JT - Das Hya Hya Mädchen

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Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Erzählungen der frühen Moderne

Philosophische Fakultät Gruppenarbeit Hanns Ewers


Institut für Neue Deutsche Literatur und Medien Frederik Mumm, Chantal Starker,
WiSe 2021/22 Elena Pires, Svenja Slabohm, Hatice Ülker

Das Hya Hya Mädchen


Die Geschichte Das Hya Hya Mädchen von Hanns Heinz Ewers ist durch die Opposition
zweier Kulturen geprägt. Gegenübergestellt werden die europäischen Werte und Normen mit
den Bräuchen des ‚Buschvolks der Indianer‘. Ebenfalls steht im Mittelpunkt der Geschichte
eine erotische Handlung, welche einen Kontaktpunkt für die beiden Kulturen darstellt und der
kranken Hauptfigur das Leben rettet. Folgend wird die Diegese sowohl auf der discours als
auch auf der histoire Ebene untersucht, um die wichtigsten Standpunkte der Geschichte
festzuhalten.
Das Subjekt ist die Summe aus dem Bewusstsein und dem Nicht-Bewussten, dem relevanten
Erzählgegenstand. In dem vorliegenden Text gibt es mehrere Möglichkeiten, wie man diese
Begriffe definieren könnte. So könnte man argumentieren, dass das Bewusstsein das ist,
woran sich der „Deutsche“ erinnert. Das Nicht-Bewusste wären dann die Erinnerungen, bei
denen er unsicher ist, ob es wirklich eine Erinnerung ist oder ob diese nicht doch aus den
Erzählungen des Arztes oder der Krankenschwester stammen. Innerhalb der detaillierten
Erläuterung der Milchsuche wird eine weitere Annahme ersichtlich. Dem Deutschen wird dort
bewusst, dass er Milch benötigt, um zu genesen. Doch ihm ist zuerst nicht bewusst, nach
welcher Milch er ein Verlangen hat, weshalb sie einige ausprobieren. Ihm wird im Laufe der
Geschichte bewusst, dass er die „köstliche Milch des Kuhbaums, die allein ihn heilen mochte“
braucht. Er hatte bereits zuvor die Milch von einem Milchbaum getrunken und dies ist genau
die Milch, die er benötigt. Nicht bewusst ist ihm jedoch, dass es einen Unterschied zwischen
den Bäumen gibt. Dies erfährt er erst später im Krankenhaus durch den Arzt. Dieser erklärt
ihm, dass er von einem Kuhbaum „in Venezuela getrunken habe, Palo de vacca von den
Indianern und Galactodendron von den Gelehrten genannt [...] –- der wachse gar nicht im
französischen Guayana“. Der hier wachsende Baum sei ein anderer, „der Milchbaum, den die
Indianer Hya-Hya, die Wissenschaftler aber Tabernamontane benennen“. Beide Bäume sind
nicht miteinander verwandt, aber die Milch des Hya-Hya Baums schmeckt nach Kuhmilch.
Die Rettung ist schlussendlich die Milch aus der Brust einer Indianerin. Über den Aspekt, ob
dem 'Deutschen' hier bewusst war, dass dies die Milch ist, nach der er sich sehnt und ob er in
diesem Moment realisierte, dass er Muttermilch trinkt, ist unklar. Es besteht auch die
Möglichkeit, dass er in seinem Fieberwahn nicht richtig mitbekommen hat, was ihm
geschieht. So sind auch seine Erinnerungen verschwommen. Jedoch hätte er auch jederzeit
seinen Kopf zurückziehen und es ablehnen können, Muttermilch zu trinken. Das Subjekt der
Erzählung, der Deutsche, der Muttermilch trinkt, hat hier ein entmoralisiertes,
entrationalisiertes Bewusstsein. Diese Normverletzung ist hier positiv semantisiert und
ereignishaft. Auch die Indianerin verletzt hier die Norm, in dem sie dem Deutschen das Leben
rettet und damit aber die „Sitten und Anschauungen [der] Buschindianer“ bricht und dafür von
ihrem Mann totgeprügelt wird.
Innerhalb des vorliegenden Textes müssen die agierenden Figuren bezüglich des Moral- und
Normenverständnisses geschlechtsspezifisch analysiert werden. Um sich noch stärker vom
Realismus zu trennen, hat sich die Ffrühe Moderne das Ziel gesetzt, Normen und die Moral
innerhalb der Gesellschaft neu zu konzipieren. Eine Normverletzung wird im Realismus
sanktioniert, in der Moderne als konstitutive Charaktereigenschaft eingestuft, die eine Figur
erst dadurch erwähnenswert macht. Dies wird auch innerhalb des zu analysierenden Textes
deutlich. Es ist besonders auffällig, dass in der Erzählung lediglich die Frauen
Normenverstöße begehen. Während der Deutsche auf seiner Reise mit Gus Martens erkrankt
und sich nach Milch sehnt, wird die christlich codierte Krankenschwester Victorine gerufen,
um Hilfestellung zu leisten. Da alle Beteiligten sich in einer verzweifelten Lage befianden,
sah sieht die Krankenschwester Victorine sich gezwungen, eine schnelle Lösung finden zu
müssen. In einem naheliegenden Dorf fand die Schwester die Hilfe, die sie suchten, sprach
sich aber gegen diese aus. Doch die Frau, die sie dort fand, entschied sich trotzdem dem
Kranken zu helfen.1 Wie bereits analysiert, begeht die Indianerin, um den Deutschen zu
retten, einen Normenbruch. Doch anders, als in der Frühen Moderne zu erwarten, wird die
Indianerin im Verlauf der Erzählung dafür sanktioniert und findet anschließend den Tod. Es
ist demnach ein großer Unterschied zwischen des dem „indianischen“ und des dem
europäischen Moralkonzepts zu erkennen. Dennoch wird die Devianz der Indianerin
unmittelbar im Erzählverhalten der Geschichte geschildert, was für die Moderne einen
Hauptbestandteil darstellt.
Neben dem Normenbruch ist erwähnenswert, dass diese weibliche Figur keinen Namen erhält,
obwohl sie für den Verlauf der Erzählung unabdinglich ist. Lediglich durch die Interpretation
des Textes durch den Leser, kann darauf geschlossen werden, dass die Indianerin das „Hya
Hya Mädchen“ verkörpert. Die Krankenschwester Victorine hat als einzige weibliche Figur
einen Namen, wird aber von dem Arzt im Krankenhaus Dariolette genannt. 2 Die Schwester
äußert sich nicht dazu und gibt dem Arzt somit die Macht, sie so nennen zu können. Die

1
Ewers, Hanns Heinz: Das Hya Hya Mädchen, S. 200f.
2
Ebd. S. 194.
2
Frauen werden lediglich auf ihr Aussehen herabgestuft und so zieht sich dieses Frauenbild im
Verlauf der gesamten Erzählung durch.3
Die Erzählung weist mehrere diegetische Räume auf, die als imaginäre Schauplätze zu
verstehen sind. Dennoch ist von Relevanz, dass die imaginären Räume mit realen
Hintergrundsräumen verknüpft werden (z.B. Guayana, Trinidad, Europa). Diese Mischform
wird auch als ontologisch hybrider Erzählraum definiert, der durch die realen
Hintergrundräume dem Leser eine geographische Verortdnung bietet, welche mit kulturellen
Rauminformationen verknüpft werden kann. Vor diesem Hintergrund wäre es somit auch
möglich, kulturelle Eigenschaften des Indianervolkesder Indigenen anhand der
geographischen Verortdnung Guayanas zu verknüpfen.
In Bezug auf die Semantisierung des Raumes gilt es vorerst topologische Oppositionen
festzumachen. Diese werden im Text vor allem durch die Himmelsrichtungen Norden und
Süden verdeutlicht. Dem Süden werden semantische Eigenschaften wie Paradies, Schätze (S.
203) und Norden für das Indianervolkdie Indigenen und die Krankheit (S. 199).
Des Weiteren sind die semantischen Auffälligkeiten ‚bBraun‘ und ‚wWeiß‘, beziehungsweise
‚bleich‘ gegenüberzustellen. So wird die Krankenschwester als bleich bezeichnet (S. 195),
was als Topologie der Europäer festzuhalten ist. Hingegen wird das Aussehen des
Hya- Hya- Mädchens mit dem Wort ‚schwarz‘ assoziiert (S. 201 große schwarze Augen,
schwarze Zöpfe). In Zuge dessen ist schwarz der Fraktion der Indianer zuzuschreiben.
An topographischen Gegensätzen sind insbesondere Berge und Wasser aufzuführen. Während
die Berge immer mit den Indianern als unfortschrittliches primitives ‚Buschvolk‘ semantisiert
werden (z.B. S. 196), ist das Meer oder Wasser immer mit europäischen Eigenschaften
beladen (z.B. Dampfer als innovative europäische Erfindung).
In diesem Sinne sind das Meer und der Dampfer als europäischer Raum in der Geschichte zu
verorten, während die Berge dem Volk der Indianer Indigenen zugehören.
Eine Ausnahme stellt das Krankenhaus dar, welches zwar durch Europäer besetzt wird (Arzt
und Schwester), aber gleichzeitig auch als Bungalow bezeichnet wird (S. 198 Bungalow in St.
Maria). Vor diesem Hintergrund ist das Krankenhaus nicht eindeutig einer semantischen
Fraktion zuzuordnen und könnte als eine Art Mischform aus beiden Oppositionen gesehen
werden. Gemäß Juri M. Lotmans kommt es in der Geschichte auch zu Grenzüberschreitungen,
weswegen von einer sujethaften Geschichte gesprochen wird. In dem die Europäer das Schiff
verlassen, um Milch für den kranken Deutschen zu suchen, findet eine restitutive
Grenzüberschreitung statt.

3
Vgl. auch S. 201: Das Aussehen der Indianerin wird zum Erzählgegenstand.
3
Wie mehrmals erwähnt, hat die Hauptfigur keinen Namen. Es gibt dennoch Attribute, die
helfen ihn zu charakterisieren und zu analysieren. Die Hauptfigur wird als „der Deutsche“4
betitelt, ist also von deutscher Abstammung und auch belesener Student.5 Er ist Goldgräber
beziehungsweise -sucher in Südamerika. Er reist viel und gerne, dies wird deutlich, als er von
dem Aufenthaltsort berichtet, auf an dem er sich befindet, während er die Geschichte
niederschreibt, auf einem Dampfer (S.195) und als er den Erzählungsgegenstand, die Reise in
Französisch-Guayana (S.196), erwähnt. Er sieht die Reise mit dem Dampfer als Möglichkeit
ein neues Leben zu beginnen (S.195), was durch den schweren Verlauf der Krankheit
unterstützt wird (S.196), denn er fühlt, als ob er gestorben und dann wieder zu leben beginnt
(S.195). Durch die Krankheit wird er schwach und musste von anderen getragen werden
(S.198), konnte nicht mehr sprechen (S.200) und außerdem bekommt er ein großes Verlangen
nach Milch (S.198), obwohl er dann auch nicht genau wusste, welche Milch er trinken wollte
(S.198). Im späteren Verlauf wird die Hauptfigur mit einem Kind verglichen (S.201), denn er
wird von einer Indianerin an der Brust gesäugt (S.201). Als er schließlich aus dem
Krankenhaus entlassen wird, in das er gekommen war, erkundigt er sich nach der Indianerin,
die ihm das Leben rettete (S.201/202), und ist dankbar und wolle sich auch bei ihr bedanken
(S.202). Eine weiter Eigenschaft, die ihm zugeschrieben werden kann, ist dass er nostalgisch
an die Frauen, die ihm bei seiner Krankheit halfen, zurückdenkt und sich ihnen verbunden
fühlt (S.203).

Im Hinblick auf die Konstitution der Diegese kann man festhalten, dass Ewers die erzählte
Welt seiner Geschichte mit der realen Welt verknüpft. Er verwendet reale Orts- und
Ländernamen, wie zum Beispiel Venezuela, Guayana, Brasilien oder das Krankenhaus in St.
Maria. Hinsichtlich der Charaktere, die Ewers beschreibt, handelt es sich um fiktionale
Figuren. Dabei verwendet dieser in der Erzählung teilweise reale Eigennamen, der fiktiven,
4
Ebd. S. 194.
5
Ebd.
4
nicht unserer realen Welt. Auffällig ist, dass dem Deutschen, welcher zugleich auch der
Kranke ist, keinen Namen zugeteilt wird, soeben auch der Indianerin nicht, obwohl beide
Figuren die Hauptbestandteile der Erzählung darstellen. Der Deutsche lebt in einer Welt, in
der es uns nicht geläufig ist, dass man als Erwachsener Mann, die Milch aus der Brust einer
Frau trinkt, auch wenn es sich bei dem Deutschen um eine Ausnahme, krankheitsbedingte
Situation handelt. Die Handlung der Figuren ist für die tatsächliche Welt sehr realitätsfern,
mit der man sich nicht identifizieren kann. Bei der Diegese der Erzählung Das Hya Hya
Mädchen handelt es sich um pluriregionale Welten. Dabei treffen zwei unterschiedliche
Weltsysteme aufeinander, die in verschiedenen Abschnitten präsentiert werden. So auch in
der Erzählung Ewers, wo der Deutsche und sein Partner Gus Martens reisen, um Gold zu
finden und dabei auf eine völlig andere Art von Kultur der Indianer stoßen. Sogar der
Krankenschwester war die neue Ansicht der Welt sehr exotisch, sodass sie nicht gerne über
das Ereignis mit der Indianerin sprach.

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