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Die Katharsis in Parmenides Dichtung

Inwiefern können die Versen Parmenides für die Katharsis


funktionalisiert werden?
Jessica Kuznetsov-Anselmi

Bachelorarbeit
Jessica Kuznetsov-Anselmi, Durlacher Str. 5 10715 Berlin, Matrikelnr.: 612400,
7. Fachsemester
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung............................................................................................................................................ 2

2. Was ist Katharsis?.................................................................................................................................. 5

3. Katharsis bei Parmenides..................................................................................................................... 11


a. ὁδόs als Katharsis...................................................................................................................................11
a. Negation als Mittel der Katharsis............................................................................................................11
b. Wiederholung als Vorgehensmethodik der Katharsis..............................................................................11
c. Der philosophisch-kathartische Heiler.....................................................................................................11

4. Katharsis im Kontext der Mysterienkulte.............................................................................................. 11

5. Fazit.................................................................................................................................................... 11

6. Literaturverzeichnis............................................................................................................................. 11

1
1. Einführung
Die Kathartis ist im griechischen Milieu ein vielerorts umstrittenes Konzept. Um dieses
definieren zu können, wird zumeist auf die kultisch-rituelle und medizinisch-psychologischen
Bedeutung eingegangen, die in den Katharsis-Begriff Aristoteles‘ einfließt 1. Die fehlende
Genauigkeit, die auf die Mitwirkung in den esoterischen Schriften des Schülerkreises
zurückgeführt wird, hat in der Definitionsarbeit des Stagirits eine große Aufmerksamkeit auf
das Konzept gezogen. Hier wird die Kathartik in den tragödischen Theateraufführungen
erreicht, die durch die Nachahmung einer ernsten und vollendeten Handlung (ἔστιν οὖν
τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας μέγεθος εχούσης…) so starke Emotionen
erregen, dass sie sich auf das Publikum entladend und therapierend auswirken (… δι' ἐλέου
καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν)2. Die kathartische Wirkung
der Tragödie erfolgt auf derselben Weise wie und wird dementsprechend von korybantischen
Praktiken abgeleitet: Beim Klang einer bestimmten Melodie verliert jeder das Bewusstsein
und wird zu einem wahnsinnigen Tanz unter der Kraft der phrygischen Musik getrieben 3. Am
Ende des Tanzes ist man nicht nur vom Wahnsinn, sondern vor allem von vorherigen
Bedrückungen befreit, die Seele ist von Lästern bereinigt4. In Anbetracht dessen ist das
Konzept der Katharsis eng mit den Kategorien Reinheit, Heilung und Gesundheit sowie ihre
Gegensätze verflochten zu betrachten, deren Definition nach griechischem Verständnis im
kommenden Kapitel ausgelegt wird. Diese nehmen nämlich, wie die Texte seit Homer bis hin
zur späten Archaik bezeugen, einen allgegenwärtigen Platz in jeder Gesellschaftsform und -
art ein und werden zu den zentralen Grundwerten dieser, auch wenn sie aufgrund ihrer
Querlage sich nur schwierigerweise beforschen lassen5. Denn hierbei können unter anderem
„religiöse, anthropologische, historische, ästhetische, erzieherische, technische und
biologische, medizinische und gesundheitliche Perspektiven„ berücksichtigt werden. 6 Über
dieses multidisziplinäre Charakter hinaus ist auch in der griechischen Antike das Versprechen,
zur Heilung und Erkenntnisgewinnung zu gelangen, einer der bekanntesten Ansprüche,
worum sich Schulen und Institutionen auf dem Wege zu ihrer Herausbildung streiten:
Fachkräfte wie Ärzten, Propheten, Wahrsagern, Handwerker und von göttlichen impetus

1
Bernhard Zimmermann: Katharsis, Freiburg 2006.
2
Ingram Bywater: Aristotle’s Poetics, Oxford 1909, S. 16 (1449b24 - 28)
3
Walter Burkert: Greek Religion, Malden 1985, S. 80.
4
Ebd.
5
Bettina Schmidt: Exklusive Gesundheit, Wiesbaden 2017, S. 57..
6
Ebd.
2
erfassten Sängern von Gedichten wandern in den homerischen Epen durch die ganze
griechisch-sprachigen Welt um nicht nur die Elite zu bedienen 7. Wie in einer agonal
strukturierten Gesellschaft konkurrieren Vertreter von religiös, medizinisch und
philosophisch ausgerichtete Bildungsanstalten auf dem griechischen Marktplatz miteinander.
Obwohl im evolutionistischen Denken die Medizin als eine die Religion überholende Praktik
dargestellt wird, entstehen beide kathartische Methoden nach den Worten Parker „aus
einem undifferenzierten Ideal von Reinheit, sowohl physischen als auch metaphysischen,
notwendig für Gesundheit und einen ordentlichen Verhältnis zu den Göttern“ 8. Insgesamt
verstehen die Griechen unter Gesundheit ein Gleichgewichtszustand, der nur vom Fehlen
von Krankheiten bedingt wird: nicht zufällig ist in den homerischen Epen biotos, die „intakte,
von Krankheiten unbehelligte Lebendigkeit“ 9. Ein Körper, der frei ist von jeder Art von
äußerlicher Störung, ist gesund und dementsprechend rein. So wird die vorliegende Arbeit
im ersten Kapitel den Katharsis-Begriff von religiös-ritueller und medizinischer Perspektive
untersucht, indem zunächst das voraristotelische Begriff etymologisch und konzeptuell in den
Fokus gerückt wird. Die Versprachlichung ritueller Praktiken wie der Kathartik, die bei den
Akteuren über am Körper ausgelebte Wirkungen Sinn stiften, kann der Forschung nach vor
allem in Tragödien und Komödien wiedergefunden werden, während viele Texte aufgrund
ihrer thematischen Selektivität ausgeschlossen werden. Denn erst in der Neuzeit hat die
religionswissenschaftliche Forschung rituelle Praktiken hinter metaphorisch und bildlich-
assoziativ dargestellten Handlungen gedeutet, die zugleich in der Performanz und Erzählung
für die jeweilige Okkasion funktionalisiert werden10. In Anlehnung an dieser
wissenschaftlichen Forschung werden in vorliegende Arbeit zumeist Texte aus der
vorsokratischen Philosophie in Betracht gezogen, weil diese in einem von der Mündlichkeit
bestimmten Milieu gedeihen und sich an der Schnittstelle zwischen Mythos,
beziehungsweise Ritual und objektiv-erkennenden Philosophie befinden. Hierin bilden
Mythos und Ritual immer noch den wichtigsten Bezugspunkt. Demnach werden im zweiten
Kapitel die fragmentarische Überlieferung des Werkes Parmenides´ Über die Natur in
Betracht gezogen. In Elea, die Heimatstadt Parmenides und den Römern als Velia bekannt,
wurden um 1960 eine Statue und drei Hermen aufgefunden, die an den Sockeln die

7
Lane Fox 2020, S. 21.
8
Robert Parker: Miasma, Oxford 1983, S. 215.
9
Archeologia Homerica (Bd. 3), S67
10
Anton Bierl: Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik, Berlin / Boston 2007, S. 7.
3
Namensinschriften einer Ärtzegilde tragen11. Diese leite sich von Parmenides Οὐλιάδης her,
eine Bezeichnung die für den Apollon-Priester verwendet wurde, „[the] god of prophecy and
oracles, music, song and poetry, archery, healing, plague and disease …” 12. Obwohl also
Parmenides als Gründer der Dialektik sowie der begründende Argumentationstechnik gilt
und seine Verse dementsprechend zumeist unterzogen wurden, war er bereits in der Antike
als vielseitige Heiler angesehen und handelte somit an der Schnittstelle verschiedener
Disziplinen. Dass er aktiv am Alltag der Stadt teilnahm, bezeugt darüber hinaus Strabon in
seiner Geographie, wonach den Gesetzgebern Parmenides und Zenon die wohl geordnete
Ordnung des gesellschaftlichen Lebens (εὐνομηθῆναι) zu verdanken war13. Dass die
Philosophie Parmenides eng mit sozialer sowie individueller Ordnung im Lichte religiöser
Vorstellung verbunden ist, ist vor der politischen und sozialen Lage Unteritaliens zu
betrachten. In der Herausforderung, eine reglementierte Gemeinschaft zusammen und im
Kampf mit den indigenen Völkern zu gründen, aber auch in der Erhaltung und Entfaltung
lokaler Sprachen und Kulten 14, realisieren die griechisch-sprachige Bevölkerungen am Rande
des Griechentums ein Regimen, das sich auseinanderhält von der einheimischen polis-
Vorstellung und somit auch von deren regierenden Bürgern 15. Eine der Gründe dafür waren
die Perser-Kriege, die in der Zeit der Vorsokratiker für Unruhe im ganzen Mittelmeerraum
sorgten und zeigten, dass die Griechen in den Kolonien viel näher den Völkern Asiens und
Afrikas waren als zur hellenischen Welt im Mutterland16. In Wechselwirkung mit dieser
wirtschaftlich und kulturell fruchtbaren Umgebung erwachsen die neue Ideen und
Denkweisen der Philosophie, die wie die Religion eng mit Lebenspraxis und -form verbunden
sind und auf diese Weise die Grundlage ethischer Verhaltensvorstellung bilden 17. Denn eine
von Philosophie geführten Lebensführung stellt ein religiös geprägtes Leben dar, weg von
rituell vorgeschriebenen Praktiken hin zur individuellen und gemeinschaftliche
Erkenntnisfindung, während sie aber immer noch fest gebunden bleibt an Kategorien und
Konzepte eines religiösen Rahmens. Auf dieser Weise wird in dieser Arbeit durch den Fokus
auf die Kathartik als einen der wichtigsten Aspekte religiöser und staatlicher Lebensführung

11
Walter Burkert: Das Proömium des Parmenides und die Katabasis des Pythagoras, 1969, S. 22.
12
Atsma, Aaron J.: Theoi Project – Greek Mythology: Apollon, 2017.
13
André Laks / Glenn W. Most: Early Greek Philosophy V, Cambridge 2016, S. 26.
14
Ebd., S. 278.
15
Paolo Scarpi: Empedocle mago, Napoli 2007, S. 148.
16
Peter Kingsley: Ancient Philosophy, Mystery, and Magic, Oxford 1995, S. 10.
17
Hans-Joachim Gehrke / Helmut Schneider: Geschichte der Antike, Berlin 2019, S. 207.
4
versucht, den Kontaktpunkt religiöser, medizinischer und philosophischer Praktiken und ihre
gegenseitige Bereicherung zu begreifen.

5
2. Was ist Katharsis?
Im 2007 erschienen und von Bernard Seidensticker herausgegebenen Band
„Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles“ wird die aristotelische Katharsis der Rubrik
„Katharsis der Emotionen“ zugeordnet und als Interpretationstheorie per Analogie zum
Theater am frühgriechischen, im dorischen Dialekt verfassten Louvre-Partheneion Alkmans
angewendet18. Die Forschung spricht hierbei von Chorlieddichtung, die meistens
getrenntgeschlechtige Gruppen anlässlich religiösen und familiären Festen mit musikalischer
Begleitung und Tanz besungen haben sollen 19. Obwohl es bei vielen Texten dieser Art unklar
bleibt, zu welchen bestimmten Anlass sie aufgeführt wurden, dienen derartige
Choraufführungen letztendlich der gemeinschaftlichen Erfahrung von „festlicher Freude und
Genugtuung“20. Im Falle des Jungfernlieds Alkmans soll nach Calame das Lob an die
jungfräuliche Schönheit der Mädchen Agido und Hagesichoras´ sowohl bei den
Chormitgliedern als auch bei dem Publikum ein erotisches Verlangen hervorrufen, das „zum
21
Vergnügen in der und an der poetischen Performance führt“ . Unbeachtet der vielen
Unstimmigkeit in der Interpretation des Textes, wie zum Beispiel der Identifikation des
vortragende Ichs mit dem Mädchen-Chor selbst, wird zum Ende Hagesichoras, die zunächst
das lyrische Ich vor Liebe entbrennen lässt, „zerreibt“ (ἀλλ᾿ Ἁγησιχόρα με τερεῖ), dann zur
Heilerin der Schmerzen und Mühen, die die Mädchen in ihrer chorischen und musischen
Ausbildung zu erleiden haben (πόνων γὰρ / ἇμιν ἰάτωρ ἔγεντο)22. Dass der Kunsttext auch
unabhängig von dem Aufführungsszenario, wofür er konzipiert wurde, funktioniert, bezeugt
nicht nur die Möglichkeit der Dekontextualisierung und der Anschlussfähigkeit des Textes. Auf
der sprachlichen Ebene wird hier der Heilungsprozess von einem Genitiv begleitet, dem
Gherardo Ugolini auf die Spuren von Jacob Bernays dreifacher Interpretation zu verleihen
vermag23. Erstens kann der Genitiv als ein obiectivus aufgefasst und die Katharsis als eine
purificatio, der Kontext der Gedichtaufführung ist eine erzieherische Anstalt, in der die
überschüssigen Affekte und Leidenschaften veredelt werden. Bei einem separativus handelt

18
Claude Calame: Erotische Katharsis in der melischen Kultdichtung der frühgeschichtlichen Poleis, Berlin 2007,
passim.
19
Joachim Latacz: Die griechische Literatur in Text und Darstellung: Archaische Periode (Bd. 1), Stuttgart 1991, S.
321.
20
Ebd., S. 323.
21
Calame 2007, S. 143.
22
Loeb Classical Library: Alcman, Fragments, Harvard 2023, S. 366 - 368. Abgerufen am 29.08.2023 von DOI:
10.4159/DLCL.alcman-fragments.1988; Calame 2007, S. 145.
23
Gherardo Ugolini: Jacob Bernays e l’interpretazione medica della catarsi tragica, Verona 2012, S. 40 – 49.
6
sich bei der Katharsis um eine purgatio, eine Befreiung von den Affekten und beim Kontext
um eine therapeutische Anstalt. Drittens ist bei einem genitivus subiectivus die Katharsis, die
von den Affekten erregt wird, mit dem Prozess der clarificatio gleichzustellen, das zu einer
intellektuellen Aufklärung des geschilderten Geschehens führt 24. Dabei handelt sich um
Formen der mimesis, eine kognitive Handlungsnachahmung, die nach Aristoteles die echte
Dichtung auszeichnet: die Fähigkeit, in sich selbst und im Publikum von Zuhörern und
Zuschauern Affekte zu erregen dank der evokativen Kraft der dichterischen Sprache und der
künstlerischen Darstellung25. Nach Claude Calame scheint somit der gesungenen und mit
Tanzschritten ausgeführten Kunsttext mit Kulthandlungen zu korrespondieren, die auf
kollektiv-ritueller Art und Weise einen affektiven Reinigungsprozess einleiten: durch die
Entfaltung und Auslösung eines emotionalen Zustand, in diesem Fall an Eros, kann der
Affekten-Überschuss eliminiert werden26. Physiologisch wirkt sich hier der poetische Text also
nicht nur auf visueller, sondern auch auditiver Ebene aus27.

In der Kunsttheorie der Poetik vollzieht sich die Handlung zum Wort Katharsis auf eine
affektive Ebene. In den homerischen Epen dagegen bezieht sich das von kahtarsis abgeleitete
Verb katharein das Reinigen, Abwaschen und Abwischen von häuslichen
Gebrauchsgegenständen, Kleidung und Körperteilen sowohl von Personen vor einer
kultischen Handlung als auch, nach den Xenia-Prinzip, von Gästen, die gerade das Fremden-
Haus betreten haben28. Beim entfernten, weggewaschenen Objekt handelt sich um Schmutz
oder Blut29. Damit hat das Verb in diesem Zusammenhang einen materiellen, greifbaren
Bezug. Walter Burkert erläutert diese Verbindung etymologisch: das Denominativum zu
Katharsis katharein sei auf den semitischen Stamm qtr zurückzuführen, was soviel wie
rauchen, räuchern bedeutet und auf das Räuchern von Mineralien wie Schwefel hinweist
(daher die Form jeqatteru „sie räucherten“) 30. Diese sei bei semitischen Völkern eine weit
verbreitete Räucherpraktik gewesen, womit Sühnepriestern Mordtaten auszugleichen
suchten31. Diese ritualisierte Handlung wurde später von den Griechen übernommen und
kommt in der griechischen Literatur nicht nur als eine Transkription ritueller Vorschriften vor,

24
Ebd.
25
Lidia Palumbo: Empedocle ed il linguaggio poetico, Napoli 2007, S. 83.
26
Calame 2007, S. 146 und 136 - 137.
27
Ebd.
28
Fortunat Hoessly: Katharsis: Reinigung als Heilverfahren, Göttingen 2001, S. 17.
29
Ebd.
30
Burkert 1985, S. 76; Hoessly 2001, S. 18 – 19.
31
Ebd., S. 19.
7
sondern auch als Beschreibung Aspekte göttlicher Natur und ihr Verhältnis zur
menschlichen32. Schwefeldämpfen sind in der Odyssee unter anderem Ausdruck der Pflege,
die Odysseus den Göttern ausrichtet als er nach der Tötung der Freier die Halle seines
Palastes, aber auch sich selbst von diesem kakon reinigt33. Dabei zeigen Feuer und Schwefel
ihre symbolische Bedeutung auf, die zur Reinigung führen: der starke Geruch des Minerals
durchdringt in Form von Rauch das Verschmutzte, während das Feuer alles mit seiner
zerstörerischen Kraft zugrunde richtet und es zu einem reinen, anfänglichen Zustand
wiederherstellt34. Eine derartige Vorstellung der reinigenden Stärke des Feuers kann auf eine
Lehre zurückgeführt werden, die dem Element Feuer eine „dynamische Funktion im
Werdegang der Körper“ zuschreibt35. Die Nutzung des Feuers in einer ritualisierte Handlung,
die nach den Worten Anton Bierl „[ein] performatives, spektakuläres, multimedial
inszeniertes Verhalten (…)“ darstellt, ermöglicht in diesem Fall Odysseus die Außenwelt unter
Kontrolle zu bringen und die Beziehung zwischen Objekt und Subjekt, das kakon und sich
selbst als wieder etablierten Basileus, zu überdenken“36. Durch die Katharsis gelingt es
Odysseus sich von seiner befleckenden Schandtat, der Ermordung, zu entsühnen und vom
miasma zu befreien.

Ähnlich verhält es sich in der Medizin: Die Behandlung traumatischer Krankheiten durch
Schneiden und Brennen, die Verabreichung von pharmaka, aber auch zum Teil den religiösen
Praktiken ähnelnden Brennen (Kaiein), Räuchern (thumian), Nutzung heißer Dämpfe (purian),
sind Akten und Methoden, die unter anderem in der archaischen Kunst und Literatur
Abbildung finden37. Die Einnahme von pharmaka liquider und solider Form pflanzlicher
Herkunft, die cathartics, sei nach Herodot zum Teil auf eine ägyptische Vorstellung
zurückzuführen, die die Ursachen von Krankheiten in Lebensmitteln sieht. Dabei wurden
regelmäßig Abfuhrmittel angewendet, um die im menschlichen Körper verrottenden
Essensreste auszuscheiden und somit die Krankheit zu besiegen38. Auf diese Vorstellung
beruht der bis ins 18. Jahrhundert hineinwirkende medizinische Ansatz der

32
Parker 1983, S. 67.
33
Hoessly 2001, S. 80 nach Od. 22.481-94.
34
Heinrich von Staden: Purity, Purification and Katharsis in Hippocratic Medicine. Berlin 2007, S. 37 nach Walter
Burkert; Burkert 1985, S. 76.
35
Scarpi 2007, S. 155.
36
Bierl 2007, S. 15.
37
Vivian Nutton: Ancient Medicine, London / New York, 2005 (2. Aufl.), S. 62.
38
Ebd., S. 41 und 329 nach Herodot 2,77.
8
Humoralpathologie heraus, wonach der größte Bestimmungsfaktor einer Krankheit die
Unausgewogenheit der Körperflüssigkeiten, den sogenannten Humoren, darstellen39.

In all diesen Fällen handelt sich also um purgatio, und zwar um von außen induzierten
physischen und psychischen Vorgänge, die dazu dienen, durch Ausscheidung, auch
quantitative Kathartik genannt, und/oder Veränderung, auch qualitative Kathartik, von
krankhaften Substanzen oder Einflüssen das gestörte Gleichgewicht wieder in den Stand zu
setzen40. Reinheitsritualien sind insgesamt homöopathischen Therapien, die von einer
organischen psycho-physischen Menschenkonzeption ausgehen und somit eine durchlässige
Grenze zwischen Körper und Geist voraussetzen: die Krankheit und die Ursache der
Verunreinigung sitzt nicht in einem Organ oder in einem bestimmten körperlichen Teil,
sondern durchdringt den ganzen Menschen41. In Anbetracht dessen unterscheiden sich all
diese Katharsis-Methoden nur in instrumentalen Dativ, und zwar in der Auswahl an
Materialien, die für die Reinigung verwendet werden 42. Zum einen ist also mit dem Wort
Katharsis nicht nur der Prozess der Bereinigung gemeint, sondern auch die angewendeten
Instrumente und Mittel, die zur Bereinigung führen. Zum anderen geht aus diesen
Gemeinsamkeiten hervor, dass sowohl die poetische als auch die medizinisch-religiöse
Kathartik einen künstlichen Vorgang darstellen.

Mit dem Namen der katharsis werden in den hippokratischen Schriften, die zwischen 420-
350 vor Christus datiert werden, auch die Lochien, und zwar das Wundsekret der
Gebärmutter nach der Geburt, sowie die Menstruation bezeichnet 43. Indem sie die Folgen
natürlicher Prozesse darstellen, die ohne Rückgriff auf von außen indizierten Maßnahmen
vonstatten gehen, werden sie natürliche Katharsis genannt 44. Auf der einen Seite sehen
antiken Denker wie Aristoteles im Zustandekommen der Menstruation eine Gesetzmäßigkeit
kausaler Prozesse. Dabei sei der Reinigungsbedarf auf die schwammartige und poröse Natur
der Frauen zurückzuführen, welche zur Ansammlung von überschussiger und somit zu der
Ausscheidung bedürftigen Feuchtigkeit und Flüssigkeiten beitragen 45. Dies bat sich unter
anderem als Begründung der Unterwürfigkeit des Geschlechtes 46. Auf der anderen Seite
39
Ebd., S. 42.
40
Ugolini 2012, S. 35.
41
Parker 1983, S. 214.
42
Ebd.1983, S. 214
43
Ebd., S. 54 nach Mul. 72:
44
Föllinger 2007, S. 12.
45
Ebd.
46
Parker 1983, S. 101 – 2.
9
folgen die Lochien der Frauen auf die Geburt eines Kindes, aber auch auf möglichen
Fehlgeburten und auch den damit einhergehenden Tod und stehen somit symbolisch für
diese zwar natürlich, dennoch para nomon zustande kommenden Ereignisse, die eine
Transition von einem Lebensabschnitt zum anderen markieren und als
Ordnungsverletzungen wahrgenommen werden. Nicht also, wie es Aristoteles aufgefasst
hatte, weil der Körper der Frau von Natur aus unrein ist und mit einem Mechanismus
ausgestattet ist, der die für das religiöse Leben der Stadt unablässige Reinheit
wiederherstellt. Laut der Transiktionsritualtheorie des Anthropologen Arnold van Gennep
befinden sich die betroffenen Frauen im liminalen Stadium, der einen außergewöhnlichen
Übergangszustand darstellt und die Ausgrenzung vom gesellschaftlichen und religiösen
Leben voraussetzt, bevor sie als intakte Menschen in die Gesellschaft wieder integriert
werden47. Daher scheint es im griechischen Verständnis ein vielfältiges Krankheits- und
Verunreinigungszustand zu geben: zum einen ist dieser nicht nur das Produkt der
Unausgewogenheit der Säfte im Körper, sondern kann vor allem durch regelmäßig
stattfindende, ausscheidende Vorgänge vermieden werden, weil der menschliche Körper mit
einer dynamischen Natur ausgestattet ist, die für ihre Aufrechterhaltung dauernden
Reinigungsprozessen bedarf48. Nach dieser Ansicht steht Schmutz symbolisch für die
Verunreinigung oder Befleckung, dessen „Wegwaschen“ durch formalisierte
handlungsbezogene Maßnahmen erfolgt49. Dagegen können bei den natürlichen
Verschmutzungen Katharsis-Maßnahmen nicht bei Bedarf angewendet werden, sondern nur
zu bestimmten Lebenszeiten vonstatten gehen. Denn diese einschneidenden Ereignisse
werden als eindringende, nicht willkürliche Ordnungsverletzungen erlebt und finden ihre
Wiederherstellung durch die rites de passage, am deren Ende die Betroffenen die Werte für
die Bewältigung des kommenden Lebensabschnittes internalisiert haben50.

Insgesamt leiten also kathartische Rituale in einen „höheren, dem physischen Empfinden
gegenüber angenehmeren, positiveren, besseren Bereich bzw. Zustand und [heben den
Handelnden] dadurch (…) aus seinem alltäglichen Zustand heraus“ 51. Die symbolische
Bedeutung der katharsis verwirklicht sich wieder in einem physischen und kognitiven
Vorgang als Erscheinung der äußerst performativen Natur der griechisch-geprägten
47
Ebd., S. 56.
48
Föllinger 2007, S. 12.
49
Parker 1983, S. 216.
50
Ebd., S. 56 – 63.
51
Hoessly 2001, S. 37 und 40.
10
Gesellschaft52. Als weiteres Merkmal der katharsis ist die individuelle Natur des Vorganges:
nach griechischer Vorstellung die Unreinheit und die Krankheit eines Menschen auf seine
körperliche Gestalt und auf seine Lebensführung zurückzuführen, sodass die Behandlung rein
individuell und nach den persönlichen Bedürfnissen stattfindet. Denn vor dem Mangel an
Strukturen für die Verwaltung und Reglementierung öffentlicher Gesundheit, ist Handel und
Besprechung im privaten Bereich zentral in der Entdeckung und Heilung körperlicher und
psychischer Störungen53. Während die politische Entität für Verwaltungsangelegenheiten
aufkommt, erfolgt also die Erhaltung des Gleichgewichtszustand im privaten, familiären
Bereich. Die Autoren des corpus hippocraticum verleihen zwar der Diskussion zu Krankheit
und Heilung den öffentlichen Charakter, der die westliche Welt ausmacht. Dennoch streben
sie mit den Schriften und dem Fokus auf Vorhersage und Dokumentation zum Ablauf einer
Krankheit eher der eigenen Anerkennung als Autoritäten, die sich über die für die Genesung
angewendeten Heilmitteln hinaus etablieren können 54. In diesem ähnelt der Arzt den Figuren
von Melampus und Chalchas in der Ilias, auch iatromantis in der Forschung genannt, ein
Seher und zugleich ein Mediziner, der Krankheiten durch die auf die Beobachtung natürlicher
Prozesse beruhende Vorhersage möglicher zukünftiger Ereignisse zu heilen bestrebt 55.
Während aber die Seher bei Homer aufgrund ihrer Nähe zu den Göttern in ihrer
prognostischen Richtigkeit privilegiert wurden, was auch mit der Stellung des Sehers in der
epischen Erzählung zusammenhängt, werbt der hippokratische ihtros mit seiner Schrift für
den Besitz einer angemessenen Erkenntnistheorie, damit der Körper die passende Erholung
von der Krankheiten erlangt. Dadurch sind der Arzt und der Patient dank ihm in der Lage, das
Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden: Heilung ist also hierhin auf einem
epistemologischen Weg zu finden56.

Daraus geht hervor, dass eine Art Ausbreitung des Wirkungsfeldes der Katharsis von der rein
physischen und materiellen Dimension der religiös-rituellen Katharsis-Prozessen zu den
medizinisch-mantischen stattfindet: die Überzeugung und Führung durch die Sprache. Von
der Fähigkeit des Dichters in Aristoteles´ Dichtungstheorie, vor den Augen des Publikums in
der phantasia das Geschilderte durch die Sprache zu evozieren und eine emotionell
entladende Wirkung hervorzurufen, zu den Prognosen in der mantikè technè der
52
Parker 1983, S. 55.
53
Nutton 2005, S. 36.
54
Ebd.
55
Il. Stelle; Robin Lane Fox: The Invention of Medicine, Milton Keynes 2020, S. 260.
56
Nutton 2005, S. 63; Lane Fox 2020, S. 105.
11
homerischen Sehern sowie in der Medizin, ist die Sprache das Instrument zur Überführung
des Betroffenen in das bessere, höhere, göttlichere Empfindungszustand. Sprüchen ritueller
Handlungen wie bei den weiblichen rite de passage und dem Entsühnungsritual Odysseus’
sind noch nicht belegt. Dennoch schließen derartige Texte insgesamt insofern an die
Vorgehensweise philosophischer Texte an, als dass sie über das gemeinsame Kontext der
Rezeption hin aus auf der Suche eines besser gelegenen Zustand sind und somit eine
kathartische Wirkung anstreben. Im Folgenden wird angegangen, inwieweit dies auf die
Fragmente Parmenides´ zutrifft.

3. Katharsis bei Parmenides


a. ὁδόs als Katharsis

„χαῖρ’, ἐπεὶ οὔτι σε μοῖρα κακὴ προὔπεμπε νέεσθαι


τήνδ’ ὁδόν (ἦ γὰρ ἀπ’ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν),
ἀλλὰ Θέμις τε Δίκη τε.“57
„Sei gegrüßt, weil kein schlechtes Schicksal hat dich fortgeschickt diesen Weg zu bereisen
(Denn in der Tat befindet er sich weit außerhalb vom Pfad der Menschen), sondern themis
und dike.“
a. Negation als Mittel der Katharsis
b. Wiederholung als Vorgehensmethodik der Katharsis
c. Der philosophisch-kathartische Heiler

4. Katharsis im Kontext der Mysterienkulte


5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Atsma, Aaron J.: Theoi Project – Greek Mythology: Apollon (Stand: 2017).
https://www.theoi.com/Olympios/Apollon.html [31.07.2023]

Bierl, Anton: Literatur und Religion als Rito- und Mythopoetik: Überblicksartikel zu einem
neuen Ansatz in der Klassischen Philologie. In Anton Bierl / Rebecca Lämmle / Katharina
Wesselmann (Hrsg.): Literatur und Religion 1: Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei
den Griechen, MythosEikonPoiesis Bd. 1. Berlin / Boston 2007, S. 1 – 76.
https://doi.org/10.1515/9783110926361.1

Buchholz, Hans-Günter (Hrsg.): Archaeologia Homerica. 3

Burkert, Walter: Das Proömium des Parmenides und die „Katabasis“ des Pythagoras.
Phronesis (Vol. 14, n. 1), 1969, S. 1 – 30.
57
Laks / Most 2016, S. 36.
12
Burkert, Walter (Übers. von John Raffan): Greek Religion: Archaic and Classical. Malden 1985.
Abgerufen am 24.08.2023 von
https://ebookcentral.proquest.com/lib/huberlin-ebooks/detail.action?docID=7103995.

Bywater, Ingram: Arisostle’s Poetics. Oxford 1909. Abgerufen am 9. Juni 2023 von
https://archive.org/details/peripoietikesont00arisuoft/page/n7/mode/2up.

Calame, Berlin 2007, S. 119 – 148.

Dalfen, Joachim: PARMENIDES, DER VORSOKRATIKER ODER: NICHT DER PHILOSOPH SCHAFFT
DIE PROBLEME, SONDERN SEINE INTERPRETEN. In Philologus 138/Nr. 2 (1994), 194-
214. https://doi.org/10.1524/phil.1994.138.2.194

Föllinger, Sabine: die Katharsis als ein „natürlicher“ Vorgang. In Martin Vöhler / Bernd
Seidensticker ( Hrsg.), Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles, Berlin 2007, S. 3 – 20.

Fornaro, Sotera übersetzt von Martin Vöhler: Reinigung als religiöser Ritus: Anmerkungen zur
Forschungsgeschichte. In Martin Vöhler / Bernd Seidensticker ( Hrsg.), Katharsiskonzeptionen
vor Aristoteles, Berlin 2007, S. 83 – 99.

Fratticci, Walter: Parmenide: suoni, immagini, esperienza. A proposito di una nuova lettura.
Peitho: Examina Antiqua 6.1 (2015), S. 295 – 330.

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