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Spektrum | Salutogenese

Körperarbeit als Zugang


zum ganzen Menschen
Theodor Dierk Petzold

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Angesichts der Zunahme langwieriger Erkrankungen, insbesondere im Zusammenhang mit
Stress, wird die Frage danach, was nachhaltig heilt, immer wichtiger. Ein ganzheitliches
Verstehen der gesunden Selbstregulation als Regulation in Kooperation, hier insbesondere
in einer therapeutischen Kooperation, kann darauf Antworten liefern.

findet er wieder den Kontakt zu seinem Soll-Zustand von


Was heilt? gelöster Muskulatur und von emotionaler Gelassenheit
Ist es eine bestimmte, auf ein Symptom abgestimmte und kann sich während der Behandlung entspannen. Im
Intervention, die heilt, ein gezielt verabreichtes Medika- nächsten Schritt kann er dann selbst durch achtsamere
ment oder die liebevolle Zuwendung? Oder was heilt Bewegung und Loslassen immer wieder zu einer ange-
eigentlich? Angesichts steigender Zahlen chronischer Er- nehm leichten Beweglichkeit kommen. Bei guter Ausbil-
krankungen und teurer jahrelanger anatomischer, phy- dung und Erfahrung kennt der Therapeut die dynamisch
siologischer und pharmakologischer Lernübungen heilenden Zusammenhänge seiner Patienten und kann
scheint die Frage danach, was heilt, besonders folgen- (relativ) gezielt die Selbstregulation anregen und fördern.
reich zu sein – für alle Menschen und v. a. für Therapeu- Solange er diese im Blick hat, versteht er sein Handwerk
ten. Nicht nur Placebo-Wirkungen legen nahe, zwischen ganzheitlich systemisch und salutogenetisch [3].
ganzheitlichen bzw. mehr oder weniger unspezifischen
Ansätzen und Wirkungen und symptom- bzw. organbe- Bei organorientierten „spezifischen“ Interventionen
zogenen spezifischen zu unterscheiden, sondern diese hingegen hat der Therapeut nur das Symptom bzw. die
Unterscheidung hilft auch, therapeutische Ansätze und Krankheit pathogenetisch im Blick, wie z. B. normalerwei-
Wirkungen differenzierter zu betrachten und zu verste- se ein Chirurg bei einer Operation oder ein Facharzt bei
hen. der Verordnung von Medikamenten zur Bekämpfung
von Symptomen und Krankheiten.
Der ganzheitliche Ansatz geht davon aus, die Selbstregu-
lation des Organismus anzuregen. Dabei kann dem Pa- Ein ganzheitlich systemischer Ansatz auf der Grundlage
tienten Energie z. B. in Form von Wärme oder Nahrung von Erkenntnissen der Chaosforschung, Entwicklungs-
zugeführt oder Information [1] mehr oder weniger stoff- psychologie und Neurowissenschaften führt uns zu
gebunden, z. B. als Beratung, Punktmassage oder in Form einem neuen Verständnis auch von A. T. Stills Anweisung
von homöopathischen oder anderen Arzneimitteln, ver- für Osteopathen: „Der Arzt soll die Gesundheit finden,
mittelt werden. Davon ausgehend, dass der Gesamtorga- Krankheit kann jeder finden.“ [4] Gesundheit können wir
nismus ein inneres Wissen und ein Streben nach Stim- dabei als attraktiven dynamischen und komplexen Soll-
migkeit in seiner Selbstregulation hat [2], sollen diese Im- Zustand sehen – als Attraktor im Sinne der Chaos- und
pulse den Körper in die Lage versetzen, wieder gesund zu Komplexitätsforschung, die damit mehr oder weniger
werden. Die gesunde Selbstregulation (Salutogenese) stabile End- oder Zwischenzustände (attraktive Ziele)
funktioniert nur im Zusammenwirken, also in Koopera- von dynamischen Systemen bezeichnet.
tion, mit der Umgebung, ggf. mit den Mitmenschen. Ins-
besondere während einer Erkrankung braucht ein
Mensch eine Kooperation in Form von besonderer Ener- Gesunde Selbstregulation als
gie und/oder Information, damit seine Selbstregulation übergeordnetes Regulationsprinzip
wieder erfolgreicher verläuft und es ihm wieder besser
geht. Zum Beispiel lernt ein Patient mit anhaltenden Rü- Wir unterscheiden z. B. Hitze und Kälte nach unserem in-
ckenschmerzen bei starker Verspannung im unteren neren Maßstab, dem Soll-Zustand, einem Attraktor für
LWS-Bereich unter der Hand des Behandlers, den Span- unsere Temperaturregulation, ebenso einen Mangel oder
nungszustand seiner Muskulatur wahrzunehmen. Damit ein Zuviel an Nahrung nach unserem Attraktor für unse-

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ebung/Übersysteme
Um g

Verhalten

Handeln Reflektieren

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Individuum
Attraktoren
Stimmigkeit
Bedürfnisse

Motivation, Lernen
Wünsche

Wahrnehmen
was bedeut-
sam ist:
Ist = Soll

▶ Abb. 1 Kooperative Selbst-/Kohärenzregulation. (© Theodor Dierk Petzold)

ren Stoffwechsel. Entsprechend gibt es Attraktoren als erscheint, springt unsere psychoneuroendokrine Stress-
Maßstäbe für mitmenschliche Nähe, Gerechtigkeit und regulation an.
vieles andere. Das, was wir jeweils aktuell als Bedürfnis
wahrnehmen, entspringt dem Abweichen des Ist- Annäherung oder Abwendung
Zustands vom Attraktor, dem Soll-Zustand. Jeder Mensch Je nachdem, ob die Umwelt als attraktiv bzw. aufbauend
muss also ein inneres Bild, ein implizites Wissen von sei- oder bedrohlich bewertet wird, wird das neuropsychische
nen Attraktoren haben. Annäherungs- bzw. das Abwendungs- oder Vermei-
dungssystem aktiviert [6, 7]. Aus der jeweils folgenden
Der Begründer der Neuropsychotherapie Klaus Grawe [5] Motivation heraus entfalten wir
schreibt zu diesen regulierenden Maßstäben, dass das ▪ lustvolle, auf Annäherungsziele gerichtete Aktivitäten
„oberste Regulationsprinzip“ der psychischen (und damit (dopamingesteuert, inneres Belohnungssystem) bzw.
ganzheitlichen) Regulation die Stimmigkeit (Kohärenz) ▪ angstgesteuerte Flucht-, Kampf- oder Schockreaktio-
sei. In der Naturheilkunde wird gern von einem „inneren nen, wie Anspannung und Stress. Eine anhaltende
Arzt“ gesprochen, der wohl eine ähnliche Instanz meint Stressreaktion (z. B. auch nach einem Trauma bei einer
(▶ Abb. 1). posttraumatischen Belastungsstörung) ist ein wesent-
licher Faktor für die Entstehung und den Verlauf von
Diese inneren Attraktoren bestimmen maßgeblich, ob chronischen, auch psychischen Erkrankungen.
wir Umweltreize als aufbauend bzw. unbedeutend (neu-
tral) oder bedrohlich erleben. Aus dieser Bewertung Laut Roth [8] war zu Beginn von Psychotherapien bei Ge-
erfolgen die unterschiedlichen Aktivitäten wie Freude, sundungsprozessen eine Zunahme von Botenstoffen so-
Annäherung, Schreien, Abwehr, Anspannung der Musku- wie eine verstärkte Hirnaktivität zu beobachten, die dem
latur sowie die Aktivitäten der Hormondrüsen, des Ver- neuro-motivationalen Annäherungssystem zugeordnet
dauungstrakts, des Stoffwechsels usw. Die Informationen werden: Oxytocin, Endorphine, Dopamin, Serotonin so-
dieses inneren Attraktors [1] oder des „inneren Arztes“ wie höhere Aktivitäten im Nucleus accumbens und im
wirken attraktiv wie imaginäre Magneten auf den Stoff- Frontalhirn. Durch diese Veränderungen werden auch
wechsel und auf alle anderen Funktionen und sollen im- die Schmerzempfindlichkeit und Ängste und insgesamt
mer wieder Ganzheit, Integrität und Gesundsein her- das Stresserleben vermindert.
stellen. Der innere Attraktor ist auch verknüpft mit Soll-
Erwartungen an die Umwelt. Wenn diese bedrohlich

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Anpassungsverhalten
bricht zusammen
chronischer Depression, Stress-
Stress und andere
Verhalten Erkrankungen

Reflektieren
Handeln
Bilanzieren:
Ressourcen
Abwenden erfolgreich? gescheitert?

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der Not/
Attraktoren
Gefahr
Stimmigkeit
Bedürfnisse
Lernen
Motivation: ja: Selbst-
Annäherungsziele vertrauen
Wahrnehmen
was bedeut-
sam ist:
Ist = Soll anhaltende
Innehalten Gefahr
Gefahr! Abwendungsmodus

▶ Abb. 2 Dynamische Stressregulation. (© Theodor Dierk Petzold)

Unbewusste Bilanz oder bewusste Reflexion rationen von den krank machenden „pathogenen“ zu
Nach jeder Aktivität bilanzieren wir diese entweder unbe- unterscheiden. Dabei spielen Distresserfahrungen in un-
wusst oder reflektieren bewusst: serer Umwelt eine besondere Rolle.
▪ Welche Antworten haben wir auf unser Verhalten be-
kommen? In der Gebärmutter, bei der Geburt und in den ersten Le-
▪ Wie verlief die Interaktion? bensmonaten ist der kommunikative Zugang des Kindes
zu seiner Umwelt überwiegend körperlicher Natur. Das
Aus der Erfahrung können wir lernen. Körperwachstum bleibt auch noch die ganze Säuglingszeit so, wobei das
sowie -symptome entstehen durch unsere Interaktionen, Kind ab dem 3. Monat langsam den sozialen Kontakt zu-
besonders auch des ZNS und der Gene (letztlich des im- sätzlich über visuelle und akustische Reize auch auf eine
pliziten Attraktors), mit der Umwelt (▶ Abb. 2). Distanz hin ohne direkten Körperkontakt herstellen kann.
Später lernt es, auch über Worte Beziehungen koope-
rativ zu gestalten [8].
Gesunde Selbstregulation
in Kooperation Während der Schwangerschaft und Geburt sowie in den
ersten Monaten werden tief greifende psychoneuroendo-
Die Entwicklung unseres Organismus und unserer Per- krino-epigenetische Kommunikations- und Verarbei-
sönlichkeit vollzieht sich in einer Wechselbeziehung zwi- tungsmuster ausgebildet, insbesondere für die Körper-
schen unserer Ganzheit und der Umwelt. Diese findet funktionen. Die Selbstregulation des Kindes erwartet
insbesondere in unserem ZNS und in unseren Genen und erhofft, dass es durch die Bezugspersonen in seinem
funktionell und strukturell ihren Ausdruck [5, 8, 9]. So Streben nach Ganzheit, Heil-Sein, Wachsen, Entwicklung
entscheiden v. a. unsere ganzheitlichen Weltbeziehungen und Kohärenz unterstützt wird, wenn es die Dinge nicht
und die Antworten des ZNS und letztendlich auch der bewältigt. Dabei handelt es sich anscheinend um ange-
Gene über unsere gesunde Entwicklung und Erkrankung. borene Potenziale und Regeln zur Kooperation, die Mi-
Die Gene z. B. antworten mit ihrer Aktivität auf Umwelt- chael Tomasello am Max-Planck-Institut für Entwick-
einflüsse (Epigenetik) – bereits während der Schwanger- lungspsychologie in Leipzig erforscht hat [10, 11]. In sei-
schaft. Deshalb scheint es angebracht zu sein, die Art und ner zusammenfassenden Definition einer menschlich-
Weise der gesund aufbauenden „salutogenen“ Koope-

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partnerschaftlichen Kooperation finden wir die wesent- geben uns den Behandlungsauftrag – soweit wir diesen
lichen Aspekte von aufbauender Beziehung überhaupt: im Sinne von Stimmigkeit zustimmen sowie folgen wollen
▪ Kooperative Beziehung bedeutet ein gegenseitiges und können.
Eingehen aufeinander.
▪ Sie dient einem gemeinsamen Zweck (Ziel, Sinn, Merke
einem Attraktor). Die Verbindung (Kohärenz) erfolgt Heilende Erfahrung
durch eine gemeinsame Intentionalität (ein Teilen Der Attraktor für jede therapeutische Sitzung sollte
des Attraktors, auch durch Mitgefühl und Mitwissen – nach John Scott eine „Healing Experience“ sein [12].
Mitwissen, Gewissen und Bewusstsein [Descartes]
sind interessanterweise Übersetzungen des lateini- Schutzwälle statt Stimmigkeit

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schen Wortes „conscentia“ und bezeichnen womög- Häufig allerdings sind die tiefen Bedürfnisse, die Stim-
lich unterschiedliche Aspekte von Mitwissen an Über- migkeit des Patienten, hinter Schutzwällen wie Sympto-
systemen). men verborgen, die er im Laufe seines Lebens aufgebaut
▪ In einer Beziehung haben die Beziehungspartner un- hat, um sich, seine Integrität und Ganzheit zu schützen.
terschiedliche Rollen (Aufgaben), die sie miteinander Diese Schutzwälle sind als Antworten auf erlebte Bedro-
abstimmen. hungen, also als Verletzungsfolgen, zu verstehen. Neuro-
▪ Wenn einer der Kooperationspartner seine Rolle bzw. psychologisch sind sie mit dem Abwendungssystem ver-
Aufgabe nicht hinreichend erfüllen kann, hilft der an- knüpft. Sie verkörpern häufig eine Ambivalenz zwischen
dere ihm dabei nach Kräften. dem Bedürfnis nach Sicherheit/Überleben (einem Gefühl,
sich schützen zu müssen im Abwendungs-/Stressmodus)
und dem Bedürfnis nach Freude und Lust am Leben (An-
Bedeutung für die näherungsmodus). Der gebildete Schutzwall schützt die
therapeutische Praxis Ganzheit des Lebens und behindert gleichzeitig die Be-
dürfniskommunikation. Als Behandler sind wir häufig mit
Für Therapien mit ganzheitlichem Ansatz gehen wir da- diesem Problem doppelter Botschaften konfrontiert.
von aus, dass der Patient eine heilsame Erfahrung [12]
sucht und dass diese der Attraktor jeder therapeutischen Ein Fallbeispiel: Ein 52 Jahre alter Lehrer kam mit einem
Sitzung ist bzw. sein sollte. Das bedeutet im Wesentli- anhaltenden und jetzt akut zum Schiefhals verschlimmer-
chen, auf das tiefe Bedürfnis nach Gesundheit und Stim- ten HWS-Syndrom, Bluthochdruck und Wortfindungsstö-
migkeit einzugehen, denn dies ist unser übergeordneter rungen in die Sprechstunde und wollte, dass ich seine
Attraktor [2 – 5]. Daraus ergibt sich die gemeinsame In- Symptome „wegmache“. Im Verlauf wiederkehrender
tentionalität, die Motivation für unsere Kooperation mit Konsultationen berichtete er, dass sich seine Eltern ge-
dem Patienten. Die tiefen Bedürfnisse unserer Patienten trennt hätten, als er 4 Jahre alt war, und sein Vater seit

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dieser Zeit nichts mehr von ihm wissen wolle. Außer die- Erfolg der Intervention. Hardliner der Schulmedizin mö-
sem Verlust hat der Patient ein Stück Mannrolle für die gen dann gern von einer Placebo-Wirkung sprechen, wie
Mutter übernommen und diese in ihrem Leid getröstet. sie z. B. besonders stark bei einer Knie-OP auftreten.
Diese Rolle als Mann und Helfer der Mutter in der Not Doch meines Erachtens bringt die geschilderte Vor-
war für ihn ein stressiges Kooperationsmuster. Später als gehensweise eine klar begründete ganzheitliche thera-
Lehrer hat er aus dieser Rolle einen zwanghaften Perfek- peutische Wirkung, die viel mehr kultiviert werden sollte,
tionismus entwickelt, zu dem ein ständiger Hartspann weil damit eine wirklich gesunde Entwicklung der Men-
der Schulter- und Nackenmuskulatur ebenso gehörte schen ohne erneute Verletzung vorangebracht wird.
wie die ebenso zwanghafte wie vergebliche Suche nach
bestimmten Wörtern und der Bluthochdruck als Aus- Merke

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druck inneren Stresses. Nachdem er dieses Beziehungs- Attraktor
muster reflektiert und körperbezogene Therapie erhalten Der gemeinsame Attraktor von Patient und Thera-
hatte und die stressende Rolle als Mannersatz und Mut- peut ist die Gesundung des Patienten.
ter-Retter loslassen konnte, verschwand der Bluthoch-
druck. Das HWS-Syndrom hat er bis jetzt weit über die
Pension hinaus als Warnsignal für Stress gut im Griff. Rollenaufteilung zwischen
Patient und Therapeut
Eingehen auf den Patienten
Eingehen auf den Patienten bedeutet, dass wir seine Lei- Die Rollen sind durch das therapeutische Setting bereits
den („Blockaden“, innere „Schutzwälle“) wertschätzen im Groben vorgegeben: Der Patient hat seine individuelle
als Versuch, eine Bedrohung abzuwenden und sich zu Eigenkompetenz (letztlich der autonomen Selbstregula-
schützen (möglicherweise viele Jahre vor der Behand- tion) und der Therapeut seine professionelle von der Kul-
lung, wie z. B. bei Stress in der Familie, oder im Zeitraum tur gestützte Fachkompetenz. Diese soll dabei der Ge-
der Symptomentstehung). Zudem ist es häufig hilfreich, sundheit bzw. Stimmigkeit des Patienten, also dessen
den Patienten nach seinen Emotionen und Bedürfnissen höchstem Attraktor, dienen (▶ Abb. 3).
zur Zeit des Krankheitsbeginns und kurz davor zu fragen,
ebenso nach Bedürfnissen und Anliegen, die er damals So erkennen wir bei genauer Betrachtung der Therapeut-
oder auch jetzt nicht erfolgreich mitteilen konnte [2, 3]. Patient-Kooperation viele z. T. auch bedeutsame Unter-
Auf seine Bedürfnisse und Wünsche hin angesprochen, schiede bezogen sowohl auf die Rollenverteilungen in
kann der Patient leichter wieder in seinen Annäherungs- verschiedenen Behandlungsmethoden als auch in der je-
modus an Stimmigkeit und Gesundheit kommen und sei- weils konkreten, ganz individuell einmaligen Koopera-
ne Selbstregulation kann ihn wieder leichter zu seinem tion. Wir können Unterschiede ausmachen, die z. B.
attraktiven Wohlbefinden führen. Ein solches Eingehen hierarchische Aspekte betreffen (top-down oder horizon-
auf die Bedürfnisse des Patienten muss nicht immer ver- tal-partnerschaftlich) oder die Prozessqualität der Koope-
bal sein. Auch differenzierte körperliche Interventionen ration (dialogisch-kokreativ, manipulativ u. a.) oder die
können bei Patienten als Kooperation auf einer implizi- Kommunikationskanäle (wie körperlich, emotional bzw.
ten, tief wirksamen Regulationsebene verstanden wer- verbal-kognitiv) und die Rollenverteilung (Mutter, Vater,
den [14]. Kind, Lehrer sowie aktiv, passiv).

Aufbauende heilsame Kooperation Da viele Erkrankungen ihren Ursprung im Familiensystem


Im Rahmen einer ganzheitlichen Vorgehensweise nähern haben, ist eine Rollenverteilung im Sinne von Therapeut
wir uns hiermit schon einer spezifischeren Therapie an, und geduldig-passivem Patienten insofern gelegentlich
weil wir differenziert an der Stelle der alten stressenden angebracht, da ein Patient mit einer passiven Rolle ggf.
Kooperationsmuster, die zur Entstehung der Erkrankung auf einer früh gelernten Beziehungsebene in die Koope-
geführt oder beigetragen haben, jetzt eine aufbauende ration einsteigt und damit offen für eine heilsame Erfah-
heilsame Kooperation ermöglichen. Dieses Vorgehen rung auf der Erlebensdimension wird, in der er ein patho-
wird noch spezifischer, wenn wir auch körperliche Symp- genes Kooperationsmuster gelernt hat. So bergen The-
tome und Erkrankungen als Ausdruck von Bedürfnissen rapiemethoden, die den Patienten relativ passiv halten,
verstehen – letztendlich als Bedürfnis nach Stimmigkeit. einerseits eine große Chance, dass der Betroffene auf
Deshalb ist es für die Therapie so wichtig, „Gesundheit einer tiefen frühkindlichen Beziehungsebene erreicht
zu finden“, wie Still schon gesagt hat. werden und dieser damit dort eine neue heilsame Erfah-
rung machen kann. Andererseits besteht die Gefahr, dass
Wenn der Patient bei einem Therapeuten das Gefühl hat, er in seinem alten passiven, heute dysfunktionalen Ko-
dass dieser auf seine Bedürfnisse (die sich hinter einem operationsmuster bestätigt wird, ohne eine Anregung
Symptom verbergen) eingeht, ist dies der erste und wo- und Unterstützung der weiteren Entfaltung seiner Auto-
möglich schon wichtigste Schritt für eine gelingende Ko- nomie zu bekommen.
operation, für eine heilsame Erfahrung und damit für den

40 Petzold TD. Körperarbeit als Zugang … DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2019; 17: 36–42
salutogene Kommunikation

intentionaler Resonanzraum

Arzt Patient

W Annäherung
H kooperativer
W Erwartung:
H
heilsame
an Gesundheit Dialog

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Erfahrung

R gemeinsamer Attraktor –
R
R = Reflektieren geteilte Intentionalität:
W = Wahrnehmen Unter- Wohlbefinden, Stimmigkeit
schied von Ist und Soll
H = Handeln
In der Mitte steht der Attraktor.

▶ Abb. 3 Bei einem gemeinsamen Attraktor kann ein kreativ-kooperativer Dialog entstehen. (© Theodor Dierk Petzold)

Bei Patienten mit chronischen Erkrankungen ist es häufig hat, wo Krankheiten bzw. vulnerable Muster entstanden
angebracht, gewohnte Kommunikations- bzw. Koopera- sind, die durch spätere Stresserfahrungen getriggert
tionsmuster zu unterbrechen und neue anzubieten, um werden konnten.
die gesunde Selbstregulation anzuregen. Regulations-
starre bei „chronischen“ Erkrankungen ist als Folge von Bei der heilsam-kooperativen Erfahrung des Patienten
eingefahrenen Kooperationsmustern zu verstehen, die durch Berührung [14] kommt es nicht nur auf die Technik
heute dysfunktional sind. Oft können erst dann eine dia- und den Ort der Intervention an, sondern auch und ganz
logische kokreative Kommunikation und eine heilsame besonders auf die Einstellung des Behandlers: Wie weit
Erfahrung entstehen, wenn der Patient die Vorteile einer kann er den Weg zum Attraktor, dem „inneren Arzt“ des
bedürfnisgerechten Aktivität in neuen Kommunikations- Patienten bahnen – auch neurophysiologisch? Dabei ist
und Kooperationsmustern erfährt und lernt. Dazu sind von der Resonanz des Patienten auf den Behandler aus-
der gemeinsame Blick auf die gemeinsame Intentionali- zugehen: Ist dieser in einem angespannten, gestressten
tät und ein Dialog, der sich von diesem Attraktor leiten Zustand, erlebt der Patient (wie auch schon ein Säugling)
lässt, förderlich [6, 7, 13]. das körperlich. Deshalb ist es wichtig – auch und gerade
bei jeder Form von berührender Körperarbeit –, dass der
Behandler in einer positiv gestimmten kooperativen Hal-
Heilsame Erfahrung als tung ist und somit möglichst den inneren Weg zum At-
gelungene Kooperation traktor seines Patienten bahnen kann.

Es ist die Aufgabe des Therapeuten, mit dem Patienten in


eine derart kooperative Beziehung zu kommen, dass sich
Ganzheitlich kooperieren
dieser wieder seinem Kohärenz-Attraktor, dem „inneren Die Beziehungsmuster, welche die körperlichen Funktio-
Arzt“, annähern kann. Davon ausgehend, dass sich die nen betreffen, sind auch häufig mit Emotionen und ande-
basale, für die Körperfunktionen entscheidende Kommu- ren Gefühlen und/oder Bildern und Gedanken verknüpft.
nikation der Kinder in den ersten Lebensmonaten über Denn alle Beziehungserfahrungen werden in der individu-
den Körperkontakt vollzog, kann später eine körperliche ellen Ganzheit vollzogen, auch wenn sie jeweils nur über
Kommunikation hilfreich sein, um dann dem erwachse- einen Zugang wie z. B. den Körper, die Stimme oder über
nen Menschen die heilsame Erfahrung zu ermöglichen. Worte kommuniziert wurden. Je früher stark bedrohliche
Die körperliche Kommunikation erhöht die Wahrschein- (störende, stressige) Beziehungserfahrungen gemacht
lichkeit, dass die Selbstregulation des Menschen an der wurden, desto größer ist die Gefahr, dass sie im Laufe
Stelle berührt wird, an der das Stresserleben begonnen des Lebens zu körperlichen Reaktionen führen. Und je

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mehr diese Beziehung in der distanzierteren, verbal-men- Autorinnen/Autoren


talen Dimension erfahren wird, desto eher bleiben auch
die Auswirkungen im Bereich des Denkens. Trotzdem er- Theodor Dierk Petzold
reichen auch Worte die Ganzheit des Individuums. ist Allgemeinarzt mit Schwerpunkt Naturheil-
verfahren, Coach und Supervisor, Lehrbeauf-
Aus diesem Verstehen heraus, das sowohl mit den Er- tragter an der Medizinischen Hochschule Han-
nover (MHH), zudem Entwickler und Ausbilder
kenntnissen der Neurowissenschaften als auch der Sys-
der Salutogenen Kommunikation SalKom® und
temtheorie übereinstimmt, scheint es zutreffend und des zertifizierten Stressmanagementtrainings
sinnvoll zu sein, die Ganzheit und ihre Kohärenz als See- TSF, Referent zu Kommunikation und Salutogenese sowie Au-
le/Psyche zu bezeichnen. Die Information des Attraktors tor und Herausgeber zahlreicher Publikationen.

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wäre dann als eine imaginäre Information der Psyche zu
sehen, als der heilende Aspekt der Seele („innere Arzt“), Korrespondenzadresse
der immer wieder bemüht ist, die Ganzheit und ihre stim-
mige Verbundenheit in einem dynamischen Prozess her- Theodor Dierk Petzold
zustellen. Barfüßerkloster 10
37581 Bad Gandersheim
info@salutogenese-zentrum.de
Der Blick auf den „inneren Arzt“/Attraktor regt das
übergeordnete Kohärenzstreben des Gehirns an, wahr-
Literatur
scheinlich besonders im präfrontalen Kortex. Er wird v. a.
durch ein Ansprechen und Aktivieren von rundum stim-
[1] Petzold TD. Schöpferische Kommunikation. Bad Gandersheim:
migen Zielen angeregt, z. B. auch durch Imagination
Gesunde Entwicklung; 2017
einer Wunschlösung, oder die Frage, wie der Patient sich
[2] Petzold TD. Gesundheit ist ansteckend – Praxisbuch Salutoge-
fühlt und was er tun möchte, wenn er wieder gesund und nese. München: Irisiana; 2013
das Symptom weg sei. Durch diese Interventionen wird
[3] Petzold TD. Salutogene Kommunikation und Selbstregulation.
die innere Verknüpfung mit dem Attraktor wieder geför- Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 2013; 2
dert oder sogar hergestellt. Dies ist die Grundlage für das (92): 131–145
Funktionieren der Selbstregulation und Selbstheilung. [4] Hartmann C. Das große Still-Kompendium. Pähl: Jolandos;
2002: 179
[5] Grawe K. Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe; 2004
Fazit für eine therapeutische [6] Petzold TD. Für eine gute Arzt-Patient-Kooperation ist die ge-
Kooperation meinsame Intentionalität entscheidend. ZFA Z. Allg. Med.
2015; 10: 6–10

1. Wir schenken dem Patienten grundsätzlich das Ver- [7] Petzold TD. Arzt-Patienten-Kooperation aus Sicht der Saluto-
genese – Fokus auf die Genesung – nicht auf die Erkrankung!
trauen und die Hoffnung, dass seine Selbstregula-
Der Allgemeinarzt 2017; 11: 64–68
tionsfähigkeit (geleitet von seinem „innerem Arzt“/At-
[8] Roth G. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Stutt-
traktor) ein großes Heilungspotenzial hat, und wollen
gart: Klett-Cotta; 2007
ihm bei seiner Selbstregulation helfen, gesünder zu
[9] Fuchs T. Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Stuttgart: Kohl-
werden und sich wohlerzufühlen. Hierin besteht die hammer; 2010
gemeinsame Intentionalität.
[10] Tomasello M. Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp; 2010
2. Wir gehen auf seine Beschwerden, Symptome, Emo-
[11] Tomasello M, Hamann K. Kooperation bei Kleinkindern. Max-
tionen und Nöte und noch mehr auf die dahinter ver- Planck-Gesellschaft Jahrbuch 2011/2012
borgenen gesunden Bedürfnisse und Anliegen ein und
[12] Scott JG. Complexities of the consultation. In: Sturmberg JP,
nehmen diese mitfühlend ernst. Martin CM. Handbook of systems and complexity in health.
3. Die Rollen beider Kooperationen miteinander sind klar New York: Springer; 2013: 257–277
oder wir klären diese: Was ist die Aufgabe des Patien- [13] Petzold TD. Stimmigkeit im therapeutischen Resonanzraum.
ten (einschließlich seiner Zusammenarbeit mit seinem Der Mensch 2013; 47: 48–51
„inneren Arzt“, seinem Fühlen von Stimmigkeit usw.)? [14] Petzold TD. Berührungsräume. Der Mensch 2013; 47: 16–22
Was ist die Rolle des Therapeuten, z. B. für Sicherheit
sorgen, den Körper oder das Bewusstsein an seine Hei- Bibliografie
lungsfähigkeit, Attraktoren, Bedürfnisse und seine
Ressourcen zu erinnern, innere Verknüpfungen zur DOI https://doi.org/10.1055/a-0875-2752
Entspannung anregen, die dem Organismus im Stress- DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2019; 17: 36–42
erleben abhandengekommen sind? © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
ISSN 1610-5044

42 Petzold TD. Körperarbeit als Zugang … DO – Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2019; 17: 36–42

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