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Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
haben; wo bei den Scholastikern Fülle und Leben, ist nach der
Zeit des Hugo Qrotius nichts als Stillstand und seichte Mache."
Durch die Scholastik, durch Thomas, so schreibt Kohler an einer
anderen Stelle2), „war eine Höhe der Betrachtung gewonnen,
der gegenüber das Naturrecht bis zu Hegels Zeit lediglich einen
Rückschritt bedeutet".
Die Naturrechtslehre des heiligen Thomas von Aquin läßt eine
systematische und eine historische Betrachtungs- und Behand
lungsweise zu. Die erstere legt die Gedanken des Scholastikers
über die Probleme des Naturrechts inhaltlich auseinander und
bringt sie auch in Beziehung zu den in der Philosophie und Juris
prudenz der Gegenwart wahrnehmbaren naturrechtlichen Strö
mungen3). Allerdings wird man wie auch sonst, wenn man
scholastische Züge im modernen Denken und moderne Züge in
der scholastischen Gedankenwelt sieht4), über den Ähnlichkeiten
die Verschiedenheiten nicht außer acht lassen dürfen und nament
lich die Weltanschauungen, aus denen alte und neue uns ver
wandt und gleichartig vorkommende Anschauungen hervorge
wachsen sind, ins Auge fassen müssen. Das bedeutendste Werk,
in welchem Ethik und Naturrecht des heiligen Thomas mitten in
das moderne Denken hineingestellt und zur Lösung schwieriger
ethischer und sozialpolitischer Fragen unserer Zeit herangezogen
werden, entstammt der Feder des Leiters des Institut Supérieur de
Philosophie an der Universität Löwen, Simon Deploige, ein Werk,
welches überraschende Parallelen zwischen scholastischen Ge
dankengängen und modernen Problemlagen bringt5).
Die historische Betrachtungsweise sucht Thomas aus seiner
Zeit herauszuverstehen, aus seinem eigenen System und auch aus
den Quellen und Vorlagen, aus denen er geschöpft, zu erklären,
seine Stellung im geistigen Entwicklungsgänge der Scholastik zu
bestimmen und auch sein Weiterlebe.iT und Weiterwirken im
philosophischen und theologischen Denken und Arbeiten der
folgenden Jahrhunderte zu erkennen. Bei dem traditionellen, auf
2) Holtzendorff-Kohler, Enzyklopädie der Rechtswissen
schaft7 1915 I, 3f. Auch 0. Gierke, Das deutsche Genossenschafts
recht III, 610 bemerkt, daß Thomas der Naturrechtslehre „die auf Jahr
hunderte hinaus maßgebenden Grundlinien vorgezeichnet habe".
3) Uber diesen naturrechtlichen Zug in der Jurisprudenz der Gegenwart
vgl. L. W e n g e r, Römische und antike Rechtsgeschichte, Graz 1905, 13.
4) Vgl. M. Grabmann, Der Gegenwartswert der geschichtlichen
Erforschung der mittelalterlichen Philosophie. Wiener Antrittsrede.
Freiburg 1913.
°) S. Deploige, Le conflit de la Morale et de la Sociologie .
Louvain-Paris 1912. Vgl. dazu G. Goyau, Le Thomisme et la nouvelle
science des moeurs, Paris 1912.
schied ein ins naturale, ius gentium, ius civile. lus naturale est
quod natura omnia animalia docuit, ist also keine Eigentümlich
keit des Menschen, sondern aller animalischen Wesen und hat
denselben Gemeinsames wie Verbindung von Mann und Weib,
Fortpflanzung, Aufzucht der Kinder zum Gegenstand. Hier ist
Natur im Sinne des Naturhaften und Triebhaften genommen
gegenüber dem durch Vernunft und Freiheit Normierten. Ius
civile ist die Gesamtheit der Gesetze, durch die eine Nation, ein
Staat geordnet und regiert wird. Ius gentium ist kein für ein
bestimmtes Volk zugeschnittenes Recht, sondern besagt und um
schließt Rechtsnormen, die vor jeder positiven Vereinbarung die
menschliche Vernunft unter allen Menschen und Völkern festge
stellt hat, die aus der allen Menschen und Völkern gemeinsamen
vernünftigen Menschennatur, aus den die Schranken der Nationen
und Staaten überschreitenden gleichen Bedürfnissen und Ver
hältnissen hervorfließen und deswegen allüberall in gleicher
Weise eingehalten werden: lus gentium, quasi quo iure omnes
gentes utantur13). Auch im Sinne von Rechtssätzen, welche auf
den Verkehr der Völker untereinander sich bezogen, also im
Sinne von völkerrechtlichen Satzungen wurde lus gentium in
der römischen Rechtssprache gebraucht
Die Terminologie des römischen Rechtes ist mit einigen Modi
fikationen in den so viel antikes Kulturgut in das Mittelalter hin
überleitenden Etymologien") des Isidor von Sevilla
(t 636) übernommen worden. Das lus naturale wird also defi
niert: lus naturale [est] commune omnium nationum, et quod
ubique instinetu naturae, non constitutione aliqua habetur; ut
viri et feminae conjunctio, liberorum, successio et educatio, com
munis omnium possessio, et omnium una libertas, adquisitio
eorum quae cáelo, terra marique capiuntur. Item depositae rei
vel pecuniae restitutio, violentiae per vim repulsio. Nam hoc,
aut si quid huic simile est, numquam iniustum [est], sed natu
rale aequumque habetur "). Auch die Gegenstände des lus
gentium gibt Isidor von Sevilla an: sedium aedificatio, munitio,
bella, captivitates usw.
13) Princ. Inst, de iure nat. gent. et civ. I, 2; 1. 1 § 3. Dig. de iust
et iure 1,1. M. Voigt, Die Lehre vom'ius naturale, aequum et bonum
und ius gentium der Römer, Leipzig 1850. K. v. Gar eis — L. Wenger,
Rcchts-Enzyklopädie und Methodologie5, Gießen 1921, 12—15, wo auch
weitere Spezialliteratur angegeben ist.
14 ) Vgl. A. Schmekel, Isidoras von Sevilla. Sein System und seine
Ouellen, Berlin 1914. Schmekel geht aui die Quellen von Isidors Definition
des ius naturale nicht ein.
") Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX
recognovit W. M. Lindsay, Oxonii 1919 Gib. V c. 4—6).
18) Vgl. hierüber Thomas von Aquin IV. Sent. dist. 33 qu. 1 a. 1 ad 4m
S. Th. 1. II. qu. 94 a. 4 ad lm- Zu Gratians Lehre vom Naturrecht und
dessen Unklarheiten vgl. B. C. Kuhlmann O. Pr., Der Gesetzesbegriff
des heiligen Thomas von Aquin im Lichte des Rechtsstudiums seiner Zeit,
Bonn 1912, 135 ff.
17) Die Summa Decretorum des Magister Rufinus. Herausgegeben von
H. Singer, Paderborn 1902, 6 f. Über den Einfluß Rufins siehe ebenda
Einleitung CXXVII ff. Kuhlmann a. a. O. 180 A. 1 weist auf eine auffallende
Übereinstimmung bezüglich der Dispensation bei Rufinus (Singer S. 234)
und Thomas von Aquin (S. Th, 1. II. qu. 97 a. 7) hin.
Archiv für Rechtsphilosophie. Bd. XVI.
Thomas von Aquin aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
zitiert. Die sehr umfangreiche Ethik dieses hochangesehenen
Pariser Theologen, dem immer noch nicht die verdiente Auf
merksamkeit zugewendet wird, ist in ihrer Bedeutung erst zu
erkennen und zu würdigen, auch seine zu Beginn des 7. Trak
tates des 3. Buches, das eben die Moral enthält, stehende Lehre
vom Naturrecht ist bisher nicht beachtet worden. Wilhelm von
Auxerre gebraucht die Bezeichnung jus naturale, während später
bei Thomas von Aquin u. a. der mehr ethisch klingende Ausdruck
lex naturalis (Natürliches Sittengesetz) Verwendung fand. Das
jus naturale ist origo et principium omnium virtutum et motuum
ipsarum und steht deswegen an der Spitze der Abhandlung über
die sittlichen Tugenden (virtutes politicae gegenüber den vir
tutes theologicae). Die Lehre vom jus naturale füllt die fünf
Quästionen, welche das 1. Kapitel des 7. Traktates im 3. Buche
der Summa aurea bilden21). Es werden hier die Fragen be
handelt, in welcher Weise das Naturrecht bindet und ver
pflichtet, ob das Privateigentum sittlich erlaubt ist, wie Natur
recht und positives Recht sich unterscheiden, wie das Natur
recht in das Herz des Menschen eingeschrieben ist, ob die Ge
bote des Naturrechts eine Dispensation zulassen.
Wilhelm von Auxerre gibt, ehe er auf diese Fragen eingeht,
eine Begriffsbestimmung des Naturrechts, die an Einfachheit,
Klarheit und Bestimmtheit über die im römischen und kanoni
schen Recht, speziell bei Gratian gebotenen Definitionen hinaus
geht. Naturrecht wird im weiteren (large) und engeren (stricte)
Sinne gebraucht. Im weiteren Sinne ist jus naturale quod natura
docuit omnia animalia ut est conjunctio maris et femine et similia.
Es ist dies die uns schon bekannte Definition, welche das römi
sche Recht vom ius naturale gegeben hat.
Im strengen und eigentlichen Sinne ist Naturrecht der In
begriff all dessen, was die natürliche Vernunft ohne jede Über
legung oder doch ohne besondere Überlegung uns zu tun ver
pflichtend vorschreibt: quod naturalis ratio sine omni delibera
tione aut sine magna dictât esse faciendum.
Für die Beantwortung der Frage nach der Verpflichtung des
Naturrechts beruft sich Wilhelm von Auxerre auf eine Unter
scheidung bei Präpositinus, wonach es im Recht teils Gebote,
teils Verbote, teils Ratschläge oder Anweisungen gibt. In jure
sunt quedam preeepta et quedam perhibitiones et quedam demon
strationes. Ich habe allerdings in der ungedruckten Summa des
dem vernünftigen Geiste an- und eingescliaffen ist. Fürs Dritte das
ewige Gesetz, das nicht gegeben wird, das nicht entstanden ist und
das auch nie außer Kraft gesetzt wird. Es ist dies das göttliche
Gesetz. Das ewige Gesetz ist das Urbild aller Gesetze. Das
immerwährende Gesetz, das natürliche Gesetz, wird unmittelbar
aus diesem ewigen Gesetze in unsere Seele gleichsam eingetragen
und abgeschrieben. Das positive Gesetz wird aus dem ewigen Ge
setze durch Vermittlung des Naturgesetzes geschöpft und abge
leitet. Auch der gute und weise menschliche Gesetzgeber — der
anonyme Scholastiker zitiert hier mehrfach Augustinus — holt sich
Rat beim göttlichen, ewigen Gesetz. Man muß also die Existenz
eines ewigen Gesetzes anerkennen.
Das ewige Gesetz wird nun auf eine dreifache Weise aufgefaßt.
Fürs erste in einem engen und strikten Sinne im Hinblick auf die
Güter der vernunftbegabten Wesen, und in diesem Sinne ist das
ewige Gesetz die Regel und Norm für das sittliche Handeln der
vernünftigen Geschöpfe. In einem zweiten und weiteren Sinne wird
das ewige Gesetz auch aufgefaßt, insofern es sich auf das Gute in
der Gesamtheit der Schöpfung bezieht. In einem dritten und
weitesten Sinne wird das ewige Gesetz in seiner Beziehung zu
allem Guten und Bösen aufgefaßt. Es wird durch das ewige Gesetz
nicht bloß das Gute, sondern auch das Böse jedes an seiner Stelle
geordnet. Es existiert also e:n ewiges Gesetz, von welchem jedes
Gesetz sich ableitet, dann ein immerwährendes oder natürliches
Gesetz und ein positives GesetzS1).
31) Ouesitum est de lese eterna. An Sit lex eterna? Responsio. Omne
iudicium immutabile sive infallibile derivatur et informatur ab aliaua infalli
hili resula. Iudicium de hiis, que agenda sunt creaturae rationali, oportet
esse infallibile. Ergo derivatur ab aliaua infalübili regula. Sed regula, que
ponitur et deponitur, non est infallibilis. Item regula que ponitur et non
deponitur ouamvis sit infallibilis non tarnen per se. Ergo preexigitur alia
per se infallibilis recula, que nec ponitur nec deponitur sed est eterna. Iuxta
hnc distinguitur triplex agendorum lex sive regula: una temporánea que
ponitur et deponitur: scilicet lex humana positiva. Altera perpetua, que
ponitur sed non deponitur, ut lex naturalis menti rationali concreata. Tertia
eterna, que nec ponitur nec deponitur que est lex divina. . . . Lex eterna
primum exemplar est legum omnium. Lex perpetua a lege eterna immédiate
transscribitur. Unde dicit Augustinus libro 83 questionum: Ab illa
snblimi et ineffabili rerum administratione, que per divinam providentiam
fit. quasi transscripta est lex nature in animas nostras. Lex vero positiva
a lege eterna mediante lege naturali transscribitur. Unde Augustinus
de vera religione: Conditor legum temporalium si bonus ac sapiens est
consulit legem eternam. Est ergo lex eterna. Lex vero eterna tribus modis
accipitur. Primo modo stricte et respectu bonorum rationaüs créature,
prout est regula agendorum a creatura rationali. Unde Augustinus
1. libro de libero arbitrio c. 6 dicit, quod ipsa est ratio cui Semper obtem
Archiv für Rechtsphi osophie Bd. XVI.
3=) Quaesitum est de lege naturali. Primo scilicet utrum sit aliqua lex
naturalismentihumaneimpressa? Responsio. SicutprobatDamascenus. 2.1ibro
„de iide orthodoxa" c 29 idem est omnium naturarum tactor, contentor et
provisor. Nam, ut ibidem dicit, voluntas divina est omnium virtus tactiva,
contentiva et provisiva. Unde et rerum creatio permanentiâ gubernatio
magnitudinem indicant divine nature, ut dicit idem Damascenus 1. 1 c. 1.
Ouia ergo omnium naturarum est sufticientissimus creator, conservator et
gubcrnator omnibus naturis indidit principia necessaria ad existentiam, ad
permancntiam, ad gubemationem. Cuilibet ergo nature est a deo principium
aliquod inditum, quo subsistit, quo conservatur, quo in operibus suis ad
finem debitum gubernatur.
Sunt autem tria genera operum et operationum creaturarûm, Quedam
enim operantur solo instinctu naturali sine cognitione ut insensitiva. Quedam
cum cognitione sed sine electione ac distinctione sicut irrationabilia inani
mantia. Unde omnes aranee eodem modo iaciunt telam suam. Quedam
vero cum discretione et preelectione ut sola rationabilia. Indidit ergo deus
principium aliquod seu régulant creaturis insensibilibus, qua regulantur in
operibus naturalibus. Item creaturis irrationabilibus, qua regulantur in
operibus sensualibus. Item creaturis rationabilibus, qua regulantur in
operibus moralibus seu rationalibus, j Quia ergo regula operandorum lex
dicitur, ideo lex tripliciter accipitur. Nam regula dirigens in operabilibus
sine cognitione dicitur lex naturalis largissime. Unde Ezechiel XX: Si leges
celi et terre nunc posui. Et Augustinus super Genesim dicit, quod omnis
naturae cursus usitatas regulas aliquas habet Regula vero dirigens in
operabilibus per cognitioncm sine elcctione dicitur lex naturalis minus large.
Unde dicit Ysidorus, quod jus naturale est quod natura ontnia animaba doeuit
ut conjunctio maris et iemine. Regula dirigens in operabilibus ex electione
dicitur lex naturalis proprie, de qua ad Rom. 2,9: Nam gentes etc. Glossa:
lex naturalis est, qua quisque intellipcit, quid bonum et quid malum. Lex
quippe dicitur non a lerendo solum neo a listando sed ab utroque, quia ligat
per electionem. Inscnsibilia vero non legunt aliquit intra se, quia carent
coenitione ncc irrationabilia, quia potentia cognitiva colligata organo ma
terial! non reflectitur supra se ad legendum aliquid in se quo reguletur in
sua operatione, scd solum rationabilia legere possunt rcgulam sibi impressam
et secundum illam inspectam se dirigere in finem et gubcrnare. Dico ergo,
quod lex naturalis proprie dicta impressa est omni et soli rationali créature.
34) Secundo queritur, quid sit lex naturalis, utrum scilicet Sit habitus in
anima vel aliud?
Responsio. Secundum Damascenum 1. 2 c. 12 duplex est potentia in
anima quedam irrationalis, que agit ex necessitate, quedam rationalis que ex
libértate. Prima determinata est ad actum. Unde non indiget altera incli
natione vel determinatione, quia non potest deviare. Secunda in determinata.
Unde quia facile deviare potest indiget altero determinante. Habitus vero
est dispositio potentiam ad actum sui generis determinans et inclinans. Prima
igitur potentia non indiget habitu determinante. Secunda indiget et quia
natura nec habundat superfluis nec deficit in necessariis ideo potentiis
irrationabilibus nullum habitum indidit innatum, potentiis verorationabilibus
omnibus indidit.
Est autem duplex potentia rationalis scilicet intellectus, qui facile errare
potest circa verum et falsum, et affectus, qui facile errare potest circa bonum
et malum. Ideo deus creator nature naturaliter indidit intellectui habitum,
per quem reguletur, scilicet seminationem omnium scientiarum, et affectui
habitum, quo reguletur, scilicet seminationem virtutum omnium. Ideo dicit
Boetius quod naturaliter nobis inserta est notio veri et amor boni. Propter
primum dicit Augustinus 1. 10 de trinitate c. 1, quod nisi breviter im
pressam omnium disciplinarum rationem haberemus, ad nullam earum tanto
discendi studio flagraremur. Propter secundum dicit idem 1. 8 de trinitate
c. 1 quod nisi haberemus impressam nobis formam justitie nullus qui non
esset iustus appeteret justus esse.
Intellectus duplex est in nobis vel intellectus dupliciter consideratur, qui
uterque errare potest, scilitet speculativus, cuius, finis est Veritas et practi
cus, cuius finis est opus secundum Philosophum 1. Metaph. Ideo intellectui
speculativo inserta est notio principiorum speculativorum sicut quod omne
totum est majus sua parte. Intellectui vero practico inserta est notio prin
cipiorum operativorum ut nemini faciendam esse injuriam. Propter hoc
dicit Qlossa (Epitole ad) Hebreos 1 super iliud: qui cum sit splendor, quod
omni anime indidit deus seminaria intellectus scilicet quoad speculativa
et sapientie scilicet quoad operabilia. Hec autem notio principiorum univer
salium cum sit regula operandorum lex naturalis appellatur. Unde lex
naturalis est habitus cognitivus anime naturaliter impressus. Ad habitum
tarnen completum cognitionis duo requiruntur scilicet species rei cognosci
bilis per quas res una distincta cognoscitur et lumen intellectus. Hec vero
duo conveniunt ad actum intelligendi sicut color et lux ad actum videndi.
Species quidem principiorum non sunt innate, quia secundum Aristo
t e 1 e m anima creatur sicut tabula rasa. Sed lumen innatum est, per quod
speciebus terminorum incomplexorum receptis anima statim videt veritatem
complexionis principiorum, ut recepta specie totius et partis et majoritatis,
si proponatur ei: omne totum est maius sua parte statim sine remeditatione
acquiescit*. Quia vero huiusmodi principia intellectualia plus habent de
yeritate et de intelligibilitate eo quod sunt causa veritatis et intelligibilitatis
aliorum intelligibilium sicut conclusionum, ut ait Aristoteles 1. Metaph., ideo
propter assimilationem ampliorem in illo lumine intelligibili innato anima
statim illis acquiescit non sicut conclusionibus. Ideo propter hanc promptitu
dinem intelligendi dicuntur principia nobis innata, non conclusiones. Ideo
dicit Augustinus de trinitate 1. 12 c. 6, quod mens naturali ordine
subiuncta est intellectualibus. Propter quod illa videt in quadam luce sui
generis et incorpórea sicut oculus hec sensibilia videt in luce sensibili. Hoc
est lumen, de quo dicit psalmus: signatum est super nos lumen tuum domine.
Et quamvis lux intellectus agentis sufficiat ad specierum intelligibilium
generationem, aliud tarnen fortasse lumen habitúale est in mente impressum,
quo statim videt ipsa prima principia sicut prêter lucem exteriorem, qua
generantur .species visibiles, oculus habet lucem aliquam in natura sua. Dico
ergo naturalem legem habitum esse impressum naturaliter in anima in parte
eius cognitiva non affectiva et in intellectu practico non speculativo.
35) M. Qrabmann, Drei ungedruckte Teile der Summa de creaturis
Alberts d. Qr. Leipzig 1919.
36) A. P e 1 z e r, Les versions latines des ouvrages de Morale conservées
sous le nom d'Aristote au XIIIe siècle. Revue néoscolastique de philosophie
1921, 316-341, 378—400.
37) Zu den von mir (a. a. 0. 65—70) angeführten Handschriften ist jetzt
noch nachzutragen Cod. 41 (s. XIV) der Universitätsbibliothek in Paris.
Vgl. Catalogue général des manuscrits des bibliothèques publiques de France.
Université de Paris et Universités des Départements, Paris 1918, 11 f.
3S) Circa ius1 autem querimus quinqué: quid sit ius naturale secundum
substantiam et diffinitionem, et quot modis dicatur et que sunt de iure
naturali, et utrum ea que sunt de iure naturali recipiant dispensationem vel
non? fol. 166 r.
39) Solutio Dicitur quod ut dicit Basilius universalia iura sunt in naturali
tudicatorio, fol. 168 v. Ich konnte diesen Text in den Werken des hl. Basilius
den in ihr und mit ihr gegebenen Grundsätzen des Naturrechts auch
über das Naturhafte im Menschen urteilt und befindet.
Wenn in dem obigen Satze: secundum quod natura est ratio vor
allem auf die ratio der Nachdruck gelegt wird, dann kommen in
erster Linie die Normen in Betracht, welche auf Religion, auf
Gerechtigkeit, auf eine sittlich ehrenhafte Lebensführung sowohl sich
selber wie dem Nebenmenschen gegenüber sich beziehen. Wie im
ersten Falle die ratio, so wird auch hier die natura nicht aus
geschaltet. Die Natur wird hier aufgefaßt als rationalisiert, gleich
sam selbst zur ratio geworden durch die Hinordnung zum Sittlich
guten. Diese Hinordnung geschieht durch die Anlagen und Keime
des Guten, die in die vernünftige Natur hineingesenkt sind. Diese
Keimkräfte des Guten, das dem Leben Inhalt und Gestalt gibt, sind
eben das Naturrecht. Und auf diese Weise gehören zum Naturrecht
die Gebote beider Tafeln des Dekaloges in ihrer allgemeinen und
noch nicht auf das Einzelne angewendeten und bestimmten Form.
Uberhaupt ist so alles, was ein honestum, was sittlich gut ist, in
seinen Grundformen zum Naturrecht gehörig.
Wenn fürs Dritte natura und ratio in gleicher Weise zur Geltung
kommen, sich die Wagschale halten, dann ist Inhalt des Naturrechtes
all das, was zum Wohl, zum Nutzen des Menschen aus der Vernunft
heraus, gemäß dem in der Vernunft liegenden Keim des Naturrechts,
des allgemeinen Rechtes, nicht durch Zufall und lange Überlegung
festgestellt und bestimmt ist. Hierher gehört z. B. die Sorge für das
Hauswesen, die Wahl der Obrigkeit, die Bestrafung der Bösen und
Belohnung der Guten, der Schutz des Eigentums usw.41).
41) Est enim ius naturale nihil aliud quam ius rationis sive debitum,
secundum quod natura est ratio. Cum enim dicitur, quod natura est ratio,
potest intelligi magis ut natura vel magis ut ratio vel eque ut natura et ratio.
Si autem accipitur ut natura, tune ipsa erit prineipium operum pertinentium
ad consistentiam salutis eius in quo est et ratiocinabitur de illis sicut sunt
pertinentia ad salutem individui et sunt eibus, vestitus, domus et dilectio
sariitatis, procuratio medicine et alia huiusmodi, que pro nobis invenimus
ratiocinando de illis. Similiter pertinentia saluti speciei ut uxor et proies et
dilectio et Providentia utrorumque .... Si autem intelligatur magis ut
ratio rerum, tune erit de hiis, que pertinent ad religionem et iustitiam et
honestatem rationis in se et ad alios, ita tarnen quod habent aliquid de natura
et non tota sit ratio. Sed tune natura accipitur ut ratio in bonum ordinata
per seminaria boni pertinentia ad vitam. Que seminaria sunt ius naturale,
et de iure naturali sunt mandata utriusque tabule prout generaliter et inde
terminata aeeipiuntur et breviter quiequid est honestum in suis generibus est
de iure naturali. Tertio est ratio naturalis equaliter ratio et natura et sie
pertinet ad ius naturale quod ex ratione et causa in commodum hominis et
utilitatem est provisum et Semper est in genere (?) secundum seminaria iuris
universalis et non secundum casus vel consilium determinatum, sicut est
providere domui, dispensare familiam, eligere prelatos ad vindictam
malorum et laudem bonorum et custodire propria et huiusmodi. fol. 173.r
Bei der dritten Frage, die mit Ausdehnung und Inhalt des Natur
rechts sich befaßt, wird ein besonderer Nachdruck auf das Verhält
nis des positiven Rechtes zum Naturrecht gelegt, es wird unter
sucht, wie das positive Recht aus dem Naturrecht hervorgeht. Das
Naturrecht hat, wie aus den bisherigen Erörterungen sich ergibt,
die höchsten und allgemeinsten Prinzipien des menschlichen, des
positiven Rechts zum Inhalt, ja es fällt mit diesen Prinzipien in eins
zusammen. Wie es nun nicht bloß ein einziges Prinzip des
spekulativen Intellekts gibt, wodurch er alles Erkennbare geistig er
faßt, so besteht auch nicht bloß ein einziges Prinzip des praktischen
Intellekts, durch das wir alle sittlichen Handlungen erkennen und
beurteilen können. Die Verschiedenheit der Handlungen, der Ver
hältnisse und Berufskreise der Menschen, Ort und Zeit des Handelns
bedingen auch eine gewisse Vielheit der naturrechtlichen Inhalte
und Grundsätze. Man kann von einer dreifachen Weise reden, wie
etwas zum Naturrecht gehört: Essentialiter, subiective und parti
culariter *2). Essentialiter wesentlich besteht das Naturrecht in den
allgemeinen Prinzipien selbst. Subiective gehören zum Naturrecht
die allgemeinen praktischenVerwirklichurigsformen dieser Prinzipien,
welche ihren Ursprung nur in der natürlichen Vernunft haben.
Albert verweist hier auf das, was Cicero und Isidor von Sevilla als
Inhalt des Naturrechts angeben. Cicero führt als Inhalt des jus
naturale an: religio, pietas, gratia, vindicta, observantia, veritas43).
Isidor nennt als Gegenstand des Naturrechts viri et feminae con
junctio, puerorum educatio, communis possessio usw.44). Parti
culariter gehören zum Naturrecht Entscheidungen und Bestimmungen,
42) Solutio: Dicimus secundum predicta, quod ius naturale non est nisi
de ultimis et universalissimis principiis iuris humani et est ipsa principia,
ut habitum est. Sicut autem non est unum principium intellectus speculativi,
quo seit seibilia omnia, ita non est unum principium practici intellectus,
quo seit omnia operabilia. Sed sicut variantur illa per materias diversas,
ita etiam ista per opera diversa et status operantium et locum et tempus:
Et ideo dicimus, quod tribus modis aliqua sunt de iure naturali, scilicet
essentialiter et subiective et particulariter. Essentialiter sunt ipsa principia
supposita, de quibus dictum est. Subiective antem sunt ipsa communia
supposita illorum prineipiorum, que non trahunt originem nisi a ratione
naturali, sicut illa que enumerat Tullius et sicut ea que enumerat Ysidorus.
Particulariter autem sicut sunt ea, que a plebisscitis et senatus consultis et
responsis sapientum determinantur. Hec enim non secundum totum trahuntur
a vi nature, sed partim a conditionibus hominum ut pacta, que quandoque
secundum naturam facti aliter de sapientibus determinantur propter con
tractum qui intervenit ex volúntate utriusque. Hoc ergo modo pactum exigit
determinan et similiter est de iudicatis. Licet autem huiusmodi non deter
minantur in toto ex ratione, non tarnen determinantur in aliquo contra
rationem. fol. 176r.
43) Cicero, De inventione rhetorica II 53, 160, 199. Vgl. II 22, 65.
*4) Vgl. oben S. 16.
kann nie in der Weise von einem Gebot oder Verbot dispensieren,
daß eine Handlung mit einer nicht sittlich guten, sondern bösen Ab
sicht zustande kommen soll. Eine solche Dispensation würde sich
gegen das Wesen Gottes selbst richten. Gott kann also auch vom
Verbot des Diebstahles nicht dispensieren, insofern im Diebstahl der
Akt des Wegnehmens fremden Eigentums gegen den Willen des
Besitzers verbunden ist mit den unsittlichen Motiven der Habsucht,
der Genußsucht usw. Wohl aber kann Gott von dem Akt in der
Weise eine Dispense erteilen, daß der Akt von der unsittlichen
Intention losgelöst und mit einer guten Intention verbunden wird.
Es ist dies eine Dispensation ab actu absque intentione45).
Die bisherigen Darlegungen über die Naturrechtstheorien in der
Scholastik des 13. Jahrhunderts zeigen uns bei gemeinsamen Grund
zügen, die in den vom römischen und kanonischen Recht über
nommenen Begriffen und in dem vorwiegend augustinischen Charak
ter der Mehrzahl der von uns besprochenen Scholastiker gegeben
sind, doch eine gewisse Mannigfaltigkeit und Differenzierung auf.
Es ist viel Tastendes und Unausgeglichenes in diesen naturrecht
lichen Ausführungen und Abhandlungen, aber es zeigt sich auch ganz
deutlich das Bestreben, die Lehre vom Naturrecht in den großen
Gesamtbau des philosophisch-theologischen Systems einzufügen.
Es ist leider hier nicht mehr möglich, den großen Scholastiker
der Synthese und wissenschaftlichen Architektonik, Thomas von
A q u i n o , der das Naturrecht als organischen Bestandteil in sein
denkgewaltiges System eingebaut hat, in den Kreis unserer räumlich
begrenzten Untersuchung einzubeziehen. Da die Naturrechtslehre
des Aquinaten gerade im Zusammenhang mit seinen philosophischen
und theologischen Grundanschauungen verstanden und gewürdigt
werden will, müßte auch eine kurze Darstellung naturgemäß sich
ausführlicher als unsere bisherigen Ausführungen insgesamt gestalten.
45) Notandum est ergo, quod dispensatio est relaxatio iuris in opere
aliqua de causa utilitatis vel necessitatis, per quam ius in opere relaxatum
recompensabitur. Dico autem: relaxatio iuris in opere, quia in fine et in
tentione non potest relaxari nec dispensan. Finis enim operis est honestum
et decens et bonum et contra finem hune non potest fieri dispensatio, quia
si deus dispensaret ut aliquid fieret non bona intentione nec propter bonum
et seipsum dispensaret contra seipsum et esset unum opus contrarium alii
suo operi. Quod esse non potest et ideo non dispensaret, ut aliquis furetur,
auia furtum dicitur actus contrectrationis rei aliene invito domino ex avaritia
libídine vel propter delecationem passionis aliene rei, quia turpissimum est.
Sed dispensât deus de actu separato a fine malo conjungendo cum fini bono,
ut scilicet contrectetur res aliena invito domino que secundum rationem
alicui debet esse propria, licet adhuc non sit translatum dominium in eum,
qui est dominus rei. fol. 179 r.
Thomas von Aquin hat seine Lehre vom Naturrecht vor allem in
seinem der allgemeinen Moral eingegliederten Traktat De legibus
(S. Th. 1 II qu. 90—108, vor allem qu. 90—97) behandelt *") und das
Naturrecht ethisch unter dem Gesichtspunkt des natürlichen Sitten
gesetzes, der lex naturalis aufgefaßt. Als jus naturale hat er das
Naturrecht zum jus positivum und jus gentium an der Spitze seines
Traktates De justitia (S. Th. 2 II qu. 57 a. 2 und 3) in Beziehung ge
bracht. Es findet sich auch sonst in den verschiedensten Zu
sammenhängen der thomistischen Schriften ein reiches Material
naturrechtlichen Belanges zerstreut. Die späteren Kommentatoren
der Summa theologiae des Aquinaten sind an den Quästionen über
das Gesetz meist raschen Schrittes vorübergegangen. Einer der
gründlichsten Erklärer der thomistischen Lehre ist hier der
deutsche Dominikaner Konrad Köllin in seinem aus Vorlesungen an
der Universität Heidelberg entstandenen Kommentar zur Prima
Secundae47). Eine überaus gründliche Erläuterung bietet auch
über diesen Gegenstand der große französische Kommentar von
P. Thomas Pègues O. Pr.48). Auch in Lehrbüchern der thomistischen
Ethik49) und in einer Reihe von neuesten monographischen Unter
46) Über diesen Traktat De legibus in der theologischen Summe des hl.
Thomas schreibt Ch. Jourdain, La philosophie de St. Thomas d'Aquin
Paris 1858 I, 364: Et ce qui vaut mieux encore que l'érudition, il possède
à un très haut dé g ré la science des principes du droit. La partie de ses
oeuvres que nous allons analyser est peut-être la meilleure introduction
à l'étude des lois qui ait été écrite; même de nos jours, elle peut être offerte
avec confiance aux méditations des jurisconsultes."
47) Expositio commentaria in Primam Secundae per Magistrum C o n -
r a d u m K o e 11 i n O. Pr. Coloniae 1502. An weiteren älteren Kommen
tatoren seien genannt Bartholomaeus Medina O. Pr., Commentaria
in D. Thomae Aquinatis primam Secundae, Coloniae 1618. J. Wiggers
(Prof. in Löwen), In primam Secundae D. Thomae Commentaria, Lovanii
1674, 313—330. J. B. G o n e t O. Pr. Clypeus theologiae thomisticae tracta
tus VI, vol. IV (Neuausgabe Paris 1877), 477—489. Sehr beachtenswert ist
auch der Kommentar des Ingolstädter Theologen Gregor von Valencia S. J.
zur Prima Secundae (disp. 7 qu. 4) usw.
48) T h. P è g u e s O. Pr. Commentaire français littéral de la Somme
théologique de Saint Thomas d'Aquin. vol. IX.
49) S. M. R o s e 11 i O. Pr. Summa philosophica ad mentem S. Thomae
Aquinatis, Romae 1783 IV, 150—325. A. Rietter, Die Moral des hl.
Thomas, München 1858. De Bie, Philosophia moralis ad mentem D.
Thomae, Lovanii 1910. Th. M e y e r, S. J. Institutiones juris naturalis
seu philosophiae naturalis secundum principia D. Thomae Aquinatis, 2 Bde,
Freiburg 1885 u. 1900. V. Cathrein S. J. Moralphilosophie I5, Freiburg
1911, 367—458. V. Cathrein S. J. Recht, Naturrecht und positives
Recht 2, Freiburg 1909. A-D. Ser tillan g es, O. Pr. La philosophie
morale de S. Thomas d'Aquin, Paris 1916. L. Lehu O. Pr. Philosophia
moralis et socialis I. Ethica generalis. Paris 1914.
suchungen findet das Naturrecht des hl. Thomas von Aquin60) eine
gutenteils recht gründliche Darstellung und sachkundige Würdigung.
Aus dem Zusammenhang der philosophischen Lehre des Aquinaten
heraus geht besonders der belgische Benediktiner Odon Lottin51)
den Einzelfragen'der thomistischen Naturrechtslehre nach und zeigt
uns, wie einem geschärften Auge sich hier doch ein recht sorg
sam und fein ausgeführtes Gedankengewebe kundtut. Die natur
rechtlichen Theorien des hl. Thomas kann ihrer ganzen Tiefe und
Bedeutung schließlich nur der verstehen, der, wie P. Lottin, in der
Logik und Erkenntnislehre, in der Metaphysik, Psychologie und
Ethik des großen Scholastikers durch mühsames Studium ganz
heimisch geworden ist. Namentlich muß man auch hier die Art und
Weise, wie Thomas die überkommenen Begriffe und Elemente selb
ständig gestaltet und mit neuem Material durchdringt, ins Auge
fassen. Die Begriffe des römischen und kanonischen Rechtes, mit
denen Thomas vertrauter ist als andere Scholastiker62), die augusti
nische Gedankenwelt und die aristotelische Philosophie verbinden
und durchdringen sich in der thomistischen Lehre vom Naturrecht
bzw. natürlichem Sittengesetz. Das aristotelische Element wird
durch Thomas zuerst auch in dieser Frage in seiner vollen Aus
prägung hervorgekehrt. In seinem Kommentar zum 5. Buche der
nikomachischen Ethik hat Thomas eine Konkordanz zwischen
Aristoteles und dem römischen Recht zu schaffen gesucht und zu
gleich die Lehre vom Naturrecht in einem kurzen Überblick zu
sammengefaßt, wie überhaupt in seinen Aristoteleskommentaren
sich nicht selten Modelle, Entwürfe für einzelne Gebiete seines
eigenen philosophischen Denkens uns begegnen63). Aristoteles
50) G. B res sole s, Études sur le traité des lois de Saint Thomas
d'Aquin. Recueil de l'Académie de législation de Toulouse II (1853), 206 ff.
F. C. Maréchal, De legis natura et partibus secundum D. Thomam
Aquinatem, Lugduni 1854. F. Fernandez, Doctrinas jurídicas de santo
Tomás de Aquino, Madrid 1889. W. H. Nolens, De leer van den hl.
Thomas v. Aquin over het recht, Utrecht 1890. Fr. Kuhn, Die Probleme
des Naturrechts bei Thomas v. Aquin. Münchener Dissertation. Erlangen
1908. Fr. Wagner. Das natürliche Sittengesetz nach dem hl. Thomas
von Aquin, Freiburg 1917. B. C. Kuhlmann 0. Pr., Der Gesetzesbegriff
beim hl. Thomas v. Aquin im Lichte des Rechtsstudiums seiner Zeit, Bonn
1912. O. Schilling, Das Völkerrecht nach Thomas v. Aquin, Frei
burg 1919.
B1) P. O d o n L o 11 i n 0. S. B. Loi morale naturelle et Loi positive
d'après S. Thomas d'Aquin. Louvain-Bruxelles 1920.
°2) Vgl. hierüber Kuhlmann a. a. O. 98—107. D. Antonio José
Pou y Orderas, Santo Tomás de Aquino, luz los jurisconsultos. La
ciencia cristiana. Madrid 1887 II, 37 ff. 120 ff.
63) Vgl. hierüber M. Grabmann, Les commentaires de Saint Thomas
d'Aquin sur les ouvrages d'Aristote. Louvain 1914.
scheidet. Die Juristen nennen nun jus naturale das, was aus der
Neigung und dem Trieb der Natur, insofern diese der Mensch mit
den Tieren gemeinsam ist, entspringt, wie die geschlechtliche Ver
bindung von Mann und Weib, die Aufzucht der Kinder usw. Das
Recht aber, das unmittelbar aus der inneren Neigung und den
Forderungen der menschlichen Natur, insofern sie eine vernünftige
ist, hervorgeht, nennen die Juristen jus gentium, weil alle Völker
sich desselben ganz spontan bedienen. Inhalt dieses jus gentium
sind z. B. die Sätze, daß man Verträge halten muß, dáfl die Ge
sandten auch beim Feinde Sicherheit haben müssen usw. Diese
beiden Arten des Rechts, das jus naturale und jus gentium der
Juristen, lassen sich im Begriff des Naturrechts, wie ihn Aristoteles
verstanden und entwickelt hat, zusammenfassen65).
Thomas verbreitet sich in seiner Aristoteleserklärung hier auch
über das Verhältnis des positiven Rechtes zum Naturrecht. Das
positive Recht leitet sich vom Naturrecht ab. Es kann aber auf
doppelte Weise etwas im Naturrecht seinen Ursprung haben. Ein
mal kann sich etwas aus dem Naturrecht in der Weise herleiten, wie
eine Schlußfolgerung aus den Prinzipien gezogen wird, Da diese
Schlußfolgerungen ebenso immer und allüberall Geltung haben wie
die Prinzipien selber, so stellen dieselben nicht variables positives
Recht, sondern wieder Naturrecht dar. So ist der Satz : Du sollst nicht
stehlen, eine naturrechtliche Schlußfolgerung aus dem naturrecht
lichen Prinzip: Du sollst niemanden Übles zufügen. Auf eine zweite
Weise kann etwas aus dem Naturrecht abgeleitet werden per
modum determinationis, im Sinne der Adaptierung, der Anwendung
der naturrechtlichen Grundsätze und Normen auf die vielgestaltigen
Formen des praktischen menschlichen Lebens und Handelns. So
ist es ein naturrechtlicher Satz, daß das Verbrechen, folglich auch
Diebstahl, zu bestrafen sei. Hingegen ist das Ausmaß der Strafe
für die einzelnen Fälle des Diebstahls Sache des positiven Rechts.
Was Thomas hier in kurzer Skizze angedeutet hat, das hat er
in seinen systematischen Werken, namentlich in der theologischen
Summa, in großem Stile dargestellt. Man wird den Sinn und Wert
dieser thomistischen Naturrechtslehre erst dann vollends verstehen
und würdigen können, wenn man in die spekulativen Grundlagen und
Grundgesetze seiner Gedankenwelt sich hineingelebt hat und sein
Auge an die Perspektiven seines hehren Gedankenbaues gewöhnt
hat. Namentlich will seine Naturrechtslehre vom Standort seiner