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Kapitel
Die Macht der Nemesis und das Problem der Strafe
in Hölderlins frühem Denken
Es scheint, als wäre die Nemesis der Alten nicht sowohl um ihrer
Furchtbarkeit als um ihres geheimnisvollen Ursprungs willen als
eine Tochter der Nacht dargestellt worden.
Es ist das nothwendige Schiksaal aller Feinde der Principien, daß
sie mit allen ihren Behauptungen in einen Cirkel gerathen. (Beweis).
Im gegenwärtigen Falle würd' es bei ihnen lauten: »Straffe ist das
Leiden rechtmäßigen Widerstands und die Folge böser Handlungen.
Böse Handlungen sind aber solche, worauf Straffe folgt. Und Straffe
folgt da wo böse Handlungen sind.« Sie könnten unmöglich ein für
sich bestehendes Kriterium der bösen Handlung angeben. Denn,
wenn sie konsequent sind, muß nach ihnen die Folge den Werth der
That bestimmen. Wollen sie diß vermeiden, so müssen sie vom Prin-
cip ausgehen. Thun sie diß nicht und bestimmen sie den Werth der
That nach ihren Folgen, so sind diese Folgen — moralisch betrachtet -
in nichts Höherem begründet, und die Rechtmäsigkeit des Wider-
stands ist nichts mehr, als ein Wort, Strafe ist eben Strafe, und wenn
mir der Mechanism oder der Zufall oder die Willkür, wie man will,
etwas unangenemes zufügt, so weiß ich, daß ich bösgehandelt habe,
ich habe nun weiter nichts mehr zu fragen, was geschiehet, ge-
schiehet von Rechts wegen, weil es geschiehet.
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1
Der Entwurfscharakter des Fragments ist in diesem Falle an der schulmäßigen
Einführung »(Beweis)« STA IV, 214,6 leicht zu erkennen. - Vgl. Beissner
STA IV, 402,12.
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lich das G e p r ä g e des Gesetzlichen trägt, ist auch für den Beginn der exzen-
trischen Bahn eine gesetzlich wirkende K r a f t zu postulieren, d u r c h die die
Bewegung ausgelöst wird.« - Eben diese »gesetzlich wirkende Kraft«, die die
» A u f h e b u n g des ersten Zustandes« einleitet, ist nach d e m »Begriff d e r Strafe«
als Ü b e r t r e t u n g des moralischen G e s e t z e s zu begreifen, die zu dessen
Erkenntnis und künftigen Befolgung führen muß. - Damit stellt sich die F r a g e
nach d e r Schuld des Menschen (vgl. A n m e r k u n g 14 dieses Kapitels).
8
Vgl. L 180, Müller, S. 116/17 in bezug auf das Thalia-Fragment des Hyperion:
»Eine g r o ß e Kluft besteht zwischen seinem Denken und seinem innersten
Fühlen und Wollen. Der kurze denkerische Anlauf führt zu einer Empfindungs-
und Gefühlswelt, in der das G e d a c h t e völlig u n t e r g e h t und überflutet wird von
tieferen Sehnsüchten und stärkeren Melodien.«
Ryan hat die Beziehung der Jenaer H y p e r i o n - F r a g m e n t e zu Fichtes Philo-
sophie näher untersucht (L 213, S. 33-57). - Dem Einfluß d e r »kantisch-ästhe-
tischen Beschäftigungen« auf die Thalia-Fassung ist bisher zu wenig nachge-
gangen worden. - Beissner sagt in bezug auf die Verflechtung von Philosophie
und Dichtung bei Hölderlin d e m g e g e n ü b e r (STA III, 433,32ff.): » G a n z fraglos
hat Hölderlin an der lebendigen Philosophie seiner Zeit leidenschaftlichen
Anteil g e n o m m e n , und diese Anteilnahme ist eine d e r G r u n d l a g e n seines
Dichtens und zumal des Hyperion.«
9
Vgl. S. 102ff. dieser Arbeit.
150
10
Vgl. S. 103 dieser Arbeit und die Anmerkungen 89 und 91 zu Kapitel 3. -
(Schiller hatte in Anlehnung an Kants Text 1790 in der Thalia ähnliche Ge-
danken publiziert.)
151
kann ich bestraft werden für die Übertretung eines Gesezes das ich nicht
kannte? (IV, 215,27-28).
Es scheint, als wäre die Nemesis der Alten nicht sowohl um ihrer Furchtbar-
keit als um ihres geheimnisvollen Ursprungs willen als eine Tochter der
Nacht dargestellt worden.
Nach diesem Vorsatz, der später eingefügt ist,12 soll der Stachel der
Strafe gebrochen werden. Analog zu Schillers mythologischer Einlei-
tung in >Anmut und Würde<13 sucht Hölderlin die Abkunft der Nemesis
nicht als unberechenbare Schicksalsgewalt und damit als Ungerechtig-
keit zu deuten, sondern als schwer zugängliches, nahezu unergründli-
ches Prinzip: Nicht ihrer »Furchtbarkeit« wegen gelte sie als »Tochter
der Nacht«; ihre Rache muß somit einer vorausgegangenen Untat ange-
11
Rheinhymne, STA II, 143,46.
12
Vgl. Beissner STA IV, 735,11 f.
13
Zu Beginn von >Anmut und Würde< versucht Schiller, die »bewegliche Schön-
heit« der Anmut am Beispiel von Aphrodites Gürtel darzulegen. Er leitet da-
mit - neben Herder - eine Deutung antiker Mythen ein, die auch für Hölderlin
maßgebend wurde.
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14
Daß der »Schuld-Sühne-Gedanke an sich . . . der Hölderlinschen Welt . . .
fremd« sei - wie Allemann (L 5, S. 18) und Staiger (L 240) feststellen - wird
durch die Abhandlung über die Strafe nicht befestigt. Von den frühen Entwür-
fen her muß die Strafe als selbstverschuldet interpretiert werden, obgleich sie
andererseits mit unvermeidlicher Notwendigkeit erfolgt. Sie meint keine bare
Schicksalhaftigkeit, die nach Willkür der Götter verordnet wird, sondern sie
bleibt Index der Sittlichkeit. Wenn sie dennoch fast zwanghaft geschieht, so
daß Hölderlin im Hyperion sagen kann (STA III, 139): »Aber alles Thun des
Menschen hat am Ende seine Strafe, und nur die Götter und die Kinder trift
die Nemesis nicht«, so ist diese Unausweichlichkeit der Strafe Ausdruck der
menschlichen Schwäche, das heißt, seiner >gemischten< (sinnlich-vernünfti-
gen) Natur. Das Reich der Sittlichkeit als ein Reich des Willens kann erst über
einen unendlichen Prozeß, bei dem >Übermut< durch Strafe auszugleichen ist,
Eingang in die Realität finden. So muß »Von seines Ufers duftender
Wiese.. ilns blüthenlose Wasser hinaus der Mensch,...«(STA 1,264,29f.), um,
gleich dem Strom, seinem Schicksalsgesetz zu folgen und erst am Ende »allaus-
gleichend« mit >Vater Ozean< Versöhnung zu feiern. -Vgl. auch die Ode »Der
Frieden« (STA II, 7,25ff.).
Später freilich, nachdem es Hölderlin im »Begriff der Strafe« nicht gelun-
gen war, die Frage der Schuld prinzipiell zu klären, wirkt Strafe gleichsam als
Wachstumsreiz, als Innovation der Lebenskräfte. Sie wird zu einem Instru-
ment der >Zucht<. - Vgl. dazu die Ausführungen im Text.
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15
STA IV, 735,31 f.
16
Möglicherweise müssen die späteren Sätze von Z. 28 an: »Wir sollen etwas
nicht wollen...« nicht auf das »Factum« bezogen werden, wie ich es im fol-
genden nach dem Abdruck der Stuttgarter Ausgabe tue, sondern auf das »mo-
ralische Bewußtsein« selbst, weil Z. 25-28 (die Sätze über das »Factum«) in
der rechten Spalte nachgetragen sind (vgl. Beissner, STA IV, 736,4). Am Re-
sultat ändert das aber wenig, da in beiden Fällen Hölderlins Argumentation
auf einen Schluß von den Folgen auf die Tat hinausläuft.
17
Nach Kant wäre es unmöglich zu sagen, daß das »Sittengesetz« sich »negativ«
ankündige. Seiner sind wir uns »unmittelbar bewußt ... sobald wir uns Ma-
ximen des Willens entwerfen« (KpV A 53). Nur die Freiheit selbst kündigt
sich »negativ« an, da wir uns ihrer nur über das moralische Gesetz bewußt
werden können, »ohne sie jedoch einzusehen« (vgl. KpV, Einleitung, A 5). -
So zeigt sich auch von dieser Seite her wiederum Hölderlins sensualistisch
geprägte Moral, die von einem >moralischen Gefühl* (als Sinn) ausgeht und
deshalb in Kategorien der reinen Vernunftbestimmtheit gar nicht zu fassen
ist.
17
" Der Z. 25f. in der rechten Spalte nachgetragene Abschnitt (vgl. Beissner
STA IV, 736,4f.) weist auf den Einfluß von Fichtes Wechseltätigkeit, ohne daß
diese den zentralen Gedankengang des Fragments weiterhin bestimmte. Fich-
tes Einfluß wird überhaupt erst in den späteren Nachträgen spürbar. Mög-
licherweise greift Hölderlin erst auf ihn zurück, als er den Zirkelschluß der
>Prinzipienfeinde< selbst nicht zu umgehen weiß. Um so nachdrücklicher zeigt
sich daran, wie dringlich ihm das Problem der Möglichkeit der Erkenntnis des
Gesetzes gewesen sein muß.
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Es ist ganz und gar abwegig, diese Anerkenntnis des Leides, bei gleich-
zeitiger Rechtfertigung der Freiheit, sowie Hölderlins spätere »Demut«
vor einem umfassenden >göttlichen< Gesetz, dessen Anforderungen er
selbst nicht immer zu erfüllen vermag, als verhüllenden poetischen Chi-
liasmus aus politischer Resignation deuten zu wollen.20
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die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die
ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn, wäre nicht das moralische Gesetz
in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berech-
tigt halten, so etwas, als Freiheit ist ( . . . ) anzunehmen. Wäre aber keine Frei-
heit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.
161
25
Vgl. dazu die Ausführungen S. 159 dieser Arbeit.
26
Vgl. zum Beispiel KpV, A 54 und A 63.
162
Kant geht an dieser Stelle über eine bloß formale Bestimmung nicht
hinaus, aber es ist deutlich, daß er einen transzendentalen Weg vor-
schreibt, während Hölderlin den empirischen über die Strafe einschlägt.
- So zeigt sich im »Begriff der Strafe« noch klarer als im »Gesetz der
Freiheit«, wie unangemessen seiner sinnlichen Poetennatur Kants trans-
zendentale Erörterungen waren, auch wenn er sich ihnen nicht ver-
schließt. 27 Man darf an seine spätere, selbstkritische Bemerkung dem
Bruder gegenüber erinnern, dem Hölderlin in bezug auf seine frühe
Kant-Rezeption schreibt:
Der Geist des Mannes war noch ferne von mir. Das Ganze war mir fremd, wie
irgend einem.28
»Um den Lasterhaften als durch das Bewußtsein seiner Vergehungen mit Ge-
mütsunruhe geplagt vorzustellen, müssen sie ihn, der vornehmsten Grundlage
seines Charakters nach, schon zum voraus als, wenigstens in einigem Grade,
moralisch gut, so wie den, welchen das Bewußtsein pflichtmäßiger Handlun-
27
Daß Hölderlin die §§ 6 und 7 der KpV bei der Abfassung des Textes gegen-
wärtig waren, scheint auch das Vokabular zu beweisen: das Sittengesetz kün-
dige sich »negativ« an, sagt Hölderlin (214,24); bei Kant heißt es: »sein (des
Gesetzes?) erster Begriff« sei »negativ« (die Akad.-Ausg. verbessert in »ihr«,
der Freiheit erster Begriff, A 53). Auch das Wort »Factum« scheint Hölderlin
von A 56 aufzunehmen. Weiterhin hat wohl auch die >Grundlage zur Meta-
physik der Sitten< Hölderlin vor Augen gestanden: BA 104 ist von einem ent-
sprechenden »Zirkel« die Rede.
28
Brief Nr. 147 vom 2. November 1797, STA VI, 254,32f.
29
Vgl. Anmerkung 16 in diesem Kapitel.
163
Ferner fügt Kant hinzu, man müsse »das Ansehen des moralischen Ge-
setzes« und seinen »unmittelbaren Wert« doch »vorher schätzen«, um
»den bitteren Verweis, wenn man sich dessen Übertretung vorwerfen
kann, zu fühlen.« Deshalb sei es auch unmöglich, die »Zufriedenheit
oder Seelenunruhe« »vor der Erkenntnis der Verbindlichkeit« zu füh-
len, um sie »zum G r u n d e der letzteren zu machen«.
Eben diese Argumente sind es, zu denen Hölderlin in dem nicht mehr
vollständig überlieferten Satz ausholt, so daß man Kants Gedanken als
Kommentar zu dem intendierten Fortgang des Hölderlinschen Textes
wird lesen dürfen. Wegen dieser Schätzung des Gesetzes - >im Voraus<
- insofern man sich als bestraft betrachte(t) (StA IV, 215,29-30), nimmt
Hölderlin die Unterscheidung von Erkenntnisgrund und Realgrund aus
einem andern Kantischen Zusammenhang auf, um so schließlich doch
die Gültigkeit des Gesetzes vor der Strafe unanfechtbar zu inthronisie-
ren, so daß Strafe nur insofern Erkenntnisgrund sein soll, als sie auf die
Voraussetzung des Gesetzes verweist. Dabei läßt Hölderlin unberück-
sichtigt, daß Kant an der entsprechenden Stelle lediglich auf eine »Täu-
schung«, einen Widerspruch in der Argumentationsweise der >Prinzi-
pienfeinde< selbst aufmerksam machen möchte, ohne noch einmal zu
wiederholen, »was oben gesagt worden« (KpV A 67), nämlich daß die
Ableitung des Gesetzes von seinen empirischen Folgen die Moral im
Grunde vernichtet. Auch ist es keineswegs die Strafe, die nach Kant
notwendig »die Übertretung eines sittlichen Gesetzes begleitet«, son-
dern die »StrafWürdigkeit« (KpV A 65), so daß sich allein aus diesem
Grunde die Strafe als Erkenntnisinstrument des Gesetzes nicht eignet.
Kant will mit seinem »vorher schon« (KpV A 67) lediglich sagen, daß
über das Prinzip der Moralität bereits entschieden ist, sofern man sich
als bestraft betrachtet und von Gemütsunruhe geplagt wird, während
Hölderlin eben dieses Argument zum Anlaß nimmt, die Strafe als Er-
kenntnisgrund einzuführen. So wird erst an dieser Stelle die Raffinesse
der Hölderlinschen Beweisführung faßbar, die Kant gleichsam mit
Kantischen Mitteln zu überbieten trachtet.
Dennoch läßt die Verrückung der Bausteine im »Begriff der Strafe«
erkennen, d a ß die Frageperspektive von der Kantischen abweicht, so
daß man Hölderlins Entwurf auch wieder rechtfertigen muß, selbst
wenn sein Hantieren mit transzendentalen Versatzstücken bedenklich
bleibt.
164
30
Vgl. zu diesem Begriff im Hinblick auf Hölderlin: L 71, Doppler, S. 80ff.
31
Auch nach dem Brief vom 13. April 1795 führt das »vom Widerstande bewirk-
te Leiden zum Bewußtseyn« (STA VI, 164,84).
165
32
Vgl. zu d i e s e m Z u s t a n d der K i n d h e i t a u c h >Hyperion<, S T A III, 10: »Ja! ein
g ö t t l i c h W e s e n ist das Kind, s o l a n g es nicht in die C h a m ä l e o n s f a r b e d e r M e n -
s c h e n g e t a u c h t istVEs ist ganz, was es ist, und d a r u m ist es so s c h ö n i D e r
Z w a n g d e s G e s e z e s und des Schiksaals b e t a s t e t ( b e l a s t e t ? ) es nicht; im Kind'
ist Freiheit alleinVIn ihm ist F r i e d e n ; es ist n o c h mit sich selber nicht zerfallen.
R e i c h t u m ist in ihm; es kennt sein H e r z , d i e D ü r f t i g k e i t d e s L e b e n s nicht. Es
ist unsterblich, d e n n es weiß v o m T o d e nichts.«
33
Paul R e q u a d t h a t in L 201 auf eine B e z i e h u n g d e s >Hyperion< zu G o e t h e s
>Tasso< h i n g e w i e s e n . Sie läßt sich u n t e r d e m A s p e k t des Begriffes d e r S t r a f e
e r w e i t e r n : V o r allem 11,4 kreist um d a s P r o b l e m v o n Schuld und s t r a f e n d e r
G e r e c h t i g k e i t und zu Beginn v o n II, 5 sagt A n t o n i o :
» B e s c h r ä n k t und u n e r f a h r e n , hält die J u g e n d
Sich f ü r ein einzig a u s e r w ä h l t e s W e s e n
U n d alles ü b e r alle sich erlaubt.
E r (Tasso) f ü h l e sich gestraft, und strafen heißt
Dem Jüngling wohltun, daß der Mann uns danke.« ( H a m b . Ausg. 5 , 1 1 6 ) . . Stra-
f e e r s c h e i n t a u c h hier als das g e r e c h t e M a ß f ü r ein A b i r r e n von d e r » B a h n d e r
Sitten« (v. 1415), u n d so wie T a s s o f ü r seinen » E i g e n s i n n « (v. 2734) b e s t r a f t
w e r d e n muß, so die H ö l d e r l i n s c h e n G e s t a l t e n f ü r i h r e n » Ü b e r m u t « und »Stolz«.
- A u c h im e n d g ü l t i g e n >Hyperion<, in d e m Hölderlin die U n b e d i n g t h e i t s -
f o r d e r u n g d e r F r ü h f a s s u n g nicht m e h r teilt, m a c h t H y p e r i o n in d e m A u g e n -
blick mit d e n M ä n n e r n vom » B u n d d e r N e m e s i s « B e k a n n t s c h a f t , w o er zu
n e u e m L e b e n e r w a c h t , die » B e g e i s t e r u n g « ihn ü b e r s t e i g t und e r ins S c h w ä r -
m e n g e r ä t . Sie a b e r e r s c h e i n e n wie v o m Schicksal gestählt, eisern d e m G e b o t
d e r Pflicht g e h o r c h e n d (Vgl. S T A III, 32ff.). - A u c h d a s darf h e i ß e n : N e m e s i s
ist die M a c h t , die d e m M e n s c h e n seine G r e n z e zeigt und ihn a u f f o r d e r t , d e m
G e b o t d e r sittlichen Pflichterfüllung zu f o l g e n .
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So völlig einer Kontrolle, ja, selbst einem Nachvollzug unzugänglich, kann der
erste Zustand nicht aus dem Wunsche seiner Aufhebung vom Individuum her
beendet werden. Er muß durch das organische Wachsen des Geistes, einem
Naturzustand zufolge, sein Ende finden. Es ist die Natur selbst, die diesen
Schritt im Menschen auslöst, damit er sich vom reinen Leben zum erkennen-
den zu steigern die Voraussetzungen erwerbe. 36
Auch späterhin kann man den Abfall v o m reinen Ursprung nur als un-
vermeidliche Gegebenheit, als natürliche Austreibung, hinnehmen. 37
N o c h in der >Friedens<-Ode heißt es (StA II, 7,25f.):
Mit dieser Deutung des Sündenfalles wird die Frage der Schuld in die
des »Ärgernisses« transponiert, das nach Matthäus 18,7 unausweichlich
k o m m e n muß.
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daß sie Begierden mit Beihülfe der Einbildungskraft, nicht allein ohne einen
darauf gerichteten Naturtrieb, sondern sogar wider denselben, erkünsteln
kann, welche im Anfange den Namen der Lüsternheit bekommen, wodurch
aber nach und nach ein ganzer Schwärm entbehrlicher ja sogar naturwidriger
Neigungen, unter der Benennung der Üppigkeit, ausgeheckt wird. Die Veran-
lassung, von dem Naturtriebe abtrünnig zu werden, durfte nur eine Kleinigkeit
sein; allein der Erfolg des ersten Versuchs, nämlich sich seiner Vernunft als
eines Vermögens bewußt zu werden, das sich über die Schranken, worin alle
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Vgl. demgegenüber allerdings >Hyperions Jugend<, STA 111,234,27-29: »Ent-
schuldige sich keiner, ihn habe die Welt gemordet! Er selbst ists, der sich mor-
dete! in jedem Falle!«.
170
Durch diese Bewußtwerdung und der aus ihr sich ergebenden Kon-
sequenzen reift nach Kant der Mensch zum sozialen Wesen heran, in-
dem er 1) das Vermögen zu wählen ausbildet (A 7), 2) die Kraft entwik-
kelt, seine Triebe zu unterdrücken (A 8), 3) die Fähigkeit der »überlegten
Erwartung des Künftigen« wahrnimmt (A 9) und 4) die Erkenntnis sei-
nes Selbstzweckcharakters macht, »von jedem anderen auch als ein sol-
cher (ein Selbstzweck) geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu
andern Zwecken gebraucht zu werden« (A 10/11).
Hierin, und nicht in der Vernunft, wie sie bloß als ein Werkzeug zur Befrie-
digung der mancherlei Neigungen betrachtet wird, erkennt er die Würde des
Menschen, die ihn zum intelligiblen Wesen erhebt. Die Mühseligkeit des Le-
bens errege zwar künftig öfter den Wunsch nach einem Paradiese, dem Ge-
schöpfe (der) Einbildungskraft, um dort in ruhiger Untätigkeit und beständi-
gem Frieden sein Dasein zuzubringen; »aber es lagert sich zwischen (dem
mündigen Menschen) und jenem eingebildeten Sitz der Wonne die rastlose
und zur Entwicklung der in ihn gelegten Fähigkeiten unwiderstehlich treiben-
de Vernunft, und erlaubt es nicht, in den Stand der Rohigkeit und Einfalt zu-
rück zu kehren, aus dem sie ihn gezogen hatte. Sie treibt ihn an, die Mühe, die
er haßt, dennoch geduldig über sich zu nehmen, dem Flitterwerk, das er ver-
achtet, (nicht) nachzulaufen, und den Tod selbst, vor dem ihn grauet, über alle
jene Kleinigkeiten, deren Verlust er noch mehr scheuet, zu vergessen«. (A 12)
171
40
L 155, Löwith, S.60f.
41
Das entspricht wiederum eher Schiller und dessen Ausführungen zum Mut-
maßlichen Anfang< in der Thalia 1790. Hölderlins Beziehung zu dieser Schrift
hat auch Zinkernagel bereits klar herausgestellt (vgl. L 262, S. 45ff.).
42
»Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber ist/Am meisten das Vaterland. Die
aber kost'/Ein jeder zulezt,« (STA II, 220,6f.).
43
Vgl. auch Urtkr. 393ff.
43,1
Vgl. zu diesem Prinzip: Kant, KpV, § 3, A 40ff.
172
44
Vgl. dazu Anmerkung 35 dieses Kapitels.
45
Diese Tatsache spricht sogar noch aus dem Brief Charlottens von Kalb an
Schiller nach der Lösung des Hofmeister-Verhältnisses. Vgl. STA VII, 2,
LD 147, S. 21,27f. Sie bittet Schiller, Hölderlin behilflich zu sein, um ihn von
den Sorgen zu befreien, »die wohl seine Praktische Philosophie vermehren
würden, aber nicht die Ruhe seines Lebens.«
46
Der notwendigen menschlichen >Treue< korrespondiert in der Spätzeit die
göttliche >Untreue<, weil sie »am besten zu behalten« ist. (Freilich gibt es da
auch noch menschliche Untreue). - Während in der Frühzeit die >Lücke< im
Kulturverlauf durch die menschliche Untreue, den Sündenfall, verursacht
wird und durch die Erkenntnis des Gesetzes überbrückt werden soll, scheint
die >Lücke im We!tlauf< durch göttliche Untreue geschlossen zu werden, weil
sie uns »das Gedächtniß der Himmlischen« erhält, (vgl. Anmerkungen zum
Oedipus, STA V, 202). - Auch Doppler spricht von einer »doppelten Erschei-
nungsform des Abgrunds« bei Hölderlin, vgl. L 71, S. 113).
173
174
49
Vgl. Brief Nr. 88, STA VI, 137,90 und Kapitel 5 dieser Arbeit.
50
Vgl. dazu Piatos gleichnishafte Bestimmung des Wesens der Seele, Phaidros
246aff. und seine Ausführungen zur Beschaffenheit der beiden Seelenrosse,
253cff.
51
Die Selbstsucht des bürgerlichen Egoismus, die >l'amour propre< Rousseaus
könnte hier ebenfalls erwähnt werden.
175
176
55 M a n wird diese > Umkehr^ die m a n die > freie Umkehn n e n n e n könnte, unter-
scheiden müssen von der s p ä t e r e n , sog. > v a t e r l ä n d i s c h e n Umkehn, die Höl-
derlin in seinen » A n m e r k u n g e n « zum >Oedipus< und zur >Antigonae< entwik-
kelt (vgl. S T A V, 202f. und 271 f.). - Auch wenn e r dort die » v a t e r l ä n d i s c h e
U m k e h r « eine » U m k e h r aller V o r s t e l l u n g s a r t e n und F o r m e n « nennt ( 2 7 1 , 5 )
und andeutet, d a ß es m e h r e r e A r t e n der v a t e r l ä n d i s c h e n U m k e h n gibt
( 2 7 1 , 1 9 - 2 0 ) - die » k a t e g o r i s c h e « ist wohl eine davon (202,13) - b e d e u t e t d i e s e
s p ä t e F o r m e h e r eine U m k e h r im V a t e r l a n d bzw. eine /4Z>kehr von ihm ( v o m
» u n t e r g e h e n d e n V a t e r l a n d « spricht Hölderlin in >Das W e r d e n im V e r g e h e n <
- S T A IV, 282,2) - , w o g e g e n in d e r frühen Zeit die U m k e h r sich in der Fremde
vollzieht und auf das V a t e r l a n d hin erfolgt (vgl. T h a l i a - F r a g m e n t ,
S T A III, 164). W ä h r e n d bei j e n e r »das g r ä n z e n l o s e E i n e s w e r d e n durch grän-
zenloses S c h e i d e n sich r e i n i g e t « (V, 2 0 1 , 2 1 - 2 2 ) , führt bei dieser die a b s o l u t e
G e t r e n n t h e i t zu einer neuen Einheit (vgl. den Aufschwung der g o t t f e r n e n S e e -
len im >Phaidros<). D e r » a l l v e r g e s s e n d e n F o r m d e r U n t r e u e « dort (V, 202,5),
steht hier ein u n u m s c h r ä n k t e s Z u t r a u e n e n t g e g e n . Auch stehen sich >Verges-
sen< in der >vaterländischen< (V, 202,5 u. 7) und B e w u ß t w e r d e n durch >Erinne-
rung< (anamesis) in d e r >freien U m k e h n g e g e n ü b e r . - J e n e U m k e h r bedingt die
tragische F o r m ; diese b e g r ü n d e t e h e r die heroische. - D o p p l e r L 72, S . 79
weist in einer F u ß n o t e darauf hin, d a ß das W o r t >jezt< bei Hölderlin ein Ap-
pellativum ist und » e i n e V e r ä n d e r u n g anzeigt, den A n b r u c h d e s N e u e n « . - Es
k a n n für die >freie U m k e h n stehen.
177
56
Vgl. den ersten Brief des Thalia-Fragments (STA III, 165): »wohl dem, der sie
überstanden hat, diese Feuerprobe des Herzens, der es verstehen gelernt hat,
das Seufzen der Kreatur, das Gefühl des verlorenen Paradieses.« Nach diesen
Voraussetzungen kann man zweifeln, ob Beissners Korrektur des Anfangs der
zweiten >Hymne an die Freiheit, in der er den Indikativ des Neufferschen
Druckes nach der Abschrift der Prinzessin Auguste in einen Konjunktiv ver-
wandelt, berechtigt ist (vgl. STA 1,157 und Kommentar S. 461).
Der Dichter mag durchaus »an des Orkus Thoren« gestanden haben, sofern
er »sein Gesez« verloren hatte, das ihm nun wieder »zartes Leben« gewährt.
Auch in der 2. Str. der ersten Fassung dieser Hymne heißt es: »Sint dem
Staube mich ihr Arm entrissen« (der Arm der Freiheit). Vgl. auch das Gedicht
>Lebenslauf< (STA II, 22): »Herrscht im schiefesten Orkus/Nicht ein Grades,
ein Recht noch auch?/Diß erfuhr ich ...« - Vgl. auch die Bedeutung der »Trüm-
mer der Vorzeit« für Hölderlin; dazu L 220, Schadewaldt, S. 716.
178