375, 382. II 37 f., Agir 37, (107), 222, 224 ff., 232.
46 f., 90, 211, 246, 252 II 286
Yngvar 379, 381 a t bel 310
Yngvi II 246, 203 Æthelbeohrt, -red 296
Yngvi Alrekson 378, 382. II 37 Æthelfrid 154. II 175
Yngvi von Upsala II 196 Æthelred 310. II 153
der Yngvi-Stamm 378, 382 Æthelstan 312, 318. II 17, 60, 73,
Yngvild Schönwange II 195 76
a t t a r b o t II 368
a t t a r s p illir II 182
Z
Zacharias 401 Ö, 0
Zahlen 356
„Zahn-Gabe“ II 44 ôgmund Akraspillir, s. Eymund
Zauber z. B. 108, 148, 187, 191, ôgm und Hrafnson 301 f.
251, 436 (340). II 22, 26, 27, ögm und Völusteinson II 200
37, 144 f., 204, 217, 338 ôgm unds Drapa II 200
Zauberer, -weiber 119, 148, 245, ö gv ald II 202
251, 335, 340 f. II 205 ögvaldsnes II 202
Zeichen II 141 ölfusvatn II 167
Ziehbruder, -sohn, -vater 239 ff., ölm od 375, 376, 384
313 ff., 360, 434 (316). II 98 f., ölm od der Alte 172 f.
125 f.; s. a. Adoption önund Bildr 264
önund Sjoni 54
önund Yngvarson 379, 381
A, Æ örlygsstad 284
örm t II 297
Achtung 185, 332, 334 ff., 341, ö rn H vrna 417
345, 348 ff., 435 (336). II 24, örvarodd II 197 f.
74, 100 f., 108, 119, 120, 122, Saga von örvarodd II 197 f.
190 Östgötagesetz II 87, 172

428
Grönbech verö ffen tlichte seine A rb eit über die K u ltu r und
Religion der Germ anen zuerst 1909 bzw. 1912. Er nahm die
religiösen Erscheinungen der V ergangenheit in einer Weise
ern st, w ie das bis dah in n u r selten geschehen w ar. A u f
an n äh ernd tausend Seiten e rw e ckte er eine W e lt w ie d e r
zum Leben, deren Ideen w ir nur aus wenigen unm ittelbaren
Zeugnissen und oft nur durch m ühselige Rekonstruktionen
kennen.
Einerseits w erd en die »Ideen« der frü h e n G erm an en be­
handelt, w ie Frieden, gesellschaftliche Stellung, die Seele,
Tod, Unsterblichkeit, doch auch Kriegsgeschehen, der K u lt­
bau, das Fest, das Opfer, das Spiel, also die in stitu tio n e lle
Seite w ird berücksichtigt.

W ilhelm Grönbech 1873-1948, dänischer U niversalgelehrter


und Klassiker des Faches Religionsgeschichte. Sein Gesam t­
w e rk reicht von einer D arstellung der altindischen K u ltu r
seit den Upanishaden über die griechische Religions- und
Geistesgeschichte, über Arbeiten zum Frühchristentum und
z u r m itte la lte rlic h e n M ystik bis in die G e g e n w a rt, z u r
Dichtung und Glaubensgeschichte des letzten Jahrhunderts.
Sein wichtigstes W erk, die Bände über »K ultur und Religion
der Germ anen«, machte seinen Namen w e it über den Kreis
der Fachw elt hinaus bekannt.

ISBN 3-8 9 6 7 8 -0 3 3 -6

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