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Saxophon Alto
(Es ~ Mi ) 44
mp
etc. ...
mf
Notenbeispiel 1
Der Mainstream, um es mit heutigem Vokabular auszudrü- sein soll. Dazu bedarf es einiger erläuternder Worte. Jazz in
cken, war in den 1920er Jahren von etwas anderem bestimmt: den 1920er Jahren ist im wesentlichen Tanzmusik gewesen.
Jazz und Tanzmusik. Die mythischen Goldenen Zwanziger Schulhoff als Pianist orientierte sich allerdings auch an dem,
Jahre eben. Wilde Rhythmik, unbändige Tanzmusik, ein was man als „novelty piano“ oder „novelty ragtime“ bezeich-
Hauch von Exotik, ungeahnte Freiheiten; das alles kam den nen würde. Interessant ist, was Schulhoff selbst darüber
Dadaisten natürlich entgegen – zumindest waren Lärm und schreibt, wie er den Jazz kennengelernt hat. Er hätte nämlich
Rebellion Bestandteil ihrer Interpretation des Jazz. Und so in den nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich besetzten
schließt sich der Kreis: Der Dadaist Schulhoff, seines Zeichens Gebieten Deutschlands gelebt und dort „möglichst viele von
studierter Pianist, hörte und spielte Jazz – und schließlich Frankreich dorthin importierte, von Negern und Mulatten
setzte er ihn kompositorisch um. Wer heute Schulhoffs Jazz- gespielte ,Jazz‘-Bands“ angehört. Er hat also damals echte
werke hört, fragt sich vielleicht, was denn daran Jazz gewesen Feldforschung betrieben!
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Kunstmusik, Jazz, Dadaismus – damit scheint Erwin Jazz in die Kunstmusik zu überführen, nicht alleine da. Es
Schulhoffs musikalisches Schaffen in den 1920er Jahren gab unzählige Versuche, Jazz kompositorisch umzusetzen.
grob umrissen. Vereinigt findet man einiges davon in sei- Nun sind allerdings zwei wesentliche Strömungen zu un-
ner „Hot-Sonate“ für Alt-Saxofon und Klavier aus dem terscheiden: Die musikalische Avantgarde auf der einen
Jahr 1930. Er nennt seine Sonate aber weder Ragtime- Seite, auf der anderen Seite existierte in der Unterhal-
noch Jazz-, sondern eine Hot-Sonate. Was meinte er tungsmusik der Begriff der Jazzsymphoniker. War Schul-
damit? Das ist schwierig zu sagen. Hot war ein durch und hoff nun Avantgardist oder Jazzsymphoniker? Seine
durch schwammiger Begriff. Kein Wunder, es ist ja selbst Hot-Sonate ist sicherlich ersterer Gruppe zuzuordnen. Es
heute schwierig bis unmöglich, in wenigen Sätzen das zu handelt sich nicht um geglätteten Jazz im Sinne einer Un-
beschreiben, was Jazz zu Jazz oder Swing zu Swing terhaltungsmusik. Vielmehr ist es die Kombination kom-
macht. Hot wird in der Jazzliteratur seiner Zeit einfach plexer Rhythmik mit dem Sound avantgardistischer, kaum
mit heiß oder würzig übersetzt. Was könnte diese Würze, noch tonal gebundener Musik, die Schulhoffs Werk prägt.
der Pfeffer in seiner Musik sein? Natürlich der Rhythmus!
In Schulhoffs Hot-Sonate geht es regelrecht triolisch, Erwin Schulhoff galt noch lange nach seinem Tod als ein
quintolisch und sogar septolisch zu. Man schaue dazu nur sogenannter vergessener Komponist. Zumindest wird sei-
einmal auf die ersten Takte und stelle sich vor, dass dienem Schaffen erst in den letzten Jahrzehnten wieder mehr
Klavierbegleitung dagegen teilweise gerade Sechzehntel- Aufmerksamkeit geschenkt. Mit seiner Hot-Sonate hat er
bzw. Achtelnoten spielt (Notenbeispiel 1) und so eine musikalische Zeitgeschichte verarbeitet und den heutigen
komplexe Rhythmik entsteht. und zukünftigen Saxofonisten ein anspruchsvolles Stück
hinterlassen. Schulhoffs eigene Worte fünf Jahre vor der
Was klingt noch Hot? Vielleicht die Glissandi im dritten Veröffentlichung der Hot-Sonate fassen wohl am besten
Teil, wie in Notenbeispiel 2? Um es denkbar knapp auszu- zusammen, welche Rolle er dem Saxofon zudachte. Doch
drücken: Es waren auch die Spieltechniken, die Jazz aus- wie so oft bei Schulhoff gilt auch hier meine Warnung
gemacht haben. „Achtung dadaistische Provokation!“ Er schreibt: „Das Sa-
xophon ist aber ein Instrument, welches im Gegensatz
Der Titel gibt noch etwas anderes her: Die Sonate – also zum Flügelhorn in seinem Ausdruck nur Karikatur ist und
ein Begriff aus der Instrumentalmusik vergangener Jahr- mit charmantester Liebenswürdigkeit seinerseits jedes
hunderte, der in der musikalischen Klassik für einen be- Sentiment gänzlich wieder negiert. Die Rhythmik ist ihm
stimmten formalen Ablauf stand – wird von Schulhoff mit mehr gegeben wie die Dudeldeimelodei, die wohl für einen
zeitgenössischer Unterhaltungsmusik verknüpft. Ein Af- Augenblick zu erscheinen vermag, um sich aber sofort wie-
front? Wohl kaum. Schulhoff stand mit seinem Versuch, der in ihre rhythmischen Zubehörteile aufzulösen.“
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