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10/11/23, 2:48 PM Die Psychologie des generischen Maskulinums

09.10.2023 - Aktualisiert: 11.10.2023, 14:35 Uhr


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Sprachdebatte

Die Psychologie des generischen Maskulinums


In der Debatte um das generische Maskulinum sollten psychologische
Einsichten nicht ignoriert werden. Den Sprachgebrauch können sie aber nicht
festlegen. Ein Gastbeitrag.

Von FRITZ STRACK

© picture alliance / blickwinkel/M


Geschlechtergerechte Sprache kann verschiedene Ausprägungen haben. Mit Sternchen
lässt sich indessen wenig erreichen. In den Farben getrennt, in der Sache vereint

Verfolgt man die öffentliche Diskussion über die Konsequenzen der Verwendung des
generischen Maskulinums, so ist zu bedauern, dass psychologische Erkenntnisse bislang nur
wenig Eingang gefunden haben. Dies ist überraschend, wenn man bedenkt, dass menschliche
Interaktion weitgehend durch die Sprache bestimmt wird und Denkprozessen dabei eine
zentrale Bedeutung zukommt.

Das Grundprinzip der psychologischen Betrachtung ist die Annahme von zwei ­kognitiven
Systemen, die zwar zusammenwirken, sich jedoch in ihrer Dynamik unterscheiden. Da ist
zum einen das reflexive System, das Aussagen und Gedanken generiert, die wahr oder falsch
sein können und entsprechende Schlussfolgerungen zulassen. Zum anderen gibt es ein
assoziatives System, das Informationen durch Aktivierung verfügbar macht und in die
Aussagen des reflexiven Systems einfließen lässt.

In der Regel unterstützen assoziative Inhalte die reflexiven Operationen. Dies kann aber auch
ins Gegenteil umschlagen. Ein prominentes Beispiel aus der Psychologie ist der sogenannte
Stroop-Effekt. Dabei bekamen die Teilnehmer eines Experiments die Instruktion, die Farbe
der Schrift eines Wortes zu bestimmen. Diese eigentlich einfache Aufgabe wurde jedoch
erschwert, wenn die Bedeutung des Wortes und die Schriftfarbe nicht übereinstimmten,
wenn zum Beispiel das Wort „blau“ in roter Schrift geschrieben war. Unter Zeitdruck waren

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die Antworten oftmals falsch („blau“). Gab es keinen Zeitdruck, dauert es länger, bis die
richtige Antwort generiert wurde.

Die beobachteten Fehler sind nun nicht auf eine Beeinträchtigung der Farbwahrnehmung
zurückzuführen. Ursache ist vielmehr die semantische Aktivierung („priming“) einer Farbe,
die mit der Antwort unvereinbar ist. Es handelt sich lediglich um eine Störung der
Informationsverarbeitung, die aber leicht überwunden werden kann. In ähnlicher Weise
wirken sprachliche Mehrdeutigkeiten. Fragt ein offensichtlich erschöpfter Mensch „Wo ist
die nächste Bank?“, und es stellt sich heraus, dass er damit ein Kreditinstitut gemeint hat,
dann wird der Hörer überrascht sein und etwas mehr Zeit für das Verständnis der Frage
benötigen.

Regeln der Markiertheit

Eine ähnliche Dynamik ist bei der sogenannten linguistischen Markiertheit zu beobachten.
Die Aussage „Ich habe fünf Tage in Berlin verbracht“ impliziert beispielsweise auch die dazu
gehörigen Nächte. Das heißt, der „Tag“ wird als unmarkierte kalendarische Einheit
verwendet, während der markierten Einheit „Nacht“ eine zusätzliche Bedeutung zukommt.
Umgekehrt kann die spezifische Bedeutung von „Tag“ kontextuell kommuniziert werden:
„Ich habe fünf sonnige Tage in Berlin verbracht.“

Markiertheit ist auch von Bedeutung, wenn Lebewesen unabhängig von ihrem Geschlecht
beschrieben werden. Dabei wird in der Regel eine Geschlechtsausprägung als übergreifende
Bezeichnung verwendet. So spricht man von „Katzen“, wenn man die Gattung der Felidae
benennen will, ohne Geschlechtsunterschiede zu thematisieren. Während in diesem Beispiel
die weibliche Form „unmarkiert“ verwendet werden kann, ist der geschlechtsübergreifende
Gebrauch der männlichen Variante („Kater“) nicht möglich, da diese als markiert gilt und nur
in ihrer lexikalischen Bedeutung („männliche Katze“) Eingang in die Sprache findet. Somit
handelt es sich bei „Katze“ um ein generisches Femininum, wobei die geschlechtsspezifische
Bedeutung weiterhin vorhanden ist und vom Kontext aktiviert werden kann. So bezieht sich
die Aussage „Alle Katzen waren trächtig“ ausschließlich auf weibliche Tiere.

Ähnliches gilt für die biologische Dichotomie der Geschlechter. So gilt bei der Benennung von
Menschen beiderlei Geschlechts, sofern die Semantik männliche und weibliche Formen
enthält, die männliche Form als unmarkiert. Bei entsprechender kommunikativer Absicht
kann sich der Satz „Alle Lehrer erhalten eine Gehaltserhöhung“ gleichermaßen auf männliche
und weibliche Lehrkräfte beziehen. Durch die Markierung des Kontexts kann jedoch die
geschlechtsspezifische Bedeutung der unmarkierten Form betont werden: „In der
Grundschule ist der Anteil der Lehrer wesentlich geringer als der Anteil der Lehrerinnen.“

Spontane Dominanz männlicher Assoziationen

Vor diesem Hintergrund lässt sich die psychologische Dynamik des generischen
Maskulinums verständlich machen. Zum einen besteht eine kom­munikative Mehrdeutigkeit.
Sind ­weibliche Personen „mitgemeint“? Zahlreiche empirische Studien, bei denen die
Teilnehmer nach der Verwendung eines generischen Maskulinums (z. B. Sportler) die Namen
von Angehörigen dieser Personengruppen nennen sollten, stellten eine Dominanz von
männlichen Nennungen fest. Diese lässt sich oftmals auf die vermutete Intention des
Sprechers zurückführen. Zum anderen spielt jedoch die automatische Aktivierung der
unmarkierten Bedeutung eine zentrale Rolle. Ähnlich wie beim Stroop-Effekt, bei dem die
Aufgabe der Probanden völlig unstrittig ist, löst das Lesen der unmarkiert männlichen Form

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männliche Assoziationen aus, welche die Verarbeitung eines nachfolgenden Textes


erschweren, wenn dessen Inhalte damit im Konflikt stehen.

Inzwischen wurde dies mithilfe von Urteilsmaßen und Antwortlatenzen in zahlreichen


Studien unterschiedlicher Arbeitsgruppen experimentell nachgewiesen. Obwohl die
Versuchsteilnehmer explizit darüber informiert wurden, dass bei der Vorgabe von Texten die
Verwendung des generischen Maskulinums (im Plural) beide Geschlechter umfasse, wurde
die Fortsetzung einer generisch unmarkierten Aussage („die Lehrer“) durch Einbeziehung
weiblicher Inhalte („. . . ein Teil der Frauen . . .“) für weniger „vereinbar“ eingeschätzt als die
Fortsetzung durch männliche Inhalte („. . . ein Teil der Männer . . .“). Betrachtet man nur die
zustimmenden Antworten (die große Mehrheit), dann benötigten die Probanden unter der
inkonsistenten Bedingung mehr Zeit als bei semantischer Übereinstimmung. Ähnliche
Ergebnisse ergaben sich bei der mündlichen Präsentation.

Welche Alternativen kommen in Betracht?

Wie beim Stroop-Test hat dies keine dauerhaften Folgen, wenn der weitere Kontext
Mehrdeutigkeiten auflöst. Allerdings genügt es nicht, immer wieder auf die inklusive Absicht
symbolisch hinzuweisen. Neuere Studien zeigen, dass auch das wiederholte Setzen von
Hinweis-Häkchen nicht ausreicht, um die Kommunikationsabsicht beim generischen
Maskulinum zum Ausdruck zu bringen. Dasselbe gilt für die sogenannte Sternchenform. Die
Reaktionszeiten aus verschiedenen neueren Arbeiten belegen diese Vermutung.

Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ergeben sich zum Thema Gendern folgende
Überlegungen. Zen­tral ist die Entscheidung, ob es der Wegfall der kurzfristigen Aktivierungs-
Bias rechtfertigt, auf das leichter verständliche generische Maskulinum zu verzichten. Im
Englischen hat die Sprache ohne geschlechtsspezifischen Artikel allmählich auf die weibliche
Nachsilbe („teacher-ess“) verzichtet und damit eine sprachliche Vereinfachung bewirkt.
Interessanterweise wird bei gleicher Silbenzahl die weibliche Form („actress“) weiterhin
beibehalten. Alternativ könnte ein solcher Verzicht von der Antizipation eines
kommunikativen Missverständnisses abhängig gemacht werden. Dies könnte zum Beispiel
bei geschlechtsspezifischen Stereotypen sinnvoll sein. Die gilt allerdings nicht nur für
„Politiker“ und „Professoren“, sondern auch für „Betrüger“ und „Versager“.

Welche Alternative (Doppelnennung, Partizip, inklusive Kategorie, abwechselnde


Geschlechternennung, etc.) in Betracht kommt, sollte gegen den damit verbundenen
linguistischen Aufwand, die Sprechbarkeit, semantische Eindeutigkeit und die grammatische
Einbettung abgewogen werden. Dabei gibt es Zweifel, ob eine einzige Alternative das
generische Maskulinum ersetzen kann oder ob in unterschiedlichen sprachlichen Kontexten
unterschiedliche Alternativen verwendet werden sollten. So mag das Wort „Lehrkräfte“ in
vielen Fällen mit gleichem Aufwand und bei gleicher semantischer Eindeutigkeit das Wort
„Lehrer“ ersetzen. Ob aber entsprechende Substitutionsbegriffe für alle generische Maskulina
vorhanden sind, sei dahingestellt.

Die bisherigen Forschungsergebnisse legen jedoch nahe, dass die symbolische Aufhebung
geschlechtsspezifischer Inhalte nicht funktioniert. Das gilt für alle Versionen, die weibliche
Wortendungen hinzufügen und gleichzeitig versuchen, diese durch nichtsprachliche Zeichen
und phonemische Unterbrechungen wieder aufzuheben. Hier summieren sich die Nachteile
der semantischen Aktivierung und des linguistischen Aufwands.

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Fritz Strack ist Professor für Psychologie an der Universität Würzburg und der Humboldt-
Universität Berlin.

Quelle: F.A.Z.

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