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GESCHICHTE

WELT AM SONNTAG NR. 32 7. AUGUST 2022 SEITE 54

„Soll doch
JEDER
etwas haben“
Um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern, kamen
Russland, Preußen und Österreich 1772 überein, Polen
aufzuteilen. Es war der machiavellistische Versuch,

I
den Ausdehnungsdrang des Zarenreichs zu kanalisieren

n Putins Krieg gegen die Ukraine ist viel Nachdem der Sachse August III. im Oktober Karikatur auf
von Geschichte die Rede. Es gehe um his- 1763 gestorben war, stand die Wahl eines neuen die Erste Teilung
torische Rechte an einem Land, das seit Königs an. Katharina schickte ihren ehemaligen Polens: Während
ewigen Zeiten ein Teil Russlands gewesen polnischen Geliebten Stanislaus August Ponia- sich die Zarin
sei, argumentiert der Kreml und weiß laut towski ins Rennen. Der konnte sich unter dem Katharina II.,
Umfragen eine große Mehrheit seiner Be- Eindruck russischer Waffen auch durchsetzen, Kaiser Joseph II.
völkerung hinter sich. Das ist nicht allein entpuppte sich dann aber als höchst eigenwillige und Friedrich
mit Propaganda zu erklären, sondern verweist Marionette: Statt bedingungslos Katharinas Inte- der Große (r.)
vielmehr auf ein tiefverwurzeltes Geschichtsbild. ressen zu dienen, machte er sich umgehend daran, ihre Anteile
Wie es entstand, wurde einmal mehr vor 250 Jah- Polen zu modernisieren. sichern, muss
ren deutlich. Ab dem 5. August 1772 begann Russ- Das wollte die Zarin nicht zulassen. Als Usurpa- Polens König
land, sich Stücke der Ukraine einzuverleiben, die torin mit ausländischem Hintergrund war es eine Stanislaus
bis dahin zu einem anderen Staat gehört hatten: Frage des politischen Überlebens, dass sie nicht August seine
Polen-Litauen. Dessen Teilungen werfen nicht nur nur von sich behauptete, eine gute Russin zu sein, Krone festhalten
ein Schlaglicht auf das rücksichtslose „Spiel der sondern dies auch mit Taten bewies. Das bedeute-
Könige“ im 18. Jahrhundert, sondern auch auf den te, dass die Positionen, die Peter der Große einst
notorischen Expansionismus des Zarenreichs. erlangt hatte, gehalten werden mussten. Zunächst
unterstützte sie daher Stanislaus August mit Sol-
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VON BERTHOLD SEEWALD daten gegen die Opposition. Gegen die Anwesen-
heit zarischer Truppen formierte sich aber 1768
Russland hatte dabei mächtige Partner. Auch die Konföderation von Bar, die einen ungemein
Preußen und Österreich erhielten ihre Anteile an blutigen Aufstand entfesselte.
einem Beutezug, den es so bis dahin noch nicht ge- Katharina entsandte weitere Soldaten, die auch
geben hatte. Ein alter Staat, der zweitgrößte Euro- im Süden Polens aktiv wurden, zu dem damals
pas, wurde einfach von der Landkarte getilgt. Weil weite Teile der Ukraine gehörten und wo sich die
man es konnte, weil es Vorteile eintrug und weil es Kosaken erhoben hatten. Dabei überschritten rus-
– so merkwürdig das heute klingt – den Frieden sische Truppen auch die Grenze zum Osmani-
zwischen den beteiligten Großmächten wahrte. schen Reich. Dessen Sultan konnte davon ausge-
Auf Kosten der Opfer, versteht sich. Wie das ge- hen, dass man in Wien keineswegs an einer Aus-
schah, gehört noch heute zu den verblüffendsten weitung der russischen Macht interessiert sei, und
Kapiteln der Diplomatiegeschichte. erklärte den Krieg. Preußen raubte Schlesien, Bayerns Dynastie lenreich genannt wurde. Ein Erbe war das Khanat Wien, Maria Theresia, hatte zwar bereits 1770 die
Neun Jahre zuvor, 1763, war Europa erschöpft Damit bekam es Katharina mit zwei Gegnern zu träumte sogar von einem Länderwechsel. Die der Krimtataren, dessen Reiterarmeen bis Ende einst von Ungarn an Polen verpfändete Grafschaft
gewesen. Der Siebenjährige Krieg – ein Weltkrieg tun, von denen einer, das Osmanische Reich, da- Durchdringung Polens seit Peter dem Großen ge- des 17. Jahrhunderts wiederholt weite Teile Russ- Zips besetzt, ohne je die Schulden beglichen zu
– hatte ungeheure Opfer gefordert. Friedrich der mals noch bis zu 600.000 Mann mobilisieren hörte in diese Kategorie, gewann aber in den riesi- lands verwüstet hatten. Inzwischen war es ein haben. Aber sie weigerte sich nach wie vor, dem
Große konnte froh sein, dass Preußen überlebt konnte und mit dem Khanat der Krimtataren am gen, menschenarmen Räumen des Ostens eine un- Protektorat der Osmanen geworden, verfügte Drängen ihres Sohnes und Mitregenten Joseph II.
hatte und es seinem Staat gelungen war, in den Schwarzen Meer über einen mächtigen Partner gleich stärkere Dynamik. Russland Drang nach Sü- aber immer noch über großen Einfluss in der nachzugeben, sich an der Zerstückelung Polens zu
Kreis der Großmächte aufzurücken. Die Habsbur- verfügte. Das aber bedeutete, dass zwei Konflikte den aber folgte anderen Motiven. Ukraine, dem „Grenzland“ zu Polen und Russland. beteiligen: „Mit welchem Recht kann man einen
gerin Maria Theresia war nahezu bankrott und mit unterschiedlichem Charakter miteinander Angetrieben vom Trauma der mehr als 200 Jah- Hier nach dem Vorbild Peters des Großen aktiv Unschuldigen berauben, den verteidigen und un-
musste sich endgültig mit dem Verlust Schlesiens verbunden wurden. Im Poker um Land und re dauernden mongolischen Herrschaft zu werden gehörte geradezu zu den Pflichten rus- terstützen zu wollen wir uns immer gerühmt ha-
abfinden. Und in Russland war mit Katharina II. Macht, den Katharina in Polen spielte, galten die (1240–1480), dem verhassten „Tatarenjoch“, hatten sischer Herrscher, hinter denen Katharina schon ben?“ Aber die Staatsräson erwies sich als stärker.
1762 eine gebürtige Deutsche an die Macht ge- Regeln des Ancien Régime: Ländergewinn gehörte Moskaus Fürsten mit dem „Sammeln der Länder aus Legitimationsgründen nicht zurücktreten
langt, indem sie ihren Mann Peter III. vom Thron zur Staatsräson. Frankreich drängte an den Rhein, der Goldenen Horde“ begonnen, wie das Mongo- konnte. Ein zweites historisches Erbstück war ih- KÖNIG VON PREUSSEN
gestoßen und hatte ermorden lassen. re Rolle als Schutzpatronin aller orthodoxen Nachdem sich Russland und Preußen schon im Fe-
Von diesen Machthabern meinten zwei, sich Gläubigen, die sich Moskau nach der Eroberung bruar 1772 auf eine Teilung verständigt hatten, un-
nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. des Byzantinischen Reiches durch die Türken an- terschrieben die drei Großmächte am 5. August
Friedrich hatte zwar das Bündnis mit Zar Peter III. gemaßt hatte. Im Osten Polens, im „Grenzland“, den „Petersburger Vertrag“. Was als „Maßregel“
1762 ein „Mirakel des Hauses Brandenburg“ be- gab es überall große Minderheiten von Glaubens- zur „Pazifizierung“ Polens verschleiert wurde,
schert, das ihm das Bestehen sicherte. Aber seine brüdern, die geschützt und wenn möglich befreit kostete das Land ein Viertel seines Staatsgebietes
vorherigen Niederlagen gegen russische Heere werden sollten. Das beförderte eine Expansions- und ein Drittel seiner Bevölkerung. Mit dem Erm-
hatten ihn darüber aufgeklärt, über welche Mög- politik, die – anders als die Teilnahme am Sieben- land und Teilen Großpolens gewann Preußen fast
lichkeiten das Riesenreich im Osten mit „seinen jährigen Krieg – in Russland populär war und bis 35.000 Quadratkilometer mit 365.000 Einwoh-
unangreifbaren Grenzen“ inzwischen verfügte. zu Katharinas Tod 1796 mit der Eroberung „Neu- nern, allerdings ohne die erhofften Städte Danzig
Daher machte er es sich zur Maxime, „ein Bündnis russlands“ zum Gewinn der Ukraine und der und Thorn. Hinzu kam ein Prestigegewinn: Ost-
mit dem unter Preußens Nachbarn zu suchen, der Krim führen sollten. preußen konnte die Lehnsabhängigkeit von Polen
dem Staat die gefährlichsten Schläge versetzen Ende der 1760er-Jahre war das aber noch Zu- abstreifen, sodass sich Friedrich von nun an König
kann“. Also mit Russland. kunftsmusik. Zwar kamen ihre Truppen gegen die von (statt in) Preußen nennen durfte. Russland
veralteten türkischen Armeen an der Südfront un- verleibte sich Livland und Teile Weißrusslands ein
KATHARINAS PUTSCH erwartet gut voran und besetzten die osmani- (84.000 Quadratkilometer mit 1,25 Millionen Ein-
Das kam der neuen Zarin entgegen. Denn ihr schen Vasallenfürstentümer Moldau und Wala- wohnern). Österreich erhielt Kleinpolen und wei-
Putsch und die Siege der russischen Armeen hat- chei. Aber ihr Siegeszug rief umgehend die übri- te Teilen Galiziens (93.900 Quadratkilometer, 2,7
ten auch in anderen Hauptstädten Besorgnis aus- gen Großmächte auf den Plan. Frankreich, der tra- Millionen Einwohner).
gelöst. Ein Zusammengehen mit dem anderen ditionelle Verbündete Polens, wurde diplomatisch Damit konnte sich Katharina als große Mehre-
Outlaw Preußen, dessen König sie einst als Gattin aktiv. Österreich schloss mit dem Sultan sogar ei- rin ihres Reiches präsentieren, zumal ihre Trup-
des Zarewitsch nach St. Petersburg empfohlen nen Bündnisvertrag. pen gegen die Osmanen weiterhin erfolgreich wa-
hatte, war also naheliegend, zumal Ende 1763 die So kam alles auf den König von Preußen an. ren. Hof und Adel lieferte sie Balsam gegen das la-
polnische Frage für sie akut wurde. Auch Friedrich der Große war bestrebt, „den Un- tente Minderwertigkeitsgefühl, nur ein unzivili-
Seit dem Sieg Peters des Großen im Großen ternehmungen Russlands Einhalt zu bieten“, wie siertes Land im Osten Europas zu sein. 23 Jahre
Nordischen Krieg (1700–1721) gegen Schweden er in seinem Politischen Testament schrieb. Doch später, nach der endgültigen Auslöschung Polens
war Polen zu einer Art Protektorat Russlands ge- Zweite und Dritte Teilung Polens fand er einen Weg, dies „wegen der Schwäche 1795 (siehe Kasten), konnte niemand mehr sagen,
worden. Die sächsischen Kurfürsten, die mit riesi- Preußens“ ohne einen großen Krieg zu tun: Er un- dass Russland nicht dazugehören würde.
gen Bestechungssummen die polnische Königs- Nachdem die Großmächte Polens Zustim- Thorn, Großpolen und Westmasowien, wäh- terbreitete Katharina den Vorschlag, auf Moldau Zur Erklärung dieser enormen militärischen
krone erworben hatten, waren weder willens mung zur Ersten Teilung mit Waffengewalt rend sie sich Minsk und die westufrige Ukrai- und Walachei zu verzichten und sich stattdessen Leistung hat der Historiker Manfred Hildermeier
noch in der Lage gewesen, an den inneren Struk- erzwungen hatten, trieb Stanislaus August ne sicherte. Kaiser Franz II. blieb dieser Zwei- an polnischen Gebieten gütig zu tun. Zur Festi- in seiner großen „Geschichte Russlands“ nur „eine
turen der Adelsrepublik etwas zu ändern. Mit ei- seine Reformen voran. 1791 erhielt das Land ten Teilung vom 12. Januar 1793 fern, weil gung des Bündnisses würde Preußen dieses Unter- Ursache“ gefunden: „Die unerschöpfliche Belast-
nem Anteil von etwa zehn Prozent der Gesamtbe- die erste schriftliche Verfassung Europas. Truppen des revolutionären Frankreich in die nehmen unterstützen, indem es sich Westpreu- barkeit der bäuerlichen Soldaten und die ähnlich
völkerung war Polens Adel der größte in Europa. Zugleich intensivierte das Zarenreich seine österreichische Niederlande eingefallen wa- ßens bemächtigte. Damit würden die Hohenzol- ausgeprägte Anpassungsfähigkeit der Regierung
Magnaten verfügten über Hunderttausende Un- Expansion nach Süden, zunächst gedeckt ren. Um einen neuen polnischen Aufstand lern endlich die so lang begehrte Landbrücke zu und der Bevölkerung an die Erfordernisse perma-
tertanen, deren Lebenswirklichkeit sich kaum durch ein Bündnis mit Österreich. Dem russi- niederzuschlagen, verständigten sich St. ihrem Stammland in Ostpreußen gewinnen. nenter Kriege.“ Ein wichtiger Merksatz – nicht zu-
vom niederen Adel unterschied. Aber dessen An- schen Eroberungszug stellten sich England Petersburg und Wien Anfang 1795 auf eine Zwar hatte Katharina 1768 Polen erst vertrag- letzt für die Gegenwart.
gehörige konnten im Sejm (Parlament) auch vom und Preußen entgegen, das 1790 mit dem weitere Intervention, was am 13. Oktober mit lich die Wahrung seiner Integrität zugesichert, be-
„Liberum Veto“ Gebrauch machen und damit alle Habsburgerreich die Konvention von Reichen- Preußen zur Dritten Teilung führte und sann sich aber angesichts der drohenden Signale T Neue Geschichten aus der
Entscheidungen blockieren. Denn im Sejm galt bach abschloss. Um ihre Isolation zu durch- Russland Litauen und Weißrussland bis zum der Rivalen eines anderen: „Soll doch jeder etwas Geschichte lesen Sie täglich auf:
das Prinzip der Einstimmigkeit. brechen, bot Katharina II. Preußen Danzig, Bug sicherte. Polen existierte nicht mehr. von Polen haben.“ Ihre kaiserliche Kollegin in www.welt.de/geschichte

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