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SOP/Algorithmus

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C. Grefkes-Hermann, G. R. Fink
Klinik und Poliklinik für Neurologie, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland

Idiopathische intrakraniale Hypertension


Definition sondere kein Meningismus und keine Bewusstseinsminderung;
Intrakranielle Drucksteigerung ohne Nachweis einer Thrombo- horizontale Doppelbilder bei uni-/bilateraler Abduzensparese
se oder Raumforderung (sog. Pseudotumor cerebri)
Ophthalmologischer Befund
Inzidenz – Fundoskopie: meist beidseitige Stauungspapillen (randun-
Inzidenz 0,5–2:100.000, Auftreten im jüngeren Erwachsenen- scharfe Papillen, Papillenödem, Papillenprominenz); DD:
alter (15–45 Jahre), insbesondere bei übergewichtigen Frauen Pseudostauungspapille bei z. B. Drusenpapille oder „crowded
(hier Inzidenz: 12–20; [1–3]) disc“ (kleiner Sehnervenkopf mit dicht gepacktem neurore-
tinalen Gewebe ohne Exkavation)
Ursachen – Perimetrie: vergrößerter blinder Fleck, konzentrische oder na-
Ursache letztendlich ungeklärt, am ehesten gestörter Liquor- sal betonte Gesichtsfeldstörungen [3]
resorptionsmechanismus, vermutlich verstärkt durch einen ge- – Refraktometrie: Visusminderung (meist erst später)
störten venösen Abfluss bei Übergewicht; hormonelle Einflüsse – Visuell evozierte Potenziale: i. d. R. normal (Abgrenzung Pa-
werden ebenfalls vermutet [3]. pillitis/Neuritis)
– Ggf. optische Kohärenztomographie (OCT), Sonographie und
Symptome Fluoreszenzangiographie (z. A. anderer Erkrankungen)
Leitsymptome sind anhaltende Kopfschmerzen sowie Sehstö-
rungen (Gesichtsfelddefekte, Visusstörungen) (Abb. 1). Hinweise. Fotodokumentation der Papillenveränderungen ist
hilfreich für die Verlaufsbeurteilung. Fehlende Stauungspapil-
Kopfschmerzen len schließen eine IIH-Diagnose nicht aus [2].
Über mehrere Stunden anhaltende, uni- oder bilaterale Zeph-
algien; ggf. retrobulbär betonte, pulsatile Kopfschmerzen, in- Kranielle MRT
klusive Photophobie und Übelkeit; erfordern die Abgrenzung Ausschluss sekundärer Ursachen (s. unten), insbesondere zere-
zu Spannungskopfschmerzen und Migräne [1]; im Liegen oft braler Sinus-/Venenthrombosen und intrakranialer Tumoren
verstärkt (lagebedingt verstärkte Druckerhöhung)
MRT-Zeichen
Sehstörungen – Erweiterte Optikusscheiden mit abgrenzbarer Liquorman-
Bedingt durch in der Regel beidseitige Stauungspapillen so- schette
wie Papillenödeme; mono- und binokulare Gesichtsfeldausfäl- – Abflachung des posterioren Bulbus
le; transiente Obskurationen; im Verlauf progrediente Gesichts- – Erweiterte Hypophysenloge („empty sella“)
feldstörungen und Visusverlust bis zur Erblindung möglich – Verengte Sinus transversi
– Ggf. Tiefstand der Kleinhirntonsillen
Weitere Symptome
Pulsatiler Tinnitus (durch Flussturbulenzen im Sinus transver- Liquorpunktion
sus); Doppelbilder infolge von Hirnnervenausfällen, insbeson- Lumbale Liquordruckmessung in Seitenlage (ggf. wiederholt):
dere N. abducens (bei Kindern auch Ausfall anderer okulomo- – >25 cm Wassersäule (bei Kindern >28 cm H2O)
torischer Nerven; [3])

Diagnose Tab. 1 Modifizierte Dandy-Kriterien [3] zur Diagnostik einer idio-


pathischen intrakranialen Hypertension bei Erwachsenen
Klinische Untersuchung A Papillenödem
Neurologischer Befund bis auf Visusminderung/Stauungspapil- B Unauffälliger neurologischer Befund (abgesehen von Hirnner-
len/Gesichtsfelddefekte in der Regel unauffällig (Tab. 1); insbe- venaffektionen)
C Bildgebung: normales Hirnparenchym ohne Hydrozephalus,
Redaktion Raumforderung, strukturelle Läsionen, venöse Thrombose/
G. Fink, Köln Sinusthrombose oder meningeale Kontrastmittelaufnahme
J.P. Sieb, Stralsund D Unauffällige Liquorchemie/-zellzahl
E Erhöhter Liquoreröffnungsdruck (>25 cm H2O im Liegen; ohne
DGNeurologie 2021 · 4 (5): 384–386 drucksenkende Medikation)
https://doi.org/10.1007/s42451-021-00357-z
Angenommen: 11. Juni 2021 Kriterien A–D erfüllt: mögliche Erkrankung (wiederholte oder prolongierte
Online publiziert: 16. Juli 2021 Druckmessung empfohlen)
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Kriterien A–E erfüllt: wahrscheinliche Erkrankung

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Tab. 2 Pharmakotherapie (alle „off-label“; Dosisanpassung bei Kindern; [2])


Acetazolamida 2-mal 250 mg (Startdosis), steigern auf 2-mal 500 mg Therapielimitierung durch Nebenwirkungen wie Geschmacksstörungen
Maximaldosis 2000 mg/Tag oder Parästhesien; cave: Hypokaliämie, Azidose, aplastische Anämie
Furosemid 30–80 mg/Tag In Kombination mit Acetazolamid; cave: Verstärkung des Papillenödems
durch starken RR-Abfall
Topiramatb 50–200 mg/Tag Therapielimitierung durch kognitive Nebenwirkungen
Vorteilhaft für Gewichtsreduktion
Dexamethason 4–8 mg/Tag Nur kurzfristiger Einsatz bei drohendem Visusverlust
Octreotid 0,3–1,0 mg/Tag Schwache Studienlage
a
Kann bei Fehlen besser untersuchter und geeigneter Alternativen auch in der Schwangerschaft eingesetzt werden [2]
b
Kontraindiziert bei Schwangerschaft

Anhaltende Kopfschmerzen und Sehstörungen


Klinik

Gegen IIH sprechend:


Für IIH sprechend: • höheres Lebensalter
• übergewichtige Frau im gebärfähigen Alter • schlagartiges Auftreten
• langsames Auftreten der Symptome • Bewusstseinsstörungen, Anfälle
• Gesichtsfeldeinschränkungen • fokal neurologische Symptome (außer Diplopie),
Gangstörungen, deutliche kognitive Störungen

Obligate Diagnostik
Diagnostik

• Perimetrie, Visus, Fundoskopie, ggf. OCT


• cMRT mit Sinusdarstellung und KM
• Liquordiagnostik mit Druckmessung im Liegen

Diagnosekriterien erfüllt (siehe Tabelle 1)


Liquoreröffnungsdruck > 25 cm H2O, MR-morphologische Zeichen, keine andere Ursache

Stufe 1: IIH mit leichter Stauungspapille Stufe 2: IIH mit ausgeprägter Stauungspapille Stufe 3: IIH mit schwerer Visusminderung
ohne Visusminderung und/oder Visusminderung bzw. GF-Defekt oder rascher Progredienz der Sehstörung
• Gewichtsabnahme • Stufe 1 plus: • Stufe 1 plus 2 plus:
Therapie

• Acetazolamid (2-mal 500 mg, maximal 2000 mg/ • wiederholte LP bis Druck < 20 cm Wasser- • Shuntimplantation
Tag) ggf. plus Furosemid (FSM) 20-40 mg/Tag säule; initial 2-mal pro Woche, dann • bei Sinusstenose: Stentangioplastie
• alternativ: Topiramat 25-100 mg plus FSM wöchentlich • ggf. Optikusscheidenfensterung

Therapiedeeskalation wenn Liquordruck < 18 cm H2O und


Normalisierung der Klinik (Visus, Gesichtsfeld)
z.B. Dosisreduktion von Acetazolamid um 250 mg pro Woche

Abb. 1 Klinik, Diagnostik und Therapie bei V. a. idiopathische intrakraniale Hypertension (IIH), cMRT kranielle Magnetresonanztomographie,
GF Gesichtsfeld, KM Kontrastmittel, LP Liquorpunktion, MR magnetresonanz-, OCT optische Kohärenztomographie. (Nach [2]; „clinical pathway“)

Unauffällige Liquorchemie/-zellzahl Differenzialdiagnose


Hinweis: Einige Autoren setzen die Druckgrenze bei Nor- Sekundäre intrakraniale Hypertension [2]:
malgewichtigen bereits bei >20 cm Wassersäule [2]. – Sinus-/Venenthrombose
– Sinuskompression/-strikturen/-stenosen
Digitale Subtraktionsangiographie – Gefäßmalformationen mit venöser Drucksteigerung (z. B. du-
In seltenen Fällen, wenn ursächlich eine Sinusstenose vermutet rale arteriovenöse Fistel)
wird und eine Druckgradientenmessung durchgeführt werden – Postinfektiöse Liquorresorptionsstörungen
soll, zur Indikationsstellung eines venösen Stents; ebenfalls bei – Endokrinopathien (Hypoparathyreoidismus, Hyperaldoste-
Gefäßmalformationen ronismus, Nebennierenrindeninsuffizienz)

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SOP/Algorithmus
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– Medikamentennebenwirkungen (Tetrazykline, Amiodaron, Interessenkonflikt. C. Grefkes-Hermann ist Mitherausgeber von Neuroi-


Tamoxifen, Lithium, Nitrofurantoin, Retinoide, Indometacin) mage: Clinical und Clinical Neurophysiology. G.R. Fink ist Mitherausgeber von
Cortex, Neurological Research and Practice, NeuroImage: Clinical, Zeitschrift
– Raumforderungen (Gliome, Metastasen usw.)
für Neuropsychologie und DGNeurologie; er erhält Tantiemen für die Bücher
Funktionelle MRT in Psychiatrie und Neurologie, Neurologische Differential-
Therapie diagnose und SOP Neurologie; er erhielt Vortragshonorare von Bayer, Desitin,
Ziel der Therapie ist neben der Kopfschmerzreduktion die Ver- Ergo DKV, Forum für medizinische Fortbildung FomF GmbH, GSK, Medica
hinderung von irreversiblen Sehstörungen Academy Messe Düsseldorf, Medicbrain Healthcare, Novartis, Pfizer, und
– Gewichtsreduktion (Ziel-BMI: <25 kg/m2), ggf. Adipositas- dem Sportärztebund NRW.
chirurgie
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen
– Pharmakotherapie (Tab. 2) oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils
– Therapeutische Liquorpunktion: Ablass von ca. 30 ml Liquor dort angegebenen ethischen Richtlinien.
mit anschließender Liquordruckmessung;
Cave: meist nur kurzfristiger Therapieerfolg
Bei Therapieversagen:
– Ventrikulo- oder lumboperitonealer Shunt
– Bei druckrelevanten Sinusverengungen: endovaskuläre Stent-
angioplastie
– In Einzelfällen Optikusscheidenfenestrierung (in vielen Zen-
tren verlassene Option)

Verlauf und Prognose


Generell gute Prognose, jedoch häufig Rezidive bei erneuter
Gewichtszunahme
Kopfschmerz oft rasch regredient nach Liquorablass, Seh-
störungen haben längere Erholungsdauer.
Gewichtsreduktion plus Acetazolamid ist der alleinigen Ge-
wichtsreduktion überlegen [2]
Prognose ungünstiger bei männlichem Geschlecht und früh-
zeitiger Visusminderung [3]
Verlaufsparameter:
– Klinik (Kopfschmerzen, Sehstörungen)
– Gesichtsfeld/Fundoskopie/Sonographie/Visus
– Erneute Liquordruckmessung
Hinweis: Stauungspapillen bilden sich erst Wochen bis Monate
nach Liquordrucknormalisierung zurück, somit sind sie kein
Parameter für den kurzfristigen Verlauf.

Literatur
1. Headache Classification Committee of the International Headache Society (2018)
The international classification of headache disorders, 3rd edition. Cephalalgia
38(1):1–211
2. Wüllner U et al (2019) Idiopathische intrakranielle Hypertension (IIH), S1-Leitlinie. In:
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in
der Neurologie (Gültig bis 2024)
3. Markey KA et al (2016) Understanding idiopathic intracranial hypertension:
mechanisms, management, and future directions. Lancet Neurol 15:78–91

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. C. Grefkes-Hermann


Klinik und Poliklinik für Neurologie
Uniklinik Köln
Kerpener Straße 62, 50937 Köln, Deutschland
Christian.Grefkes@uk-koeln.de

386 DGNeurologie 5 · 2021

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