Fossile Treibstoffe zu ersetzen, ist wegen des Ukraine-Kriegs noch dringlicher geworden. Doch für Autos oder zum Heizen ist Wasserstoff die falsche Alternative. Christian Speicher (Text), Jonas Oesch (Grafik) 30.06.2022, 05.30 Uhr
Vor kurzem wurde in Puertollano im Süden Spaniens Europas grösste Anlage
zur Herstellung von grünem Wasserstoff für industrielle Zwecke in Betrieb genommen. Sie kann pro Jahr 3000 Tonnen Wasserstoff produzieren. Angel Garcia / Bloomberg
Ohne Wasserstoff geht in Zukunft gar nichts mehr. Das ist
zumindest die Überzeugung der Europäischen Kommission. In einem Bericht hat sie vor zwei Jahren dargelegt, dass der Weg der EU in eine klimaneutrale Zukunft ohne Wasserstoff kaum zu schaffen ist. Der Energieträger soll dabei helfen, jene Wirtschaftssektoren zu dekarbonisieren, die sich nicht direkt elektrifizieren lassen. Und es gibt ein weiteres Argument für Wasserstoff: Er ist eine Alternative zu russischem Erdgas.
Dass man in Zukunft mehr Wasserstoff benötigen wird als
heute, ist unbestritten. Kritiker befürchten allerdings, dass die Politik über das Ziel hinausschiessen könnte. Der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur dürfe nicht vom vorrangigen Ziel ablenken, die erneuerbaren Energien möglichst rasch auszubauen.
Vielseitig verwendbarer Wasserstoff
Tatsächlich gibt es viele Bereiche, in denen Wasserstoff fossile
Energieträger ersetzen könnte. In Verbindung mit einer Brennstoffzelle lassen sich mit ihm Autos und Lkw antreiben. Verbrennt man das Gas, kann man Gebäude heizen und Wärme für industrielle Prozesse erzeugen. Aus Wasserstoff und CO2 lassen sich synthetische Treibstoffe für den Schiffs- und Flugverkehr herstellen. Die chemische Industrie braucht Wasserstoff, um beispielsweise Düngemittel zu synthetisieren. Und nicht zuletzt eignet sich Wasserstoff zur Speicherung von erneuerbaren Energien.
Wer solche Anwendungen propagiert, geht meist
stillschweigend davon aus, dass der Wasserstoff der Zukunft grün ist. Das heisst, dass er durch die Spaltung von Wasser mit erneuerbarem Strom – also ohne Emissionen von CO2 – gewonnen wird. Die Realität sieht allerdings anders aus. Laut einem Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA) wurden im Jahr 2020 weltweit 90 Millionen Tonnen Wasserstoff produziert. Davon waren weniger als 0,1 Prozent grün. Verschiedene Arten, Wasserstoff herzustellen Der weitaus meiste Wasserstoff wurde 2020 aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Pro Tonne Wasserstoff fallen hierbei zehn Tonnen CO2 an, die in der Regel in die Atmosphäre entweichen. Aus naheliegenden Gründen nennt man den so produzierten Wasserstoff grau, um ihn vom grünen zu unterscheiden. Er verursachte 2020 CO2-Emissionen von 900 Millionen Tonnen. So viel CO2 emittieren Grossbritannien und Indonesien pro Jahr gemeinsam.
Im Prinzip gibt es zwar die Möglichkeit, den grauen
Wasserstoff CO2-ärmer zu machen, indem man einen Teil – 90 Prozent oder mehr – des bei der Produktion anfallenden CO2 einfängt und unter der Erde speichert. Man spricht dann von blauem Wasserstoff. Doch das passiert derzeit nur selten. Mengenmässig machte der blaue Wasserstoff im Jahr 2020 nur 0,7 Prozent aus. Damit steht er kaum besser da als der grüne. Grüner Wasserstoff benötigt viel Strom
Das muss sich ändern, wenn Wasserstoff – Hand in Hand mit
der Elektrifizierung und der Steigerung der Energieeffizienz – zur Dekarbonisierung der Wirtschaft beitragen soll. Die IEA geht davon aus, dass man im Jahr 2050 gut sechsmal so viel Wasserstoff wie heute benötigt. Dieser muss fast ausschliesslich grün oder blau sein, wenn man die Emissionen auf null zurückfahren möchte. Die Produktion von grünem und blauem Wasserstoff müsste rapide ausgebaut werden
Quelle: IEA NZZ / joe.
Dafür müssten jedes Jahr 1,5 Milliarden Tonnen CO2 eingefangen und unter der Erde gespeichert werden. Zudem brauchte man für die Spaltung des Wassers 15 000 Terawattstunden erneuerbaren Strom. Das entspricht ungefähr 60 Prozent des weltweiten Strombedarfs im Jahr 2019. Andere Studien gehen sogar von einem noch höheren Strombedarf aus.
Verzögert Wasserstoff die Energiewende?
Diese Dimensionen bereiten dem Klimapolitik-Experten
Anthony Patt von der ETH Zürich Sorgen. «Wenn man schlau ist, versucht man die Nutzung von Wasserstoff zu vermeiden.» Stelle man mit Strom Wasserstoff her und wandle diesen dann in Antriebskraft oder Wärme um, gehe viel Energie verloren, so Patt. Wann immer möglich, sei deshalb die direkte Elektrifizierung vorzuziehen. Der Wasserstoff solle nur dort zur Anwendung kommen, wo es keine sinnvollen Alternativen gebe.
Nicht so schlau findet es Patt zum Beispiel,
Brennstoffzellenfahrzeuge auf die Strasse zu bringen, obwohl es mit Elektroautos eine bessere Alternative gibt. Selbst im Schwerlastverkehr sieht er langfristig keinen zwingenden Grund für Brennstoffzellenfahrzeuge.
Auch dem Heizen mit Wasserstoff steht Patt skeptisch
gegenüber. Mit Strom betriebene Wärmepumpen seien viel effizienter als Heizkessel, in denen Wasserstoff verbrannt werde. Zudem brauche es eine neue Infrastruktur, um den Wasserstoff auf die Haushalte zu verteilen. Das Stromnetz bestehe hingegen schon und könne parallel zum Ausbau der Erneuerbaren erweitert werden. Patt befürchtet, dass die Energiewende verzögert werden könnte, wenn man Wasserstoff in Bereichen einsetzte, wo eine Elektrifizierung effizienter wäre. Steige die Nachfrage nach grünem Wasserstoff schneller als das Angebot, bestehe die Gefahr, dass statt dessen blauer oder sogar grauer verwendet werde. Damit sei der Energiewende nicht gedient.
In einem Blogbeitrag bezichtigte Patt kürzlich die Öl- und
Gasindustrie, bei der EU mit allen Mitteln für eine Wasserstoffinfrastruktur zu lobbyieren. Die Industrie sehe im Wasserstoff die letzte Gelegenheit, ihr Geschäftsmodell ins postfossile Zeitalter zu retten.
Dass die Versorgung mit Wasserstoff ineffizient und
vergleichsweise teuer ist, bestreitet auch Tom Kobler nicht. Der Leiter der Forschungsgruppe Energiewirtschaft am Paul- Scherrer-Institut in Villigen hat mit anderen Forschern untersucht, welche Massnahmen nötig sind, um die CO2- Emissionen der Schweiz bis 2050 auf null zu senken. Schon aus Kostengründen habe die direkte Elektrifizierung ganz klar Priorität, so Kobler. Ganz ohne Wasserstoff werde es aber nicht gehen.
Anders als Patt sieht Kobler keinen Konflikt zwischen
Wasserstoff und Elektrifizierung. Idealerweise würden sich diese ergänzen. Als Langzeitenergiespeicher könne Wasserstoff die Integration von erneuerbaren Energien ins Netz erleichtern, sagt Kobler.
Für Schiffe und Flugzeuge braucht es Wasserstoff
Wie eine Nutzung von Wasserstoff aussehen könnte, die nicht von Wunschdenken und wirtschaftlichen Interessen geprägt ist, hat sich auch der in Deutschland beheimatete Think-Tank Agora Energiewende gefragt und dazu 12 Thesen formuliert. Die Autoren der Studie empfehlen, sich auf sogenannte No- Regret-Anwendungen zu beschränken.
Wo braucht es wirklich Wasserstoff?
Kaum vermeidbar Vermutlich vermeidbar Vermeidbar
Kaum Dünger, Stahlproduktion, Langstrecken-Luft- und -
vermeidbar Schiffsverkehr, Fernwärme, Langzeitspeicher für Erneuerbare
Vermutlich Hochtemperatur-Wärme, Lkw, Kurzstrecken-Luft- und -
vermeidbar Schiffsverkehr
Vermeidbar Pkw, einzelne Gebäude
NZZ / joe.
Zu diesen alternativlosen Anwendungen zählen die Autoren
die industrielle Herstellung von Stahl und Düngemitteln, den Schiffs- und Flugverkehr über lange Strecken sowie die Langzeitspeicherung von erneuerbaren Energien. Nicht empfehlenswert seien hingegen das Heizen von einzelnen Gebäuden, der Antrieb von Pkw und kleineren Nutzfahrzeugen sowie die Erzeugung von Niedertemperaturwärme für die Industrie. Dazwischen tue sich ein weites Feld von Anwendungen auf, über die man streiten könne, sagt Matthias Deutsch, der Hauptautor der Studie.
Die zukünftigen Anwendungen bestimmen, welche
Wasserstoffinfrastruktur man braucht. Deshalb argumentiert Agora, die Infrastruktur entlang der No-Regret-Anwendungen zu entwickeln, um das Risiko späterer Investitionsruinen zu minimieren.
Das bestehende europäische Erdgasnetz sei hierarchisch
aufgebaut. Man könne es sich als Autobahnen, Landstrassen und innerstädtischen Verkehr vorstellen, erklärt Deutsch. Die Gasautobahnen werde man auch in Zukunft verwenden können, um die industriellen Zentren mit Wasserstoff zu versorgen. Dafür müssten die Leitungen so umgerüstet werden, dass sie reinen Wasserstoff transportieren könnten. Auch müsse man neue Wasserstoff-Pipelines bauen.
Für Teile der Landstrassen und den Stadtverkehr zu den
privaten Haushalten gebe es hingegen keinen Bedarf mehr, wenn man sich auf die No-Regret-Anwendungen konzentriere. In der Studie wird deshalb vorgeschlagen, die Gasverteiler auf das Ende ihres bisherigen Geschäftsmodells vorzubereiten.
Ohne politische Instrumente ist grüner Wasserstoff
zu teuer
Gleichzeitig regen die Autoren an, die No-Regret-
Anwendungen gezielt zu fördern. Die grüne Wasserstoffökonomie komme nicht von allein, so Deutsch. Selbst bei steigenden CO2-Preisen dauere es zu lange, bis grüner Wasserstoff günstiger als grauer sei. Deshalb brauche man zusätzliche politische Instrumente, etwa Klimaschutzverträge für die Industrie, mit denen die Mehrkosten für erneuerbaren Wasserstoff gegenüber der konventionellen Produktion abgesichert würden. Die Option, Wasserstoff in einer Übergangszeit aus Erdgas zu gewinnen und das dabei anfallende CO2 abzutrennen und zu speichern, beurteilt Deutsch skeptisch. Durch den explodierenden Erdgaspreis sei blauer Wasserstoff deutlich unattraktiver geworden und ohnehin nur unter sehr strengen Emissionsauflagen denkbar. Umso mehr müsse man sich nun auf jene Anwendungen konzentrieren, für die es keine Alternative gebe, und dafür die Produktion von grünem Wasserstoff rasch ankurbeln.
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