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Musikalische Sozialisation

Inhalt
1. Begrifflichkeit Sozialisation.............................................................................................................1
2. Versuch einer Begriffsdefinition von musikalischer Sozialisation...................................................1
3. Bedingungsvariablen musikalischer Sozialisation und ihr Einfluss im Lebensverlauf.....................2
4. Ableitung bedeutsamer Faktoren für musikalische Entwicklung....................................................4
5. Bedeutsamkeit der sozialisationstheoretischen Erkenntnisse im Hinblick auf
entwicklungsförderliche Gestaltung des Musikunterrichts....................................................................4

1. Begrifflichkeit Sozialisation

- Sozialisation: lebenslanger Prozess des aktiv-passiven Hineinwachsens in Gesellschaft und


Kultur
- Frühere Sozialisationsansätze: Menschen unterliegen Umwelteinflüssen und passen sich
diesen an, Durkheim 1907: Prägung der menschlichen Persönlichkeit durch gesellschaftliche
Bedingungen
- Aktuelle Sozialisationsansätze: Sozialisation als Prozess einer wechselseitigen Person-
Umwelt-Beziehung (Hurrelmann & Bauer 2015)
- Wegweiser für diese Ansicht: In 80er „Modell des produktiv realitätsverarbeitenden
Subjekts“ von Hurrelmann 1983: betont aktive und produktive Verarbeitungsleistung des
Individuums bei Wahrnehmung und Gestaltung seiner sozialen und materialen Umwelt
- Vollzieht sich über informelle und formelle, unbewusste und bewusste Lernprozesse, die zu
bestimmten (wiederholten) Verhaltensweisen und motivationalen Dispositionen des
Individuums führen

2. Versuch einer Begriffsdefinition von musikalischer Sozialisation

o Ältere Sozialisationstheoretische Auffassung: Menschen unterliegen Einflüssen und


passen sich Umwelt an
o Neuere Ansätze gehen davon aus, dass sich Ki + Jug aktiv eigene musikalische
Umwelt schaffen
- Gembris 1987:
o (Lern-)Prozeß, in dem ein Individuum in eine Musikkultur hineinwächst, seine
musikalischen Fähigkeiten und Verhaltensweisen in Interdependenz zur sozialen,
kulturellen und materiellen Umwelt entwickelt und anpaßt. Lernprozeß,
eingebettet in übergeordnete regionale, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte, ist
gekennzeichnet durch Imitation sowie durch positive und negative Verstärkung
- Bruhn & Rösing (1993)
o Sozialisationsprozess beeinflusst nachhaltig musikbezogene Verhaltensweisen und
Handlungen
- Steinbach 2018:
o Auf Musik bezogene Entwicklung des Individuums
o Menschen entwickeln im Laufe musikalischer Sozialisation persönliche Kompetenzen
und Handlungsweisen zum rezeptiven und produktiven Umgang mit Musik
o Art und Ausprägung der Sozialisationsprozesse abhängig von vorhandenen
materiellen Möglichkeiten und sozialer Umwelt sowie verfügbaren Musikangebot
- Kraemer 2007:
o aus gesellschaftlicher Sicht: Bereitstellung eines Angebotes an Situationen die den
differenzierten und angemessenen Umgang mit Musik ermöglichen
- Kleinen: für beide Sozialisationsansätze (Individuen unter Einfluss der Umweltfaktoren
wachsen heran/ Individuen bedienen sich im Zuge ihrer Entwicklung aller möglichen
Anregungen, um persönlichen Lebenswelten aktiv zu gestalten) finden sich zahlreiche Belege
in der musikpsychologischen, musiksoziologischen und kulturwissenschaftlichen Diskussion
o bei erster Position werden demographische Variablen wie Alter, Geschlecht,
Schulbildung, beruflicher Status, Wohngebiet sowie ethnische und soziale Herkunft
für Eigenart der musikalischen Sozialisation verantwortlich gemacht
o bei zweiter Position geht man von Vorstellung einer größtmöglichen Autonomie des
Individuums aus, das Umwelt als unerschöpfliches Reservoir von Anregungen,
Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven betrachtet, aus dem es sich frei bedient
- nach Kleinen (2008) kann die musikalische Sozialisation einer Person in erster Linie an ihren
musikalischen Präferenzen „abgelesen“ werden
- auch musikalische Fähigkeiten, Aktivitäten, individuelle Hör- und Nutzungsgewohnheiten,
Rituale, Wirkungen und Funktionalisierungen von Musik immer Ergebnisse musikalischer
Sozialisation und unter Umständen Art und Qualität der eigenen Musikausübung

3. Bedingungsvariablen musikalischer Sozialisation und ihr Einfluss im Lebensverlauf

- Variablen, die musikalische Sozialisation des Individuums beeinflussen:


o Familie (Bildung und sozioökonomischer Status)
o Institutionen, die Individuum durchläuft (KiGa, Schule, Lehre, HS)
o Massenmedien, die es nutzt (Zeitung, Hörfunk, Fernsehen)
o Umwelt und Rahmenbedingungen, innerhalb derer sein Leben sich abspielt
(geografische Lage, soz. Milieu, Freundeskreis)
o Personenbezogene Variablen (Lebensalter, Geschlecht, Veranlagung)
- Hier empfangen sie Anregungen, lernen spezifische V-Muster (z.B. bestimmte
Umgangsweisen mit Musik) und Wertvorstellungen kennen (z.B. Musikpräferenzen)

wichtigste Sozialisationsinstanzen: Familie, Schule, Peers und Medien

- während ersten Lebensjahre nimmt Familie als primäre Sozialisationsinstanz unter


musikalischen Sozialisationsakteuren hohen Rang ein:
o in Kindheit Eltern als Modellpersonen, an denen sich Kinder orientieren
o welchen Stellenwert hat Musik (wird z.B. Radio regelmäßig eingeschalten? Läuft
Musik unbeachtet nebenher? Werden Instrumente gespielt und wird regelmäßig
geübt, Konzerte besucht? Wie viel Zeit für musikalische Interessen und Aktivitäten
aufgewendet?)
o Bastian (1989) verwies bereits in seiner Studie aus 90ern darauf, dass die beim
Wettbewerb „Jugend musiziert“ erfolgreichen TN aus bildungshohen und fördernden
Familien stammten  Eltern als Auslöser des Instrumentalspiels, suchen
baldmöglichsten Kontakt zu qualifizierten Lehrern und investieren viel Zeit für Hobby
ihres Nachwuchses
o Bastian 1992: Wunsch, Instrument zu spielen, kommt meist dort auf, wo Musik im
täglichen häuslichen Leben hohen Stellenwert hat und wenigstens ein Elternteil
selbst Instrument spielt
o Shuter-Dyson 1993: musikbezogenes Interesse und Engagement im Elternhaus
fördert und beschleunigt Einstieg der Kinder in westlich-europäische Musik
o Creech (2016) fasst Studienergebnisse zusammen: Kinder aufgeschlossener für
Musik, wenn sie von Eltern mit musikalischer Vielfalt konfrontiert werden,
musikalische Entwicklung nicht nur vom musikalischen, sondern auch vom
sozioökonomischen Hintergrund der Eltern abhängig, aktive elterliche Begleitung des
Musikschulunterrichts und des Übens positiv auf musikalischen Erfolg der Kinder
wirkt
o Kinder nehmen häufiger Instrumentalunterricht, wenn Eltern selbst musizieren, in D
spielen etwa 46% der Kinder musikalisch oder künstlerisch aktiver Eltern auch selbst
Instrument, während dies in übrigen Elternhäusern nur etwa 26% tun; Bildung und
finanzielle Möglichkeiten der Eltern ebenfalls von großer Bedeutung, über Hälfte der
Kinder aus Elternhäusern mit hohem sozioökonomischen Status spielt Instrument ,
trifft nur auf 27% der Kinder in Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status zu

o 9-11-jährige Kinder orientieren sich eher an Musikpräferenzen der Eltern beim


Radiohören, setzen sich aber von Präferenzen der Großeltern bereits stärker ab
- Mit 11-12 Jahren vermehrt eigene Entscheidungen bei Wahl des Radiosenders getroffen
- Mit Eintritt in Pubertät verstärkt sich dies hin zur Ablehnung des Musikgeschmacks der Eltern
und zur Orientierung an Musikpräferenzen anderer Jugendlicher  Peer-Group
o Freundschaften und Peers: mit zunehmendem Alter suchen Ki + Ju mehr
Orientierung außerhalb von Familie und Schule, Freunde werden wichtiger und was
Gleichaltrigen gut finden wird zum Maßstab für eigene Interessen
o neben Elternhaus und Schule ist Peergroup wichtigste Sozialisationsinstanz
o Sozialisation durch Orientierung an Peergroup löst Orientierung an Elternhaus ab
o Wende parallel zur Pubertät gesehen, also in Alter zwischen 11 und 14 Jahren, aber
über dieses Alter hinaus auch noch Einflüsse des Elternhauses wirksam
o Auch im weiteren Lebensverlauf ist Eltern-Kind-Beziehung für Musiklernen hoch
relevant, Interesse der Eltern für musikalische Aktivität der Kinder, ihre
Unterstützung und Förderung wesentliche Kriterien für Lernerfolg und Interesse an
Musik
 Musikgeschmack kann im Zsh. mit Identitätsentwicklung und -konsolidierung
im Jugendalter Ausdruck sozialer Identität und Mittel zur Abgrenzung
gegenüber anderen Gruppen sein (Im Jugendalter geht Entscheidung für
bestimmte Musikrichtung oft einher mit persönlicher Zustimmung zu
bestimmten Lebens- und Kleidungsstil, zu moralischen und politischen
Einstellungen und ist deshalb zunehmend identitätsbildend)

- Schule
o An Schulen seit einigen Jahren vermehrt Angebote  S und L können in solchen
Kontexten zu zentralen musikalischen Sozialisationsakteuren werden, unabhängig
von ihren formellen Vermittlungsfunktionen, schulischen Angebote erreichen auch
Kinder, die neben Schule keine musikalische Bildung erhalten und tragen somit zur
kulturelle Teilhabe für alle bei
o Diskrepanz zwischen hoher Relevanz von Musik im Alltag Jugendlicher und dem
durch SuS durchschnittlich weniger och eingeschätzten Stellenwert des Schulfachs
Musik erkennbar
o Marginalisierung des Schulfaches Musik für musikalische Sozialisation aufgrund
vielfältiger informeller Zugangswege zu Musik konstatiert
o Trotz Schülerorientierung bleiben LK als Vorbild und Lernen am Modell wichtige
Elemente in der L-S-Beziehung musikalischen Lernen
o Bestimmte musikalische Kompetenzen werden nicht nur bei physisch anwesender
Lehrperson abgeschaut, sondern auch über Rezeption von Musikvideos, das
Heraushören z.B. bestimmter Akkorde aus Audios und nicht zuletzt in Video-Tutorials
erworben  besondere Rolle der Peer-to-Peer Interaktion in
Musikvermittlungsprozessen
o Musikalische Erfahrungen im KiGa und in ersten Schuljahren bleiben in Erinnerung
Erwachsener besonders wach
- Medien
o haben sich als wesentliche Instanz musikalischer Sozialisation entwickelt
o nutzen Jugendliche für eigene Identitätsarbeit, nehmen Inhalte nicht unkritisch auf,
positionieren sich zu ihnen und erarbeiten sich so Konzept ihrer eigenen Person
- auch im Erwachsenenalter werden musikalische Fähigkeiten, Einstellung und V-Weisen mit
sozialer Umwelt abgeglichen und modifiziert

4. Ableitung bedeutsamer Faktoren für musikalische Entwicklung

o Musikerfahrungen des Kindes (in Familie häufig gesungen, musiziert oder bestimmte
Musik gehört)
o Nonverbale Kommunikation zwischen Bezugspersonen und Säugling (Vermittlung
emotional-kommunikativer Inhalte über musikalische Parameter wie Tonhöhe,
Melodik, Rhythmus, Tempo, Dynamik – Erwachsene sprechen z.B. mit Kindern in
bestimmter Weise)
o Musikalisches Interesse, Einstellungen der Eltern, Geschwister und Verwandten
o Förderung und Unterstützung musikalischer Aktivitäten durch Eltern (gemeinsames
Singen mit Kindern, Anregung zum Instrumentalspiel, Engagement beim Üben,
bewusste Auswahl des Musikangebots)
o Verfügbarkeit von Musik über Medien (Audio- und Videogeräte, Computer im
Eigenbesitz der Kinder und im Bestand der Eltern und Geschwister)
o Vorhandensein von musikalischem Spielzeug und Instrumenten
o Toleranz der Eltern gegenüber den musikalischen Aktivitäten der Kinder
o als hinderlich für Vermittlung von Musik in Schulen erweist sich Tatsache, dass heute
in Familien nicht mehr so häufig wie früher gesungen oder gar musiziert wird

5. Bedeutsamkeit sozialisationstheoretischer Erkenntnisse im Hinblick auf


entwicklungsförderliche Gestaltung des Musikunterrichts

- Musikalische Erfahrungen im KiGa und in ersten Schuljahren bleiben in Erinnerung


Erwachsener besonders wach
- als hinderlich für Vermittlung von Musik in Schulen erweist sich Tatsache, dass heute in
Familien nicht mehr so häufig wie früher gesungen oder gar musiziert wird
- (Shuter-Dyson) ersten Jahre der Schulzeit erscheinen besonders wichtig für weitere
musikalische Entwicklung
- Gordon (1975) wies nach, dass selbst Kinder der 5. und 6. Klasse Benachteiligung innerhalb
von 5 Jahren ausgleichen können, wenn sie Chance dazu bekommen (Einzel- und
Gruppenunterricht)
- Sundin 1985 bemerkte, dass Jungen außerhalb der Schule ebenso interessiert an Musik wie
Mädchen – in Schule geben jedoch nur 30 Prozent der Jungen an, Musik als Schulfach
besonders gern zu mögen, Zahlen veränderten sich, als vielfältigere musikalische Aktivitäten
zur Auswahl angeboten wurden: Blasinstrumente, Keyboards, Tanzen, Trommelseminare und
experimentelle Kurse
- Unterrichtsangebot an musikalische Präferenzen richten
- Kleinen: angesichts übermächtiger Medienmusik bleibt es Herausforderung, mit wenigen
Stunden Musik-U pro Woche Gegengewicht zur mediengeprägten Umwelt zu erreichen;
o Ersten Schritte hin zu aktiver Teilhabe an Musikkultur in Schulzeit gemacht
 Es bieten sich Ensembles in allen möglichen Zusammensetzungen an wie Rockgruppen,
Chöre, Bigbands
- Musikpräferenzen der Schüler erfragen, Welches drei Musikstücke mitnehmen auf einsame
Insel
- trotz Schülerorientierung bleiben LK als Vorbild und Lernen am Modell wichtige Elemente in
der L-S-Beziehung musikalischen Lernen
- es dominieren Imitationslernen und Lernen durch Verstärkung
Literatur:

- Kleinen, G. (2011). Sozialisationsinstanzen. In H. Bruhn, R. Kopiez & A. C. Lehmann (Hrsg).


Musikpsychologie. Das neue Handbuch (S. 37-66). Hamburg: Rowohlt Verlag.
- Kraemer, R.-D. (2007). Musikpädagogik – eine Einführung in das Studium. Augsburg: Wißner
Verlag.
- Olbertz, F. (2018). Sozialisationsakteur_innen. In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz &
C. Stöger (Hrsg). Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse (S. 124-
131). Münster, New York: Waxmann Verlag.
- Rösing, H. (1995). Musikalische Sozialisation. In S. Helms, R. Schneider & R. Weber. (Hrsg.).
Kompendium der Musikpädagogik (S. 349-372). Kassel: Gustav Bosse Verlag.
- Steinbach, A. (2018). Musikalische Sozialisation und soziale Dimensionen des Musiklernens.
In M. Dartsch, J. Knigge, A. Niessen, F. Platz & C. Stöger (Hrsg). Handbuch Musikpädagogik.
Grundlagen – Forschung – Diskurse (S. 228-235). Münster, New York: Waxmann Verlag.

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