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NR.

24 MÄRZ 2023 Einleitung

Wie Lateinamerika wirtschaftlich


wieder den Vorwärtsgang findet
Just Transition als Zielmarke
Günther Maihold

Das traditionelle Bild Lateinamerikas als Krisenregion scheint sich auch nach der
Corona-Krise fortzuschreiben, nunmehr im Zeichen der Folgen des Ukraine-Krieges
und der Sanktionsmaßnahmen des Westens. Inflationsdruck, Budgetdefizite und
die Gefahr eines Abrutschens breiter Kreise der Bevölkerung in die Armut beflügeln
Negativszenarien. Es gibt erste Hinweise, dass bereits einige Länder in Zahlungs-
schwierigkeiten geraten. Auf die Tagesordnung gesetzt werden Forderungen latein-
amerikanischer Regierungen nach Schuldenerlass oder Neuverhandlung der Aus-
landsschulden im Zuge einer Neuausrichtung des Entwicklungsmodells an Nachhaltig-
keitskriterien und Klimaschutz. Dies erfordert einen tiefgreifenden Strukturwandel,
weg von der traditionellen Rohstoffprägung der Ökonomien und hin zu einem
umwelt- bzw. sozialverträglichen Entwicklungspfad. Auf diesem Weg müssen auch
Deutschland und Europa einen Schwenk vollziehen, indem sie einen Beitrag zum
Erhalt der natürlichen Ressourcen leisten und nicht nur zu deren Ausbeutung.

Die komplexe wirtschaftliche Situation in Folgen der Wirtschaftskrise abzumildern,


Lateinamerika und der Karibik (LAK) mit und zwar mit Subventionen für Transport
Inflation, steigender Schuldenlast und der sowie Energie- und Lebensmittelpreise,
Tendenz zur Abwertung nationaler Wäh- Umsatzsteuersenkungen für sensible Pro-
rungen weckt schlimme Erinnerungen in duktpreise sowie selektive Preiskontrollen.
der Region. Ein erneutes Abgleiten in makro- Erneut setzen viele Länder auf Export-
ökonomische Instabilität soll unbedingt wachstum, um die Krise zu überwinden.
vermieden werden. Mit der Anhebung der Allerdings bestehen dafür zurzeit nur
Zinsen und hohen Devisenreserven wird geringe Chancen. Die globalen Nachfrage-
versucht, die Gefahren abzuwehren, die der indikatoren weisen nicht in diese Richtung.
Währungsstabilität infolge der Unsicherheit Selbst wenn es einen Nachfrageboom gäbe,
auf den internationalen Märkten drohen. könnte aufgrund eingeschränkter Möglich-
Damit sollen stabile makroökonomische keiten, schnell die Produktion auszuweiten,
Rahmenbedingungen hergestellt werden. nicht der erhoffte Effekt eintreten.
Zudem sind die Regierungen bestrebt, die
Erneut tritt China als alternativer Partner zurückgeworfen. Die ohnehin schwachen
auf: Die meisten Länder Lateinamerikas und demokratischen Institutionen haben weiter
der Karibik können es sich nicht leisten, Schaden genommen, das Misstrauen in die
den chinesischen Markt und die von dort Institutionen ist gestiegen, und der politi-
kommenden Investitionen zu verlieren. sche und gesellschaftliche Konsens erodiert.
Auch hat China in der Vergangenheit lang- Nicht ohne Grund ist von einer »neuen ver-
fristige Kreditfazilitäten angeboten. Diese lorenen Dekade« in Lateinamerika gespro-
ersparten es den LAK-Ländern, bei inter- chen worden. Damit wird auf den langen
nationalen Finanzorganisationen wie dem Schatten der lateinamerikanischen Schul-
Internationalen Währungsfonds (IWF) und denkrise in den 1980er Jahren Bezug ge-
der Weltbank um Überbrückungskredite nommen. Während dieser Zeit erreichten
zu bitten, die mit hohen Auflagen und Kon- die Länder der Region einen Punkt, an
ditionalitäten verbunden sind. Damit gelang dem ihre Auslandsverschuldung weit höher
es, den Markteintritt chinesischer Unter- war als die Wirtschaftskraft ihrer Volks-
nehmen abzusichern. Traten Zahlungs- wirtschaften. Weil sie über ihre Verhältnisse
schwierigkeiten auf, etwa bei den Schuldner- gelebt hatten, erlitten sie einen massiven
ländern Venezuela, Argentinien und Ecua- Wohlfahrtsverlust und einen Schub in der
dor, gewährte Peking Zahlungsaufschübe Armutsrate, was ihre Entwicklung erheb-
und beraumte Gespräche über Restruktu- lich beeinträchtigte.
rierungsoptionen an. Diese Vorgehensweise Eine ähnliche Konstellation wird heute
wurde in der Region als Langzeitstrategie wieder befürchtet, angesichts der deutlich
(»patient capital«) wahrgenommen, obwohl abgeflachten Wachstumskurve, des Infla-
sich die chinesischen Kreditgeber für einen tionsdrucks und der Schwierigkeiten eini-
potentiellen Zahlungsausfall vertraglich ger Länder wie Argentinien, Suriname und
an die Spitze der Rückzahlungslinie setzen Ecuador, ihren Zahlungsverpflichtungen
ließen. nachzukommen. Das jährliche Wirtschafts-
Doch der Rückgriff auf andere Finanz- wachstum in der Region von 2014 bis 2023
quellen ist nicht das einzige Instrument im lag im Durchschnitt bei 0,9 Prozent, war
Krisenmanagement. Die Regierungen ver- also nur halb so hoch wie in der »verlore-
suchen, regionale Ansteckungseffekte zu nen Dekade«. Zwar hat der Schuldendienst
vermeiden. Diese können entstehen, wenn in der Gesamtregion noch keine bedroh-
alle Länder gleichzeitig ihre Ausgaben redu- lichen Dimensionen angenommen, aber für
zieren und damit die Nachfrage auch in kleine Staaten wie Belize, Jamaika, Barba-
anderen Ländern zusammenbricht. Zudem dos, Guyana, Suriname und Panama sind
bemühen sich die Regierungen, die Anfällig- bestehende oder aufkommende finanzielle
keit für Finanzkrisen zu minimieren, in- Klemmen nicht zu übersehen. International
dem sie ihre Einnahmen aus Exporterlösen unterstützte »Buy-Backs« können ein hilf-
steigern. Der einfache Weg zurück in die reiches Gegenmittel sein. Dabei werden
Rohstoffökonomie ist damit vorgezeichnet. öffentliche Gelder eingesetzt, um Schulden
Aber zunehmend regt sich Widerstand in von Krisenländern weit unter dem Nominal-
der Region gegen dieses etablierte Muster wert zurückzukaufen und anschließend zu
der Krisenbewältigung. erlassen.
Kurz- bis mittelfristig sind die Perspekti-
ven wirtschaftlicher Entwicklung in Latein-
Eine weitere verlorene Dekade für amerika nur verhalten. Die konjunkturelle
Lateinamerika? Erholung nach der Corona-Pandemie hat
an Schwung verloren. Nun sind die Wachs-
Aufgrund der Covid-19-Pandemie sowie tumsraten der lateinamerikanischen Volks-
verschärfter wirtschaftlicher und sozialer wirtschaften in den Krisenjahren 2014 bis
Herausforderungen wurde der Subkonti- 2019 mit durchschnittlich 0,3 Prozent
nent in seiner Entwicklung um viele Jahre pro Jahr auf ein niedriges Niveau zurück-

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Grafik

Quelle: International Monetary Fund, Global Debt Database, Central Government Debt, Dezember 2022,
https://www.imf.org/external/datamapper/CG_DEBT_GDP@GDD/SWE

gefallen. In der Folge gingen die Pro-Kopf- wachsen wird, vor allem aufgrund der Kon-
Einkommen zurück. Projektionen der Welt- junkturabschwächung und der steigenden
bank zufolge wird sich das Wirtschafts- Inflation gerade bei den Lebensmittelprei-
wachstum in der Region 2023 verlangsamen, sen, welche die Ärmsten in der Bevölkerung
auf 1,3 Prozent gegenüber 3,6 Prozent im besonders hart trifft. Der Inflationsdruck
Jahr zuvor, und erst in den folgenden Jah- treibt die sozialen Sicherungssysteme in
ren wieder an Dynamik gewinnen. Wird eine finanzielle Klemme, sodass Auseinan-
aber die Binnennachfrage durch inflations- dersetzungen über die Abfederung der
bedingte Straffung der Geldpolitik gedämpft, Krisenfolgen vorhersehbar sind. Bei zuneh-
kann dies die wirtschaftliche Entwicklung menden fiskalischen Budgetbeschränkun-
stärker als erwartet drosseln. Sinken die gen werden Energie- und Nahrungsmittel-
Exportpreise für Rohstoffe deutlich infolge subventionen sowie direkte Transferleis-
nachlassender globaler Nachfrage und ver- tungen für die schwächsten Sektoren der
schlechterter Konditionen auf den internati- lateinamerikanischen Gesellschaften er-
onalen Finanzmärkten, wächst die Gefahr, forderlich, um ein Abrutschen in noch
dass Währungen abgewertet werden und größere Armut zu verhindern. Bei anhalten-
externes Kapital abfließt. Das kann sich der politischer Instabilität in Ländern wie
negativ auf die Zahlungsbilanzen auswir- Argentinien und Brasilien sowie stagnie-
ken. So musste Bolivien bereits auf seine rendem oder sinkendem Lebensstandard
Sonderziehungsrechte beim IWF zurück- großer Bevölkerungsgruppen drohen erneut
greifen, um zusätzliche Liquidität zur Stüt- soziale Unruhen mit Streiks und Produk-
zung des festen Wechselkurses der Landes- tionseinschränkungen. Zudem bildet die
währung Boliviano gegenüber dem US- Wahrnehmung vieler Menschen, nur be-
Dollar zu erhalten. grenzte oder keine wirtschaftlichen Chan-
Nicht nur in diesem Andenland ist daher cen zu haben, den Nährboden für fortdau-
ein höheres Maß an Armut und Ungleich- ernde Gewalt und endemische Korruption.
heit zu befürchten. Es wird erwartet, dass Deshalb muss über geeignete Instru-
beides in der Region bis Ende 2023 weiter mente nachgedacht werden, um diese Miss-

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stände zu beheben. Es geht darum, Ent- bemühen sich die Präsidenten Argentini-
schuldungsmechanismen in Gang zu setzen ens, Brasiliens, Mexikos, Kolumbiens und
und zugleich die negativen Auswirkungen Kubas darum, eine »Antiinflationsfront
bestehender Finanzierungslücken mit Hilfe in Lateinamerika« zu begründen, um die
risikoabgesicherter Kreditfazilitäten (bei- Preise essentieller Güter in ihren Ländern
spielsweise gegenüber Wechselkursschwan- zu kontrollieren, sei es durch Senkung
kungen) aufzufangen. Sieht man von Staa- von Importzöllen oder durch Vorzugsbelie-
ten wie Kuba und Venezuela ab, die sich ferung der jeweiligen Partnerländer unter-
ohnedies außerhalb der internationalen einander. Grundlage dafür soll ein Abkom-
Kapitalmärkte bewegen, sind Anstrengun- men sein, dem sich auch Bolivien, Chile und
gen gefragt, die für die besonderen Bedürf- Honduras anschließen könnten. Dabei soll
nisse von Ländern mittleren Einkommens der zwischenstaatliche Warenaustausch so
maßgeschneidert sind. Zu diesen gehört die organisiert werden, dass überhöhte Preise
Mehrzahl der lateinamerikanischen Flächen- unter den Ländern durch Zulieferungen
staaten. Dabei kommt es darauf an, den ausgeglichen werden. Das würde die aktive
wiederkehrenden Konjunkturkrisen und Beteiligung von Produzentenorganisationen,
der Tendenz, dass alle Maßnahmen prozyk- Zwischenhändlern sowie Konsumenten
lisch wirken und dadurch den Abschwung und Konsumentinnen verlangen. Allerdings
verstärken, entgegenzuwirken. Den sich ist ein solches Verfahren wohl nur dann
abzeichnenden Liquiditätsproblemen gilt es realistisch, wenn es sich nicht um Produkte
durch Schuldenstundungen und -streckung handelt, bei denen diese Länder unterei-
zuvorzukommen. Die Wirtschaftskommis- nander in Konkurrenz stehen. Mit diesem
sion der Vereinten Nationen für Lateiname- Muster solidarischen Handelns und gegen-
rika und die Karibik (ECLAC/CEPAL) befürch- seitiger Hilfe soll es gelingen, die Inflation
tet, dass erhöhte sozialpolitische Aufwen- zu drücken und für die Verbraucherinnen
dungen in wichtigen Ländern fiskalische und Verbraucher, vor allem jene in den
Spielräume weiter verengen könnten. Armutssektoren, eine Entlastung zu schaf-
Daher warnt die Kommission nachdrück- fen. Gerade für Argentinien mit einer In-
lich vor vorschnellen fiskalischen Anpas- flationsrate von 95,2 Prozent, Kolumbien
sungen, da sie dazu führen könnten, die mit 13,1 Prozent und Kuba mit 39,7 Prozent
schwachen Wachstumsimpulse abzuwür- (jeweils 2022) ist eine solche Option ein
gen und die Entwicklungsanstrengungen zusätzlicher Rettungsanker angesichts stei-
entgleisen zu lassen. Gerade das Anlegen gender Lebensmittelpreise.
großer Devisenreserven, um sich gegen Die mexikanische Regierung hatte
externe Schocks zu wappnen und die natio- bereits im Oktober 2022 mit 15 Produzen-
nale Währungsstabilität zu sichern, ist ten und Supermarktketten eine nationale
letztlich nur auf Kosten des Wirtschafts- Regelung für 24 Produkte des Warenkorbs
wachstums ins Werk zu setzen, wie das an Grundnahrungsmitteln vereinbart.
mexikanische Beispiel zeigt. Dafür setzte sie bürokratische Hindernisse
für Importe, Verteilung und Weiterverar-
beitung der vorgesehenen Erzeugnisse aus.
Gemeinsames Handeln gegen Gleichzeitig verhängte sie für bestimmte
Inflationsdruck in der Region strategische Güter ein Exportverbot, um die
nationale Produktion zu sichern. Mit Hilfe
Die linksorientierten Regierungen der dieser Vereinbarung sollen die Kosten der
Region sehen große soziale Sprengkraft in 24 Produkte für die Verbraucherinnen und
der steigenden oder auf hohem Niveau ver- Verbraucher um 8 Prozent gesenkt werden.
harrenden Inflation. Deshalb sind sie be- Ergänzend soll die Versorgung mit Dünge-
strebt, gemeinsame Maßnahmen zu ergrei- mitteln zu Vorzugspreisen oder sogar
fen, um die Geldentwertung zu bremsen kostenlos erfolgen.
und Ernährungssicherheit herzustellen. So

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Fraglich ist jedoch, wie wirksam die im Region so verknüpft werden kann, dass da-
nationalen wie im regionalen Rahmen raus innovative industriepolitische Impulse
angedachten Wege zur Inflationskontrolle gewonnen werden. Es geht darum, dieses
sein werden. Zum einen sind die Preisdyna- Kapital so in Wert zu setzen, dass damit das
miken in hohem Maße durch internationa- Produktivitätswachstum gefördert und die
le Auswirkungen des Krieges in der Ukraine Entwicklung neuer Wirtschaftszweige im
bedingt. Zum anderen drücken die Preis- Bereich »grüner Wirtschaft« unterstützt
kontrollen auf die öffentlichen Haushalte, werden. Ein solcher Übergang erfordert in
wenn etwa in Mexiko die Besteuerung von einer rohstoffreichen Region besonders
Treibstoffen ausgesetzt wird oder bestimm- hohe politische Entscheidungskraft, denn
te Betriebe kostenlos mit Düngemitteln dafür müssen umfangreiche Finanzmittel
beliefert werden sollen. Es steht daher zu mobilisiert werden, die bislang vor allem
befürchten, dass der Plan einer gemein- durch Rohstoffausfuhren erwirtschaftet
samen Front gegen die Inflation den Regie- wurden.
rungen vor allem dazu dient, Handlungs- Die Neigung, in der traditionellen Rolle
kompetenz zu demonstrieren, ohne dass eines Rohstoffexporteurs aus der Krise
die erwünschten Effekte dauerhaft ein- herauszukommen, ist dabei in der latein-
treten. amerikanischen Debatte ebenso präsent wie
das Interesse, die Weichen neu zu stellen,
das heißt umzusteuern hin zu umfassende-
Energietransition, Klimawandel rer Wertschöpfung durch Weiterverarbei-
und Verschuldung zusammen- tung im eigenen Land oder in der Region.
denken Daher sind schwierige und konfliktreiche
Prozesse der gesellschaftlichen Verständi-
Nach Jahren weitreichender Krisenerfah- gung über diese Zielstellungen zu erwarten,
rung sehen sich die Länder der Region vor erste Auftakte dazu hat es bereits in Chile
enorme Herausforderungen gestellt. Kurz- und Kolumbien gegeben. Da viele Länder
fristig geht es darum, die Ökonomien dieser weiterhin von Einnahmen aus dem Öl-
Länder wetterfest zu machen, etwa durch geschäft leben – Argentinien, Brasilien,
Bekämpfung der Inflationstendenzen und Ecuador, Mexiko, Peru, Guyana, Trinidad
Wiederherstellung fiskalischer Handlungs- und Tobago, Venezuela –, besteht eine
fähigkeit angesichts leerer öffentlicher große Pfadabhängigkeit, deren Überwindung
Kassen. Mittelfristig kommt es darauf an, beträchtliche Anstrengungen erfordern
eine neue Energie- und Produktionsmatrix wird. Den Abschied von fossilen Brennstof-
und die Schaffung hochwertiger Arbeits- fen und die Dekarbonisierung der nationa-
plätze im formellen Sektor voranzutreiben. len Energiematrix können die Regierungen
Allerdings gerät die zeitliche Abfolge bei ohne breite nationale Unterstützung und
der Verwirklichung dieser Zielgrößen immer das entsprechende Investitionskapital kaum
wieder ins Wanken, da die Verwerfungen bewerkstelligen.
des Ukraine-Krieges und die westliche Als Grundlage für diesen Wandel verfügt
Sanktionspolitik zusätzliche Belastungen die Region über eine strategische Position,
nach sich gezogen haben. Dabei handelt es denn sie kann wichtige Mineralien für die
sich um Preissteigerungen bei strategischen Energiewende nutzen und liefern. Im Jahr
Gütern (Düngemittel) und Lebensmitteln, 2017 besaßen Lateinamerika und die Kari-
Produktionsausfälle als Folge unterbroche- bik 61 Prozent der Lithium-, 39 Prozent der
ner Lieferketten und Versorgungsprobleme. Kupfer- und 32 Prozent der Nickel- und
Trotz dieser komplexen Gemengelage Silberreserven der Welt. Nur die internatio-
wird in Lateinamerika gegenwärtig eine nale Nachfrage nach diesen Rohstoffen zu
Debatte geführt, wie diese umfassende wirt- bedienen ist heute aus Sicht der Regierun-
schaftliche und wirtschaftspolitische Agenda gen in Chile, Kolumbien und anderer
mit dem Natur- und Energiekapital der Länder nicht mehr sinnvoll. Sie wollen das

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Produktionsprofil grundlegend umgestal- nach Arbeitsplätzen dem Ruf der »fossilen
ten, was nichts weniger bedeutet als eine Energie« in die Ölindustrie nach Vaca
wirtschaftliche und politische Umkehr: Es Muerta. Diese geologische Formation er-
gilt, neue industriepolitische Impulse zu streckt sich über mehrere Provinzen und
setzen, um das alte Muster rohstoffexpor- enthält zudem einige der weltweit größten
tierender Ökonomien hinter sich zu lassen. Schiefergasvorkommen.
Vor dem Hintergrund einer restriktiven Auf solche Verwerfungen muss die Ent-
internationalen Geldpolitik und reduzierter wicklungszusammenarbeit Deutschlands
Kapitalflüsse in die Region sind daher auch und Europas eingehen. Die Schwächen der
steuerpolitische Maßnahmen gefragt, um lateinamerikanischen Produktionsketten
den notwendigen Kapitalbedarf zu decken. und ihre laxeren Umwelt- und Arbeitsstan-
Zusätzlich sind die nationalen und multi- dards haben jedoch den Abschluss von
lateralen Entwicklungsbanken und der Handelsabkommen wie etwa des Mercosur
Privatsektor gefordert, Investitionskapital mit der EU erschwert. Immer vernehm-
zu günstigen Bedingungen zu mobilisieren. licher ertönen Stimmen aus der Region, die
Bedenken hinsichtlich eines möglichen
»grünen« Protektionismus und übergriffiger
Zielgröße: Just Transition extraterritorialer Regulierung äußern,
welche die EU mit ihren Grundsätzen und
Der normative Horizont eines sozialverträg- Standards durchsetzen könnte. Diese Argu-
lich gestalteten, gerechten Übergangs (Just mentation – die auch mit dem Begriff
Transition) zu einer nachhaltigen Wirt- »regulatorischer Imperialismus« operiert –
schaft ist in der entwicklungspolitischen sollte nicht unterschätzt werden, da sie an
Debatte fest verankert. Dabei soll es vor den Argwohn in den lateinamerikanischen
allem gelingen, in den jeweiligen Gesell- Ländern gegenüber ihren europäischen
schaften auch soziale Resilienz zu sichern Partnern anschließt, diese verteidigten mit
und Verwerfungen zu vermeiden, die der Umweltargumenten marktprotektionisti-
Wechsel des Entwicklungspfades hin zur sche Interessen. Je weiter sich die globale
Nachhaltigkeit mit sich bringen könnte. Energiewende durchsetzt, desto mehr neue
Doch das Zusammendenken von Ener- geopolitische Zuordnungen und Rivalitäten
gietransition, Klimawandel und Schulden- entstehen, die es zu managen gilt.
politik weist auch auf vielfältige Zielkon- Um möglichst viele davon zu vermeiden
flikte hin: So gibt es kein Patentrezept für oder zu entschärfen, sollten die Staaten der
eine Just Transition, die konkrete Ausfor- EU sich gemeinsam mit den Ländern der
mung muss den lokalen Bedingungen Region daran machen, geteilte Standards zu
angepasst werden. Es sind also spezifische erarbeiten. Damit würden sie einen Beitrag
Ansätze für den jeweiligen Kontext von- dazu leisten, dass etwa Elemente des Escazú-
nöten, die oftmals nicht im Einklang mit Abkommens (siehe SWP-Aktuell 1/2021)
den allgemeinen Förderprinzipien etwa auch Bestandteil der europäischen Regel-
der Entwicklungszusammenarbeit stehen. werke werden und damit ein Prozess der
Nebenfolgen können sich zu erheblichen gegenseitigen Weiterentwicklung von Nor-
Hindernissen auswachsen: In Mexiko und men und Verfahren einsetzt. Auf diesem
Brasilien sind Windparks auf den Wider- Wege kann es gelingen, aus der Gewinner-
stand ländlicher Gemeinden gestoßen, die Verlierer-Logik herauszukommen, die
Konsultationen vor dem Bau der Anlagen angesichts der massiven internationalen
einklagen. In Ecuador hat die Nachfrage Umschichtungen im Zuge der Energie-
nach Balsaholz, einem der wichtigsten Mate- transition Platz greifen dürfte. Deutschland
rialien für den Bau von Windturbinen- und Europa sollten die Formulierung einer
flügeln, den Druck auf die Wälder im Ama- gezielten Industriepolitik in den LAK-
zonasgebiet erhöht. In Argentinien folgen Staaten unterstützen und die existierenden
Tausende von Menschen auf der Suche Finanzierungslücken für die Just Transition

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schließen helfen. Das bedeutet zum einen,
Schulden umzuwandeln und sich dabei
an der Zielmarke Just Transition zu orien-
tieren, wohl wissend, dass auch die Länder
mittleren Einkommens in Lateinamerika
nicht robust genug sind, um den Krisen-
symptomen trotzen zu können. Die meisten
LAK-Länder erfüllen nicht die Voraus-
setzungen für die bestehenden Schulden-
umwandlungsfazilitäten. Zudem sind
diese Fazilitäten meist an vorherige Verein- © Stiftung Wissenschaft
barungen mit dem Pariser Club gebunden, und Politik, 2023
so dass deren Wirkungen zur Entlastung Alle Rechte vorbehalten
der Haushalte sehr begrenzt sind.
Das Aktuell gibt die Auf-
Schulden-für-Klima-Swaps wären als
fassung des Autors wieder.
Weiterentwicklung der am Beispiel Belize
2021 praktizierten Debt-for-Nature-Swaps In der Online-Version dieser
ein geeignetes Instrument, um den Weg hin Publikation sind Verweise
zu einer kohlenstoffärmeren Wirtschaft auf SWP-Schriften und
wichtige Quellen anklickbar.
zu erleichtern und gleichzeitig Haushalts-
spielraum zu schaffen, damit die LAK- SWP-Aktuells werden intern
Länder in soziale Resilienz und nachhaltige einem Begutachtungsverfah-
Entwicklung investieren können. Diese ren, einem Faktencheck und
Neuorientierung wird indes nur tragfähig einem Lektorat unterzogen.
sein, wenn sehr viel mehr Aufwand betrie- Weitere Informationen
zur Qualitätssicherung der
ben wird, die vorhandenen Rohstoffe in
SWP finden Sie auf der SWP-
der Region zu schützen, statt mit dem Website unter https://www.
Interesse an deren Ausbeutung eine neue swp-berlin.org/ueber-uns/
Partnerschaft zwischen Europa und Latein- qualitaetssicherung/
amerika zu begründen.
SWP
Stiftung Wissenschaft und
Literaturhinweis Politik
Deutsches Institut für
Günther Maihold / Tania Muscio Blanco / Internationale Politik und
Claudia Zilla, Von gemeinsamen Werten Sicherheit
zu komplementären Interessen. Für eine Neu-
Ludwigkirchplatz 3–4
konzeption der Beziehungen Deutschlands und
10719 Berlin
der EU mit Lateinamerika und der Karibik, Telefon +49 30 880 07-0
Berlin: SWP, Dezember 2022 (SWP- Fax +49 30 880 07-100
Aktuell 78/2022) www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org

ISSN (Print) 1611-6364


ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2023A24

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP. Dieses Papier entstand im Rahmen des Projekts
»Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Lateinamerika/Karibik und die Beziehungen zu Deutschland und Europa«.

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