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Gender & Medien-Reader

Herausgegeben von
Kathrin Peters und Andrea Seier

diaphanes

•••••••••••••••••••• 1
Die Herausga be dieses Bandes wurde ermöglicht durch Projektmittel Inhalt
für Genderforschung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig,
durch Mittel der Fakultät Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von
Ossietzky-Universität Oldenburg, der Universität der Künste Berlin und des Kathrin Peters und Andrea Seier
Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Gender & Medien
Einleitung 9

Feministische Filmtheorie
Andrea B. Braidt
Einleitung 23
Claire Johnston
Frauenfilm als Gegenfilm (1973) 31
Laura Mulvey
Visuelle Lust und narratives Kino (1975) 45
Heide Schlüpmann
Kinosucht (1982) 61
Kaja Silverman
Die weibliche Stimme ent-körpern (1984) 71
bell hooks
Der oppositionelle Blick
Schwarze Frauen als Zuschauerinnen (1992) 91

Repräsentationskritik
Maja Figge
Einleitung 109
Sander L. Gilman
Schwarze Körper, weiße Körper
Zur Ikonografie weiblicher Sexualität (1985) 119
Abigail Solomon-Godeau
460() Erotische Fotografie erneut betrachtet
Bemerkungen zu einem historischen Bergungsprojekt (1987/1991) 139
1. Auflage Douglas Crimp
ISBN 978-3-03734-447-7 Universitäts- Porträts von Menschen mit AIDS (1992) 159
<i:> diaphanes, Zürich-Berlin 2016 bibliothek Richard Dyer
www.diaphanes.net Das Licht der Welt
Alle Rechte vorbehalten
lnventarnr.
Weiße Menschen und das Film-Bild (1995) 177
Jack Halberstam
Satz und Layout: 2edit, Zürich 11111111111111111111111111111111 11111111111111111111111 Das Brandon-Teena-Archiv (2002) 195
Druck: Steinmeier, Deiningen *16008829*
Technowissenschaften Teresa de Lauretis
Karin Harrasser Die Technologie des Geschlechts (1987) 453
Einleitung 215 Annette Runte
Allucquere Rosanne Stone Zwischenstufen, Häufungskurven, Drehpunkt-
Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben? und Pfadwegmodelle
Grenzgeschichten über virtuelle Kulturen (1991) 225 Über moderne Topografien geschlechtlicher Devianz und
ihre >trans-sexuelle< Normalisierung (2001) 475
Donna Haraway
Fötus
Das virtuelle Spekulum in der Neuen Weltordnung (1997) 249 Agency
Wendy Hui Kyong Chun Andrea Seier
Über Software, oder: Einleitung 503
Die Beharrlichkeit visuellen Wissens (2004) 279
Karen Barad
Isabelle Stengers Real werden
Wir sind nicht allein auf der Welt (2006) 303 Technowissenschaftliche Praktiken und
die Materialisierung der Realität (2007) 515

Zeichen, Dinge, Räume Rosalind Gill


Postfeministische Medienkultur
Kathrin Peters Elemente einer Sensibilität (2007) 541
Einleitung 325
lasbir K. Puar
Marshall McLuhan Die Zeit der Prognose
Fließband der Liebes-Göttinnen / Tarzan / Entwurf einer Geopolitik des Affekts und
Pferdeoper und Seifenoper (1951) 337 des Un-/Vermögens (2009) 557
Christina von Braun Judith Butler
Das Geschlecht der Zeichen (1998) 353 Von der Performativität zur Prekarität (2013) 573
Lynn Spigel
Tragbares Fernsehen
Studien in häuslicher Raumfahrt (2001) 365
Paul B. Preciado Textnachweise 591
Die Playboy-Villa Bildnachweise 594
Die Erfindung des multimedialen Bordells (2010) 385

Wissensordnungen
Ulrike Bergennann
Einleitung 411
Luce Irigaray
Das Geschlecht, das nicht eins ist (1977) 423
Friedrich A. Kittler
Der Muttermund / Damenopfer (1985) 433
Claire Johnston

Utopismus müssen vermieden werden, wenn sich revolutionäre Strate- Laura Mulvey
gie entwickeln soll. Ein kollektiver Film kann nicht durch sich selbst die
Bedingungen seiner Herstellung wiedergeben. Was kollektive Methoden Visuelle Lust und narratives Kino 1
allerdings schaffen, ist, die wirkliche Möglichkeit zu untersuchen, wie
Film funktioniert und wie wir am besten den Mechanismus der Ideo-
logie hinterfragen und entmystifizieren können. Aus diesen Einsichten
wird sich eine wirklich revolutionäre Konzeption des Gegenfilms für den 1. Einleitung
Kampf der Frauen herleiten.
A. Ein politischer Einsatz der Psychoanalyse
Aus dem Englischen von Dieser Aufsatz 2 verfolgt die Absicht, mithilfe der Psychoanalyse heraus-
Silke Großmann und Gesine Strempel zufinden, wo und wie die Faszination des Films durch zuvor bestehende
Muster der Faszination verstärkt wird, die im einzelnen Subjekt und in
den sozialen Formationen, die jenes prägen, bereits am Werk sind. Den
Ausgangspunkt bildet die Frage, in welcher Art und Weise der Film
das einfache, gesellschaftlich etablierte Verständnis der Geschlechter-
differenz widerspiegelt, sichtbar und sich sogar zunutze macht, durch
das Bilder, erotische Sehweisen und Spektakel kontrolliert werden. Es
ist hilfreich nachzuvollziehen, was das Kino einmal gewesen ist, wie
seine Magie in der Vergangenheit funktioniert hat, um eine Theorie und

1 A.d.Ü.: Die deutsche Erstübersetzung von Karola Gramann ist 1980 erschie-
nen in: Gislind Nabakowski, Heike Sander und Peter Gorsen (Hg.): Frauen in der
Kunst, Bd. !, Frankfurt a.M., S. 30-46. In der Neuübersetzung wurden die Freud-
und Lacan-Passagen nach Konsultation der vorliegenden Übersetzungen der
Texte beider Autoren ins Englische sowie der Texte Lacans ins Deutsche begriff-
lich überarbeitet (als ein Beispiel sei der Terminus >Schaulust< als Übersetzung
für >scopophilia< angeführt, die Erstübersetzerin hatte den Begriff >Skopophilie<
gewählt) sowie der deutsche Text in Duktus und konkreten Formulierungen
näher an den Ausgangstext herangeführt (in der Erstübersetzung dominiert z.B.
das tendenziell eingemeindende kollektive Wir der 1970er-Jahr.e in Bezug auf die
weibliche Perspektive auch dort, wo der Ausgangstext dies 9us heutiger Sicht
nicht nahelegt; der zentrale Terminus >to-be-looked-at-ness, des Ausgangstextes
wurde mit >Zum-Anschauen-Sein< anstelle von >Angesehen-werden-Wollen< wie-
dergegeben) . In der Neuübersetzung wurden nur dort geschlechtersensible For-
mulierungen verwendet, wo der Ausgangstext dies zulässt. Großer Dank gilt
Karola Gramann sowie Heide Schlüpmann für die inspirierenden Diskussionen
im Zuge der Neuübersetzung.
2 Dieser Artikel ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich am Insti-
tut für Französisch der University of Wisconsin, Madison, im Frühjahr 1973
gehalten habe. Anm. d. Hg.: Laura Mulvey hat ihre Theorie angesichts neuer
Formen von Zuschauer_innenschaft im Zuge neuer Technologien in ihrem
Buch Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London 2006, modi-
fiziert. Die Einleitung zur Neuausgabe von Visual and Other Pleasures, London
2009, gibt Aufschluss über die Entstehung des Aufsatzes.

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Laura Mulv ey Vi su el le Lust und narratives Kin o

Praxis zu entwickeln, die dieses Kino der Vergangenheit in Frage stellt. wie wir gegen das Unbewusste kämpfen können, das wie eine Spra-
Psychoanalytische Theorie wird hier somit als politische Waffe verwen- che strukturiert ist (und sich ganz entscheidend im Moment des ersten
det, die aufzeigt, wie das Unbewusste der patriarchalen Gesellschaft die Auftretens von Sprache bildet), obwohl wir noch in der Sprache des
Filmform strukturiert. Patriarchats gefangen sind. Aus dem Ärmel lässt sich eine Alternative
Das Paradox des Phallozentrismus in all seinen Manifestationen be- nicht schütteln, wir können jedoch damit beginnen, einen Bruch her-
steht darin, dass er auf das Bild der kastrierten Frau angewiesen ist, zustellen, indem wir das Patriarchat mit den Mitteln untersuchen, die
um seiner Welt Ordnung und Sinn zu verleihen. Eine bestimmte Vor- es uns selbst zur Verfügung stellt, von denen die Psychoanalyse nicht
stellung von der Frau steht im Zentrum des Systems: Es ist ihr Mangel, das einzige, wohl aber ein wichtiges ist. Es trennt uns immer noch eine
der den Phallus als symbolische Präsenz hervorbringt, und es ist ihr große Kluft von wichtigen Fragen in Bezug auf das weibliche Unbe-
Wunsch, den Mangel auszugleichen, den der Phallus bezeichnet. Die wusste, die für die phallozentristische Theorie kaum von Belang sind:
in letzter Zeit in Screen erschienenen Aufsätze über Psychoanalyse und die Vergeschlechtlichung des weiblichen Kleinkindes und seine Bezie-
Kino haben die Bedeutung der Repräsentation der weiblichen Gestalt hung zum Symbolischen, die sexuell reife Frau- als Nicht-Mutter, die
in der symbolischen Ordnung nicht ausreichend gewürdigt, in der sie, Mutterschaft außerhalb der Signifikation des Phallus, die Vagina ... An
letzten Endes, Kastration zum Ausdruck bringt und nichts anderes. Um diesem Punkt jedoch kann die psychoanalytische Theorie zu ihrem jetzi-
es kurz zusammenzufassen: Die Frau hat in der Bildung des patriar- gen Stand wenigstens zu unserem Verständnis des Status qua beitragen,
chalen Unbewussten eine doppelte Funktion, erstens symbolisiert sie der patriarchalen Ordnung, in der wir gefangen sind.
die Kastrationsdrohung durch die reale Abwesenheit eines Penis, und
zweitens erhebt sie dadurch ihr Kind in das Symbolische. Ist dies einmal B. Die Zerstörung der Lust als radikale Waffe
erreicht, ist ihre Bedeutung in dem Prozess am Ende, sie reicht nicht Als avanciertes Repräsentationssystem wirft das Kino Fragen danach
bis in die Welt von Gesetz und Sprache hinein, außer als Erinnerung, auf, wie das Unbewusste (das von der herrschenden Ordnung geprägt
die zwischen der Erinnerung an die mütterliche Fülle und der Erinne- ist) Sehweisen und die Lust am Schauen strukturiert. Das Kino hat
rung an den Mangel oszilliert. Beide beruhen auf Natur (oder Anatomie, sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte verändert. Es ist nicht mehr das
nach Freuds berühmter Formulierung) . Das Begehren der Frau ist ihrem monolithische, auf großen Investitionen beruhende System, wie es das
Bild als Besitzerin der blutenden Wunde unterworfen, sie existiert nur Hollywood der 1930er, 1940er und 1950er in bester Form veranschau-
im Verhältnis zur Kastration und kann diese nicht transzendieren. Sie licht. Technische Entwicklungen (16mm etc.) haben die ökonomischen
macht ihr Kind zum Signifikanten ihres eigenen Wunsches, einen Penis Bedingungen der Filmproduktion verändert, die heute handwerklich
zu besitzen (die Bedingung, wie sie imaginiert, für den Eintritt in das ebenso wie kapitalistisch organisiert sein kann. So konnte sich ein alter-
Symbolische). Entweder muss sie dem Wort, dem Namen des Vaters natives Kino entwickeln. Wie selbstkritisch und ironisch Hollywood
und dem Gesetz würdevoll den Vorrang gewähren oder sich damit auch immer gewesen sein mag, es blieb auf eine formale mise-en-scene
abmühen, ihr Kind unten bei sich im Halbdunkel des Imaginären zu beschränkt, die das herrschende ideologische Konzept des Kinos wider-
halten. Die Frau fungiert in der patriarchalen Kultur als Signifikant des spiegelt. Das alternative Kino schafft Raum für ein werdendes Kino, das
männlichen Anderen, an eine symbolische Ordnung gebunden, in der sowohl in politischem als auch in ästhetischem Sinne radikal ist und
der Mann seine Phantasien und Obsessionen über die Beherrschung der den Mainstream-Film in seinen Grundannahmen in Frage stellt. Damit
Sprache ausleben kann, indem er sie dem schweigenden Bild der Frau soll Letzterer nicht moralistisch abgelehnt, sondern die Aufmerksamkeit
auferlegt, die weiterhin an ihren Platz als Trägerin, nicht Herstellerin darauf gelenkt werden, in welcher Art und Weise die formale Besessen-
von Sinn gefesselt ist. heit des Mainstream-Films die psychischen Obsessionen der Gesellschaft
Diese Untersuchung ist für Feminist_innen von offensichtlichem Inte- widerspiegelt, die ihn hervorbrachte. Des Weiteren soll betont werden,
resse, es liegt Schönheit darin, die in der phallozentristischen Ordnung dass das alternative Kino damit beginnen muss, gegen ebendiese Obses-
erfahrene Frustration genau zu bestimmen. Sie führt uns an die Wurzeln sionen und Annahmen Stellung zu beziehen. Ein in politischem und
unserer Unterdrückung heran, bringt uns einer Artikulation des Prob- ästhetischem Sinne avantgardistisches Kino ist jetzt möglich, es kann
lems näher und konfrontiert uns mit der ultimativen Herausforderung: einstweilen jedoch nur als Kontrapunkt bestehen.

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Laura Mu lvey Visu e ll e Lu s t und na rrati ves Ki no

Die Magie des Hollywoodstils in seiner besten Form (und des Kinos, nachträglich, in Bezug auf die Urszene). In dieser Analyse ist die Schau-
das unter seinem Einfluss stand) entsprang, nicht ausschließlich, aber in lust im Wesentlichen aktiv. (In Triebe und Triebschicksale entwickelte
einer wichtigen Hinsicht, der geschickten und befriedigenden Manipu- Freud später seine Theorie der Schaulust weiter, er verband sie zunächst
lation der visuellen Lust. Unbehelligt codierte der Mainstream-Film das mit prägenitalem Autoerotismus, nach dem die Lust am Schauen analog
Erotische in der Sprache der herrschenden patriarchalen Ordnung. Im auf andere übertragen wird. Es besteht hier ein enger Zusammenhang
hoch entwickelten Hollywoodkino war es dem entfremdeten Subjekt, in zwischen dem aktiven Trieb und seiner weiteren Entwicklung in nar-
seiner [his] imaginären Erinnerung durch ein Gefühl des Verlusts, durch zisstischer Form.) Auch wenn sich der Trieb durch andere Faktoren ver-
den Terror potenziellen Mangels in der Phantasie zerrissen, nur über ändert, insbesondere durch die Entwicklung des Ichs, bildet er weiterhin
diese Codes möglich, in die Nähe einer Ahnung von Befriedigung zu das erotische Fundament der Lust, eine andere Person als Objekt anzu-
gelangen: über seine formale Schönheit und sein Spiel mit den eigenen sehen. Im Extremfall kann sich diese zu einer Perversion verfestigen
nachhaltig prägenden Obsessionen. Dieser Artikel erörtert die Verwo- und zwanghafte Voyeure oder Spanner hervorbringen, die einzig durch
benheit jener erotischen Lust im Film, ihre Bedeutung und insbesondere Beobachten - in aktivem, kontrollierendem Sinne ,... ein_er objektivierten
die zentrale Stellung des Bildes der Frau. Es heißt, dass die Analyse Anderen sexuelle Befriedigung erlangen können.
von Lust - oder Schönheit - diese zerstört. Das ist die Absicht dieses Auf den ersten Blick scheint das Kino weit entfernt von der gehei-
Artikels. Die Befriedigung und Befestigung des Ichs, die als Krönung men Welt verstohlener Beobachtung eines ahnungslosen und unfreiwil-
der bisherigen Filmgeschichte angesehen werden, müssen angegriffen ligen Opfers. Was auf der Leinwand zu sehen ist, wird so offensichtlich
werden. Nicht zugunsten einer umstrukturierten neuen Lust, die es an gezeigt. Die Masse der Mainstream-Filme jedoch und die Konventionen,
und für sich nicht geben kann, oder einer intellektualisierten Unlust, innerhalb derer sie bewusst entwickelt wurden, zeigen eine hermetisch
sondern um einer totalen Negation der Behaglichkeit und Fülle des nar- abgeschlossene Welt, die sich wie durch Zauberhand entrollt, gleich-
rativen Spielfilms den Weg zu bahnen. Die Alternative ist die Spannung, gültig gegenüber der Anwesenheit des Publikums, was für dieses ein
die entsteht, wenn wir die Vergangenheit hinter uns lassen, ohne sie Gefühl der Trennung produziert und seiner voyeuristischen Phantasie
abzulehnen, abgenutzte oder repressive Formen überwinden oder es in die Hände spielt. Der extreme Kontrast zwischen der Dunkelheit im
wagen, mit den gewohnten angenehmen Erwartungen zu brechen, um Zuschauer_innenraum (die auch die Zuschauer_innen voneinander
eine neue Sprache des Begehrens zu entwerfen. trennt) und der Brillanz der wechselnden Muster von Licht und Schat-
ten auf der Leinwand trägt darüber hinaus dazu bei, die Illusion einer
voyeuristischen Trennung zu befördern. Obwohl der Film tatsächlich
2. Die Lust am Schauen/Faszination für die menschliche Gestalt gezeigt wird, da ist, um gesehen zu werden, vermitteln die Bedingungen
der Vorführung und die Erzählkonventionen d_er Zuschauer_in die Illu-
A. Das Kino bietet eine ganze Reihe möglicher Vergnügungen . Eine ist die sion, Einblick in eine private Welt zu nehmen. Neben anderen Aspekten
Schaulust. Es gibt Situationen, in denen das Schauen selbst eine Quelle ist die Position der Zuschauer_innen im Kino ganz offe,nsichtlich durch
der Lust darstellt, ebenso wie es, in umgekehrter Anordnung, eine Lust die Verdrängung ihres Exhibitionismus und die Projektion des verdräng-
daran gibt, angeschaut zu werden. Ursprünglich isolierte Freud in seinen ten Wunsches auf die Darsteller_innen bestimmt.
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Schaulust als einen der Partial-
triebe der Sexualität, die als Bestrebungen ganz unabhängig von den B. Das Kino befriedigt den ursprünglichen Wunsch hach lustvollem
erogenen Zonen existieren. Zu diesem Zeitpunkt brachte er die Schau- Schauen, es geht jedoch darüber hinaus und entwickelt die Schaulust in
lust damit in Verbindung, andere Personen zu Objekten zu machen, narzisstischer Hinsicht weiter. Die Konventionen des Mainstream-Films
sie einem kontrollierenden und neugierigen Blick zu unterwerfen. Seine sind auf die menschliche Gestalt ausgerichtet. Größenverhältnis, Raum
jeweiligen Beispiele kreisen um die voyeuristischen Aktivitäten von Kin- und Geschichten sind zur Gänze anthropomorph. Hier vermischen sich
dern, ihren Wunsch, das Private und Verbotene zu sehen und sich seiner Neugierde und der Wunsch zu schauen mit einer Faszination für Ähn-
zu vergewissern (Neugierde in Bezug auf die Genital- und Körperfunk- lichkeit und Wiedererkennen: das menschliche Gesicht, der menschli-
tionen, das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein des Penis und, che Körper, die Beziehung zwischen der menschlichen Gestalt und ihrer

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Lau ra Mulv ey Vi s uell e Lu s t un d narr atives Kino

Umgebung, die sichtbare Präsenz der Person in der Welt. Jacques Lacan zu benutzen. Der zweite, der sich durch Narzissmus und Ich-Bildung
hat beschrieben, wie entscheidend der Moment für die Ich-Bildung ist, entwickelt, entsteht aus der Identifikation mit dem Bild, das gesehen
in dem ein Kind sein eigenes Bild im Spiegel erkennt. Mehrere Aspekte wird. In Bezug auf den Film unterstellt der eine folglich eine Trennung
dieser Analyse sind hier von Bedeutung. Die Spiegelphase tritt zu einer der erotischen Identität des Subjekts von dem Objekt auf der Leinwand
Zeit ein, in der die physischen Ambitionen des Kindes seine motorischen (aktive Schaulust), der andere verlangt die Identifikation des Ichs mit
Fähigkeiten übersteigen, mit dem Ergebnis, dass sich selbst wiederzu- dem Objekt auf der Leinwand über die Faszination des Zuschauers
erkennen ihm Freude bereitet, weil es [he] sein Spiegelbild als vollstän- für und das Erkennen von seinesgleichen. Ersterer ist eine Funktion
diger, vollkommener imaginiert, als es seinen eigenen Körper erlebt. Das der Sexualtriebe, Zweiterer eine der Ich-Libido. Diese Dichotomie war
Erkennen ist somit von Ver-Kennen überlagert. Das erkannte Bild wird für Freud entscheidend. Obwohl er sah, dass sich beide wechselseitig
als der gespiegelte Körper des Selbst verstanden, ihn jedoch als über- beeinflussen und überlagern, bleibt die Spannung zwischen triebhaf-
legen zu verkennen, projiziert diesen Körper außerhalb seiner selbst ten Bestrebungen und Selbsterhaltung eine dramatische Polarisierung
als ein ideales Ich, das entfremdete Subjekt, das, wieder introjiziert, in Bezug auf die Lust. Beide sind als nachhaltig prägende Strukturen zu
als Ich-Ideal die künftige Identifikation mit anderen ermöglicht. Dieses sehen, als Mechanismen, nicht als Sinngehalt. An sich haben sie keine
Spiegelmoment geht der Sprache des Kindes voraus. Bedeutung, sie müssen mit einer Idealisierung verbunden sein. Beide
In Hinblick auf diesen Artikel ist es wichtig, dass es ein Bild ist, das verfolgen ihre Ziele gleichgültig gegenüber der Wahrnehmungsrealität,
die Matrix des Imaginären konstituiert, von Erkennen/Verkennen und sie erzeugen die verbildlichte, erotisierte Vorstellung der Welt, welche
Identifikation und somit der ersten Artikulation eines >Ich<, von Sub- die Wahrnehmung des Subjektes formt und empirische Objektivität zur
jektivität. Dies ist ein Moment, in dem eine ältere Faszination für das Farce werden lässt.
Schauen (in das Gesicht der Mutter - als ein naheliegendes Beispiel) und Das Kino scheint im Lauf seiner Geschichte eine bestimmte Illusion
erste Ahnungen von Selbst-Bewusstsein aufeinanderprallen . Es handelt von Realität ausgebildet zu haben, in der dieser Gegensatz von Libido
sich somit um die Begründung eines langwierigen Liebes-Verhältnisses/ und Ich seine Entsprechung in einer wunderbar komplementären Phan-
-Kummers zwischen Bild und Selbstbild, die im Film solche Intensität tasiewelt gefunden hat. In der Realität ist die Phantasiewelt der Lein-
des Ausdrucks und vom Kinopublikum solch freudiges Wiedererkennen wand dem Gesetz unterworfen, das sie hervorbringt. Sexualtriebe und
erfährt. Ganz abgesehen von den äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen Identifikationsprozesse haben in der symbolischen Ordnung die Bedeu-
Leinwand und Spiegel (die Einrahmung der menschlichen Gestalt in tung, Begehren zu artikulieren. Das Begehren, das zusammen mit der
ihrer Umgebung zum Beispiel), verfügt das Kino über Strukturen der Sprache entsteht, schafft die Möglichkeit, das Triebhafte und das Imagi-
Faszination, die stark genug sind, einen vorübergehenden Ich-Verlust näre zu transzendieren, sein Bezugspunkt lässt es jedoch immer wieder
zuzulassen, während sie zugleich das Ich befestigen. Das Gefühl, die zu dem traumatischen Augenblick seiner Geburt zurückkehren: dem
Welt, wie sie das Ich später wahrzunehmen gelernt hat, zu vergessen Kastrationskomplex. Deshalb kann der Blick, seiner Form nach lustvoll,
(ich vergaß, wer ich bin und wo ich war), ist eine nostalgische Reminis- dem Inhalt nach bedrohlich sein, und in der Frau als .Repräsentation/
zenz an jenen vor-subjektiven Moment, in dem das Bild erkannt wurde. Bild kristallisiert sich dieses Paradox.
Zugleich hat sich das Kino mit der Produktion von Ich-Idealen, insbe-
sondere mit dem Starsystem, einen Namen gemacht, in dem die Stars
Leinwandpräsenz und Filmhandlung auf sich versammeln, während 3. Die Frau als Bild, der Mann als Besitzer des Blicks
sie einen komplexen Prozess von Ähnlichkeit und Differenz ausagieren
(d_ie Glamourös_e verkörpert d_ie Gewöhnlich_e). A. In einer Welt, die von Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern
regiert wird, ist die Lust am Schauen in aktiv /männlich und passiv/
C. Die Abschnitte 2.A und B haben zwei gegensätzliche Aspekte der weiblich gespalten. Der bestimmende männliche Blick projiziert seine
lustvollen Strukturen des Schauens in der konventionellen Kinosi- Phantasie auf die weibliche Figur, die entsprechend entworfen ist. In
tuation dargestellt. Der erste, die Schaulust, entspringt der Lust, eine ihrer traditionellen exhibitionistischen Rolle werden Frauen zugleich
andere Person über den Gesichtssinn als Objekt sexueller Stimulation angeschaut und zur Schau gestellt, ihre Erscheinung ist auf eine starke

so 51

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Laura Mulvey Visuelle Lust und narratives Kino

visuelle und erotische Ausstrahlung hin codiert, wir könnten sagen, sie in einer anderen Form in die Narration. Ein Teil eines fragmentierten
bedeuten Zum-Anschauen-Sein. Körpers zerstört den Renaissance-Raum, die Illusion von Tiefe, welche
Die als Sexualobjekt zur Schau gestellte Frau ist das Leitmotiv [A.d. Ü.: die Narration verlangt. Er verleiht der Leinwand keine Glaubwürdigkeit,
im Original deutsch] des erotischen Spektakels: Von Pin-ups bis Strip- sondern Flachheit, die Qualität eines Ausschnitts oder eines Bildes.
tease, von Ziegfeld bis Busby Berkeley bannt sie den Blick, spielt für und
bezeichnet das männliche Begehren. Der Mainstream-Film hat Spektakel B. Die heterosexuelle Arbeitsteilung in aktiv /passiv hat eine ähnlich
und Narration geschickt miteinander verbunden. (Beachten Sie jedoch, kontrollierte narrative Struktur. Nach den Prinzipien der herrschenden
wie die Tanz- und Gesangseinlagen im Musical den Fluss der Diegese Ideologie und den psychischen Strukturen, die ihr Rückhalt bieten, ist
unterbrechen.) Die Präsenz der Frau ist ein unverzichtbares Element die männliche Figur nicht in der Lage, die Last sexueller Objektivierung
des Spektakels im gängigen Spielfilm, doch ihre visuelle Präsenz steht zu tragen. Mann blickt sein exhibitionistisches Ebenbild nur ungern an.
der Entwicklung der Erzählhandlung tendenziell entgegen, bringt den Dementsprechend unterstützt die Spaltung zwischen Spektakel und Nar-
Fluss der Handlung in den Momenten erotischer Kontemplation zum ration die Rolle des Mannes als aktiven Part, der. die Geschichte voran-
Stillstand. Diese fremde Präsenz muss dann wieder in den Erzählzusam- treibt, etwas bewegt. Der Mann kontrolliert die Filmphantasie und tritt
menhang integriert werden. Wie es Budd Boetticher formuliert hat: zudem als Repräsentant der Macht in einem weiteren Sinne auf: als
Besitzer des Blicks des Zuschauers, den er hinter der Leinwand über-
»Worauf es ankommt, ist das, was die Heldin auslöst, oder eher, wofür trägt, um die extradiegetischen Tendenzen zu neutralisieren, welche
sie steht. Sie ist es - oder vielmehr die Liebe oder Angst, die sie dem die Frau als Spektakel darstellt. Dies wird durch Prozesse möglich, die
Helden einflößt, oder auch das Interesse, das er an ihr hat - die ihn so in Gang kommen, wenn der Film um eine kontrollierende Hauptfigur
handeln lässt, wie er es tut. An sich hat die Frau nicht die geringste herum organisiert ist, mit der sich der Zuschauer identifizieren kann.
Bedeutung.« Wenn der Zuschauer sich mit dem zentralen männlichen Protagonisten
identifiziert, 3 projiziert er seinen Blick auf den seinesgleichen, seinen
(Neuerdings gibt es eine Tendenz im Spielfilm, sich dieses Problems Stellvertreter auf der Leinwand, so dass die Macht der männlichen Figur,
ganz zu entledigen; mithin auch die Entwicklung dessen, was Molly die das Geschehen kontrolliert, mit der aktiven Macht des erotischen
Haskell als >Kumpel-Film< bezeichnet hat, in dem die aktive homose- Blicks zusammenfällt, beide vermitteln ein befriedigendes Gefühl der
xuelle Erotik der männlichen Hauptfiguren die Geschichte ungestört Omnipotenz. Der Glamour männlicher Filmstars besteht somit nicht in
weitertragen kann.) Traditionell hat die zur Schau gestellte Frau auf ihren Eigenschaften als erotisches Objekt des Blicks, sondern in jenen
zwei Ebenen eine Funktion: als erotisches Objekt für die Charaktere der eines vollkommeneren, vollständigeren, mächtigeren idealen Ichs, wie
Filmhandlung und als erotisches Objekt für den Zuschauer im Publi- sie im ursprünglichen Moment des Wiedererkennens vor dem Spiegel
kum, wobei die Spannung zwischen den Blicken auf beiden Seiten der verstanden wurden. Dem Charakter in der Geschichte gelingt es besser,
Leinwand wechselt. Die Figur des Showgirls zum Beispiel ermöglicht etwas zu bewegen und die Ereignisse zu kontrollier~h, als dem Sub-
es, die beiden Blicke praktisch ohne sichtlichen Bruch in der Diegese zu jekt/Zuschauer, genauso wie das Bild im Spiegel mehr Kontrolle über
vereinigen. Hat eine Frau in der Narration einen Bühnenauftritt, werden seine motorische Koordination hatte. Im Gegensatz zur Frau als Ikone
auch hier der Blick des Zuschauers und der des männlichen Charakters verlangt die männliche Figur (das Ich-Ideal des Identifikationsprozes-
im Film geschickt miteinander verbunden, ohne dass in der Plausibi- ses) einen dreidimensionalen Raum, welcher dem des Wiedererkennens
liät der Narration ein Bruch entsteht. Für einen Moment versetzt die im Spiegel entspricht, in dem das entfremdete Subjekt seine eigene
sexuelle Ausstrahlung der Frau auf der Bühne den Film in ein Niemands-
land jenseits seiner Zeit und seines Raumes, wie Marilyn Monroes ers-
ter Auftritt in FLUSS OHNE WIEDERKEHR (RIVER OF NO RETURN, USA 1954) und 3 Es gibt selbstverständlich auch Filme mit einer Frau als Hauptfigur. Eine
Analyse dieses Phänomens würde hier zu weit führen. Pam Cooks und Claire
Lauren Bacalls Lieder in HABEN UND NICHTHABEN (TO HAVE AND HAVE NOT, USA Johnstons Studie über THE REVOLT OF MAMIE STOVER in Phil Hardy (Hg.): Raoul
1944). In ähnlicher Weise integrieren konventionelle Großaufnahmen Walsh, Edinburgh 1974, zeigt an einem bemerkenswerten Beispiel, dass die
von Beinen (Dietrich zum Beispiel) oder einem Gesicht (Garbo) Erotik Stärke dieser weiblichen Hauptfigur mehr Schein als Sein ist.

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Laura Mulvey Visuelle Lust und na rrativ es Kino

Repräsentation dieser imaginären Existenz internalisierte. Er ist eine Auswege aus der Kastrationsangst: die ständige Beschäftigung mit der
Figur in einer Landschaft. Der Film hat hier die Funktion, die sogenann- Wiederholung des ursprünglichen Traumas (die Frau untersuchen, ihr
ten natürlichen Bedingungen menschlicher Wahrnehmung möglichst Geheimnis lüften), zu dem mit Abwertung, Bestrafung oder Rettung des
genau zu reproduzieren. Kameratechnik (wie insbesondere die Tiefen- schuldigen Objekts ein Gegengewicht geschaffen wird (ein Weg, für den
schärfe veranschaulicht) und Kamerabewegungen (bestimmt durch die das Vorgehen des Film Noir ein typisches Beispiel ist); oder die voll-
Handlung des Protagonisten) in Verbindung mit unsichtbarem Schnitt ständige Verleugnung der Kastration über den Ersatz durch ein Fetisch-
(den der Realismus verlangt) lassen die Grenzen des Leinwandraumes objekt oder die Verwandlung der repräsentierten Figur selbst in einen
tendenziell verschwimmen. Der männliche Protagonist hat die Bühne Fetisch, so dass sie Beruhigung statt Gefahr vermittelt (Überbewertung,
zur freien Verfügung, eine Bühne räumlicher Illusion, auf der er den weiblicher Starkult). Dieser zweite Ausweg, die fetischistische Schau-
Blick artikuliert und die Handlung erzeugt. lust, bauscht die physische Schönheit des Objektes auf, verwandelt
sie in etwas an sich Befriedigendes. Der erste Weg, der Voyeurismus,
C. l In den Abschnitten 3 .A und B wurde die Spannung zwischen einer dagegen steht mit dem Sadismus in Verbindung: Die Lust liegt in der
Form der Repräsentation der Frau im Film und den Konventionen dar- Feststellung von Schuld (die unmittelbar mit der Kastration verbunden
gelegt, welche die Diegese umgeben. Beide stehen mit einem Blick in Ver- ist), dem Ausüben von Kontrolle und der Unterwerfung der schuldigen
bindung: dem des Zuschauers in direktem Schaukontakt mit der weibli- Person durch Bestrafung oder Vergebung. Diese sadistische Seite eignet
chen Gestalt, die zu seinem Vergnügen (gleichbedeutend mit männlicher sich gut für die Narration. Der Sadismus braucht eine Geschichte, er
Phantasie) zur Schau gestellt ist, und dem des Zuschauers, der von sei- ist darauf angewiesen, etwas zu bewegen, eine Veränderung in einer
nem Ebenbild fasziniert ist, das in der Illusion eines natürlichen Raumes anderen Person zu erzwingen, ein Kampf des Willens und der Stärke,
steht und mit dessen Hilfe er die Frau in der Diegese unter Kontrolle und Sieg/Niederlage, sie ereignen sich zur Gänze in einer linearen Zeit mit
in seinen Besitz bringt. (Diese Spannung und der Wechsel von einem einem Anfang und einem Ende. Auf der anderen Seite kann es fetischis-
Pol zum anderen können einen ganzen Text organisieren. So beginnen tische Schaulust auch außerhalb der linearen Zeit geben, da der eroti-
sowohl s.o.s. FEUER AN BORD (ONLY ANGELS HAVE WINGS, USA 1939) als auch sche Trieb ausschließlich auf den Blick gerichtet ist. Diese Widersprüche
HABEN UND NICHTHABEN mit der Frau als Objekt des kombinierten Blicks der und Doppeldeutigkeiten lassen sich an den Arbeiten von Hitchcock und
Zuschauer und aller männlicher Protagonisten im Film. Sie ist isoliert, Sternberg besser veranschaulichen, die beide den Blick nachgerade zum
glamourös, zur Schau gestellt, sexualisiert. Doch im Verlauf der Erzäh- Inhalt oder Gegenstand vieler ihrer Filme machen. Hitchcock arbeitet
lung verliebt sie sich in die männliche Hauptfigur und wird sein Eigen- komplexer, da er beide Mechanismen einsetzt. Sternbergs Arbeit liefert
tum. Sie verliert ihren ausgestellten Glamour, ihre verabsolutierte Sexua- wiederum zahlreiche echte Beispiele fetischistischer Schaulust.
lität, ihre Showgirl-Konnotationen. Ihre Erotik ist ganz dem männlichen
Star unterworfen. Durch die Identifikation mit ihm, durch die Teilhabe an C.2 Bekanntlich sagte Sternberg einmal, es wäre ihm durchaus recht,
seiner Macht kann auch der Zuschauer sie indirekt besitzen.) wenn seine Filme verkehrt herum projiziert würden, d§lmit die Beschäf-
Psychoanalytisch gesprochen stellt die weibliche Figur jedoch ein tie- tigung d_er Zuschauer_in mit Geschichte und Charakteren die unver-
fer gehendes Problem dar. Auch hier bedeutet sie etwas, das der Blick fälschte Würdigung des Leinwandbildes nicht stören würde. Diese
fortwährend umkreist, aber verleugnet: Penismangel, der Kastrations- Bemerkung ist aufschlussreich und unverblümt zugleich. Unverblümt
drohung und somit Unlust impliziert. Letztlich besteht die Bedeutung deshalb, weil seine Filme tatsächlich fordern, dass die Figur der Frau
der Frau in der Geschlechterdifferenz, der visuell feststellbaren Abwe- (Dietrich in dem Zyklus der Filme, die er mit ihr gemacht hat, als das
senheit des Penis, der materiellen Evidenz, auf welcher der Kastrations- beste Beispiel) identifizierbar sein soll. Aufschlussreich dagegen, weil
komplex beruht, der wiederum wesentlich ist für den Eintritt in die die Bemerkung betont, dass der bildliche Raum, umschlossen vom Bild-
symbolische Ordnung und das Gesetz des Vaters . So droht die Frau als rahmen, Vorrang hat gegenüber der Narration oder Prozessen der Identi-
Ikone, zur Schau gestellt für den Blick und das Vergnügen von Männern, fikation . Während Hitchcock auf die untersuchende Seite des Voyeuris-
die den Blick aktiv kontrollieren, stets die Angst wachzurufen, die sie mus setzt, produziert Sternberg den Fetisch schlechthin, er geht so weit,
ursprünglich bezeichnete. Das männliche Unbewusste verfügt über zwei den machtvollen Blick des männlichen Protagonisten (charakteristisch

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Lau ra Mulvey Visuelle Lust un d na rrativ es Kino

für den traditionellen Spielfilm) zugunsten des Bildes in direkter ero- weise mit ideologischer Korrektheit und der Anerkennung bestehender
tischer Übereinstimmung mit dem Zuschauer zu brechen. Die Schön- Moralvorstellungen verbunden ist, und bringt seine pervertierte Seite
heit der Frau als Objekt und der Leinwandraum verschmelzen. Sie trägt zum Vorschein. Hitchcock hat aus seinem Interesse am Voyeurismus nie
keine Schuld mehr, sondern ist perfektes Produkt, ihr stilisierter und einen Hehl gemacht, weder im Film noch im Leben. Seine Helden stehen
durch Großaufnahmen fragmentierter Körper ist zum Inhalt des Films exemplarisch für die symbolische Ordnung und das Gesetz - ein Polizist
und direkten Adressaten des Zuschauerblicks geworden. Sternberg (vERTico), ein Platzhirsch, der über Geld und Macht verfügt (MARNrE) -,
spielt die Illusion einer Tiefe der Leinwand herunter. Seine Leinwand ist ihre erotischen Bestrebungen bringen sie jedoch in heikle Situationen. Die
tendenziell eindimensional, da Licht und Schatten, Spitzenstoff, Dampf, Macht, eine andere Person sadistisch seinem Willen oder voyeuristisch
Tüll, Luftschlangen etc. das Blickfeld einschränken. Der Blick ist kaum seinem Blick zu unterwerfen, ist in beiden Fällen gegen die Frau als Objekt
oder gar nicht über die Augen der männlichen Hauptfigur vermittelt. Im gerichtet. Das Recht und die feststehende Schuld der Frau verleihen der
Gegenteil, schattenhafte Wesen wie La Bessiere in MAROKKO (MoRocco, Macht Sicherheit (sie erinnert an die Kastration, um es psychoanalytisch
USA 1930) fungieren als Stellvertreter des Regisseurs, losgelöst von zu fassen). Echte Perversion lässt sich kaum hinter der dummen Maske
jedweder Identifikation seitens des Publikums. Auch wenn Sternberg ideologischer Korrektheit verbergen - der Mann steht auf der richtigen
darauf beharrte, dass seine Geschichten unerheblich sind, ist es bezeich- Seite des Gesetzes, die Frau auf der falschen. Hitchcocks geschickter Ein-
nend, dass es in ihnen um die Situation, nicht um Spannung geht und satz von Identifikationsprozessen und seine großzügige Verwendung sub-
um zyklische, nicht um lineare Zeit, während sich Verwicklungen in jektiver Kamera aus der Perspektive der männlichen Figur verstricken die
der Handlung um Missverständnisse drehen, nicht um Konflikte. Am Zuschauer in seine Position und bringen sie dazu, seinen unbehaglichen
wichtigsten jedoch ist, dass der kontrollierende männliche Blick in der Blick zu teilen. Das Publikum wird in eine voyeuristische Situation in
Filmszene fehlt. Im typischsten der Dietrich-Filme findet der Höhepunkt Filmszene und Diegese hineingezogen, wobei sich jene im Kino selbst
des emotionalen Dramas, die größten Momente ihrer erotischen Bedeu- parodiert. In seiner Analyse von DAS FENSTER zuM HOF versteht Douchet den
tung, in Abwesenheit des Mannes statt, den sie in der Geschichte des Film als Metapher des Kinos. Jefferies ist das Publikum, die Ereignisse
Films liebt. Es gibt andere Zeug__innen, andere Zuschauer_innen, die sie in dem Wohnhaus gegenüber entsprechen der Leinwand. Während er
auf der Leinwand beobachten, ihr Blick ist eins mit dem des Publikums, beobachtet, wird sein Blick um eine erotische Dimension erweitert, ein
statt ihn zu ersetzen. Am Ende von MAROKKO ist Tom Brown bereits in für das Drama zentrales Bild. Seine Freundin Lisa war für ihn von gerin-
die Wüste verschwunden, wenn Amy Jolly ihre goldenen Sandaletten gem sexuellem Interesse, mehr oder weniger eine Last, solange sie auf
wegschleudert und ihm nachgeht. Am Ende von ENTEHRT (DISHONOURED, der Zuschauer_innenseite blieb. Erst als sie die Grenze zwischen seinem
USA 1931) ist Kranau das Schicksal von Marie gleichgültig. In beiden Zimmer und dem Haus gegenüber durchbricht, lebt ihre Beziehung ero-
Fällen ist erotische Ausstrahlung, durch den Tod geheiligt, als Spektakel tisch wieder auf. Er beobachtet sie nicht nur durch sein Objektiv, als ein
für das Publikum zur Schau gestellt. Der männliche Held missversteht, fernes bedeutungsvolles Bild, sondern sieht sie nun auch als schuldige
und, noch wichtiger, er sieht nicht. Einbrecherin, die von einem gefährlichen Mann entlarvt ,:Vird, der ihr eine
Bei Hitchcock dagegen sieht der männliche Held genau das, was das Strafe androht und sie schließlich rettet. Lisas Exhibitionismus ist bereits
Publikum sieht. Die Filme, die ich hier diskutiere, haben jedoch seine Fas- über ihr obsessives Interesse an Kleidern und Mode eingeführt, sie ist
zination für ein Bild zum Gegenstand, die über die Schauerotik hergestellt ein passives Bild visueller Perfektion. Jefferies' Voyeurismus und Aktivi-
wird. Darüber hinaus verkörpert der Held in diesen Fällen die Widersprü- tät sind über seine Arbeit als Fotojournalist, als Geschichtenmacher und
che und Spannungen, welche der Zuschauer erlebt. Insbesondere in VER- Bilderjäger ebenfalls eingeführt. Seine erzwungene Inaktivität jedoch, die
TIGo - AUS DEM REICH DER TOTEN (vERTIGO, USA 1958), aber auch in MARNIE (USA ihn an seinen Platz als Zuschauer fesselt, versetzt ihn in die Phantasie-
1964) und DAS FENSTER ZUM HOF (REAR WINDOW, USA 1954) ist der Blick für die Position des Kinopublikums.
Handlung zentral, er oszilliert zwischen Voyeurismus und fetischistischer In VERTIGO überwiegt die subjektive Kamera. Abgesehen von einer
Faszination. Als unerwartete Wendung, eine weitere Manipulation des Rückblende aus Judys Sicht rankt sich die Narration um das, was Scottie
gängigen Wahrnehmungsprozesses, die diesen in gewisser Weise sicht- sieht oder nicht sieht. Das Publikum verfolgt seine zunehmende eroti-
bar macht, setzt Hitchcock den Identifikationsprozess ein, der normaler- sche Obsession und anschließende Verzweiflung aus seiner Perspektive.

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Laura Mulv ey Visuelle Lu s t und narra tives Kino

Scotties Voyeurismus ist offenkundig: Er verliebt sich in eine Frau, der 4. Zusammenfassung
er folgt und nachspioniert, ohne sie anzusprechen. Auch die sadistische
Seite seines Voyeurismus schreit zum Himmel: Er hat sich entschie- Die psychoanalytischen Grundlagen, die in diesem Artikel diskutiert
den (und aus freien Stücken entschieden, er war vorher erfolgreicher wurden, sind in Bezug auf jene Lust und Unlust von Wichtigkeit, die der
Anwalt), Polizist zu werden, inklusive aller sich ihm eröffnenden Mög- traditionelle Spielfilm bereithält. Der Schautrieb (die Lust, eine andere
lichkeiten der Verfolgung und Untersuchung. Also verfolgt und beob- Person als erotisches Objekt anzusehen) und ihr Gegensatz, die Ichlibido
achtet er und verliebt sich in das perfekte Bild weiblicher Schönheit und (die Identifikationsprozesse formt) sind Strukturen, Mechanismen, die
weiblichen Geheimnisses. Als er ihr tatsächlich begegnet, drängt ihn sein sich dieses Kino zunutze macht. Das Bild der Frau als (passives) Roh-
erotisches Bestreben dazu, sie auseinanderzunehmen und in beharrli- material für den (aktiven) Blick des Mannes trägt die Argumentation
chem Kreuzverhör zu einem Geständnis zu zwingen. Im zweiten Teil ein Stück weiter in die Struktur der Repräsentation hinein, indem es
des Films dann wiederholt er seine obsessive Beziehung zu dem Bild, eine weitere Schicht hinzufügt, der die Ideologie der patriarchalen Ord-
das er heimlich zu betrachten liebte. Er verwandelt Judy in Madeleine nung bedarf. Sie ist in ihrer bevorzugten Kinoform ausgearbeitet - dem
und zwingt sie, sich bis ins kleinste Detail der physischen Erscheinung illusionistischen Spielfilm. Das Argument kehrt wieder zu den psycho-
seines Fetischs anzugleichen. Ihr Exhibitionismus, ihr Masochismus analytischen Grundlagen zurück, da die Frau als Repräsentation Kastra-
machen sie zu einem idealen passiven Gegenstück zu Scotties aktivem tion bezeichnet, die voyeuristische oder fetischistische Mechanismen zur
sadistischem Voyeurismus. Sie weiß, dass sie spielen muss und dass Umgehung ihrer Drohung auslöst. Keine dieser einander wechselseitig
einzig ihre Rolle bis zum Ende zu spielen und sie dann zu wiederholen beeinflussenden Schichten ist dem Film immanent, doch nur in der Film-
Scotties erotisches Interesse wach halten kann. In der Wiederholung form geraten sie aufgrund der Möglichkeit, im Kino die Betonung des
jedoch nimmt er sie auseinander und kann sie als Schuldige entlarven. Blicks zu verschieben, in vollkommenen und schönsten Widerspruch.
Seine Neugierde gewinnt die Oberhand, und sie wird bestraft. In VERTIGO Die Stellung des Blicks bestimmt das Kino, die Möglichkeit, ihn zu variie-
hat die erotische Beziehung zum Blick Orientierungslosigkeit zur Folge: ren und sichtbar zu machen. Das ist es, was das Kino in seinem voyeuris-
Die Faszination des Zuschauers richtet sich gegen ihn, während ihn die tischen Potenzial von, sagen wir, Striptease, Theater, Live-Unterhaltung
Narration durch die Prozesse trägt und in sie verwickelt, die er selbst usw. unterscheidet. Das Kino geht weit über die Betonung des Zum-An-
durchläuft. In narrativer Hinsicht ist der Hitchcock-Held hier fest in der schauen-Seins einer Frau hinaus und baut die Art und Weise, wie sie
symbolischen Ordnung verankert. Er verfügt über alle Attribute des anzuschauen ist, in das Spektakel mit ein. Filmische Codes machen sich
patriarchalen Über-Ichs. Der Zuschauer, der sich durch die scheinbare die Spannung zwischen dem Kino als Kontrolle über die Dimension der
Rechtmäßigkeit seines Stellvertreters in Sicherheit wiegt, durchschaut Zeit (Schnitt, Narration) und dem Kino als Kontrolle über die Dimension
seinen Blick und sieht sich selbst in seiner Komplizenschaft entlarvt, des Raumes zunutze (Veränderungen in der Entfernung, Schnitt) und
gefangen in der moralischen Doppeldeutigkeit des Schauens. vERTIGo ist erzeugen einen Blick, eine Welt und ein Objekt, sie produzieren so eine
nicht einfach eine Anmerkung über die Perversion der Polizei, der Film maßgeschneiderte Illusion für das Begehren. Diese filmischen Codes und
stellt vielmehr die Implikationen der Spaltung von aktiv /schauen und ihre Beziehung zu den nachhaltig prägenden äußeren: Strukturen müs-
passiv /angeschaut werden in Bezug auf die Geschlechterdifferenz und sen auseinandergenommen werden, bevor der Mainstream-Film und die
die Macht des männlichen Symbolischen in den Mittelpunkt, die in der Lust, die er bereithält, in Frage gestellt werden können.
Figur des Helden eingefangen ist. Auch Mamie spielt für Mark Rutlands Ein Anfang (als Ende) könnte sein, den voyeuristischen Blick der
Blick und maskiert sich als das perfekte Bild zum Anschauen. Auch er Schaulust zu zerlegen, der ein wesentlicher Bestandteil der traditionel-
steht auf der Seite des Gesetzes, bis es ihn danach verlangt, angezogen len Lust am Film ist. Es gibt drei verschiedene Blicke, die mit dem Kino
durch seine Obsession in Bezug auf ihre Schuld, ihr Geheimnis, ihr dabei verbunden sind: den der Kamera während der Aufzeichnung des Ereig-
zuzusehen, wie sie ein Verbrechen begeht, sie zu einem Geständnis zu nisses im Dienste des Films, den des Publikums während der Betrach-
bewegen und sie so zu retten. Also wird auch er zum Komplizen, da er tung des Endproduktes und den der Charaktere untereinander im Rah-
die Implikationen seiner Macht ausagiert. Er hat die Kontrolle über Geld men der Leinwandillusion. Die Konventionen des Spielfilms verleugnen
und Worte, er kann alles auf einmal haben. die ersten beiden und ordnen sie dem dritten unter, eine störende

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Laura Mulvey

Präsenz der Kamera soll bewusst unterbunden und ein distanzieren- Heide Schlüpmann
des Bewusstsein des Publikums verhindert werden. Ohne diese beiden
Abwesenheiten (die materielle Existenz des Aufzeichnungsprozesses, Kinosucht
die kritische Rezeption seitens d_er Zuschauer_in) kann ein fiktionales
Drama nicht zu Realität, Sinnfälligkeit und Wahrheit gelangen. Doch
birgt die Struktur des Schauens im narrativen Spielfilm, wie in diesem »Verstohlen wischen sich die kleinen Ladenmädchen die Augen
Artikel argumentiert, einen Widerspruch in seinen Prämissen: Das weib- und pudern sich rasch, ehe es hell wird.« (Siegfried Kracauer) 1
liche Bild als Kastrationsdrohung stellt eine andauernde Gefährdung für
die Einheit der Diegese dar und durchbricht als störender, statischer, »Für den begleitenden Herrn ist >sie<dann aber angeblich mehr
eindimensionaler Fetisch die Welt der Illusion. Die beiden Blicke, in das Objekt der Beobachtung als die Vorgänge an der weißen Wand. >Sie ist
Raum und Zeit materiell präsent, werden den neurotischen Bedürf- immer bis zu Tränen gerührt<, und überhaupt sind
nissen des männlichen Ichs so zwanghaft untergeordnet. Die Kamera psychologische Studien an den Besuche~n, noch häufiger an den
wird zu einem Mechanismus im Dienste der Produktion der Illusion Besucherinnen, vielen weit amüsanter als die [des] Films und für viele
eines Renaissance-Raumes, fließender, dem menschlichen Auge ver- ein Grund, hin und wieder eine Stunde im Kino zu verbringen.«
träglicher Bewegungen, einer Ideologie der Repräsentation, die sich um (Emilia Altenloh) 2
die Wahrnehmung des Subjektes dreht. Der Kamerablick wird verleug-
net, um eine glaubhafte Welt zu erzeugen, in welcher der Stellvertreter Für eine Ästhetik des Films ist die Reflexion des Zusammenhangs zwi-
des Zuschauers überzeugend auftreten kann. Zugleich wird dem Blick schen der Entstehung des Kinos und dem Ende der bürgerlichen Kultur
des Publikums eine ihm eigene Macht verweigert: Sobald die fetischis- konstitutiv, wie die Arbeiten von Bela Balazs, Siegfried Kracauer und
tische Repräsentation des weiblichen Bildes den Bann der Illusion zu Walter Benjamin aus den zwanziger und dreißiger Jahren zeigen. Darin
brechen droht und das erotische Bild direkt (ohne Vermittlung) für den ist unterschiedlich festgehalten , wie der Film nicht nur kulturindustriel-
Zuschauer auf der Leinwand zum Vorschein kommt, bringt das Faktum les Produkt des Spätkapitalismus ist, sondern wie die Liebe zum Kino
der Fetischisierung, hinter der sich zweifellos Kastrationsangst verbirgt, Bedürfnisstrukturen entspricht, die von der Negativität der historisch-
den Blick zum Stillstand, fixiert den Zuschauer und hindert ihn daran, gesellschaftlichen Entwicklung freigesetzt werden.
Abstand von dem Bild vor ihm zu gewinnen. Von Anfang an konstatierte man das - quantitativ und qualitativ -
Diese komplexe Interaktion der Blicke ist eine Besonderheit des Films. besondere Interesse der Frauen am Kino. Dagegen fällt auf, dass die
Der erste Schlag gegen die monolithische Akkumulation traditioneller oppositionellen Möglichkeiten des Mediums nur auf dem Hintergrund
Filmkonventionen (den radikale Filmemacher_innen bereits ausführen) linken Politikverständnisses, im Zusammenhang einer Krise der bür-
besteht darin, den Blick der Kamera in die Freiheit seiner Materialität in gerlich-kapitalistischen, nicht aber auch patriarchalen Kultur, begriffen
Zeit und Raum zu entlassen und den Blick des Publikums in die Frei- wurden. Dabei lag die ideologische Funktion der Filmindustrie in puncto
heit der Dialektik, einer leidenschaftlichen Ungebundenheit. zweifellos Domestizierung der Weiblichkeit auf der Hand. In »Di~ kleinen Laden-
wird dies die Befriedigung, die Lust und das Privileg des >unsichtbaren mädchen gehen ins Kino« wurde solche Einsicht jedoch eher cinephil,
Gastes<zerstören und die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass der Film zur Ironisierung des Tiefstandes der Filmproduktion, genutzt als im Inte-
auf den voyeuristischen Mechanismen von aktiv /passiv beruht. Frauen, resse der Frauen. Die damalige Frauenbewegung schwieg weitgehend
deren Bild immer wieder gestohlen und zu diesem Zweck benutzt wor- zu diesem Thema. 3
den ist, können dem Niedergang der traditionellen Filmform mit kaum
mehr als sentimentalem Bedauern zusehen. 1 Siegfried Kracauer: »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino« [1928], in:
ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, S. 279- 294, hier S. 292-293.
Aus dem Englischen von Katja Wiederspahn 2 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino . Die Kino-Unternehmung und die
sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914, S. 94.
3 Kracaucr: »Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino« [1928], a.a.O.

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