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WIRTSCHAFT

KLIMAWANDEL

Mein Haus, mein Kraftwerk


Unser Leben soll so klimafreundlich wie möglich werden. Für
einige Wirtschaftszweige ist das eine extreme Herausforderung.
ZEIT ONLINE blinzelt vorsichtig in die Zukunft.
VON Marlies Uken | 14. Juni 2015 - 11:49 Uhr
© Jean-Paul Pelissier/Reuters

Eine Solaranlage in Les Mées im Süden Frankreichs

Das Wort Dekarbonisierung hatten bislang wohl die wenigsten Menschen in ihrem aktiven
Wortschatz. Das soll sich ändern: Im Laufe des Jahrhunderts – also spätestens bis zum
Jahr 2100 – wollen die wichtigsten Industrienatione n eine kohlenstoffarme Weltwirtschaft
schaffen, um so die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern.

Aber wie würde eine solche Welt aussehen? Natürlich ist es vermessen, technische
Entwicklungen auf 80 Jahre vorauszusagen. Im Jahr 1930 hat beispielsweise niemand
die Existenz eines Smartphones für möglich gehalten. Aber einige grundsätzliche
Entwicklungen lassen sich schon heute abschätzen. ZEIT ONLINE stellt die wichtigsten
vor:

Strom:

Erneuerbare Energie, die Verpressung von Kohlendioxid in den Untergrund (CCS) und
Atomstrom: Das sind die drei klassischen Optionen, wenn unser aktuelles Stromsystem auf
so wenig CO2-Emissionen wie möglich umgestellt werden soll. "Der Umbau von fossil
zu Erneuerbaren ist nicht erst bis zum Jahr 2100, sondern in Ländern wie Deutschland
wahrscheinlich schon bis 2050 oder 2060 machbar", sagt Manfred Fischedick vom
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie.

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Die Alternativen CCS und Atomstrom halten indes viele Fachleute für zu teuer.
Kohlekraftwerke, in denen CO2 abgeschieden wird und unter Tage verpresst wird,
kosten extrem viel. Ähnlich die Atomkraft: Bislang wurde noch kein Kernkraftwerk ohne
staatliche Zuschüsse gebaut. Außerdem fehlt es in Deutschland zunehmend an Expertise,
weil immer weniger junge Menschen in die Branche einsteigen.

Aber welcher Ökostrom setzt sich durch?

Solarstrom:

Dass wir unseren Solarstrom im Jahr 2100 von einem Solargürtel auf dem Mond erhalten,
wie es ein japanischer Baukonzern einst geplant hat, ist unrealistisch. Aber in der
Solartechnologie steckt noch sehr viel Potenzial. Im Labor stellen Wissenschaftler immer
neue Rekorde auf. Solarzellen erzielen dort eine vergleichsweise hohe Ausbeute, wandeln
teilweise mehr als 40 Prozent der Sonnenenergie in Elektrizität um. Zum Vergleich: Die
Standardzellen auf dem Hausdach kommen bislang nur auf etwas mehr als 20 Prozent. Mit
technischem Fortschritt werden Solarzellen auch immer günstiger, in sonnigen Regionen ist
Solarstrom schon jetzt billiger zu produzieren als Strom aus Kohle oder Gas.

Glaubt man Szenarien von Greenpeace, dann könnte sich eine sparsame Familie mit
einem Verbrauch von 2.000 Kilowattstunden Strom pro Jahr bald mit einer Solarzelle
selbst versorgen, die knapp so groß ist wie eine Doppelflügeltür. "Solarzellen werden
signifikant weniger Fläche brauchen und sind im Vergleich zu Windrädern technisch
weniger anfällig", sagt Greenpeace-Experte Sven Teske. Auch in Sachen Speicherung
ist vieles in Bewegung. So setzt gerade Tesla die Branche mit seiner Fabrik für eine
Superbatterie enorm unter Innovationsdruck.

Nur: Der privat erzeugte Solarstrom gefährdet das klassische Geschäftsmodell der
Energieversorger. Wenn immer mehr Eigenheimbesitzer selbst Solarstrom erzeugen und
speichern können, warum sollten sie dann noch einen Vertrag mit einem Stromkonzern
abschließen? Teske geht davon aus, dass es keine 20 Jahre mehr dauern wird, bis
Unternehmen wie RWE und E.on in ihrer jetzigen Form verschwunden sind.

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© Altaeros Energies

Prototyp eines fliegenden Windrads

Windenergie:

Für Windräder gibt es die wildesten Ideen: mit einem Flügel, mit gar keinem Flügel
oder gar fliegend, wie im Bild oben. Aber am Ende wird es wohl vornehmlich beim
klassischen Design "Turm mit drei Flügeln" bleiben – unter physikalischen Aspekten
hat es sich bestens bewährt. Bei guten Windverhältnissen produzieren Windräder schon
heute günstiger Strom als fossile Kraftwerke. Und die Leistung steigt stetig. Ein positiver
Nebeneffekt: In dicht besiedelten Regionen muss nicht unbedingt mehr Fläche bereitgestellt
werden. Stattdessen werden alte Windräder durch neuere, leistungsfähigere ersetzt. In
diesem sogenannten Repowering sehen Fachleute ein großes Geschäft.

Und auf See? "Offshore-Windstrom muss noch viel günstiger werden", sagt Fischedick.
Nur dann könne er mit Solar- und Onshore-Windstrom mithalten. Schwimmende Offshore-
Windparks könnten im Jahr 2100 gerade die Megacitys in Küstenlage versorgen, wo es nur
wenig Platz, aber einen hohen Strombedarf gibt.

Meeresenergie:

Ob Tidekraftwerke, Wellenkraftwerke oder eine Art Windräder unter Wasser: Es gibt


spannende Ideen zur Stromerzeugung auf See. Allerdings sind diese Prototypen nicht
überall einsetzbar. Nicht jedes Meer, nicht jede Bucht eignet sich von den geografischen
Bedingungen her für die Technologien. Für manche Regionen wie Schottland oder Irland
könnten sie aber eines Tages relevante Mengen Strom produzieren.

Biomasse:

Strom aus Biogas wird es sicherlich weiter geben – einfach weil es keinen Sinn macht,
auf die Energieerzeugung etwa aus Bioabfällen zu verzichten. Aber das Potenzial ist

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begrenzt: "Biomasse wird aufgrund der Nutzungskonkurrenzen für den Energiebereich eine
Übergangstechnologie sein", sagt Fischedick. Die landwirtschaftliche Fläche reiche einfach
nicht aus, um im Jahr 2100 zehn Milliarden Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen und
zugleich noch Biosprit für die gesamte Autoflotte zu produzieren.

Netzausbau:

Für alle erneuerbaren Energien gilt: Die Infrastruktur muss mitziehen. Nicht nur in
Deutschland bedeutet das mehr Stromleitungen, vielleicht gar Erdkabel. Europa muss sich
besser vernetzen und am besten noch Stromleitungen nach Afrika bauen, wo im großen
Stil Ökostrom produziert werden könnte. Das Ziel: Die alternativen Energien werden da
produziert, wo sie am günstigsten sind. Anschließend werden sie verteilt. Am Ende könnte
Deutschland Solarstrom aus Afrika importieren.

Das Stromsystem umzubauen heißt aber auch, dass sich Verbraucher anpassen müssen.
Privathaushalte und Industriebetriebe fragen dann Strom nach, wenn er wegen eines
großen Angebots besonders günstig ist. Und warum sollte ein Großverbraucher wie BASF
nicht Teile der stromintensiven Produktion dorthin verlagern, wo Ökostrom günstig ist,
etwa nach Schleswig-Holstein? Oder gar in den sonnenreichen Süden Europas? "Diese
Entscheidungen werden gesellschaftspolitisch natürlich hoch umstritten sein", sagt
Greenpeacer Teske.
© Tumbleweed Tiny House Company

Tiny House eines US-Anbieters

Heizen:

Neue Häuser sind heute oft schon sehr energieeffizient. Manch eine Immobilie gleicht
einem kleinen Kraftwerk und produziert mehr Ökostrom als die Bewohner verbrauchen.
Aufgrund der sehr strengen Vorgaben könnten solche Energieplushäuser mittelfristig zum
Standard werden. Aber wer weiß, vielleicht wird auch das Downsizen beliebter: Schon
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jetzt gibt es in den USA das Tiny House Movement . Die Bewohner setzen nicht nur aus
finanziellen Gründen auf kleine Häuser wie das oben im Bild, sondern auch wegen des
Ressourcenschutzes.

Die große Herausforderung ist der Altbestand an Immobilien. Wir heizen heute größtenteils
mit Gas und Öl, die Dächer und Fenster sind schlecht gedämmt. Heizen, Duschen und
anderer Warmwasserbedarf verbrauchen rund 40 Prozent der Endenergie. Doch die
Begeisterung der Deutschen, an der Energieschleuder Haus etwas zu ändern, ist gering.
Die Sanierungsrate liegt bei homöopathischen ein Prozent. Dabei gibt es schon heute
gute Konzepte dafür. So könnten beispielsweise Häuser und ganze Wohnviertel an
Fernwärmenetze angeschlossen werden, um anfallende Energie aus Kraftwerken möglichst
effizient zu nutzen. Wollen Hausbesitzer sich selbst versorgen, wird das wohl elektrisch
funktionieren: Wärmepumpen sorgen dafür, dass mit Erdwärme die Wohnung geheizt wird.
"Im Gebäudesektor wird sich Strom zum Heizen durchsetzen", ist Fischedick sicher.

Industrie:

Eine besonders große Herausforderung wird es sein, die Industrie CO2-frei zu machen.
Denn die Energiewende in Deutschland lässt sich kaum als Vorbild für andere Länder
anpreisen, wenn mit ihr eine Deindustrialisierung verbunden ist. Es mag abgedroschen
klingen, aber: Damit das klappt, muss die Produktion vor allem effizienter werden. Beim
Energieeinsatz ist sie das aus Kostengründen schon jetzt. Aber bei Verpackungen und
eingesetzten Materialien gibt es noch erhebliches Potenzial. Vielleicht werden wir im Jahr
2100 im Alltag viel puristischere Produkte erleben: Verpackungen sind auf das Nötigste
reduziert, lassen sich leichter wieder- und weiterverwenden. Fischedick ist sich sicher,
dass wir künftig viel mehr Dinge gemeinsam nutzen werden. Die share economy werde so
Realität.

Übrig bleiben Wirtschaftszweige, die nur sehr schwer zu dekarbonisieren sind. Dazu
gehört unter anderem die Stahlproduktion. Hier fallen große Mengen CO2 an, das bringt
die unvermeidliche, chemische Reaktion in der Kokerei einfach mit sich. Auf Stahl zu
verzichten, ist aber keine Lösung, im Gegenteil: Die Energiewende wird den Bedarf
sogar noch erhöhen – ein Windrad ist ohne Stahl nicht denkbar. Schon jetzt wird an
Alternativverfahren geforscht, bei denen weniger CO2 anfällt. Welches sich durchsetzt?
Völlig offen.

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© Baushaus Luftfahrt

Konzeptstudie eines vollelektrischen Flugzeugs des Forschungsverbunds Bauhaus Luftfahrt

Die größte Herausforderung wird darin bestehen, die Mobilität bis zum Jahr 2100 grün zu
machen. Denn flüssige Treibstoffe wie Benzin, Diesel und vor allem Kerosin haben eine
extrem hohe Energiedichte. Diese zu ersetzen, fällt bislang noch schwer.

Autos:

"Auf dem Boden ist der Trend klar: Es geht Richtung Elektromobilität", sagt Jos Dings
vom Dachverband Transport and Environment. Es gibt zwei Alternativen: entweder
Elektroautos wie Tesla, die schon heute produziert werden, oder synthetische, mithilfe von
Ökostrom erzeugte Kraftstoffe, die in Verbrennungsmotoren eingesetzt werden. Doch für
die Wasserstoffherstellung braucht man beispielsweise enorm viel Strom – und in einer
CO2-armen Welt muss das natürlich Ökostrom sein. Auch die Materialien werden sich
ändern. Autos werden aus extrem leichten, aber festen Materialien wie Carbon hergestellt.

Flugzeuge:

Bei Siemens in München ist man sich sicher, dass Fliegen grüner werden kann. Dabei
sind Flugzeuge – aber auch extrem große Containerfrachter und Öltanker – große
Klimaverschmutzer. Ihr Kraftstoffverbrauch ist riesig, der CO2-Ausstoß hoch. In
konventionellen Flugzeugen sind die Motoren und Turbinen auf maximale Leistung
ausgelegt. Diese aber braucht man lediglich beim Auf- und Abstieg, im Flugverlauf reichen
60 Prozent. Frank Anton entwickelt für Siemens elektrische Flugantriebe. Er ist sich sicher,
dass es in einigen Jahrzehnten Flugzeuge gibt, die 200 Passagiere transportieren können,
bis zu 1.000 Kilometer fliegen und von einem hybriden Elektromotor mitangetrieben
werden . So ließen sich bis zu 50 Prozent Kraftstoff einsparen.

Und wie sehen die neuen Flieger aus? Am Bauhaus-Luftfahrt-Institut beschäftigen


sich Wissenschaftler mit dem Design der Zukunft. Das grundsätzliche Aussehen von
Flugzeugen stellen sie jedoch nicht infrage: Ein langer Rumpf und zwei Flügel (wie die
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Konzeptstudie oben im Bild zeigt), das ist der Klassiker. "Innovationen passieren hier
extrem langsam", sagt Dings von Transport und Environment. Das liege auch daran,
dass es bislang kaum finanzielle Unterstützung für Innovation und Druckmittel wie eine
Kerosinsteuer gebe.

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ADRESSE: http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-06/klimaschutz-dekarbonisierung

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