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Universität Heidelberg

Philosophisches Seminar
Vorlesung: Philosophie der Technik
PD Dr. Christian Matrin
22. 4. 21
1. Vorlesung: Ontologischer Ort der Technik und logischer Status des
Technikbegriffs
0. Organisatorisches: Erwerb von Leistungspunkten, Diskussionsmöglichkeit
1. Alltägliches Vorverständnis und vorläufige Abgrenzung von ,Technik‘
2. Analyse des Technikbegriffs:
3. Technik als ,Mittel‘ und ,Medium‘
4. Logischer Status der Begriffe ,Natur‘ und ,Technik‘ als kontrastiven
Reflexionsbestimmungen
5. ,Technik‘ im Gefüge angrenzender Begriffe
6. Leitfragen und Programm der Vorlesung
1. Alltägliches Vorverständnis und vorläufige Abgrenzung von ,Technik‘
Alltagssprachliche Sinne von ,Technik‘:
(1) Einschlägige Fähigkeiten und Fertigkeiten
(2) In Verfahrensschemata niedergeschlagene Weisen des Veränderns und
Herstellens
(3) Wissen um derartige Verfahrensschemata (,Technologie‘)
(4) Konkretes Handeln und Bewirken gemäß solcher Verfahrensschemata
(5) Die im Handeln und Bewirken eingesetzten Artefakte (Werkzeuge,
Maschinen etc.)
(6) Die Ergebnisse/Produkte derartigen Bewirkens

[nach Hubig, Technik als Medium und ,Technik‘ als Reflexionsbegriff (Ms.)]
Kant über den Unterschied von Natur, Kunst (i. w. S.) und Wissenschaft
(1) „Kunst wird von der Natur, wie Tun (facere) vom Handeln oder Wirken
überhaupt (agere) […] unterschieden, und das Produkt oder die Folge der erstern
als Werk (opus) von der letztern als Wirkus (effectus) unterschieden.
Von Rechtsswegen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit, d. i. durch
eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen.“
(2) „Kunst als Geschicklichkeit des Menschen wird auch von der Wissenschaft
unterschieden (Können vom Wissen), als praktisches vom theoretischen
Vermögen, als Technik von der Theorie […]. Und da wird auch das, was man
kann, sobald man nur weiß, was getan werden soll, und also nur die begehrte
Wirkung genugsam kennt, nicht eben Kunst genannt. Nur das, was man, wenn man
es auch auf das vollständigste kennt, dennoch darum zu machen noch nicht sofort
die Geschicklichkeit hat, gehört in so weit zur Kunst.“ [Kant, Kritik der
Urteilskraft, §43]
Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert wird das, was seitdem als ,Kunst‘ (i. e. S.)
und ,Technik‘ unterschieden wird als besondere Arten unter denselben Oberbegriff
der ,Kunst‘ (i. w. S., = gr. téchnē, lat. ars) gruppiert, wobei in MA und Neuzeit
grob zwischen ,schöner‘ und ,mechanischer‘ Kunst unterschieden wird.
2. Analyse des Technikbegriffs
Das ,Wesen‘ der Technik im Unterschied zum ,Technischen‘:

Die Technik ist nicht das gleiche wie das Wesen der Technik. Wenn wir das Wesen
des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, daß jenes, was jeden Baum als
Baum durch waltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen
Bäumen antreffen läßt. So ist denn auch das Wesen der Technik ganz und gar
nichts Technisches. Wir erfahren darum niemals unsere Beziehung zum Wesen der
Technik, solange wir nur das Technische vorstellen und betreiben, uns damit
abfinden oder ihm ausweichen. Überall bleiben wir unfrei an die Technik gekettet,
ob wir sie leidenschaftlich bejahen oder verneinen. [Heidegger, Die Frage nach
der Technik]
Technik umspannt die Dimension des Könnens (Vermögen, Fähigkeiten)
und Handelns (Akte)
Technische Fähigkeiten sind
1. selbstkonstituierend (und steigerbar) vs. natürlich gegeben (und fix)
2. selbstbewusst
Aus dem selbstkonstituierenden Charakter der Technik ergibt sich ihre
Geschichtlichkeit (=> Epochen der Technik).
Aus dem selbstbewussten Charakter ergibt sich, dass Technik (und insbesondere
dem Technischen, d. h. den technischen Erzeugnissen im unreflektierten
Gebrauch) ein implizites Selbstwissen/Selbstverständnis eingeschrieben ist.
Drei Epochen der Technikgeschichte: „Vom (1) bloßen Gebrauch der Natur im
Dienste der Lebensfristung über (2) die sich mehr und mehr steigernde Ausbeutung
der Natur als eines Energie- und Rohstofreservoirs geht die Entwicklung des
technischen Bewußtseins und Willens bis (3) zum Anspruch auf radikale und totale
Umwandlung der Natur als der bloßen materia prima der Machtausübung des
Menschen.“ [Hans Blumenberg, Das Verhältnis von Natur und Technik als
philosophisches Problem, in: Schriften zur Technik, 18]
Zur Form des Selbstwissens und Selbstverständnisses der Technik
These: Das in Technik verkörperte Wissen bzw. Selbstverständnis ist in
wesentlichen Hinsichten intuitiv (bildhaft) und empraktisch (ein Tun-, kein
Sagen-Können).
Es ist entsprechend ein unartikuliertes/unreflektiertes Wissen/
Selbstverständnis.
Mögliche Folgen des impliziten und bildhaften Charakters des der Technik
eingeschriebenen Selbstverhältnisses
(i) Das Traumartige der neuesten Technik
Der Form des neuen Produktionsmittels […] entsprechen im Kollektivbewusstsein
Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind
Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des
gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen
Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen
Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete – das
heißt aber: gegen das Jüngstvergangene – abzusetzen. […] In dem Traum, in dem
jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere
vermählt mit Elementen der Urgeschichte […]. [Walter Benjamin, Gesammelte
Schriften V.I, 46-7]
(ii) ,Dämonie‘ der Technik und Problem der Technikkritik
„Als Grundzug der technischen Sphäre enthüllt sich mehr und mehr ihre
Autonomie, die zunehmende Unverfügbarkeit für den Menschen, das Überspielen
seiner Entschlüsse, Wünsche, Bedürfnisse durch eine Dynamik der Sache […] Die
Rede von der Autonomie und Dämonie der Technik, von ihrer unentrinnbaren
Perfektion, bereitet vor und rechtfertigt die unmittelbar drohende Kapitulation vor
einer vermeintlichen Notwendigkeit. Sie verfestigt das resignierte Genügen an der
Aporie, der Verlegenheit.“ [Blumenberg, 18]
These: Im digitalen Zeitalter ist das Technische an der Schnittstelle von
realem und virtuellem Raum der Ort, an dem das ,Schicksal‘/ das ,Tragische‘
seine Wiederkehr feiert.
Das Tragische: Prozesse kollektiver Selbstzerstörung, die sich in einer
Grauzone abspielen, in der an sich beherrschbares Handeln in
unkontrollierbare Ereignisketten umschlägt.
Klassische Tragödien: Darstellung und Kritik des Tragischen (vgl. Wolfram
Ette, Kritik der Tragödie)
3.Technik als ,Mittel‘ und ,Medium‘

Dialektik von Zweck und Mittel


 Die naheliegende Annahme einer einseitigen Vorgängigkeit der Zwecke
gegenüber den Mitteln ist verfehlt.
 Vorgestellte (imaginäre) Zwecke werden erst im Zuge der Suche nach und
des Einsatzes von Mitteln zu wohlbestimmten/realen Zwecken.
 Verfügbare Mittel eröffnen ein Spielraum für das Entdecken/Ansetzen neuer,
realisierbarer Zwecke.
 Zwischen Zweckvorgaben und Mitteleinsatz besteht eine Rückkopplung, die
zur Konkretisierung beider beiträgt.
Unzulänglichkeit der Auffassung von Technik als Mittel für die Realisierung
außertechnisch vorgegebener Zwecke
 Dialektik von Zweck und Mittel (s. o.)
 Technischen Handelns kann ein selbstzweckhaftes Moment haben (statt bloßes
Mittel zur Befriedigung vorgegebener Bedürfnisse zu sein)
 Zwecke und Mittel finden sich auch auf der Ebene einzelner Gegenstände und
Handlungen. Bei Technik handelt es sich jedoch um ein selbstkonstituierendes
Vermögen handelt, das als solches nicht auf einmaligen Mitteleinsatz zielt,
sondern auf die dauerhafte Etablierung eines durch gewisse Mittel eröffneten
Handlungsspielraums.
Technik als ,Medium‘: Ein durch institutionalisierte Mittel eröffneter, sich
selbst sichernder Handlungsspielraum
Neuzeitliche Aufhebung der Unterscheidung von Gebrauch und Genuß:
„Die augustinische Formel, die das Verhältnis zur Welt auf das uti, den Gebrauch,
beschränkte, das frui, den Genuß, aber der jenseitigen Seinserfüllung als dem
absoluten Ziel vorbehielt, charakterisiert diese Sicht [sc. die mittelalterliche] aufs
deutlichste. […] Zu den entscheidenden Voraussetzungen der spezifischen
technischen und ökonomischen Entwicklung des Neuzeit gehört die Aufhebung
der Differenz von uti und frui, von Gebrauch und Genuß. Der notwendige
Gebrauch der Natur erfüllt sich als freier und in sich Genüge findender Genuß.“
[Blumenberg, 24]
Geschicklichkeit vs. Klugheit vs. Sittlichkeit - Unbestimmtheit des ,Glücks‘:
„Alle Wissenschaften haben irgend einen praktischen Teil, der aus Aufgaben
besteht, daß irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen, wie er
erreicht werden könne. Diese können daher überhaupt Imperativen der
Geschicklichkeit heißen. Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar
nicht die Frage, sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen. […]
Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (so fern
Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als wirklich
voraussetzen kann […] und das ist die Absicht auf Glückseligkeit. […] Nun kann
man die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten
Wohlsein Klugheit […] nennen. […]
Die Imperativen der Klugheit würden, wenn es nur so leicht wäre, einen
bestimmten Begriff von Glückseligkeit zu geben, mit denen der Geschicklichkeit
ganz und gar übereinkommen. […] Denn es würde eben sowohl hier, als dort,
heißen: wer den Zweck will, will auch […] die einzigen Mittel, die dazu in seiner
Gewalt sind. Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so
unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen
wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann,
was er eigentlich wünsche und wolle. [Kant, grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, BA 41-46]
4. Logischer Status und Verhältnis der Begriffe ,Natur‘ und ,Technik‘
(1) Natur und Technik sind kontrastive Begriffspaare, die nicht unabhängig
voneinander Sinn ergeben (vgl. Aristoteles, Physik B.1: ,was von Natur aus ist‘
(phýsei on) als das ,von sich her aufgehende‘ = was in sich ein Prinzip seiner
Veränderung und Reproduktion hat vs. ,was durch Kunst (téchne) ist“ = was das
Prinzip seiner Entstehung und Veränderung außer sich hat).
(2) ,Natur‘ und ,Technik‘ sind Reflexionsbegriffe: Sie bezeichnen primär
nicht disjunkte Mengen von Gegenständen, sondern erlauben es, an ein- und
denselben Dingen und Vorgängen ,gemachte‘ von nicht-,gemachten‘ Zügen
zu unterscheiden.
„Wenn wir Unterscheidungen an Gegenständen treffen, so zeigen diese
Unterscheidungen den jeweiligen Bezug von uns auf diese Gegenstände. […]
[,Natur‘ und ,Technik‘] sind Begriffe für die Konzeptualisierung von Operationen
an Gegenständen, nicht Begriffe der Unterscheidung zwischen Gegenständen. Es
wird ferner deutlich, dass ,Natur‘ in ihrer Konzeptualisierung abhängt von
,Technik‘ als primärem Reflexionsbegriff, weil sie ex negativo charakterisiert
wird. [Christoph Hubig: Technik als Medium und Technik als Reflexionsbegriff
(Manuskript)]
(3) Werden ,Natur‘ und ,Technik‘ als Reflexionsbegriffe statt als erststufige
Prädikate von Dingen, erweisen sich diese Begriffe unter gegenwärtigen
Umständen als höchst brauchbar, um das Ineinandergreifen von natürlichen
Gegebenheiten und technischem Handeln zu analysieren.
(4) Die verbreitete Behauptung, die Unterscheidung von Natur und ,Natur‘ und
,Technik‘ sei angesichts des Verschwindens ,unberührter‘ Natur obsolet
geworden, beruht auf einem Missverständnis der logischen Rolle dieser Begriffe.
5.Technik‘ im Gefüge benachbarter Begriffe
Blumenberg über das Verhältnis von Wissenschaft und Technik:
„Die Technik hat sich historisch als angewandte Naturwissenschaft konstituiert,
als konstruktive Verlängerung der Natur, und diese strukturelle Kontinuität scheint
auch Charakter und Methodik ihrer Probleme endgültig zu bestimmen. […] In
einer philosophischen Betrachtungsweise kehrt sich die landläufige Auffassung
des Folgeverhältnisses von Wissenschaft und Technik um“ [Blumenberg, Das
Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem, 17; 25]
6.Leitfragen zur Vorlesung:
Warum bilden denkende und handelnde Lebewesen wie wir überhaupt Technik
aus?
Was vermag eine philosophische Betrachtung von ,Technik‘ im Unterschied zu
einer einzelwissenschaftlichen Untersuchung zu leisten?
Welche Haupttypen der Technikphilosophie lassen sich unterscheiden?
An welchen Maßstäben orientiert sich technisches Handeln?
Wie lässt sich das Ineinandergreifen von technischem Handeln und natürlichen
Gegebenheiten analysieren?
Wie lässt sich das in der Technik verkörperte Lebens- und Weltbild am
Technischen (Werkzeug, Maschine, Automat, Apparat) selbst herausarbeiten, statt
sich äußerlich ,darüber‘ zu sprechen?
Wie lässt sich unser technisch vermitteltes Naturverhältnis immanent kritisieren?
Wie könnte ein nachhaltiges, ,kooperatives‘ Naturverhältnis aussehen?

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