Blick über den Tellerrand

J. Gynäkol. Endokrinol. CH 2022 · 25:210–213 Eveline Breidenstein

https://doi.org/10.1007/s41975-022-00254-y MedVita Praxis GmbH, Obfelden, Schweiz
Angenommen: 4. Mai 2022
Online publiziert: 23. Mai 2022
© The Author(s), under exclusive licence to
Springer-Verlag GmbH Austria, ein Teil von
Springer Nature 2022
ADHS bei Frauen, spezifische
Auswirkung von Hormonen und
Menstruationszyklus

ADHS im Allgemeinen Wahl ist Methylphenidat, ein Stimulans thyreoidismus, Vitaminmangelzustän-

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperakti-
vitäts-Störung (ADHS) ist eine geneti-
sche Disposition, die durch Veränderun-
gen in der Dopamin- und Noradrena-
linproduktion im Gehirn (Frontalhirn
& frontostriatale Verbindungen) zu Ver-
änderungen im Bereich der exekutiven
Funktionen führt. Dazu gehören die
Aufmerksamkeitsleistung, Schwierigkei-
ten bei der Planung, Strukturierung,
Selbstorganisation sowie dem Zeit- und
Finanzmanagement. Hinzu kommen
mögliche Veränderungen der motori-
schen Aktivität, der Impulskontrolle, der
Emotionskontrolle. International gibt
es zwei Klassifikationssysteme: Entwe-
der spricht man gemäss amerikanischer
Klassifikation DSM-5 (Diagnostic and
Statistical Manual of Mental Disorders)
von „attention deficit hyperactivity disor-
der“ (ADHD); dort können problemlos
auch ADHS vom rein unaufmerksamen
Typ ohne Hyperaktivität diagnostiziert
werden, was v.a. für die Diagnostik von
Frauen wichtig ist, da Frauen häufig we-
niger sichtbare Hyperaktivität zeigen. In
der internationalen Klassifikation ICD-
10 spricht man von ADHS („einfacher
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstö-
rung“), wobei ein gewisses Mass an
Hyperaktivität gefordert wird. Damit
werden Personen, insbesondere Frauen,
welche keine Zeichen von Hyperaktivi-
tät zeigen, weder eine ADHS-Diagnose
erhalten noch eine angemessene Be-
handlung.
Die ADHS-Behandlung erfolgt mul-
timodal, d. h. neben der psychothe-
rapeutischen Unterstützung auch mit
Medikamenten. Die Substanz der ersten
®
(z. B. Ritalin ). Medikamente der zwei-
ten Wahl sind Dexamphetamin oder
Atomoxetin. Weitere Medikamente, wie
z. B. Antidepressiva mit noradrener-
gem Effekt (Bupropion oder Duloxetin),
können ebenfalls hilfreich sein.
Neben den von Heinrich Hoffmann
bereits 1844 beschriebenen „Zappelphil-
ipp“ und „Hanns-Guck-in die-Luft“ gibt
es Betroffene mit milderen Ausprägun-
gen, die dank vermehrtem Kraftaufwand
ihre Symptomatik lange Zeit kompensie-
ren können und erst bei anspruchsvollen
lebensgeschichtlichen Übergängen (z. B.
Pubertät, Menopause, Doppelbelastung
von Beruf und Familie) dekompensieren.
Diese Patienten präsentieren sich mit Er-
schöpfungszuständenoderBurn-outund
nicht mit der zugrunde liegenden klas-
sischen ADHS-Symptomatik (. Abb. 1).
Deshalb gehört zur sorgfältigen psy-
chiatrischen Abklärung eines scheinbar
rein depressiven Zustandsbilds neben
dem Ausschluss organischer Ursachen
der Erschöpfung (Schilddrüsenhormon-
und Kortisoldysfunktionen, Hyperpara-
Konzentration
Flüchtigkeitsfehler, Ausdauer
vergesslich, sich nicht
organisieren
Aufmerksamkeit Ablenkbarkeit,
Tagträumen
Impulsivität reinplatzen,
nicht warten
Hyperaktivität immer in
Bewegung
de) auch ein ADHS-Screening.
Dazu hilft Nichtpsychiatern der Scree-
ningtest der WHO (. Abb. 2).
Eisen und Dopamin
Die Dopaminsynthese ist eisenabhängig,
da Eisen ein Co-Faktor der Tyrosinhy-
droxylase ist (Umwandlung von Tyrosin
zu L-Dopa, der Vorstufe von Dopamin);
die Ferritinspiegel sollten also bei allen
ADHS-Betroffenen im oberen Normal-
bereich liegen (mind. 50 μg/l) und nicht
dem häufig tieferen Frauenwert entspre-
chen.
Hormone und Dopamin
Östrogen und Progesteron stehen in
Wechselwirkung mit Dopamin und Se-
rotonin: Sie modulieren die Synthese,
Ausschüttung, Rezeptorbindung und
die Wiederaufnahme von Dopamin und
Serotonin. Der ganze Mechanismus ist
komplex: Östrogen wirkt grundsätzlich
sdauer p
Abb. 1 9 Sympto-
me der ADHS

210 Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz 4 · 2022

 Screening-Test mit Selbstbeurteilungs-Skala für
Erwachsene V1.1 (ASRS-V1.1)
von WHO Composite International Diagnostic Interview
(Internationale Diagnostische Befragung der Weltgesundheitsorganisation)

Datum
Markieren Sie das Kästchen, das am besten beschreibt, wie Sie sich in den

Manchmal
letzten 6 Monaten gefühlt und sich benommen haben. Geben Sie bitte beim

Niemals

Sehr oft
nächsten Arzttermin den ausgefüllten Fragebogen der medizinischen

Selten
Fachkraft, um die Ergebnisse zu besprechen.

Oft
1. Wie oft haben Sie Probleme, die letzten Feinheiten einer Arbeit zum
Abschluss zu bringen, nachdem Sie die wesentlichen Punkte erledigt
haben?

2. Wie oft fällt es Ihnen schwer, Dinge in die Reihe zu bekommen, wenn
Sie an einer Aufgabe arbeiten, bei der Organisation gefragt ist?

3. Wie oft haben Sie Probleme, sich an Termine oder Verabredungen zu

erinnern?

4. Wie oft vermeiden Sie oder verzögern Sie, die Aufgabe zu beginnen,
wenn Sie vor einer Aufgabe stehen, bei der sehr viel Denkvermögen
gefragt ist?

5. Wie oft sind Ihre Hände bzw. Füße bei langem Sitzen in Bewegung?
6. Wie oft fühlen Sie sich übermäßig aktiv und verspüren den Drang Dinge
zu tun, als ob Sie von einem Motor angetrieben würden?
Abb. 2 9 Screeningtest
Zählen Sie die Anzahl der Häkchen zusammen, die im dunklen Bereich erscheinen. Mindestens vier (4)
mit Selbstbeurteilungs-
Häkchen deuten darauf hin, dass Ihre Symptome der Erwachsenen-ADHS entsprechen. Es könnte für Sie Skala für Erwachsene V1.1
von Nutzen sein, mit Ihrem Arzt über eine Beurteilung zu sprechen. (ASRS-V1.1). Aus [1] Copy-
right © World Health Or-
ganization 2003

aktivierend und steigert die kognitive
Leistungsfähigkeit.
Fallstudien lassen vermuten, dass sich
ADHS-Symptome in der Woche vor der
Menstruation (während eines Rückgangs
von Östrogen und Progesteron; [2]) ver-
schlimmern und während der Schwan-
gerschaft (während eines Anstiegs von
Östrogen und Progesteron; [3]) verbes-
sern können, aber es fehlt an empirischen
Arbeiten. Einzig in der Studie von Ro-
berts wurden die Effekte der Hormon-
spiegel auf die ADHS-Symptomatik un-
tersucht [4].
Zusammenstellung detaillierter
Effekte der Hormone auf die
kognitive Leistungsfähigkeit
gemäss Roberts [4]
Höhere Östradiol(E2)- und Progeste-
ron(P4)-Spiegel wurden allgemein mit
einer verbesserten Exekutivfunktion
(EF) und Aufmerksamkeit in Verbin-
dung gebracht (z. B. [5]), die sich in
Zyklusphasen mit erhöhtem E2 und P4
zu verbessern scheinen [6–14]. Darü-
ber hinaus scheinen sich die verbale
Geläufigkeit, das verbale Lernen und
das Gedächtnis bei Frauen durch die
Verabreichung von Testosteron (T) zu
verbessern [15, 16], während die Leis-
tung der Reaktionshemmung abnimmt
[17], also zu mehr Impulsivität führt.
Postovulatorisch (tiefe E2-Werte bei
gleichzeitig hohen P4- oder Testosteron-
werten) treten mehr ADHS-Symptome
im Sinne verminderter Impulsinhibition
[4, 18–20] oder auch vermehrter Unauf-
merksamkeit auf [4].
Besonders Frauen mit sehr tiefen
Dopaminspiegeln (sichtbar auch an aus-
geprägtem Sensation-seeking-Verhal-
ten) neigen zu noch mehr Impulsivität
postovulatorisch und zu mehr Unauf-
merksamkeit am Anfang des Zyklus
[4].
Erhöhtes oder steigendes Progeste-
ron (P4) erhöht die Aufmerksamkeit
für soziale Reize, die für die soziale
Zugehörigkeit bei Frauen relevant sind
[21], während erhöhtes oder steigen-
des Testosteron die Aufmerksamkeit für
soziale Dominanzmöglichkeiten erleich-
tert [22–24]. Es ist also möglich, dass
erhöhte P4- oder Testosteronwerte die
Voraussetzungen für eine Anfälligkeit
für Ablenkungen durch die (soziale)
Umwelt und Gelegenheiten für impul-
sives Verhalten schaffen und dass ein
gleichzeitiger Abfall von E2 und die
damit verbundene Verringerung der EF
das Risiko für Symptome weiter erhöht.
Dies könnte dazu führen, dass die Wahr-
scheinlichkeit einer wahllosen Paarung
und einer Empfängnis durch eine Zu-
nahme des impulsiven Verhaltens kurz
nach dem Eisprung steigt.
Medikation entsprechend der
Lebensphase
In der fertilen Phase spielen die zykli-
schen Hormonveränderungen bei Frau-
en – wie aus den vorhergehenden Ab-

Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz 4 · 2022 211

 Blick über den Tellerrand

Tab. 1 Auswirkung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung) bei Frauen in ihren Lebensphasen

Direkte Auswirkung bei Frauen mit ADHS Weitere Auswirkungen
Menarche Starkes/verlängertes prämenstruelles Syndrom –
Starke Stimmungsschwankungen
Adoleszenz Wenig vorausschauend Frühe sexuelle Aktivität, frühe Schwangerschaften,
Höheren Kick suchend/Gefahr wird in Kauf genommen „sexually transmitted disease“ (STD)
Schlechtere Einschätzung der Gefühle anderer Kurze Beziehungen, häufiger sexueller Gewalt ausge-
setzt
Schwangerschaft Weniger ADHS-Symptome (Viele Schwangerschaften, da angenehmer Zustand)
Weniger Schwankungen
Kinderphase Postpartale Hormonschwankungen stärker Gefahr der postpartalen Depression oder des Burn-
Wegen Kindern stark gefordert (Schlafmangel, Doppelbelastung), outs bei Müttern von Kleinkindern
Überforderung körperlich
Menopause Mehr ADHS-Symptome Schlechte kognitive Funktion

schnitten ersichtlich – eine wichtige Rolle
bei der Behandlung der ADHS-Medika-
tion.
Bezüglich der Dosierung der Medika-
mente heisst das: Vom 10. bis 21. Zyklus-
tag sind oft weniger Stimulanzien nötig
als in der perimenstruellen Zeit.
Geeignet zur Behandlung der zykli-
schen Leistungsschwankungen sind prä-
menopausal Hormonapplikationen mit
weniger Schwankungen: Pillenlangzeit-
zyklen; wenn zyklische Gabe, dann Hor-
monring; oder ein reines Gestagen als
Minipille oder evtl. transdermal bei prä-
menstruellem Syndrom.
Perimenopausal müssen bei sinken-
den Östrogenspiegeln allenfalls die Sti-
mulanzien angepasst werden. Das Füh-
ren eines Tagebuchs unter Berücksich-
tigung von Wallungen, Schlafstörungen
und Aufmerksamkeitsleistungen kann
bei der Anpassung der Dosierung helfen.
Um postmenopausal weniger Schwan-
kungen der Leistungsfähigkeit zu pro-
vozieren, sollte der Hormonersatz eher
kontinuierlich als zyklisch erfolgen (ori-
entierend an den postmenopausalen
Symptomen). Die Richtlinien der gän-
gigen Hormonersatztherapie (altersge-
mässer Einsatz im „window of opportu-
nity“; kombinierte Östrogen-Gestagen-
Therapie bei erhaltenem Uterus; nach
Möglichkeit transdermal statt oral usw.)
gelten auch für ADHS-Frauen.
Allenfalls braucht es zusätzlich zur
Hormonersatztherapie neu auch Stimu-
lanzien bzw. eine Anpassung der Sti-
mulanziendosierung zum Ausgleich der
kognitiven Einbussen durch den Wegfall
der Geschlechtshormone.
Spezielle Lebensphasen bei Frauen
mit ADHS
ADHS-Frauen sind meist grundsätzlich
empfindlicher auf jegliche Einflüsse von
aussen wie auch des Körperinnern; die
Kombination von Schwankungen der
Geschlechtshormone bei ihrem ADHS-
bedingt tiefen Dopamingrundhaushalt
macht sie zusätzlich vulnerabel in be-
stimmten lebensgeschichtlichen Phasen
(. Tab. 1).
Zusammenfassung
Wichtig sind Kenntnisse der Zusam-
menhänge zwischen Geschlechtshor-
monveränderungen und kognitiver Leis-
tungsfähigkeit besonders bei von ADHS
betroffenen Frauen. Damit kann die
ärztliche Fachperson bei ADHS-Pati-
entinnen dank aktivem Erfragen der
verschiedensten Symptome (z. B. von
prämenstrueller Dysphorie, Wallungen,
Schlafstörungen bis zu Ablenkbarkeit
oder Merkfähigkeitsstörung) zusammen
mit der betroffenen Frau die jeweils op-
timale Unterstützung finden. Diese ist
von Frau zu Frau unterschiedlich, psy-
chotherapeutisch-unterstützend und/
oder medikamentös mit Stimulanzien,
Antidepressiva und/oder Hormonbe-
handlung.
Korrespondenzadresse
Dr. med.
Eveline Breidenstein
MedVita Praxis GmbH
Ottenbacherstr. 6,
8912 Obfelden, Schweiz
ebreidenstein@hin.ch
Dr. med. Eveline Breidenstein Allg. Innere Medizin
FMH. Vorstandsmitglied Schweizer Fachgesellschaft
ADHS sfg-adhs.
Danksagung. Die Autorin dankt Frau Prof. Domi-
nique Eich-Höchli für ihre wertvollen Hinweise zum
Manuskript.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. E. Breidenstein gibt an, dass kein
Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von der Autorin keine
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.
Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort
angegebenen ethischen Richtlinien.
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