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DER REAKTORUNFALL

1986 IN TSCHERNOBYL
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Druck: Bonifatius GmbH

Stand: März 2016


5. aktualisierte Auflage

Gedruckt auf Recyclingpapier aus 100 % Altpapier.


Inhaltsverzeichnis

Vorwort .. . . . . . ............................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Einleitung . . . . . ............................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Umweltfolgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Gesundheitsfolgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Notfallschutz – Welche Konsequenzen in Deutschland gezogen wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Der Reaktorunfall in Tschernobyl und seine Folgen für deutsche Kernkraftwerke . . . . . . . . . . . . . . 27

Maßnahmen der Bundesregierung zur Verbesserung der Sicherheit


von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Internationale Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine bei der


Stilllegung des KKW Tschernobyl . ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Erfahrungen und Erinnerungen aus Ost und West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

1
Vorwort
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

als vor rund 30 Jahren erste Meldungen und Bilder


über einen Störfall im sowjetischen Kernkraftwerk
Tschernobyl bekannt wurden, herrschte zunächst
Unsicherheit über das, was passiert war. Erst nach
und nach gaben staatliche Stellen Bewertungen über
das Ereignis ab. Die durch politische Rahmenbedin-
gungen ohnehin dünne Informationslage wurde für
die Bevölkerung in Deutschland zusätzlich diffus, da
verschiedene staatliche Stellen unterschiedliche Ver-
haltensempfehlungen abgaben. Die Bürgerinnen und
Bürger mussten sich zwischenzeitlich die Frage stellen,
welcher von den zum Teil widersprüchlichen Informa-
tionen sie mehr Glauben schenken sollten.

Es war ein Zusammenspiel von Bedienfehlern und


konstruktionsbedingten Mängeln des Kernkraft-
werks Tschernobyl, die zu einer Kernschmelze sowie
einem darauf folgenden Graphitbrand im Kern des
Blocks vier der Anlage führten. In der Folge gelang-
ten erhebliche Teile des radioaktiven Inventars des
Reaktors in die Umwelt. Eine Zone im Umkreis von 30 Wolfram König
km um das Kraftwerk wurde evakuiert, rund 340.000
Menschen verloren ihr Zuhause. Tausende Menschen
versuchten unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Ge-
sundheit die Lage zu stabilisieren, viele bezahlten mit So unterschiedlich beide Ereignisse waren, zeigen
beidem. Große Teile Europas waren in den darauf- sie doch deutlich, dass ein wirksamer Notfallschutz
folgenden Wochen von radioaktivem Niederschlag zwei Voraussetzungen benötigt, die sich gegenseitig
betroffen. bedingen:

25 Jahre später wurde die Menschheit ein weiteres Zum einen eine leistungsfähige und einsatzbereite
Mal Zeuge eines Super-GAU, diesmal in Japan. Auf die Technologie, die von erfahrenen Expertinnen und Ex-
Naturkatastrophe eines Tsunami folgten die Kern- perten bedient wird. Die Systeme müssen in kürzester
schmelzen von drei Reaktorkernen im Kernkraftwerk Zeit Informationen bereitstellen, welche die Grundlage
Fukushima. Auch hier gelangten erhebliche Mengen für Entscheidungen, z. B. Handlungsempfehlungen für
radioaktiven Materials in die Umwelt, wenn auch weit die Bevölkerung bilden. Mit Technologie allein ist es
weniger als in Tschernobyl. Großflächige Evakuatio- aber nicht getan: Es bedarf effektiver Organisations-
nen folgten, die Dekontaminationsarbeiten dauern strukturen mit klaren Zuständigkeiten, einer nachvoll-
bis heute an. Auch wenn die unmittelbaren radiologi- ziehbaren und professionellen Risikokommunikation
schen Folgen geringer waren als in Tschernobyl, sind und nicht zuletzt glaubwürdiger staatlicher Einrich-
die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswir- tungen. Ohne die Fähigkeit, Informationen und ihre
kungen gewaltig: Die Beseitigung der Reaktoren Bedeutung der Bevölkerung verständlich zu machen,
und der enormen Mengen kontaminierten Bodens, hilft die hochentwickeltste Technologie zur Lageer-
Wassers und anderen Materials wird noch Jahrzehnte mittlung nichts. Gleiches gilt für die Glaubwürdigkeit
in Anspruch nehmen. der kommunizierenden Institutionen. Ist sie einmal
verspielt, kann sie nur sehr schwer wiederhergestellt
In Deutschland konnten an der hochempfindlichen werden.
Messstelle des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) auf
dem Schauinsland (Baden-Württemberg) Spuren von Aus Tschernobyl und Fukushima wurden auch in
radioaktiven Substanzen aus Fukushima nachgewiesen Deutschland sichtbare Konsequenzen gezogen: In der
werden. Die Konzentration bewegte sich aufgrund der Folge von Tschernobyl wurde 1986 das Ministerium
Verdünnung über die weite Strecke in einem Bereich, für Umwelt-, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU)
der Größenordnungen unter der natürlichen Strahlen- gegründet. Drei Jahre darauf folgte die Gründung des
belastung in Deutschland liegt und damit gesundheit- BfS, welches u. a. für eine verlässliche und einheitliche
lich keine Auswirkungen hat. Lageermittlung im Notfall zuständig sein sollte.

2
Das BfS begann damit, ein Mess- und Informationssys- lässig zu betreiben. Sie werden diese auch in Zukunft
tem für Radioaktivität (Integriertes Mess- und Informa- kontinuierlich weiter entwickeln, um den bestmög-
tions-System, kurz IMIS) aufzubauen. In Deutschland lichen Schutz der Menschen und der Umwelt zu
ermitteln heute 1.800 Messsonden die radiologische gewährleisten.
Lage. Das System zeigt frühzeitig Kontaminationen an
und löst im Falle erhöhter Radioaktivität Warnsysteme
aus. Es bildet auch die Grundlage für Prognosen über
die Ausbreitung von Radioaktivität. Auf Basis dieser
Ergebnisse können im Gefahrenfall Schutzmaßnahmen
beschlossen und eingeleitet werden – von Verhaltens­
empfehlungen bis hin zu Evakuierungen.
Wolfram König
Nach der Katastrophe in Fukushima hat das BfS den Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz
dortigen Unfallablauf genau analysiert. Die Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler gingen der Frage
nach, mit welchen radiologischen Folgen man in
Deutschland zu rechnen hätte, wenn man einen Unfal-
lablauf wie in Fukushima unterstellen würde, der sich
insbesondere durch eine verhältnismäßig lange Freiset-
zungsdauer radioaktiven Materials auszeichnete. Die
Ergebnisse dieses Forschungsprojekts zeigten, dass die
Notfallschutzmaßnahmen in Deutschland auf einen
derartigen Unfall nicht eingestellt gewesen wären, weil
in relativ kurzer Zeit sehr viel größere Gebiete von
Radioaktivität betroffen wären, als man bisher ange-
nommen hatte.

Diese Forschungsarbeiten des BfS bildeten u. a. die


Grundlage für aktualisierte Empfehlungen der Strah-
lenschutzkommission im Jahr 2014 zur Überarbeitung
des nuklearen Notfallschutzes in Deutschland. Diese
sehen insbesondere eine Erweiterung der Planungs-
radien für Notfallmaßnahmen wie Evakuierung,
Einnahme von Jodtabletten etc. vor. Derzeit werden
die Empfehlungen von den zuständigen Stellen
umgesetzt. Außerdem soll durch die Gründung eines
nationalen Lagezentrums die Bündelung von ent-
scheidungsrelevanten Informationen weiter verbes-
sert werden.

Beide Katastrophen hatten darüber hinaus auch


einen grundsätzlichen Einfluss auf den Umgang unse-
rer Gesellschaft mit Hochrisikotechnologien: Der be-
schleunigte Ausstieg aus der Kernenergienutzung im
Jahr 2011 ist hier nur das sichtbarste, jüngste Beispiel.
Dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass im
unmittelbaren europäischen Ausland Kernkraftwerke
noch wesentlich länger in Betrieb bleiben werden. Es
wird daher eine der zukünftigen Herausforderungen
sein, nach der Abschaltung des letzten deutschen
Reaktors eine ausreichende Aufmerksamkeit und die
notwendige Notfallvorsorge auf einem kontinuierlich
hohen Niveau sicherzustellen. Denn bei aller Unsi-
cherheit von Zukunftsprognosen wissen wir eines mit
Sicherheit: Radioaktivität macht nicht an Staatsgren-
zen halt.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BfS stehen


mit ihrer Expertise weiter dafür, die hoffentlich nie
wieder benötigte Notfallvorsorge effektiv und zuver-

3
Einleitung
Am 26. April 1986 ereignete sich im Block 4 des Kern- Abhängigkeit vom Auftreten und der Stärke des Nie-
kraftwerkes Tschernobyl in der Ukraine ein schwerer derschlags während des Durchzugs der radioaktiven
Unfall (siehe auch Seite 7). Dies führte dazu, dass wäh- Luftmassen. In Deutschland wurde der Süden, bedingt
rend der darauf folgenden etwa 10 Tage große Mengen durch heftige lokale Niederschläge, deutlich höher
radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre freigesetzt und belastet als der Norden. Lokal wurden im Bayerischen
über die Nordhalbkugel, insbesondere über Europa, Wald und südlich der Donau bis zu 100.000 Becquerel
verteilt wurden. Die sich stark verändernden meteorolo- (Bq) Cäsium-137 pro Quadratmeter abgelagert. In der
gischen Verhältnisse führten zu mehreren radioaktiven norddeutschen Tiefebene betrug die Aktivitätsabla-
Wolken in unterschiedlichen Himmelsrichtungen. Die gerung dieses Radionuklids dagegen selten mehr als
anfangs vorherrschende Luftströmung transportierte 4.000 Bq/m2 (siehe Abb. auf Seite 5).
die radioaktiven Stoffe über Polen nach Skandinavien,
eine zweite Wolke zog über die Slowakei, Tschechien Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatte schwer-
und Österreich nach Deutschland und eine dritte Wolke wiegende radiologische, gesundheitliche und sozioöko-
erreichte schließlich die Länder Rumänien, Bulgarien, nomische Auswirkungen auf die Bevölkerung in Weiß-
Griechenland und die Türkei (s. Abb unten). russland, Russland und der Ukraine. In allen anderen
Ländern führte dieses Ereignis, obwohl die radiologi-
Die daraus resultierende radioaktive Kontamination schen Folgen des Unfalls im Allgemeinen vergleichs-
in den betroffenen Gebieten variierte erheblich in weise gering waren, zu einer erhöhten öffentlichen

Ausbreitung der radioaktiven Wolken in der Zeit vom 27. April bis 6. Mai 1986.

4
Wahrnehmung der mit der Nutzung der Kernenergie Auf Bitte des Umweltministers der Ukraine um inter-
zur Stromerzeugung verbundenen Risiken. nationale Unterstützung erklärten die Umweltminister
Frankreichs und Deutschlands anlässlich der Wiener
Als Reaktion auf den Reaktorunfall von Tschernobyl IAEO-Konferenz zum 10. Jahrestag der Katastrophe
überarbeiteten viele Länder ihre Programme zum von Tschernobyl im April 1996 ihre Bereitschaft, die
Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung, internationale Kooperation zwischen der Ukraine, der
insbesondere nach nuklearen Unfällen und radiolo- Russischen Föderation und Weißrussland zur Aufarbei-
gischen Ereignissen. Nationale und internationale tung der noch ungelösten Aufgaben im Zusammen-
Notfallschutzplanungen wurden überarbeitet. Interna- hang mit dem Unfall durch eine Deutsch-Französische-­
tional bindende Übereinkünfte für eine schnelle Be- Initiative (DFI) zu unterstützen.
nachrichtigung nach einem Unfall, für den Daten- und
Informationsaustausch sowie für eine internationale
Hilfestellung im Falle eines Unfalls wurden geschaffen.

Bodenkontamination Deutschlands mit radioaktivem Cäsium-137 im Jahr 1986.

5
Im Rahmen dieser DFI wurden gemeinsam mit dem Verfahren zur Überprüfung und Verbesserung der
ukrainischen “Tschernobyl- Zentrum” wissenschaft- Sicherheit von Kernkraftwerken. Darüber hinaus
lich-technische Arbeiten zum “Sicherheitszustand des wurde die internationale Zusammenarbeit verstärkt,
Sarkophags”, zur “Radioökologie” und zu den “gesund- um vergleichbare Unfälle in Zukunft zu verhindern. So
heitlichen Folgen” durchgeführt. Ziel war es, die ver- werden Länder, die Kernkraftwerke sowjetischer Bau-
fügbaren Informationen zu sammeln, aufzuarbeiten, art betreiben, bei der Verbesserung der Sicherheit der
zu überprüfen und zu bewerten sowie elektronisch Anlagen sowie bei der Aus- und Weiterbildung
für die Planung und Durchführung von Schutz- und u. a. von Reaktorpersonal aktiv unterstützt.
Gegenmaßnahmen bereitzustellen. Die Ergebnisse
der DFI wurden der Öffentlichkeit im Oktober 2004 Nahezu 20 Jahre nach dem Unfall legte das Tscherno-
in Kiew und im Rahmen des Tschernobyl-Forums im byl-Forum, das von der Internationalen Atomenergie-
September 2005 in Wien vorgestellt. behörde (IAEO), der World Health Organization (WHO)
sowie weiteren Institutionen der UNO organisiert wur-
Eine Reihe von Ländern diskutierte die Beendigung de und an dem Fachleute aus zahlreichen Ländern,
ihres Kernenergieprogramms oder stieg sogar kurz- insbesondere aus Russland, der Ukraine und Weißruss-
fristig aus der Nutzung der Atomenergie zur Stromer- land teilnahmen, einen Bericht über die gesundheit-
zeugung aus. Neubauten von Kernkraftwerken fanden lichen Folgen des Unfalls vor. Die Ergebnisse dieses
nach 1986 in vielen die Kernenergie nutzenden Berichts, des UNSCEAR-Berichts von 2011, und andere
Staaten – unter ihnen Deutschland – nicht mehr statt. Veröffentlichungen bilden die Grundlage des Kapitels
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl stellt nach zu den Gesundheitsfolgen.
und mit dem Unfall von Three Mile Island (Harrisburg/
USA) eine Zäsur in der Geschichte der Kernenergie dar. Die Bilanz „Der Reaktorunfall 1986 in Tscherno-
Aus dem häufig als hypothetisch hingestellten Risiko byl“ gibt einen Überblick über die Umweltfolgen in
wurde eine reale Gefahr, die von der Bevölkerung in Deutschland. Darüber hinaus wurden die Gesund-
vielen Ländern als bedrohlich empfunden wurde und heitsfolgen in der Umgebung von Tschernobyl und in
in den am höchsten kontaminierten Gebieten auch Deutschland thematisiert. Es werden Konsequenzen
heute noch wird. im Notfallschutz, anlagentechnische Konsequenzen,
Unterstützungsmaßnahmen für Länder, die Reaktoren
Als Folge des Unfalls überarbeiteten und erweiterten sowjetischer Bauart betreiben, Fragen zur Reaktorsi-
viele Länder nach dem Unfall in Tschernobyl ihre cherheit in Mittel- und Osteuropa und die Situation in
Tschernobyl dargestellt.

Blick in das Innere des zerstörten Reaktorgebäudes.

6
Der Unfall
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in der Ukrai- Anstieg der Energiefreisetzung in den Brennelementen
ne ereignete sich in der Nacht vom 25. auf den und im Weiteren zur Zerstörung des Reaktorkerns. Die
26. 04.1986 und war der bisher weltweit größte Unfall im Brennstoff gespeicherte Wärme wurde dabei sehr
in einer kerntechnischen Anlage. Der wesentliche Ab- schnell in das umgebende Kühlmittel übertragen und
lauf wird im Folgenden kurz zusammengefasst. führte zu dessen spontanem Verdampfen. Durch den
hohen Druckaufbau kam es zu einer Explosion des
Das Kernkraftwerk Tschernobyl ist mit vier graphit- Reaktors mit einer Zerstörung des Reaktorgebäudes
moderierten Siedewasser-Druckröhren-Reaktoren mit einschließlich seines Daches und einer Vielzahl resul-
einer elektrischen Leistung von jeweils 1.000 Mega- tierender Brände. Insgesamt ist also festzustellen, dass
watt (RBMK-1000) ausgerüstet. Reaktoren dieses Typs das Zusammentreffen grundlegender Auslegungsmän-
wurden ausschließlich auf dem Gebiet der ehemaligen gel der Anlage in Verbindung mit den oben dargestell-
Sowjetunion errichtet und weisen im Vergleich zu ten Fehlern und Verstößen bei der Betriebsführung als
westlichen Kernkraftwerken schwerwiegende sicher- Ursache für die Reaktorkatastrophe anzusehen ist.
heitstechnische Nachteile auf, die auch für den Unfall
mitverantwortlich waren. So führt z. B. die Verwen- Der Unfall hatte eine massive Freisetzung radioakti-
dung von Wasser als Kühlmittel und Graphit als Mo- ver Kernbrennstoffe und Spaltprodukte zur Folge. Sie
derator (Material zur Verlangsamung der Neutronen) konnte erst nach zehn Tagen durch den Abwurf von
zu einem sogenannten positiven Dampfblasenkoeffizi- ca. 5.000 t Sand, Lehm, Blei und Bor aus Militärhub-
enten. Dabei führt eine durch Leistungs- und Tempe- schraubern auf die Reaktoranlage und das Einblasen
ratursteigerungen im Reaktor verursachte erhöhte von Stickstoff zur Kühlung des geschmolzenen Kern-
Verdampfung des Wassers nicht zu einer Leistungsre- bereichs beendet werden. Die radioaktiven Edelgase
duzierung, sondern zu weiteren und unter Umständen Krypton und Xenon sowie das im Kern enthaltene
nicht mehr kontrollierbaren sprungartigen Leistungs- Tritium wurden praktisch vollständig, die leichtflüch-
und Temperaturerhöhungen. tigen Jod- und Cäsiumisotope etwa zur Hälfte bis zu
einem Drittel und die schwerflüchtigen Nuklide wie
Der Unfall ereignete sich im Block 4 der Anlage wäh- Strontium und alphastrahlende Aktinide zu etwa 3
rend eines Abfahrvorganges zur Revision, d. h. eines bis 4 % des Kerninventars freigesetzt. Die Aktivität der
planmäßigen langsamen Abschaltens des Reaktors freigesetzten radioaktiven Stoffe – ohne Berücksichti-
zur Durchführung routinemäßiger Instandhaltungs- gung der meist kurzlebigen Edelgase und des Tritiums
und Prüfarbeiten. Bei diesem Abfahrvorgang war ein – lag in der Größenordnung von 2 x 1018 Bq. Aufgrund
zusätzliches Versuchsprogramm zur Überprüfung der Explosion und der nachfolgenden Brände kam
verschiedener Sicherheitseigenschaften der Anlage es zu Freisetzungen in große Höhen und damit zu
vorgesehen. Das Ziel des Versuchs war der Nachweis, Ausbreitungen über weite Teile Europas, u. a. bis nach
dass die Anlage auch bei einem Verlust von Kühlmit- Skandinavien und Großbritannien. Die örtliche Vertei-
tel (Kühlmittelverluststörfall) und einem gleichzeitig lung der Kontamination wurde nicht nur durch die in
angenommenem Ausfall der Stromversorgung (Not- der zehntägigen Freisetzungsphase vorherrschenden
stromfall) beherrscht werden kann. In einem solchen Winde, sondern entscheidend durch die Intensität
Störfall kommt es zu einer sofortigen automatischen der Regenfälle in diesem Zeitraum geprägt, durch
Abschaltung des Reaktors. Die mechanische Energie die die radioaktiven Stoffe ausgewaschen und nieder-
des auslaufenden Rotors im Turbinen-Generator-Satz geschlagen wurden. Dementsprechend ergaben sich
muss dann ausreichen, den Strombedarf der Haupt- lokal sehr unterschiedliche Kontaminationsgrade. Am
speisepumpen übergangsweise bereitzustellen, bis die stärksten betroffen waren Gebiete in der nördlichen
Versorgung der Notkühlpumpen durch die Notstrom- Ukraine, in Weißrussland und im Westen Russlands.
dieselaggregate gewährleistet ist. Dieser Versuch
wurde als rein konventioneller Versuch im Bereich
der Elektrotechnik angesehen, bei dem keine Rückwir-
kungen auf den nuklearen Teil der Anlage erwartet
wurden. Durch Unzulänglichkeiten des Versuchspro-
gramms, unerwartete Bedingungen während der
Versuchsdurchführung, mehrere Verstöße gegen die
Betriebsvorschriften sowie insbesondere die ungünsti-
gen reaktorphysikalischen und sicherheitstechnischen
Eigenschaften dieses Reaktortyps – u. a. der oben
beschriebene positive Dampfblasenkoeffizient – kam
es zu einer prompt überkritischen Leistungsexkursion,
also einer sprunghaften und nicht mehr kontrollierba-
ren Leistungserhöhung. Sie führte zu einem rapiden

7
Umweltfolgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl
In Deutschland wurde Ende der 50er Jahre des zwan- ten Verzehr freizugeben. Einige Bundesländer legten
zigsten Jahrhunderts mit systematischen Messungen, wesentlich strengere Maßstäbe an, beispielsweise mit
insbesondere von radioaktivem Cäsium und Strontium, der Empfehlung, Frischmilch mit Konzentrationen von
in verschiedenen Umweltmedien begonnen. Die Bun- I-131 oberhalb 20 Bq/l nicht zu verzehren. Wegen sei-
desanstalt für Ernährung (heute Max-Rubner-Institut, ner kurzen Halbwertszeit von etwa 8 Tagen war I-131
Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebens- bereits nach wenigen Wochen weitgehend zerfallen.
mittel) beobachtete in allen tierischen und pflanz- Die gesamte Belastung durch radioaktives Jod rührte
lichen Nahrungsmitteln einen steilen Anstieg der von einer Menge von weniger als 1 Gramm her, die
Aktivität der gemessenen Radionuklide bis 1964, der sich über der damaligen Bundesrepublik Deutschland
auf den Niederschlag oberirdischer Kernwaffenversu- abgelagert hatte. Die auf der gleichen Fläche abge-
che (Fallout) zurückging. Der relativ schnelle Abfall bis lagerte Menge Cäsium-137 lag nach Angaben der
1970 lässt sich durch den Rückgang der direkten Abla- Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF,
gerung auf Pflanzen infolge des Teststopps für oberir- heute HMGU, Helmholtz Zentrum München – Deut-
dische Atomwaffentests erklären. Danach reduzierten sches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt)
sich die Aktivitätsgehalte in der Nahrung kontinuier- bei etwa 230 Gramm.
lich, bis 1986 der Tschernobyl-Fallout die Kontamina-
tionen wieder deutlich erhöhte. Für die Strahlenex- Für einen kurzen Zeitraum empfahl die Strahlenschutz-
position des Menschen infolge des Reaktorunfalls von kommission aus Vorsorgegründen zusätzlich einen
Tschernobyl waren insbesondere radioaktives Cäsium Richtwert von 100 Bq/kg Cs-137 für das im Freiland
(Cs-137 und Cs-134) und Jod (I-131) von Bedeutung. angebaute und zur Ernte anstehende Blattgemüse, das
Heute spielt in Mitteleuropa praktisch nur noch das zu lagerfähigen Lebensmitteln weiterverarbeitet wird.
langlebige Cs-137 eine Rolle. Dieses Radionuklid ist auf Ende Mai 1986 verordnete die damalige EG (Europäi-
Grund seiner Halbwertszeit von etwa 30 Jahren seit sche Gemeinschaft) Grenzwerte für die Einfuhr land-
1986 bis heute nur zu etwa der Hälfte zerfallen. wirtschaftlicher Erzeugnisse aus Drittländern. Diese
auch heute noch gültigen Höchstwerte beziehen sich
Bereits kurz nach dem Eintreffen der radioaktiven auf die Summe von Cs-137 und Cs-134 und betragen
Luftmassen in Deutschland Ende April/Anfang Mai 370 Bq/kg für Milch, Milchprodukte und Kleinkinder-
1986 führte die direkte Ablagerung radioaktiver Stoffe nahrung und 600 Bq/kg für alle übrigen Lebensmittel.
auf Weideflächen und einigen wenigen erntereifen Nach der deutschen Rechtsprechung dürfen höher
Kulturen zu hohen Gehalten von I-131 in Kuhmilch kontaminierte Lebensmittel auch innerhalb Deutsch-
und Blattgemüse, wie beispielsweise Spinat im süd- lands nicht in den Verkehr gebracht werden.
deutschen Raum. Als Reaktion darauf empfahl die
Strahlenschutzkommission (SSK) Anfang Mai 1986, nur Auch pflanzliche Nahrungs- und Futtermittel, die noch
Frischmilch mit weniger als 500 Bq/l I-131 zum direk- nicht zur Ernte anstanden, waren von der direkten

Spezifische Cs-137-Aktivität in Bq/kg Frischmasse bzw. Bq/l

Probenzahl Minimalwert 2) Maximalwert 2) Mittelwert 2)

Milch (Sammelmilch) 940 0,02 1,5 0,09

Fleisch (Rind, Kalb, Schwein, Geflügel) 1001 < 0,04 11,7 0,3

Blattgemüse 1 ) 688 < 0,0001 1,3 0,09

Frischgemüse ohne Blattgemüse 1 ) 679 < 0,01 0,4 0,06

Kartoffeln 222 < 0,02 3,7 0,09

Getreide 685 < 0,02 1,4 0,08


1) Freilandanbau
2) Wert ermittelt aus echten Messwerten (ohne Berücksichtigung von Nachweisgrenzen)

Messergebnisse aus dem Integrierten Mess- und Informationssystem zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) für landwirtschaftli-
che Produkte aus inländischer Erzeugung im Jahr 2014 (Stand: 3.7.2015).

8
Tägliche Zufuhr von Cs-137, Cs-134 und Sr-90 mit der Gesamtnahrung in Bq pro Person und Tag (Daten bis 1992: Leitstelle für Nahrungsmit-
tel, Daten ab 1993: Integriertes Mess- und Informationssystem zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS)).

Ablagerung der Radionuklide aus der Atmosphäre auf Schichten, die aus sich zersetzender Streu gebildet wer-
die oberirdischen Pflanzenteile betroffen. Ein großer den und reich an Bodenorganismen sind, ist Cäsium
Teil des abgelagerten Radiocäsiums (Cs-137 und Cs-134) leicht verfügbar und wird schnell durch Bodenorganis-
gelangte in diesem Fall über das Blatt in die Pflanze men, Pilze und Pflanzen aufgenommen. Cäsium bleibt
und wurde dort verteilt. Langfristig hingegen wurde in die für nährstoffarme Ökosysteme typischen, sehr
Radiocäsium im Wesentlichen über die Wurzeln aus wirkungsvollen Nährstoffkreisläufe eingebunden und
dem Boden aufgenommen. Radiocäsium kann auf wandert deshalb nur langsam in die mineralischen
den mineralischen Böden vieler Ackerflächen stark an Bodenschichten ab, wo es ähnlich wie auf landwirt-
bestimmte Tonminerale gebunden werden. Dadurch schaftlichen Böden durch bestimmte Tonminerale
steht es nur in sehr geringem Maß für die Aufnahme fixiert werden kann. Der Radiocäsiumgehalt von Wald-
über die Wurzeln zur Verfügung. Landwirtschaftli- produkten nimmt daher in der Regel nur langsam ab.
che Kulturen, die erst nach dem Reaktorunfall von Höher kontaminierte Nahrungsmittel aus dem Wald
Tschernobyl ausgesät oder angepflanzt wurden, waren sind in den Teilen Deutschlands zu erwarten, die vom
bereits im Sommer 1986 pro kg nur noch mit wenigen Tschernobyl-Fallout besonders betroffen waren.
Bq Radiocäsium kontaminiert. Auch heute liegt der Ge-
halt von Cs-137 in landwirtschaftlichen Produkten aus Dies sind insbesondere der Bayerische Wald und die
inländischer Erzeugung in dieser Höhe und darunter Gebiete südlich der Donau. In anderen Regionen, wie
(siehe Tabelle auf Seite 8). In Deutschland werden mit etwa dem Norden Deutschlands, sind die Aktivitäts-
Nahrungsmitteln aus landwirtschaftlicher Erzeugung werte wegen der geringeren Ablagerung von Radio-
im Mittel weniger als 80 Bq Cs-137 pro Person und cäsium entsprechend niedriger. Eine auch lokal sehr
Jahr aufgenommen. Einen Überblick über die tägliche hohe Schwankungsbreite des Cs-137-Gehalts ist für wild
Zufuhr von Cs-137, Cs-134 und Sr-90 mit der Gesamt- wachsende Pilze und Wildbret charakteristisch.
nahrung gibt die Abbildung oben.

Ganz anders stellt sich die Situation bei Nahrungsmit-


teln des Waldes dar. Insbesondere bei Speisepilzen und
Wildbret können auch 30 Jahre nach dem Reaktorun-
fall von Tschernobyl deutlich erhöhte Cs-137-Aktivi-
täten gemessen werden. Die Ursache hierfür ist der
im Vergleich zu Ackerflächen andere Bodenaufbau.
Wälder zeichnen sich durch sogenannte organische
Auflageschichten auf den Mineralböden aus. In diesen

9
In Maronenröhrlingen werden noch einige 100 Bq Cs-137 pro kg Parasolpilze weisen Cs-137-Aktivitäten von bis zu einigen
gemessen. 10 Bq pro kg auf.

Bei wild wachsenden Speisepilzen sind nicht nur durchschnittliche Gehalt von Cs-137 im Muskelfleisch
regional, sondern auch artspezifisch sehr unterschied- in der Reihenfolge Wildschwein, Reh und Rothirsch
liche Kontaminationen festzustellen. In Semmelstop- abnimmt. Die im Rahmen eines bundesweiten Routi-
pelpilzen aus Südbayern und dem Bayerischen Wald nemessprogramms (IMIS) erhobenen Daten erreichten
werden noch mehr als 1.000 Bq/kg Cs-137 gemessen. im Jahr 2014 für Hirsche maximal rund 110 Bq/kg und
Maronenröhrlinge und Steinpilze können mehrere für Rehe rund 840 Bq/kg. Die höchsten Cs-137-Aktivitä-
100 Bq/kg aufweisen, bei Parasolpilzen sind es bis zu ten wurden mit rund 2.500 Bq/kg im Muskelfleisch von
einige 10 Bq/kg. Wildschweinen gemessen. Diese Daten sind jedoch für
Deutschland nicht repräsentativ. Die Kontamination
Die Belastung von Pilzen hängt sowohl von der von Wildschweinen kann auch heute noch vereinzelt
Cs-137-Konzentration in der Umgebung des Pilz- 10.000 Bq/kg überschreiten. Nur Fleisch mit einem
geflechts (Myzels) als auch vom speziellen Anrei- Radiocäsiumgehalt unter dem Grenzwert von 600 Bq/kg
cherungsvermögen der jeweiligen Pilzart ab. Die darf verkauft werden.
Aktivitätswerte in Pilzen, die ihre Nährstoffe aus den
oberen Bodenschichten beziehen, werden wegen der Sowohl die Höhe der Belastung verschiedener Wildtier-
fortschreitenden Tiefenverlagerung der Radionuklide arten als auch deren jahreszeitlicher Verlauf hängen
in den nächsten Jahren weiter langsam zurückgehen. eng mit dem Ernährungsverhalten und dem Futteran-
Gleichzeitig ist zu erwarten, dass bei einigen wenigen gebot zusammen. Höhere Kontaminationen sind ins-
Pilzarten, deren Myzelien tief liegende Bodenschichten besondere dann zu erwarten, wenn die Tiere ihr Futter
durchziehen, nahezu unveränderte oder sogar leicht vornehmlich im Wald suchen und nicht auf landwirt-
erhöhte Radiocäsiumaktivitäten gemessen werden, da schaftlichen Flächen äsen. Abgesehen von jahreszeit-
sich Cs-137 in diesen Schichten anreichert. Die radioak- lichen Schwankungen verringerte sich bei Rehwild
tive Belastung einer Pilzart schwankt von Standort zu und Rotwild der Cs-137-Gehalt des Muskelfleisches seit
Standort allerdings wesentlich stärker als die Änderun- 1987 kontinuierlich. Dies entspricht den Erwartungen.
gen von Jahr zu Jahr. In dem Maß, in dem Radiocäsium im Waldboden aus
dem Wurzelbereich in tiefere Schichten wandert,
Wildbret ist je nach Region und Tierart sehr unter- sollte die radioaktive Belastung der Futterpflanzen und
schiedlich belastet. Als Anhaltspunkt kann man davon damit auch des Muskelfleisches von Reh- und Rotwild
ausgehen, dass an vergleichbaren Standorten der abnehmen.

10
Aufgrund ihrer Vorliebe für Hirschtrüffel sind Wildschweine im Vergleich zu anderem Wildbret am höchsten belastet.

Ganz anders ist die Situation bei Wildschweinen, wo 200 g höher kontaminierten Semmelstoppelpilzen aus
nach einer stetig geringer werdenden Abnahme und Südbayern mit etwa 1.500 Bq/kg Cs-137 hätte beispiels-
einer Stagnation seit 1995 eine erneute Aktivitätszu- weise eine Strahlenbelastung von 0,004 mSv zur Folge.
nahme beobachtet werden kann. Tendenziell steigen- Eine Dosis in dieser Höhe entspricht weniger als einem
de Belastungen bei einer großen Streuung einzelner Hundertstel der jährlichen natürlichen Strahlenbelas-
Messwerte wurden auch in niedriger belasteten tung. Diese beträgt in Deutschland im Mittel 2,1 mSv
Gebieten, wie etwa dem Pfälzerwald, beobachtet. und liegt je nach örtlichen Gegebenheiten zwischen 1
Eine besondere Rolle spielen hierbei die unterirdisch und 10 mSv.
wachsenden Hirschtrüffel, die mehr als zehnmal
so hoch belastet sein können wie die oberirdischen Das BfS rät grundsätzlich, jede Strahlenexposition so
Fruchtkörper von Speisepilzen. Obwohl Hirschtrüffel gering wie möglich zu halten. Die Strahlenexposition
im Durchschnitt nur einen kleinen Teil des Futters- durch den Verzehr von Nahrungsmitteln lässt sich
pektrums der Wildschweine ausmachen, leisten sie durch das individuelle Ernährungsverhalten reduzie-
wegen ihres außergewöhnlich hohen Cs-137-Gehalts ren. Wer für sich persönlich die Strahlenbelastung so
den mit Abstand bedeutendsten Beitrag zur Radiocäsi- gering wie möglich halten möchte, sollte deshalb auf
umaufnahme dieser Tiere. Wegen der fortschreitenden den Verzehr selbst gesammelter Speisepilze oder selbst
Tiefenverlagerung von Radiocäsium im Waldboden erlegten Wildbrets aus den höher belasteten Gebieten
ist langfristig auch bei Wildschweinen wie bei allen Süddeutschlands , wie etwa dem Bayerischen Wald,
Nahrungsmitteln aus dem Wald mit einer langsamen verzichten. Speisepilze und Wildbret aus dem Handel
Abnahme der Belastung zu rechnen. Wichtig für die dürfen den Grenzwert von 600 Bq/kg nicht überschrei-
Beurteilung möglicher gesundheitlicher Folgen ist die ten. Diese können bedenkenlos verzehrt werden.
Strahlenbelastung, die sich aus dem Verzehr kontami-
nierter Lebensmittel ergibt. In Deutschland ist es nicht
erlaubt, Lebensmittel mit einem Radiocäsiumgehalt
von mehr als 600 Bq/kg in den Handel zu bringen.
Diese Beschränkung gilt jedoch nicht für den Eigenver-
zehr. Als Faustregel gilt, dass die Aufnahme von etwa
80.000 Bq Cs-137 bei Erwachsenen einer Strahlenbelas-
tung von etwa 1 mSv entspricht. Eine Pilzmahlzeit mit

11
Gesundheitsfolgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl

Strahlenexposition ausgewählter Wissen über Strahlenschäden


Bevölkerungsgruppen
Ob und in welchem Ausmaß eine Strahlenexposition
Beim Reaktorunfall in Tschernobyl wurden große zu einem gesundheitlichen Schaden führt, hängt von
Mengen von Radionukliden in die Umwelt freigesetzt. der absorbierten Strahlenmenge, der Strahlenart und
Insbesondere die radioaktiven Isotope des Cäsiums davon ab, welches Organ oder Gewebe des Körpers
und des Jods verteilten sich über weite Teile Europas. hauptsächlich betroffen ist.
Beim Menschen führten diese Freisetzungen zu
Bei den Strahlenschäden unterscheidet man grund-
„„ einer äußeren Strahlenbelastung durch die vor- sätzlich zwischen deterministischen und stochasti-
beiziehende radioaktive Wolke sowie durch die schen Schäden (siehe Tabelle S.13).
abgelagerten Radionuklide und
„„ einer inneren Strahlenbelastung durch das Einat-
men von radioaktiven Partikeln mit der Luft sowie Deterministische Strahlenschäden
durch die Aufnahme von kontaminierten Lebens-
mitteln und Trinkwasser. Deterministische Strahlenschäden werden durch hohe
Dosen ionisierender Strahlung hervorgerufen. Sie sind
Die Tabelle unten gibt einen Überblick über die Strah- häufig akut und treten nur auf, wenn die Dosis inner-
lenexposition der wichtigsten Bevölkerungsgruppen halb kurzer Zeit einen gewissen Schwellenwert über-
nach dem Reaktorunfall. schreitet. Für die meisten akuten Strahlenschäden liegt
dieser Schwellenwert bei etwa 500 mSv und höher.

Grundsätzlich gilt für deterministische Strahlenschä-


Durchschnittliche
den: Je höher die Strahlendosis oberhalb des Schwel-
Bevölkerungsgruppe effektive Dosis
lenwertes, desto schwerer der Schaden und umso
1986 - 2005 in mSv
früher tritt er in Erscheinung.
Liquidatoren1 117
Bei Strahlenexpositionen oberhalb des Schwellenwer-
Evakuierte2 31 tes treten gesundheitliche Schäden innerhalb von
Stunden, Tagen oder wenigen Wochen auf. Der Zusam-
Bewohner kontaminierter Regi- menhang zwischen Strahlenbelastung und Erkrankung
onen3 in Weißrussland, Russland 9 ist in der Regel unmittelbar erkennbar. Zu diesen so-
und der Ukraine4 genannten frühen deterministischen Strahlenschäden
zählen unter anderem
Sonstige Bewohner in Weißruss-
1,3
land, Russland und der Ukraine4
„„ das Erythem der Haut (Rötung, verbrennungsähn-
Bewohner sonstiger europäischer liche Erscheinungen),
Länder ohne Türkei, Länder „„ Haarausfall,
0,3 „„ Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit und
des Kaukasus, Andorra und San
Marino4 „„ Blutarmut (Anämie)

Vergleich: Jährliche durchschnitt- Diese Schäden können ein lebensbedrohendes Krank-


liche natürliche Strahlenexpositi- 2,1 heitsbild ergeben, das nur schwer oder überhaupt
on in Deutschland nicht medizinisch behandelbar ist.

1) Externe Dosis von 1986 bis 1990, die die Arbeiter durch
die unmittelbaren Aufräumarbeiten erhielten Stochastische Strahlenschäden
2) Externe und interne Dosis 1986 bis zur Evakuierung
3) Bodenkontamination durch Cs-137 größer als 37.000 Für stochastische Strahlenschäden gibt es keinen
Bq/m2 Schwellenwert. Sie können daher sowohl oberhalb als
4) Externe und interne Dosis von 1986 bis 2005, die totale auch unterhalb der oben genannten Schwellenwerte
Dosis wird etwa um 25 % höher liegen für die gesamte für deterministische Schäden hervorgerufen werden.
Lebenszeit Zu den stochastischen Schäden zählen strahlenbe-
dingte Krebserkrankungen und Leukämien. Sie treten
Dosisabschätzungen für die wichtigste exponierte Bevölkerungs- häufig erst Jahre bis Jahrzehnte nach Einwirkung der
gruppe (UNSCEAR 2008), ohne Schilddrüsendosis. Strahlung auf.

12
Deterministische Strahlenschäden Stochastische Strahlenschäden

Meist unmittelbar auftretende Schäden an Später auftretende Schäden aufgrund von Zel-
Beschreibung
Geweben und Organen len, deren DNA (Erbmaterial) geschädigt wurde

Mutationen und nachfolgende Vermehrung von


Abtötung oder Fehlfunktionen zahlreicher
Ursache des Schadens einzelnen mutierten Zellen (Körperzellen oder
Zellen
Keimzellen)

Je höher die Strahlendosis, desto höher die


Je höher die Strahlendosis, desto schwerer der
Dosis-Abhängigkeit Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Strah-
Strahlenschaden
lenschadens

ca. 500 Millisievert (mSv); beim ungeborenen


Dosis-Schwellenwert Nicht vorhanden
Kind ca. 50 bis 100 mSv

Rötungen der Haut, Haarausfall, Unfruchtbar-


keit, akute Strahlenkrankheit, Fehlbildungen
Beispiele Krebs, Leukämie, vererbbare Effekte
und Fehlentwicklungen des Gehirns beim
Ungeborenen

Grundsätzlich gilt für stochastische Strahlenschäden: Gesundheitliche Folgen bei den Rettungs-
Je höher die Strahlendosis, desto wahrscheinlicher tritt
der Schaden auf. kräften und Aufräumarbeitern sowie bei
der Bevölkerung in der Umgebung von
Die durch Strahlung ausgelösten Erkrankungen lassen Tschernobyl
sich im Krankheitsbild nicht von gleichartigen, spontan
auftretenden Erkrankungen unterscheiden. Ein Nach- Frühschäden
weis, dass Strahlung für diese Spät- oder Langzeitfolgen
verantwortlich ist, kann nur durch epidemiologische Abgesehen von den Atombombenopfern von Hiroshi-
Untersuchungen erbracht werden. Dabei wird unter- ma und Nagasaki wurde fast die Hälfte aller weltweit
sucht, ob in der bestrahlten Personengruppe häufiger verzeichneten Fälle eines zumeist tödlich verlaufenden
bösartige Erkrankungen beobachtet werden als in einer akuten Strahlensyndroms durch den Reaktorunfall von
sonst gleichartigen Bevölkerungsgruppe. Ein Nachweis Tschernobyl verursacht. Betroffen waren Beschäftigte
im Einzelfall ist bisher nicht möglich. des Reaktors, Feuerwehrleute und Liquidatoren1.

Ferner können nach einer Strahlenexposition Katarakte In den Jahren 1986 und 1987 waren ca. 200.000 Per-
des Auges (grauer Star) und Herz-Kreislauf-Erkrankun- sonen als Rettungskräfte und Aufräumarbeiter (sog.
gen vermehrt auftreten. Für Katarakte ist inzwischen Liquidatoren) innerhalb der 30-km-Sperrzone eingesetzt.
nachgewiesen, dass die Dosis, ab der eine solche Schädi- Weitere Aufräumarbeiten wurden bis etwa 1990 durch-
gung durch Strahlung bedingt auftreten kann, niedriger geführt. Die Gesamtzahl der für den Einsatz registrier-
ist, als noch vor ein paar Jahren angenommen wurde ten Liquidatoren betrug etwa 600.000. Zwei Personen
(0,7 Gray gegenüber fünf Gray). Für Erkrankungen des starben unmittelbar aufgrund schwerer Verletzungen
Herz-Kreislauf-Systems hat sich gezeigt, dass oberhalb und Verbrennungen durch die Explosion des Reaktors.
von etwa 0,5 Gray das Risiko geringfügig erhöht ist. Ob Dem Bericht des Tschernobyl-Forums (einer Initiative
das Risiko auch unterhalb dieses Dosiswertes erhöht ist, der IAEA2 in Zusammenarbeit mit der WHO3, UNDP4,
ist derzeit wissenschaftlich noch nicht geklärt. FAO5, UNEP6, UNOCHA7, UNSCEAR8, World Bank sowie
den Regierungen von Weißrussland, Russland und der
Die folgende Zusammenfassung der Gesundheitsfolgen
konzentriert sich auf die unmittelbar durch Strahlung
verursachten Erkrankungen. Nicht vergessen werden
1 Arbeitskräfte, die unmittelbar nach dem Unfall zu Aufräumarbei-
darf, dass durch den Unfall selbst und die notwendi- ten eingesetzt wurden.
gen Katastrophenschutzmaßnahmen wie Evakuierung, 2 International Atomic Energy Agency
Beschränkungen des Verzehrs von Lebensmitteln, 3 World Health Organization
Zugangsbeschränkungen usw. weitere gesundheitsrele- 4 United Nations Development Programme
5 Food and Agriculture Organization of the United Nations
vante Folgen ausgelöst wurden. Auch die mit dem Unfall
6 United Nations Environment Programme
verbundene Destabilisierung der lokalen und regionalen 7 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs
gesellschaftlichen Strukturen hatte Auswirkungen auf 8 United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic
die Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen. Radiation

13
chen, die im Alter von 0 bis 18 Jahren in den ersten
Tagen (bis 2 Monate) nach dem Unfall der Belastung
mit radioaktivem Jod ungeschützt ausgesetzt waren.
Nach Aufnahme in den Körper reichert sich radioakti-
ves Jod in der Schilddrüse an. Die Schilddrüsendosen
der evakuierten Bevölkerung reichten von 0,05 Gy bis
hin zu mehr als 5 Gy.

In den Jahren 1991 bis 2005 wurden rund 6.900 Schild-


drüsenkrebserkrankungen in der Bevölkerung der
oben genannten Gebiete festgestellt. Für die meisten
Experten unerwartet war die Beobachtung, dass be-
reits zirka fünf Jahre nach dem Reaktorunfall gehäuft
Schilddrüsenkrebs in den am höchsten kontaminierten
Gebieten in Weißrussland auftrat. Die Schilddrüsen-
krebsrate stieg um mehr als das Sechsfache an, insbe-
sondere bei Personen, die zum Zeitpunkt des Unfalls
jünger als 10 Jahre waren. Dies war offensichtlich eine
direkte Folge der Strahlenexposition, da ohne Strahlen-
belastung Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendli-
chen kaum auftritt.

Nach Angaben der WHO (2006) wurden etwa 40


Prozent der Fälle im Rahmen medizinischer Vorsor-
geuntersuchungen entdeckt, 60 Prozent der Patienten
meldeten sich wegen Beschwerden. Bis zum Jahr 2004
sind mindestens 9 Kinder nachweislich an Schilddrü-
Versorgung eines Mannes mit schweren Verbrennungen, der bei senkrebs gestorben. Weitere sechs Patienten starben
den Löscharbeiten am Reaktor in Tschernobyl sehr hohen Dosen aufgrund anderer Todesursachen. Die meisten Pa-
ausgesetzt war. tienten konnten jedoch durch operatives Entfernen
der Schilddrüse und anschließende Radiojodtherapie
erfolgreich erstbehandelt werden. Sie müssen sich
regelmäßig medizinisch untersuchen lassen und
Ukraine) aus dem Jahr 2005 zufolge wurde bei 134 Not- täglich Medikamente einnehmen, um die Funktionen
fallhelfern ein akutes Strahlensyndrom diagnostiziert. der Schilddrüse zu ersetzen. Dies führt zu erschwerten
Trotz sofortiger Behandlung und einzelner Knochen- Lebensbedingungen.
marktransplantationen verliefen 28 davon tödlich.
Weitere 19 starben in den Folgejahren (1987 bis 2004) Andere solide Tumoren
wegen verschiedener Ursachen, die nicht eindeutig auf Während der Anstieg der Erkrankungen an Schilddrü­
die Strahlenexposition zurückgeführt werden konnten. sentumoren bei Kindern und Jugendlichen eindeutig mit
der Strahlenexposition durch Tschernobyl zusammen-
Mehr als 5 Millionen Menschen leben in Gebieten, die hängt, was auch analytische epidemiologische Studien
als kontaminiert klassifiziert wurden (mehr als 37.000 zeigten, liegen für die anderen soliden Tumorerkran-
Bq/m2). Etwa 400.000 davon lebten davor in noch höher kungen wie Brustkrebs bei Frauen bisher nur weniger
belasteten Gebieten (mehr als 555.000 Bq/m2) und aussagekräftige Untersuchungen (sog. ökologische
wurden aus der unmittelbaren Umgebung des Unfallre- Studien) vor. Einige dieser Untersuchungen deuten auf
aktors evakuiert. Im Frühjahr und Sommer 1986 betrug erhöhte Erkrankungsraten hin. Bei Liquidatoren wurde
die Anzahl der Evakuierten etwa 116.000 und in den beispielsweise im Zeitraum von 1992-2009 ein Anstieg
Folgejahren zusätzlich 220.000. In dieser Bevölkerung, von soliden Krebsneuerkrankungen um 18 % beobach-
insbesondere bei den evakuierten Personen aus der tet. Die Ergebnisse all dieser Studien sind allerdings
Umgebung Tschernobyls, wurden nach Kenntnis des BfS noch immer mit großen Unsicherheiten behaftet und
keine akuten Strahlenschäden beobachtet. eine Bestätigung durch weitere analytische Untersu-
chungen steht noch aus. Es ist dabei ebenfalls zu beden-
ken, dass solide Tumoren teilweise eine Latenzzeit von
Spätschäden 20 Jahren und mehr haben und mögliche Effekte erst
nach Ablauf dieser Latenzzeit entdeckt werden können.
Schilddrüsenkrebs
In ganz Weißrussland, der Ukraine und den 4 am Leukämien
meisten betroffenen Gebieten Russlands wurde ein er- Ionisierende Strahlung kann Leukämien auslösen. Diese
heblicher Anstieg an Schilddrüsenkrebserkrankungen können schon nach einer sehr geringen Latenzzeit von
beobachtet, insbesondere bei Kindern und Jugendli- etwa 2 Jahren auftreten. Nach dem Unfall in Tscherno-

14
byl sollten vor allem Studien an den dort eingesetzten
Liquidatoren Aufschluss über ein vermehrtes Auftreten
an Leukämien geben. In den ersten Jahren nach dem
Unfall durchgeführte sowie neue Studien in Weißruss-
land, Russland und der Ukraine deuten zwar auf eine
erhöhte Leukämieinzidenz bei Liquidatoren hin, die
methodischen Mängel dieser Studien (wie zum Beispiel
Unsicherheiten in der Dosisabschätzung und andere
nicht berücksichtigte Faktoren) lassen jedoch keine ein-
deutigen Schlussfolgerungen zu. Hinweise für erhöhte
Leukämieraten bei Personen, die während der Schwan-
gerschaft (in utero) oder als Kinder exponiert waren,
gibt es bisher nicht.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Katarakte


Eine Studie an Liquidatoren, die in weniger als 6
Wochen bei ihrer Tätigkeit in der 30-km-Zone eine
Dosis von über 150 mGy erhalten hatten, stellte eine
Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen fest. Jedoch
berücksichtigte diese Studie keine anderen Risikofak-
toren wie zum Beispiel Übergewicht, Rauchen oder
Alkoholkonsum. Um eindeutig zu klären, ob die Strah-
lenbelastung durch den Unfall zu einer Zunahme an
Herz-Kreislauf-Erkrankungen geführt hat, sind folglich
weitere Studien nötig.

Ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Expositi-


on und dem Risiko, an einer Katarakt (grauer Star) zu
erkranken, zeigte sich ebenfalls bei den Liquidatoren. Auch Jahre nach dem Reaktorunglück wird an (überwiegend)
Diese Studie erbrachte zusätzlich die neue Erkenntnis, Frauen noch Schilddrüsenkrebs, der auf den Unfall zurückzu-
dass Katarakte möglicherweise bereits bei ca. zehn- führen ist, festgestellt. An der abgebildeten Patientin aus der
fach niedriger Dosis auftreten als bis vor kurzem noch Tschernobylregion wurde 2002 und wieder 2005 Schilddrüsen-
angenommen (0,7 Gy gegenüber 5 Gy). Eine kritische krebs diagnostiziert.
Analyse mit neueren Daten ist jedoch nötig, um die
Ergebnisse zu validieren und das Risiko auch bei nied-
rigen Expositionen besser abschätzen zu können.
staatliche Institutionen führten zu einem „paralysie-
Andere Folgen renden Fatalismus“ mit Depressionen, Beeinträchti-
In der am meisten vom Unfall betroffenen Bevöl- gung des Selbstbewusstseins und psychosomatischen
kerung zeigten sich vermehrt Stresssymptome und Erkrankungen.
Depressionen, allgemeine Angstzustände und me-
dizinisch nicht erklärbare körperliche Krankheits- Die gesellschaftlichen Umbrüche führten zu Arbeitslo-
symptome. Diese Erkrankungen sind als Folge des sigkeit und Armut. Damit verbundene psychosoziale
Reaktorunfalls zu werten, nicht aber als direkte Folge und wirtschaftliche Probleme stellten für die betroffene
der Strahlenexposition. Die Expertengruppe „Gesund- Bevölkerung zusätzlich eine gesundheitliche Bedrohung
heit“ des Tschernobyl-Forums der WHO kam zu dem dar. Auf einem Workshop des BfS im November 2006
Schluss, dass verschiedene Faktoren zusammen wirk- berichteten Wissenschaftler aus den betroffenen Repub-
ten. Darunter sind vor allem Angst vor der Strahlung, liken über diese Auswirkungen.
Misstrauen in die Regierung, schlechte Kommunika-
tion, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die
Verschlechterung der ökonomischen Situation.
Abschätzung zu erwartender zusätzlicher
Der Tschernobyl-Unfall hatte einerseits durch die Krebsfälle
Strahlenbelastung, anderseits aber auch durch die
notwendigen Katastrophenschutzmaßnahmen und Zu den strahlenbedingten Krebs- und Leukämiefällen
deren Folgen schwerwiegende Auswirkungen auf die durch den Unfall von Tschernobyl gibt es sehr unter-
seelisch-geistige Gesundheit und das Wohlbefinden schiedliche Angaben. Die Gründe hierfür waren, dass
der betroffenen Bevölkerung und der Liquidatoren. in den ersten Jahren nach dem Unfall nur unvollstän-
Stress infolge von Umsiedlungen, Gerüchten und Fehl­ dige Erkenntnisse über das tatsächliche Ausmaß der
informationen über die strahlungsbedingten gesund- Auswirkungen auf die Umwelt vorlagen, der Kreis der
heitlichen Risiken sowie der Verlust des Vertrauens in betroffenen Personen nicht hinreichend genau be-

15
kannt war und nur pauschale Risikoschätzungen für vergleichbaren Annahmen zum Risiko je Dosiseinheit
die Entwicklung zukünftiger Erkrankungen der Betrof- ausgingen. Es gab jedoch wesentliche Unterschiede in
fenen abgegeben werden konnten. Je nach Annahme den Bevölkerungsgruppen, die der Ermittlung der zu
über die Größe der Bevölkerungsgruppen (Liquidato- erwartenden Krebserkrankungen oder Krebstodesfälle
ren, Evakuierte, Sowjetunion, Europa, nördliche Hemi- zugrunde gelegt wurden. So gab es Abschätzungen,
sphäre etc.) unterscheiden sich die Schätzungen über die die Liquidatoren und die Einwohner der hoch
die Zahl der Todesfälle. Unmittelbar nach dem Unfall kontaminierten Regionen betrachteten (wie z. B.
in Tschernobyl lagen die Schätzungen sehr hoch. Bei die IAEA) und andere, die die Bevölkerung Europas
der 192. Tagung der American Chemical Society in außerhalb der ehemaligen Sowjetunion heranzogen
Anaheim im September 1986 ging Gofman, ein Wis- (wie etwa die WHO und IARC). Weitere Berechnungen
senschaftler der kalifornischen Universität in Berkeley, legten die Weltbevölkerung zu Grunde oder die Bevöl-
von rund 300.000 bis 400.000 zusätzlichen Krebsfällen kerung aller betroffenen Länder.
in den nächsten 70 Jahren in der damaligen Sowjet-
union und in Europa aus und die IAEA rechnete im Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sprachen eine
Jahr 1986 bei einer betroffenen Bevölkerung von 75 Reihe von Empfehlungen aus, u. a.:
Millionen im europäischen Teil der damaligen Sowje-
tunion mit zusätzlichen 20.000 bis 30.000 Krebstodes- „„ Aus den drei am meisten betroffenen Staaten
fällen (IAEA-INSAG Bericht 75, 1986). kamen viele Aussagen zu beobachteten gesund-
heitlichen Effekten. Die internationale wissen-
Heute sind die Angaben verschiedener wissenschaft- schaftliche Gemeinschaft sollte diese auf Plausi-
licher Gremien (UNSCEAR, WHO etc.) niedriger. bilität prüfen. Eine pauschale Zurückweisung der
Allerdings handelt es sich auch bei den neueren Beobachtungen als nicht begründet ist fachlich
Angaben nur um Schätzungen, die auf Konventionen, nicht gerechtfertigt.
Einschätzungen von Experten und oft nicht beleg- „„ Ergebnisse aus den betroffenen Regionen könnten
baren Daten über bestrahlte Bevölkerungsgruppen eine höhere Aussagekraft bekommen, wenn die
beruhen. Auf Grund der großen Unsicherheiten bei Daten aus den drei Ländern zusammengefasst
der Abschätzung der Expositionshöhe und -verteilung und gemeinsam analysiert würden. Durch die
können für das Risiko keine exakten Schätzwerte gemeinsame Auswertung würde die statistische
angegeben werden, sondern nur eine Bandbreite, die Aussagekraft erhöht und es können möglicher-
die Größenordnung und die Schwankungsbreite des weise Risikoerhöhungen entdeckt werden, die in
Risikos wiedergibt. Entsprechend hat die International den Einzelstudien nicht beobachtbar sind.
Agency for Research on Cancer (IARC) für Europa die „„ Zukünftige epidemiologische Untersuchungen
Zahl der zusätzlichen strahlungsbedingten Krebsfälle sollten nur durchgeführt werden, wenn die statis-
auf 25.000 geschätzt, mit einem Unsicherheitsbereich tische Aussagekraft genügend groß ist und andere
von 11.000 - 59.000. Die IARC schätzt, dass 16.000 Einflussgrößen zusätzlich zu Strahlung adäquat
dieser Krebsfälle tödlich verlaufen werden. berücksichtigt werden können. Dazu gehören
insbesondere die deutlichen Veränderungen im
Das Tschernobyl-Forum (2005) geht aufgrund der Ex- allgemeinen Gesundheitsstatus sowie weitere
positionsabschätzungen und auf Basis der etablierten soziale und wirtschaftliche Veränderungen in den
Risikokoeffizienten für strahlenverursachte Krebser- drei am meisten betroffenen Ländern.
krankungen davon aus, dass bei den etwa 600.000
besonders betroffenen Personen (200.000 Liquidatoren Eine ausführliche Darstellung des Workshops sowie
der Jahre 1986 bis 1987, 120.000 evakuierte Personen der diskutierten Fragestellungen findet sich im Jahres-
aus besonders kontaminierten Regionen, 280.000 bericht 2006 des BfS (www.doris.bfs.de).
Bewohner der am höchsten radioaktiv kontaminier-
ten Gebiete) mit bis zu 4.000 zusätzlichen Todesfällen
durch Krebserkrankungen gerechnet werden muss. In
dieser Personengruppe sind etwa 100.000 sogenannte Gesundheitliche Folgen für die deutsche
spontane Krebsfälle zu erwarten. Das sind Krebsfälle, Bevölkerung
die auf andere, nicht näher bestimmbare Ursachen
zurückgehen. Die Strahlendosen der anderen ca. 5 Aufgrund der Höhe der in Deutschland festgestellten
Millionen Menschen in kontaminierten Gebieten sind Strahlenbelastungen (s. Tab. auf Seite 39) durch den
deutlich geringer. Angaben über zusätzliche Krebsfälle Tschernobyl-Unfall können akute Strahlenschäden
bei dieser Personengruppe sind rein spekulativ. ausgeschlossen werden. Mehr noch als für die höher
belasteten Gebiete in Weißrussland, Russland und der
Im November 2006 hatte das BfS verschiedene Or- Ukraine gilt für Deutschland, dass sich mögliche strah-
ganisationen eingeladen, die Schätzungen zu den lenbedingte Krebsfälle durch Tschernobyl nur schwer
Krebs- und Leukämieerkrankungen in Folge des vor dem Hintergrund der sogenannten spontanen
Reaktorunfalls durchgeführt haben. Diese sollten über Krebshäufigkeit nachweisen lassen. Auch für ein ver-
die Differenzen der veröffentlichten Zahlen disku- mehrtes Auftreten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern
tieren. Es zeigte sich, dass alle Organisationen von gibt es in Deutschland keine Hinweise.

16
Infolge von Medienberichten und der Beunruhigung weil sie genau neun Monate danach auftrat. Allerdings
großer Bevölkerungsgruppen untersuchte das Institut fand der Befund durch Studien in Schweden, Finnland,
für Strahlenhygiene (ISH) des ehemaligen Bundesge- Ungarn und Norwegen keine Bestätigung, obwohl in
sundheitsamtes, ob nach dem Tschernobyl-Unfall in diesen Ländern die zusätzliche Strahlenbelastung nach
den vom Fallout stärker betroffenen Gebieten Deutsch- Tschernobyl höher als in Berlin gewesen war. In Bay-
lands häufiger ungünstige Schwangerschaftsverläufe ern wurde in dem Zeitraum nach dem Reaktorunfall
(wie Frühgeburten, Mangelgeburten oder Totgebur- im niedriger belasteten Norden eine höhere Rate an
ten) zu beobachten waren als in den übrigen Gebie- Trisomie-21-Fällen beobachtet als im höher belasteten
ten. In der Erhebung bei über 5.000 Schwangeren Süden des Bundeslandes. Im April 1987 diskutierte die
konnten keine Schäden (Frühgeburten, Fehlbildungen deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) die Daten
und andere teratogene Strahlenwirkungen) bei Neu- aus Berlin. Die SSK kam zu dem Schluss, dass die Er-
geborenen festgestellt werden (ISH-Bericht 157/1992: höhung der Chromosomenschäden in Berlin nicht auf
Hoeltz, A. Hoeltz, P. Potthoff, A. Brachner, B. Gro- die Strahlung zurückgeführt werden könne. Die maxi-
sche, G. Hinz, A. Kaul, K. Martignoni, H.-D. Roedler, male Strahlenexposition durch den Tschernobyl-Unfall
E. Schwarz, C. Tsavachidis, Schwangerschaften und in Berlin war geringer als die natürliche Strahlenexpo-
Geburten nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl. – sition in großen Landstrichen Deutschlands. In diesen
Eine repräsentative Erhebung für die Bundesrepublik Landstrichen ist keine Häufung des Down-Syndroms
Deutschland und Berlin [West]). Zahlreiche weitere bekannt. Aus den exponierten Regionen Weißruss-
epidemiologische Studien kamen zu widersprüchli- lands wurde ebenfalls ein Anstieg der Geburten mit
chen Ergebnissen bei Totgeburten, der Säuglingssterb- Down-Syndrom im Januar 1987 berichtet, der wie in
lichkeit, der Häufigkeit von Fehlbildungen und Tumo- Berlin von den Autoren in einen Zusammenhang mit
ren bei Kindern oder Erwachsenen in Deutschland der Strahlenexposition nach dem Reaktorunfall ge-
nach dem Tschernobyl-Unfall. Viele der Studien haben bracht wurde. Annahmen über einen Zusammenhang
methodische Schwächen (u. a. zu kleine Fallzahlen zwischen unerwünschten Schwangerschaftsverläufen
und damit verbunden geringe Teststärke). Daher kann bzw. Säuglingssterblichkeit und Strahlung in höher
nicht ausgeschlossen werden, dass in den Studien belasteten Gebieten aber auch in Deutschland generell
berichtete Einzelbeobachtungen durch Zufall bedingt konnten nicht wissenschaftlich belegt werden.
sind. Es gibt bisher keine Nachweise, dass der Tscher-
nobyl-Unfall in Deutschland negative gesundheitliche
Strahleneffekte verursacht hat. Die Abschätzung des Information der deutschen Bevölkerung über
durch den Reaktorunfall bedingten Tumorrisikos für gesundheitliche Auswirkungen
Deutschland beruht auf den Erkenntnissen aus ande-
ren Studien zum Strahlenrisiko (insbesondere Untersu- Unmittelbar nach dem Reaktorunfall versuchte die
chungen zu den Atombombenopfern von Hiroshima Bundesregierung, die Bevölkerung über die Folgen von
und Nagasaki). Tschernobyl zu informieren (u. a. Faltblatt „Fragen und
Antworten zur Kernenergie“ Bundespresseamt, Juni
Auf der Basis umfangreicher Messungen und An- 1986). Ähnliche Informationen wurden von verschie-
nahmen zu repräsentativen Aufenthaltsdauern in denen Bundesbehörden (Bundeszentrale für Gesund-
verschiedenen Umgebungen wurde die Dosis für heitliche Aufklärung, Faltblatt an alle Haushalte:
Erwachsene im besonders vom Fallout betroffenen „Nach Tschernobyl – Antworten auf 21 Fragen“, Juni
Münchner Raum auf 0,1 mSv im ersten Jahr nach dem 1986) und Forschungseinrichtungen (Telefonauskünfte,
Unfall und auf 0,7 mSv für die gesamte Lebenszeit ab- Presseerklärungen zu Strahlungsmessungen, Broschü-
geschätzt. Für Kleinkinder liegt die Dosisabschätzung ren über Strahlenwirkungen etc.) herausgegeben. Viele
im ersten Jahr bei 0,15 mSv, lebenslang werden 0,8 Verlautbarungen waren in sich widersprüchlich und
mSv erreicht. Als mittlere Strahlenexposition durch verstärkten eher die tiefgreifende Verunsicherung der
abgelagerte Radionuklide für Deutschland werden Bevölkerung, die sich seit 1970 zunehmend kritischer
Werte von 0,03 bis 0,05 mSv für Erwachsene bzw. 0,04 mit den Risiken der Energiegewinnung aus Kernkraft
bis 0,06 mSv für Kleinkinder im ersten Jahr und 0,2 auseinandergesetzt hatte (Anti-AKW-Bewegung). Die
bis 0,3 mSv als lebenslange Exposition als realistisch für den Strahlenschutz verantwortlichen Behörden
angesehen. Für Personen mit sehr hohen Aufenthalts- des Bundes und der Länder wurden häufig nicht als
zeiten im Freien können diese Werte um den Faktor 3 neutral betrachtet und ihren Informationen wurde nur
höher liegen. wenig Vertrauen geschenkt.

Im Januar 1987 wurden im Westteil Berlins 12 Fälle Zwischen den Bedürfnissen der Bevölkerung nach
von Chromosomenschäden in Form einer Trisomie 21 vertrauenswürdigen Auskünften (z. B. über die Gesund-
(Chromosom 21 nicht nur doppelt – wie normal – son- heitsgefährdung und mögliche Handlungsoptionen),
dern dreimal vorhanden) bei Neugeborenen festge- den offiziellen Informationen und der Berichterstattung
stellt, während sonst lediglich 2 bis 3 Fälle dieser auch in den Medien entstand eine Informationslücke. Private
Down-Syndrom genannten Erkrankung pro Monat Initiativen überbrückten diese. Hier sind insbesondere
auftraten. Die Häufung des Down-Syndroms wurde im Eltern-Initiativen zu nennen. Während die Medien
Zusammenhang mit dem Tschernobyl-Unfall gesehen, oftmals pauschal über Widrigkeiten und Szenarien

17
berichteten („Todesreaktor Tschernobyl“, „Höllenfeuer“, geringer als in den am höchsten betroffenen Regionen
„Massensterben nach Tschernobyl“, „Tschernobyl tötet der ehemaligen Sowjetunion.
Münchens Kinder“, „Tschernobyl wütet im Erbgut“ etc.),
suchten die Familien nach Ratschlägen für Ernährung Gesundheitliche Effekte wurden bisher bei den Be-
und Verhaltensweisen, um eine Strahlenbelastung unter schäftigten und Einsatzkräften beobachtet, die an den
den gegebenen Umständen zu minimieren. Diese Suche Aufräumarbeiten beteiligt waren. Des Weiteren ist die
nach Hilfestellung wurde unmittelbar nach dem Unfall Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Perso-
weder durch die Behörden noch durch die Medien nen, die als Kinder in den betroffenen Regionen der
befriedigend unterstützt. drei Republiken mit Iod-131 exponiert waren, deutlich
erhöht. Über weitere Krebserkrankungen in diesen
Regionen liegen bisher keine belastbaren Daten vor.
Das Gleiche gilt für die außerhalb der ehemaligen Sow-
Bewertung jetunion betroffenen Regionen.

Der Reaktorunfall von Tschernobyl war der bisher größ- Die von verschiedenen Institutionen durchgeführten
te Unfall in einem Kernkraftwerk. Insbesondere in den Abschätzungen der zusätzlichen strahlenbedingten
ersten zehn Tagen nach dem Unfall wurden große Men- Krebsfälle unterscheiden sich deutlich. Diese Differen-
gen radioaktiven Materials freigesetzt. Für die Strahlen- zen waren Anlass für einen internationalen Workshop
belastung der Bevölkerung waren dabei insbesondere des BfS. Dort hat sich gezeigt, dass die Unterschiede
Iod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137 von Bedeutung. wesentlich auf den zugrunde gelegten Bevölkerungs-
Die Gebiete mit der höchsten Strahlenbelastung befin- zahlen beruhen, nicht aber auf den unterschiedlichen
den sich in den drei Staaten Ukraine, Russische Födera- Annahmen zur Strahlenwirkung. Insgesamt ist davon
tion und Weißrussland. In diesen Gebieten lebten zum auszugehen, dass die berechneten Zahlen zusätzlicher
Zeitpunkt des Unfalls etwa 5 Millionen Personen. Außer- Krebserkrankungen außerhalb der ehemaligen Sowje-
halb der ehemaligen Sowjetunion waren insbesondere tunion so gering sind, dass sie in epidemiologischen
Regionen in Skandinavien und Mitteleuropa betroffen. Studien nur sehr schwer oder gar nicht nachgewiesen
Die Strahlenexposition in Mitteleuropa ist wesentlich werden können.

18
Notfallschutz – Welche Konsequenzen in Deutschland gezogen
wurden

Alle Maßnahmen des Katastrophenschutzes liegen bei sen. Zweck dieses Gesetzes ist es, die routinemäßige
einem Unfall in einem Kernkraftwerk, wie in anderen Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt neu zu
Fällen auch, in der Kompetenz der Bundesländer. Un- regeln und „die Strahlenexposition der Menschen und
mittelbar zuständig sind die Landkreise und selbstän- die radioaktive Kontamination der Umwelt im Falle
digen Städte. Diese werden auf Anforderung durch das von Ereignissen mit möglichen, nicht unerheblichen
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophen- radiologischen Auswirkungen unter Beachtung des
hilfe (BBK, www.bbk.bund.de) unterstützt. Spielt Radi- Standes der Wissenschaft und unter Berücksichtigung
oaktivität bei einem Notfall eine Rolle, so erhalten die aller Umstände durch angemessene Maßnahmen so
Länder auf Anforderung ebenfalls vom Bundesamt für gering wie möglich zu halten“. Danach ist es Aufga-
Strahlenschutz Hilfestellung. Der Bund überwacht die be des Bundesamtes für Strahlenschutz, gemeinsam
Umweltradioaktivität, bewertet die Daten und kann mit Einrichtungen des Bundes und der Länder, die
z. B. Verbote und Beschränkungen beim Verzehr von Kontamination der Umwelt nach einem Ereignisfall
Lebensmitteln und bei der Nutzung von Futtermitteln schnell zu ermitteln und die daraus resultierende Dosis
aussprechen. In Abstimmung mit den Ländern kann abzuschätzen. Das Bundesumweltministerium hat die
der Bund der Bevölkerung bestimmte Verhaltenweisen Aufgabe, die Lage zu bewerten, Maßnahmen einzulei-
empfehlen. Gesetzliche Grundlage dafür ist das Strah- ten und die Öffentlichkeit zu informieren.
lenschutzvorsorgegesetz.

Richtwerte
Das Strahlenschutzvorsorgegesetz
Um in einem Ereignisfall schnell und angemessen
Das Fehlen gesetzlicher Vorgaben führte nach dem handeln zu können, ist es notwendig, vorab festzule-
Reaktorunfall von Tschernobyl dazu, dass teilweise gen, ab welcher zu erwartenden Strahlenbelastung
unterschiedliche Grenzwerte und Maßnahmen im des Menschen Maßnahmen ergriffen werden müssen.
Bund und in den Bundesländern empfohlen wurden. In der Zeit vor dem Reaktorunfall von Tschernobyl
Um die rechtliche Voraussetzung für ein bundesweit ging man noch von einem Ermessensspielraum aus.
koordiniertes Handeln in vergleichbaren Situationen Der untere Eingreifrichtwert besagte, dass bei seiner
zu schaffen, wurde als Konsequenz bereits am 19. Überschreitung Maßnahmen zur Reduzierung der
Dezember 1986 das „Gesetz zum vorsorgenden Schutz Dosis in Betracht gezogen werden können, der obere
der Bevölkerung gegen Strahlenbelastung“ (Strahlen- Eingreifrichtwert, dass Maßnahmen zwingend einzu-
schutzvorsorgegesetz – StrVG, geändert 2008) erlas- leiten sind.

Eingreifrichtwerte
Maßnahme Integrationszeiten und
Organdosis (Schilddrüse) Effektive Dosis Alte Richtwerte
Expositionspfade

Äußere Exposition in 7 Tagen


Aufenthalt in und effektive Folgedosis durch 5 – 50 mSv
10 mSv
Gebäuden in diesem Zeitraum inhalierte Effektive Dosis
Radionuklide

50 mSv Kinder bis zu 200 – 1000 mSv


Im Zeitraum von 7 Tagen inha-
Einnahme von 18 Jahren sowie Schwangere, Schilddrüsendosis
liertes Radiojod einschließlich
Jodtabletten 250 mSv Personen von für Kinder und
der Folgeäquivalentdosis
18 bis 45 Jahren Erwachsene

Äußere Exposition in 7 Tagen


und effektive Folgedosis durch 100 – 500 mSv
Evakuierung 100 mSv
in diesem Zeitraum inhalierte Effektive Dosis
Radionuklide

Eingreifrichtwerte für die Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Jodblockade und Evakuierung (seit 2006).

19
Andere Flüssige
Säuglingsnahrung Milcherzeugnisse
Nahrungsmittel Nahrungsmittel

Strontiumisotope, insbesondere Sr-90 75 125 750 125

Jodisotope, insbesondere I-131 150 500 2000 500

Alphastrahler 1 20 80 20

Übrige Nuklide mit Halbwertszeiten


400 1000 1250 1000
> 10 d, z. B. Cs-134, Cs-137

Höchstwerte der radioaktiven Kontamination von Nahrungsmitteln in Bq/kg gemäß Europäischer Union.

Dieses System wurde durch feste Dosiseingreifricht- ist das Ziel, noch vor dem Durchzug einer radioaktiven
werte für die Evakuierung, das Verweilen im Haus und Wolke eine radioaktive Kontamination von Nahrungs-
die Einnahme von Jodtabletten abgelöst (Tab. Seite 19). und Futtermitteln durch frühzeitige Ernte, Abdecken
Oberhalb der Dosiseingreifrichtwerte sind die Maßnah- von Kulturen oder Aufstallen von Nutztieren zu
men in jedem Fall – wenn möglich – durchzuführen. vermeiden. Später müssen Maßnahmen zur Verringe-
Unterhalb sind die Maßnahmen unter dem Aspekt der rung der Strahlenbelastung (z. B. durch Lagerung oder
Verhältnismäßigkeit zu erörtern. Die Strahlenbelastung technologische Aufarbeitung) in Betracht gezogen wer-
des Menschen soll in jedem Fall so gering wie vernünf- den. Die Maßnahmen Evakuierung, Verweilen im Haus
tigerweise erreichbar gehalten werden. und Jodblockade müssen in der Praxis noch durch
begleitende Empfehlungen wie Sperren von Gebieten,
Die EU hat Höchstwerte für die Radioaktivität in Straßen oder Tragen von Mundschutz, Wechseln von
Nahrungs- und Futtermitteln vorbereitet mit dem Ziel, Kleidern etc. konkretisiert werden.
dass eine Strahlenbelastung des Menschen von 5 mSv
pro Jahr nicht überschritten wird (Tab. oben). Die EU Um ein schnelles Handeln zu ermöglichen, wurden
plant, im Falle einer erneuten massiven Aktivitätsfrei- unter Beteiligung des BfS alle zu erwägenden Maß-
setzung durch einen Reaktorunfall o. ä. diese Werte nahmen in einem Katalog zusammengestellt und ihre
durch Rechtsverordnung festzuschreiben. Vergleich- Effizienz sowie die Vor- und Nachteile einer jeden Maß-
bare Werte wurden von der Welternährungs- und der nahme wie z. B. Durchführbarkeit, Akzeptanz in der
Weltgesundheitsorganisation für den internationalen Bevölkerung, Kosten etc. analysiert. Gegliedert ist der
Nahrungsmittelverkehr abgeleitet. Maßnahmenkatalog in 2 Bände mit den Schwerpunkten
Maßnahmenübersicht, theoretische Grundlagen und
Als Folge von Tschernobyl wurden für Cs-134/137 Ein- Beseitigung großer Mengen kontaminierter Abfälle.
greifrichtwerte für Milch, Milchprodukte und Säuglings-
nahrung von 370 Bq/kg, für andere Nahrungsmittel
von 600 Bq/kg (s. Beitrag „Umweltfolgen“) sowie für Jodtabletten
Nahrungsmittel mit geringen Verzehrsraten wie Pfeffer
oder Petersilie von 6.000 Bq/kg eingeführt, die heute Besonders auffällig war in den Jahren nach der Re-
noch gültig sind. Um für einen nicht auszuschließenden aktorkatastrophe von Tschernobyl die Zunahme von
weiteren Störfall vorbereitet zu sein, wurden die Ein- Schilddrüsenkrebs bei Kindern in der Region. Dies
greifrichtwerte überarbeitet, wobei nicht einzelne Radi- veranlasste die Strahlschutzkommission, das Strah-
onuklide, sondern die in der Tabelle oben aufgeführten lenrisiko für diese Krebserkrankung neu zu bewerten
Radionuklidgruppen berücksichtigt wurden. Diese und konsequenterweise die Eingreifrichtwerte für die
Werte sollen in einem Ereignisfall nicht automatisch, Verteilung von Jodtabletten deutlich zu reduzieren.
sondern erst nach einer Prüfung durch eine Kommis-
sion in Kraft gesetzt werden, wobei entsprechend der Im Rahmen der Überarbeitung der Grenzwerte
Lage Änderungen nach oben und unten möglich sind. wurden aufgrund neuerer Erkenntnisse zur Strahlen-
wirkung die Eingreifrichtwerte für die Maßnahme
Jodblockade auf 250 mSv (Schilddrüsendosis) für die
Maßnahmenkatalog Bevölkerungsgruppe 18 - 45 Jahre und auf 50 mSv
(Schilddrüsendosis) für Kinder und Jugendliche bis 18
In einem Ereignisfall muss insbesondere in der Früh- Jahre und Schwangere reduziert. Dies hatte zur Kon-
phase schnell über Maßnahmen zur Reduzierung der sequenz, dass eine Verteilung von Jodtabletten statt
Strahlenbelastung des Menschen entschieden werden. wie bisher bis 25 km zukünftig bis zu 100 km um ein
Bei den Maßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich Kernkraftwerk zu betrachten war.

20
Beispiel für eine in einer Übung durchgeführte Prognoserechnung. In den gelb und orange eingefärbten Gebieten prognostiziert das Compu-
terprogramm eine Schilddrüsendosis von über 50 Millisievert bei Kindern und Jugendlichen. Bei Überschreiten dieses Richtwertes wird als
Schutzmaßnahme die Einnahme von Jodtabletten empfohlen.

Die Katastrophe von Fukushima hat dann in der Folge lich zu reduzieren. Für Kinder und Jugendliche sowie für
noch einmal zu einer Ausweitung der Planungsradien Schwangere ist diese Maßnahme nun bereits bei einer
für Jodtabletten geführt, da man in der jetzigen Pla- zu erwartenden Organdosis von 50 mSv vorgesehen.
nung auch von schwersten Unfällen mit größeren Frei-
setzungen von Radiojod ausgeht, ungeachtet der dabei Für Erwachsene bis zu einem Alter von 45 Jahren ist
bisher angenommenen geringen Wahrscheinlichkeit die Einnahme ab einer prognostizierten Organdosis
eines solchen Falles. Im Umkreis von 100 km werden von 250 mSv empfohlen. Für Personen über 45 Jahre
Jodtabletten jetzt an alle Personen unter 45 Jahre wird die Einnahme nicht empfohlen, weil bei geringe-
ausgegeben, für Kinder, Jugendliche und Schwangere rer Empfindlichkeit der Schilddrüse die altersbedingt
wird dies für das gesamte Bundesgebiet geplant. häufiger auftretenden schädlichen Nebenwirkungen
den Nutzen überwiegen würden.
Wenn man zum richtigen Zeitpunkt große Mengen
von nicht radioaktivem Jod einnimmt, verhindert dies Simulationsrechnungen ergaben, dass der Eingreif-
die Aufnahme von radioaktivem Jod und schützt somit richtwert für die Schilddrüsendosis von 50 mSv bei
bei einem nuklearen Unfall effektiv die Schilddrüse. Kindern auch noch bis zu Entfernungen von 100 Kilo-
Eine wichtige Erkenntnis zur Strahlenwirkung, die metern erreicht werden kann, sodass sich ein deutlich
man aus epidemiologischen Langzeituntersuchungen erhöhter Bedarf zur Bereithaltung von Jodtabletten
in Weißrussland, der Ukraine und Teilen der Russi- auch außerhalb des bisherigen Planungsradius für
schen Föderation gezogen hat, betrifft die Empfind- Katastrophenschutzmaßnahmen von 25 Kilometern er-
lichkeit der Schilddrüse bei Kindern und Jugendlichen. geben hat. Um den dadurch erhöhten Bedarf abzude-
Für diese Personengruppe wurde ab dem Beginn der cken, wurden vom Bund im Jahr 2004 insgesamt 137
1990er Jahre ein drastischer Anstieg an Schilddrüse- Millionen Jodtabletten neu beschafft. Die Tabletten für
nerkrankungen beobachtet. den besonderen Planungsbereich von 25 Kilometern
Entfernung um eine kerntechnische Anlage wurden
Die Strahlenschutzkommission in Deutschland empfahl den zuständigen Bundesländern übergeben, die diese
daher, die Eingreifrichtwerte für die Jodblockade (Ein- entsprechend der jeweiligen landeseigenen Planung
nahme von Jodtabletten) in einer Notfallsituation deut- an die Haushalte vorverteilen oder dezentral einla-

21
Bundesamt für Gewässerkunde:
Radionuklidkonzentration in den Bundeswasserstraßen

Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie:


Radionuklidkonzentration in der Nord- und Ostsee.

Die Messungen im landwirtschaftlichen und bewohn-


ten Bereich werden von den Ländern im Auftrag des
BMUB durchgeführt. Diese umfassen im Wesentlichen
die Bereiche:

„„ Lebensmittel
„„ Futtermittel
„„ Boden
„„ Trink- und Grundwasser
„„ Abfälle, Abwasser und Klärschlamm.

An den Messungen sind etwa 60 Einrichtungen des


Bundes und der Länder beteiligt. Zur Erfassung der
radiologischen Lage wurde unter Federführung des BfS
ein Routine- und ein Intensivmessprogramm erarbei-
tet, das bestimmt, welche Medien wo, von wem und
in welcher Frequenz zu beproben bzw. zu messen sind
(siehe dazu den Abschnitt IMIS).
Mitarbeiter des BfS beim Auswechseln einer der rd. 1.800 Mess-
sonden des IMIS.
Zusammenfassung
Diese Übersicht stellt eine Reihe wesentlicher Kon-
gern. Für die weiter entfernt liegenden Gebiete wurde
sequenzen vor, die nach Tschernobyl initiiert und
vom BfS ein ergänzendes Einsatzkonzept erarbeitet. In
durchgeführt wurden. Um auf ein ähnliches Ereignis
einem Ereignisfall müssen die Jodtabletten innerhalb
angemessen reagieren zu können, müssen die Messun-
von zwölf Stunden und unabhängig von Tageszeit und
gen und Berechnungen koordiniert, der Austausch der
Witterung ausgeliefert werden können. Dafür wurden
Daten und der interne Informationsfluss gesteuert und
acht zentrale Lager vom Bund eingerichtet. Die Ver-
die einzelnen Systemkomponenten möglichst gut auf-
teilung im Ereignisfall erfolgt über das Bundesamt für
einander abgestimmt werden. Gemäß Strahlenschutz-
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit
vorsorgegesetz wurde diese Koordinierungsaufgabe
Hilfe des Technischen Hilfswerks (THW) an die Katast-
dem BfS übertragen, das als Konsequenz das „Integ-
rophenschutzorganisationen der Länder.
rierte Mess-und Informationssystem zur Überwachung
der Umweltradioaktivität“ (IMIS) aufbaute, an dem ne-
ben den 60 Messeinrichtungen noch etwa 20 weitere
Das Routine- und Intensivmessprogramm Institutionen aus Bund und Ländern beteiligt sind.

Zur besseren und schnelleren Beurteilung der ra-


diologischen Lage in einem Ereignisfall wurden die
Maßnahmen zur Überwachung der Umwelt mit dem IMIS – Das integrierte Mess- und
Ziel erweitert und ertüchtigt, eine lückenlose und flä-
chendeckende Radioaktivitätsüberwachung sowohl im Informationssystem zur Überwa-
Routinefall als auch im Falle einer Aktivitätsfreisetzung
zu gewährleisten. Das Strahlenschutzvorsorgegesetz chung der Umweltradioaktivität
regelt die Messaufgaben der einzelnen Institutionen
in Bund und Ländern. Danach sind Einrichtungen des
Bundes für folgende flächendeckenden, automatischen Aufgaben des IMIS
Messungen verantwortlich:
Im Routinebetrieb ist es Aufgabe des IMIS, die Umwelt
Bundesamt für Strahlenschutz: kontinuierlich zu überwachen, um bereits geringfügi-
Ortsdosisleistung an rund 1.800 Messstationen ge Änderungen der Umweltradioaktivität flächende-
ckend schnell und zuverlässig erkennen sowie langfris-
Deutscher Wetterdienst: tige Trends erfassen zu können.
Radionuklidkonzentration in der Luft und im Nieder-
schlag an 40 Messstationen IMIS ist aber vor allem ein Instrument des Notfallschut-

22
zes. Um Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz Drei Ebenen sind zu beachten:
des Menschen und der Umwelt in einem Ereignisfall
treffen zu können, hat IMIS die Aufgabe, die entspre- „„ Messungen zur Erfassung der Umweltkontamina-
chenden Grundlagen zu schaffen. Dies bedeutet im tion.
Einzelnen: „„ Diagnostische und prognostische Berechnung der
Umweltkontamination und der daraus resultieren-
„„ Die radioaktive Kontamination der Umwelt in den Strahlenbelastung.
einem Ereignisfall ist schnell zu erfassen. „„ Entscheidungen.
„„ Die daraus resultierende Strahlenexposition des
Menschen ist zuverlässig abzuschätzen. Alle Ergebnisse der Messungen und Berechnungen
„„ Alle Beteiligten sind schnell, übersichtlich und werden der Zentralstelle des Bundes (ZdB) im BfS über-
zeitgleich über die Lage zu informieren. mittelt, wo die Daten geprüft, aufbereitet und in Form
von Grafiken, Karten und Tabellen dargestellt und
Entscheidungen über Maßnahmen erfolgen in einem dem BMUB sowie verschiedenen Landesbehörden und
ersten Schritt durch den direkten Vergleich der be- Ministerien zur Entscheidungsfindung bereitgestellt
rechneten Strahlendosen mit den entsprechenden werden.
Eingreifwerten für Evakuierung, Verweilen im Haus und
Jodblockade (Tab. Seite 19) bzw. der gemessenen Werte Das BfS trägt die Verantwortung für die beiden erstge-
in Nahrungs- und Futtermitteln mit den abgeleiteten nannten Ebenen. Das BMUB ist verantwortlich für Ent-
Eingreifrichtwerten der EU (Tab. Seite 20). Konsequenter- scheidungen über die Empfehlung von Maßnahmen.
weise muss IMIS zur Entscheidungsfindung drei Informa-
tionen möglichst aktuell und zuverlässig bereitstellen:
Wie arbeitet IMIS?
„„ Welche Gebiete sind betroffen?
„„ Wie hoch sind die Kontaminationen und welche Die Arbeitsweise des IMIS wird am Beispiel einer fikti-
Radionuklide spielen eine Rolle? ven Freisetzung von Radionukliden im Oberrheingra-
„„ Wie hoch ist die aktuelle und die zu erwartende ben dargestellt. Bei einem Unfall müssen drei zeitliche
Strahlenbelastung der Menschen in den betroffe- Phasen unterschieden werden, nämlich vor, während
nen Gebieten? und nach Durchzug einer radioaktiven Wolke.

Beispiel einer maßnahmenrelevanten Darstellung der Kontamination von Kuhmilch mit Cäsium.
(Übersteigt die Aktivitätskonzentration der Milch 1000 Bq/l, darf diese nicht mehr vermarktet werden.)

23
Phase (1): Vor einer Freisetzung
In der Phase vor einer Radionuklidfreisetzung bzw.
vor dem Durchzug einer radioaktiven Wolke sind ggf.
folgende Maßnahmen vorzubereiten bzw. einzuleiten:

„„ Evakuierung
„„ Verweilen im Haus
„„ Jodblockade
„„ Maßnahmen zur Vermeidung von Kontaminatio-
nen landwirtschaftlicher Produkte.

Für prognostische Abschätzungen der zu erwartenden


Kontamination der Umwelt und der Strahlenbelastung
des Menschen stehen lediglich meteorologische Mess-
daten zur Verfügung. Die tatsächliche Höhe der Ra-
dioaktivitätsfreisetzung (Quellterm) ist nicht bekannt,
deshalb verwendet man vorerst einen Standardquell-
term. Dies wird durch Simulation der Ereignisabläufe
innerhalb einer kerntechnischen Anlage abgeschätzt.

Erste Informationen für Entscheidungsträger sind ein-


fache Ausbreitungsrechnungen (Trajektorienrechnun-
gen) des Deutschen Wetterdienstes (DWD), die einen Simulierte Momentaufnahme der Ortsdosisleistung (ODL) wäh-
Überblick über die potenziell gefährdeten Gebiete rend der Ausbreitung einer radioaktiven Wolke. Das ODL-Mess-
geben. Für weitergehende Berechnungen steht das system liefert hierzu im Intensivbetrieb Nettodarstellungen im
speziell entwickelte Entscheidungshilfemodell RODOS 10-min-Takt. Bei einem Nettowert wurde die natürliche ODL des
(Real-Time Online Decision Supporting System) zur Untergrunds bereits abgezogen.
Verfügung.

Dieses Modell bildet das Verhalten radioaktiver Stoffe


in der Umwelt und die Expositionspfade ab. Unter
der Annahme eines Quellterms kann mit dem Modell
jederzeit

„„ die äußere Belastung des Menschen durch Strah-


lung aus der radioaktiven Wolke und der am
Boden abgelagerten Aktivität sowie

„„ die interne Strahlenbelastung, die aus der Aufnah-


me von Radionukliden durch die Atemluft (Inhala-
tion) und mit der Nahrung (Ingestion) resultiert,

berechnet werden.

Phase (2): Während des Durchzugs einer


radioaktiven Wolke
Während des Durchzugs einer radioaktiven Wolke
gelten die bei Phase (1) genannten Maßnahmen. Um
Wirkung entfalten zu können, müssen sie möglichst
noch vor dem Durchzug der radioaktiven Wolke ange-
ordnet werden.

Eine Strahlenbelastung des Menschen erfolgt in dieser


Phase über die Belastungspfade Direktstrahlung und
Inhalation (über die Atmung). Die Aufnahme von Radio-
nukliden mit der Nahrung (Ingestion) spielt bei größe-
ren Unfällen praktisch keine Rolle, da dieser Pfad durch
ein vorbeugendes Vermarktungsverbot frischer Produk-
te unterbunden werden kann bzw. die Höchstwerte die Im Mai 1986 wurde auf der Bodenseeinsel Reichenau kistenweise
Einhaltung einer Dosis von 5 mSv gewährleisten. Freilandgemüse vernichtet.

24
Entsprechend den zu betrachtenden Belastungspfaden Die Entscheidungsträger müssen prüfen, ob bereits
werden als relevante Größen Direktstrahlung und die eingeleitete Maßnahmen noch aufrechterhalten werden
Radionuklidkonzentration in der Luft automatisch sollen. Als zusätzliche Maßnahmen müssen die Vermark-
flächendeckend gemessen. Dazu stehen die Messnetze tungsfähigkeit landwirtschaftlicher Produkte sowie De-
des BfS zur Ermittlung der äußeren Strahlenbelastung kontaminationen im urbanen Bereich erörtert werden.
(Ortsdosisleistung) und des DWD zur nuklidspezifi-
schen Bestimmung der Radionuklidkonzentration in Zur Erörterung dieser Maßnahmen müssen möglichst
der Luft zur Verfügung. detaillierte Kontaminationskarten erstellt werden, die
als Grundlage für verbesserte Dosisabschätzungen und
Bei einem Unfall werden die Messergebnisse der Orts- für Messstrategien zur Analyse der Vermarktungsfähig-
dosisleistung (ODL) an allen etwa 1.800 Standorten im keit landwirtschaftlicher Produkte dienen.
10-Minuten-Rhythmus abgerufen. Dadurch kann die
Ausbreitung einer radioaktiven Wolke quasi online Grundlagen für die Erarbeitung solcher Karten sind
verfolgt und die betroffenen Gebiete sehr schnell ein- vor allem ODL-Werte und Messergebnisse über die
gegrenzt werden (Abb. Seite 24 oben). Parallel dazu Höhe der abgelagerten Radionuklide am Boden (In-situ-­
liefern die 40 Stationen des Luftmessnetzes des DWD Messungen). Für die kleinräumige Messung inhomo-
die nuklidspezifische Luftaktivität im 2-Stunden-Takt. gen verteilter Ablagerungen stehen entsprechend
Beide Messungen sind die Grundlage für die diagnos- ausgestattete Hubschrauber der Bundespolizei und
tischen Abschätzungen der äußeren Strahlenbelas- Messfahrzeuge des BfS zur Verfügung. Zur Ermittlung
tung und der Inhalationsdosis. Sie können auch zur der Vermarktungsfähigkeit von Lebensmitteln be-
Verbesserung der RODOS-Prognosen herangezogen proben die Landesmessstellen zunächst Blattgemüse,
werden. Milch und Gras. Diese Produkte gelten als repräsenta-
tive Umweltmedien, da in erster Näherung davon aus-
Phase (3): Nach Durchzug einer radioaktiven Wolke gegangen werden kann, dass für den Fall, dass die Ein-
In dieser Phase ist die Radionuklidaktivität in der Luft greifrichtwerte hier eingehalten werden, diese auch in
nur noch gering. Die Ablagerung (Deposition) von Ra- anderen Nahrungs- und Futtermitteln nicht überschrit-
dionukliden auf Böden, Pflanzen und weiteren Flächen ten werden. Danach richtet sich der Schwerpunkt der
ist weitgehend abgeschlossen. Die Expositionspfade Analysen auf erntereife Produkte. Eine erhöhte Anzahl
Direktstrahlung und Ingestion (mit der Nahrung) von Messungen wird es in Gegenden geben, in denen
dominieren. die Aktivitäten im Bereich der EU-Grenzwerte liegen.

Funktionsweise der Elektronischen Lagedarstellung (ELAN).

25
Wohin mit den Daten? allem durch einen besseren und umfangreicheren
Daten- und Informationsaustausch. Die Informations-
An den IMIS-Messprogrammen sind mehr als 60 bereitstellung wurde durch die Entwicklung der elek­
Laboratorien des Bundes und der Länder beteiligt. tronischen Lagedarstellung wesentlich verbessert. Alle
In einem Ereignisfall können pro Tag einige 10.000 wesentlichen Informationen werden in strukturierter
ODL-Messwerte und bis zu 2.000 Einzelmessungen in Form auf den ELAN-Server gelegt und können dort von
verschiedenen Umweltmedien durchgeführt werden. allen beteiligten Stellen jederzeit abgerufen werden.
Ferner werden halb- bzw. zweistündlich Dokumente in
RODOS erzeugt, die Auskunft über die aktuelle und zu- International erfolgt ein Informations- und Datenaus-
künftige Strahlenbelastung des Menschen geben. Zur tausch mit der Schweiz, Frankreich und den Nieder-
Erfassung aller Ergebnisse wurde im BfS die „Zentral- landen über IMIS. In Abstimmung mit der EU ist eine
stelle des Bundes“ (ZdB) eingerichtet. Dort werden die von vier Datenzentralen zur Erfassung der europäi-
Messergebnisse dokumentiert, geprüft und mit Hilfe schen Umweltmessdaten, in denen alle europäischen
moderner Software-Programme in vielfältiger Form als Messergebnisse zusammenlaufen, in IMIS integriert.
Karten, Grafiken oder Tabellen dargestellt. Aufgebaut wurde weiterhin ein zentraler Server zur
Erfassung der Umweltmessdaten der Ostseeanrainer-
Um die Karten und Grafiken nutzerfreundlich zu staaten im BfS. Damit entwickelt sich IMIS zunehmend
gestalten, wurden standardisierte, maßnahmenrele- auch zu einer europäischen Datendrehscheibe.
vante Darstellungen erarbeitet, die durch die Wahl der
Farben und der Skalierung einen schnellen Überblick
über die Lage ermöglichen. Die Farben dunkelgrün bis Fazit
gelb bedeuten, dass diese Werte unterhalb des jeweils
zu betrachtenden Eingreifrichtwertes liegen. In den Das BfS hat mit dem Gesamtsystem IMIS eine wesent-
orangefarbenen bis violetten Gebieten liegen die Wer- liche Voraussetzung für eine funktionierende Um-
te der Kontaminationen oberhalb des Grenzwertes. Je weltüberwachung und einen effektiven Notfallschutz
intensiver die Farben sind (dunkelgrün und dunkelvi- geschaffen. Das Gesamtsystem IMIS wird kontinuierlich
olett), desto weiter ist die Kontamination nach unten neuen Anforderungen und Entwicklungen angepasst.
bzw. nach oben vom Grenzwert entfernt.
Im Gegensatz zu Tschernobyl ereignete sich der Unfall
von Fukushima in einem Reaktor westlicher Bauart.
Kommunikation Dadurch sind Rückschlüsse auf Anlagen in Deutsch-
land möglich. Untersuchungen auf der Basis des Wis-
Durch IMIS werden ca. 70 Institutionen (Landesmi- sens um Fukushima haben für die Weiterentwicklung
nisterien, Landesbehörden, Messstellen etc.) bzw. des Notfallschutzes wesentliche Impulse ergeben (s.
200 einzelne Nutzer miteinander vernetzt. Für ein BfS-Jahresbericht 2013, http://doris.bfs.de).
schnelles, angemessenes Handeln ist es notwendig,
die erzeugten Dokumente schnell und zeitgleich allen Neben der Ausweitung der Planungsradien für die
Teilnehmern zur Verfügung zu stellen. Dazu wurde Verteilung von Jodtabletten (siehe S. 20) wurden u. a.
die „Elektronische Lagedarstellung“ (ELAN) entwi- auch die Planungsradien für die Evakuierung auf 20
ckelt. In dieses System werden alle für die Beurteilung km ausgedehnt. Grundlage dafür waren umfassende
einer Lage relevanten Informationen und Ergebnisse Modellrechnungen des BfS, wie sie erst mit den in den
eingestellt, so dass sie gleichzeitig von allen IMIS-Nut- letzten Jahrzehnten entwickelten computergestützten
zern abgerufen werden können (Abb. S. 25). Damit ist Entscheidungshilfemodellen möglich sind. Die Strah-
gewährleistet, dass alle am Management einer Unfallsi- lenschutzkommission hat darüber hinaus eine ganze
tuation beteiligten Stellen sehr schnell über dieselben Reihe von Empfehlungen gegeben, die u. a. die ver-
Informationen verfügen. Dies ist Voraussetzung für ein besserte Information und medizinische Notfallversor-
abgestimmtes Handeln. gung der Bevölkerung betreffen. Auch internationale
Organisationen wie die IAEO und die WHO haben ihre
Empfehlungen überarbeitet. Die Europäische Union
Weiterentwicklung des IMIS hat Ende 2013 eine neue Richtlinie erlassen, die jetzt
von den Mitgliedsländern sehr konkrete Planungen,
Ursprünglich war IMIS für großräumige Kontamina- Schutzkonzepte und Strategien einfordert. In Deutsch-
tionen der Umwelt, wie sie nach dem Reaktorunfall land soll der Richtlinie mit einem neuen Strahlen-
von Tschernobyl in Deutschland auftraten, konzipiert. schutzgesetz und einer Überarbeitung des untergesetz-
Mit der Einrichtung der Zentrale zum Betrieb des lichen Regelwerkes entsprochen werden.
Entscheidungshilfesystems RODOS können jetzt auch
standortnah die Kontamination der Umwelt und die
Strahlenbelastung des Menschen in einem hohen De-
taillierungsgrad abgeschätzt werden. Die Integration
von RODOS erforderte auch eine bessere Vernetzung
der Notfallschutzsysteme von Bund und Ländern, vor

26
Der Reaktorunfall in Tschernobyl und seine Folgen
für deutsche Kernkraftwerke

Übertragbarkeit des Unfalls auf deutsche Hinweise auf die Notwendigkeit und Möglichkeit von
sicherheitstechnischen Verbesserungen der Kernkraft-
Anlagen werke ergeben. Die RSK hatte bei ihrer Sicherheits-
überprüfung insbesondere auch die nach damaliger
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatte auch Praxis zu unterstellenden Störfälle betrachtet (Ausle-
in Deutschland die Frage nach Konsequenzen für die gungsstörfälle) und die Einhaltung der Schutzziele
betriebenen Kernkraftwerke aufgeworfen. Der damali- (Erhaltung der Unterkritikalität, Gewährleistung der
ge Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber hatte Kernkühlbarkeit, Sicherstellung des Aktivitätsein-
in ersten Stellungnahmen gesagt, dass die deutschen schlusses) überprüft.
Reaktoren „absolut sicher“ seien. Der damals für die
Reaktorsicherheit zuständige Bundesminister des Die Ergebnisse der Sicherheitsüberprüfung wurden
Innern (BMI) beauftragte die Reaktor-Sicherheitskom- von der RSK Ende 1988 in einem Abschlussbericht zu-
mission (RSK), eine Analyse und Bewertung des Unfalls sammengestellt. Die RSK kam dabei zu einem positiven
im Hinblick auf in Deutschland befindliche Kernkraft- Gesamturteil zum Sicherheitskonzept der in Deutsch-
werke vorzunehmen. land befindlichen Kernkraftwerke und stellte in ihrer
abschließenden Bewertung fest, dass sich keine Mängel
Die RSK stellte im November 1986 zur Übertragbar- ergeben hatten, die Sofortmaßnahmen erforderlich
keit des Unfalls auf deutsche Anlagen fest, „dass eine machten. Es wurde zusätzlich untersucht,
prompt überkritische Leistungsexkursion, wie sie sich
in Tschernobyl ereignet hatte, aufgrund der inhärenten „„ ob Verbesserungsmöglichkeiten bestehen,
Eigenschaften und der technischen Ausrüstung in einem „„ ob und ggf. welche Maßnahmen des anlageninter-
Leichtwasserreaktor deutscher Bauart ausgeschlossen nen Notfallschutzes sinnvoll sind und
und dass das Sicherheitskonzept von Kernkraftwerken „„ wie Anforderungen an zukünftige periodische
in der Bundesrepublik Deutschland durch den Unfall in Sicherheitsüberprüfungen aussehen könnten.
Tschernobyl nicht in Frage gestellt sei.“
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen haben in der
Als organisatorische Konsequenz wurde in Deutsch- Zeit nach dem Unfall von Tschernobyl entscheidend
land regierungsseitig eine stärkere Bündelung von zur Einführung von Maßnahmen zur Sicherheitsver-
Kompetenzen für erforderlich gehalten, die durch die besserung in deutschen Kernkraftwerken beigetragen
Schaffung des Bundesministeriums für Umwelt, Natur- und werden in den drei folgenden Unterabschnitten
schutz und Reaktorsicherheit (heute: BMUB) realisiert zusammenfassend dargestellt.
wurde.

Umsetzung von Verbesserungsmöglichkeiten


Sicherheitsüberprüfung durch die RSK und
Die sicherheitstechnische Ausrüstung in den Kernkraft-
Sicherheitsverbesserungen in den deutschen werken ist aufgrund der zum Zeitpunkt ihrer Ge-
Kernkraftwerken nehmigung geltenden Anforderungen grundsätzlich
unterschiedlich. Deshalb wären die Anlagen bei der
Obwohl das Unfallgeschehen von Tschernobyl nicht Neugenehmigung zum heutigen Zeitpunkt ohne Ände-
auf deutsche Anlagen übertragbar war, wurde die RSK rungen nicht genehmigungsfähig. Allerdings wurden
auch gebeten, über die Analyse und Bewertung des und werden sie – und werden es auch weiterhin –
Unfalls hinaus eine Sicherheitsüberprüfung aller in durch gezielte Nachrüstmaßnahmen im Laufe ihrer
der Bundesrepublik Deutschland in Betrieb und in Bau Betriebszeit an den aktuellen Stand sicherheitstechni-
befindlichen Kernkraftwerke durchzuführen. scher Überlegungen herangeführt. So wurden bereits
vor der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zahlreiche
Diese Sicherheitsüberprüfung durch die RSK umfasste Nachbesserungen wie der Austausch von Frischdampf-
eine Prüfung im Sinne der ständigen Weiterentwick- und Speisewasserleitungen in Siedewasserreaktoren
lung der Sicherheitstechnik von Kernkraftwerken vorgenommen. Als weiteres Beispiel sei die Nach-
unter Berücksichtigung von Betriebserfahrungen rüstung von Notstandssystemen in älteren Anlagen
sowie neuer Ergebnisse von Forschungsvorhaben und genannt. Sie wurden nach der Einführung von An-
Risikostudien, z. B. der Deutschen Risikostudie Phase forderungen zu Schutzmaßnahmen gegen bestimmte
B. Dabei wurde auch untersucht, ob sich aufgrund Einwirkungen von außen – insbesondere gegen zufalls-
von Betriebserfahrungen und Erkenntnissen aus be- bedingten Flugzeugabsturz und Explosionsdruckwellen
sonderen Vorkommnissen – auch aus dem Ausland – – und gegen Störmaßnahmen Dritter im Regelwerk bei

27
In den deutschen Kernkraftwerken wurden nach dem Unfall in Tschernobyl Nachrüstungen und Maßnahmen des anlageninternen Notfall-
schutzes realisiert.

neueren Anlagen direkt in der Auslegung berücksich- Die Beispiele stellen nur einen kleinen Teil der Ver-
tigt und in älteren bestehenden Anlagen nachgerüstet. besserungen dar, die nach dem Beginn der Sicher-
Notstandssysteme sind von der vorhandenen Sicher- heitsüberprüfung der Kernkraftwerke durch die RSK
heitstechnik räumlich und systemtechnisch getrennt angestoßen wurden. Diese Maßnahmen sind nicht
und können im Falle der o. g. Einwirkungen Sicher- ausschließlich eine direkte Folge des Unfalls von
heitsfunktionen wie Reaktorabschaltung, Speisewasser- Tschernobyl, da die Prüfung, Empfehlung und Umset-
versorgung und die Nachwärmeabfuhr übernehmen. zung dieser Verbesserungsmaßnahmen parallel zu den
Für die Doppelblockanlage Biblis mit den Blöcken A stetig laufenden Weiterentwicklungen im technischen
und B wurden für die Gewährleistung dieser Sicher- und regulatorischen Bereich erfolgt ist.
heitsfunktionen im Notstandsfall im Gegensatz zu den
anderen Anlagen keine separaten blockspezifischen
Notstandssysteme nachgerüstet, sondern die bereits Anlageninterner Notfallschutz
vorhandene systemtechnische Unterstützung der bei-
den Blöcke untereinander verbessert. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Sicherheitsüber-
prüfung der RSK war die Empfehlung zur Einführung
Im Zuge der von den zuständigen Bundesministeri- des anlageninternen Notfallschutzes in den Kernkraft-
en nach dem Unfall von Tschernobyl veranlassten werken in Deutschland.
Sicherheitsüberprüfung der Kernkraftwerke durch
die RSK wurde auch untersucht, ob sich aufgrund der Diese Empfehlung basiert auch wesentlich auf den Er-
Auswertung der für die jeweilige Anlage relevanten gebnissen von Sicherheits- und Risikostudien, wie z. B.
Betriebserfahrungen und der Weiterentwicklung der der Deutschen Risikostudie Phase B, die 1981 – bereits
Sicherheitstechnik weitere Hinweise auf Verbesse- einige Jahre vor dem Unfall in Tschernobyl – vom Bun-
rungsmöglichkeiten ergeben. Als Ergebnis dieser Un- desminister für Forschung und Technologie in Auftrag
tersuchungen wurde im Abschlussbericht der RSK eine gegeben und erst danach vollständig abgeschlossen
Reihe von Verbesserungsmaßnahmen identifiziert, die wurde. Die RSK stellte in ihrem Abschlussbericht zur
Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre in Sicherheitsüberprüfung 1988 fest: „Die Empfehlung
den Anlagen umgesetzt wurden. Beispiele sind die Ver- anlageninterner Notfallmaßnahmen bedeutet nicht,
besserungen im Bereich der Störfallinstrumentierung, dass die in den Anlagen realisierte Sicherheitstech-
der räumlichen Trennung der redundanten Stränge nik unzureichend ist. Solche Maßnahmen erhöhen
des Notstromsystems („Entmaschung“) sowie der vielmehr zusätzlich die Flexibilität der Anlage bei der
Störfallfestigkeit der elektrischen Einrichtungen des Beherrschung von Ereignissen weit über das zu be-
Sicherheitssystems und der Störfallinstrumentierung. trachtende Spektrum der Auslegungsstörfälle hinaus“.
Über die technische Bewertung der Kernkraftwerke Die Maßnahmen des anlageninternen Notfallschutzes
hinaus wurden auch anlagenübergreifende Themen sind daher als zusätzliche Maßnahmen zu dem damals
untersucht und in diesem Zusammenhang z. B. die bestehenden – von der RSK positiv bewerteten – Si-
konsequente Weiterentwicklung anlagenspezifischer cherheitskonzept zu sehen. Sie wurden eingeführt, um
Kraftwerkssimulatoren zur Ausbildung des Betriebsper- „auslegungsüberschreitende“ Zustände, wie der Super­-
sonals empfohlen. GAU von Tschernobyl einer war, frühzeitig und sicher

28
zu erkennen, zu kontrollieren und mit möglichst der Kernkraftwerke in Ergänzung zu der ständigen
geringen Schäden zu beenden. Bei den Maßnahmen behördlichen Aufsicht erarbeitet. Die Betreiber hatten
des anlageninternen Notfallschutzes wird zwischen sich seinerzeit freiwillig verpflichtet, die PSÜ durch-
schadensvorbeugenden (präventiven) und schadens- zuführen. Sie wurde ab April 2002 als gesetzliche
mindernden (mitigativen) Maßnahmen unterschieden. Vorgabe gemäß § 19a Atomgesetz als Sicherheitsüber-
Die schadensvorbeugenden Maßnahmen dienen der prüfung (SÜ) verbindlich festgeschrieben. Das BfS hat
Verhinderung schwerer Brennelementschäden. Das die Leitfäden zur PSÜ und zur SÜ sowie die zugehöri-
Hauptziel ist dabei die Erhaltung oder Wiederherstel- gen Leitfäden und Fachbände zu den probabilistischen
lung der Brennelementkühlung und die Überführung Sicherheitsanalysen (PSA) maßgeblich mitgestaltet.
der Anlage in einen sicheren Zustand. Beispiel dafür
ist das Maßnahmenkonzept aus sekundärseitiger und
primärseitiger Druckentlastung und Einspeisung. Dies Übereinkommen über nukleare Sicherheit
bedeutet vereinfacht gesprochen, dass zunächst durch
Öffnen von Ventilen ein Druckabbau im Bereich des Die Bundesregierung hat nach dem Unfall von
Primär- und Sekundärkreislaufes bewirkt wird. Sobald Tschernobyl die internationale Zusammenarbeit bei
der Druck in den Kühlkreisläufen hinreichend abge- der Gewährleistung der Sicherheit in Kernkraftwerken
senkt ist, kann dann mit Pumpen verlorenes Kühlmit- vorangetrieben. So trug ihre Initiative wesentlich dazu
tel ergänzt werden. bei, dass ein Übereinkommen über nukleare Sicherheit
(Convention on Nuclear Safety) erarbeitet und 1994
Erst bei einem unterstellten Versagen der präventiven verabschiedet wurde. Die Beitrittsstaaten zu dieser
Maßnahmen und einem Auftreten von Brennelement- Konvention verpflichten sich zu einer Einhaltung
schäden kommen schadensmindernde Maßnahmen grundlegender Anforderungen für die Reaktorsicher-
zur Begrenzung bzw. Milderung schwerer radiologi- heit und unterwerfen sich regelmäßigen Überprü-
scher Auswirkungen in der Anlage und der Umgebung fungsprozessen. Die nukleare Sicherheitskonvention
zum Zuge. Hauptziel ist hier die Erhaltung der Integ- stellt damit ebenfalls ein mittelbar aus dem Unfall von
rität der noch vorhandenen aktivitätseinschließenden Tschernobyl hervorgegangenes Element zur Sicher-
Barrieren – z. B. des Reaktorsicherheitsbehälters, der heitsverbesserung in deutschen und ausländischen
im Falle eines Unfalls die aus beschädigten Brennele- Kernkraftwerken dar.
menten freigesetzten gasförmigen radioaktiven Stoffe
zurückhalten soll – und die Absicherung eines langfris-
tig kontrollierten Zustandes zum Schutz der Umge-
bung. Ein Beispiel dafür ist die gefilterte Druck-
Beendigung der Nutzung der Kernenergie zur
entlastung des Reaktorsicherheitsbehälters, die in der Stromversorgung
Öffentlichkeit auch als „Wallmann-Ventil“1 bekannt
geworden ist. Dabei werden – um ein mögliches Versa- In einigen Ländern hat der Reaktorunfall von Tscher-
gen des Sicherheitsbehälters durch zu hohen Druck zu nobyl den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie
verhindern – die Gase über ein Ventil an die Umge- zur Stromerzeugung bewirkt. In Deutschland wurde
bung abgegeben, wobei die radioaktiven Stoffe durch dafür nach der Vereinbarung zwischen Bundesregie-
ein Filtersystem weitgehend zurückgehalten werden. rung und Energieversorgungsunternehmen vom 14.
Juni 2000 im Jahr 2002 mit einer Novelle des Atomge-
Der anlageninterne Notfallschutz ist heute fester Be- setzes die rechtliche Grundlage geschaffen. Nach einer
standteil des Sicherheitskonzeptes deutscher Kernkraft- zwischenzeitlichen Laufzeitverlängerung für die deut-
werke. Die Implementierung der von der RSK empfoh- schen Kernkraftwerke im Jahr 2010 hat am 11. März
lenen Maßnahmen erfolgte im Wesentlichen im Laufe 2011 der folgenschwere Unfall im japanischen Kern-
der 1990er und 2000er Jahre und ist heute für alle kraftwerk Fukushima zu einem weiteren Einschnitt in
noch in Betrieb befindlichen Anlagen abgeschlossen. der Nutzung der Kernenergie in Deutschland geführt.
Das BfS hat dabei den Stand der Umsetzung der Maß- Gemäß dem am 6. August 2011 in Kraft getretenen
nahmen regelmäßig verfolgt und in Zusammenarbeit 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes wird die
mit den atomrechtlich zuständigen Genehmigungs- Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung
und Aufsichtsbehörden der Länder in Statusberichten von Elektrizität bis spätestens Ende 2022 beendet.
dokumentiert. Seit der Veröffentlichung der neuen
“Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke“ im
November 2012 ist der anlageninterne Notfallschutz 1 Dr. Walter Wallmann, erster Bundesminister für Umwelt,
im kerntechnischen Regelwerk verankert. Naturschutz und Reaktorsicherheit

Periodische Sicherheitsüberprüfungen
In dem Abschlussbericht der RSK von 1988 wurde
erstmals auch ein Vorschlag für Anforderungen an
künftige periodische Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ)

29
Maßnahmen der Bundesregierung zur Verbesserung der
Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart

Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl im „„ die Beteiligung der Bundesregierung an multi-
Jahre 1986 überprüften alle Staaten, in denen Kerne- lateralen Aktionsprogrammen im Rahmen der
nergie genutzt wird, ob aus diesem Unfall Schlussfolge- westlichen Staatengemeinschaft,
rungen für die Verbesserung ihrer Kernkraftwerke ge- „„ ein Kooperationsprogramm der deutschen Ener-
zogen werden könnten bzw. müssten. Darüber hinaus giewirtschaft mit Partnerschaften zwischen Kern-
wurde die internationale Zusammenarbeit verstärkt kraftwerken im Rahmen der World Association of
mit dem Ziel, vergleichbare Unfälle zu verhindern. Das Nuclear Operators (WANO),
schloss auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit der „„ bilaterale Programme des Bundesministeriums für
damaligen Sowjetunion ein. Diese Zusammenarbeit Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU)
wurde durch eine beginnende Öffnung der Sowjetuni- sowie weiterer Bundesministerien, gestützt auf
on gegenüber den westlichen Staaten und durch die entsprechende Verträge.
späteren Demokratisierungsprozesse in den Nachfol-
gestaaten der Sowjetunion sowie in weiteren Ländern Dem Bundesumweltministerium wurde zu Beginn der
Mittel- und Osteuropas begünstigt. 90er Jahre die Schwerpunktaufgabe übertragen, zur
Verbesserung der Sicherheit der kerntechnischen Anla-
Durch diesen Öffnungsprozess wurden nun auch für gen, insbesondere der Kernkraftwerke in den Ländern
westliche Spezialisten detaillierte Informationen zur Mittel- und Osteuropas sowie der GUS beizutragen. Die
sowjetischen Kernkraftwerkstechnik zugänglich. Das Unterstützung ist dabei vor allem gerichtet auf
Hauptaugenmerk bei der verstärkten internationalen
Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie „„ die Stärkung der Aufsichts- und Genehmigungs-
wurde nun auf den Sicherheitsstatus der Kernkraft- behörden und deren wissenschaftlich-technischen
werke sowjetischer Bauart gerichtet. Aufgrund der Institutionen und auf die Verbesserung der atom-
Tatsache, dass sich Anlagen sowjetischer Bauart an rechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtspraxis,
den Standorten in Greifswald und Rheinsberg in „„ die Ermittlung des Sicherheitsstatus und die Ver-
Betrieb und in Stendal im Bau befanden und umfang- besserung der Sicherheit der Kernkraftwerke,
reiche Kenntnisse der ostdeutschen Experten zur sow- „„ die Vermittlung von westlichen Vorgehenswei-
jetischen Reaktortechnik vorhanden waren, bestand sen und Erfahrungen in Form von Seminaren,
für die Bundesrepublik Deutschland die einzigartige Workshops oder Qualifizierungsaufenthalten für
Voraussetzung, eine Vorreiterrolle in diesem Prozess Experten und verantwortliche Personen sowie auf
zu übernehmen. den Methodentransfer und auf
„„ die Gewährleistung der Sicherung kerntechnischer
Bereits bei den ersten Untersuchungen wurden Un- Anlagen.
terschiede zur westlichen Technik und zu westlichen
Methoden der Sicherheitsgewährleistung sichtbar. In Einen Schwerpunkt der Unterstützungsmaßnahmen
internationalen und bilateralen Projekten wurde eine bildete die Aus- und Weiterbildung des Personals von
ganze Reihe von Schwachstellen oder Sicherheitsdefizi- Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden und ihrer
ten nach westlichen Maßstäben ermittelt und katego- Sachverständigenorganisationen, aber auch des Per-
risiert. Gleichzeitig wurde klar, dass man die östliche sonals aus den Kernkraftwerken. Da eine gründliche
Seite, die in einem politischen und wirtschaftlichen und zielgerichtete Ausbildung des Betriebspersonals
Umwälzungsprozess stand, bei ihren Bemühungen zur wesentlich zur Betriebssicherheit beiträgt, konzentrier-
Verbesserung der Sicherheit ihrer kerntechnischen te sich ein Teil der Maßnahmen auf die Einführung
Anlagen unterstützen musste. Von Anfang an wurden von Ausbildungssystemen sowohl für leitendes als
die östlichen Experten in die Untersuchungen einge- auch für sonstiges Betriebspersonal kerntechnischer
bunden. Hierdurch erfolgte gleichzeitig ein Wissens-, Anlagen nach westlichem Vorbild. Hierzu wurden für
Erfahrungs- und Informationstransfer insbesondere zu das KKW-Personal der Ukraine ein Ausbildungskonzept
den dortigen Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden entwickelt, Seminare zur deutschen Sicherheitsphiloso-
und ihren Expertenorganisationen, die sich in einer phie durchgeführt sowie Schulungsbegleitunterlagen
Neuformierungsphase befanden. und Betriebsprozeduren erarbeitet.

Im Auftrag der Bundesregierung wurde frühzeitig ein Aufgrund zunächst fehlender oder unzureichender
Gesamtkonzept zur Unterstützung der Staaten Mittel- Trainingsmöglichkeiten für das Schichtpersonal in
und Osteuropas und der Gemeinschaft Unabhängiger Kernkraftwerken mit Druckwasserreaktoren sowjeti-
Staaten (GUS) beim Aufbau von Demokratie und sozi- scher Bauart wurden bereits Anfang 1992 die ersten
aler Marktwirtschaft erarbeitet. Dieses Konzept wurde Simulatorkurse für die KKW Riwne (Ukraine) und
kontinuierlich weiterentwickelt. Es beinhaltet Kola (Russische Föderation) in Greifswald durchge-

30
Osteuropäisches Personal aus Kraftwerken und Genehmigungsbehörden wurde im Rahmen der Unterstützungsmaßnahmen an deutschen
KKW-Simulatoren weitergebildet.

führt. Ab dem Jahr 1994 wurde das KKW Nowowo- „„ Genehmigung und Aufsicht bei der Vorbereitung
ronesch (Russische Föderation) einbezogen. Durch und Durchführung der Stilllegung kerntechni-
den in Greifswald vorhandenen Simulator konnte auf scher Anlagen.
dem Gebiet der Personalausbildung ein wesentlicher
Beitrag zur Erhöhung der Betriebssicherheit geleistet Die Durchführung von Seminaren und Workshops
werden. als internationale Veranstaltungen hat sich bewährt.
Die Durchführung dieser Veranstaltungen dient der
Zur Aus- und Weiterbildung der Aufsichts- und Geneh- Realisierung des Ziels der Bundesregierung, darauf
migungsbehörden sowie ihrer Sachverständigenorga- hinzuwirken, dass die Risiken aus dem Betrieb der
nisationen wurden und werden Seminare, Workshops, Kernkraftwerke und anderer kerntechnischer Anlagen
Arbeitstreffen und Hospitationen auf dem Gebiet der im Ausland verringert werden, solange in souveräner
Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen und des Entscheidung der betreffenden Staaten Kernenergie
Strahlenschutzes durchgeführt. großtechnisch genutzt wird.

Die Programme der Veranstaltungen werden stets


an den aktuellen Erfordernissen und entsprechend
neuesten Erkenntnissen ausgerichtet. So wurden im
Jahr 2005 u. a. Veranstaltungen zu folgenden Themen
durchgeführt:

„„ Physischer Schutz von Kernmaterial und kerntech-


nischen Anlagen auf der Basis eines Bedrohungs-
modells bei Berücksichtigung des gesteigerten
internationalen Terrorismus.
„„ Aufbau und Verwendung numerischer Modelle
zur Bewertung der Auswirkungen von Altlasten
des Uranbergbaus auf den Menschen und zur
Optimierung von Sanierungsstrategien.

31
Internationale Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine bei
der Stilllegung des KKW Tschernobyl

Die Zerstörung des Blocks 4 des ukrainischen KKW Der erste Teil ist auf die Lösung von Fragen der nuk-
Tschernobyl am 26.04.1986 bleibt auch nach dem Un- learen Sicherheit am Standort des KKW Tschernobyl
fall im KKW Fukushima Daiichi das bisher größte und gerichtet.
folgenschwerste Ereignis bei der zivilen Nutzung der
Kernenergie. Die weitreichenden und langwierigen Der zweite Teil soll helfen, Fragen der Sicherstellung
ökologischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen der Energieversorgung in der Ukraine nach Abschal-
Folgen dieses Unfalls stellten die damalige Sowjetunion tung des KKW Tschernobyl zu lösen.
und später Russland, Weißrussland, aber insbesondere
die Ukraine vor große Herausforderungen. Zur Umsetzung der Maßnahmen zur nuklearen Sicher-
heit wurde im November 1996 eine Zuschussvereinba-
Nach dem politischen und territorialen Zerfall der rung zum NSA zwischen der EBWE und der Ukraine in
Sowjetunion und des gesamten „Ostblocks“ und dem Höhe von umgerechnet 118,1 Mio. EUR zur Vorberei-
Bekanntwerden von Details der sicherheitstechnischen tung der endgültigen Stilllegung des KKW Tschernobyl
Schwächen der RBMK-Reaktoren („Tschernobyl-Typ“) in unterzeichnet. Sie war u. a. gedacht für kurzfristige
den westlichen Staaten drängten diese auf die Stillle- Sicherheitsverbesserungen am Block 3, für eine Anlage
gung der RBMK-Baulinien. zur Behandlung flüssiger radioaktiver Abfälle und ein
Zwischenlager für abgebrannte RBMK-Brennelemente.
Die G7 verabschiedeten im Jahr 1992 auf ihrem Gipfel Weitere Mittel für Maßnahmen zur Bewältigung der
in München ein multilaterales Aktionsprogramm zur Unfallfolgen wurden über das EU-Programm „Techni-
Verbesserung der nuklearen Sicherheit in Mittel- und cal Assistance to the Commonwealth of Independent
Osteuropa. Dieses Programm umfasste Themen wie States“ (TACIS), Projekte der UN-Organisation Internati-
die Sicherheit der Betriebsführung, Sicherheitsbe- onal Atomic Energy Agency (IAEA) und über bilaterale
wertungen, behördliche Kontrollen, Schaffung von Unterstützung durch verschiedene Staaten bereitge-
Ersatzkapazitäten zur Stromerzeugung, aber auch die stellt. Das TACIS-Programm lief 2006 aus und wurde
Nachrüstung neuerer Anlagen, soweit dies mit einem durch das „Instrument for Nuclear Safety Cooperation“
vertretbaren Aufwand als möglich erachtet wurde. (INSC) ersetzt. Im Rahmen dieses Programms werden
auch weiterhin Mittel für Maßnahmen zur Bewälti-
Im April 1993 wurde auf Vorschlag der G7-Staaten der gung der Unfallfolgen zur Verfügung gestellt.
Nuclear Safety Account (NSA) bei der Europäischen
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) in Da es Mitte der 1990er Jahre unterschiedliche Ansich­
London eingerichtet, um zunächst sicherheitserhöhen- ten bezüglich der Entsorgung der kernbrennstoff-
de Maßnahmen an älteren Reaktoren sowjetischer Bau- haltigen Materialien aus dem Sarkophag gab, wurde
art in Mittel- und Osteuropa zu finanzieren. Die Mittel vorgeschlagen, einen kurzfristig realisierbaren Plan
werden von der EBWE verwaltet. Die Bank unterliegt zur Gewährleistung der nuklearen Sicherheit des ha-
der Kontrolle des Instruments der Geberversammlung. varierten Blockes 4 zu entwickeln. Im Mai 1997 stellte

Auf dem G 7-Gipfel im Juli 1994 in Neapel wurde der


Ukraine ein Aktionsplan zur Unterstützung für den
Fall der Stilllegung des KKW Tschernobyl angeboten.
Ziele dieses Plans waren die schnelle Schließung des
KKW Tschernobyl, die Schaffung von Ersatzkapazitäten
sowie die Reform des Energiesektors.

Diese Initiative führte am 20.12.1995 zur Unter-


zeichnung des „Memorandum of Understanding on
the Closure of the Chernobyl Nuclear Power Plant“
(MoU) zwischen den Regierungen der G7-Staaten, der
EU-Kommission und der Ukraine im kanadischen Otta-
wa. Die politische Vereinbarung beruht auf der Zusage
von Präsident Kutschma mit Brief vom 8. August 1995
an die G7-Führung, das KKW Tschernobyl bis zum Jahr
2000 abzuschalten.
Die Vereinbarung enthält ein Programm für Zusam-
menarbeit, bestehend aus zwei Teilen: 2011 - Vorbereitung der Errichtungsfläche des New Safe Confine-
ment (NSC) vor stabilisiertem Sarkophag – Quelle EBWE.

32
eine Gruppe internationaler Experten ein multidis- digen Erfüllung aller Aufgaben nach der Errichtung
ziplinäres Programm fertig, das als „Shelter Imple- des NSC aus. Andere Bewertungen sehen die Notwen-
mentation Plan“ (SIP) bezeichnet wurde. Im Rahmen digkeit der Finanzierung und Realisierung einiger
des SIP wurden vor allem Stabilisierungsarbeiten am zusätzlicher Vorhaben. Da der SIP keine Auflistung
Sarkophag geplant mit dem Ziel, einen möglichen von Maßnahmen darstellt, sondern nur Sicherheitszie-
Einsturz sowie weiteres Eindringen von Wasser zu le vorgibt, werden diese Positionen weiterhin in der
verhindern und schließlich einen sicheren Einschluss Diskussion bleiben. Unklar sind derzeit auch noch der
herzustellen. Zeitplan und die noch in Planungsansätzen steckende
Verfahrensweise für die Entsorgung der kernbrenn-
Im SIP wurden nicht einzelne technische Lösungsvor- stoffhaltigen radioaktiven Materialien aus dem Sarko-
schläge gegeben, sondern das Herangehen beschrie- phag, für die die Inbetriebnahme des NSC mit allen
ben, mit dem ein optimales Vorgehen entwickelt und Systemen die notwendige Voraussetzung ist.
die zuvor definierten Hauptziele erreicht werden
können. Die Kosten für die Umsetzung des SIP waren im Jahre
1997 zunächst mit 758 Mio. US$ (zuzüglich 10 Mio.
Der SIP beinhaltet fünf Hauptziele: US$ zur Unterstützung des Genehmigungsverfahrens)
prognostiziert worden. Als Bauzeit wurden sieben
1. Reduzierung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Jahre (1998 - 2005) angesetzt. In Umsetzung des MoU
Einsturzes des Sarkophags (geotechnische und seis- sagten 1997 während des Gipfels in Denver als erste
mische Untersuchungen des Baugrunds, Stabilisie- die G7-Staaten der Ukraine die Bereitstellung von
rung, Abschirmung und Überwachung). zunächst 300 Mio. US$ für die Sanierung des Sarko-
2. Reduzierung der radiologischen Auswirkungen phags zu. Auf der im November 1997 einberufenen
(Staubunterdrückung, Notfallschutzmaßnahmen). ersten Geberkonferenz in New York wurden auch
3. Verbesserung der nuklearen Sicherheit des Sar- andere Staaten aufgerufen, sich als „Geber“ an der
kophags (Charakterisierung der kernbrennstoff­ Finanzierung zu beteiligen. Dabei sagten 25 Länder
haltigen Materialien, Wasserbehandlung, Kritikali- rund 400 Mio. US$ zu. Diese Summe enthielt einen
tätsverhinderung). Beitrag der Ukraine in Höhe von 50 Mio. US$ in Form
4. Verbesserung der Sicherheit des Personals und des von Eigenleistungen. Dieser Betrag war zunächst
Umweltschutzes (Strahlenschutz, Arbeitsschutz, ausreichend, um mit den ersten Arbeiten im Rahmen
Brandschutz, Überwachungssysteme, Informati- des SIP zu beginnen.
onssystem).
5. Entwicklung einer langfristigen Strategie für die Ebenfalls 1997 richteten die G7, die Europäische Kom-
Umwandlung in einen umwelttechnisch sicheren mission und die übrigen Geber mit Hilfe der EBWE
Standort (Strategie und Technologie zur Bergung als Verwalterin den „Chernobyl Shelter Fund“ (CSF)
der kernbrennstoffhaltigen Materialien, neuer Ein- ein. Aus diesem Fonds sollte entsprechend dem SIP
schluss und teilweiser Rückbau des Sarkophags). nach ersten Stabilisierungsmaßnahmen am Sarkophag
u. a. die neue sichere Umschließung des havarierten
Die genannten Ziele des SIP zur Sanierung des Sar- Tschernobyl-Reaktors, das NSC, finanziert werden. Zur
kophags sind pragmatisch gewählt und umfassen Umsetzung der Aktivitäten des CSF in der Ukraine wur-
einen überschaubaren Zeithorizont. Der Sarkophag de am 20. November 1997 eine Rahmenvereinbarung
soll mittelfristig sicherer gemacht werden, damit Zeit zwischen der Ukraine und der EBWE unterzeichnet.
gewonnen wird, um langfristige Lösungen, insbeson- Sie wurde am 4. Februar 1998 durch das ukrainische
dere für die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle, zu Parlament, die Werchowna Rada, ratifiziert.
entwickeln. Für die nächsten 50 bis 100 Jahre soll ein
stabiler Zustand erreicht werden. Die eigentliche Projektdurchführung begann mit der
Einrichtung einer Project Management Unit (PMU) im
Die Hauptziele des SIP sollten bei einer geplanten Pro- April 1998.
jektdauer von 8 - 9 Jahren in zwei Projektabschnitten
erreicht werden: Im Rahmen des ersten Projektabschnitts erfolgten die
Stabilisierungsarbeiten am Sarkophag, die 2009 mit
1. Konzeptentwicklung und Notstabilisierung der Abdichtung des Daches erfolgreich abgeschlossen
2. Sicherer Einschluss wurden. Die Hauptmaßnahme des zweiten Projektab-
schnitts des SIP war danach die Errichtung des NSC.
Der SIP gliedert sich in 22 Aufgaben mit insgesamt
297 Arbeitsschritten. Diese Aufteilung wurde u. a. zur Seine Errichtung und Inbetriebnahme ist die wich-
Entwicklung eines Zeitplans und einer Kostenabschät- tigste Voraussetzung für die Umsetzung aller weiteren
zung verwendet. Arbeiten zur Standortsanierung.

Verschiedene Bewertungen wurden erstellt, ob die Ar- Das NSC ist eine bogenförmige Metallkonstruktion, die
beiten des SIP durch diese Planung vollständig erfasst ca. 200 m westlich vom Sarkophag entfernt errichtet
und erfüllt werden. Die EBWE geht von einer vollstän- und nach kompletter Vormontage über den Sarkophag

33
und über einen Teil des von den Blöcken 3 und 4 Weitere ausländische und auch einige ukrainische
gemeinsam verwendeten Maschinenhauses geschoben Unternehmen sind als Unterauftragnehmer beteiligt.
werden soll. Das NSC soll den Sarkophag und das darin
enthaltene radioaktive Material für bis zu 100 Jahre Der damalige Zeitplan sah die Fertigstellung des NSC
von der Umwelt sicher isolieren. Darüber hinaus soll im Jahr 2013 vor. Heute soll das aktualisierte Fertigstel-
das NSC Ausrüstungen und Vorrichtungen umfassen, lungsdatum 30.11.2017 eingehalten werden.
um instabile Strukturen zu demontieren und in einer
späteren Phase kernbrennstoffhaltige Materialien ent- Die ukrainische Genehmigungs- und Aufsichtsbehör-
fernen zu können. de wurde zu Beginn der Genehmigungsphase durch
ein Beraterteam „SIP Licensing Consultant“ (SIP-LC)
Das Ausschreibungsverfahren für das NSC zog sich mit unterstützt, in dem Fachleute aus US-amerikanischen,
einer Zeitspanne von 2003 bis 2006 wesentlich länger französischen und deutschen Expertenorganisationen
hin als vorgesehen. arbeiteten. Diese personelle Verstärkung war in den
Anfangsjahren durch die Geber als notwendig erachtet
Am 17. Juli 2007 konnten die Geberländer des CSF ge- worden. Darüber hinaus sollte mit der Auflage zur Er-
genüber der EBWE die lang erwartete Unbedenklich- stellung eines „Conceptual Design Safety Documenta-
keitserklärung zur Zuschussvereinbarung für das NSC tion“ (CDSD) im Genehmigungsprozess eine maximale
abgeben und genehmigten damit eine erste Mittelzu- Kontrolle des angestrebten Sicherheitsniveaus bereits
weisung zur Projektrealisierung. Der Vertrag mit dem in der Designphase erreicht werden.
französisch geführten Konsortium Novarka wurde am
24. August 2007 unterzeichnet. Nach zwei erheblichen Fondsaufstockungen von jeweils
mehr als 600 Mio. EUR im April 2011 bzw. 2015 stehen
Mitglieder des Konsortiums sind die Unternehmen im CSF nun ausreichend Mittel zur erfolgreichen Fer-
VINCI Construction Grands Projets (Kosortialführer) tigstellung des NSC bereit. Die gesamten in den beiden
and Bouygues Travaux Publics (beide Frankreich). Fonds NSA und CSF zugesagten Mittel werden jedoch

August 2015 – Blick auf die zusammengekoppelten Hälften des NSC – Quelle ChNPP.

34
nach derzeitigem Stand nicht ausreichen, um die Ge- ten (folglich eventuell wasserhaltigen) Brennstäben. Das
samtkosten der mit diesen beiden Fonds verbundenen bisherige Konzept der Zwischenlagerung der Brenn­
Projekte zu decken. Dies gilt vor allem für die Fertigstel- elemente in gasdichten Schutzrohren bzw. Pennalen
lung des ISF-2 inklusive aller Lagerbehälter. (1. Barriere gegen den Austritt radioaktiver Stoffe),
die in Behältern (2. Barriere) angeordnet werden, die
Die aktualisierte Kostenschätzung des Konsortiums No- wiederum in Betonblöcke eingelagert werden, konnte
varka benennt zur Fertigstellung des NSC nunmehr Kos- aufgrund der zum Teil verformten Brennelemente (für
ten von ca. 1,5 Mrd. EUR. Hinzu kommen weitere über diese ist der Durchmesser der Pennale zu klein) oder der
diesen Fonds finanzierte SIP-Maßnahmen i. H. v. rd. 600 möglichen Korrosions- und Druckaufbauprozesse (Was-
Mio. EUR, die nicht unmittelbarer Vertragsgegenstand ser in den Brennstäben) in den Pennalen nicht angewen-
des NSC sind. Unter der G7-Führung Deutschlands det werden. Im Jahr 2007 schlug die US-amerikanische
konnten die Geber Ende April 2015 mit ihren weiteren Firma Holtec eine technische Lösung zur Trocknung der
Finanzzusagen vor dem 30. Jahrestag des Unglücks die Brennelemente und für den Ersatz der Pennale vor und
Fertigstellung des NSC bis Ende 2017 finanziell absi- erhielt den Vertrag zur Fertigung der geeigneten Lager-
chern. Auch China, Kasachstan und Saudi-Arabien gehö- behälter („Double Wall Canisters“ – DWC) und auch zur
ren nun zum Kreis der Geber. Fertigstellung des gesamten Lagers ISF-2.

Deutschland ist am CSF derzeit mit rd. 114 Mio. EUR


direkt beteiligt. Zusätzlich ist es über seine Anteile am
Haushalt der Europäischen Kommission, der formal
größten Geberin, indirekt beteiligt.

Der bereits erwähnte NSA, aus dem in den Anfangsjah-


ren nicht nur Projekte für die Ukraine finanziert wur-
den, dient gegenwärtig u. a. der Finanzierung einer
Aufbereitungsanlage für flüssige radioaktive Abfälle
(„Liquid Radwaste Treatment Plant“ (LRTP), die mittler-
weile in Betrieb genommen wurde) und eines Lang-
zeit-Zwischenlagers (mit Konditionierungsanlage) für
die trockene Lagerung abgebrannter Brennelemente
(„Intermediate Spent Fuel Storage Facility“ (ISF-2)) am
Standort des KKW Tschernobyl. Der direkte deutsche
Gesamtbeitrag für den Ukraine-Anteil des NSA beträgt
ca. 50 Mio. EUR. ISF-2 Beton-Lagerblöcke zur Aufnahme der DWC – Quelle ChNPP.

Das ISF-2 ist erforderlich als Ersatz für das derzeit zur
Zwischenlagerung der abgebrannten Brennelemente Die internationalen Unterstützungsmaßnahmen haben
genutzte und aus sicherheitstechnischer Sicht zu erset- die Situation am Standort Tschernobyl bereits erheblich
zende Nasslager ISF-1. Auch die weitere Stilllegung der verbessert. Gleichzeitig zeigen vor allem die beiden
Blöcke 1 - 2 des KKW erfordert die Verbringung der Hauptprojekte NSC und ISF-2, dass solche komplexen in-
Brennelemente aus dem ISF-1 ins ISF-2. ternationalen Vorhaben mit z. T. erheblichen Herausfor-
derungen behaftet sind. Diese sind sowohl technischer,
Der Hauptteil der ca. 22.000 am Standort Tschernobyl organisatorischer aber auch finanzieller Art. Anderer-
vorhandenen Brennelemente befindet sich im ISF-1, seits gab es aufgrund der Einzigartigkeit und Größe
dessen Betriebsgenehmigung von 2016 um weitere 10 der Projekte auch keine Alternative, da die Ukraine zu
Jahre bis 2026 verlängert wurde. Weitere beschädigte keiner Zeit wirtschaftlich in der Lage war, die Probleme
Brennelemente befinden sich noch in den Abkling- am Standort Tschernobyl aus eigener Kraft zu lösen.
becken der abgeschalteten KKW-Blöcke 1 und 2.
Die Brennelemente aus dem zum zerstörten Block 4 Mit der vereinten Unterstützung aller Geber besteht
benachbarten Block 3 wurden inzwischen vollständig die reale Aussicht, dass zum Ende dieses Jahrzehnts
ausgeladen. ein weiterer wesentlicher Schritt zur Überführung
des Standorts Tschernobyl in einen sicheren Zustand
Auslegung und Bau des ISF-2 war 1999 an ein Kon- realisiert werden kann, nämlich der Rückbau der insta-
sortium unter Leitung von Framatome (jetzt AREVA) bilen Teile des alten Sarkophags. Ebenso können dann
vergeben worden. Die Fertigstellung war ursprünglich Entscheidungen getroffen werden, wie mit den einge-
für 2004 vorgesehen. Seit dem Frühjahr 2003 war der schlossenen radioaktiven Stoffen und dem zerstörten
Weiterbau des ISF-2 wegen erkannter Mängel in der Block weiter verfahren werden soll. Die Arbeiten zur
Auslegung unterbrochen worden. Die Mängel stehen im Umsetzung entsprechender Konzeptionen werden
Zusammenhang mit der ursprünglichen Nichtberück- weitere Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
sichtigung von mechanisch beschädigten (verformten)
Brennelementen und von Brennelementen mit undich-

35
Erfahrungen und Erinnerungen aus Ost und West

Aus dem Institut für Strahlenhygiene des gespannt, wie sich die Messergebnisse weiterentwi-
ckeln würden.
Bundesgesundheitsamtes (BRD)
Die äußere Strahlenbelastung (Ortsdosisleistung, ODL)
Nach den ersten eingehenden Informationen war die
stieg an diesem Tag auf ca. 1 μSv/h an, mehr als das
Ankunft der radioaktiven Luftmassen aus Tschernobyl
10-fache des Normalpegels (0,08 μSv/h). Die spektrome-
für Samstag, den 3. Mai 1986, in München angekün-
trischen Messungen der Luftfilterproben gaben einen
digt. Die Mitarbeiter des Instituts für Strahlenhygiene
ersten Hinweis darauf, dass vor allem die kurzlebigen
(ISH), die sich mit der Messung der Umweltradioakti-
Radionuklide Tellur-132/ Iod-132 für den Anstieg der
vität befassten, hatten sich auf dieses Ereignis vor-
bereitet. Es wurde eine Sammelstelle für radioaktive äußeren Strahlenbelastung verantwortlich waren. Hin-
Aerosole aufgebaut, Geräte zur Messung der äußeren sichtlich der Belastung der Nahrungsmittel waren in
Strahlenbelastung wurden bereitgehalten und 5-l-Ka- den ersten Wochen Iod-131 und, nach dessen Abklin-
nister für Milchproben gekauft. Überraschenderweise gen, Cs-134/137 relevant. Die Radionuklidaktivität in
stieg dann bereits am Nachmittag des 30. Aprils die der Luft erreichte ihr Maximum am 1. Mai, ging dann
Ortsdosisleistung im Münchner Raum deutlich an. etwas zurück, um am 3. Mai nochmals fast den Maxi-
Die Wolke kam über Norditalien, Österreich und die malwert zu erreichen. Danach fiel der Aktivitätspegel
Schweiz nach Süddeutschland und driftete weiter nach in der Luft sehr schnell ab (Abb. unten).
Norden. Umgehend wurde mit den vorbereiteten Pro-
beentnahmen und Messungen begonnen. Der Anstieg Aufgrund des sehr späten Frühlingsbeginns im Jahr
der Radioaktivität übertraf deutlich die Erwartungen 1986 hatte die Wachstumsperiode in Oberbayern gera-
und löste bei den Beteiligten eine rege Geschäftigkeit de erst begonnen. Deshalb mussten von Nahrungsmit-
und gespannte Neugierde aus. Die Erregung über die- teln zunächst nur Milch und Spinat beprobt werden.
ses Ereignis war so groß, dass es keiner Aufforderung Die Messungen zeigten, dass Iod-131 das dosisrelevante
an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bedurfte, am Radionuklid in dieser Anfangsphase war. Im Spinat
nächsten Tag, dem 1. Mai, anwesend zu sein. Fast alle wurden bis 20.000 Bq/kg I-131 und in der Milch lokal
waren unaufgefordert am Arbeitsplatz erschienen und über 500 Bq/l I-131 gemessen. Das damals verantwort-

Zeitlicher Verlauf der Konzentration von Iod-131, Tellur-132 und Cäsium-137 in der Luft in Neuherberg bei München nach dem Reaktorunfall
von Tschernobyl.

36
liche Bundesministerium des Innern wurde vom ISH schöpft seien und sie die Tiere deshalb auf die Weide
permanent über die Entwicklung der Lage informiert. schicken mussten. Bei der Verarbeitung von Milch zu
Es alarmierte die Strahlenschutzkommission (SSK), de- lagerfähigen Produkten entstanden 2 Güterzüge voll
ren Mitglieder sich erstmals am 2. Mai trafen, um die kontaminierter Molke, die Jahre später aufwändig
Lage zu erörtern. dekontaminiert wurden.

Die Beratungen waren nicht einfach, da die Umweltra- Am 4. Mai trat die SSK erneut zusammen, um zu
dioaktivität nicht systematisch gemessen wurde. Ver- beraten. Es lagen jetzt auch Messergebnisse aus dem
fügbare Informationen gab es nur bruchstückhaft, da Westen und Norden Deutschlands vor, die darauf hin-
lediglich die Ergebnisse einiger punktueller Messun- wiesen, dass diese Gebiete deutlich geringer belastet
gen in Deutschland vorlagen. Hinzu kam, dass Infor- waren als die Gegend südlich der Donau. Die SSK hat
mationen aus dem Ausland kaum vorhanden waren. auf dieser Sitzung folgende Empfehlungen ausgespro-
Die UdSSR hatte zunächst gar nicht und dann auch chen:
nur unzureichend über die Unfallsituation informiert.
Ebenso waren auch keine Informationen über die „„ Für Blattgemüse wurde ein Grenzwert von
Kontamination der Umwelt aus den anderen östlichen 250 Bq/kg I-131 empfohlen.
Staaten verfügbar. Westliche Länder wie Frankreich „„ Die Weiterverarbeitung zu lagerfähigen Produk-
nahmen die aufgetretenen Kontaminationen nicht ten wurde als unbedenklich eingestuft, wenn die
offiziell zur Kenntnis. Weiter kam erschwerend hinzu, Aktivität des Cs-137 unter 100 Bq/kg lag.
dass Politiker sich schon früh ohne ausreichende „„ Bei Wurzel- und unterirdischem Sprossgemüse be-
Kenntnis der Lage äußerten und beschwichtigende standen keine gesundheitlichen Bedenken gegen
Prognosen wagten, die sich sehr schnell als nicht einen Verzehr.
haltbar herausstellten. Auch die damalige EG hat nach
einer anfänglichen Einfuhrbeschränkung für frische Bei der Ableitung der Grenzwerte für I-131 ging die
Nahrungsmittel aus Drittländern erst am 31. Mai 1986 SSK davon aus, dass die Schilddrüsendosis des Klein-
Cs-137-Grenzwerte für die Einfuhr von Lebensmitteln kindes einen Wert von 30 mSv durch die Folgen dieses
erlassen, die im Übrigen heute noch gültig sind. Unfalls nicht überschreiten sollte.

Die Messergebnisse, insbesondere aus dem südbay- Die Empfehlungen wurden am 7. Mai erneut überprüft
erischen Raum, machten dem Ministerium und den und erläutert. Auf dieser Sitzung wurde der Eingreif-
Mitgliedern der SSK aber deutlich, dass Aussagen zur richtwert für Cs-137 in Nahrungsmitteln aufgehoben,
radiologischen Situation und Beschränkungen der Ra- da man mittlerweile davon ausging, dass die Strahlen-
dioaktivität in Lebensmitteln notwendig wurden. Die belastung durch Ingestion „kleiner als die Strahlenbe-
Ergebnisse der SSK-Beratungen am 2. Mai lassen sich lastung durch die natürliche K-40-Aktivität“ sei, was
wie folgt zusammenfassen: sich nachträglich bestätigte.

„„ Es waren keine akuten gesundheitlichen Schäden Nach und nach wurden immer mehr Messergebnis-
zu befürchten. Aus Gründen der Vorsorge sollten se und Informationen zusammengetragen, die eine
vermeidbare Strahlenexpositionen durch geeig- bessere Übersicht über die Lage erlaubten. Analysen
nete und praktikable Maßnahmen vermieden zeigten, dass Strontium-90 und Plutonium nur in sehr
werden. geringen Aktivitäten nach Deutschland transportiert
„„ Die Einfuhr frischer Nahrungsmittel aus Dritt- worden waren und nicht nennenswert zur Dosis bei-
ländern sollte nur gestattet werden, wenn keine trugen. Es wurde deutlich, dass nur die beiden Cäsium­
messbaren radioaktiven Verunreinigungen (Konta- isotope Cs-134/137 längerfristig dosisrelevant waren.
minationen) vorlagen. Das Probenspektrum wurde immer breiter. Neben
„„ Wegen der Anreicherung radioaktiven Jods in der Milch und Blattgemüse wurden nun auch Fleisch und
Schilddrüse wurde empfohlen, die Fütterung der Fisch in die Probeentnahme einbezogen. Aufgrund der
Milchkühe mit Frischfutter einzustellen. Für Milch relativ kurzen Halbwertszeit und einer „Verdünnung“
wurde ein Grenzwert von 500 Bq/l I-131 eingeführt. der Aktivität in Gras durch Wachstum musste Mitte
Milch, die eine höhere Aktivität aufwies, sollte zu Mai auch in Südbayern nicht mehr befürchtet werden,
lagerfähigen Milchprodukten verarbeitet werden. dass die I-131-Konzentrationen in Milch den Eingreif-
„„ Stillen bedingte keine Gefährdung durch die kon- richtwert von 500 Bq/l übersteigen könnten (Tabelle
taminierte Muttermilch für den Säugling. Seite 20).
„„ Frischgemüse sollte vor dem Verzehr gewaschen
werden. Trotzdem mussten die Messaktivitäten im ISH noch
„„ Vor unkontrollierter Einnahme von Jodtabletten verstärkt werden, weil zusätzliche Aufgaben auf die
wurde gewarnt. Messstellen zukamen. Bei der Ausfuhr von Milch und
Milchprodukten in verschiedene Länder wie beispiels-
Zwei dieser Empfehlungen erwiesen sich später als weise nach Italien wurde ein Zertifikat über die Höhe
problematisch. Nach einem langen Winter klagten die der I-131-Milchkontamination benötigt. Bald stapelte
Bauern in Bayern, dass die Futtermittelvorräte er- sich eine fast unübersehbare Menge verschiedenster

37
Verlauf der I-131- und Cs-137-Konzentration in Milch nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Die Herde war mit Ausnahme des 1. Mai per-
manent auf einer Wiese im Münchner Norden.

Molkereiproben im ISH, die für den Export bestimmt zeigten erstmals eine Simulation der Ausbreitung der
waren und ein Zertifikat benötigten. Mit Beginn der radioaktiven Schadstoffe über Europa. Im Dezember
Erntesaison kamen Privatleute, die die Kontamination 1986 leitete die Welternährungsorganisation FAO (un-
ihrer Produkte analysiert haben wollten. Messungen ter maßgeblicher Beratung durch das ISH) Grenzwerte
wurden nur dann durchgeführt, wenn das Produkt für für Nahrungsmittel für den internationalen Handel
die Lagebeschreibung interessant war, ansonsten wur- ab. Die Weltgesundheitsorganisation WHO übernahm
de auf bereits vorliegende Messergebnisse verwiesen. später diese Werte. Die EG leitete 1987 eigene entspre-
chende Werte ab, die zunächst etwa 6- bis 8-mal höher
Die Wissenschaftler des ISH wurden auch immer als die FAO-Werte waren. Nachträglich wurden diese
mehr in der Öffentlichkeitsarbeit gefordert. Zeitungen, Werte auf dem FAO-Niveau einander angepasst.
Rundfunk und Fernsehen wollten Erläuterungen zur
radiologischen Situation erhalten. Beispielsweise wur- Die Messungen der Umweltradioaktivität gingen
de für die Süddeutsche Zeitung anhand eines Wochen- während des gesamten Sommers unvermindert weiter.
speiseplans die wöchentliche Zufuhr von Cs-137 mit Immer wieder gab es nicht erwartete Ergebnisse.
der Nahrung erörtert. Wintergetreide war in Süddeutschland mit bis zu 400
Bq/kg Cs-137 belastet, was auf eine effektive Aufnahme
Ende Mai begannen allmählich grenzüberschreitende von Cäsium über das Blatt und eine effektive Verlage-
Betrachtungen der radiologischen Situation in Europa. rung in die Körner hindeutete. Die Messungen in den
Die EG legte am 31. Mai 1986 Grenzwerte für die spe- Nahrungsmitteln wurden ergänzt durch systematische
zifische Radiocäsiumaktivität in Nahrungsmitteln fest: Ganzkörpermessungen, mit denen die Cs-134/137-Aktivi-
370 Bq/kg für Milch, Milchprodukte und Säuglings- tät im Körper von Menschen bestimmt werden kann.
nahrung, 600 Bq/kg für sonstige Nahrungsmittel. Das
ISH und das niederländische Reichsinstitut für Volks- Im September 1986 veröffentlichten das ISH und das
gesundheit analysierten Mitte Juni gemeinsam die Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene eine ge-
europaweite Kontamination der Umwelt. Zu diesem meinsame, bundesweite Kontaminationskarte, die erst-
Treffen waren auch Vertreter internationaler Behör- mals flächendeckend die Kontamination des Bodens
den und anderer EG-Länder geladen. Die Niederländer mit Cs-137 zeigte (Abb. Seite 5).

38
Gesamte effektive Dosis für die nach dem
Gebiet Effektive Dosis im 1. Jahr (mSv)
Unfall folgenden 50 Jahre (mSv)

1986 1987 1996 2006 1986 1987 1996 2006

Voralpengebiet 1,2 0,65 0,5 3,8 2,2 2,1

Südlich Donau 0,5 – 1,1 0,6 0,35 0,3 1,5 – 4,0 1,9 1,3 1,1

Nördlich Donau 0,2 0,17 0,1 0,6 0,55 0,4

Vergleich der in den Jahren 1986, 1987, 1996 und 2006 berechneten effektiven Dosen für Erwachsene durch die SSK.

Nachdem die Verteilung der Radioaktivität in der Um- Aus dem Staatlichen Amt für Atomsicherheit
welt hinreichend gut bekannt war, wurden auch die
Dosisabschätzungen immer besser. Die Tabelle oben und Strahlenschutz (DDR)
fasst die Dosisabschätzungen der SSK in den Jahren
1986, 1987, 1996 und 2006 für Erwachsene zusam- Organisation der Überwachung
men. Die Strahlenexpositionen der Kleinkinder lagen
jeweils um 10 - 20 % höher. Die Zahlen zeigen, dass die In der DDR war das Staatliche Amt für Atomsicherheit
Dosisprognosen bereits 1986 recht zuverlässig waren. und Strahlenschutz (SAAS) die für die Durchsetzung
Sie zeigen aber auch, dass die Abschätzungen um so aller Belange der Atomsicherheit und des Strahlen-
vorsichtiger sind, je weniger Kenntnisse zur Verfügung schutzes zuständige Behörde. Das SAAS war deshalb
stehen. auch für die Koordinierung aller Maßnahmen zur
Überwachung der Auswirkungen des Reaktorunfalls in
Mit dem Ende der Haupterntezeit ging Ende August Tschernobyl, für die Bewertung der Ergebnisse und für
auch die Messfrequenz in pflanzlichen Medien zurück. Empfehlungen über erforderliche Strahlenschutzmaß-
Tierische Produkte wurden aber noch den ganzen nahmen zuständig.
Winter über verstärkt gemessen. Die Cs-134/137-Akti-
vität in der Milch stieg mit der Winterfütterung von Am Nachmittag des 28.04.1986 erhielt das SAAS über
kontaminiertem Heu, insbesondere des ersten Schnitts, Verbindungen zur IAEA zunächst inoffiziell erste
nochmals deutlich auf einige 10 Bq/l an. Erst ein Jahr Informationen über erhöhte Radioaktivitätswerte in
nach dem Unfall in Tschernobyl lagen die Aktivitäten der Luft in skandinavischen Ländern und über einen
in den landwirtschaftlichen Produkten in der Nähe des Reaktorunfall im europäischen Teil der Sowjetunion
Pegels vor dem Reaktorunfall. Höher belastet waren als mögliche Ursache dafür. Diese Informationen wa-
noch Fische aus Binnenseen sowie Wild, Waldbeeren ren Anlass, noch am 28. April eine Bewertungsgruppe
und Pilze, deren spezifische Aktivitäten teilweise wei- zu bilden, die die Aufgabe hatte, alle Informationen
ter anstiegen. und Messergebnisse zu analysieren, zu bewerten, eine
umfassende Beurteilung der Situation vorzunehmen
Das Fachgebiet Radioökologie untersuchte die Umwelt- und Empfehlungen für mögliche Gegenmaßnahmen
kontamination, um systematisch der Frage nachzu- zu erarbeiten. Diese Bewertungsgruppe war in eine
gehen, warum Wild, Beeren und Pilze im Gegensatz Leit- und Analysegruppe integriert, in die alle DDR-Mi-
zu landwirtschaftlichen Produkten lange Zeit hoch- nisterien einbezogen waren, die für die Durchführung
kontaminiert blieben. Die Routinemessungen wurden eventuell erforderlicher Schutzmaßnahmen verant-
nach und nach eingeschränkt. Das Verständnis des wortlich waren.
Verhaltens von Radionukliden in der Umwelt rückte in
den Mittelpunkt des Interesses. Aufgrund dieser und Vom SAAS wurden unverzüglich Maßnahmen getrof-
ähnlicher Untersuchungen ist man heute viel besser fen, die bestehenden Messnetze zur Überwachung der
als früher in der Lage, das langfristige Verhalten von Umweltradioaktivität zu verdichten, die Häufigkeit
Radionukliden zu prognostizieren. der Messungen zu erhöhen und die Messaufgaben
den Erfordernissen entsprechend zu erweitern. In
Die Ende April noch eilends beschafften 5-l-Kanister das Überwachungsprogramm waren neben dem
für Milchproben wurden allerdings nie genutzt, da Meteorologischen Dienst und anderen staatlichen
aufgrund der viel höheren Radionuklidgehalte, als Einrichtungen auch die Laboratorien für die Umge-
sie vor dem Unfall erwartet worden waren, bereits bungsüberwachung der Kernkraftwerke sowie For-
deutlich geringere Mengen für Radionuklidanalysen schungseinrichtungen der Akademie der Wissenschaf-
ausreichten. ten und Hochschulen einbezogen. Die Messaufgaben

39
wurden vom SAAS vorgegeben und die Institutionen Bis etwa Ende Mai war Iod-131 für die Strahlenexposi-
zur täglichen Berichterstattung und Übermittlung der tion bestimmend, als Hauptexpositionspfad musste die
Messergebnisse an das SAAS verpflichtet. Im Rahmen Kette Luft-Futterpflanze-Kuh-Milch überwacht werden.
der technischen Möglichkeiten wurde vom SAAS auch In der Anfangsphase war auch die durch die Radio-
eine Qualitätsüberwachung der durchgeführten Mes- nuklidablagerungen verursachte äußere Strahlenexpo-
sungen organisiert. sition zu beachten, die Inhalation war von untergeord-
neter Bedeutung.
Mit Beginn der Überwachung wurde auch eine zentra-
le Datenbank aufgebaut, in die alle Überwachungser- Aus der Zusammensetzung des Radionuklidgemisches
gebnisse und die für die Bewertung der Strahlenexpo- ergab sich nach ersten Abschätzungen, dass länger-
sitionen erforderlichen Informationen aufgenommen fristig nur die Isotope Cs-134 und Cs-137 für die Höhe
wurden. Mit Hilfe dieser Datenbank wurde später der der Strahlenexposition bestimmend sein würden und
Datenaustausch sowohl bilateral als auch mit der IAEA dass neben dem Verzehr von kontaminierter Milch
realisiert. auch der Verzehr von Blattgemüse, Fleisch und Fisch
beachtet werden musste. Weniger bedeutsam waren
dagegen Getreide, Kartoffeln, Wurzelgemüse und
Verlauf der Situation, Durchführung der Obst. Art, Ort und Häufigkeit der Messungen wurden
Überwachung und Ergebnisse der erwarteten Entwicklung der Situation angepasst.
In Gebieten, in denen mit höheren Kontaminationen
Der Meteorologische Dienst stellte von Beginn an Da- gerechnet werden musste, wurden intensivere Überwa-
ten über die Wettersituation und Prognosen über die chungsmessungen durchgeführt.
Entwicklung bereit, die für die Planung der Überwa-
chungsprogramme sehr wichtig waren. Parallel zur Überwachung der radioaktiven Belas-
tung der Pflanzen und Nahrungsmittel wurden
Beginnend mit dem 29.04.1986 erreichten radioak- auch systematische Messungen zur Ermittlung der
tiv kontaminierte Luftmassen das Gebiet der DDR, radioaktiven Belastung der Böden in einem engen
zunächst solche, die aus dem Unfallgebiet nach Nor- Flächenraster (jeweils 10 km x 10 km) durchgeführt,
dost- und Nordpolen gelangt waren, aber auch Luft- um einen Überblick über die regionale Variation der
massen, die direkt aus dem Unfallgebiet herangeführt radioaktiven Kontamination der Böden zu bekommen
wurden. Sie erreichten vor allem die Lausitz, gelang- und die Kontaminationsschwerpunkte identifizieren
ten aber auch bis in den Berliner Raum und teilweise zu können. Diese Untersuchungen waren für Prog-
nach Thüringen. Mehr oder weniger unbeeinflusst nosen über die Strahlenexpositionen, mit denen in
blieben die nördlichen und westlichen Gebiete. An- den Folgejahren zu rechnen ist, und für die Planung
fang Mai begann von Süden her erneut ein Zustrom der erforderlichen Überwachungsmaßnahmen von
radioaktiv kontaminierter Luftmassen, die zunächst großer Bedeutung. Bald ergab die Auswertung der
aus dem Unfallgebiet nach Südosteuropa, Österreich, Untersuchungen, dass die DDR zu den Gebieten in
in die Bundesrepublik Deutschland und die CSSR Europa gehörte, die weniger betroffen waren (vgl.
gelangt waren. Sie erreichten Thüringen und West- Karte der Cs-134-Kontamination der Böden in Pro-
sachsen und wurden von dort nach Norden transpor- ceedings des IAEA-Symposiums STI/PUB/825 Vol. I, p.
tiert. Wenige Tage später setzten in den westlichen 227). Anfang der 1990er Jahre bildeten die Ergebnisse
Gebieten örtlich teils kräftige Niederschläge ein, die dieser Bodenuntersuchungen, zusammen mit den für
nach und nach auch die östlichen Gebiete erreich- die alten Bundesländer gewonnenen Untersuchungs-
ten. Diese Niederschläge waren die Ursache für die ergebnissen, die Datengrundlage für eine gesamt-
zeitlich und örtlich sehr unterschiedlichen Radioakti- deutsche Karte der Cs-137-Kontamination der Böden.
vitätsablagerungen. Nach dem 08.05.1986 stellte sich Auch diese Karte macht deutlich, dass die radioaktive
die Wetterlage um, mit intensiven Niederschlägen Kontamination Ostdeutschlands, verglichen mit der
verbundene westliche Luftströmungen beendeten Kontamination in anderen Gebieten Deutschlands,
die Zufuhr radioaktiv kontaminierter Luftmassen aus deutlich geringer war und erhöhte Kontaminationen
dem Unfallgebiet. auf Teilgebiete beschränkt waren, die verglichen
mit dem Gesamtterritorium klein waren (s. a. Abb.
Bei der Planung der Überwachungsmaßnahmen Seite 5). Die Gebiete mit erhöhten Kontaminatio-
wurden die Zusammensetzung des Radionuklidge- nen bildeten in den Folgejahren den Schwerpunkt
misches in der Luft, die räumliche Verteilung der der Überwachung durch das SAAS. Die Ergebnisse
kontaminierten Luft, die wegen der unterschiedlichen der Überwachung wurden in zahlreichen Berichten
meteorologischen Bedingungen erwarteten regiona- zusammengefasst. Vor allem die Berichte SAAS 353
len Unterschiede der Radionuklidablagerungen, der A bis SAAS 353 E der Schriftenreihe des Staatlichen
Vegetationsstand und die unter diesen Bedingungen Amts für Atomsicherheit und Strahlenschutz geben
möglichen Expositionsszenarien und Expositionspfade einen umfassenden Überblick über die Programme,
berücksichtigt. die angewendeten Methoden und die Ergebnisse der
Überwachung.

40
Gesamt-Cäsium-137-Ablagerung (Kernwaffentests, Tschernobyl, …) in Europa am 10. Mai 1986.

Ermittlung der Strahlenexpositionen In der Folgezeit nahm die Strahlenexposition erwar-


tungsgemäß ständig ab. Wichtige Informationen über
Auf der Grundlage der Ergebnisse der Überwa- die durchschnittlichen Strahlenexpositionen lieferten
chungsmessungen ermittelte die Bewertungsgruppe auch die Ergebnisse der Überwachung der Gesamt­
die Strahlenexpositionen für die Bevölkerung. Für nahrung aus öffentlichen Einrichtungen, die bereits
den Zeitraum von Mai 1986 bis zum Sommer waren seit 1962 durchgeführt wurde. Die Ergebnisse bestätig-
folgende Expositionspfade für die Strahlenexposition ten die von der Bewertungsgruppe vorgenommenen
bestimmend: Expositionsabschätzungen.

„„ Äußere Strahlenexposition aus der Luft und aus Auch die systematisch durchgeführten Ganzkörper-
den Radioaktivitätsablagerungen. messungen für Personengruppen aus Gebieten, die für
„„ Inhalation (Einatmung) kontaminierter Luft. das Kontaminationsgeschehen typisch waren, bestätig-
„„ Verzehr kontaminierter Frischmilch. ten die auf der Grundlage der Überwachungsdaten er-
„„ Verzehr von kontaminiertem Blattgemüse. mittelten Strahlenexpositionen. Ganzkörpermessungen
„„ Verzehr von Fleisch und Fisch. wurden auch für eine Gruppe von Personen durch-
geführt, die sich während des Unfalls in Kiew und
Später waren die Belastungspfade Verzehr von Milch Umgebung aufgehalten hatten. Die Durchführung der
und Milchprodukten, Verzehr von Fleisch und Fisch, Überwachung, die Überwachungsergebnisse und die
aber auch von Pilzen für die Exposition bestimmend. Ergebnisse der Expositionsabschätzungen sind ausführ-
Abhängig von den Ernährungsgewohnheiten trugen lich in den Berichten SAAS 353 B bis E beschrieben.
die Belastungspfade in unterschiedlichem Maße zur
Strahlenbelastung der im Strahlenschutz allgemein
betrachteten Personengruppen bei. Ableitung von Richtwerten und Vorbereitung von
Schutzmaßnahmen
In der Tabelle Seite 42 oben sind die Ergebnisse der
Expositionsabschätzungen für den Zeitraum Mai 1986 Aus dem Geschehen ergab sich, dass Schutzmaßnah-
bis Dezember 1987 zusammengestellt worden. men für den Verzehr belasteter Lebensmittel erfor-
derlich werden konnten. Ausgehend von den Konta-

41
Zeitraum Belastungskomponente Individuelle Belastung

Mittelwert in mSv Bereich in mSv


Mai 1986 äußere Bestrahlung 0,03 0,02 ... 0,1
Inhalation 0,005 0,01 ... 0,02
Ingestion 0,075 0,04 ... 1,1
alle Komponenten 0,11
Juni bis Dezember 1986 äußere Bestrahlung 0,06 0,03 ... 0,18
Ingestion 0,06 0,03 ... 0,11
alle Komponenten 0,12
Januar bis Dezember 1987 äußere Bestrahlung 0,08 0,04 ... 0,28
Ingestion 0,05 0,02 ... 0,7
alle Komponenten 0,13

Übersicht über die durch den Reaktorunfall bedingte Strahlenbelastung (aus: Wissenschaft und Fortschrift, Heft 4/89, Akademie der Wis-
senschaften der DDR).

minations- und Expositionsszenarien wurden von der Lehren aus dem Ereignis
Bewertungsgruppe nach den Grundprinzipien des
Strahlenschutzes – Rechtfertigung und Optimierung Auch das SAAS wurde durch das Ereignis überrascht,
– Anfang Mai 1986 Richtwerte für die Kontamination jedoch war es in kurzer Zeit in der Lage, die Maßnah-
landwirtschaftlicher Produkte festgelegt. Im Zeitraum men für die Überwachung einzuleiten, eine fachlich
bis zum 31.05.1986 galten für die Kontamination von fundierte Bewertung der Situation vorzunehmen, Maß-
Frischmilch 500 Bq/l und für Blattgemüse 1.000 Bq/kg, nahmewerte abzuleiten und geeignete Gegenmaßnah-
jeweils für I-131. Ab 01.06.1986 galten für die Kontami- men vorzuschlagen. Die zentrale Organisationsstruktur
nation mit Cs-137, das für die Exposition bestimmend für die Strahlenschutzkontrolle in der DDR war dabei
war, 300 Bq/kg für alle Lebensmittel. gewiss von Vorteil. Nichtsdestoweniger wurden auch
Probleme deutlich, die in einem anders gearteten Fall
Obgleich diese Richtwerte bereits unter dem Gesicht- eine Lagebeurteilung erschwert hätten.
punkt der Optimierung abgeleitet worden waren,
wurde zusätzlich festgelegt, dass bei anhaltender Über- Ein Problem war die schnelle Bereitstellung von Daten
schreitung dieser Richtwerte vorsorglich Maßnahmen und Informationen, die zwar in diesem Fall noch ak-
zum Schutz der Bevölkerung erwogen werden sollten. zeptabel, für andere Ereignisse jedoch verbesserungs-
würdig war. Es wurde deshalb ein Überwachungssys-
Gemeinsam mit dem Ministerium für Land-, Forst- und tem entwickelt, dessen Zielstellung und technische
Nahrungsgüterwirtschaft wurden Maßnahmen vor- Konzeption mit dem heute existierenden IMIS-System
bereitet, um die Strahlenexpositionen, die durch den vergleichbar waren.
Verzehr kontaminierter Nahrungsmittel verursacht
werden könnten, zu begrenzen. Ein direkter Eingriff in Nachteilig war damals auch, dass eine internationale
die Lebens- und Ernährungsgewohnheiten sollte dabei Zusammenarbeit nur in Ansätzen vorhanden war.
vermieden werden. Die Anwendung dieser Maßnah- Die Beschaffung von Informationen über den Störfall
men war jedoch nur in Einzelfällen erforderlich (z. B. und seine Auswirkungen in den Nachbarländern, die
Konservierung von frischem Blattgemüse im Mai 1986, für eine schnelle Erstbewertung der Lage im Inland
das mit I-131 kontaminiert war, Auswahl von Futter hilfreich gewesen wären, war nur mit Mühe und
mit niedrigen Cs-134-/ Cs-137-Kontaminationen für die teilweise auf „halboffiziellem“ Wege möglich. Auch
Milchviehbestände in höher kontaminierten Gebieten diese Probleme sind gelöst. Heute gibt es eine gut or-
im Winter 1986/1987, gezielte Auswahl von Milch mit ganisierte internationale Kooperation, die vom Daten-
niedrigen Cs-134-/ Cs-137-Kontaminationen für die und Informationsaustausch bis hin zu gegenseitigen
Herstellung von Kindernahrungsprodukten). Hilfeleistungen reicht.

Für den Verzehr von Fischen aus Gewässern in den Eine Erfahrung aus den damals durchgeführten Über-
höher kontaminierten Gebieten sowie von Pilzen und wachungen ist auch die Tatsache, dass in kurzer Zeit
Wildfleisch aus eben diesen Gebieten waren in Anbe- eine Flut von Messdaten und anderen Informationen
tracht der geringen Verzehrmengen keine Maßnah- anfiel, deren Bewertung nicht nur die handelnden
men erforderlich. Personen, sondern auch die damals verfügbare Tech-

42
nik zur Datenverarbeitung teilweise überforderte. Erfolg dieser Maßnahmen bei. Voraussetzung dafür ist
Heute ist die Leistungsfähigkeit der verfügbaren Mess- die Akzeptanz der Maßnahmen, die nur durch eine
und Datenverarbeitungstechnik um ein Vielfaches sachgerechte Berichterstattung erreicht werden kann.
höher. Das sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Art Auf Grund der restriktiven Informationspolitik in der
und vor allem den Umfang der Daten und Informatio- DDR, die auch in diesem Fall nicht aufgegeben worden
nen, auf denen die Lagebeurteilung aufbaut, aus dem war, wurde das missachtet. Eine generelle Verunsiche-
Stand der Technik herzuleiten. Die Erfahrung aus der rung war die Folge. Hier und da führte der Mangel an
Überwachung, die auch heute noch gilt, lautet: Nicht Informationen verständlicherweise zu Überreaktionen.
so viele Daten wie möglich – sondern so viele Daten Aber auch Gleichgültigkeit, die teilweise zu beobach-
wie nötig. ten war, ist nachteilig.

Die Erfahrungen machen auch deutlich, dass in einem In einem solchen Fall muss eine schnelle, umfassen-
Ereignisfall der Erfolg der getroffenen Schutzmaßnah- de, sachliche und widerspruchsfreie Information der
men nicht nur von der Arbeit der Behörden abhängt, Öffentlichkeit erfolgen. Meinungsvielfalt bei Lageein-
die diese Maßnahmen umsetzen müssen. Auch der schätzungen und Empfehlungen ist in einem solchen
einzelne Bürger trägt durch sein Verhalten zum Fall nicht hilfreich.

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