Theaterkritik Nadine Schneider

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Theaterkritik: Tot sind wir nicht

Theaterbesuch: 17.12.2022

Tot sind wir nicht… aber sterben müssen wir alle einmal. Von diesem unausgesprochenen Gesetz
lebt die Besta ungsindustrie, die in dem Stück „Tot sind wir nicht“ am Stad heater Konstanz eine
prominente Rolle einnimmt. Den Fragen, wie und ob sich der Tod hinauszögern lässt, wo es sich am
Besten alt werden lässt und welche Form der Besta ung angemessen ist, wird dabei auf den Grund
gegangen. Auf skurrile Art und Weise, mit einer Prise Humor versehen, wird eines der größten
Tabuthemen überhaupt - der Tod - überzeugend auf die Bühne gebracht.

Im Zentrum der Geschichte stehen die beiden älteren Damen Ute K. und Beate, gespielt von Sabine
Mar n und Angelika Bartsch. Gemeinsam träumen sie davon, ihren Lebensabend auf der
japanischen Insel Okinawa zu verbringen, wo die Menschen alle weit über 100 Jahre alt werden.
Was die beiden noch davon abhält, sich in den nächsten Flieger nach Japan zu setzen? Da wären
zwei Probleme. Zum einen ist da Ute K.’s todkranker Mann Willy, der noch bei ihr Zuhause auf dem
Wohnzimmersessel in den Fernseher starrt. Zum anderen gibt es da noch ein nanzielles Problem.
Einmal nach Japan auswandern lässt sich schließlich nicht von heute auf morgen nanzieren. So
kommt es, dass die beiden sich wie so o in einer dunklen Nacht an einer Straßenecke tre en. Die
beiden Gangster Omis verdienen sich nämlich dank der Medikamente des kranken Willy, die sie
heimlich Nachts ver cken, eine goldene Nase. Eine Erzählers mme aus dem O erklärt, dass Ute K.
und Beate sich körperlich näher kommen, dass sie mehr als nur eine platonische Freundscha
führen. Zu sehen ist davon auf der Bühne nichts. Die beiden Figuren stehen nebeneinander - auf
Distanz. Das Nicht-Ausführen von verbalisierten Handlungen ist ein S lmi el, das zunächst
ungewöhnlich erscheint, sich jedoch durch seine konstante Wiederholung im Laufe des Stücks zu
einer großen Selbstverständlichkeit entwickelt.

Zurück zu Ute K. und Beate, die für die ersten Minuten des Stücks in einem dunklen orangenen,
fast braunen Licht etwas undeutlich zu erkennen sind. Fast haben sie das Geld für ihr Vorhaben
schon zusammen. Fast. Wäre da nicht die Sache mit Willy, der überraschenderweise auf seinem
Sessel gestorben ist. Mit Willy s rbt die Quelle zu den Rezepten der Medikamente und somit die
einzige Geldquelle der beiden Damen. Doch schlimmer noch, ein toter Ehemann bringt eine ganze
Reihe neuer Probleme mit sich. Zum einen muss dieser erst einmal unter die Erde gebracht werden
- und das kostet Geld. Zum anderen wäre da noch die Gefühlswelt von Ute K., die plötzlich auf
Distanz zu Beate geht. Und da ist Beate, die sich insgeheim schon lange auf den Tag gefreut hat, an
dem sie Ute K. Ganz für sich alleine hat und gemeinsam mit ihr bis an ihr Lebensende glücklich
wird.

Auf der Suche nach einer möglichst kostengüns gen Beerdigung landen Ute K. und Beate
schließlich beim Besta ungsins tut „DEATH Death & Sons“. Innerhalb des Familienunternehmens,
bestehend aus Vater und Sohn, herrschen allerdings grundlegende Meinungsverschiedenheiten
zum Thema Besta ung. Während Vater Piotr Nagel, gespielt von Odo Jergitsch, Vertreter einer
konven onellen Besta ung auf einem Friedhof ist, hat Sohn Jason (der sich selbst nicht ganz sicher
ist, ob man seinen Namen lieber auf Englisch oder Deutsch aussprechen soll) ganz eigene Ideen,
wie er das Besta ungsbusiness revolu onieren möchte. Für Jason, gespielt von Dominik Puhl, ist
klar: nichts ist so sicher wie der Tod. Gestorben wird immer. Wäre da nicht seine seit
Kindheitstagen größte Konkurren n Franka, gespielt von Kris na Lo a Kahlert, die fest daran
glaubt, mit ihrer Forschung schon bald den Tod abscha en zu können. Das Stück macht eine
Diskussion über Themen wie das Geschä mit dem Tod, Sozialbesta ungen, Friedhofszwang in
Deutschland und letztendlich die in uns allen schlummernde Sehnsucht nach Unsterblichkeit auf.
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Am Ende des Stücks hat Jason es tatsächlich gescha , seine revolu onäre Besta ungsmethode in
die Tat umzusetzen. Eine individualisierte Besta ung, die genau auf den verstorbenen Menschen
eingeht. Oder wie in Willys Fall: Wenn das Leben schon kein aufregendes war, dann doch
wenigstens der Tod. So ndet in den letzten Minuten des Stücks eine Hommage an den Film „Free
Willy“ sta . Ein Wal, in dem sich der verstorbene Willy be ndet, wird langsam abgeseilt. Eine
Sprechers mme informiert währenddessen ste g über den Fortschri : „Wal auf 5 Meter“.
Während der Wal so langsam imaginär die Bühne hinabgelassen wird - wieder passiert das alles
nur in der Fantasie des Betrachters - klären die Figuren ihr Verhältnis zueinander.

Die Gestaltung des Stücks ist, genauso wie die ausgeführten Handlungen der Figuren, auf das
Wesentliche reduziert. Janna Keltsch, die für das Bühnen- und Kostümbild verantwortlich war,
scha mit zwei rollbaren Holzelementen einen unendlich exibles Bühnenbild. Die beiden ca. 2,50
Meter hohen Elemente sind s-förmig geschwungen und mit ver kalen Holzlamellen verkleidet,
durch die hindurchgeschaut werden kann. Durch das Verschieben der Elemente ist es möglich,
verschiedenste Räumlichkeiten von Ute K.’s Wohnung, über das Besta ungsins tut, bis hin zur
ehemaligen Schule von Jason und Franka darzustellen. Die Kostüme sind in Erd- und Grüntönen
gehalten und haben einen klassischen zeitlosen Look. Die beiden Damen tragen lange Mäntel,
Franka und Piotr einen Blazer.

Tot sind wir nicht entpuppt sich als sehr experimentelles, außergewöhnliches Stück. Es verlangt,
ihm eine gewisse Gewöhnungszeit zu geben, um mit seinen S lmi eln vertraut zu werden. Doch
wer sich einmal auf die Geschichte einlässt, dem wird alles andere als langweilig sein. Mit
unerwarteten Wendungen überrascht die Geschichte bis zuletzt. Besonders eine Tanzszene gegen
Ende des Stücks ndet ganz unerwartet sta und lässt die gesamte Inszenierung noch ein Stück
skurriler wirken. Das Publikum wird mit jeder Menge Themen für hitzige Deba en wieder
entlassen. So kann man sich mit der Frage auseinandersetzen, wie man selbst am Liebsten
besta et werden würde oder welche Besta ungskonzepte zukun sfähig sind. Spekuliert werden
kann außerdem, warum Ute K. samt Nachnamen benannt wird und Beate ohne. Auch zeigt das
Stück auf ganz beiläu ge Weise, dass das Au lühen einer Liebesbeziehung in keinem Alter zu spät
ist. Allgemein ist durch die selbstverständliche Darstellung einer gleichgeschlechtlichen Beziehung
ein weiterer Schri getan, um für die Akzeptanz und Gleichbehandlung von LGBTQIA+ Personen zu
kämpfen. Tot sind wir nicht löst genau das ein, was der Titel prophezeit: Quietschlebendige
Figuren, die alle auf verschiedene Art und Weise mit dem Thema Tod umgehen.

Nadine Schneider
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Theaterkri k: Die wilde Sophie
Theaterbesuch: 20.11.2022

Es war einmal… ein junges Mädchen namens Sophie und ein junger Prinz namens Jan, die im
selben Königreich, dem Zipfelland lebten. Bis dahin der Beginn einer märchenhaften
Liebesgeschichte… Doch in der Inszenierung „Die wilde Sophie“ am Stadttheater Konstanz geht
so einiges im Königreich ganz und gar nicht märchenhaft zu.

Denn was passiert, wenn die Liebe und die Sorge um das eigene Kind so groß wird, dass sie
erdrückend und einschränkend wirkt? Wenn ein Kind komplett in Watte gepackt wird und jeder
Schritt überwacht wird, dann sprechen wir heutzutage von den bösen „Helikoptereltern“. Wenn
jedoch ein König seinen Untertanen anordnet, ihr Kind auf jedem seiner Schritte abzusichern,
dann wird klar, dass das Phänomen von überbesorgten Eltern ein zeitloses ist. Manchmal muss
eben nicht die Prinzessin aus ihrem einsamen Turm, sondern der Prinz, gerettet werden! Denn wer
sagt schon, dass der Held in einem Märchen nicht auch eine Heldin sein kann?

Als alleinerziehender Vater hat König Ferdinand, der nebenbei noch ganz Zipfelland regieren
muss, alle Hände voll zu tun. Seit der Geburt seines Sohnes Prinz Jan nimmt er seine
Verantwortung gegenüber Jan sehr Ernst und tut alles in seiner Macht stehende, um Jan zu
beschützen. Ein Spaziergang außerhalb der Burgmauern? Zu gefährlich. Laufen an sich stellt ja
schon eine Gefahr dar, weshalb der Prinz gerne einmal mit Schutzfolie und Helm versehen wird
und zur Sicherheit lieber von den Untertanen getragen werden soll. Ganz unvorstellbar, welch
andere Gefahren noch in der Außenwelt drohen… angefangen bei Keimen, Insekten, möglichen
Allergien, bösen Menschen. Doch auch innerhalb der Burgmauern ist Prinz Jan de nitiv nicht
sicher. Was, wenn er sich an einem Stück seines Abendessens verschluckt? Da soll die Köchin
zur Sicherheit doch lieber gleich alles schön fein pürieren. Selbst gewisse Buchstaben sind schon
als Gefährdung der Sicherheit einzustufen. Das große E erinnert durchaus an einen spitzen
Dreizack. Klar, dass ganz Zipfelland deshalb das Verbot ausgesprochen bekommt, den
Buchstaben auszusprechen…

Ganz anders wächst Sophie, die Tochter des königlichen Zwetschgenkompottlieferanten, auf. Sie
rennt wie ein kleiner Wildfang durch die Gegend und ist mit einer guten Portion Frechheit und
Euphorie ausgestattet. Direkt zu Beginn des Stückes stört sie mit einer kleinen Verfolgungsjagd
durch das Publikum das Geschehen, bevor sie sich schließlich über dem Parkett schaukelnd auf
der Bühne präsentiert. Als Sophie erfährt, unter welchen Umständen Jan hinter den Burgmauern,
versteckt vor ganz Zipfelland, leben muss, beschließt sie, ihn aus dieser Situation zu befreien.
Durch eine versteckte Botschaft bringt sie ihn dazu, sich Nachts heimlich aus seinem bewachten
Schlafzimmer zu schleichen. Schnell stellt sich heraus, dass der Prinz sich dabei durchaus sehr
geschickt anstellt. Als er auf Sophie tri t, beginnt ein aufregendes Abenteuer für die beiden.

Auch wenn Prinz Jans Sozialkompetenz noch ausbaufähig ist, verstehen sich die beiden
blendend. Sophie zeigt ihm all die schönen Dinge, die das Leben außerhalb der Burgmauern mit
sich bringt. Beim Kirschenessen lernt Jan, dass man manchmal auch Gefahren eingehen muss,
um Spaß im Leben zu haben. So kann man sich natürlich ausversehen an einem Kirschkern
verschlucken, aber man kann auch ein Kirschkernweitspucken veranstalten.

Während Jan sein Leben in Freiheit genießt, macht sich König Ferdinand natürlich große Sorgen
um seinen Sohn. Seinen Frust stillt er durch das ganze Stück hindurch stets mit einem Glas
seines Lieblingszwetschgenkompott. Nach einer langen Suchaktion gelingt es ihm schließlich, Jan
wieder in die Arme zu schließen. Doch auch er muss lernen, dass Jan schon lange kein kleiner
zerbrechlicher Säugling mehr ist, sondern auf dem besten Weg dabei ist, Erwachsen zu werden.
Jeder Mensch braucht etwas Freiheit, um sich entfalten zu können und jede Form der Liebe
braucht etwas Luft zum Atmen. Sophie und Jan haben es gemeinsam gescha t, das toxische
Umfeld innerhalb der Burg hinter sich zu lassen und dem König und seinen Untertanen die Augen
zu ö nen. Die wilde Sophie stellt wie ein kleiner Wirbelwind das ganze System innerhalb des
Königshauses auf den Kopf.

Mit viel Witz und einer ebenso skurrilen Requisite und Kostüm scha t es das Stück Die wilde
Sophie, das Publikum von jung bis alt gleichermaßen zu begeistern. Luise Harder glänzt in
Latzhose und Ringelshirt als kleine rebellische Aktivistin Sophie. Den unbeholfenen und anfangs
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leicht autistisch wirkenden Jan, der von Bühnen- und Kostümbildnerin Annegret Riediger mit
einem Sternenpyjama angekleidet wurde, spielt Miguel Jachmann mit großer Überzeugung.
Thomas Fritz Jung verkörpert den mit dicken Bühnenbauch verkleideten König Ferdinand
besonders amüsant. Auch die Untertanen Zipfellands sorgen durch das ganze Stück hindurch
immer wieder für lustige Momente. In ihrem außergewöhnlichen Kostüm bleibt vor allem die
königliche Köchin Marie, gespielt von Jana Alexia Rödiger, im Gedächtnis. Riediger hat ihr eine
tragbare Küche in Form eines Reifrocks um die Taille geschnallt. Aus dieser wird nicht nur Essen
serviert, sondern sie eignet sich auch hervorragend als Versteck für die kleine Sophie.

Das Bühnenbild wird maßgeblich durch einen weißen Burgturm aus Styroporbausteinen geprägt,
der sich auf einer Drehbühne be ndet. Innerhalb der Burg be ndet sich ein Metallgerüst, auf das
die Darsteller während des Stücks hochklettern können. Mittig des Turms be ndet sich noch die
(E)iche, in der sich Sophie und Jan verstecken, als der König vergeblich nach ihnen sucht.
Besonders skurril ist das Schlafzimmer des Prinzen ausgestattet, das durch ein vertikal
aufgestelltes Bett symbolisiert wird. Mit Löchern für Kopf und Arme ausgestattet, schaut Prinz Jan
dort hil os aus dem für den Kopf vorgesehenen Loch, wenn er einmal wieder das Bett nicht
verlassen darf, weil er ja potenziell krank sein könnte und sich erholen muss…

Das unter der Regie von Grit Lukas inszenierte Stück scha t es mit originellem Witz und
Requisiten einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Groß und klein werden gleichermaßen bei
Sophies Vorhaben mit ebern und auf ein Happy End ho en. Das Märchen mit einem modernen
Twist entlässt das Publikum mit einem guten Gefühl nach Hause, ohne dabei das nötige Maß an
Kritik an unserer kontrollwahnsinnigen Gesellschaft zu kurz kommen zu lassen. Eltern sollten ihren
Kindern viel mehr zutrauen und etwas gelassener mit der Abenteuerlust und Neugier ihrer Kinder
umgehen, anstatt direkt alles zu verbieten.

Nadine Schneider
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