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KREATIVES SCHREIBEN

Schreiben
auf Reisen.
Ein Schreibverführer neuen Typs: die literarische
Schreibwerkstatt als Meisterkurs. Kein Lehrbuch
mit Geboten und Regeln, sondern ein breites

Schreiben auf Reisen.


Spektrum kreativer Ansätze zum Ausprobieren!
Dieser Band verführt dazu, das Reisen, die Sprache
und das Schreiben zusammenzubringen. Es gilt,
Schreiben
auf Reisen.
im Unterwegssein anzukommen.

Hanns-Josef Ortheil, Schrift- Wanderungen, kleine Fluchten


steller und Professor für Kreatives und große Fahrten –
Schreiben und Kulturjournalismus
an der Universität Hildesheim, ist
Aufzeichnungen von unterwegs.
Herausgeber der Reihe „Kreatives
Schreiben“ und Autor der Bände „Schreiben dicht am von Hanns-Josef Ortheil
Leben“ und „Schreiben auf Reisen“.

ISBN 978-3-411-75371-0
14,95 3 (D) • 15,40 3 (A)

Herausgeber der Reihe: Hanns-Josef Ortheil

Schreiben auf reisen_75371-0_5009513_00.indd 1 17.01.12 15:42


Duden
Schreiben auf Reisen
Kreatives Schreiben

Duden
Hanns-Josef Ortheil

Schreiben
auf Reisen
Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten –
Aufzeichnungen von unterwegs

Herausgeber der Reihe


Hanns-Josef Ortheil

Dudenverlag
Mannheim • Zürich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für die Inhalte der im Buch genannten Internetlinks, deren Verknüpfungen


zu anderen Internetangeboten und Änderungen der Internetadressen kann der
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Das Wort Duden ist für den Verlag Bibliographisches Institut GmbH als
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Nachdruck, auch auszugsweise, vorbehaltlich der Rechte, die sich aus den
Schranken des UrhG ergeben, nicht gestattet.

© Duden 2012 D C B A
Bibliographisches Institut GmbH, Dudenstraße 6, 68167 Mannheim

Lektorat Imma Klemm


Umschlaggestaltung Büroecco, Augsburg
Umschlagillustration Lucia Götz
Autorenfoto Umschlag © Peter von Felbert
Satz Urban Satzkonzept, Düsseldorf
Druck und Bindung CPI books GmbH, Birkstraße 10, 25917 Leck
Printed in Germany

ISBN 978-3-411-75371-0
Auch als E-Book erhältlich unter: ISBN 978-3-411-90326-9
www.duden.de
Vorwort

Georg erinnert sich noch genau an seine erste Reise. Damals war
er fünf Jahre alt, und er befand sich zusammen mit seiner Mutter
auf dem Wochenmarkt. Plötzlich aber war die Mutter ver-
schwunden. Erschrocken hatte Georg den ganzen Markt abge-
sucht und war schließlich in eine Seitenstraße gelaufen, wo er
jede Orientierung verloren hatte. Kurz darauf war er dann sogar
in Gegenden geraten, in denen er noch nie gewesen war. Da
wusste er, wohin es ihn verschlagen hatte: Er war in der Fremde
und damit in einem Land, in dem es keine Menschen gab, die
ihn kannten oder mit ihm reden wollten.
Als er sechzehn war, ist Georg dann mit dem Fahrrad so rich-
tig allein auf Reisen gegangen. Auch während dieser Tour durch
Frankreich hatte er manchmal Angst gehabt, wie der kleine Bub,
der auf dem Wochenmarkt die Orientierung verloren hatte. Die-
se Angst aber hatte einfach zum Abenteuer der Reise gehört.
Das Abenteuerliche an der Reise war nämlich der anhaltende
Ausnahmezustand, in den man mit dem Aufbruch geriet und der
1
so ganz anders war als der vertraute heimische Alltag. Auf Rei-
sen war alles fremd und neu, ja, man kam sich vor wie ein Kind,
das die einfachsten Gesten und Verhaltensformen erst wieder
lernen musste.
Während seiner Frankreichfahrt hatte Georg zum ersten Mal
in seinem Leben Tagebuch geführt. Er hatte nichts Besonderes
notiert, sondern einfach nur Tag für Tag aufgeschrieben, wohin

1 Vgl. Georg Simmel: Das Abenteuer und andere Essays. Hrsg. von Christian Schärf.
Frankfurt/M. 2010.

5
Vorwort

er geradelt war und wo im Einzelnen er sich aufgehalten hatte.


Nach seiner Reise hatte er das kleine Reisetagebuch zur Seite
gelegt und nicht mehr hineingeschaut. Erst viele Jahre später war
ihm das Büchlein wieder in die Finger geraten, und er hatte neu-
gierig in ihm gelesen. Die Lektüre hatte ihn jedoch maßlos ent-
täuscht. Nichts fand sich nämlich darin vom Abenteuer der Reise,
ja, rein gar nichts deutete hin auf einen Versuch, die Fremde als die
sonderbare Welt, die sie gewesen war, genauer zu verstehen.
Damals hatte Georg begonnen, darüber nachzudenken, wie
man auf Reisen wohl schreiben müsste. Anders jedenfalls, als er
es während der Frankreichreise getan hatte, genauer, detaillierter
und so, dass man der Fremde auf den Grund ging. Anscheinend
war »das Schreiben auf Reisen« ein ernst zu nehmendes literari-
sches Genre, dessen Handwerk wahrscheinlich vor allem von
den großen Reiseschriftstellern zu erlernen war.
Ein handwerkliches Buch dieser Art hat sich Georg immer
gewünscht, aber er ist lange nicht fündig geworden. Ein solches
Buch liegt nun hier vor, ein Buch, in dem die große Reiseliteratur
daraufhin befragt wird, was sie Schreibanfängern in diesem
Metier zeigen und beibringen kann. Dazu gehören zum einen
bestimmte Methoden der Aufzeichnung, dazu gehört aber auch
ein bestimmter Blick, der die Fremde nicht nur aus der Distanz
betrachtet, sondern immer tiefer in sie eindringt.
Gelingt das, verliert die Fremde ihren bedrohlichen, Angst
erzeugenden Charakter und rückt immer näher an uns heran.
Manchmal glückt es dann sogar, sich in ihr zu verlieren und ihr
nach einem längeren Aufenthalt wieder zu entkommen: verwan-
delt, neu geboren, als ein anderer.

Hanns-Josef Ortheil, im Frühjahr 2012

6
Inhalt

Vorwort 5
Inhalt 7
Einführung Reisen und Schreiben 9

Textprojekte und Schreibaufgaben I:


Vorübungen – Schreiben im Revier
1. Der Spaziergang 1 12
2. Der Spaziergang 2 17
3. Der Spaziergang 3 21
4. Die Flanerie 26
5. Die Wanderung 33
6. Die Reise um mein Zimmer 39

Textprojekte und Schreibaufgaben II:


Schreiben für sich selbst
7. Das Reisetagebuch 43
8. Das frei geführte Notizbuch 51
9. Das thematisch geführte Notizbuch 58
9.1 Themen auf Reisen 58
9.2 Dinge auf Reisen 63
9.3 Gastrosophisches Schreiben auf Reisen 68
9.4 Fragen auf Reisen 73

Textprojekte und Schreibaufgaben III:


Schreiben für und an andere
10. Die Ansichtskarte 78
11. Der Reisebrief 83
12. Mediales Schreiben 89

7
Inhalt

12.1 Simsen, Mailen und Twittern 89


12.2 Schreiben in Facebook und Bloggen 98

Textprojekte und Schreibaufgaben IV:


Reiseprojekte
13. Ethnologisches Schreiben 104
14. Reisen auf den Spuren eines anderen 110
15. Reisen zu zweit 116
16. Künstlerreisen als Reiseprojekte 123

Textprojekte und Schreibaufgaben V:


Schreiben nach der Reise
17. Der Reisebericht 128
18. Die Reiseerzählung 132
19. Der Reiseroman 138

Nachbetrachtung:
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen 143

Literaturverzeichnis
Zitierte Primärliteratur 148
Weitere Primärliteratur 151
Sekundärliteratur 155

8
Einführung:
Reisen und Schreiben

Kaum eine andere kulturelle Praxis hat so viel zur Ausbildung des
Schreibens beigetragen wie das Reisen. Wer unterwegs war, ver-
sicherte sich nämlich seines Standorts und seiner Bewegungen
in der Fremde oft dadurch, dass er notierte: Von wo nach wo
reise ich ? Wem begegne ich unterwegs ? Was fällt mir an Beson-
derem auf ?
So war das Reisen von Anfang an mit einem fortlaufenden
Schreiben verbunden, das die Orientierung in der Fremde fixier-
te. Schreiben auf Reisen war dadurch ein kontrolliertes Beobach-
ten, Sammeln, Recherchieren und Dokumentieren. Zum einen
wurde so die Distanz zur Fremde abgebaut, zum anderen aber
auch dafür gesorgt, dass die Reise nicht nur ein beliebiges Aben-
teuer, sondern eben auch gestaltete Erfahrung wurde.
Wer mit vielen Aufzeichnungen wieder nach Hause zurück-
kam, zeigte in diesem Sinne eine Ernte. Er war nicht wie ein
bloßer Abenteurer oder Vagabund unterwegs gewesen, sondern
hatte die Reise als eine Lebenslehre verstanden und sich selbst
als einen wissbegierigen Schüler, dessen Forschungseifer ein
reichhaltiges Material hervorgebracht hatte. Nach der Rückkehr
konnte es den Freunden zu Hause vorgelegt werden. So konnten
sie an der Reise teilnehmen und erhielten als Zuhörer oder Leser
eines Berichts oder einer Erzählung die Möglichkeit, über die
Begrenztheit des eigenen Horizonts hinausschauen zu können.
Die ersten antiken Reisetexte hatten noch die Form von
knappen Reisebeschreibungen, in denen oft kaum mehr festge-
halten wurde als Ortsnamen, geografische Besonderheiten oder

9
Einführung

Entfernungen. Der nächste Schritt bestand dann darin, sich auf


die Fremde derart einzulassen, dass der fremde Naturraum und
der Kulturraum der Einheimischen erforscht, beschrieben und mit
den Besonderheiten der eigenen Herkunftsräume verglichen wur-
den. Ein solches Schreiben führte zur Geburtsstunde des ethnolo-
gischen Blicks, der die Fremde als ein in sich geschlossenes System
von kulturellen Ritualen verstand, das – durch engen Kontakt mit
den Einheimischen – befragt und untersucht werden konnte.
Die seit der Spätantike entstehende Pilgerliteratur veränder-
te das Schreiben auf Reisen dann fundamental. Zu pilgern be-
deutete nämlich erheblich mehr, als mit forschender Neugierde
in der Fremde unterwegs zu sein. Wer pilgerte, reiste vielmehr in
spirituellem Auftrag auf ein bestimmtes Ziel ( Jerusalem, später
Rom, noch später Santiago de Compostela) zu. Die einzelnen
Orte auf diesem Weg waren bedeutende Stationen, an denen
man betend und meditierend zur Ruhe kam und sich gleichzeitig
intensiv auf das Ziel vorbereitete.
Eine solche Bewegung von Station zu Station mit dem Blick
auf ein großes Ziel führte zu einer völlig neuen Form von Auf-
zeichnungen. Die reisenden Pilger reagierten nämlich nicht
mehr auf die pure Attraktion der Fremde, sondern beschrieben,
wie und wodurch sie die Fremde als christlichen, spirituellen
Raum erkannt und wie sie sich in ihm bewegt hatten.
In den Vordergrund ihrer Berichte rückte so die Praxis des
Pilgerns, konzentriert auf das Beten, Bekennen, Bereuen. So
wurde die Selbstbefragung zu einem zentralen Thema. Zur Ori-
entierungshilfe wurden dabei das Leben Jesu und das Leben der
Apostel und Heiligen, deren Lebensbeispiele und Schriften den
Pilgererfahrungen vorausgingen. Das Pilgern festzuhalten be-
deutete in diesem Sinne: die eigene spirituelle Erfahrung in Ver-
bindung zu den Erfahrungen dieser Vorbilder zu bringen. So
entstand ein vergleichendes und auf kanonische Vorläufertexte

10
Reisen und Schreiben

Bezug nehmendes Schreiben, das schließlich zu einer Verinner-


lichung des Reisens und zu seiner auch biografischen Dokumen-
tation führte.
Als Grundmodell blieben die Forschungs- und Pilgerreisen bis
in unsere Gegenwart erhalten, auch wenn die meisten Pilger heut-
zutage weniger in streng christlichem Sinne, sondern eher als Bil-
dungsreisende auf den Spuren anderer Bildungsreisender (wie zum
Beispiel Goethe in Rom oder Rilke in Venedig) unterwegs sind.
Das dritte zeitlose Modell des Reisens schließlich hat sich
aus der Verinnerlichung der Reise durch das Pilgern entwickelt.
Dabei handelt es sich um eine Reiseform, die seit dem achtzehn-
ten Jahrhundert als »sentimental journey« kultiviert wurde. Auf
einer solchen Reise betrachtete der Reisende die Fremde als
einen großen Spiegel seiner Emotionen und Empfindungen. So
interessierte der fremde Raum nicht an und für sich, sondern vor
allem in dem Maße, in dem er starke Gefühle auslöste.
Das Schreiben auf Reisen wurde dadurch zu einer Beschrei-
bung und Darstellung intensiver Erlebnismomente, die im
Kulissenraum der Fremde sorgfältig inszeniert wurden. Ein
Reflex solcher Inszenierungen ist noch die Ansichtskarte, mit der
die späteren Touristen ihrer Pflicht, den Zuhausegebliebenen zu
berichten, nachzukommen versuchten.
Die touristische Reise der zweiten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts aber ist spracharm. Sie kommt mit wenigen stan-
dardisierten Aufzeichnungen zu Ort, Wetter und Wohlbefinden
aus und hat mit wirklichen Projekten eines Schreibens auf Rei-
sen nichts mehr zu tun. Solche Projekte nämlich verstehen das
Reisen immer als eine kulturelle Praxis, die bis in die kleinsten
Verästelungen untersucht, beschrieben und dokumentiert wird.
So wird die Reise zu einer Schreibschule eigener Art, die The-
men und Aufgaben vorgibt, um die Fremde und sich selbst bes-
ser zu verstehen.

11
Textprojekte und Schreibaufgaben I:
Vorübungen –
Schreiben im Revier

1. Der Spaziergang 1

Mitte Mai, und tagelange Regenfälle, unwirtliche Temperaturen


und schwarzgraues Geschmier am Himmel – wohin also ? Zu
einem der Regenwassersammler, zu einem Fluss.2

Beginnen wir mit einigen Vorübungen, mit deren Hilfe wir uns
auf unsere Reisen vorbereiten. Solche Vorübungen haben den
großen Vorteil, dass wir sie auch zu Hause, in einem vertrauten
Terrain, angehen und dann später auf Reisen weiterentwickeln
können. In allen Fällen handelt es sich dabei um überschaubare,
eher kleine Projekte, die einen bestimmten Raumausschnitt in
einer bestimmten Manier erkunden.
Die auf den ersten Blick einfachste und geläufigste Form
einer solchen Raumerkundung ist der Spaziergang. Spazieren
gehen wir immer wieder, daher glauben wir wohl auch zu wissen,
was ein Spaziergang ist und wie er verläuft. Anders stellt sich das
Projekt aber dar, wenn es um die schriftliche Fixierung eines ein-
fachen Spaziergangs geht. Haben wir überhaupt je einmal Texte
gelesen, in denen Spaziergänge dokumentiert wurden oder in

2 Franz Hohler: Spaziergänge, S. 34.

12
Der Spaziergang 1

denen genauer von Spaziergängen erzählt wurde ?3 Und wenn


nicht – wie könnten denn solche Texte aussehen ?
Der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler hat vor Kurzem
ein Buch veröffentlicht, in dem er genau so etwas versucht hat.
In einer Vorbemerkung zu seinen Spaziergang-Texten schreibt er,
dass er am 12. März 2010 beschlossen habe, ein Jahr lang jede
Woche einen Spaziergang zu machen. Sein Spaziergang-Buch
enthält also zweiundfünfzig Spaziergänge, und von jedem dieser
Spaziergänge wird auf höchstens drei Seiten berichtet oder
erzählt. Wie aber sehen solche Berichte oder Erzählungen im
Einzelnen aus ? Und auf welche Weise versuchen sie, sich am
Verlauf und der spezifischen Form eines Spaziergangs zu orien-
tieren ?
Hohlers Spaziergänge sind Gehwege von nicht allzu ausge-
dehnter Dauer. Zu Beginn eines jeden Gangs wird der Auf-
bruchsort markiert: Wo genau gehe ich los und wohin wende ich
mich als Erstes? Hohler widmet seine ganze Aufmerksamkeit
dann den Personen, Dingen und Erscheinungen am Wegrand. Sie
werden kurz fixiert und so aneinandergereiht, dass der gleichmä-
ßige Modus des Gehens als Folge von einzelnen, durch das Gehen
miteinander verbundenen Beobachtungen gut erkennbar bleibt.
Etwa so: Ich befinde mich zunächst an diesem oder jenem
Ort, ich wende mich dann dorthin, ich gehe diesen oder jenen
Weg entlang, rechts erkenne ich dieses, links jenes, der Weg führt
hin zu folgendem anderen Ort, den ich rechts (oder links)
umrunde, überquere, durchlaufe, dann erreiche ich den nächsten
Ort, dort stoße ich auf folgende Gegenstände oder Erscheinun-
gen, ich lasse sie rechts liegen und begegne zwei Personen, die
sich gerade über dieses oder jenes unterhalten …

3 Vgl.: Auf buntbewegten Gassen. Literarische Spaziergänge von Schiller bis Kafka.
Hrsg. von Stefan Geyer. Frankfurt/M. 2011.

13
Textprojekte und Schreibaufgaben I

Das Gehen verläuft also möglichst unangestrengt, locker und


vor allem kontinuierlich. Hohler will dabei nicht zu tieferen
Wahrheiten oder Einsichten vordringen, er will sich vielmehr
allmählich, Schritt für Schritt, vom sonstigen Alltag lösen und
sich für die Dauer des Spaziergangs im wörtlichen Sinn »ent-
spannen«. Jedem Detail, das ihm in seiner Umgebung begegnet,
wendet er sich mit derselben vorurteilslosen Aufmerksamkeit zu
und registriert es dann mit freundlicher Zuwendung. Die Raum-
erkundung macht dadurch auf den Leser den Eindruck einer
Wahrnehmungsschule: Was gibt es nicht alles zu sehen, und was
würde ich nicht alles übersehen haben, wenn ich mir nicht vorge-
nommen hätte, davon detailliert zu berichten oder zu erzählen!
Und genau das ist denn auch eine der wichtigsten Aufgaben
solcher Texte: Dass ich als Spaziergänger aufmerksam werde auf
das, was mich umgibt. Dass ich es für einen Moment eines
genauen Blicks würdige und festhalte. Und dass ich mir so im
Einzelnen bewusst mache, an welchen Orten und in welchen
Räumen ich mich bewegt habe und in welche Raumatmosphä-
ren ich dadurch eingetaucht bin.
Auf solche stark atmosphärischen Momente laufen die
Raumbeschreibungen Hohlers sehr häufig zu:

Das Aprikosenspalier am Nachbarhaus blüht verschwenderisch,


eine Amsel ist zu hören, und aus jedem zweiten Garten senden
Forsythien ihre gelben Lichtstrahlen aus. Die Zeichen stehen auf
Frühling und auf Feiertag, schon leere Parkplätze haben etwas
4
Besinnliches.

Der Spaziergänger Hohler bemerkt die üppigen Blüten am


Nachbarhaus, er hört eine einzelne Amsel und erkennt die gel-

4 Franz Hohler: Spaziergänge, S. 16.

14
Der Spaziergang 1

ben Strahlen der überall blühenden Forsythiensträucher. Diese


drei Wahrnehmungen verdichten sich zu einem Vorfrühlingsein-
druck und einem Bild. Atmosphärisch wirkt dieses Ensemble
wie ein trügerischer Stillstand und wie ein Moment des Über-
gangs, konkret aber erscheint es als eine gespannte Ruhe- und
Erwartungshaltung von stillen Plätzen, die noch vor sich hin-
dämmern, bald aber stark belebt und befahren sein werden.
So verwandeln sich die genauen, langsamen Beobachtungen
in knappe Andeutungen atmosphärischer Intensitäten, die durch
Jahreszeit, Wetter, Farben oder Gerüche geprägt sein können.
Auf diese Weise nimmt der Spaziergänger Hohler Witterung auf
und durchstreift ein Revier: auf der Suche nach dessen unter-
schiedlichen Stimmungscharakteren und -gestalten.

15
Textprojekte und Schreibaufgaben I

Schreibaufgabe
n Gehen Sie von Ihrer Wohnung aus eine oder zwei Stunden
in der näheren Umgebung spazieren. Halten Sie zunächst
den Aufbruchsort fest und notieren Sie während des Spazier-
gangs dann einige starke Wahrnehmungen oder Beobachtun-
gen zu beiden Seiten des Weges in kontinuierlicher Folge.
n Erkunden Sie so ein bestimmtes Revier Ihrer Umgebung
mit dem besonderen Blick darauf, welche Raumelemente
(Wege, Kreuzungen, Straßen, Plätze, Unterführungen etc.)
dieses Revier strukturieren und wie genau Sie von diesen
Raumelementen geführt und in Ihrer Wahrnehmung stimu-
liert werden.
n Komponieren Sie Ihre Notate einige Stunden nach Ihrem
Spaziergang zu einem Bericht oder einer Erzählung und ver-
suchen Sie, einige der markanteren Eindrücke auch in Form
von sprachlichen Bildern zu fixieren. Reihen Sie diese Bilder
aneinander und machen Sie dann und wann deutlich, welche
Raumatmosphären die Bilder in ihrer Folge hervorgebracht
haben.

16
2. Der Spaziergang 2

Geben wir uns also ganz der Freude hin, mit unserer Seele zu plau-
dern: sie ist das Einzige, was die Menschen uns nicht rauben können.5

Franz Hohler haben wir als einen Spaziergänger kennengelernt,


der mit größter Aufmerksamkeit die Personen, Dinge und
Erscheinungen am Wegrand wahrnimmt. Er notiert sie und fügt
diese Wahrnehmungen so zu einer Folge zusammen, dass der
Leser einen recht genauen Eindruck vom Verlauf seines Spazier-
gangs erhält. Der Bericht, der dann letztlich vorliegt, dokumen-
tiert diesen Gang in seinen Einzelheiten, ohne dass irgendwo
länger bei einer dieser Einzelheiten verweilt wird.
Ganz anders als Franz Hohler hat der französische Schrift-
steller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) das Spazierengehen
verstanden. Mit den kurz vor seinem Tod entstandenen »Träu-
mereien eines einsamen Spaziergängers« begründete er eine spä-
ter von den Romantikern aufgegriffene und verfeinerte Methode
der Raumerkundung. Sie widmet den Erscheinungen am Weg-
rand keineswegs die größte Aufmerksamkeit, sondern behandelt
diese Erscheinungen lediglich als einen Anlass oder einen Impuls
zu sich dann selbstständig fortsetzenden Träumereien und Über-
legungen. Rousseaus Spaziergänger-Texte sind also interessant
vor allem für jene Schreiber, die in ihren Aufzeichnungen nicht
den Verlauf eines Ganges, sondern die Wirkungen, die er im
Innern hinterlässt, darstellen wollen.
Rousseau selbst war zwar durchaus auch ein leidenschaftli-
cher Spaziergänger und hat viel Zeit seines Lebens spazieren
gehend verbracht. Solche Spaziergänge haben ihn aber vor allem

5 Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 14.

17
Textprojekte und Schreibaufgaben I

dazu animiert, über sein eigenes Leben, besondere Eigentüm-


lichkeiten seiner Biografie oder seines Erlebens nachzuden-
ken.6
Als Leser solcher »Träumereien« bekommt man denn auch
von den Umgebungen dieser Spaziergänge meist nur Schemen-
haftes oder Angedeutetes mit. Rousseau studiert nicht, was sich
ihm präsentiert, er widmet sich – als emphatischer Botaniker –
höchstens der Untersuchung von Pflanzen. Aber auch solche
botanischen Studien verbleiben nicht lange bei den Einzelheiten,
sondern zielen immer wieder auf »das Ganze«. Was aber ist die-
ses Ganze und wie gerät es in den Blick ?
Am 24. Oktober 1776 ist Rousseau in den Außenbezirken
von Paris unterwegs. Er geht durch Weinberge und Wiesen, klei-
ne Fußpfade entlang, und er erkennt am Wegrand einige seltene
Pflanzen aus der Familie der Korbblütler. Er untersucht und
bestimmt diese Pflanzen, wendet sich dann aber abrupt vom Stu-
dium dieser Einzelheiten ab und überlässt sich »dem Eindruck
des Ganzen«. Dieser Eindruck wird dann skizziert:

Seit einigen Tagen war die Weinlese beendet. Die Spaziergänger


aus der Stadt kamen schon nicht mehr; selbst die Bauern verließen
bis zur Winterarbeit die Felder. Die Fluren – zwar noch grün und
einladend, aber zum Teil bereits entlaubt und fast menschenleer –
zeigten überall das Bild der Einsamkeit und des nahen Winters.
Der Anblick bot eine Mischung aus schönen und traurigen Ein-
drücken, die meinem Alter und meinem Schicksal so sehr entsprach,
7
dass ich ihn geradezu auf mich beziehen musste.

6 Claudia Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau,


Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Tübingen 1999.
7 Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 22.

18
Der Spaziergang 2

Nach der Betrachtung der pflanzlichen Details tritt der Spazier-


gänger Rousseau gleichsam einen Schritt zurück und richtet den
Blick auf ein kleines Panorama der Natur: die leeren Wege, die
Felder, die Fluren insgesamt – der Blick öffnet den Naturraum
der Umgebung und betrachtet ihn als ein großes Bild. Dieses
Bild des »Ganzen« wird dann als eine Art von Seelenlandschaft
verstanden, als »Bild der Einsamkeit«. Und dieser psychische
Eindruck wird im nächsten Schritt auf das eigene Leben und auf
ein bestimmtes Moment der eigenen Biografie, das Alter, bezo-
gen.
Auf diese Weise werden Details am Wegrand langsam ausge-
blendet zugunsten geschlossener, kleiner Naturpanoramen. Bei-
nahe wie wenig später ein romantischer Künstler wie Caspar
David Friedrich in der Malerei verwandelt auch Rousseau durch
ein komprimierendes und auswählendes Schauen eine vorgege-
bene Landschaft in ein Seelengemälde, in dem die einzelnen
Dinge den Charakter von psychischen Zeichen haben und beim
Betrachter ein bestimmtes, dominantes Empfinden hervorrufen.
Ein solches Empfinden gibt dann ein Leitmotiv für die weiteren
Überlegungen und das frei fantasierende Nachdenken vor. Ein
solches Nachdenken erkundet die eigenen Innenräume: Szenen
der Vergangenheit oder zentrale Begriffe, die das eigene Erleben
genauer zu fassen versuchen.
Die »Träumereien« kultivieren in dieser Weise Rituale der
Einsamkeit und des Rückzugs nach innen und betrachten diesen
Rückzug als den Weg hin zum eigentlichen philosophischen
8
Glück. Vorformen dieses Glücks werden während der Spazier-
gänge in geradezu enthusiastischer Manier erfahren. Der Spa-
ziergänger Rousseau fühlt sich dann frei, nur auf sich selbst be-

8 Heinrich Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rous-
seaus Rêveries in zwei Büchern. München 2011.

19
Textprojekte und Schreibaufgaben I

zogen, und die meist landschaftliche Umgebung wirkt in solchen


Momenten wie ein gewaltiger emotionaler Verstärker, der den
Selbstbezug steigert und den ekstatisch erlebten Selbstgenuss
einleitet:

Die Quelle des wahren Glücks, so lernte ich durch eigene Erfahrung,
liegt in uns selber; und keine Macht der Welt vermag es, jemanden
elend zu machen, der glücklich sein will und weiß, wie er es wird …
So erlebte ich auf manchen meiner einsamen Wanderungen Verzü-
ckungen, ja Ekstasen …9

Schreibaufgabe
n Machen Sie einen Spaziergang durch ein eher weites,
offenes Landschaftsgelände und suchen Sie einen Punkt, von
dem aus das Gelände gut zu überblicken ist.
n Beschreiben Sie, wie dieses Gelände auf Sie wirkt und wel-
che Empfindungen es in Ihnen auslöst.
n Erläutern Sie weiter, inwieweit Sie für diese Empfindungen
empfänglich sind und zu welchen Zeitabschnitten sie in Ihrer
Biografie besonders aktiv waren.
n Fragen Sie sich zum Abschluss, welche Ihnen bekannte
Musik zu jenen Emotionen passt, die Sie gerade gehabt
haben. Vertiefen Sie auf diesem Weg die Beschreibung Ihrer
Emotionen.

9 Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 20.

20
3. Der Spaziergang 3

Ganz Manhattan war früher so gewesen: ein magisches Land.


Man nannte es die Stadt der Wunder, und so war es.10

Man könnte Franz Hohler als einen typisch extrovertierten und


Jean-Jacques Rousseau als einen typisch introvertierten Spazier-
gänger bezeichnen. Die besonderen Formen ihrer Raumerkun-
dung hinterlassen in ihren Texten deutliche Spuren. Im Falle
Hohlers entsteht ein kurzer Film, der den Verlauf des Spazier-
gangs dokumentiert, im Falle Rousseaus entsteht ein Bild, das
einen zentralen psychischen Eindruck des Spaziergangs in einer
Seelenlandschaft spiegelt.
Eine literaturwissenschaftliche Studie zur Figur des Spazier-
gängers hat noch viele weitere Typen entdeckt, so zum Beispiel
den schweifenden, getriebenen, beschaulichen oder peripateti-
11
schen Spaziergänger. Von einer solchen Studie kann man sich als
Schreiber anregen lassen, die unterschiedlichsten Formen des Spa-
ziergangs zu erproben und dabei zu überlegen, wie man durch die
jeweilige Form Außenwelt einfangen und sich aneignen kann.
Eine besonders intensive Form der Raumaneignung könnte
man »Feldforschung« nennen.12 Dabei geht es vor allem darum,
sich auf die Außenwelt stärker als nur betrachtend einzulassen.
Der Spaziergänger als Feldforscher mischt sich in die Umgebung
ein, er geht offensiv auf Menschen und Dinge zu, er befragt sie,
unterhält sich mit ihnen, er nimmt Anteil an ihrem Leben. Ein

10 Nik Cohn: Das Herz der Welt, S. 37.


11 Wolfgang von der Weppen: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der die Welt sich
vielfältig bricht. Tübingen 1995.
12 Ferdinand Sutterlüty/Peter Imbusch (Hrsg.): Abenteuer Feldforschung. Soziologen
erzählen. Frankfurt/M. 2008.

21
Textprojekte und Schreibaufgaben I

solcher Spaziergänger ist der 1946 in London geborene Schrift-


steller Nik Cohn, der ein ganzes Buch der Erforschung Manhat-
tans gewidmet hat.
Charakteristisch für seine Spaziergänge ist bereits, dass er
häufig nicht allein, sondern in Begleitung unterwegs ist. Manch-
mal hat er eine Art Führer dabei, einen jungen Taxifahrer, der
tagsüber Taxi fährt, nachts Schlagzeug spielt und, wie es heißt, in
Straßen verliebt ist.13 Wie die beiden agieren, wird schon an den
ersten Szenen des Buches sehr deutlich. Am Abend eines Tages,
an dem sie die Straßen Manhattans im Taxi vorsondiert haben
und rastlos durchfahren sind, sitzen sie in einer Bar namens Kil-
larney Rose. An ihrem Thekenende sitzt ein bereits älterer, leicht
betrunkener Mann, mit dem sie sofort Kontakt aufnehmen. Sie
erfahren seinen Namen und seinen früheren Beruf, er hat als
Bote in der Wall Street gearbeitet. Wie war das, als Bote zu
arbeiten ? Und wie ging es früher in dieser Bar zu, die anschei-
nend die Stammkneipe des älteren Mannes ist ?
Cohns Interesse gilt jedem Detail, es gilt aber vor allem den
Lebensgeschichten der Menschen, die ihm begegnen und die er
offen und neugierig begleitet. Kaum ist er mit ihnen für eine
Weile zusammen, erzählen sie ausführlich von ihrem Leben und
von sich selbst. Und jedes Mal schafft es Nik Cohn, diese Erzäh-
lungen durch seine Fragen so zu steuern, dass sie sich vor allem
auf den umgebenden Raum beziehen: Was war hier einmal los ?
Was ist heute hier los ? Welche Geschichten kreuzen sich genau
an diesem einen, unverwechselbaren Ort ?
Wichtig ist auch, dass Cohn keine bestimmten Wege für sei-
ne Spaziergänge vorsieht oder auswählt. Die Wege, die er geht,
werden vielmehr von seinen Gesprächspartnern bestimmt.
Indem er ihnen folgt, zeichnet Cohn gleichsam die Muster der

13 Nik Cohn: Das Herz der Welt, S. 12.

22
Der Spaziergang 3

vielen Bewegungen nach, die sich in einem bestimmten Raum


ereignen.
An einem Morgen trifft er auf die »Freiheits-Diebe«, eine
Gruppe von Jungs, die von Diebstählen und kleinen Betrügerei-
en leben und in immer anderen Formationen durch die Straßen
ziehen. Cohn folgt Stoney, ihrem Anführer. Er beschreibt sein
Aussehen, entlockt ihm seine Lebensphilosophie und erfährt
dann viel von seiner Vorgeschichte. Schließlich landen die bei-
den vor einer Bar, und siehe da – es ist das Killarney Rose, das
Cohn ja bereits kennt und einen Abend vorher besucht hat. Jetzt
aber ist Morgen, und die Szenerie sieht ganz anders aus:

Bei Tageslicht war die Bar wie verwandelt: Es herrschte ein buntes
Treiben, und an der Theke drängten sich Büroangestellte, junge,
aufstrebende Broker und Finanzmakler, die gerade eine Pause
einlegten. Stoney trank einen Grand Marnier und dazu ein 7-Up.
Er sah mich ernst an. »Was meinst du ?« fragte er mich. »Soll ich
Prediger werden ?«14

Stoney erzählt nun Teile seiner Familiengeschichte und landet


bei seiner Tante Clara, die einen Block vom Broadway entfernt
lebt. In ihrem Einzimmerappartment hat Stoney eine Weile
gewohnt und ist dort den Bekannten und Freunden der Tante
begegnet, deren Wege und Geschichten er als Nächstes nach-
zeichnet. Schließlich erzählt er von seinem Metier, dem Dieb-
stahl, und davon, wer ihm seine Künste und eine Diebstahl-Phi-
losophie beigebracht hat, es war Aaron, ein chassidischer Jude
aus Mount Vernon. Aarons Geschichte und seine Wege durch
Manhattan sind als Nächstes dran, und von ihnen kehrt man
langsam wieder an die Theke des Killarney Rose zurück:

14 Nik Cohn: Das Herz der Welt, S. 23.

23
Textprojekte und Schreibaufgaben I

Auf der Theke des Killarney Rose standen fünf leere Grand-Mar-
nier-Gläser und daneben fünf 7-Ups, und Stoney bestellte seine
sechste Runde. Er prostete mir zu, und sein Gesicht war so aus-
druckslos wie die Rückseite des Mondes. Bevor er trank, gestattete
er sich ein kleines, verkniffenes Lächeln. »Na und ?« fragte er. »Hab
ich dir jetzt dein verdammtes Herz gebrochen ?«15

Der Aufbau einer solchen Szene zeigt, wie Cohn bei seiner Feld-
forschung vorgeht. Er schließt sich einer oder mehreren Perso-
nen an, lässt sich mit ihnen treiben, beobachtet, mit welchen
Räumen und Umgebungen sie Kontakt aufnehmen, erkundet
diese Kontakte, lässt sich mit seinen Begleitern irgendwo nieder,
fragt weiter nach und erfährt Geschichten über Geschichten.
Die Wege, die sich hierbei ergeben, werden durch einen
Wechsel der Schreibweise lebendig. Cohn arbeitet mit kurzen
Beschreibungen und mit knappen, rasch geführten Dialogen.
Wenn eine Person länger zu Wort kommen soll, übernimmt er
die Rolle des Erzählers und erzählt packend und zusammenfas-
send, was er von dieser Person erfahren hat. So übernimmt er die
Rolle eines Moderators, der die verschiedensten Stimmen und
Schicksale zusammenführt und durch sein Nachfragen und
Zuhören Verbindungen zwischen ihren sehr unterschiedlichen
Geschichten herstellt.
Dabei verliert er aber nie das eigentliche Thema seiner
Erkundungen, den Großraum Manhattan mit all den Orten, von
denen die Menschen so magisch angezogen werden, aus dem
Blick. Die Geschichte dieser Orte erscheint in Cohns Erzählung
eingebunden in die Geschichten der Menschen, sodass man als
Leser gut erkennt, welch unterschiedlichen Gebrauch die ver-
schiedenen Menschen von ein und demselben Raum machen.

15 Nik Cohn: Das Herz der Welt, S. 30.

24
Der Spaziergang 3

Im Grunde zeigt Cohn, wie man eine Großgeschichte Manhat-


tans schreiben müsste: als Geschichte jener Wohn- und Aufent-
haltsorte, an denen sich die Menschen begegnen, und im Blick
auf die unterschiedlichen Perspektiven, mit denen die Menschen
ihre Räume betrachten und von ihnen erzählen.

Schreibaufgabe
n Markieren Sie auf einer Karte ein bestimmtes städtisches
oder dörfliches Revier, von dem Sie wissen, dass es durch
seine Geschichten einen bestimmten Ruf und Namen hat.
Machen Sie einige Spaziergänge durch dieses Revier und
beobachten Sie, welche Menschen Ihnen an welchen Orten
begegnen.
n Versuchen Sie, mit diesen Menschen in Kontakt zu kom-
men, unterhalten Sie sich mit ihnen und erkundigen Sie
sich nach bestimmten Eigenarten oder Besonderheiten des
Reviers, in dem Sie sich befinden. Intensivieren Sie diese
Gespräche durch Nachfragen nach Lebensumständen oder
Details von Lebensgeschichten.
n Machen Sie sich nach Ihren Wegen und Gesprächen kurze,
prägnante und detailreiche Notizen.
n Schreiben Sie aufgrund dieser Notizen eine fortlaufende
Erzählung in der Manier von Nik Cohn. Die Lektüre seines
Buches gibt Ihnen viele weitere Hinweise.

25
4. Die Flanerie

Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir
wohl zugetragen haben ? 16

Auch die Flanerie ist ein Spaziergang, aber ein Spaziergang ganz
besonderer Art. Entstanden ist sie im großstädtischen Paris des
neunzehnten Jahrhunderts,17 und zwar im Paris jener glasüber-
dachten Passagen, die große Gebäudekomplexe durchbrachen
und den Flaneur wettergeschützt von einem breiten Boulevard
zum andern schlendern ließen.
Anders als der normale Spaziergänger folgt der Flaneur dabei
aber nicht einem bestimmten Weg oder Plan, den er im Auge behält,
sondern lässt sich im Strom der Menge treiben. Dass diese sich
meist ungeordnet, zufällig und spontan bewegt, ist ihm gerade recht.
Auch ihn zieht es nämlich bald hierhin, bald dorthin, mal betrachtet
er eine seltene oder besonders auffällige Ware im Schaufenster eines
Ladens, mal verweilt er an einer Straßenecke, um in Ruhe die Bewe-
gungen der Menge zu studieren. Manchmal aber bewegt auch er
sich in dieser Menge mit, bleibt dabei jedoch immer der geheime
Beobachter auf der Spurensuche nach interessanten oder merkwür-
digen Details. In diesem Sinn ist der Flaneur ein stiller Sammler,
süchtig nach dem besonderen, einzigartigen Bild, neugierig auf das
seltene und von ihm zuerst oder gar allein bemerkte Ereignis.
Durch genaue Beobachtung und inszenierte Distanz entzieht
sich der Flaneur den Bewegungen der Masse. Auch nach außen
hin macht er manchmal deutlich, dass er anders als die meisten,

16 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band V.1. Das Passagen-Werk. Hrsg. von
Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1982, S. 527.
17 Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturge-
schichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989.

26
Die Flanerie

die an ihm vorbeieilen oder ihm entgegenströmen, kein eigentli-


ches Ziel vor Augen und nichts Bestimmtes vorhat. Demonstra-
tiv langsam bewegt er sich dann als Einzelgänger im Strom,
bleibt stehen, beobachtet eine Straßenszene, schaut versonnen
auf ein Plakat, geht wieder ein paar Schritte, mustert die Klei-
dung einer Passantin, blickt ihr lange hinterher und lässt sich
wieder in der Menge treiben. Anders als dem Feldforscher Nik
Cohn ist ihm nichts mehr zuwider, als in ein Gespräch oder eine
Unterhaltung verwickelt zu werden.
So gleitet er durch die Menschenströme und lässt sich von all
ihrer Unruhe und ihrer Erregtheit zum Träumen, Fantasieren
oder auch Nachdenken animieren. Sein Gehen folgt dabei aus-
schließlich plötzlich auftauchenden Reizen und Impulsen: Ir-
gendein farbiges Detail lockt ihn, zieht ihn an – er lässt dieses
Detail auf sich wirken, bleibt stehen, schaut, träumt, sinniert –
und geht wieder weiter. Auf diese Weise setzt sich die Flanerie
aus kurzen, intensiven Blickkontakten zusammen, an die sich
knappe Überlegungen anschließen – wie hier in der Beschrei-
bung einer Berlin-Flanerie des Schriftstellers David Wagner:

Falckenstein-, Ecke Schlesische Straße In einem Ladenlokal,


das lange leerstand, gibt es ein neues Geschäft. Es heißt Küchen-
studio Tristesse. Keiner weiß, was da eigentlich verkauft wird.
Traurigkeit in kleinen Tüten ? Manchmal stehen da Objekte aus
Plüsch – nicht notwendig zu wissen, ob sie einen Zweck erfüllen,
manchmal wird hier abends auch bloß getrunken. Oder ein Low-
18
Fi-Konzert veranstaltet.

Solche intensiven Blickkontakte, die in ein stilles Träumen und


ein frei schweifendes Nachdenken übergehen, sind die Grund-

18 David Wagner: Welche Farbe hat Berlin, S. 12.

27
Textprojekte und Schreibaufgaben I

elemente der Flanerie. Sie ergeben sich zunächst vor allem als
Reaktionen auf Interessantes oder Neues, dessen spezifischen
Reizen nachgeschaut oder nachgeforscht wird.
Ein derartiges Nachforschen kann aber auch umschlagen in Erin-
nerungen daran, wie sich der gerade betrachtete Raum früher einmal
präsentierte. Flaneure durchstreifen ihre Reviere nämlich nicht nur
einmal oder ab und zu, sondern sind immer wieder auch auf längst
bekannten Wegen unterwegs. Charakteristisch für sie ist, dass sie eine
starke Anhänglichkeit an die Stadt entwickeln, die sie immer genau-
er kennenlernen wollen, von ihren früheren Erscheinungen bis in die
Gegenwart. Daher sind viele Namen großer Flaneure meist mit nur
einem einzigen Städtenamen verbunden. In dieser Stadt haben sie
sich jahre- oder jahrzehntelang aufgehalten, und sie wollen nicht auf-
hören, genau diese eine geliebte Stadt immer weiter zu erforschen.
Erfahrene Flaneure sammeln dann nicht nur Bilder des
gegenwärtigen Zustands einer Stadt, sondern verbinden Gegen-
wartseindrücke mit Erinnerungsbildern, die im Extremfall bis
zur Kindheit des jeweiligen Flaneurs zurückreichen. Rückblen-
den dieser Art durchziehen etwa die Flanerien des Schriftstellers
Franz Hessel (1880–1941), der in den 1920er-Jahren die Groß-
stadt Berlin durchstreifte:

Humboldthain: nur ein paar größere Buben jagen um den Spielplatz.


Für die kleinen, die man hier im Sommer auf den Sandhaufen sah, ist
es schon zu kalt. Auch von der berühmten Spielbank der Arbeitslosen
ist heute nichts zu sehn, die im Herbst hier im Grünen auf den Bän-
ken Karten auf rote und bunte Taschentücher als Spielteppich warf,
Zahlen erschallen ließ und mit kleinen Münzen klapperte. Da gab es
Spielergesichter über kragenlosen Hälsen so ernst und versunken wie
die über den Frackhemden von Monte Carlo.19

19 Franz Hessel: Spazieren in Berlin, S. 178.

28
Die Flanerie

Mehrere Zeitbilder ein und desselben Raumes werden hier über-


einandergeblendet. So sieht man den Spielplatz am Humboldt-
hain in verschiedenen Jahreszeiten und erfährt, was sich auf die-
sem Platz in diesen unterschiedlichen Zeiten alles so getan hat.
Der Schriftsteller Hermann Lenz (1913–1998) hat mithilfe
solcher Rückblenden einen durchstreiften Raum nicht nur bis zu
den eigenen Kindheitseindrücken, sondern sogar bis zu den
Erzählungen seiner Vorfahren zurückverfolgt. Die Stadt, der all
seine Liebe und Aufmerksamkeit galten, war seine Geburtsstadt
Stuttgart, in der er viele Jahrzehnte seines Lebens verbrachte.
Auf unnachahmlich leichte und dezente Weise, beinahe unmerk-
lich, holt Lenz die Weite der Vergangenheit in seine Flanerien
hinein:

Zwischen den Fenstern des einstigen Hotels Marquardt sind Ni-


schen eingefügt, die Sandsteinfiguren schmücken; sie schauen über
Steinbalkone, als dächten sie an die glanzvolle Zeit dieses europä-
isch berühmten Gasthofs. Dort, wo es heute in ein Kino hineingeht,
war der Hoteleingang mit Glastourniquet und Generalfeldmar-
schall Baldachin. Viele adlige Herrschaften haben hier gewohnt.
Helmuth Graf von Moltke hat das Hotel in seinen Reiseerinnerun-
gen rühmend erwähnt, und meine Urgroßmutter, die bei meinem
Großvater Julius Krumm, dem Besitzer eines Weinwirtschäftles, in
Gablenberg wohnte, hat die Küche des Hotels Marquardt mit den
Lebern ihrer gestopften Gänse beliefert und manches Goldstück
20
dafür eingeheimst.

Ein Gebäudekomplex wird hier genauer betrachtet. Die Betrach-


tung seiner Architektur führt zurück in die Vergangenheit, als
das Gebäude noch ein nobles Hotel war, während es jetzt nur

20 Hermann Lenz: Stuttgart. Portrait einer Stadt, S. 204.

29
Textprojekte und Schreibaufgaben I

noch ein eher unauffälliges Kino ist. Betrachtet man aber den
Kinoeingang genauer, so erkennt man, dass dieser Eingang ein-
mal ein prachtvoller Hoteleingang war. Eine kurze Leserremi-
niszenz erinnert an einen einzigen der früheren Gäste und gibt
dem Leser eine Vorstellung davon, welche Gäste es waren, die
gerade dieses Hotel besuchten. Mithilfe dieser Reminiszenz
blendet Lenz in die Welt seiner Vorfahren zurück und erzählt
anhand von wenigen, sehr markanten Details, was diese Vorfah-
ren mit dem früheren Hotel verband.
Solche meisterhaften Passagen gelingen nur, wenn der Fla-
neur nicht nur über die Gabe einer möglichst präzisen Beobach-
tung, sondern auch über viel Erinnerungsmaterial verfügt. Dieses
Material kann aus Lektüren (am besten eignen sich dafür ältere
Reiseliteratur, Memoiren und Autobiografien im weitesten Sinn),
aus eigenen Erinnerungen, aber eben auch aus Erinnerungen von
Familienmitgliedern bestehen.
Ein Projekt der Rückerinnerung an Vergangenes mit dem
Blick auf einen bestimmten und begrenzten städtischen Raum
hat sich der Schriftsteller Peter Kurzeck (geb. 1943) in seinem
Erinnerungsbuch »Mein Bahnhofsviertel« vorgenommen. An-
fang der Achtzigerjahre durchstreifte er noch einmal die Gegend
um den Frankfurter Hauptbahnhof, in der er sich als junger
Mann an Wochenenden der späten Fünfzigerjahre sehr häufig
aufgehalten hatte:

Mit fünfzehn, da bist du und dort gegangen; nie müde geworden !


Es war schon berauschend, stundenlang nur von einem Eingang
zum andren zu gehen, zu wandern, um zu sehen, was läuft, wo
was los ist ! Gespräche, die Stimmen; niemand schlief. Du hast noch
jeden beiläufigen Nuttenblick, jeden Augenblick, jede geflüsterte
Anrede an dir vorbei als Verheißung auf Leben und Zukunft dir
eingeprägt, mitgenommen; Montag ist weit. Sie sagten egalweg

30
Die Flanerie

Schätzchen und Darling. Du hast noch die Stimmen im Ohr, die


Musik und das Klappern der Stöckelschuhe auf dem Nachtbürger-
steig vor den Hauseingängen. Im roten Licht hin und her, mit Zu-
hältern und Filmgangstern freundliche Worte und eiskalte Blicke
getauscht und dazugehört …21

Im Fall des Flaneurs Peter Kurzeck genügen sehr wenige Impul-


se des gegenwärtigen Raumes, um die Erinnerungen abzurufen
und den Gegenwartsraum rund um den Frankfurter Hauptbahn-
hof in einen Vergangenheitsraum zu verwandeln. Die Erinne-
rungen setzen ein und beginnen dann schon bald so mächtig und
detailliert zu fluten, dass der Gegenwartsraum immer mehr aus-
geblendet wird. Schließlich glaubt man, dass sich der Flaneur
Kurzeck mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart bewegt.
Was dadurch entsteht, sind komprimierte Filmsequenzen aus
den Fünfzigerjahren, als der jugendliche Peter Kurzeck noch
nicht flanierte, sondern wie ein Getriebener zu den anderen
Getriebenen eines kleinen Reviers gehörte. In seinen späteren
Jahren wird Kurzeck angesichts solcher Erinnerungen zum Fla-
neur. Er durchläuft und durchstreift sie und lebt so ihren Früh-
impressionismus noch einmal nach.

21 Peter Kurzeck: Mein Bahnhofsviertel, S. 8 f.

31
Textprojekte und Schreibaufgaben I

Schreibaufgabe
n Durchstreifen Sie einen möglichst belebten Straßenzug
in einer möglichst großstädtischen Innenstadt. Notieren Sie
kurz kleine Details, die Ihnen auffallen.
n Überarbeiten Sie später diese Details, nummerieren Sie die
korrigierten Texte und komponieren Sie so eine durchnum-
merierte Folge von flaneurartigen Momenteindrücken in einer
bestimmten Straße.
n Wollen Sie das Projekt erweitern, so flanieren Sie in einem
Straßenterrain, das Sie schon aus der Kindheit kennen.
n Beobachten Sie genau, wie sich dieses Terrain verändert
hat: Welche Details Ihrer Kindheitseindrücke sind noch vor-
handen, welche haben sich verändert ?
n Erzählen Sie von Ihren Kindheitseindrücken, indem Sie die-
se Erinnerungen mit noch vorhandenen Gegenständen oder
Personen in Beziehung bringen.
n Wollen Sie Ihr Revier noch weitgehender erforschen, so
fragen Sie andere Personen, die es aus der Vergangenheit
kennen, nach ihren Eindrücken.
n Notieren Sie diese Eindrücke und ergänzen Sie das Materi-
al eventuell durch Lektüren.
n Schreiben Sie dann eine flaneurartige Schilderung des
Terrains, indem Sie von ihm aus den unterschiedlichsten zeit-
lichen und personalen Erinnerungsperspektiven erzählen.

32
5. Die Wanderung

Glück als das lichterlohe Bewußtsein: Diesen Anblick wirst du


niemals vergessen.22

Natürlich gibt es auch kurze Wanderungen, Wanderungen von


knapp einem Tag, an dessen Ende man wieder zu Hause ist.23
Um genauer zu verstehen, was eigentlich eine Wanderung ist
und welches Schreiben dieser Bewegung im Raum am besten
entspricht, stellen wir uns aber besser eine längere Wanderung
vor, eine Wanderung von einigen oder vielen Tagen. Begleiten
wir also einen Wanderer, der Ernst gemacht hat mit dem Wan-
dern und wahrhaftig Tausende von Kilometern zu Fuß unter-
wegs war.
Dieser Wanderer heißt Matsuo Bashô (1644–1694), und er
wanderte im Jahr 1689 150 Tage und über 2 400 Kilometer durch
die nördlichen Provinzen Japans. Seine Wanderung hat er in
einem Reisetagebuch festgehalten, dessen Lektüre einem viel
24
über die Besonderheiten des Wanderns verrät.
Zu diesen Besonderheiten gehört schon der Aufbruch. Ein
Kreis von Freunden begleitet Bashô bei diesem Aufbruch noch
ein paar Schritte und nimmt dann von ihm Abschied. Einen lan-
gen und nicht ungefährlichen Weg vor Augen, muss sich der
Wanderer von seinem Zuhause losreißen. Die Trennung von die-
sem Zuhause markiert einen Einschnitt und bildet die erste Sta-
tion seiner Reise.
Von nun an wird er viele solcher Stationen erreichen und

22 Max Frisch: Hoch über dem Meer, S. 54.


23 FranzHohler: 52 Wanderungen. München 2005.
24 Matsuo Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland.

33
Textprojekte und Schreibaufgaben I

dann hinter sich lassen. Das Wandern ist durch eine solche Fol-
ge von Stationen bestimmt. Jede einzelne Station signalisiert,
wie nahe der Wanderer dem großen Ziel, an dem er seine Wan-
derung als Ganzes ausrichtet, bereits gekommen ist. Die Station
hat dadurch die Aufgabe, den Verlauf der Annäherung an das
Ziel zu markieren und festzulegen. Gleichzeitig ist die Station
aber auch selbst ein Ziel, sodass man sie als ein Ziel im Kleinen
verstehen könnte. Der Wanderer bewegt sich also auf solche Zie-
le im Kleinen und letztlich auf ein großes Ziel zu.
Genau diese Orientierungen hin auf Ziele machen denn
auch vor allem die Besonderheiten der Wanderung aus. So spiel-
en der Wanderweg und seine Umgebung zwar immer eine nicht
unbedeutende Rolle, dominanter als die Aufmerksamkeit für den
Weg ist aber das Empfinden des Wanderers, sich auf einem Weg
hin zu einem Ziel zu bewegen. Den Weg kennt er meist noch
nicht, aber das Ziel hat er zumindest schon vor seinem inneren
Auge. So werden die einzelnen Details des Weges in der Be-
schreibung der Wanderung meist nur gestreift oder erwähnt,
während das Ziel eine längere Beschreibung oder sogar eine
besondere Würdigung erfährt.
Oft ist es ein besonderer Raum, eine einsam gelegene Hütte,
ein Bergplateau, ein Dorf, eine kleine Siedlung an einem Fluss
oder auch eine Stadt. Der erste Anblick dieses Raums hat etwas
Erlösendes, sodass seine spätere Schilderung nicht selten auch
etwas von einer Würdigung oder einer Feier im Kleinen hat. Der
Wanderer empfindet Genugtuung darüber, einen bestimmten
Weg glücklich zurückgelegt zu haben. Was er an einer Station
empfindet und dann schließlich feiert, ist das Glück der Ankunft.
Matsuo Bashô ist ein Meister solcher Würdigungen. Viele Stati-
onen und kleine Ziele würdigt er durch ein kleines Gedicht, ein
Haiku. Ein solches Haiku hält in nur drei Zeilen einige Beson-
derheiten der Station fest. Indem es niedergeschrieben wird,

34
Die Wanderung

kommt die Wanderung erst zur Ruhe: Der Wanderer nimmt


Platz, schaut sich endlich wieder längere Zeit ausatmend und
entspannt um und richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf das
kleine Tableau des Zielraumes, der ihn umgibt:

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir in der Tem-
pelherberge am Fuße des Berges um ein Nachtlager baten. Dann
stiegen wir hinauf zu den oberen Tempelhallen. Fels auf Fels liegt
da übereinandergeschichtet und bildet diesen Berg. Die Kiefern
und Eichen sind hochbejahrt, die Erde und das Gestein uralt, das
Moos ist von schlüpfriger Glätte. Die auf Steingrund gebauten
Tempelgebäude hatten ihre Torflügel alle geschlossen. Kein Laut
war zu vernehmen. Wir umstreiften die Klippen, krochen unter
manch einem Felsspalt hindurch und verweilten andächtig vor der
Buddha-Halle.
Einzigartig verschwiegen war die ganze Landschaft um uns, ich
hatte das untrügliche Gefühl, daß sie allein nur für uns da war,
um unser Herz zu läutern.

Shizukasa ya
Iwa ni shimi-iru
Semi no koe

Stille … !
Tief bohrt sich in den Fels
25
das Sirren der Zikaden …

Bashôs Haiku ist ein kleines Gedicht auf die glückliche Ankunft
und die nun einkehrende abendliche Stille an einer bestimmten
Station. All seine Wege laufen immerzu auf solche Stationen zu,

25 Matsuo Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, S. 183–185.

35
Textprojekte und Schreibaufgaben I

die gleichsam die großen, manchmal durchaus auch feierlichen


Momente der Wanderung darstellen. Um solcher Momente wil-
len ist Bashô unterwegs, während die eigentlichen Wege oft eine
fast untergeordnete Rolle spielen.
Große Wanderer wie Bashô wissen also vor allem zwischen
den unterschiedlichen Intensitäten während einer Wanderung
zu unterscheiden. Sie konzentrieren sich in ihren Schilderungen
vor allem auf die starken Momente, die den Charakter von Sta-
tionen haben. Was am Rande der Wege auftaucht, wird dagegen
eher flüchtig erwähnt, gestreift oder knapp hervorgehoben. Sti-
listisch führt das zu kurzen Sätzen oder Satzteilen, bei denen das
Verb oft fortgelassen wird. Knappheit und Kürze sollen der Dar-
stellung der steten und rastlosen Fortbewegung dienen.
Wie man so etwas macht, zeigt besonders deutlich eine Pas-
sage aus Werner Herzogs Buch »Vom Gehen im Eis«, in dem
Herzog (geb. 1942) eine lange Fußwanderung von München
nach Paris im Jahr 1974 beschrieben hat:

Das Prechtal entlang, es geht steil bergauf, kaum Autos, es ist neblig
verhangen und ein ständiges Nässen in der Luft. Immer höher hinauf.
Braunes Farnkraut, geknickt, klebt am Boden. Hoher Wald und tiefe,
dampfende Täler. Die Wolken und der Nebel, die ziehen über einen
weg. Wasser vom Schmelzen rieselt überall, ganz oben gehe ich nur
26
noch in den Wolken, von allen Steinen tropft es.

Eher summarisch nimmt der Wanderer Herzog hier von der Um-
gebung Notiz. Eingewoben in diese Wahrnehmungen der unmit-
telbaren Umgebung sind kurze, fortlaufende Hinweise auf die
Fortbewegung: Es geht steil bergauf …, immer höher hinauf …,
und ganz oben … – geht man in Wolken. So setzt sich ein derar-

26 Werner Herzog: Vom Gehen im Eis, S. 95.

36
Die Wanderung

tiges Notat aus dichten, skizzierten Bildern und kleinen Fortbewe-


gungspartikeln zusammen.
Sollen daneben noch kleine, auffällige Besonderheiten am
Wegrand erwähnt werden, so dienen solche Epiphanien dem
Zweck, den Weg anhand von Details zu profilieren. Solche Pro-
filierungen können der atmosphärischen Verdichtung dienen,
oder sie sind einfach dazu da, die fortlaufende Bewegung hier
und da zu verlangsamen, um ein ruhiges Innehalten des Wande-
rers und seine Freude über ein bestimmtes Detail hervorzuheben.

Wie man nun wiederum so etwas macht, zeigt eine Passage in


einem Wanderer-Text des Schriftstellers Joseph Roth (1894–1939):

Was ich sehe, ist das unerwartete plötzliche, ganz grundlose Auf- und
Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm. Der Schat-
tenriß eines holzbeladenen Menschen auf dem Wiesenpfad. Die dün-
ne Physiognomie eines Jasminzweiges, über den Gartenmauerrand
27
gelehnt. Das Verzittern einer fremden Kinderstimme in der Luft.

Jedem dieser intensiven Blicke ist anzumerken, dass der Wande-


rer kurz stehen geblieben ist, um den Blick zu vertiefen. Die Ver-
tiefung wird dadurch sichtbar, dass mehrere Details ein und der-
selben Sache genannt und aneinandergereiht werden. Die
Mückenschar schwingt nicht nur auf und ab, sondern auch um
einen Baumstamm. Und der Schattenriss auf dem Wiesenpfad
ist nicht nur der Schattenriss eines Menschen, sondern der eines
holzbeladenen Menschen.
So lebt die Schilderung einer Wanderung davon, dass die ver-
schiedenen Intensitätsgrade der Raumwahrnehmung in unter-
schiedlicher Manier erscheinen. Der Weg wird in knappen

27 Joseph Roth: Wie gemalt, S. 159.

37
Textprojekte und Schreibaufgaben I

Notaten eingefangen. Besondere Wegmomente erscheinen, in-


dem kleine Bildausschnitte vertieft werden. Und die Höhepunk-
te einer Wanderung, jene Orte also, die Stationencharakter
haben, werden besonders ausführlich gewürdigt und in ihrer
Einzigartigkeit als erlösende Zielpunkte beschrieben.

Schreibaufgabe
n Machen Sie während einer Wanderung zunächst nur kurze
Notate von der Umgebung, und zwar solche summarischer
(vgl. Herzog) und solche vertiefender (vgl. Roth) Art.
n Nehmen Sie sich an Ihrem Ziel ausführlich Zeit, die Beson-
derheit dieses Ziels zu erfassen und darzustellen, indem Sie
sich fragen, worin das besondere Glück einer Ankunft besteht:
In einem Ausblick ? Im Ankommen in einem geschützten
Raum ? In einer bestimmten, beruhigenden Atmosphäre, nach
der Sie sich die ganze Wanderung über gesehnt haben ?
n Arbeiten Sie Ihre Weg-Notate und die Darstellung der An-
kunft dann an einem freien Tag aus, indem Sie Ihre Texte zu
einer Gesamtdarstellung dieser Wanderung zusammenfügen.
n Versuchen Sie, dieser Darstellung auch dadurch einen dra-
maturgischen Akzent zu verleihen, dass Sie dann und wann
Spannung aufkommen lassen. (Ist der eingeschlagene Weg
richtig ? Werde ich es bis zum Abend wirklich schaffen, mein
Ziel zu erreichen ? Etc.)

38
6. Die Reise um mein Zimmer

Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter
dem fünfundvierzigsten Breitengrad; seine Lage zeigt von Osten
nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechs-
unddreißig Schritt im Umfang hat.28

Kommen wir nun zur letzten unserer »Vorübungen«, die wir, wie
schon angedeutet, auch vor einer Reise, gleichsam als Aufwärm-
training, durchführen können. Sie dienen, wie jetzt wohl gut zu
erkennen ist, dem besseren Verständnis von prototypischen Be-
wegungen im Raum. So können diese Vorübungen dazu beitra-
gen, derartige Bewegungen möglichst genau zu unterscheiden
und darüber nachzudenken, wie sie in schriftlicher, literarischer
Form möglichst adäquat darzustellen wären.
Zuletzt geht es um eine auf den ersten Blick kurios erscheinende
Bewegung: die Reise um das eigene Zimmer. Der Literaturwissen-
schaftler Bernd Stiegler hat das Genre dieser merkwürdigen Reisen
neuerdings in einem Buch gründlich erforscht. Aus diesem Buch
kann man sich für eigene Texte viele Anregungen holen, die an die-
29
ser Stelle leider nicht ausführlicher vorgestellt werden können.
Stattdessen konzentrieren wir uns hier auf ein Buch des fran-
zösischen Schriftstellers Xavier de Maistre (1763–1852), das
unter den Texten dieses Genres das bekannteste ist, und zeigen
anhand dieses Beispiels, wie man eine solche Reise inszenieren
und beschreiben könnte.
Xavier de Maistres »Die Reise um mein Zimmer« erschien

28 Xavier
de Maistre: Die Reise um mein Zimmer., S. 11.
29 BerndStiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte des Reisens im
und um das Zimmer herum. Frankfurt/M. 2010.

39
Textprojekte und Schreibaufgaben I

anonym im Jahr 1795. Der auf den ersten Blick merkwürdige


Titel ist ganz wörtlich zu verstehen: De Maistre bewegt sich in
diesem Buch ausschließlich in seinem eigenen Zimmer. Er
schaut nicht nach draußen, und er macht sich auch sonst nicht
die geringsten Gedanken um die weite Welt. Stattdessen geht es
darum, den eigenen Kontinent des privaten, intimen Lebens zu
erforschen.
Wie ein typischer Forschungs- oder Entdeckungsreisender
begibt sich de Maistre also auf große Fahrt. Von einem Tisch
geht er auf ein Bild in einer Ecke des Zimmers zu und gelangt
weitergehend zu seinem Lehnstuhl. Vom Lehnstuhl aus geht es
dann wieder weiter zum Bett:

Es steht äußerst günstig: Die ersten Strahlen der Sonne treiben


ihr Spiel auf meinen Vorhängen. – An schönen Sommertagen
sehe ich sie in dem Maße, wie die Sonne steigt, die weiße Wand
entlang vorrücken: Die Ulmen vor meinem Fenster brechen sie auf
tausenderlei Art und lassen sie auf meinem Bett schaukeln, dessen
Rosenrot und Weiß durch ihren Widerschein nach allen Seiten eine
bezaubernde Färbung verbreiten. – Ich höre das kunterbunte Ge-
zwitscher der Schwalben, die das Dach des Hauses beschlagnahmt
haben, und der anderen Vögel, die in den Ulmen nisten: Dann
kommen mir unzählige heitere Gedanken in den Sinn; und im
ganzen Universum hat niemand ein so angenehmes, so friedliches
30
Erwachen wie ich.

Eine solche Passage lässt einen verstehen, wie de Maistre vorgeht.


Er inspiziert sein Zimmer, indem er sich den Details zuwendet:
Möbel, Bilder, Gegenstände, selbst die sonst unauffälligsten Din-
ge werden betrachtet oder in die Hand genommen. Die Betrach-

30 Xavier de Maistre: Die Reise um mein Zimmer, S. 13 f.

40
Die Reise um mein Zimmer

tung erweckt sie gleichsam zum Leben, und indem sie lebendig
werden, zeigen sie dem Betrachter, was sie genau mit seinem
eigenen Leben verbindet.
So erscheint das Bett eben nicht nur als einfaches Nachtlager,
sondern als eine Liege, die es dem Liegenden erlaubt, einen klei-
nen Film zu verfolgen. Dieser Film besteht aus dem Spiel der
Sonnenstrahlen auf den Vorhängen, ihrem Vorrücken und ihren
durch die Ulmen gebrochenen Reflexen auf dem Bett. Zur Optik
dieser bewegten Bilder tritt eine besondere Akustik: das Gezwit-
scher der Vögel. Bild und Ton zusammen versetzen den Betrach-
ter in eine gewisse Stimmung, es ist eine typische Morgenstim-
mung, eine Stimmung angenehmster Empfindungen.
De Maistre untersucht seinen privaten Raum also mit dem
Blick darauf, wie die Einzelheiten dieses Raums sein eigenes
Leben prägen und bestimmen. An den räumlichen Gegebenhei-
ten und den aufgestöberten Dingen entlang wird so eine biogra-
fische Geschichte individueller Passionen und Lebensformen
erzählt. Der kleine Raum und seine Dinge entlocken de Maistre
intime Szenen und kleine, sonst nicht weiter bemerkte »Sensa-
tionen«, die das alltägliche Leben ausmachen.
Dass de Maistre sie jetzt genauer bemerkt und ganz nebenbei
auch besser versteht, lässt ihn sein eigenes Leben und Erleben ins-
gesamt genauer durchschauen. Zugleich führen derartige Beschrei-
bungen und Schilderungen aber auch dazu, dass der sonst
»gewöhnlich« gescholtene Alltag eine besondere Würdigung er-
fährt. Plötzlich erhalten viele seiner Momente eine eigene Schön-
heit, die auch diese Momente zu etwas Besonderem machen.
42 Tage dauert diese seltsame Reise, die man natürlich nicht
nur zu Hause, sondern auch auf weiten Reisen unternehmen kann.
Dann begibt man sich in einem Hotelzimmer oder sonst einem
kleinen geschlossenen, bewohnten Raum auf weite Fahrt …

41
Textprojekte und Schreibaufgaben I

Schreibaufgabe
n Durchstreifen Sie den geschlossenen Raum, den Sie er-
forschen wollen, zunächst ohne einen bestimmten Plan und
notieren Sie jene Raumdetails oder Gegenstände, denen Sie
sich dann länger widmen werden.
n Machen Sie zu jedem dieser Details und Gegenstände
kurze Notizen und fragen Sie sich dabei, wann und wie sie in
Ihrem alltäglichen Leben erscheinen und eine Rolle spielen.
n Denken Sie dabei auch an die unterschiedlichsten Zeiten,
also etwa an bestimmte Wochentage, an die Jahreszeiten, an
Kindheitstage oder an Zeiten, als Sie krank waren.
n Nach Abschluss Ihrer Notizen überlegen Sie sich einen
Weg durch Ihr Zimmer, mit dessen Hilfe Sie die einzelnen
Geschichten miteinander verbinden können.
n Nehmen Sie sich dann ausreichend Zeit, von diesem Weg
und seinen einzelnen Stationen ausführlich zu erzählen, und
widmen Sie jedem Raumdetail ein eigenes Kapitel.
n Lassen Sie sich zusätzlich von Bill Brysons Buch »Eine
kurze Geschichte der alltäglichen Dinge« inspirieren, das
von den verschiedenen Räumlichkeiten eines Hauses (Küche,
Flur, Treppe, Badezimmer etc.) auf sehr verblüffende Weise
berichtet.31

31 Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge. Ins Deutsche übertragen
von Sigrid Ruschmeier. München 2011.

42
Textprojekte und Schreibaufgaben II:
Schreiben für sich selbst

7. Das Reisetagebuch

Schon wieder mit jener Dame beisammen, die übrigens auch eine
Schreibnärrin ist. Sie trägt eine Schreibmappe bei sich mit viel
Briefpapier, Karten, Federn und Bleistiften, was im Ganzen sehr
anfeuernd ist.32

So, jetzt sind wir nach einigen Vorübungen wirklich auf Reisen
und sollten uns fragen, wie wir unsere Reiseeindrücke einfangen
und aufschreiben. Als Erstes fällt uns natürlich das klassische
Reisetagebuch ein, in das wir täglich unsere Aufzeichnungen
eintragen könnten. Wann und wo aber sollten wir solche Auf-
zeichnungen machen und wie genau könnten sie aussehen ?
Ein Reisetagebuch ist vor allem dazu da, den zeitlichen Ver-
lauf einer Reise möglichst genau zu protokollieren. Dafür gibt es
mehrere unterschiedliche Methoden, für eine von ihnen sollte
man sich entscheiden, auf keinen Fall aber sollte man ohne aus-
reichende Vorüberlegungen einfach drauflosschreiben. Beginnen
wir also mit diesen Vorüberlegungen und fragen wir uns genau-
er, welche Gründe im Einzelnen für welche Form des Tagebuchs
sprechen.
Täglich Aufzeichnungen in ein Reisetagebuch zu notieren,
das könnte in der Praxis bedeuten: solche Aufzeichnungen

32 Franz Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 167.

43
Textprojekte und Schreibaufgaben II

immer wieder in ruhigen Momenten (nach den Mahlzeiten, bei


einem Kaffee oder Tee etc.) während eines ganzes Tages – mög-
lichst vom frühen Morgen bis in die Nacht – zu notieren. Sie
sollten mit Stunden- und Minutenangabe datiert sein, und sie
sollten eine kurze Angabe über den Ort enthalten, an dem wir
gerade sitzen und schreiben. Etwa so: »München, Marienplatz,
13.23 Uhr.«
Ohne solche Orts- und Zeitangaben hat Franz Kafka (1883
bis 1924) den Verlauf der Tage während einer Reise von Lugano
nach Mailand und Paris festgehalten. Seine Aufzeichnungen
bestehen ausschließlich aus kurzen Notaten über das, was er in
seiner Umgebung beobachtet hat, von sich selbst und seinen
eigenen Eindrücken (oder gar Empfindungen) spricht er nur
äußerst selten. Die Notate stehen isoliert und erscheinen durch
Leerzeilen voneinander abgesetzt. Sie sind nie allzu lang und
konzentrieren sich meist auf ein einziges kleines Motiv:

Schützen in Zürich auf dem Bahnhof. Unsere Furcht vor dem


Losgehn der Gewehre wenn sie laufen.

Plan von Zürich wird gekauft.

Auf einer Brücke hin und zurück wegen Unentschlossenheit über


die zeitliche Aufeinanderfolge von kaltem, warmem Baden und
Frühstücken.

33
Limmatrichtung, Uraniasternwarte.

Man merkt diesen Notaten an, dass Kafka sie in einem fast regel-
mäßigen Rhythmus gemacht und immer wieder neu zu ihnen

33 Franz Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 146.

44
Das Reisetagebuch

angesetzt hat. Sie haben die Aufgabe, einzelne Eindrücke und


Impressionen festzuhalten und die Wege in Erinnerung zu hal-
ten, die man während des Tages gegangen ist. So entsteht eine
an den Objekten orientierte Dokumentation der Reise, die der
Frage nachgeht: Was an Besonderem fällt mir auf ?

Statt den Tagesverlauf mithilfe solcher kurzer Notate zu proto-


kollieren, könnte man sich aber auch für jede Aufzeichnung
etwas mehr Zeit nehmen. Dann könnten die Aufzeichnungen
weniger knappen Protokollcharakter haben als der Aufgabe die-
nen, mir selbst gleichsam vor Ort meine eigenen Beobachtungen
zu erzählen und mich nach den Eindrücken zu befragen, die sich
an diese Beobachtungen anschließen.
Cees Nooteboom (geb. 1933), einer der besten Reiseschrift-
steller der Gegenwart, geht bei seinen Tagebuchaufzeichnungen
genau so vor. Diese hier berichten von einer Schifffahrt:

Wir nähern uns Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens und


damit auch der südlichsten Stadt der Welt. Ich sehe Kriegsschiffe an
einem Kai und ein ankerndes Schiff namens Antarctic. Dies ist
der Ausgangshafen für Fahrten zum Südpol, und das spürt man.
Wir befinden uns im argentinischen Sommer, aber kalte Windböen
mit Regen fegen über den Kai. Warum ist das so aufregend, in der
34
südlichsten Stadt der Welt zu sein ?  

Nooteboom spricht in einem ruhigen, unaufgeregten Ton mit


sich selbst. Er macht sich auf das, was er sieht, aufmerksam, und
er ergänzt das Gesehene durch das, was er über den jeweiligen
Ort weiß oder gerade gelesen hat. Die Beobachtungen springen,
mal ist von der geografischen Lage des Ortes, mal von den Schif-

34 Cees Nooteboom: Schiffstagebuch. Ein Buch von fernen Reisen, S. 36.

45
Textprojekte und Schreibaufgaben II

fen, mal vom Wetter die Rede. Solche Sprünge spiegeln wider,
dass diese Aufzeichnungen dem Rhythmus der plötzlich auftau-
chenden Gedanken und Ideen folgen, wie sie im Gehirn des
Reisenden entstehen. Daher dokumentieren sie nicht – wie Kaf-
kas Aufzeichnungen – Motive und Momente draußen, in der
Umgebung, sondern sie erzählen den Fluss der Gedanken, die im
Kopf während der Reise entstehen.
Angenommen, wir haben für solche regelmäßigen Aufzeich-
nungen während des Tages keine Zeit, könnte man sich aber
auch eine Methode ausdenken, durch die man mithilfe eines ein-
zigen längeren Eintrags den vergangenen Tag rekapituliert und
zusammenfasst. Ein solch längerer Tagebucheintrag könnte am
späten Abend oder in der Nacht eines Tages erfolgen, ja, er
könnte sogar am Morgen des nächsten Tages entstehen, als
Rückblick auf den gerade vergangenen Tag. Ein noch größerer
Abstand zwischen einem solchen Eintrag und dem beschriebe-
nen Tag sollte allerdings nicht entstehen, sonst werden die Ein-
tragungen zu ungenau.
Der französische Schriftsteller Albert Camus (1913–1960)
hat durch solche Aufzeichnungen eine Schifffahrt von Marseille
nach Südamerika im Jahr 1949 festgehalten. Am 2. Juli fasst er
den gerade vergangenen Tag in der Einsamkeit seiner Schiffska-
bine so zusammen:

Die Monotonie hat sich eingerichtet. Am Vormittag ein wenig


Arbeit. Sonne auf dem oberen Deck. Vor dem Mittagessen werde
ich noch den letzten Passagieren vorgestellt. Wir sind nicht gerade
mit hübschen Frauen verwöhnt, aber ich sage das ohne Bitterkeit.
Den ganzen Nachmittag vor Gibraltar. Das Meer plötzlich still
geworden unter diesem riesigen Felsen mit den Zementflanken,
dem abstrakten, feindseligen Maul. Das ist das Gehabe der Macht.
Dann Tanger mit seinen sanften weißen Häusern. Um 6 Uhr,

46
Das Reisetagebuch

während der Tag zu Ende geht, belebt sich das Meer ein wenig,
und während die Lautsprecher an Bord die Eroica schmettern,
entfernen wir uns von den stolzen Küsten Spaniens und lassen Eu-
ropa endgültig hinter uns. Ich blicke unaufhörlich auf dieses Land,
das Herz beklommen.
Nach dem Abendessen Kino. Ein amerikanischer Kitschfilm von
starkem Kaliber, von dem ich nur die ersten Bilder schlucken kann.
Ich kehre zum Meer zurück.35

Man erkennt, dass Camus nicht allzu viel Zeit und Anstrengun-
gen für die tägliche Tagebucheintragung verwenden will. Sie
dient denn auch nicht dem Zweck, detaillierte Beobachtungen
(wie Kafka) festzuhalten oder sich selbst die Reise berichtend
und nachfragend (wie Nooteboom) zu erzählen. Camus möchte
stattdessen nur den Verlauf eines Tages dokumentieren und sich
knapp Rechenschaft darüber ablegen, was zu den verschiedenen
Tageszeiten passiert ist.
Deshalb ist seine Eintragung auch durch die betonte Hervor-
hebung der Tageszeiten gegliedert. Der Morgen, der Mittag, der
Nachmittag, der Abend, die Nacht – Camus ordnet jeder Tages-
zeit ein bestimmtes Ereignis zu, um die kleinen Veränderungen
während des Tages festzuhalten. Sein Eintrag ist der Tagebuch-
eintrag eines Melancholikers, dem auch eine außergewöhnliche
Reise nichts außerordentlich Neues oder gar Sensationelles
beschert. Erst dieses, dann jenes, dann wieder dieses, dann wie-
der jenes – so lässt er den Tag Revue passieren, als fänden im
Grunde gar keine eigentlichen Veränderungen statt und als wäre
die Zeit der Reise kaum unterschieden von der Zeit zu Hause.
So spiegelt sich im Charakter dieser Aufzeichnungen auch
der Charakter Camus’, der gegenüber den Reiseeindrücken sto-

35 Albert Camus: Reisetagebücher, S. 50.

47
Textprojekte und Schreibaufgaben II

isch, ja beinahe ausdruckslos bleibt. Obwohl er »auf großer Rei-


se« ist und Welten zu Gesicht bekommt, die er noch nie gesehen
hat, betont er die Gleichförmigkeit der Zeit und des Gesehenen.
Dem Leser wird dadurch deutlich, dass Camus sich von der Rei-
se nicht mitreißen lassen will. Immer wieder kehrt er stattdessen
in seiner Schiffskabine zu den Projekten und Arbeiten zurück, an
denen er auch zu Hause bereits gearbeitet hat. Für sie interessiert
er sich mehr als für all das, was die Reise an scheinbar Neuem
präsentiert. Reisen hat für Camus etwas bloß Beiläufiges, Ephe-
meres, während die Projekte und die schriftstellerische Arbeit
etwas Bleibendes, Überdauerndes haben.
So zeigt sich Camus in seinen Tagebuchaufzeichnungen als
ein Reisender wider Willen. Er resümiert den Tag, aber er tut das
ohne Begeisterung und ohne jedes Pathos.

Anhand der drei vorgestellten Beispiele wird nun deutlicher, wel-


che Vorüberlegungen wir im Einzelnen anstellen sollten, um
unserem Reisetagebuch eine klare Ausrichtung zu geben. Wir
sollten zunächst überlegen, worauf es uns vor allem ankommt:
darauf, pointierte Beobachtungen und Eindrücke im Tagesver-
lauf zu sammeln (Kafka), darauf, uns selbst die Reise chronolo-
gisch zu erzählen (Nooteboom), oder aber darauf, den Verlauf
der Tage knapp und ohne größeren Aufwand festzuhalten
(Camus) ?
Auf den ersten Blick sind die Antworten auf solche Fragen
formale Entscheidungen. Hinter diesen formalen Entscheidun-
gen verbergen sich aber oft, wie wir im Fall von Camus erkannt
haben, auch psychologische Dispositionen. Daher sollten wir uns
auch fragen, was für ein »Reisetypus« wir eigentlich sind: Faszi-
niert uns vor allem die Fülle des Neuen und damit die ganze
Welt der Details, die uns die Umgebung während einer Reise
offeriert ? Oder beschäftigen uns die eigenen Beobachtungen

48
Das Reisetagebuch

und Innenwelten und damit die Beschreibungen unserer Refle-


xionen und Empfindungen mehr ? Ein möglicher dritter Typus
wäre der passiv oder abwesend Reisende, der sich später zwar an
den Verlauf einer Reise erinnern möchte, während der gesamten
Reise jedoch eigentlich in einem Paralleluniversum anderer
Tätigkeiten und Vorstellungen lebt, dem er mehr Aufmerksam-
keit widmet als der eigentlichen Reise.

Der Essayist und Literaturwissenschaftler Christian Schärf hat


(ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe) ein Buch über den Zusam-
36
menhang von Tagebuchtypus und Tagebuchtext geschrieben.
Darin präsentiert er uns detailliert viele weitere Schriftsteller mit
ihren Tagebuchprojekten und zeigt uns, wie diese Projekte orga-
nisiert sind, was ihre Organisation für den Inhalt, die Sprache
oder den Stil eines Tagebuchs bedeutet und worauf genau wir
uns einlassen, wenn wir eines (oder gleich mehrere) dieser Pro-
jekte für unser eigenes Tagebuchschreiben übernehmen.
Die Lektüre dieses Buches verschafft uns also nicht nur viele
Anregungen und Inspirationen, sondern sie schärft vor allem
auch unseren Blick auf das große Spektrum möglichen Tage-
buchschreibens. Indem wir dieses Spektrum kennenlernen,
schärfen wir zugleich aber auch den Blick auf das eigene
Schreiben und erkennen im Idealfall allmählich genauer, welcher
Tagebuchtypus wir eigentlich sind und welche Art des Tage-
buchschreibens die uns gemäße wäre. Genau das herauszube-
kommen – darauf kommt es zunächst an, und deshalb sind die
Vorüberlegungen besonders wichtig.

36 Christian Schärf: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Mannheim 2012.

49
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Schreibaufgabe
n Testen Sie Ihre Tagebuchkapazitäten, indem Sie während
eines einzigen Tages jeweils nur Aufzeichnungen in der Ma-
nier Kafkas, Nootebooms oder Camus’ machen.
n Lassen Sie diese unterschiedlichen Tagebucheintragungen
eine Weile liegen, nehmen Sie die Texte nach einiger Zeit
wieder zur Lektüre vor und überlegen Sie, welche Form der
Aufzeichnungen Ihnen nun (trotz eines vielleicht erheblichen
Arbeitsaufwandes) am besten gefällt oder entspricht.
n Orientieren Sie sich anhand des Buches von Christian
Schärf über weitere mögliche Tagebuchprojekte und überlegen
Sie, welche Konsequenzen die Übernahme eines bestimmten
Projektes für Ihr eigenes Schreiben haben könnte.
n Erweitern Sie Ihr Reisetagebuch durch kleine Skizzen oder
durch eingeklebtes sonstiges Material (Zeitungsausschnitte,
Details von Flyern, Eintrittskarten etc.) und überlegen Sie, wel-
ches Format für Ihr Tagebuch das richtige wäre.
n Schreiben Sie Ihre Aufzeichnungen nicht in linierte oder
(noch schlimmer) karierte Tagebücher, sondern auf absolut
leere Seiten und verwenden Sie dafür die unterschiedlichs-
ten Fineliner oder (feine, dünne) Bleistifte, keineswegs aber
Kugelschreiber.

50
8. Das frei geführte Notizbuch

Straßen, die einen verführen, einem zurufen, einen mit Schaufens-


tern, Reklamen, Neuigkeiten, Ideen, Wundern, Flitter umzingeln;
die kochen, Funken sprühen, dröhnen, hupen, fliegen, explodie-
ren …37

Das Reisetagebuch verpflichtet uns zu einer bestimmten Form


unserer Aufzeichnungen. Wollen wir es gründlich und seiner
Form entsprechend führen, müssen wir täglich Aufzeichnungen
machen. Diese freilich können wir, wie wir gesehen haben, in
unterschiedlicher Manier gestalten und dabei auch die Zeit
berücksichtigen, die wir einem Tagebuch widmen wollen.
Vielleicht erscheint uns die Praxis solcher Aufzeichnungen
aber auch als ein allzu strenges Korsett, ja, vielleicht sind wir
überhaupt nicht daran interessiert, unsere Beobachtungen in
ihrem täglichen Verlauf festzuhalten, sondern bevorzugen eine
eher freie, ungebundene Praxis des Aufschreibens.
In einem solchen Fall könnten wir statt eines Reisetagebuchs
ein einfaches Notizbuch führen. In dieses Notizbuch könnten
wir in loser Folge, dann und wann, hineinschreiben, was uns
durch den Kopf geht.
Der polnische Reiseschriftsteller Ryszard Kapuściński hat
diese Form des freien Notierens mit einem Lapidarium vergli-
chen:

Lapidarium ist ein Ort (ein Platz in einer Stadt, Hof in einem
Schloß, Patio in einem Museum), wo man gefundene Steine
zusammenträgt, Stücke von Figuren und Fragmente von Bauwer-

37 Ryszard Kapuściński: Lapidarium, S. 100.

51
Textprojekte und Schreibaufgaben II

ken – hier das Bruchstück eines Torsos oder einer Hand, dort der
Brocken eines Gesimses oder einer Säule, mit einem Wort, Dinge,
die Teil eines nicht (bereits, noch, mehr) existierenden Ganzen sind
und von denen man nicht weiß, was man mit ihnen anfangen
soll.38

Stücke, Fragmente – so nennt Kapuściński seine Notizen. Es han-


delt sich also um kurze Aufzeichnungen, die eine Beobachtung
nur skizzieren oder einen Gedankengang nur andeuten. Sie sind
zwar meist Teil eines möglichen Ganzen, dieses Ganze aber wird
nicht weiter ausgeführt oder berücksichtigt. Vielmehr werden die
Notizen einfach so lange ins Freie (oder Leere) gestellt, bis sie viel-
leicht in einem neuen, anderen Ganzen Verwendung finden.
Aufzeichnungen in Form eines Lapidariums zu machen – das
bedeutet also zunächst: für diese Aufzeichnungen eine Art Zwi-
schenlager zu finden, in dem man sie bis zur weiteren Verwen-
dung abstellt. Wie man sich eine solche Zwischenlagerung im
Fall von Kapuścińskis Notizen vorstellen muss, soll an einigen
Beispielen gezeigt werden.
Im Jahr 1984 ist er in Köln unterwegs und trifft auf den Dom.
Die Notizen über diese Begegnung beginnen so:

Der Kölner Dom: ergreifend. Eine Unmenge von Steinen, einge-


sperrt, gepeinigt, in ein monströses Korsett der Formen, Linien,
Säulen gezwängt. Ein Stalagmit, der durch seine dichte Kraft und
Größe in Erstaunen versetzt. Ein aufgetürmter Dschungel von
Gesimsen, Bögen, Ornamenten. Eine Masse, die uns lähmt, nieder-
drückt, auf die Knie zwingt.
39
Das Innere: völlig leer; eisige, kühle Wüste.

38 Ryszard Kapuściński: Lapidarium, S. 6.


39 Ryszard Kapuściński: Lapidarium, S. 96.

52
Das frei geführte Notizbuch

Kapuściński hält sich nicht lange mit der Beschreibung des


Domes auf, er hält nicht einmal fest, von wo genau er das Gebäu-
de betrachtet. Umrundet er es ? Oder steht er vor der großen
Fassade und blickt an ihr hinauf ? Die Notizen lassen solche
Details aus und beginnen gleich mit einer Fixierung von Eindrü-
cken: Der Dom ist ergreifend, so das erste summarische Urteil.
Warum und wodurch er ergreifend ist, wird dann genauer
entwickelt: Der Dom besteht aus einer Unmenge von Steinen, er
ist ein Stalagmit, ein Dschungel, eine lähmende Masse etc. – sol-
che Metaphern machen deutlich, worin genau Kapuścińskis
Ergriffenheit besteht, in einer bestimmten Form von Überwälti-
gung nämlich, die durchaus etwas Gewaltsames, Bedrohliches,
aber eben auch etwas Faszinierendes, hoch Ästhetisches hat.
Genau solche Zusammenhänge oder auch Schlussfolgerungen
führt Kapuściński aber nicht aus, sondern deutet sie nur an und
überlässt ihr Erspüren dem Leser. Im Kopf des Lesers fügen sie sich
zu einem Ganzen zusammen, zu einem bestimmten vorherrschen-
den Gesamteindruck, den der Betrachter des Doms in diesem Fall
zwar skizziert, aber nicht weiter ausgeführt oder vertieft hat.
Eine solche Vertiefung wäre jederzeit möglich, dafür aber
fehlt dem Betrachter im Augenblick der ersten Niederschrift sei-
ner Notizen vielleicht die Zeit. Zu einem späteren Zeitpunkt
jedoch wäre es durchaus möglich, dem Gesamteindruck des
Domes noch intensiver und genauer nachzuspüren. Bis es so weit
ist, lagert Kapuściński deshalb seine Notizen in einem Notiz-
buch.
Ebenfalls im Jahr 1984 geht er dann im Londoner Kensing-
ton Park spazieren und notiert dort:

Sonntag, Nachmittag, Kensington Park. Sonne, Teich, Enten. Pau-


senlos ist das Starten von Düsenflugzeugen zu hören.
____

53
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Bäume spenden Frieden, sie retten uns, sie sind die letzten Freunde,
die letzten Verteidiger.
____

Alte Leute gehen so langsam und vorsichtig, als hätten sie Angst,
jeden Moment auf eine Mine zu treten.
____

Es gibt hier viele Hunde. Es sind irgendwie verkindlichte Hunde.40

In London notiert Kapuściński ganz anders als in Köln. Er be-


ginnt seine Notizen nämlich nicht gleich mit der Skizze eines
Gesamteindrucks, sondern nähert sich dem beobachteten Gelän-
de vorsichtig und tastend: Es ist Sonntag, es ist Nachmittag, dies
und das ist zu sehen, dies und das ist zu hören.
Auf ein solches Entree folgen nun weitere knapp festgehalte-
ne Beobachtungen vor Ort in loser Folge, Beobachtungen über
Bäume, alte Leute, Hunde.
Auch diese Beobachtungen werden nicht vertieft oder durch
weitere Gedankengänge oder Schlussfolgerungen miteinander
verbunden, auch sie werden im Notizbuch »zwischengelagert«.
Vielleicht dienen sie einmal als Material für einen längeren Text
über den Londoner Kensington Park im Besonderen, vielleicht
aber auch als Material für einen Essay über britische Parks im
Allgemeinen. Wohin diese Notizen eigentlich »gehören« und
wozu sie später verarbeitet werden, ist aber noch längst nicht klar.
Vielleicht ist das »Zwischenlager« ja sogar ihr eigentlicher Platz,
und sie bleiben dann für alle Zeit ausschließlich Teil eines Notiz-
buchs, in dem ihr Autor einige erlebte Augenblicke des Jahres
1984 im Londoner Kensington Park festgehalten hat.

40 Ryszard Kapuściński: Lapidarium, S. 106.

54
Das frei geführte Notizbuch

All das bleibt noch offen, denn diese Notizen eines frei (und
das meint: vorläufig, ohne bestimmte Absichten und Zwecke)
geführten Notizbuchs befinden sich in einem Übergangsstadium.
Sie tendieren zu einem längeren Text, aber die Gestalt dieses
Textes ist noch nicht klar.
Diese Offenheit und Unbestimmtheit kann man auch an
einer dritten Kategorie von Kapuścińkis Notizen beobachten.
Solche Notizen macht er im Jahr 1982 in Warschau:

Grundlegendes Ziel autoritärer Systeme ist es, die Zeit anzuhalten


(weil das Fortschreiten der Zeit Veränderungen mit sich bringt).
____

Wenn du unter vielen Wahrheiten nur eine auswählst und mit


blindem Eifer nach dieser einen strebst, wird sie zur Falschheit
und du selber wirst zum Fanatiker.
____

Der Fanatismus setzt im Menschen mehr Energie frei als Sanftheit


und Güte. Daher ist der Fanatiker leichter imstande, jemandem
41
seinen Willen aufzuzwingen, seine Herrschaft zu festigen.

In diesem Fall handelt es sich nicht um Notizen zu Eindrücken


oder Beobachtungen, sondern um Reflexionen. Es ist nicht zu
erkennen, wie genau der Warschauer Aufenthalt Kapuściński zu
diesen Reflexionen animiert hat, und man erkennt zwischen
ihnen auch nur höchstens ganz schwach einige Verbindungen.
Darauf aber kommt es nicht an. Wichtig ist vielmehr, dass
der Warschau-Aufenthalt des Jahres 1982 den Autor anregt, sich
über bestimmte abstrakte oder eher theoretische Themen genau-

41 Ryszard Kapuściński: Lapidarium, S. 54.

55
Textprojekte und Schreibaufgaben II

ere Gedanken zu machen. Dabei geht es um die generellen


Strukturen von autoritären Systemen oder um eine Theorie des
Fanatismus und die Gestalt des Fanatikers.
Auch diese Reflexionen werden im Notizbuch »zwischenge-
lagert«. Man könnte sich gut vorstellen, dass sie in einem länge-
ren politischen Essay Verwendung finden könnten, denn auch
sie lassen etwas »Ganzes« anklingen und erscheinen bereits wie
Bruchstücke zu diesem Ganzen.
Das frei geführte Notizbuch tut all diesen Aufzeichnungen
aber noch keinen Zwang an. Es erlaubt ihnen vielmehr, ganz für
sich selbst, ohne Beigaben und Zutaten und längere Einordnun-
gen, zu bestehen.
Daher setzt sich ein solches Notizbuch aus allen nur erdenk-
lichen Formen von Aufzeichnungen zusammen. In einem ande-
ren Buch dieser DUDEN-Reihe mit dem Titel »Schreiben dicht
am Leben. Notieren und Skizzieren« habe ich viele solcher For-
men vorgestellt und genauer gezeigt, wie die großen freien
Notierer unter den Schriftstellern sie gestaltet und literarisch
42
verfeinert haben. Von diesem Buch kann man sich weiter dazu
inspirieren lassen, aus dem eigenen Notizbuch einen großen
Fundus von Aufzeichnungen der verschiedensten Art zu machen.

42 Hanns-Josef Ortheil: Schreiben dicht am Leben. Notieren und Skizzieren. Mann-


heim 2012.

56
Das frei geführte Notizbuch

Schreibaufgabe
n Schreiben Sie auf die erste Seite Ihres freien Notizbuchs
eine knappe Notiz dazu, wo und an welchem Tag Sie mit
diesen Notizen begonnen haben.
n Nehmen Sie sich immer wieder ein bestimmtes Terrain ei-
ner Stadt, eines Dorfes oder einer Landschaft vor und machen
Sie in diesem Terrain kurze Aufzeichnungen der verschiedens-
ten Art.
n Setzen Sie Ihre Aufzeichnungen gut sichtbar, z. B. durch
Leerzeilen oder kleine Striche zwischen den Zeilen, voneinan-
der ab.
n Sind Sie auf den letzten Seiten des Notizbuchs angekom-
men, so lassen Sie einige Seiten frei.
n Lesen Sie dann längere Zeit in Ihren Notizen und überle-
gen Sie, mit welchen Details des Raumes oder mit welchen
Themen generell Sie sich besonders häufig beschäftigt haben.
n Schreiben Sie auf die letzten noch leeren Seiten Ihres
Notizbuchs untereinander einige zentrale Begriffe, die solche
Details oder Themen fixieren und unterscheiden.
n Beenden Sie Ihr freies Notizbuch mit einer knappen Notiz
dazu, wo und an welchem Tag Sie dieses Notizbuch beendet
haben.

57
9. Das thematisch geführte Notizbuch

9.1 Themen auf Reisen


Wenn man in Venedig durch die feuchten Spalten läuft, fühlt man,
wie man eine Kellerassel wird. 43

Ein frei geführtes Notizbuch können wir mit einem relativ ge-
ringen Aufwand aber auch in ein thematisch geführtes Notiz-
buch verwandeln. Im Netz finden sich dazu in einem auch sonst
sehr lesenswerten und informativen Notizbuchblog44 einige
Notizbuchregeln45 von Christian Mähler, die man sich einmal
genauer anschauen sollte.
Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass der Autor
darüber nachdenkt, wie man die losen und noch ungeordneten
Einträge in einem freien Notizbuch ordnen und miteinander
verbinden könnte. Dazu schlägt er bestimmte zusätzliche Einträ-
ge auf jeder Notizbuchseite vor:

In der linken oberen Ecke sollten immer ein oder zwei Stichworte
als Schlüsselworte stehen, die durch einen Kasten eingerahmt sind.
Das hilft beim späteren Durchblättern und schnellen Auffinden
von Einträgen. Es mag manchem etwas zu formal und eintönig
anmuten, ist es aber ganz und gar nicht. Das Buch bekommt da-
durch eine schöne Durchgängigkeit und ist wesentlich produktiver

43 Jean-Paul Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist. Fragmente, S. 205.
44 http://www.notizbuchblog.de/about/
45 http://www.notizbuchblog.de/ebook/25_Notizbuchregeln.pdf

58
Themen auf reisen

nutzbar, da die Stichworte immer an der gleichen Stelle und in


der gleichen Form stehen. Der Themenkasten enthält das Thema
der Seite in einem prägnanten Begriff oder in wenigen Stichwor-
ten …46

Themenkästen dieser Art auf jeder Seite eines Notizbuchs ord-


nen die bisher nur lose dastehenden Notizen nach Themen oder
Kategorien.47 Nummeriert man dann noch die Seiten des Notiz-
buchs durch, so könnte man mühelos eine Liste mit den unter-
schiedlichen Themen oder Kategorien zusammenstellen und sich
zu jedem Thema oder jeder Kategorie notieren, auf welcher Seite
des Notizbuchs man Material dazu findet.
Auf diese Weise hätte man einen ersten Schritt getan, die
Fragmente im sogenannten »Lapidarium« Ryszard Kapuścińskis
neu zu ordnen und sie jeweils zu einem neuen Ganzen zusam-
menzustellen. Aus einem bisher nur frei geführten Notizbuch
würde dadurch ein frei geführtes Notizbuch mit bestimmten
erkennbaren Themen und Kategorien.

Man könnte sich natürlich aber auch von vornherein vornehmen,


kein freies, sondern ein thematisch ausgerichtetes Notizbuch zu
führen. Ein gutes Beispiel für ein solches Notieren sind die Noti-
zen, die sich der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-
Paul Sartre im Jahr 1951 während eines Venedigaufenthaltes
gemacht hat.
Sartre hat für diesen Aufenthalt einen kleinen Plan mit jenen
Orten (einem Palazzo, dem Lagunenort Torcello, einem Tanz-
lokal etc.) entworfen, die er in Venedig unbedingt aufsuchen
möchte. Daneben hat er aber auch eine erste kleine Liste mit

46 http://www.notizbuchblog.de/ebook/25_Notizbuchregeln.pdf, S. 5.
47 Zu den Kategorien findet man Genaueres auf Seite 10 der Notizbuchregeln.

59
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Themen fixiert, über die er in Venedig nachdenken und zu denen


er Material sammeln möchte:

Themenliste zu Venedig

1. Keine Aggressivität.
2. Glatte Fassaden.
3. Das Auge verliert sich.
4. Die Geschwindigkeit des Boliden.
5. Keine Reflexivität.
6. Narzißmus.
7. Denken des Wassers.
8. Die Tiefe.
9. Die Erinnerung an meinen Wahnsinn.48

Solche Themen strukturieren den Venedigaufenthalt Sartres,


indem sie ihn während seines Aufenthaltes darüber nachdenken
lassen, wo, wann und wie er besonders ergiebiges Anschauungs-
material für diese Themen erhalten könnte.
Um sich zum Beispiel dem Thema »Denken des Wassers« zu
nähern, unternimmt er gleich mehrere Gondelfahrten, deren
Verlauf er akribisch notiert. Oder er fährt hinaus in die Lagune,
um einen Fernblick auf das venezianische Wasser zu erhalten.
Oder er steigt auf den Campanile neben der Basilika San Marco,
um von ganz oben die besondere Qualität und Ausbreitung des
venezianischen Wassers besser erkennen zu können.
Jede dieser Unternehmungen verbindet das Thema »Denken
des Wassers« dann mit anderen Themen. So setzt sich Sartre
nach diesen Unternehmungen jeweils hin und beginnt, das
»Denken des Wassers« genauer auszuführen und es im Blick auf

48 Jean-Paul Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist, S. 253.

60
Themen auf reisen

den »Narzissmus«, die »Tiefe« oder die »Irreflexivität« Venedigs


zu untersuchen.
Auf diese Weise setzt sich sein thematisch geführtes Notizbuch
aus sehr unterschiedlichen Textsorten zusammen. Zunächst besteht
es aus akribischen Kurznotaten mit möglichst exakten Detailbeob-
achtungen. Daneben besteht es aber auch aus längeren Reflexionen,
die über diese Beobachtungen in allgemeinerer Form nachdenken,
um dadurch zu zentralen Begriffen vorzudringen, mit deren Hilfe die
Besonderheit Venedigs begriffen und beschrieben werden könnte.
Ursprünglich hatte Sartre dann wohl auch daran gedacht, aus
seinen Notaten und Reflexionen ein Buch über Venedig zu
machen. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen (die vorliegen-
den Fragmente gehören aber dennoch zum Besten, was je über
Venedig geschrieben worden ist, ja, sie gehören zum Besten der
Reiseliteratur überhaupt und sind unbedingt lesenswert).
Immerhin hat Sartre nach seiner Rückkehr aus Venedig dann
aber einen (besonders schönen) Essay geschrieben, in dem er vie-
le Notizen aus seinen Notizbüchern ausgewertet hat. Um diesem
Essay eine Gestalt zu geben, hat er sich eines Kunstgriffs bedient.
Sartre tut nämlich so, als betrachte er Venedig von einem Fenster
seines Quartiers aus, und er benennt seinen Essay auch so:
»Venedig von meinem Fenster aus«.
Diese besondere Perspektive erlaubt es ihm, nicht über alles
und jedes schreiben zu müssen, sondern zentral über das Thema
»Wasser«. Von diesem Thema aus lassen sich dann immer wieder
Seitenwege zu Nebenthemen finden, die dann aber letztlich
immer wieder zum Hauptthema zurückführen.
So erhalten die im Notizbuch gemachten Eintragungen zu
den unterschiedlichsten Themen ein Gerüst oder einen Überbau
und lassen sich innerhalb dieses Baus abrufen, erweitern, zuspit-
zen oder zusammenführen. Sartres Essay, dessen Kunstfertigkeit
man aufmerksam studieren sollte, beginnt dann so:

61
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Das Wasser ist zu brav; man hört es nicht. Von einem Verdacht
ergriffen, beuge ich mich hinaus: der Himmel ist hineingefallen. Es
wagt sich kaum zu rühren, und seine Millionen Falten wiegen
verwirrt die unstet aufblitzende, mürrische Reliquie. Da hinten,
gen Osten, hört der Kanal auf, dort beginnt die große, milchige
Lache, die sich bis nach Chioggia hinzieht; aber auf dieser Seite ist
das Wasser weg: mein Blick rutscht von einer Glasfläche ab, gleitet
aus und verliert sich zum Lido hin in trübem Glast. Es ist kalt, ein
unscheinbarer Tag kündet seine Kreide an …49

Schreibaufgabe
n Machen Sie sich vor einem Aufenthalt in einer Stadt, einem
Dorf oder einer Landschaft kleine Listen mit den Orten, an
denen Sie sich aufhalten wollen, und mit den Themen, die Sie
an den jeweiligen Orten verfolgen wollen.
n Ordnen Sie bestimmte Orte den Themen zu und überlegen
Sie, wie Sie an Material zu Ihren Themen kommen.
n Notieren Sie später in einem thematisch geführten Notiz-
buch, dessen Seiten Sie durchnummerieren und oben links
jeweils mit einem Themenkasten versehen, Notate, die an
den Themen ausgerichtet sind.
n Überlegen Sie, wie sich diese Themen miteinander verbin-
den ließen, und entwerfen Sie einen Übersichtsplan, auf dem
die Themen durch Linien miteinander verbunden sind.

49 Jean-Paul Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist, S. 234.

62
9.2 Dinge auf Reisen

Ich packe meinen Koffer und nehme mit: die Taucherbrille, das
Badezeug, den Regenschirm, das Medikament gegen Reisekrank-
heit usw.50

Ein thematisch geführtes Notizbuch könnte sich aber auch auf


Aspekte, Motive oder Erscheinungen konzentrieren, die wäh-
rend einer Reise eine große Rolle spielen, meist aber übersehen
oder gar nicht bemerkt werden. Solche durchaus wichtigen
»Erscheinungen« sind zum Beispiel die Objekte oder Dinge, mit
denen wir unsere Reisen verbringen.
Wir könnten also ein Reisenotizbuch führen, das sich aus-
schließlich auf solche Objekte oder Dinge konzentriert. Unsere
schriftlichen Notate könnten wir durch Fotografien oder Zeich-
nungen dieser Gegenstände ergänzen. So würden wir unsere
Reise anhand von nahen, uns begleitenden oder uns begegnen-
den Dingen des Alltags beschreiben und dokumentieren. Statt
der üblicherweise meist im Vordergrund von Reiseaufzeichnun-
gen stehenden großen touristischen Attraktionen, die bereits in
vielen Reiseführern behandelt und ausgestellt werden, würden
wir den intimen, von Gegenständen strukturierten Raum um
uns herum erfassen und porträtieren.
Keine Frage, dass ein solches Notizbuch sehr reizvoll und
vielleicht aussagekräftiger, persönlicher oder sogar »wahrhafti-
ger« wäre als so mancher Bericht über die touristischen Vorzei-
geobjekte um uns herum.

50 Daniella Seidl/Johannes Moser: Dinge auf Reisen. In: Dinge auf Reisen. Materiel-
le Kultur und Tourismus. Hrsg. von Johannes Moser und Daniella Seidl. Münster
2009, S. 11.

63
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Wir könnten mit jenen Gegenständen beginnen, die uns auf


unserer Reihe begleiten und sich zumeist in unseren Koffern,
Taschen oder Rucksäcken befinden. Mehrere von ihnen könnten
wir zu einer Gruppe zusammenstellen, fotografieren oder zeich-
nen und kurz beschreiben. Während unserer Reise könnten wir
sie dann an den verschiedensten Orten porträtieren, an denen
wir sie aufstellen, ausbreiten oder benutzen.
Die Schriftstellerin Eva Corino (geb. 1972) hat ein Projekt
dieser Art einmal nicht mit sich selbst, sondern mit Passanten
durchgeführt, die ihr auf Berliner Straßen begegneten. Sie hat
diese Passanten nach ihren Namen gefragt und sie dann gebeten,
von den Dingen zu erzählen, die sie in ihren Taschen mit sich
herumtragen:

Lisa Bock heiße ich und in meiner Handtasche habe ich ein selbst
gehäkeltes Spitzentaschentuch. Ich bin Gastwirtin und habe zwei
Jahre die Landwirtschaftsschule besucht. Da habe ich auch häkeln
gelernt, nähen und weben. Das ist jetzt ein eher einfaches Muster,
ich habe schon viel schönere Sachen gemacht.

Was habe ich denn noch hier ? Ein Odol-Mundspray, das ist ganz
wichtig. Ein Reinigungstuch für meine Brille: Alles klar ! Und
ein Lippenstift von Jade, ich mach die rosarote Farbe. Mein Sohn
Käthe meint, ich mach da ein bisschen viel drauf, aber ich mach das
51
leiden.

Anhand der vor Eva Corino ausgebreiteten Gegenstände begin-


nen die befragten Passanten, Fragmente ihres Lebens zu erzäh-
len. So erweisen sich die Dinge als Erzählstimuli, und es wird
deutlich, in welche biografischen Erzählzusammenhänge sie

51 Eva Corino: Das TASCHENbuch, S. 20.

64
Dinge auf Reisen

gehören. Jedes Ding erhält dadurch seine eigene Geschichte, es


ist die Geschichte seiner Nutzung oder des Gebrauchs, den seine
Besitzerin oder sein Besitzer von ihm gemacht hat.52
Während einer Reise erweist sich eine solche Verbindung
zwischen Gegenstand und Besitzer meist als besonders bedeut-
sam. Die Gegenstände in Koffer, Tasche oder Rucksack markie-
ren nämlich oft einen intimen Rahmen des eigenen Zuhauses,
das einen in die Fremde begleitet. Sie haben dann die Bedeutung,
einen Teil dieses Zuhauses weiter vor Augen zu führen und
gleichsam gegenwärtig und nahe erscheinen zu lassen.
Andererseits beginnen wir auf Reisen aber auch, Gegenstän-
de der Fremde auszuwählen oder sogar zu sammeln, um sie mit
auf den Weg zurück, nach Hause, zu nehmen. Eine am Strand
gefundene Muschel, ein während einer Bergwanderung mitge-
53
nommener Stein – sie sind sowohl Erinnerungsobjekte als auch
Erzählstimuli, mit deren Hilfe wir nach unserer Rückkehr unse-
ren Freunden und Bekannten von unserer Reise erzählen.
In einem Tagungsband mit Untersuchungen zur materiellen
Kultur des Reisens haben einige Wissenschaftler der Universität
München über die vielen Bedeutungen solcher Ding-Szenarien
54
auf Reisen nachgedacht. Neben den von zu Hause mitgebrach-
ten und den wieder nach Hause mitgenommenen Dingen inter-
essieren diese Forscher dabei auch jene Dinge auf Reisen, die wir
dann beinahe täglich berühren oder aufsuchen und die so etwas
wie unser zweites, kurzfristiges Zuhause bilden. So benutzen wir
etwa am Strand immer wieder denselben Strandkorb oder den-
52 Der englische Anthropologe Daniel Miller hat in diesem Sinn mit Bewohnern ei-
ner Londoner Straße über die Dinge in ihren Wohnungen gesprochen. Vgl. Daniel
Miller: Der Trost der Dinge. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Berlin 2010.
53 Vgl. Roger Caillois: Steine. Aus dem Französischen von Gerd Henniger. München
u. Wien 1983.
54 Dinge auf Reisen. Materielle Kultur und Tourismus. Hrsg. von Johannes Moser und
Daniella Seidl. Münster 2009.

65
Textprojekte und Schreibaufgaben II

selben Liegestuhl, wir öffnen immer wieder denselben Sonnen-


schirm und bauen um unseren Strandplatz herum unsere eigene
kleine Zone des Wohnens. Aus welchen Gegenständen besteht
sie ? Und welche Erzählungen und Funktionen verknüpfen sich
mit diesen Gegenständen ?
In vielen Fällen haben bestimmte Gegenstände eine geheime
Beziehung zu unseren Emotionen. Indem wir sie immer wieder
berühren, beruhigen wir uns oder wir nehmen eine Verbindung
zu früheren Geschichten oder Menschen auf, die diese Gegen-
stände vor und nach uns berühren. Wir öffnen eine Flasche mit
Hautcreme einer bestimmten Marke, die wir auch zu Hause
immer benutzen – und wir atmen ihren Duft ein. Plötzlich
haben wir einen bestimmten Raum unseres Zuhauses vor Augen,
ja, wir hören vielleicht sogar andere Stimmen, die in der Umge-
bung dieses Raumes oft zu hören sind.
Auf diese Weise verbinden die Gegenstände uns mit be-
stimmten Raum- und Zeiterfahrungen. Sie versetzen uns in
bestimmte Räume und andere Zeiten zurück, und sie aktivieren
unsere Sinne, die an der Gestaltung unserer Emotionen zentral
beteiligt sind. So erleben wir Abneigung, Distanz, Furcht, Angst,
Ekel, aber auch Behagen, Nähe, Freude oder Lust.
Genau diesen geheimen Beziehungen sollten wir nachspüren
und sie zu beschreiben versuchen: indem wir uns immer wieder
den verschiedensten, unsere Reisen begleitenden Dingen zuwen-
55
den und sie befragen.

55 Gottfried
Korff: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen. In: Alltagsdinge. Erkundun-
gen zur materiellen Kultur. Hrsg. von Gudrun König. Tübingen 2002.

66
Dinge auf Reisen

Schreibaufgabe
n Legen Sie eine kleine Liste all der Gegenstände an, die Sie
während eines Reisetags unbedingt in einer Tasche etc. mit
sich führen, und notieren Sie Erinnerungen oder Geschichten,
die mit diesen Gegenständen verbunden sind.
n Führen Sie auf Ihrer Reise immer wieder »Raumerkun-
dungen« durch, indem Sie jene Gegenstände auflisten und
beschreiben, die Sie an bestimmten, häufig von Ihnen aufge-
suchten Räumlichkeiten immer wieder vorfinden oder sogar
in die Hand nehmen.
n Fragen Sie sich, welche Sinne die einzelnen Gegenstände in
Ihrer Tasche oder in einem Raum besonders ansprechen, und
beschreiben Sie diese Sinneseindrücke.
n Notieren Sie dann, zu welchen Emotionen diese Sinnes-
eindrücke im Einzelnen beitragen, und beschreiben Sie nur
anhand der Beschreibung von Gegenständen jene häufiger
aufgesuchten Räume, in denen Sie sich während Ihrer Reise
besonders wohl, und im Gegensatz dazu auch jene Räume,
an denen Sie sich unwohl oder »fehl am Platz« fühlen.

67
9.3 Gastrosophisches Schreiben auf Reisen

Wenn man in Frankreich nach Süden reist und kurz hinter Valence
nach Mornas kommt, dann erlebt man, daß ein neuer Geschmack
beim Essen hinzukommt, der Geschmack des Knoblauchs.56

Ein besonderes Vergnügen könnte es machen, während einer


Reise ein Notizbuch zu führen, das sich ausschließlich mit dem
Thema »Gastrosophie der Reise« beschäftigt. Gastrosophie – das
wäre: ein Studium der Mahlzeiten, des Essens und Trinkens, der
Speisen und Zutaten, der jeweiligen Küche vor Ort.
Ein solches Studium könnten wir ganz nebenher betreiben,
indem wir in einem Notizbuch jeweils notieren, was wir täglich
essen und trinken und wie uns diese Mahlzeiten schmecken.
»Gastrosophisch« zu schreiben bedeutet dabei, sich bewusst zu
machen, wie etwas schmeckt, diesen Geschmack dann aber auch
möglichst genau zu untersuchen und in seine Bestandteile zu
57
zerlegen.
Natürlich sollten wir uns dabei vornehmen, in der jeweiligen
Region vor allem das zu essen und zu trinken, was wir noch nicht
kennen und was gerade für diese Region charakteristisch ist.
Selbst die einfachsten Gerichte haben oft solche charakteristi-
schen regionalen Prägungen, ihnen sollten wir nachgehen und zu
verstehen versuchen, wie sie entstanden sind.
Um das herauszubekommen, sollten wir uns längere Zeit auf
den offenen Märkten oder in den Markthallen unserer Reisere-
gion herumtreiben. Wir sollten das Angebot von Fleisch, Fisch,
Gemüse, Obst und allen anderen Produkten untersuchen und
56 Alexandre Dumas: Aus dem Wörterbuch der Kochkünste, S. 57.
57 Vgl. Harald Lemke: Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie. Berlin
2007.

68
Gastrosophisches Schreiben auf Reisen

uns vor Ort erkundigen, woher diese Produkte kommen und wie
sie gerade in dieser Region verarbeitet werden.
Während solcher Streif- und Erkundungsgänge sollten wir
ein kleines Wörterbuch anlegen, das die Begriffe für die jeweili-
gen Speisen in der Originalsprache festhält. Wir sollten also zu-
nächst den fremdsprachigen Namen, dann eine mögliche Über-
setzung und schließlich die Eindrücke notieren, die wir von der
jeweiligen Speise durch erste Betrachtungen gewonnen haben:
Wie sieht sie aus ? Wie breit ? Wie groß ? Welche Farben ? Wel-
cher Geruch ? Sieht sie anziehend aus ? Wie sollte man weiter
mit dieser Speise umgehen ? Zerlegen ? Zerschneiden ? Als Gan-
zes zubereiten ? Usw.
Anregungen für solche Notate könnten wir aus einem wegen
seiner originellen Beschreibungen berühmt gewordenen »Appe-
titlexikon« des späten neunzehnten Jahrhunderts gewinnen, in
dem Speisen etwa so beschrieben werden:

Anchovis (engl. anchovy, franz. anchois, ital. sardella), ein silber-


glänzender, 15 cm langer Seefisch, der die Küsten des Schwarzen
Meeres, des Mittelmeeres, des Atlantischen Ozeans und der Nordsee
unsicher macht, bisweilen auch in geschlossener Masse in die Flüsse
eindringt und zu Millionen gefangen wird, um, geköpft und
ausgeweidet, entweder gesalzen als Sardelle oder mit Gewürzen
eingemacht als Anchovis in den Handel zu kommen. In Öl gesotten,
spielt er sich bisweilen als Pilchard auf und wird als Öl-Sardine
58
(Sardine à l’huile) verbraucht …

Der französische Schriftsteller Alexandre Dumas (1802–1870),


Autor so bekannter Werke wie »Die drei Musketiere« oder »Der

58 RudolfHabs und L. Rosner: Appetitlexikon. Ein alphabetisches Hand- und Nach-


schlagebuch über Speisen und Getränke. Frankfurt/M. 1982 (Neuauflage), S. 20.

69
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Graf von Monte Christo«, war ein bekannter Feinschmecker und


Gastrosoph. Auch er arbeitete an einem Wörterbuch der Koch-
künste, dessen oft launig geschriebene Artikel inspirieren könn-
ten:

Sauerkraut ist ein typisches Gericht der Deutschen, die ganz ver-
rückt danach sind. Auch ist es sprichwörtlich geworden, nämlich als
sicheres Mittel, sich totschlagen zu lassen; so wie in Italien, wenn
man dort die Frauen nicht hübsch findet, oder in England, wenn
man über die Freiheiten disputiert, die das Volk dort erreicht hat,
so schwebt man in Deutschland in höchster Lebensgefahr, wenn
man nicht verkündet, daß Sauerkraut eine göttliche Speise sei …
Vorzugsweise wird Sauerkraut in Fässern konserviert, und zwar
unter einer Schicht von Essig, Wein oder einer anderen säurehalti-
gen Flüssigkeit. Meist verwendet man Weißkohl. Man entfernt die
hängenden Blätter am Stiel, schneidet das Herzstück in Scheiben
und hobelt es mit einer Art Küferhobel. So entstehen winzig
schmale Streifen, die sich wie Bänder entfalten. Der Boden des
Fasses wird mit Meersalz bedeckt, und darauf kommt eine Schicht
59
des gehobelten Kohls.

Alexandre Dumas hat sich umgehört, um zu erfahren, was man


über die jeweiligen Speisen erzählt, und er hat sich mit Köchin-
nen und Köchen unterhalten, um mit ihnen die unterschied-
lichsten Zubereitungsarten zu diskutieren.
Recherchen solcher Art könnten sich auch in unserem thema-
tisch geführten, gastrosophischen Notizbuch niederschlagen. Da-
neben könnten wir aber auch viel über all jene Schauplätze notie-
ren, an denen wir unsere Mahlzeiten zu uns genommen haben
(Restaurants, kleine Gaststätten, Küchen von Freunden und

59 Alexandre Dumas: Aus dem Wörterbuch der Kochkünste, S. 116

70
Gastrosophisches Schreiben auf Reisen

Bekannten etc.). Auch das Interieur dieser Gaststätten ist ein


wichtiger Bestandteil der Mahlzeit, ganz zu schweigen von den
Tischgesprächen, die wir während dieser Mahlzeiten geführt
haben.60
Sollte es uns aber sogar gelingen, in die Küchen der jeweili-
gen Gasthäuser vorzudringen und vor Ort erklärt zu bekommen,
wie genau bestimmte Mahlzeiten zubereitet wurden, so würden
Notate zu solchen Küchenbesuchen sicher ein besonders wert-
volles Material für das gastrosophische Schreiben hergeben.
Zum Schluss daher noch einige Empfehlungen von Büchern,
deren Autoren mit einem dezidiert gastrosophischen Blick un-
terwegs waren und oft die halbe Welt bereist haben, um Details
über die Küchen, Restaurants und Essgeschichten der verschie-
densten Länder zu erfahren. Der Wiener Gastrosoph Christoph
Wagner beschreibt in einem »kulinarischen Reisetagebuch« mit
dem Titel »Le Tour Gourmand« Mahlzeiten und Schauplätze
61
der Mahlzeit von Bad Ischl bis Peking. Und der Schriftsteller
Kurt Bracharz gewährt in seinem Buch »Esaus Sehnsucht« Ein-
62
blicke in sein »gastrosophisches Tagebuch«, während der ame-
rikanische Koch und Schriftsteller Anthony Bourdain davon
erzählt, wie er um die ganze Welt gereist ist: auf der Suche nach
dem vollkommenen Genuss.63

60 IrisDärmann/Harald Lemke (Hrsg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und


kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld 2008.
61 Christoph Wagner: Le Tour Gourmand. Ein kulinarisches Reisetagebuch von Bad
Ischl bis Peking. St. Pölten, Wien, Linz 2002.
62 Kurt Bracharz: Esaus Sehnsucht. Ein gastrosophisches Tagebuch. Wien, Berlin
1984.
63 Anthony Bourdain: Ein Küchenchef reist um die Welt. Auf der Suche nach dem
vollkommenen Genuss. Aus dem Amerikanischen von Dinka Mrkowatschki. Mün-
chen 2004.

71
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Schreibaufgabe
n Fotografieren Sie auf Märkten, in Markthallen, in Metzge-
reien, Gemüse-, Obst-, Käse- und Brotläden etc. das Angebot
und nehmen Sie dabei immer nur ein einzelnes Produkt auf.
Notieren Sie den fremdsprachigen Namen des Produkts und
beschreiben Sie es genauer, wie oben angegeben.
n Fotografieren Sie die kleinen und großen Mahlzeiten, die
Sie während eines Tages zu sich nehmen (vergessen Sie die
Getränke nicht). Notieren Sie die einzelnen Bestandteile die-
ser Mahlzeiten in der jeweiligen Landessprache und beschrei-
ben Sie den Geschmack der einzelnen Speisen und Getränke.
n Legen Sie ein Wörterbuch der verschiedenen Produkte so-
wie der Mahlzeiten an, und erzählen Sie in den Artikeln dieses
Wörterbuchs, was Sie über diese Produkte und die Mahlzeiten
alles erfahren haben.
n Notieren Sie Rezepte der jeweiligen Reiseregion und
versuchen Sie nach Ihrer Rückkehr nach Hause, einige dieser
Rezepte nachzukochen. Erzählen Sie von Ihren Erfahrungen
während des Kochens und schließlich auch vom Genuss der
selbst zubereiteten Speisen.
n Laden Sie zu diesem Genuss eine Tischgesellschaft ein und
protokollieren Sie die Gespräche während des Essens, indem
Sie diese Gespräche aufnehmen und auf einer CD festhalten.

72
9.4 Fragen auf Reisen

Möchten Sie Ihre Frau sein ? 64

Als letztes thematisch geführtes Notizbuchprojekt nehmen wir


uns ein Projekt vor, das auf den ersten Blick vielleicht etwas kuri-
os erscheinen mag. Bei diesem Projekt geht es nämlich darum,
dass wir uns während einer Reise immer wieder selbst befragen,
ja, genau, es geht darum, dass wir versuchen, ein gelenktes und
von uns selbst strukturiertes Interview oder Gespräch mit uns
selbst zu führen.
Was für einen Sinn ein so kurioses Projekt für unser Schreiben
haben könnte, wollen wir klären, wenn wir das Projekt besser ken-
nengelernt haben. Vorerst einmal schauen wir uns aber etwas
genauer das »Fragebuch« der beiden Autoren Mikael Krogerius
65
und Roman Tschäppeler an. In der »Gebrauchsanweisung« (dem
Vorwort) ihres Buches erwähnen sie, dass ihre Arbeit mit einer
Beobachtung und damit natürlich auch mit einer Frage begonnen
habe. Sie hätten sich nämlich gefragt, warum niemand einem ein-
mal eine richtig gute Frage stelle. Und dann hätten sie sich an die
Arbeit gemacht. Herausgekommen seien dabei »565 provozieren-
de, erheiternde, einleuchtende, entlarvende, unerhörte Fragen«.
Die Fragen werden dann verschiedenen Kategorien zugeord-
net. Es gibt Fragen zu Ritualen und Routinen, zum Körperge-
fühl, zu Geld und Besitz, zur Familie, zum Kinderkriegen oder
zum Sterben. Natürlich sollen diese Fragen nicht die üblichen sein,
die uns immer wieder im Alltag zu diesen oder jenen Themen
gestellt werden. Stattdessen sollen es Fragen sein, die uns aufrüt-

64 Max Frisch: Fragebogen, S. 23.


65 Mikael Krogerius/Roman Tschäppeler: Fragebuch. Zürich 2009.

73
Textprojekte und Schreibaufgaben II

teln, verblüffen und uns Antworten und Reaktionen auf Themen


entlocken, die uns plötzlich eine noch unentdeckte Seite unseres
Selbst zeigen oder sogar offenbaren.
Für die Beantwortung der Fragen geben die beiden Autoren
vier Spielregeln vor:

1. Überlegen Sie nicht zu lange, nehmen Sie die Antwort, die


Ihnen spontan einfällt.
2. Es gibt keine richtigen Antworten. Nur ehrliche.
3. Jede Antwort gilt nur so lange, bis sie revidiert wird.
4. Wir alle bewundern Menschen, die gute Antworten haben.
Noch mehr bewundern wir Menschen, die gute Fragen stellen.
Am meisten aber berühren uns jene, die wirklich zuhören.66

Das »Fragebuch« von Krogerius und Tschäppeler könnte uns


eine gute Vorlage dafür liefern, wie wir uns selbst während einer
Reise immer wieder befragen könnten. Solche Fragen wären
dann auf einzelne Augenblicke des Reisens konzentriert.
Irgendwo am Mittelmeer in einem Strandcafé sitzend, könn-
ten wir zum Beispiel beginnen, uns einige Fragen zu diesem
Raum zu notieren: Mit wem in unserer momentanen Umgebung
würden wir gerne oder auf keinen Fall Kontakt aufnehmen (und
warum)? Wen würden wir gerne zu welchem Getränk oder wel-
cher Speise auf der ausliegenden Getränke- oder Speisekarte ein-
laden? Welcher Gegenstand in unserer Umgebung findet gerade
unser besonderes Interesse und warum? Welche Menschen oder
Dinge haben etwas leicht Bedrohliches und warum? Etc.
Solche Fragen lassen sich, wie übrigens auch die meisten Fra-
gen in dem »Fragebuch« von Krogerius/Tschäppeler, wirklich
relativ rasch und spontan beantworten.

66 Mikael Krogerius/Roman Tschäppeler: Fragebuch. Zürich 2009, S. 5.

74
Fragen auf Reisen

Der Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) dagegen hat immer


wieder »Fragebögen« entworfen, die besonders pointierte und dem
Befragten stärker zu nahe tretende Fragen enthalten, Fragen etwa
in dieser Art:

Kennen Sie Freundschaft mit Frauen:


a. vor Geschlechtsverkehr ?
b. nach Geschlechtsverkehr ?
c. ohne Geschlechtsverkehr ? 67

Die besondere Meisterschaft dieser Fragen besteht darin, dass


die Antworten ins Grundsätzliche führen. Hier nämlich ist es
nicht einfach damit getan, »Ja« oder »Nein« zu sagen oder die
Fragen mit wenigen Sätzen oder kurzen Erzählungen zu beant-
worten. Vielmehr muss der Befragte sehr grundsätzlich darüber
nachdenken, wohin seine Antwort ihn führt und was er mit ihr
an Ungesagtem alles noch zu erkennen gibt.
Rasches, spontanes Antworten, wie es die beiden Autoren Kroge-
rius und Tschäppeler in ihrem »Fragebuch« vom Befragten fordern,
kann im Fall der Fragebögen Max Frischs also leicht aufs Glatteis
führen. Frisch stellt seine Fragen vielmehr so, dass die Antworten
eigentlich ein langes Nachdenken erfordern. Ein solches Nachdenken
richtet sich nicht nur auf punktuelle Vorlieben oder Passionen, Zu-
oder Abneigung, sondern auf ein größeres Erlebnisfeld in der Biogra-
fie jedes Einzelnen. Die Antwort erfordert dann ein fundamentales
Stück autobiografischen Erzählens, wie etwa bei dieser Frage:

Ist es Ihnen schon gelungen, die eignen Kinder kennenzulernen, d. h.


68
sie nicht als Söhne oder Töchter zu sehen ?  

67 Max Frisch: Fragebogen, S. 56.


68 Max Frisch: Fragebogen, S. 69.

75
Textprojekte und Schreibaufgaben II

Von Frageprojekten wie dem (umgänglichen) »Fragebuch« von


Krogerius/Tschäppeler oder den (sezierenden) »Fragebögen« von
Max Frisch können wir für unsere Selbstbefragungen auf Reisen
viele Anregungen gewinnen. Und nachdem wir jetzt besser ver-
standen haben, wie sie vorgehen, verstehen wir auch, wozu solche
Selbstbefragungen führen könnten: Sie könnten uns zu Notaten
und Überlegungen veranlassen, die uns sonst nie in den Sinn
gekommen wären, und sie könnten uns dabei etwas von jenen
Gedanken und Empfindungen entlocken, die wir zwar die ganze
Zeit mit uns herumgetragen haben, denen wir aber nie genauer
nachgegangen sind.
In diesem Sinne tragen die Selbstbefragungen dazu bei, dass
wir während einer Reise an Fragmenten einer autobiografischen
Sicht der Reise arbeiten. Milde oder scharf befragt, werden wir
gedrängt oder sogar genötigt, uns auch auf manchmal indiskrete,
ja vielleicht sogar peinliche Weise die Wahrheit über die Reise
(und damit über uns selbst) zu erzählen. Dabei verführen uns gut
gestellte Fragen zu kleinen Bekenntnissen oder sogar zu einer
69
Art Beichte. Plötzlich sprechen wir mit uns über Gefühle und
Empfindungen, die wir gegenüber unserer Umgebung verbergen
oder abschotten. Durch das Fragen und Nachfragen dringen wir
zu sonst verborgenen psychischen Terrains einer Reise vor.
Indem wir sie aufschreiben und vielleicht sogar noch weiter an
ihnen arbeiten, arbeiten wir an einer »Autobiografie der Reise«.

69 Vgl. Peter Zimmerling: Studienbuch Beichte. Göttingen 2009.

76
Fragen auf Reisen

Schreibaufgabe
n Nehmen Sie an einem bestimmten Ort (in einem Café, auf
einer Parkbank, am Strand) Platz und notieren Sie sich eine
Liste von Fragen, die sich auf diesen Ort beziehen.
n Beantworten Sie diese Fragen dann schriftlich, indem Sie
den Gefühlen und Empfindungen nachgehen, die Ihre Fragen
berühren.
n Sammeln Sie während Ihrer Reise immer wieder Fragen
zum Verlauf der Reise und zu einzelnen Ereignissen, die Sie
besonders irritiert haben.
n Beantworten Sie diese Fragen zum Verlauf Ihrer Reise als
Ganzes dann am Ende Ihrer Reise und versuchen Sie, mit
diesen Antworten zu einem Resümee der Reise zu gelangen.
(In der umgänglichen Version könnten die Fragen etwa so
lauten: Welche Momente der Reise bleiben Ihnen besonders
in Erinnerung ? Waren Sie insgesamt gerne unterwegs oder
nicht ? Was hat Sie während Ihrer Reise besonders enttäuscht ?
Würden Sie diese Reise in dieser Form noch einmal machen ?
In der sezierenden Version aber wären Fragen wie etwa die
folgenden denkbar: Wenn Sie Ihr eigener Begleiter auf dieser
Reise gewesen wären, hätten Sie während der Reise dann
manchmal auf die Idee kommen können, diesen Begleiter zu
erschießen, weil Sie ihn einfach nicht mehr ertragen oder aus-
gestanden, ja, weil Sie ihn gehasst hätten ? Was im Einzelnen
hätte diesen Hass hervorgerufen und was hätte Sie davon
abgehalten, wirklich so rigoros zu verfahren ?)

77
Textprojekte und Schreibauf-
gaben III: Schreiben für und an
andere

10. Die Ansichtskarte

Meine liebe Telefonklingel, stell Dir vor, ich bin in einer Stadt, da
lachen die Autos.70

Machen wir uns nun einige Gedanken zu Texten, die wir nicht
für uns selbst, sondern vor allem für andere schreiben. Seit jeher
nämlich hat das Reisen auch dazu animiert, die eigenen Beob-
achtungen und Gedanken nicht für sich zu behalten, sondern sie
den Zuhausegebliebenen bereits während der Reise mitzuteilen.
Für Texte solcher Art ist wichtig, dass wir den Empfänger immer
im Auge behalten. Wenn wir für andere schreiben, sollten wir
unsere Mitteilungen selektieren und uns fragen: Was interessiert
den Empfänger wirklich ? Und wie unterhalten wir ihn gut,
anstatt ihn mit Allerweltsmitteilungen über das Wetter, kleine
Leiden oder zu hohe Preise zu nerven ?
Eine der beliebtesten Formen solcher Mitteilungen war im
71
letzten Jahrhundert die Ansichtskarte. Sie erlaubte es, einen
kurzen schriftlichen Gruß mit einer Fotografie des Reiseortes

70 LieberJohnny. Jurek Beckers Postkarten an seinen Sohn Jonathan, S. 64.


71 AnettHolzheid: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und me-
diengeschichtliche Studie. Berlin 2011.

78
Die Ansichtskarte

auf der Rückseite zu verbinden. Oft nahm der Text auf das Foto
Bezug, hob ein Detail hervor oder skizzierte eher summarisch
einen Eindruck des jeweiligen Ortes. Ansichtskarten in dieser
Form waren »Lebenszeichen«, die den Empfängern signalisieren
sollten, dass die Reisenden sich wirklich »vor Ort« befanden, dass
es ihnen auch in der Fremde gut ging und dass sie an die Empfän-
ger der Grußbotschaften dachten.72 Insofern waren solche Karten
die direkten Vorläufer der heutigen erheblich rascheren elektroni-
schen Grußformen. Seit es SMS, MMS oder Mails gibt, sind
Ansichtskarten daher auch immer seltener geworden. Was aber
nicht heißt, dass man mit ihnen nicht experimentieren und sie
nicht als literarische Textformen verstehen und nutzen könnte.
Wie man so etwas macht, zeigen auf besonders brillante Wei-
se die Ansichtskarten, die der Schriftsteller Jurek Becker (1937
bis 1997) an seine Freunde und an seinen Sohn Jonathan ge-
schrieben hat. Während seiner Reisen ist Becker dafür oft auf
Suche nach besonders komischen oder abgefahrenen Bildmotiven
gegangen, zu denen er dann kleine Kommentare geschrieben hat.
Im Januar 1988 reist er zum Beispiel nach Hawaii, die An-
sichtskarte, die er seinen Berliner Freunden schickt, zeigt eine
Gruppe von Hawaiianern mit entblößten Oberkörpern, buntem
Lendenschurz und Schmuck: drei Männer, drei Frauen, alle
übertrieben lachend, alle auf einem Boot. Dazu schreibt Becker:

Ihr unsere Liebsten,


auf Hawaii lauert hinter jeder Ecke ein Gangster, der Dir eine
Blumenkette um den Hals werfen will und dabei den Eindruck
erweckt, es handele sich um die ortsübliche Gastfreundschaft. Die
zehn Dollar, die das mindestens kostet, werden nahezu verschämt

72 HorstHille: Postkarte genügt. Ein kulturhistorisch-philatelistischer Streifzug. Hei-


delberg 1988.

79
Textprojekte und Schreibaufgaben III

angenommen. Heute habe ich einen diesbezüglichen Versuch mit


den Worten »Piss off« abgewehrt. Das ist hawaiianisch und heißt
soviel wie: »Danke, ich habe schon einen Kranz«. Es hat gewirkt.73

Beckers Text spielt mit dem Ansichtskartenmotiv, er geht darauf


ein und behandelt es frei, aber nicht so frei, dass er nicht zumin-
dest einige Informationen über seinen Reiseort unterbringen wür-
de. Vor allem aber erzählt er eine kleine Geschichte: dass den Tou-
risten überall Blumenketten angeboten werden, dass so etwas
nervt und wie man souverän damit umgeht. Der übliche Postkar-
ten-Ernst (»hier werden einem überall Blumenketten angeboten,
die viel zu teuer sind, man muss sich richtig dagegen wehren«)
wird dabei so unterlaufen, dass die Aufdringlichkeit der Verkäufer
nicht wie ein ernst zu nehmendes Weltübel erscheint, sondern als
ein komisches Weltdetail am Rande. Bildmotiv und Text beziehen
sich so eng aufeinander und bringen die Empfänger zum Lachen.
Noch enger ist die Verbindung zwischen Foto und Text auf
den Ansichtskarten, die Becker seinem kleinen Sohn Jonathan
geschrieben hat. Da gibt es Texte, die ein Bildmotiv (ein Bild von
Mirò, ein Bild von Kandinsky) fragend auseinandernehmen und
den Empfänger mit der Betrachtung des Bildes beschäftigen:

Du alte Leseratte,
hast Du schon je auf einer einzigen Postkarte ein solches Durch-
einander gesehen ? Ein Telefon, Sterne, ein flatterndes Segel, eine
Sonne, ein abgenagter Fisch, eine Sanduhr und was nicht alles ! Ich
glaube, der Maler hatte ein bißchen viel Phantasie. Einen Regen-
wurm sehe ich auch noch. Und Du ( ?)
74
Dein Paps

73 Jurek Beckers Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti, S. 118 f.


74 [Becker, Jurek:] Lieber Johnny, S. 166.

80
Die Ansichtskarte

Oder es gibt Karten, deren Bildmotiv (hier: Batman und Robin


in einem Boot) so pointiert auserzählt wird, dass der Empfänger
Lust bekommt, diesem Erzählvorschlag seine eigene Erzählver-
sion entgegenzusetzen:

Du alter Seeräuber,
interessiert es Dich, wohin Batman und Robin so schnell mit ihrem
Boot fahren ? Batman hat fürchterlichen Hunger (er hat nämlich
nicht gefrühstückt) und will im Restaurant fünf doppelte Hambur-
ger essen. Und Robin muß ganz nötig pinkeln, das kann er auch in
dem Restaurant machen. Und danach wollen die beiden sich noch
ein bißchen zum Mittagsschlaf aufs Ohr legen, denn heute ist nicht
viel los mit den Verbrechern.
75
Dein Paps

Anhand solcher Texte kann man gut erkennen, wie lebendig und
unterhaltsam man auch auf kleinstem Raum schreiben kann.
Voraussetzung ist, dass sich die Texte eng auf das Bildmotiv
beziehen und dabei kleine Erzählungen entwerfen, die zur
genaueren Betrachtung des Bildmotivs anleiten. Diese »Anlei-
tung« muss jedoch unmerklich und locker geschehen, sodass der
Betrachter die Freiheit behält, auf eine solche Erzählung mit
einer eigenen Erzählung zu reagieren.
Gelungene Ansichtskarten-Texte beschäftigen den Empfän-
ger daher sowohl mit dem Bild als auch mit offenen Stellen im
Text. Sie sorgen dafür, dass der Empfänger eine solche Karte
nicht gähnend oder sonstwie gelangweilt beiseitelegt, sondern
hin und her wendet auf der Suche nach genau jenem Text, den
er selbst zu diesem Motiv geschrieben hätte. So gesehen, sind
gelungene Ansichtskarten-Texte Animateure: Sie machen Lust,

75 [Becker, Jurek:] Lieber Johnny, S. 140.

81
Textprojekte und Schreibaufgaben III

selbst nach abgefahrenen Bildmotiven Ausschau zu halten und


zu diesen skurrilen Motiven fragende, erzählende und auf jeden
Fall heitere Texte zu verfassen.

Schreibaufgabe
n Suchen Sie während einer Reise nach Ansichtskarten, die
statt der üblichen Ferienmotive ein merkwürdiges Detail Ihres
Urlaubsortes aus ungewohnter Perspektive zeigen.
n Schreiben Sie zu diesem Detail eine kleine Erzählung: Wie
Sie darauf gestoßen sind, was danach so alles passiert ist und
wie Sie mit der Sache fertig geworden sind.
n Erzählen Sie so, als wollten Sie bloß einen Erzählvorschlag
machen und als könnte es auch noch andere Erzählversionen
zu demselben Bildmotiv geben.
n Verstehen Sie Ihre Karte als einen Versuch, auf freund-
schaftliche und heitere Art eine enge Verbindung nach Hause
herzustellen, vermeiden Sie deshalb jede solipsistische Reise-
larmoyanz.
n Schreiben Sie nicht nur eine Ansichtskarte, sondern schrei-
ben Sie an ein und denselben Empfänger viele Ansichtskarten,
am besten Tag für Tag eine. So arbeiten Sie ganz nebenbei an
einem neuen literarischen Genre: der Fortsetzungserzählung
auf Ansichtskarten.

82
11. Der Reisebrief

Das Monstrum nimmt einen monumentalen Brief in Angriff. 76

Auch der Brief von unterwegs ist auf den ersten Blick eine Mit-
teilungsform, die nicht mehr zeitgemäß erscheint. Und doch hat
gerade dieses Genre noch immer seine eigene Schönheit und
Würde. Einen Brief zu schreiben setzt nämlich voraus, dass man
sich auch wegen seiner Herstellung einige Gedanken macht.
Man tippt nicht einfach nur eine Botschaft auf einer Tastatur,
sondern macht sich zunächst einmal auf die Suche nach ange-
messenen Materialien, nach Briefbögen und Briefumschlägen,
nach Briefmarken und Tinte. (In manchen Hotelzimmern findet
man auf dem obligatorischen kleinen Schreibtisch noch immer
eine ledergebundene Schreibmappe, in der sich hoteleigenes
Briefpapier und hoteleigene Briefumschläge mit dem Aufdruck
der Hoteladresse befinden. Einen wahren Schreiber verleiten sie
sofort zum Schreiben.)
Briefe wollen mit Füllfederhalter und Tinte auf bestem
Papier geschrieben und in Briefumschläge gesteckt werden, die
auf der vorderen Seite oben rechts eine leuchtende Briefmarke
schmückt. Das beweist, dass Briefe eben nicht einfache Mittei-
lungen oder Botschaften, sondern im Grunde kleine Geschenke
sind. Sie werden mit der Hand geschrieben und sind mit einem
gewissen zeitlichen Aufwand verbunden.
Später werden sie sogar verpackt und frankiert, sodass sie
beinahe wie minimalistische Schatzkästchen erscheinen. Denn
ähnlich wie in Schatzkätzchen verbergen sich auch in Briefen

76 GiuseppeTomasi di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen. Unterwegs in den Metro-


polen Europas, S. 53.

83
Textprojekte und Schreibaufgaben III

versteckte intime Kostbarkeiten: die klopfenden Herztöne des


Schreibers, kaum hörbare Signale, die der Empfänger nur gewahr
wird, wenn er Auge und Ohr dicht an den Brief hält.
Der Empfänger entziffert und lauscht – er lässt den Brief sin-
ken und auf sich wirken, er überfliegt ihn und denkt nach, dann
konzentriert er sich wieder auf seine Lektüre. Brieflektüren
haben so ihre eigenen Rhythmen, denn Brieftexte werden nicht
hastig geschluckt oder sonstwie nur kurz zur Kenntnis genom-
men. Sie fließen oder sickern vielmehr langsam in den Blutkreis-
lauf des Lesenden ein und werden immer wieder von vorn und
dann mehrmals und zu den verschiedensten Zeiten gelesen. Und
was bekommen die Leserin oder der Leser dann im idealen Fall
zu hören ? Die Musik der Reisestimmungen und Reiseatmosphä-
ren, intoniert von einer einzigartigen, sehr nahen Stimme.
Reisebriefe gehören daher zu den schönsten und persönlichs-
ten Dokumenten des Schreibens auf Reisen. Weder die Informa-
tion über den Reiseort noch der Einblick in die seelische Verfas-
sung des Reisenden sollten hier im Vordergrund stehen.
Stattdessen geht es um bunte Bilder und farbige Klänge – und
damit um das Leben in der nächsten Umgebung, frisch erzählt
von einer leicht erregten und nervösen Reisestimme, deren Vibra-
tionen nichts anderes sind als ein Nachhall des gerade Erlebten:

Heute Abend wird in der französischen Botschaft getanzt. Zu-


oberst auf der Treppe heißt die Botschafterin die Gäste willkommen.
Jahrhunderte zu Dutzenden sind über ihren in eine enge Tunika in
der Farbe von risotto alla milanese gehüllten Körper gegangen, von
denen jedes seine Spuren auf ihr hinterlassen hat; das XVIII. ihr
Gesichtspuder, das XIX. ihre Blutlosigkeit, das XX. die Deforma-
tionen der späten und falsch verstandenen »sports«. Am Fuß der
Treppe trommelt der Haushofmeister Namen: »His Highness the
Prince von Bismarck« ein schmächtiges bebrilltes Männchen, weit

84
Der Reisebrief

entfernt von der Stiernackigkeit seines grässlichen Großvaters; »the


Count and the Countess von Blücher«; »His Grace the Duke of Wel-
lington«; feierliches Terzett von Namen, die das ironische Schicksal,
einen nach dem anderen, unter dem französischen Dach zusam-
menführt. Hager und die nationalen Katastrophen Frankreichs
überwindend, küssen sie das knochige Gepränge. Seine Exzellenz
lächelt hinter dem Bart; sucht verzweifelt nach etwas Geistreichem,
das gleichzeitig leutselig, tiefsinnig und würdevoll ist; erfleht den
Beistand von Meister Talleyrand; wird nicht erhört; hüstelt.77

Das ist ein Ausschnitt aus einem Brief des begnadeten Brief-
schreibers Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957), der als
Literat durch seinen Roman »Il gattopardo« weltberühmt gewor-
den ist. Lampedusas Brief stammt aus dem Jahre 1928, sein aus
Sizilien stammender Verfasser ist auf Tour durch Europa. Gera-
de ist er in London eingetroffen und erzählt nun von einem
Empfang in der dortigen französischen Botschaft.
Das Zeremoniell steht ihm dabei noch so nah und direkt vor
Augen, dass er es unbedingt im Präsens mitteilen muss. Schaut
mit mir hin, will er den Empfängern des Briefes (zwei seiner
Lieblingscousins in Sizilien) sagen, schaut, wie die Botschafte-
rin dasteht, schaut, was für eine Erscheinung ! Werft mit mir
einen kurzen Blick auf ihre Gestalt, auf ihr Gesichtspuder, auf
ihre blutlosen Wangen ! Und nun hört, wie der Haushofmeister
die klangvollen, aber urkomischen Namen der Gäste aufruft !
Und nun seht, wie sich die drei lautstark angekündigten Herr-
schaften dem Botschafter nähern ! Und nun erkennt, wie er um
Worte ringt und wie er dabei dramatisch scheitert, urkomisch
auch das !
Als Empfänger eines solchen Briefes nimmt man genau wahr,

77 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen, S. 114.

85
Textprojekte und Schreibaufgaben III

wie hingerissen der Verfasser von der geschilderten Szene ist.


Ganz dicht dran ist er an dem, was er schildert, und ganz nahe
dran bleibt er auch an dem weiteren Geschehen, so nahe, dass er
Semikolon an Semikolon reiht und keinen Punkt setzen möchte.
Moment, scheint er zu rufen, Moment, noch dieses und jenes
kleine Detail, Moment, noch dieses letzte Seufzen und Hüsteln –
dann erst mache ich einen Punkt.
Eine solche Briefsequenz beinhaltet beinahe alle Momente
eines guten Briefes. Sie stellt dem Empfänger das Visuelle und
Akustische von Szenen vor Augen, und sie behandelt das Gesehe-
ne, als wäre es Teil eines Dramas. Die Personen erscheinen dadurch
als Charaktere und Typen, und das Ambiente ist vor allem Kulisse.
Das Leben hat dadurch etwas von der Art eines Spiels, dessen auf-
merksamster Beobachter der Briefschreiber selbst ist. Als beob-
achtendes »Monstrum« ironisiert er nicht nur die anderen, son-
dern durchaus auch sich selbst. Ja, auch er selbst, der seiner Heimat
Sizilien für einige Zeit entlaufene Adlige, erkennt an seinem eige-
nen Tun und Handeln die Komik und Verdrehtheit des Reisens:

Gestern Morgen (Sonntag) ruhte das träge Monstrum, um 9, noch


in seinem breiten Lager, damit beschäftigt circa einen Liter Milch,
6 Brötchen, 4 »Toasts«, 4 Scheiben »cake« und ein paar Marmelade-
töpfchen zu konsumieren, unentbehrlicher Ballast für sein tägliches
Navigieren. Als das, auf seinem Nachttisch thronende, Telefon
klingelte. Es wurde gefragt, ob es der »Diuca« di Palma sei, was es
bejahte, und am anderen Ende sagte man, die Wallace Collection
78
sei am Apparat …

Auch diese Stelle zeigt Lampedusas enorme Konkretheit: kein


Schreiben über sich selbst, kein Ausmalen von Stimmungen,

78 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen, S. 67.

86
Der Reisebrief

sondern eine Szene und Bilder. Wo liege ich, was umgibt mich,
was passiert, wer spricht mit mir, was antworte ich ? Lampedusa
zeigt sich von allem Fremden, was ihm auf Reisen begegnet, so
beschäftigt und so animiert, dass er gar keine Zeit für längere
Selbstbetrachtungen findet. Stattdessen stellt er das Fremde in
seinem Gären, Kreisen und Sichproduzieren aus, während er
selbst von der Überfülle des Geschehenden und Gesehenen bei-
nahe verschlungen zu werden droht: »Das Monstrum fühlt sich
durch so viele Ortswechsel langsam wie ein Kreisel.«79
Genau so aber sollte es sein. Ein guter Brief zeigt den Rei-
senden inmitten eines sehr bunten Geschehens, mit großen
Augen alles Neue und Sonderbare aufschnappend und mit has-
tiger, fliegender Feder alles notierend, immer mit dem Blick auf
den einen Empfänger, dem man seine Mitteilungen zum beson-
deren Geschenk macht.
Vor allem aber lässt ein solcher Brief eine einzigartige, unver-
wechselbare Stimme hören, beinahe so, als handelte es sich um
eine gesungene Arie. Eine solche Stimme hat unterschiedliche
Tempi, sie bewegt sich sehr individuell in Höhe und Tiefe, sie
setzt ab, holt Luft, nimmt einen neuen Anlauf. Eng ist sie mit
dem Nervensystem und daher mit dem Körper des Schreibenden
verbunden. Reisebriefe im besten Sinne sind also Nerven- und
Körperbotschaften, sie übersetzen das Atmen, Schwitzen, Rumo-
ren oder Abtauchen auf Reisen in kleinste sprachliche Partikel,
in Gestalt eines momentanen sprachlichen Dramas.

79 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Ein Literat auf Reisen, S. 70.

87
Textprojekte und Schreibaufgaben III

Schreibaufgabe
n Schreiben Sie an einem (oder an mehreren Tagen, also
stückweise) einen Brief an eine Person, die Sie schätzen, mö-
gen oder lieben.
n Erzählen Sie darin, möglichst nahe an dem, was Sie erlebt
haben, von bestimmten Momenten oder Szenen, die den
besonderen Charakter der fremden Umgebung auf lebendige
Weise vermitteln.
n Schweifen Sie nicht ab und verstehen Sie Ihre Rolle als die
eines präzise beobachtenden Auges.
n Erzählen Sie vom fremden Leben auf heitere und das heißt
souveräne Art: belustigt, amüsiert.
n Behalten Sie aber immer den Empfänger des Briefes im
Auge, beziehen Sie sich auf seine besonderen Interessen und
Vorlieben, sprechen Sie ihn diskret an, fragen Sie ihn etwas,
erwecken Sie den Eindruck, dass Sie sich mit ihm austau-
schen wollen und dass es Ihnen darauf ankommt, seine
Meinung zu einer Sache zu hören. (Auch wenn Ihr Brief kein
Liebesbrief ist [die besten Briefe sind Liebesbriefe]), so sollte
Ihr Brief doch ein Liebesmoment enthalten: das der Verliebt-
heit in all das, was Sie gerade gesehen haben und was Sie
erregt.)

88
12. Mediales Schreiben

12.1 Simsen, Mailen und Twittern

1:55 Wir sind jetzt da, wo wir angekommen sind !  80

Die Ansichtskarten des Schriftstellers Jurek Becker an seine bes-


ten Freunde sowie an seinen Sohn Jonathan und die Reisebriefe
des Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa an seine bei-
den Lieblingscousins stammen nicht aus dem digitalen Zeitalter,
vielleicht besitzen sie gerade deshalb noch eine ganz eigene
Schönheit und eine besondere Magie, die etwas geradezu Zeit-
loses hat.
Dass sie einen noch immer berühren oder sogar begeistern,
verdanken sie einem langsam aussterbenden Gestus: dem Gestus
der Herzenssprache. In der deutschen Literatur wurde dieser
Gestus etwa seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts (im
Zeitalter der sogenannten »Empfindsamkeit« und später in der
»Romantik«) entwickelt. Goethes Briefroman »Die Leiden des
jungen Werthers« zählt zu den ersten großen Dokumenten die-
ser Sprache, und in der Reiseliteratur ist Joseph von Eichen-
dorffs Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts« eine ihrer
»Gründungsurkunden«.
Für unser Thema »Schreiben auf Reisen« ist wichtig, dass
Reise-Texte in der Herzenssprache sich nur an wenige ausge-
wählte Empfänger wenden. Solche während des Schreibens dau-
ernd im Blick behaltenen Empfänger haben für den Schreiber

80 Anna
Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ? Neues aus
SMSvonGesternNacht.de., S. 114.

89
Textprojekte und Schreibaufgaben III

eine große Bedeutung, sie werden in besonderem Maße geschätzt,


gemocht oder sogar geliebt. Die Karten oder Briefe, die an sie
geschickt werden, haben deshalb auch einen besonderen Sinn
und Auftrag: Sie wollen die Verbindung zu den Zuhausegeblie-
benen auf möglichst enge Weise wiederherstellen.
Das versuchen sie, indem sie die Sprache von zu Hause spre-
chen und so tun, als befände sich der Schreiber gar nicht in allzu
weiter Entfernung. Indem er die Sprache von zu Hause spricht,
gibt er vielmehr zu erkennen, dass er trotz aller Entfernung noch
immer derselbe geblieben ist. Seht Ihr mich ? Hört Ihr mich ? –
fragt ein solcher Schreiber und schreibt so, als plauderte er mit
seinen Liebsten, in deren Kreis (und Leben) er sich insgeheim
zurückversetzt.
Dazu gehört, dass er bestimmte sprachliche Eigenheiten
pflegt, wie sie im Laufe der Jahre in diesem gewohnten Lebens-
raum entstanden sind. Jurek Becker redet seinen kleinen Sohn
mit immer neuen Koseworten an, und Giuseppe Tomasi di Lam-
pedusa erzählt von sich als einem »Monstrum«, dessen Eigenhei-
ten seine beiden Lieblingscousins sehr wohl kennen.
So entwerfen die Herzenssprachen ein sehr intimes Geflecht
von Bezügen, die Außenstehenden nicht immer alle verständlich
sind. Sie klopfen den Körper des Reisenden daraufhin ab, welche
vertrauten, nur den Eingeweihten bekannten Signale er der Rei-
se abgewinnt. In diesem Sinn sind Herzenssprachen den »Zau-
bersprachen« verwandt: Sie unternehmen die Anstrengung, den
Körper des Reisenden für Momente nach Hause zurückzuzau-
bern, und sie tun das in einer mit magischem, beschwörendem
Vokabular gesättigten Sprache.
All das sollte man sich in Erinnerung rufen, wenn nun in
Kurzform vom Gebrauch des medialen Schreibens auf Reisen
die Rede ist. Wie ein solches mediales Schreiben in seinen neuen
Formaten funktioniert und wie man es literarisieren kann, hat

90
Simsen, mailen und twittern

der Literaturwissenschaftler Stephan Porombka in einem eige-


nen Band (ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe) bereits detailliert
erläutert.81 Aus Porombkas Buch kann man daher viele wegwei-
sende und generelle Anregungen für ein solches Schreiben ge-
winnen.
Im Zusammenhang mit unserem Reisethema interessiert uns
aber vor allem die Frage, welche Funktion und welche Formen
das mediale Schreiben gerade auf Reisen haben könnte. Zunächst
verständigen wir uns darauf, dass sich ein solches Schreiben fun-
damental vom romantisch geprägten Gestus der Herzensspra-
chen absetzt. Mediales Schreiben insgesamt zielt nicht auf die
große Gebärde, auf Gefühl, Nähe und Intimität, sondern ganz
im Gegenteil auf den kurzen, möglichst präzisen, sich dann aber
wieder verflüchtigenden Kontakt.
Der Empfänger einer SMS oder Mail wird diese Signale des-
halb auch nicht lange studieren, und erst recht wird er sie nicht
immer aufs Neue abrufen, um sich diese Worte vor Augen zu
führen oder ihrem spezifischen Klang nachzuhorchen. Vielmehr
wird er sie rasch lesen – und (im idealen Fall) möglichst rasch
beantworten. Durch die kurze Botschaft und ihre Beantwortung
baut sich ein knappes Zusammenfinden oder ein kurzer Zusam-
menprall zweier Texte auf, so wie eine Kugel beim Billard auf
elegantem und glattem Weg eine andere Kugel leicht berührt
oder zur Seite stößt. Dann aber herrscht wieder Stille, und eine
neue Aktion muss die Fortsetzung des Spiels einleiten.
Eine SMS oder eine Mail zielt denn auch ganz und gar nicht
darauf, dem Empfänger die Illusion zu vermitteln, der ferne Rei-
sende befände sich noch in seiner Nähe und spräche mit ihm in
der vertrauten Sprache, die beide aus langer Erfahrung kennen.

81 StephanPorombka: Schreiben unter Strom. Experimentieren mit Twitter, Blogs,


Facebook & Co. Mannheim 2012.

91
Textprojekte und Schreibaufgaben III

Stattdessen geht es darum, ein kurzes Spiel des Agierens und


Reagierens zu spielen. Dieses Spiel kann durchaus auf ein mo-
mentanes Wiedererkennen (zum Beispiel von Gemeinsamkei-
ten) zielen, es verankert dieses Wiedererkennen aber nicht in
einer starken, beiden Schreibern gemeinsamen Emotion.
Ist der geheime Untergrund der Herzenssprache (im idealen
Fall) Zuneigung oder sogar Liebe, so ist der geheime Unter-
grund des medialen Schreibens (nehmen wir das Beste an) die
mehr oder minder intensiv erlebte Bekanntschaft oder sogar
Freundschaft. Mit Geliebten lebt man (ununterbrochen, von
morgens bis abends, zumindest in Gedanken), mit Bekannten
oder Freunden (dieser Art) verkehrt man (ab und zu, in guten
Momenten).

Nachdem wir uns auf diese Unterschiede verständigt haben, be-


trachten wir nun genauer einige Formen medialen Schreibens
auf Reisen.
Die SMS kommt, wie wir schon gesagt haben, der alten
Ansichtskarte am nächsten. Sie richtet sich meist an einen einzi-
gen Empfänger, und sie teilt mit, was gerade, in diesem Augen-
blick, mit dem Verfasser der kurzen Nachricht passiert.
Darüber hinaus zielt die SMS aber auch auf sofortigen Emp-
fang und fordert eine Antwort. Ich bin hier und mache dies und
das – wo bist du und was machst du gerade ? (So gesehen ist die
SMS die kleine, minimalistische Form des Schreibens in Face-
book, das sich – im Unterschied zur SMS – eben nicht nur an
einen einzigen Empfänger richtet.) Im idealen Fall ergeben
Nachricht und Antwort dabei ein pointiertes, kurzes Textver-
hältnis, etwa so:

3:10
Hi Spatz, wann kommst du nach Hause ?

92
Simsen, mailen und twittern

3:21
Gleich, zieh dich schon mal aus und leg dich ins Bett ! ;-)
3:22
Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. LG Mama82

SMS-Kontakte dieser Art verlaufen als kurze Dialoge und wir-


ken improvisiert. Als Kurzdialoge verweisen sie auf ein längeres
Stück, dessen Themen sie jedoch nicht ausspielen. Sie berühren
vielmehr diese (zu erahnenden) Themen nur und halten das wei-
tere Spiel in der Schwebe: Geht es noch weiter ? Aber wie ? Und
wohin ?
Eine SMS auf Reisen könnte in diesem Sinn dazu dienen,
eine kleine Szene zu inszenieren. Sie sollte sich auf den Raum, in
dem sich der Schreiber befindet, beziehen, und sie sollte eine
Antwort herausfordern, die sich ebenfalls auf diesen Raum
bezieht. Frage und Antwort könnten den jeweiligen Raum also
zu einer Art Spielball zweier Schreiber machen. Der eine wirft
dem anderen Informationen und Beobachtungen zu, und diese
Mitteilungen werden nun munter durchgespielt:

12:38
Und, gute Fahrt gehabt ?
13:02
Fängt zumindest gut an, sitze verkatert und übernächtigt
ohne Reiseplan in einem Regio ins Blaue und werde nur noch von
83
Spucke und Optimismus zusammengehalten.

Im Gegensatz zu diesem dialogischen, szenischen Aufbau des


SMS-Kontakts führen Mails zwei (oder auch mehrere) Sprecher

82 Anna Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ?, S. 138.
83 Anna Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ?, S. 237.

93
Textprojekte und Schreibaufgaben III

zusammen, die Ausschnitte ihres Lebens weniger beschreiben,


schildern oder darstellen als selbst kommentieren. Der Gestus
des Selbstkommentars bestimmt das Schreiben dabei derart, dass
alle gleichsam autobiografischen Äußerungen eines Schreibers
nicht nur mitgeteilt, sondern meist auch gleich wieder aus der
Distanz beobachtet und reflektiert werden.
Mails auf Reisen fangen in diesem Sinne Details der Umge-
bung auf, schildern das Verhältnis des Schreibers zu diesen
Details und kommentieren dieses Verhältnis sofort. Anders als
der Reisebrief (der ihnen historisch vorausgeht) versetzen sie
sich nicht in Situationen und lassen solche Situationen nicht aus
ihren eigenen Farben und Klängen entstehen, sondern sie geben
von vornherein zu erkennen, dass die Situation distanziert
betrachtet, durchleuchtet und in ihrer Wirkung auf den Schrei-
ber behandelt wird.
Gut kann man das etwa anhand der Mails beobachten, die
der Schriftsteller Matthias Zschokke im Laufe einiger Jahre an
seinen Freund Niels Höpfner geschickt hat. Hier eine Szene aus
Budapest:

21. 01. 03
Eben komme ich aus einem zweiten Türkischen Bad, das ich aus-
probieren wollte. Es gibt insgesamt drei von diesen alten, origi-
nalen Dampfstuben. Die dritte ist zur Zeit geschlossen. Ich wollte
die beiden anderen gesehen haben, um dann auch wirklich fundiert
Auskunft geben zu können über diese Art Badekultur. Offenbar
habe ich den falschen Nachmittag erwischt. Eine geschlossene Ver-
anstaltung des lokalen Wichsvereins. Unappetitlich. Lauter ältere
Männer unseres Semesters. Mindestens vierzig. Ich wusste kaum,
wo hingucken. In den Becken lagen sie beinahe geschichtet im
kollektiven Samen. In der Dampfstube Leib an Leib. Ich zog mich
also in die Sauna zurück, dort war es den meisten zu heiß und zu

94
Simsen, mailen und twittern

trocken. Da saß ich dann auf einer Pritsche und tropfte vor mich
hin. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch eine Massage gebucht.
Nach kurzem holte mich ein fetter, unsympathischer Kerl aus der
Sauna, sagte Massage, Massage, und ging vor mir her.84

Die Szene (ein Nachmittag in einem türkischen Dampfbad)


steht hier von vornherein »unter Beobachtung«: Was passt ? Was
gefällt ? Was kommt dem Beobachter entgegen ? Was stößt ab ?
Wie ist das Geschehen einzuordnen ? Der Mail-Text führt so
eine Art Orientierungsgespräch mit sich selbst, das dem Emp-
fänger zu erneutem Kommentar vorgelegt wird.
Aufgabe der Mail sind daher die Klärung, Erörterung, best-
mögliche Durchdringung eines Sachverhaltes. Und die Antwort
des Empfängers wiederum sollte diese reflexiven Linien aufgrei-
fen und so darauf erwidern, dass aus einem Selbstgespräch ein
gemeinsames Gespräch wird.

Noch einmal anders funktioniert schließlich das Twittern.85 Der


Twitter-Text nämlich richtet sich eben nicht an einen oder meh-
rere im Blick behaltene Empfänger, sondern an einen (im Ideal-
fall) möglichst breiten Kreis von Empfängern (im Fachjargon:
»Followers«), die der Schreiber einer solchen Nachricht meist gar
nicht persönlich kennt. Solche »Followers« folgen den kurzen
Texten und Spuren, die der Schreiber meist täglich in der Form
von 140 Zeichen verschickt.

Gibt man einer solchen Mitteilungsform eine literarische Note,


könnte ein in sich geschlossener, anspielungsreicher und durchaus

84 Matthias
Zschokke: Lieber Niels, S. 19.
85 Eine
gute Anleitung findet man bei Tim O’Reilly und Sarah Milstein: Das Twitter-
Buch. Deutsche Übersetzung von Jørgen W. Lang. Köln 2009.

95
Textprojekte und Schreibaufgaben III

raffinierter Text entstehen. Sein Empfänger soll dann dazu gebracht


werden, aufzumerken, zu stutzen und für einen kurzen Moment in
einen fremden, leicht geheimnisvollen Kosmos zu schlüpfen, in dem
er sich nach einer möglichen Lösung der Rätsel umschauen muss.
Hier einige Beispiele aus einem Buch des Twitter-Autors Florian
Meimberg mit lauter sehr kurzen Geschichten in Twitter-Format:

Eines Morgens stand ein Schneemann in ihrem Vorgarten. Au-


ßerdem war ihr Mann weg. Ein Zusammenhang, der ihr erst im
März klarwerden sollte.

Sam atmete schwer. Er starrte auf den Zettel. »Du darfst mor-
gen auf keinen Fall in den Flieger steigen !«, stand dort. In seiner
Handschrift.

Die Übelkeit. Der Heißhunger. Die ausbleibende Periode. Es gab


keinen Zweifel. Maria räusperte sich: »Josef ? Wir müssen reden.«86

Auf Reisen zu twittern könnte nach dem Vorbild solcher Texte


bedeuten: Kleine Beobachtungen am Wegrand in Minige-
schichten zu verwandeln, die den Empfänger darüber nachden-
ken lassen, in welchen Gegenden und in der Nähe welcher
Objekte man sich gerade aufhält. Würde man täglich mehrere
solcher Meldungen verschicken, ergäbe sich eine geheime Spur,
die von den kulturellen Zeichen am Wegrand handeln würde.
Ein Stadtspaziergang irgendwo in der Fremde zum Beispiel wäre
für die Daheimgebliebenen zu entschlüsseln – und wäre dadurch
allemal interessanter als jeder fade Bericht, in dem bekannte
Sehenswürdigkeiten nur benannt oder gar aufgezählt würden.

86 Florian Meimberg: Auf die Länge kommt es an. Tiny Tales. Sehr kurze Geschichten,
S. 76 und 78.

96
Simsen, mailen und twittern

Schreibaufgaben
n Bevor Sie sich auf ein intensives mediales Schreiben auf
Reisen einlassen, überlegen Sie genau, ob ein solches Schrei-
ben Ihre Reisezeit nicht zu sehr beansprucht oder Ihnen viel
von der Aufmerksamkeit für die Fremde entzieht.
n Wollen Sie nicht allzu viel Zeit investieren, senden Sie dann
und wann eine SMS und inszenieren Sie – wie gezeigt – einen
kurzen Dialog.
n Wollen Sie etwas mehr Zeit investieren, twittern Sie mehr-
mals am Tag und konstruieren Sie dabei kleine Geschichten,
die den Lesern die Aufgabe stellen, Ihre geheimen Wege
durch einen unbekannten Kosmos anhand kleiner Hinweise
zu erraten und zu verfolgen.
n Wollen Sie aber einen intensiveren Austausch über das,
was Sie auf einer Reise so alles sehen, schreiben Sie Mails, in
denen Sie das Gesehene erzählen und kommentieren, und
zwar immer mit dem Blick darauf, dass Sie vom Empfänger
ebenfalls einen Kommentar zu Ihrem Text erwarten.

97
12.2 Schreiben in Facebook und Bloggen

Heiner Müller-Pfohschneider ist nun im besitz einer profi-haar-


schneidemaschine und eröffnet einen friseursalon für intellektuelle:
statt gala und bild der frau liegen literaturen und das gesamtwerk
prousts aus, die frisierumhänge sind für rollkragenpullover opti-
miert und ich unterhalte mich vorzugsweise über unikarriere und
veröffentlichungen (nicht über haare und männer, obwohl auch das
in verschiedenen philosophischen richtungen angeboten wird)
14. März 2010 um 11:06 87

In einem von den Kulturwissenschaftlern Stephan Porombka


und Mathias Mertens herausgegebenen Band mit dem Titel
»Statusmeldungen. Schreiben in Facebook« schreiben fünfzehn
Facebook-Autorinnen und -Autoren darüber, wie sie ein solches
Schreiben entwickelt, konzipiert und immer wieder erweitert
oder verändert haben. Jeder, der sich mit diesen Facebook-Poe-
tiken vertraut macht, erkennt, dass das Schreiben in Facebook
nicht nebenbei oder eben mal so funktioniert. Die Autorinnen
und Autoren führen vielmehr vor, dass man vom Schreiben in
Facebook vor allem dann etwas hat, wenn man es intensiv oder
radikal betreibt.
Tut man das, verschwindet man als Schreiber in einem dau-
ernden Rauschen von Meldungen und Kommentaren, das darauf
drängt, den nächsten freien Moment ebenfalls mit einer Mittei-
lung, einem Kommentar oder auch nur einer einfachen Notiz zu
besetzen. Im Extremfall ist ein solches Schreiben wie ein nicht
endender Dauerlauf mit dem Blick auf den nächsten Präsenz-
moment, an dem nicht nur ein einziger Autor, sondern gleich

87 Alexandra Müller: Leben und Wirken von Kloni Korleone, S. 80.

98
schreiben in facebook und bloggen

mehrere Autoren mitschreiben. Allmählich konstruiert man als


Schreiber, der an diesem Rauschen partizipiert, eine Art Face-
book-Figur seiner selbst, deren Konturen sich aus allen von mir
abgegebenen Meldungen, Recherchen, Verweisen, Kommenta-
ren und Bildern ergeben.
Natürlich ließe sich eine solche multiple Produktion von
Texten, bei der es sich durchaus um harte Arbeit handelt, auch
während einer Reise fortsetzen, denn gerade eine Reise würde
dem jeweiligen Facebook-Projekt eine Unmenge von interessan-
tem Material zuführen, das im Moment seiner Mitteilung auch
gleich wieder von anderen Schreibern aufgegriffen und verwan-
delt werden könnte. Man sollte sich aber fragen, ob man so
etwas auf Reisen überhaupt will: ob es nicht zu viel Zeit kostet,
ob es nicht zu sehr ablenkt und ob es die Dauerkontakte von zu
Hause nicht in eine viel interessantere Fremde verlängert, in der
man ihnen doch endlich einmal entkommen wollte.

Vielleicht ist »Schreiben in Facebook« für das Schreiben auf Rei-


sen nämlich ein zu heimisches, an den eigenen Dunstkreis
gebundenes Projekt. Dort verlebendigt es zwar, wie viele der
Autorinnen und Autoren der Facebook-Anthologie immer wie-
der betonen, einen sonst eher monotonen Alltag, und dort mag
es auch ein wenig von der anscheinend allgegenwärtigen Lange-
weile ablenken. Gerade deshalb aber ist es wohl ein Projekt, das
eher zu Hause funktioniert und dort aus der Stille kleiner Räu-
me in behelfsweise herbeigesehnte Salongesprächsatmosphären
führen soll:

Kevin Kuhn hey, lass mich doch hier nicht allein !!!!
09. März 2010 um 12:24  88

88 Kevin Kuhn: Facebook, S. 178.

99
Textprojekte und Schreibaufgaben III

Brauchen wir auf Reisen aber imaginierte Salongesprächsatmo-


sphären ? Oder: Ist eine Reise nicht selbst schon genug Salonat-
mosphäre, und zwar eine mit dem großen Vorzug, aus realen
Personen anstatt aus Facebook-Nutzern zu bestehen ?
Die Beantwortung solcher Fragen hängt mit dem jeweiligen
Verständnis von Fremde zusammen. Versteht man »Fremde« als
intensiv und radikal, so hat es ein Schreiben in Facebook eher
schwer. Versteht man »Fremde« aber als einen Raum, der sich
von meinem Heimatraum nicht fundamental unterscheidet, son-
dern diesen Heimatraum durchaus noch mit beinhaltet und
berührt, so könnte man sich auch ein Schreiben in Facebook auf
Reisen gut vorstellen.
Ein solches Schreiben wäre dann eine fortlaufende Kommu-
nikation mit dem heimischen Raum über das, was mir in der
Fremde auffällt. So gesehen würde mich dieser heimische Raum
bei meinen Gängen, Beobachtungen und Entdeckungen beglei-
ten und mir hier und da vielleicht sogar helfen, bestimmten Din-
gen und Erscheinungen näher zu kommen oder auf den Grund
zu gehen.
Mit anderen Worten: Ich wäre auch auf Reisen endlich nicht
mehr allein, sondern bliebe auch dort eingebunden in den heimi-
schen Diskurs, der freilich auch in den altbekannten, heimischen
Formationen verliefe. Möchte man so etwas ? Oder will man so
etwas gerade nicht ?

Ganz anders steht es mit dem Bloggen. Das Bloggen auf Reisen
könnte nämlich eine gute, praktische und vor allem einfache
Methode sein, die vielfältigsten Beobachtungen und Textsorten in
einem übergeordneten Erzählzusammenhang zu präsentieren.
Das Zentrum dieses Erzählzusammenhangs wäre man selbst, und
zwar so, wie es der Journalist und Extrem-Blogger Andrew Sul-
livan in einem gescheiten Essay über das Bloggen beschrieben hat:

100
schreiben in facebook und bloggen

Man schreibt schließlich über sich selbst, da man ein relativ fester
Punkt ist in dieser ständigen Interaktion mit den Ideen und Fak-
ten der Außenwelt. Und in diesem Sinne ist diejenige traditionelle
Form, die den Blogs am nächsten kommt, das Tagebuch. Mit dem
Unterschied jedoch, dass ein Tagebuch immer eine Privatangelegen-
heit ist.89

Das Bloggen ist Tagebuch, aber ein Tagebuch, das von vornher-
ein für eine möglichst breite Netz-Leserschaft entsteht. Sein Ton
ist dadurch auch weniger bedächtig und selbstbezogen als der
des bloß privaten Tagebuchs. Der Blogger spricht offener, freier
und vor allem mehr auf die Außenwelt bezogen als der im
Privaten verharrende Tagebuchschreiber. »Interaktion mit den
Ideen und Fakten der Außenwelt« nennt Sullivan diese Offen-
heit, und damit meint er, dass ein Blog Themen setzen und die
Arbeit an diesen Themen möglichst von Tag zu Tag fortsetzen
sollte.
Themenarbeit würde dann bedeuten: Viele Hinweise und
Dokumente am Wegrand sammeln und mit dem eigenen Blog
verlinken, Texte zu den spezifischen Kulturen der jeweiligen
Fremde aufspüren, kommentieren und weiterverfolgen, Umge-
bungen fotografieren und die Fotos kommentiert in den Blog
integrieren, Musik in jeder Form sammeln, Beispiele in den Blog
stellen und wiederum kommentieren etc. Dabei gilt:

Ein Blogger wird eine Vielzahl von Gedanken oder Fakten zu


irgendeinem Thema in keiner bestimmten Reihenfolge senden außer
der vom Zeitverlauf vorgegebenen. Ein Autor wird sich stattdessen
die Zeit zunutze machen, um diese Gedanken zusammenzufassen,
sie zu ordnen und abzuwägen, welche Argumente wichtiger sind

89 Andrew Sullivan: Warum ich blogge, S. 104.

101
Textprojekte und Schreibaufgaben III

als andere, zu beobachten, wie seine Auffassungen sich während des


Schreibprozesses selber entwickeln und darauf reagieren …90

Der Blogger beobachtet und reagiert aber nicht nur auf sich
selbst, er reagiert (wenn er das denn will) auch auf die Netz-
Öffentlichkeit, die sich zu seinem Blog äußert, nachfragt, Fehler
korrigiert oder alternative Kommentare abgibt. In diesem Sinn
ist das Bloggen immer auch ein Zusammenarbeiten und Kom-
munizieren, ein stetes Verbessern und Weiterforschen, auf der
Suche nach immer neuen Entdeckungen und Details.
»Reisen« als Tätigkeit und Lebenspraxis könnte eine ideale
Basis gerade für gutes Bloggen sein. Am idealsten wäre dann
aber vielleicht ein Reisen, das sich Zeit nähme, sich von einem
bestimmten Ort oder Punkt aus zu artikulieren. Besser für das
relativ zeitaufwendige und intensive Bloggen wäre es also, meh-
rere Wochen suchend und forschend an einem einzigen Ort zu
verbringen, als in diesen Wochen reisend täglich an einem ande-
ren Ort zu sein.
Auch und gerade das Bloggen braucht Ruhe und Konzentrati-
on, ja, es braucht einen »Standort«. Die Fremde führt ihm wie von
selbst ein unendlich vielfältiges, reiches Material zu. In alle Rich-
tungen und zu den unterschiedlichsten Themenbereichen (Politik,
Sport, Gastronomie, Ökonomie, Städtebau, Verkehr etc.) verlau-
fen die Spuren, man braucht sich bloß auf den Straßen (und
gleichzeitig im Netz) zu bewegen, um sie zu verfolgen. Gespräche
mit Einheimischen, die man mitschneidet und ins Netz stellt,
Geräuschkulissen, die man wie Musik behandelt und in die eige-
nen Texte integriert: Bloggen könnte die multimediale Form
schlechthin sein, um auf das Überangebot an Themen während
einer Reise zu reagieren.

90 Andrew Sullivan: Warum ich blogge, S. 113.

102
schreiben in facebook und bloggen

Andrew Sullivan resümiert:

Bloggen verhält sich deshalb zum Schreiben wie Extremsportar-


ten zur Leichtathletik: mehr Freistil, unfallgefährdeter, weniger
regelgebunden, lebendiger. Bloggen bedeutet in vieler Hinsicht, laut
herauszuschreiben.91

Schreibaufgaben
Wie man in Facebook schreibt oder wie man bloggt, weiß
heutzutage beinahe jeder – und wenn nicht, ist darüber viel in
dem Buch von Stephan Porombka über das Experimentieren
mit Blogs und Facebook (ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe)
zu erfahren.92 Genauere Hinweise darauf, wie man beide
Textformen auch auf Reisen einsetzen könnte, wurden bereits
gegeben. Deshalb gibt es an dieser Stelle ausnahmsweise
keine weiteren konkreten Schreibaufgaben.

91 AndrewSullivan: Warum ich blogge, S. 104.


92 StephanPorombka: Schreiben unter Strom, Experimentieren mit Twitter, Blogs,
Facebook & Co. Mannheim 2012, S. 87 ff.

103
Textprojekte und Schreibauf-
gaben IV: Reiseprojekte

13. Ethnologisches Schreiben

Die Sonne ist der Adler mit den feurigen Pfeilen, Herr und Gott
des Jahres. Sie scheint, glänzt und strahlt.93

Kommen wir nun zu einem Schreiben auf Reisen, das sich einer
bestimmten Perspektive verschreibt. Eine solche Perspektive ist
hilfreich, weil sie den Blick und das Interesse des Reisenden
fokussiert und durch ein bereits vor der Reise entworfenes Rei-
seprojekt ein tiefer gehendes und gründlicheres Verständnis der
Fremde erlaubt. Ein Reisender, der so projektgebunden reist,
lässt andere Perspektiven bewusst außer Acht und versteht das
Reisen als einen Forschungsprozess, bei dem es vor allem um
Erkenntnisse und Erfahrungen in einem bestimmten For-
schungsfeld geht.
Dieses Forschungsfeld muss nicht wissenschaftlicher Natur
sein, vielmehr gibt es durchaus auch ästhetische, die Kommuni-
kation betreffende oder einfach nur persönliche Forschungsfelder.
Einige Beispiele aus solchen Bereichen sollen in diesem vierten
Großkapitel nun vorgestellt und zur Nachahmung oder Ausein-
andersetzung empfohlen werden.
Beginnen wir mit dem ethnologischen Schreiben. Nach der
Eroberung Mexikos durch die Spanier hielt sich im 16. Jahrhun-

93 Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, S. 117.

104
Ethnologisches Schreiben

dert dort auch ein Franziskanermönch mit Namen Bernardino


de Sahagún (1499/1500–1590) auf. Um die einheimischen Azte-
ken unterrichten zu können, lernte er im mühsamen Austausch
mit einigen seiner Schüler ihre Sprache. Dieses Studium führte
zu einem intensiven Interesse an der aztekischen Kultur insge-
samt, die er in zahllosen Gesprächen und Interviews mit den
Einheimischen erforschte.
Sahagún sammelte dabei so viel Material, dass er sich schließ-
lich eine umfassende Darstellung und Beschreibung der unterge-
gangenen Kultur vornehmen konnte. So machte er sich daran, die
verschiedensten Teilkulturen der Azteken (Religion, Politik und
Herrschaft, Ökonomie etc.) systematisch zu erforschen. Dabei
ging es ihm vor allem darum, die verschiedenen Praktiken und
Rituale dieser Kulturen genau kennenzulernen und zu verstehen.
Die Beschreibungen solcher Praktiken gehören zu den klas-
sischen Texten ethnologischen Schreibens. Sahagún verfasste sie
im engen Kontakt mit den Einheimischen, die ihm detailliert
zeigten, wie sie sich in bestimmten Kontexten verhielten. Die
Aufgabe des Ethnologen bestand dann in genauer Beobachtung
und dem Verstehen dessen, was die einzelnen Gesten bedeuteten
und wie die Einheimischen diese Gestik selbst verstanden und
interpretierten.
Sahagúns Texte, die aus einem derartigen Beobachten und
Verstehen hervorgingen, werteten und interpretierten bewusst
nicht. Sie dienten vielmehr ganz dem Verständnis des Gesehe-
nen und Erfahrenen und stellten die beobachteten Praktiken
und Rituale in ihrem Verlauf und in ihrer Bedeutung für die
Einheimischen dar.

Dieses ethnologische Schreiben ging aber nicht in einem trocke-


nen Forschungsinteresse auf. Durch seine Präzision, seine Freude
an der vertieften Beobachtung sowie seine empathische Teilnah-

105
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

me an den aztekischen Ritualen hat es auch eine intensive litera-


rische Komponente. So etwa an dieser Stelle des großen Azte-
kenpanoramas, das von den Bohnenverkäufern handelt:

Der gute Bohnenverkäufer verkauft die Bohnen sortiert. Jede


Art für sich gelegt, macht er die guten Bohnen berühmt, legt die
gleichartigen zusammen, daß sie zueinander passen, die frischen,
die sauberen, die reinlichen, die gebogenen, die kieselrunden, die
blitzsauberen. Die gut ausgesuchte Feldfrucht ist wie eine schöne
Armspange, wie schönes Grünedelgestein, wie ein schöner Türkis,
der wert ist, geboren zu werden, in eine Truhe, in einen Rohrbe-
94
hälter, in eine Speicherurne gelegt zu werden …

Deutlich sieht man die Forschungsszenerie vor sich: Der Ethno-


loge Sahagún befindet sich auf einem öffentlichen Markt und
beobachtet genau, wie die Bohnenverkäufer mit ihren Waren
umgehen und sie für den Verkauf präparieren. Die Freude an
solchen detaillierten Beobachtungen ist dem Text genau anzu-
merken, folgt er doch geradezu passioniert den einzelnen Er-
scheinungen, Dingen und Gesten, die er darüber hinaus auch
noch möglichst präzise benennt. Viele dieser Benennungen
scheinen direkt von den Einheimischen zu stammen und über-
nehmen deren metaphorisches Sprechen: Eine schöne Bohnen-
frucht ist wie ein Grünedelgestein etc.
Ethnologisches Schreiben schlüsselt die Fremde also auf,
indem es sich auf kleine, in sich geschlossene Welten konzent-
riert. Das Geschehen auf einem Markt, einer bestimmten Straße,
in einem Gasthaus oder in einer Küche – all das kann studiert
und in seinem Ablauf so beschrieben werden, dass man mehr
über die jeweilige Kultur erfährt. Notwendig ist dazu aber ein

94 Aus der Welt der Azteken, S. 200.

106
Ethnologisches Schreiben

ständiger Kontakt mit Einheimischen, die ihr Tun parallel zu


den fortlaufenden Beobachtungen ebenfalls fortlaufend erläu-
tern und kommentieren. So saugt das ethnologische Schreiben
einen fremden Diskurs an und präsentiert ihn in der Darstellung
und Beschreibung einer bestimmten Szenerie.

Ein solches Schreiben und Übersetzen einer fremden Weltvor-


stellung in die eigene kann sich aber natürlich auch im Kleinen
ereignen und muss sich keineswegs zu einem Großprojekt wie
dem von Bernardino de Sahagún entwickeln.
Wie die kleinere Ausgabe dieses Schreibens aussehen könnte,
zeigen die kurzen Texte, die der französische Schriftsteller und
Philosoph Roland Barthes (1915–1980) während einer Japanrei-
se verfasst hat. Auch sie konzentrieren sich auf Details eines
fremden Lebens, das durch genaue Beobachtung und Nachfra-
gen allmählich entschlüsselt und dann jeweils in seinem Verlauf
beschrieben wird.
Barthes untersucht japanische Stadtzentren oder Küchen, er
besucht eine Spielhalle oder eine Post, er betrachtet Bahnhöfe
und durchstöbert eine Schreibwarenhandlung. All diese Orte
und Räume werden auf jene Praktiken hin untersucht, die sie in
Szene setzen und damit beleben. Ein ganzes Kapitel seines
Buches ist dem Vorgang der Nahrungsaufnahme und dabei
besonders den Essstäbchen gewidmet:

Zunächst einmal haben die Stäbchen – ihre Form sagt dies bereits
zur Genüge – eine deiktische Funktion: Sie zeigen die Nahrung,
bezeichnen das Stück und verleihen – durch die Auswahlgeste
schlechthin, d. h. durch den Index – Existenz. Statt daß die Nah-
rungsaufnahme zu einer mechanischen Abfolge geriete, bei der man
sich darauf beschränkte, die Bestandteile eines Gerichtes hinunter-
zuschlingen, bezeichnen die Stäbchen, was sie auswählen (wählen

107
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

für den Augenblick dies und nicht das), und führen damit in den
Nahrungsgebrauch zwar keine Ordnung, wohl aber Phantasie und
so etwas wie Muße ein: in jedem Falle eine Tätigkeit, die nicht
mehr mechanisch, sondern intelligent ist. Eine weitere Funktion
des Stäbchenpaares liegt darin, das Stück Speise einzuklemmen
(und nicht mehr fortzureißen, wie es unsere Gabeln tun) …95

Barthes konzentriert sich ganz auf das Essbesteck: Wie sieht es


aus, wie geht man damit um, welche Gesten lassen sich unter-
scheiden und welcher Eindruck entsteht dadurch vom japani-
schen Essen – im Unterschied zum westeuropäischen.
Im Hinterkopf des ethnologischen Schreibens verläuft so
immer eine Art von Vergleich. Gefragt wird danach, wie eine
fremde Kultur Lebenspraxis gestaltet, wie diese Praxis in ihren
Bestandteilen aussieht und was sie bedeutet. Indem man sie eth-
nologisch beschreibt, entwirft man Gegenbilder zur heimischen
Kultur, die dadurch ebenfalls besser in ihren Eigenarten erkenn-
bar wird. Durch die Beschreibung und das Erkennen des Frem-
den erscheinen so die heimischen Welten des Ethnologen in
veränderter Perspektive: als Tiefenkontrast zur Fremde.

95 Roland Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 30.

108
Ethnologisches Schreiben

Schreibaufgabe
n Machen Sie sich zunächst mit den unterschiedlichsten
Lebenswelten in der Fremde (Straßen, Plätze, Märkte, öffent-
liche Zentren, intimere Versammlungsorte etc.) vertraut und
wählen Sie einige dieser Orte, die Sie besonders anziehen, für
längere Beobachtungsphasen aus.
n Beobachten Sie genau, was sich an diesen Orten ereignet
und welchen Gebrauch die Bewohner im Einzelnen mithilfe
welcher Praktiken und Rituale von diesen Orten machen.
n Lassen Sie sich von den Einheimischen über die verschie-
denen Bedeutungen unterrichten, die der jeweilige Ort für
sie hat: Wann besuchen sie diesen Raum ? Wohin platzieren
sie sich ? Wie lange halten sie sich an ihm auf ? Was machen
sie während ihres Aufenthaltes alles ? Mit wem nehmen sie
Kontakt auf ? Etc.
n Notieren Sie Ihre Beobachtungen und all das, was Sie von
den Einheimischen erfahren haben, und machen Sie daraus
einen ethnologischen Text, der ein lebensweltliches Detail der
Fremde präsentiert: Menschen, Dinge, Handlungen, Räume –
und das alles aus der Perspektive der Einheimischen selbst.

109
14. Reisen auf den Spuren eines anderen

Im Gästezimmer lag ein großes Buch über van Gogh, und da ich
in meiner ersten Nacht in der Provence nicht schlafen konnte, las
ich mehrere Kapitel, bis ich, den Band auf dem Schoß liegend, doch
einschlief, als in der Fensterecke ein Hauch von Morgenrot erschien.96

Der englische Schriftsteller Alain de Botton wurde vor einiger


Zeit von Freunden in ein Bauernhaus in der Provence eingeladen.
Er nahm das Flugzeug nach Marseille, mietete sich dort einen
Wagen und machte sich dann auf den Weg in eine Landschaft,
die er noch nicht kannte. Natürlich hatte er schon viel über sie
gehört und immer wieder war auch davon die Rede gewesen, wie
schön gerade diese Landschaft sei – de Botton war trotz dieser
Lobeshymnen aber reserviert geblieben, ja er hatte sogar den
Verdacht, dass gerade die Provence ihm aus irgendwelchen
Gründen nicht »entsprechen« würde.
So näherte er sich seinem Reiseziel mit einer gewissen Skepsis
und einem unterdrückten Unwillen. Diese beiden Empfindungen
verstärkten sich noch, als er mit seinem Wagen wirklich in der oft
gepriesenen Landschaft ankam. Hässlich war sie nicht, nein, so etwas
zu behaupten wäre übertrieben gewesen, andererseits zeichnete sie
sich aber auch nicht durch besondere Schönheit aus. Ein paar Oli-
venbäume, eigentlich schon eher Büsche, ein paar Weizenfelder, ähn-
lich den öden Weizenfeldern Südostenglands, und hier und da ein
paar unscheinbare Zypressengruppen, der Rede nicht wert.
In der Nacht seiner Ankunft im Bauernhaus seiner Freunde
widmete sich de Botton dann eher aus Langeweile einem Bild-
band mit Werken des Malers van Gogh, die van Gogh während

96 Alain de Botton: Kunst des Reisens, S. 209.

110
Reisen auf den Spuren eines Anderen

eines fünfzehnmonatigen Aufenthaltes in der Provence in den


Jahren 1888/1889 gemalt hatte.
Als de Botton am nächsten Morgen sein neues Quartier ver-
lässt, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Plötzlich sieht und
begreift er seine Umgebung ganz anders als am vergangenen Tag,
denn plötzlich sieht er die Olivenbäume, Weizenfelder und Zyp-
ressenbäume mit den Augen van Goghs:

Es war ein klarer Tag. Ein Mistral wehte, der die Weizenähren
auf einem angrenzenden Feld zauste. Ich hatte tags zuvor schon an
dieser Stelle gesessen, bemerkte aber erst jetzt die zwei hohen Zy-
pressen, die am Ende des Gartens standen – eine Entdeckung, die
mit meiner nächtlichen Lektüre des Kapitels über deren Darstel-
97
lung durch van Gogh zu tun hatte.

De Botton sieht aber nicht nur mit den Augen van Goghs, son-
dern er erinnert sich plötzlich – angesichts der Umgebung, die
nun ausschaut wie von van Gogh gemalt – auch daran, was der
Maler in seinen Briefen aus dieser Gegend über Olivenbäume,
Weizenfelder oder Zypressengruppen gesagt hatte. Die Zypres-
sen zum Beispiel waren ihm wie ägyptische Obelisken erschie-
nen, aus der Nähe betrachtet, zeigten sie einen besonders feinen
Grünton, aus der Ferne dagegen wirkten sie wie schwarze Fle-
cken. Außerdem erschienen die Äste der Zypressen irgendwie
seltsam verdreht und erweckten aus der Ferne den Eindruck
einer im Wind flackernden Flamme.
All das beginnt de Botton nun auch langsam wahrzunehmen,
er nähert sich der Zypressengruppe und betrachtet sie von allen
Seiten. Und genau in diesem Moment wird ihm klar, wo und wie
er sich bewegt: Er bewegt sich in einem allmählich vertrauter

97 Alain de Botton: Kunst des Reisens, S. 209.

111
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

werdenden Terrain auf den Spuren van Goghs, er erkundet die


Fremde, indem er sie durch den sensuellen Wahrnehmungsfilter
eines anderen betrachtet. Indem er das aber tut, beginnt er nun
auch, die Bilder van Goghs besser und genauer zu erkennen:

Meine Augen entwickelten nach und nach die Fähigkeit, in der


Natur die auf den Leinwänden vorherrschenden Farben wieder zu
erkennen. Wohin ich auch blickte, überall sah ich kontrastierende
Primärfarben. Neben dem Haus grenzte ein lilafarbenes Lavendel-
an ein gelbes Weizenfeld. Die Dächer der Häuser waren orange
vor einem reinblauen Himmel. Grüne Wiesen waren getüpfelt mit
98
rotem Mohn und von Oleander gesäumt.

So bewegt sich de Botton zwischen einem fremden Raum und


einem Bildmaterial hin und her, das diesen Raum untersucht und
deutet. Indem er sich diese Deutung verständlicher macht und ihr
nachgeht, interessiert er sich zugleich auch für die besondere Mach-
art der Deutung. Dabei übernimmt er sie aber nicht nur und ver-
steht sie auch nicht nur immer besser, sondern er beginnt auch, sie
anhand eigener Überlegungen zu vertiefen und zu befragen.
Die kontrastierenden Primärfarben auf van Goghs Bildern –
ja, solche starken Kontraste gab es in der Landschaft der Pro-
vence wahrhaftig besonders häufig. Warum aber ? Wie konnte
man sich eine solch seltsame Häufigkeit erklären ? Solchen Fra-
gen nachgehend, entstehen de Bottons eigene Reflexionen, die
sich gleichwohl nicht ganz von den Spuren van Goghs entfernen:

Durch van Gogh darauf hingelenkt, ging mir auf, dass auch die
Farben in der Provence ungewöhnlich waren. Das hatte klimati-
sche Gründe. Der Mistral, der, von den Alpen kommend, durch das

98 Alain de Botton: Kunst des Reisens, S. 213.

112
Reisen auf den Spuren eines Anderen

Rhônetal weht, reinigt den Himmel regelmäßig von Wolken und


Feuchtigkeit und hinterlässt ihn in purem, sattem Blau, ohne die
geringste Spur von Weiß. Gleichzeitig fördern ein hoher Grund-
wasserspiegel und gute Bewässerung ein für ein Mittelmeerklima
einzigartig reiches Pflanzenvorkommen. Ohne Wasserknappheit,
die ihr Gedeihen beeinträchtigt hätte, kann die Vegetation hier die
Vorteile des Südens – Licht und Hitze - voll ausschöpfen … Auf-
grund dieses Zusammenspiels von wolkenlosem Himmel, trockener
Luft, Wasser und reicher Vegetation herrschen in der Provence
lebhafte, kontrastierende Primärfarben vor.99

Indem de Botton den Eigenheiten der Bilder van Goghs nach-


geht, begreift er also nicht nur diese Malerei, sondern auch die
Landschaft der Provence besser. In seinem Spurensucher-Text
schreibt er gleichsam parallel: Er erläutert sich die Provence mit-
hilfe der Bilder und Texte van Goghs, und er erläutert sich die
Bilder und Texte van Goghs durch eine vertiefte, reflektierende
Betrachtung der Besonderheiten der Provence.
Zwischen die Fremde und den Reisenden wird bei derartigen
Reiseprojekten also eine Art »Übersetzung« geschaltet, an deren
Gestaltung der Reisende dann die ganze Zeit arbeitet und
schreibt. Daher reagiert er nicht mehr an und für sich auf die
Fremde, sondern nur dort und in jenem Maße, wo sie sich auf
einen »Vorgänger« (oder »Vorgeher«) beziehen lässt.
Ein solches Verfahren macht das Schreiben auf Reisen zu
einer reflektierenden Nachschrift. Dann erzählt es davon, wie
sich ein anderer Fremder vor einem in dem jeweiligen Raum
bewegte, und es versucht zu beschreiben, wie ich selbst diesen
Raum genauer erkenne, indem ich mich auf den Spuren dieses
anderen bewege.

99 Alain de Botton: Kunst des Reisens, S. 212.

113
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Natürlich lässt sich ein solches Verfahren nicht nur mit dem
Blick auf bekannte Bilder und Maler anwenden, sondern auch
auf die anderen Künste ausdehnen. Man könnte (sogar sehr
genau) verfolgen, wo und wie Goethe sich während seines langen
Romaufenthaltes in den Jahren von 1786 bis 1788 in Rom
bewegte; oder man könnte Liszt auf seinen Reisen durch die
Schweiz begleiten und sich dabei auf seine Kompositionen
beziehen.
Reisen auf den Spuren eines anderen haben den großen Vor-
zug einer Art von Führung, indem sie sich an bereits vorhande-
nes Material anlehnen und dieses Material neu lesen. Anderer-
seits könnten sie aber auch einen Nachteil haben, nämlich den
einer Verengung. Am Ende würde man dann die Provence kaum
noch mit eigenen Augen sehen, sondern immer und überall nur
mit den Augen van Goghs. Und was wäre dagegen zu tun ?
Zunächst einmal gar nichts. Man sollte das Verfahren der Spu-
rensuche ausprobieren und nebenher ein zweites Notizbuch
anlegen. Und in dieses Notizbuch sollte man eintragen, was
einem selbst so aufgeht, während man die Provence als ein Dop-
pelgänger durchreist.

114
Reisen auf den Spuren eines Anderen

Schreibaufgabe
n Orientieren Sie sich genau, welche bekannten Künstler,
Schriftsteller, Musiker etc. sich an dem von Ihnen bereits ins
Auge gefassten Reiseziel längere Zeit aufgehalten und sich
über diese Zeit auch ausführlicher geäußert haben.
n Verfolgen Sie vor Ort die Wege dieser »Vorgänger«, besu-
chen Sie nach Möglichkeit die Häuser, in denen sie gelebt
haben, und lesen Sie alles, was diese »Vorgänger« über ihren
Aufenthalt geschrieben haben.
n Markieren Sie auf einem Stadtplan diese Wege und Auf-
enthaltsorte und machen Sie sich Notizen über Ihre eigenen
Eindrücke von diesen Orten.
n Beschreiben Sie die Orte, indem Sie sich auf die Arbeiten
Ihrer »Vorgänger« beziehen, und versuchen Sie sich klarzu-
machen, welche neuen Perspektiven über die jeweiligen Orte
Ihnen diese Arbeiten eröffnen.
n Verfolgen und vertiefen Sie diese Perspektiven, indem Sie
anhand der Arbeiten der »Vorgänger« darüber nachdenken,
was das Besondere der Reiseorte ausmacht und wodurch
dieses Besondere eigentlich entstanden ist.
n Verarbeiten Sie all Ihre unterschiedlichen Notizen in einem
Text, in dem Sie Ihren »Vorgänger« durch den gemeinsamen
Reiseort begleiten: Heimlich ? Sich mit ihm unterhaltend ?
Konkret und damit real ? Oder nur in Ihrer Fantasie ? Entschei-
den Sie selbst.

115
15. Reisen zu zweit

Kafkas Vorschlag einer gemeinsamen Reisearbeit. Unvollkommen


erklärt. Gleichzeitige Beschreibung der Reise, indem man die Stel-
lung des andern zu den Dingen beschreibt.100

Am 26. August 1911 brechen die beiden miteinander befreunde-


ten Schriftsteller Max Brod (1884–1968) und Franz Kafka
(1883–1924) von Prag aus mit dem Zug zu einer längeren
gemeinsamen Reise auf. Sie wird über Lugano nach Mailand
und Paris und schließlich wieder zurück nach Prag führen und
bis in den späten September dauern.
Bei ihrer Abreise verabreden die beiden Freunde, gleichzeitig
Aufzeichnungen über die Reise zu machen: jeder für sich, aber
jeder eben auch mit dem Blick auf den andern. Nach der Reise
werden sie diese Aufzeichnungen dann vergleichen und beob-
achten, wie unterschiedlich sie sich ein und dieselbe Umgebung
angeeignet haben. Schließlich werden sie sogar daran denken,
aus ihren Aufzeichnungen einen Roman zu verfassen, der eine
bestimmte Reise aus den unterschiedlichen Perspektiven zweier
Freunde beschreibt.
Dieses Projekt einer »Reise zu zweit« ist das bekannteste
eines solchen Typus in der deutschsprachigen Literatur. Es
besteht aus verschiedenen Komponenten. Zum einen geht es den
Freunden darum, vergleichbare Reisebeschreibungen mit dem
Blick auf ein und dieselbe Umgebung herzustellen. Durch den
Vergleich dieser Beschreibungen wird jedem von ihnen klar, was
der jeweils andere gesehen und was er übersehen oder anders
gesehen hat.

100 Max Brod: Reise Lugano – Mailand – Paris, S. 73.

116
Reisen zu zweit

Zweitens erlauben solche Vergleiche aber auch Rückschlüsse


auf die Psychen der beiden Beobachter. Leicht lässt sich nämlich
erkennen, wie aktiv oder passiv sie auf ihre Umgebungen zuge-
hen, wie sie sich mit ihnen verständigen oder auf sie einlassen
und welche Schlussfolgerungen über diese Innenbewegungen
die Außenwahrnehmungen erlauben.
Nicht die Reisebeschreibung allein interessiert also die beiden
Schreiber, sondern vor allem die versteckten, inneren Reaktionen, die
sich in der Art der Beschreibung niederschlagen. Die Aufzeichnun-
gen können in diesem Sinn zu einem Gespräch und Nachdenken
darüber führen, wie jeder der beiden bestimmte Details der Reise
und die Reaktionen des anderen auf diese Details verstanden hat.
Hierzu ein interessantes, vielsagendes Beispiel: Als die beiden
Freunde nach einer langen Nachtfahrt im Zug am frühen Mor-
gen in Paris ankommen, drängt Franz Kafka (wie Max Brod
dann notiert) darauf, ein jeder solle nicht allzu viel Zeit in sei-
nem Hotelzimmer verbringen, sondern nur »das Gesicht bissel
waschen«. Brod notiert weiter, dass er genau das getan habe und
dann zu Kafka hinauf in dessen Hotelzimmer gegangen sei:

Ich tue es, gehe hinauf, er reibt sich mit Seife und Waschlappen, hat
allen möglichen Luxus aus dem Koffer gepackt und geht nicht, ehe
er wieder alles in Ordnung gebracht hat. Ich habe den Koffer nicht
101
geöffnet.

Max Brod ahnt nicht, dass sich Freund Kafka in seinem Hotel-
zimmer keineswegs so wie er beeilt und nur flüchtig mit etwas
Wasser durchs Gesicht gefahren hat. Kafka vielmehr ist zunächst
auf den Balkon seines Hotelzimmers getreten, um einen Blick
auf Paris zu werfen:

101 Max Brod: Reise Lugano – Mailand – Paris, S. 107.

117
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick wie wenn ich
jetzt in diesem Zimmer erwacht wäre, während ich doch von der
Nachtfahrt so müde bin, daß ich nicht weiß, ob ich es imstande sein
werde für den ganzen Tag in diese Gassen hinauszulaufen, beson-
ders wie ich sie jetzt von oben aus, noch ohne mich sehe.102

Obwohl er eigentlich darauf gedrängt hatte, sich zu beeilen, denkt


Kafka zunächst gar nicht daran, das zu tun. Er lässt sich vielmehr
Zeit und wirft einen ersten Blick auf die Gassen der Stadt, um
gleich zu bemerken, dass diese Gassen ihn nicht im Geringsten zu
einem Aufbruch animieren. In dieser frühmorgendlichen Verfas-
sung kann er mit Paris nichts anfangen, kein einziges Detail hält
er fest, und erst recht notiert er keinen ersten Gesamteindruck des
Panoramas, das sich von seinem Balkon aus bietet. Kafka ignoriert
vielmehr Paris und geht in sein Zimmer zurück.
Dort wendet er sich seinem Koffer zu, öffnet ihn, packt ihn
teilweise aus und beginnt, sich mit Seife und Waschlappen sorg-
fältig das Gesicht zu waschen. Noch während er das tut, erscheint
sein Freund Max Brod. Kafka notiert:

Max kommt in mein Hotelzimmer herauf und ist darüber auf-


geregt, daß ich noch nicht fertig bin und mir das Gesicht wasche,
während ich früher doch gesagt hätte, daß wir uns nur ein wenig
waschen und gleich weggehn sollen. Da ich mit Wenigwaschen nur
das Waschen des ganzen Körpers ausgeschlossen, dagegen damit ge-
rade das Waschen des Gesichtes gemeint habe und damit eben noch
nicht fertig bin, verstehe ich seine Vorwürfe nicht und wasche das
Gesicht weiter wenn auch nicht so genau wie früher, während Max
sich mit dem ganzen Schmutz der Nachtfahrt in seinen Kleidern
auf mein Bett setzt, um zu warten. Er hat die Gewohnheit und

102 Franz Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 173.

118
Reisen zu zweit

führt sie auch jetzt vor beim Vorwürfemachen den Mund aber auch
das ganze Gesicht süßlich zusammenzuziehn, als suche er dadurch
einerseits das Verständnis seiner Vorwürfe zu befördern und als
wolle er andererseits zeigen, daß nur dieses süßliche Gesicht, das er
gerade hat, ihn davon abhalte mir eine Ohrfeige zu geben …103

In Kafkas Notizen erscheint die Situation im Hotel in ihrer gan-


zen Verfahrenheit. Freund Max kocht vor Wut, während Kafka
beginnt, diese Wut und ihre Signale bis ins Detail zu sezieren (die
Notizpassage ist etwa doppelt so lang wie die von Brod). Dann
aber geschieht das in Kafkas Augen Schlimmste: Freund Max
betritt den Balkon, auf dem Kafka wenige Minuten zuvor stumm,
einfallslos und wenig beeindruckt von Paris gestanden hatte, um
Kafka vorzuführen, wie ein gestandener Schriftsteller (der Kafka
damals noch nicht ist) auf eine Weltstadt wie Paris reagiert.
Kafka notiert, dass Max Brod …

…mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor al-
lem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur wie frisch er war,
wie er sicher zu irgendeinem Paris paßte das ich gar nicht bemerkte,
wie er jetzt aus seinem dunklen Hinterzimmer kommend zum
erstenmal seit einem Jahr in der Sonne auf einen Pariser Bal-
kon trat und sich dessen würdig bewußt war, während ich leider
deutlich müder war, als bei meinem ersten Hinaustreten auf den
Balkon ein Weilchen vor Maxens Kommen. Und meine Müdigkeit
in Paris kann nicht durch Ausschlafen sondern nur durch Weg-
fahren beseitigt werden. Manchmal halte ich das sogar für eine
104
Eigentümlichkeit von Paris.

103 Franz Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 173.


104 Franz Kafka: Reise Lugano – Mailand – Paris – Erlenbach, S. 173 f.

119
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Was also zeigt die kleine, vielsagende Szene? Sie stellt den gestan-
denen Schriftsteller Max Brod vor, wie er dabei ist, sich nach den
typischen Vorstellungen, die sich ein gestandener Schriftsteller von
Paris macht, der Weltstadt Paris zu nähern. Er spricht über die Stadt,
er weiß bereits, was pariserisch ist. Und er tut so, als befände er sich
in einem Raum, der sich ihm gleich, während des ersten Spazier-
gangs mit seinem Freund Franz, ganz von selbst öffnen wird.
Für Kafka jedoch verläuft die Annäherung an Paris ganz
anders. Er schweigt, hört zu und versteht nicht, wovon die Rede
ist. Paris erschließt sich ihm ganz und gar nicht auf den ersten
Blick, ja er hat sogar den starken Verdacht, dass Paris sich ihm
überhaupt nicht erschließen wird. Am liebsten würde er gar
nicht erst in die fremden Gassen hinuntergehen, am liebsten
würde er sofort wieder abreisen, so endgültig erscheint bereits in
den ersten Stunden, in denen er in Paris ist, das Bild, das er sich
von dieser Stadt macht.
Anhand dieses Beispiels kann man gut erkennen, wie das Pro-
jekt einer »Reise zu zweit« aussehen könnte. Zwei parallel laufen-
de Notatfolgen von ein und derselben Reise zeigen bei genauerer
Betrachtung die unterschiedlichen Erlebnisformen, mit denen die
beiden Reisenden auf die Fremde reagieren. Im Grunde reichen
die Notizen aber noch weiter, ja sie reichen sogar bis in die tiefsten
Erlebnisstrukturen, die sich nicht nur im Verhältnis der Reisenden
zur Fremde, sondern eben auch in den kleinen Dramen offenbaren,
die sich zwischen den Reisenden abspielen.
Die Reisebeschreibungen, an denen die beiden arbeiten,
arbeiten also in Wahrheit am »Psychodrama des Reisens« in ver-
schiedenen Szenen und Auftritten, mit den entsprechenden
Konflikten und Höhepunkten. Der Reisepartner ist dabei für
jeden der beiden ein geheimer Verstärker oder ein unabsichtli-
cher Provokateur oder ein unerwarteter Analysand der eigenen
Stimmungen.

120
Reisen zu zweit

Dabei jedoch wird es nicht bleiben. Die beiden unterschied-


lichen Reisetexte bedürfen nach der Heimkehr von der Reise
einer Deutung und eines Gesprächs. Indem die beiden Freunde
sich später in Prag über ihre Texte beugen, werden sie versuchen,
die Reise in ihren Tiefenschichten zu begreifen: Warum erschien
Max Brod die Weltstadt Paris so nah ? Und warum Kafka so
fremd ? Und was passierte genau zwischen den beiden, als sie
sich in Kafkas Hotelzimmer begegneten und dann zusammen
hinaustraten auf einen Pariser Balkon ?

Schreibaufgabe
n Verreisen Sie mit einer guten Freundin oder einem guten
Freund (die Sie schon seit einiger Zeit kennen und die Ihnen
daher sehr vertraut sind). Verständigen Sie sich darauf, wäh-
rend der gesamten Reise Ihre Eindrücke festzuhalten.
n Sprechen Sie vor der Reise darüber, in welcher Form diese
Reiseeindrücke festgehalten werden sollen. (Als kurze stich-
wortartige Notate ? Als Tagebucheintragungen ? Als fortlaufen-
der Reisebericht ? Als Reiseerzählung ?)
n Sprechen Sie während der Reise nicht über Ihre Aufzeich-
nungen. Notieren Sie stattdessen fortlaufend, welche Details
der Fremde Sie im Einzelnen anziehen, abstoßen oder zumin-
dest interessieren.

121
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

n Notieren Sie daneben Beobachtungen darüber, wie sich Ihr Rei-


separtner auf der Reise verhält: Wo reagiert er ganz anders als Sie?
Wo verstehen Sie seine Reaktionen nicht mehr? Wo wird er Ihnen
fremd? Wo empfinden Sie weshalb eine besondere Nähe zu ihm?
Wo hätten Sie ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben (vgl. die
Szene zwischen Max Brod und Franz Kafka)? Wo hätten Sie seine
Hilfe in einer bestimmten, unangenehmen Situation erwartet? Etc.
n Lassen Sie nach Ihrer gemeinsamen Heimkehr etwas Zeit
vergehen und setzen Sie sich erst dann zusammen, um die
beiden unterschiedlichen Reiseaufzeichnungen gemeinsam
zu lesen. Gehen Sie dabei nicht zu schnell, sondern langsam
und gründlich vor.
n Sprechen Sie darüber, wie Ihnen die Reise aus den beiden
unterschiedlichen Blickwinkeln im Nachhinein erscheint und
was Sie durch die Beschreibungen an Neuem über die Frem-
de und an Neuem über Ihre Freundschaft erkannt haben.

122
16. Künstlerreisen als Reiseprojekte
Wer längere Zeit an einem Ort in eine Richtung schaut, hört, wie
die Natur aus ihrer planetarischen Bewegung heraus spricht. Das
geht von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und setzt sich in der
Erdbewegung fort.105

Vor etwas mehr als zehn Jahren erschienen zwei Nummern der
renommierten Kunstzeitschrift »Kunstforum«, die sich thematisch
auf den Schwerpunkt der Künstlerreise konzentrierten. In Ausga-
ben mit Titeln wie »Ästhetik des Reisens« und »Atlas der Künst-
lerreisen« führten sie ihren Lesern anhand vieler Beispiele vor, dass
die Künstler das Reisen neu für sich entdeckt hatten.106
Jedes Mal ging es dabei um bestimmte, oft bereits vor der
Reise konzipierte und dann während der Reise dokumentierte
Projekte. Es gab Künstler, die mit dem Zug durch ganz Sibirien
und die Mongolei gefahren waren und 131 kleinformatige Aqua-
relle der vorbeiziehenden Landschaft gemalt und dazu dann
einige Texte geschrieben hatten, und es gab andere Künstler, die
das Projekt »Transsibirische Bahn« in einem Schuppen in Darm-
stadt mithilfe einer Installation verwirklicht hatten, die man nur
von außen, durch ein Guckloch, betrachten konnte.
Viele Künstler beschäftigten sich mit dem Thema »Bewe-
gung« oder »Behausung« und untersuchten alternative Formen
der Fortbewegung oder wenig bekannte Formen des flüchtigen
oder nomadischen Wohnens in eher einsamen Gegenden. Wie
funktionierte zum Beispiel »Zen im Gehen« ? Unter anderem so:

105 VonSchwelle zu Schwelle. Ein Gespräch mit Günther Uecker, S. 10.


106 Kunstforum Band 136: Ästhetik des Reisens. Teil 1: Ankommen, hiersein, wegge-
hen. Februar–Mai 1997; Kunstforum Band 137: Ästhetik des Reisens. Teil 2: Atlas
der Künstlerreisen, Juni–August 1997.

123
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Weiter fest auftreten, die Augen auf das richten, was zwischen drei
und fünf Metern vor uns liegt, die Augen ohne Anspannung über
das Gesehene »schleifen« lassen, und langsam das Sehen mit dem
Schrittrhythmus verbinden, dann mit jedem Schritt den Boden
»heranziehen«, bis sich mit allen Sinnen das unerschütterliche Ge-
fühl einstellt, daß uns die Erde schrittweise entgegenkommt.107

Handlungsanweisungen dieser Art und eigene Spielregeln des


Reisens machten eine große Gruppe eines solchen »Schreibens
auf Reisen« aus. Eine andere bestand aus konkreten Untersu-
chungen (Berichten, Essays und Erzählungen) zur Wahrneh-
mung der Fortbewegungsmittel auf Reisen. Themen waren hier
etwa die Langeweile am Steuer, das Mopedfahren, die Flugreise,
die Bootsreise oder das Auto als Kamera:

Das amerikanische Auto transferiert den Fahrer in einen imagi-


nären Raum, der unendlich weit von der gewohnten Objektwelt
entfernt scheint. Das amerikanische Auto verwandelt im Fahren
alles, was vor seinen Fenstern sich abspielt, in Kino, von dessen
Bildbewegungen der Zuschauer unbedingt ausgeschlossen bleibt. Er
108
kann ihnen nur durch Zuschauen beiwohnen.

Besonders der Band »Atlas der Künstlerreisen« enthielt dann eine


große Fülle überraschender, sorgfältig inszenierter und durchgeführ-
ter Projekte, von Rekonstruktionen einer Pilgerreise über unschein-
bare, an den Reiseorten hinterlassene Gesten der Anwesenheit bis
hin zur Suche nach den Räumen des Lichts und der Farben:

107 Zen im Gehen nach Meister Nuel Rho San. Von Elmar Dalesi und Ralf Kersten.
In: Kunstforum 136, S. 136 f.
108 Michael Rutschky: Das Auto ist eine Kamera. In: Kunstforum Band 136, S. 163.

124
Künstlerreisen als Reiseprojekte

Mit der Zeit bemerkte ich, daß jeder Ort unterschiedliche, ja ganz
eigene Farbtonskalen und Lichtverhältnisse besitzt. Oft konnte
ich die Farben schon aus der Ferne aufgrund der Erdbeschaffenheit
erkennen oder in der flirrenden Tönung der Luft sehen.109

Viele der Künstler dokumentierten ihre Arbeiten mithilfe von


Kommentaren zu Fotografien, die sie gemacht hatten, manche
ließen sich aber auch interviewen, um sich detailliert nach den
Projekten befragen zu lassen. Meist zielten die Projekte schließ-
lich auf Präsentationen (in Ausstellungen, aber auch vor Ort, in
Räumen der Reise selbst), die das Projekt sowohl beschrieben als
auch die Details seiner Ausarbeitung und Ausführung vorführ-
ten. So wurden die Künstlerreisen zu Entstehungsprozessen der
Kunst und der Verlauf dieser Werkprozesse zum eigentlichen
Inhalt der Präsentation. (Beide Bände der Zeitschrift »Kunstfo-
rum« enthalten in diesem Sinne eine große Fülle von Anregun-
gen für eigene Reisekonzepte und Reiseprojekte im Kleinen.)
Auf besonders eindrucksvolle und einzigartige Weise zeigte
in den letzten Jahrzehnten schließlich der Künstler Günther
Uecker, wie stark Reisen sein künstlerisches Arbeiten geprägt
und bestimmt haben. Bezeichnend für Ueckers Verständnis der
»Arbeit auf Reisen« ist, dass er seine Arbeitskonzepte meist erst
vor Ort und nach intensivem Kennenlernen der Fremde entwor-
fen hat. So bewegt sich Uecker nicht selten in abgelegenen und
untouristischen Gegenden, um über starke, unvermittelte Na-
turerfahrungen den besonderen kulturellen Gestus starker Ein-
samkeitspanoramen zu erfahren. In solchen Landschaften entwi-
ckelt er eine eigene Zeichensprache, die auf die Eigenheiten des
Naturraums Bezug nimmt und diesen Naturraum neu erschließt.
Mitte der Siebzigerjahre zum Beispiel hält sich Uecker in der

109 Elisabeth Arpagaus: Orte des Lichts. In: Kunstforum Band 137, S. 74.

125
Textprojekte und Schreibaufgaben IV

Libyschen Wüste auf. Dort zieht er mit einem schweren Pfahl so


lange markante Linien in den Wüstensand, bis es zur Berührung
und zum Aufeinandertreffen zweier Linien kommt:

Wo sich zwei Linien berühren, ist ein Punkt, den Punkt bestim-
me ich, dort schlage ich einen Nagel ein. Der Schatten des Nagels
stellt eine neue Linie dar – die Bewegung des Schattens wird zur
Wahrnehmung von Zeit. Die Richtungsbezogenheit des Nagels
in diese Welt und die Artikulation von Licht und Schatten sind
Dimensionserweiterungen. Man wird rundherum blicken – da uns
110
eine Richtung blind gemacht.

Ein zweites Wüstenprojekt gilt der Fixierung von Sonneneindrü-


cken. In sogenannten »Sonnennachbildern« testet Uecker die
physiologische Reaktion des Auges auf die Sonneneinwirkung,
er hält die farbliche Reaktion mit Aquarellfarben auf kleinen
Rechtecken aus Büttenpapier fest:

Eine unendliche Reihe von Blickversuchen, bei geöffnetem Auge das


Sonnenlicht direkt einfallen zu lassen, bis es nicht mehr zu ertragen
ist, die Augen zu schließen und die Bilder, welche bei geschlossenen
111
Augen erscheinen, zu malen.

Solche Experimente verdeutlichen, worin das Besondere von


Künstlerreisen als Reiseprojekten besteht. Reisen dieser Art
nähern sich der Fremde nämlich mit der Neugierde großer Kin-
der, die den kulturell bereits gedeuteten Erlebnisraum zunächst
einmal ignorieren. All das, was bereits besprochen, beschrieben
und interpretiert wurde, hat kaum ein Gewicht. Stattdessen

110 [Günther Uecker:] Von Schwelle zu Schwelle, S. 56.


111 [Günter Uecker:] Von Schwelle zu Schwelle, S. 59.

126
Künstlerreisen als Reiseprojekte

nimmt man vor Ort Platz und geht möglichst unvoreingenom-


men und naiv auf das Fremde zu, um dessen besondere Wirkun-
gen auf einen außenstehenden Betrachter zu erfassen.
Danach beginnen die Prozesse der Annäherung an das Fremde,
die sich mit der Zeit in Werkprozesse verwandeln. So entstehen
während der Reise Konzepte des Umgangs und der Einflussnah-
me auf das Fremde, die sich allmählich verdichten und eine länge-
re Ausarbeitung verlangen. Aus scheinbar naiver Betrachtung wird
so reflektierte Erfahrung. Und die Spuren dieser Reflexion schla-
gen sich dann in Texten eines »Schreibens auf Reisen« nieder, das
nicht Eindrücke der Reise beschreibt, sondern die künstlerische
Arbeit dokumentiert, die sich dieser Eindrücke angenommen und
sie unendlich verfeinert und reflektiert hat.

Schreibaufgabe
Reiseprojekte dieser Art bedürfen der freien Fantasie vor Ort.
Deshalb sollen hier keine speziellen Aufgaben formuliert wer-
den. Stattdessen könnte man in eher allgemeinem Sinn sagen,
dass solche Projekte sich meist auf noch wenig beobachtete,
beschriebene oder dokumentierte Vorgänge und Details der
Fremde konzentrieren. Solche Details oder Vorgänge machen
sie sich als Erlebnisräume bewusst. Und in diese Erlebnisräu-
me greifen sie dann dokumentierend, hinweisend oder verän-
dernd ein. Den Prozessen dieser Eingriffe gilt schließlich das
eigentliche »Schreiben«: Es präsentiert einen Werkprozess
vor Ort, mit Objekten und in Räumen des jeweiligen Ortes.

127
Textprojekte und Schreibaufgaben V:
Schreiben nach der Reise

17. Der Reisebericht

Seit unserm Hierseyn waren wir würkliche Fischfresser (Ichthyo-


phagi) geworden; denn viele von uns aßen schlechterdings nichts
als Fisch. Aus Besorgniß, daß wir dieser treflichen Speise in der
Folge überdrüßig werden könnten, suchten wir oft neue Zuberei-
tungs-Arten hervor. Wir machten Fisch-Suppen und Fisch-Paste-
ten, wir kochten, wir brateten, wir rösteten, wir stobten sie …112

Nehmen wir nun an, dass wir mit reichlich Notiz- oder Tage-
buchmaterial von unserer Reise zurückgekehrt sind. Während
wir unterwegs waren, hatten wir selten ausreichend Zeit, unsere
meist knapp gehaltenen Aufzeichnungen auszuarbeiten. Jetzt
aber, nach unserer Rückkehr, können wir das mitgebrachte Text-
material auswerten und zu einem längeren, in sich geschlossenen
Text umschreiben.
Die klassische und älteste Form einer solchen Ausarbeitung
113
ist der Reisebericht (oder auch: die Reisebeschreibung). Einer
der umfangreichsten und bekanntesten Reiseberichte der deut-
schen Literatur stammt von dem Aufklärer Georg Forster
(1754–1794), der seinen Vater bei der zweiten Weltumseglung

112 Georg Forster: Reise um die Welt, S. 125.


113 Peter
J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der
deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1989.

128
DER REisebericht

von Captain Cook während einer dreijährigen Schiffsreise


(1772–1775) begleitete. Nach seiner Rückkehr schrieb er die
»Reise um die Welt«, einen Reisebericht, der zu einem großen
Erfolg und für die moderne Form eines solchen Berichts vorbild-
lich wurde.
Forster schreibt nüchtern und sachlich. Er ist in erster Linie
voller Neugierde und geradezu leidenschaftlich an all den frem-
den Phänomenen interessiert, die ihm begegnen und die er zum
großen Teil noch nicht kennt. Am meisten beschäftigen ihn die
Lebensformen der Fremden, von ihren Gesten und Kommuni-
kationsformen über Kleidung, Sitten und Ernährung bis hin zu
ihren religiösen Ritualen.
Für seinen ausführlichen Bericht kann er auf die Aufzeich-
nungen und Notizen zurückgreifen, die sein Vater während der
Reise in offiziellem Auftrag gemacht hat. Sechs Folianten
umfasst dieses akribische, faktengesättigte Reisejournal, aus dem
der junge Forster dann einen Reisebericht filtert, der auf
bestimmte Details fokussiert und immer bildlich und anschau-
lich bleibt, ohne den Leser durch Aufzählungen von Fakten zu
ermüden.
Stattdessen durchzieht den Reisebericht ein einfacher erzäh-
lerischer Faden, an dem entlang das Geschehen aufgerollt wird.
Strukturiert wird die Erzählung durch die Angabe der jeweiligen
Tageszeit. Es folgen kurze, prägnante Schilderungen der jeweili-
gen Ereignisse, fast alle etwa in gleicher Länge.
Etwa so: Wir erreichten gegen Mittag die Dusky-Bay (in
Neuseeland), das Wetter war soundso, die Gegend bot folgenden
Anblick ( …), wir gingen vor Anker, die Matrosen warfen sofort
ihre Angeln aus, wir fingen eine Menge folgender Fische ( …),
wir aßen und tranken dieses und jenes, dann setzten wir zwei
Boote aus, um verschiedene Buchten der Bay genauer zu unter-
suchen und einen bequemeren Ankerplatz zu finden. Dabei

129
Textprojekte und Schreibaufgaben V

begannen wir mit unseren Studien des Tier- und Pflanzenreichs,


es war herrlich, es fehlte uns im Grunde an nichts, wir beschlos-
sen, länger zu bleiben:

Wir waren nicht über zween Tage in dieser Bay gewesen, so wur-
den wir bereits überzeugt, daß sie nicht unbewohnt seyn müsse. Als
nehmlich am 28.Morgens einige unsrer Officier in einem kleinen
Boote auf die Jagd gingen, und etwa zwei oder drey englische
Meilen weit vom Schiffe in eine Bucht hineinruderten, wurden sie
auf dem Strande einige Einwohner gewahr, die ein Canot (Kahn)
ins Wasser setzen wollten. Bey ihrer Annäherung fiengen die Neu-
114
Seeländer an überlaut zu rufen …

Die Passage zeigt, wie Forster erstens daran gelegen ist, einen
wenn auch noch so minimalen Erzählfluss in Bewegung zu hal-
ten: Was passierte dann und dann ? Was passierte darauf ? Gleich-
sam an den Rändern dieses Erzählflusses werden zweitens die
Details genau benannt: Die Offiziere benutzen ein kleines
Ruderboot, sie entfernen sich zwei oder drei englische Seemeilen,
die Einheimischen setzen ein Kanu ins Wasser, dann beginnt ein
überlautes Geschrei. Beide Komponenten werden schließlich
einem plastischen, für den Leser gut vorstellbaren Bildeindruck
untergeordnet. Man sieht die Offiziere aufbrechen, in eine Bucht
hineinrudern und eine Entdeckung machen. Damit ist nicht
zuletzt für eine gewisse Spannung gesorgt.
Die dramaturgischen Mittel sind also sehr einfach, sie dienen
aber der Sache, fesseln den Leser an das Geschehen und geben
durch die Detailangaben zu erkennen, dass der Autor auch wirk-
lich vor Ort gewesen ist und sich gründlich umgeschaut hat.
Genau das ist, knapp gesagt, die Zielsetzung eines guten Rei-

114 Georg Forster: Reise um die Welt, S. 118.

130
Schreiben nach der Reise

seberichts. Die Ausmalung von Emotionen und Stimmungen


dagegen wird bis aufs Äußerste zurückgedrängt. Forsters eigene
Stimme erscheint höchstens in der Form knapper Reflexionen
oder Kommentare, schweift aber nirgends länger ab. Seine Hal-
tung könnte man bereits die eines modernen Reporters nennen,
der die Phänomene von allen Seiten und unter vielen Aspekten
beobachtet und durchdenkt und an nichts mehr interessiert ist
als daran, seinen Lesern einen möglichst lebendigen, gut recher-
chierten und nicht zuletzt unterhaltsamen Eindruck von dem
Abenteuer der Fremde zu geben.

Schreibaufgabe
n Verschaffen Sie sich nach einer Reise einen Überblick über
Ihre Notizen und Tagebucheintragungen.
n Entwerfen Sie einen groben ersten Plan Ihres Reiseberichts,
indem Sie die einzelnen Stationen nacheinander festhalten
und zu jeder Station knappe Stichworte notieren.
n Fokussieren Sie anhand dieser Stichworte jeweils auf
bestimmte (möglichst unterschiedliche) Ereignisse, Personen,
Objekte oder Räume der Reise.
n Berichten Sie dann chronologisch, indem Sie in einfacher,
sachlicher Form davon erzählen, was Sie gesehen und erlebt
haben.
n Enthalten Sie sich langer Wertungen oder sonstiger Ab-
schweifungen, schreiben Sie vielmehr bildlich und anschau-
lich, im Dienst an der Sache.

131
18. Die Reiseerzählung

Man konnte barfuß gehen, aber es war kühl im Mai, und Mokas-
sins waren auf den Marmortreppen angenehmer. Man aß herrlich
und trank gut.115

Anders als der Reisebericht schreibt die Reiseerzählung die von


einer Reise mitgebrachten Notizen oder Tagebucheintragungen
zu einer Geschichte um. Eine solche Geschichte hat sowohl
einen markanten Erzähler als auch Personen, die miteinander ins
Gespräch kommen (Figuren), zusammen etwas unternehmen
(Handlung) und die Fremde als einen Spielraum für ihre Inter-
essen und Passionen betrachten (Themen).
Dabei hält sich die Reiseerzählung aber wie der Reisebericht
an den realen Verlauf einer Reise und an genaue Fakten (Uhrzei-
ten, Ortsnamen, Reisewege etc.), die belegen, dass die Reiseer-
zählung nicht frei erfunden ist und auf Recherchen beruht.
Ein gutes, wenn auch ambitioniertes Beispiel für eine solche
Reiseerzählung ist der Text »Gefährlicher Sommer«, den der
amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (1899–1961) im
Auftrag der Zeitschrift »Life« über eine Spanienreise des Jahres
1959 geschrieben hat. Hemingway war auf dieser Reise nicht
allein, sondern mit seiner Frau und wechselnden Gruppen von
Freunden unterwegs.
Die Gespräche, die sich zwischen diesen Reisenden ergeben,
lassen private Details erkennen: wie sie die Reise persönlich erle-
ben, wie sie bestimmte Ereignisse kommentieren oder wie sie
mit den anderen Reisebegleitern umgehen. Im Verlauf der Reise
sorgen sie dadurch einerseits für Privatheit, können daneben aber

115 Ernest Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 31.

132
Die Reiseerzählung

auch dazu dienen, Informationen über die Fremde im Plauder-


ton der Dialoge darzubieten.
In Manzanares, nahe Madrid, frühstücken Hemingway und
ein Freund zum Beispiel an einem Morgen außerhalb ihres
Hotels in einer Taverne:

Wir frühstückten in einer Taverne; wir tranken Milchkaffee und


tunkten das gute Brot darin ein und nahmen ein paar doppelte
Gläser Faßwein und ein paar Scheiben Manchegan-Käse zu uns.
Die neue Landstraße war um die Stadt herumgelegt worden, und
der Mann an der Theke erzählte uns, es kehrten jetzt nur noch sehr
wenige Reisende in den Tavernen ein.
»Diese Stadt ist tot«, sagte er, »wenn nicht gerade
Markttag ist.«
»Wie wird der Wein dieses Jahr ?«
»Es ist noch zu früh, um darüber etwas sagen zu können«,
erzählte er mir.116

Eine solche Begegnung zeigt anschaulich, wie sich recherchierte


Fakten unaufdringlich in Details einer Geschichte verwandeln
lassen. Ganz nebenbei erfahren wir nämlich, was es in einer spa-
nischen Taverne am frühen Morgen zu essen und zu trinken gibt
(sogar die Käsesorte wird exakt benannt), warum die Tavernen
dieser Stadt kaum noch besucht werden und wie es im Sommer
des Jahres 1959 um die Weinernte steht.
Die meisten Gespräche haben darüber hinaus aber auch ein
zentrales Thema, das Thema Stierkampf. Stierkämpfe werden
von der Reisegesellschaft in den verschiedenen großen Arenen
des Landes besucht und bilden dadurch den roten Faden (oder
die Fortsetzungsgeschichte) der Reise. Daneben sorgen sie aber

116 Ernest Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 38 f.

133
Textprojekte und Schreibaufgaben V

auch für kleine Minidramen, durch deren Darstellung und Schil-


derung sich der Erzähler Hemingway als ein brillanter Beobach-
ter (und Kenner der Szene) ausweist, wie hier bei der genauen
Beobachtung eines Stierkämpfers:

Ich beobachtete ihn, wie er ungeduldig wartete, den Stier nie aus
den Augen verlor, wie er ihn aufmerksam betrachtete, analysierte,
wie er nachdachte, plante. Er sagte Juan, wo er den Stier haben
wollte, und dann ging er hinaus und übernahm den Stier mit vier
tief ausgeführten Manövern; das linke Knie, der Unterschenkel
und der Knöchel im Sand, das rechte Bein ungeschützt, ließ er
den Stier durch die magische Kraft seiner muleta nach vorn und
wieder zurückgehen, versprach ihm alles, bot sich ihm als Ziel an
und zeigte ihm einfühlsam und sanft, daß dieser Teil des tödlichen
117
Spiels weder schmerzhaft noch strapaziös war.

Passagen dieser Art beweisen allein durch die Präzision der


Erzählung, wie sehr sich der Erzähler in das Thema vertieft hat.
Wiederum ganz und gar unaufdringlich zeigt er, dass sein Blick
längst kein bloß touristischer, sondern der eines erfahrenen, mit
dem Thema gut vertrauten Reisenden ist. Ausgiebige Recher-
chen haben zu diesem Wissen beigetragen, werden aber mit
keiner einzigen Bemerkung angedeutet.
Dass diese Recherchen aber wirklich bis zum Kern des The-
mas vorgestoßen sind, zeigt sich darin, dass selbst die berühm-
testen Stierkämpfer Spaniens auf dieser Reise die Nähe Heming-
ways suchen. Der Erzähler Hemingway erlebt die Stierkämpfe
also nicht nur durch die Brille seines enormen Wissens, sondern
auch ganz unmittelbar aus der Nähe zu ihren Protagonisten.
So dringt die Reiseerzählung bis hinter die Kulissen der

117 Ernest Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 52.

134
Die Reiseerzählung

Kämpfe vor und zeigt Vorgänge, zu denen der Leser nie einen
Zugang haben wird – so wie hier, als Hemingway nach einem
Stierkampf den Torero Antonio aufsucht und der äußerst knap-
pe Dialog dem Torero die Meisterschaft des Kampfes (und dem
Erzähler die Meisterschaft der Beobachtung) bescheinigt, sodass
sich beide auf ein gemeinsames Essen verständigen können:

Oben im Hotel lag Antonio auf dem Bett, müde eher von dem
Tragen auf den Schultern als vom Kampf, und lächelte sein dunkles,
glückliches Lächeln.
»Contento, Ernesto ?« fragte er.
»Muy contento.«
»Ich auch«, sagte er. »Hast du gesehen, wie er war ?
Hast du alles mitbekommen ?«
»Ich glaube schon«, sagte ich.
»Laßt uns in Fraga essen.«
»In Ordnung.«
»Fahrt vorsichtig.«
118
»Wir sehen uns in Fraga«, sagte ich.

Solche Momente gehören zu den Höhepunkten einer Reiseer-


zählung. Sie zeigen (aber wiederum: sehr diskret, unaufdringlich),
dass der Reisende Eingang in die Fremde gefunden hat. Im
Grunde ist er kaum noch ein Reisender, sondern gehört – auf-
grund seiner Kenntnisse oder aufgrund sonstiger Fähigkeiten
und Tugenden – zum Kreis der Einheimischen: Er sitzt an ihrem
Tisch, er spricht ihre Sprache, und er verständigt sich durch
Andeutungen.
Die große Kunst der Reiseerzählung besteht also darin, die Fül-
le der Erlebnisse und recherchierten Details in einer Geschichte

118 Ernest Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 112.

135
Textprojekte und Schreibaufgaben V

zu kombinieren, die – wie andere Geschichten eben auch – auf


kleine Höhepunkte zuläuft und von einer Fragestellung (einem
Thema, einer Obsession etc.) vorangetrieben wird. Dabei gilt das
ganze Vorhaben letztlich dem hohen Anspruch, die Distanz zur
Fremde zumindest zeitweise zu überwinden und in die Zentren
der Landesgeheimnisse vorzudringen.
Solche Geheimnisse müssen nicht so außergewöhnlich sein
wie im Falle Hemingways, sie können vielmehr auch aus kleinen
Offenbarungen und Annäherungen an die Fremde bestehen.
Wichtiger ist, dass ein möglicher Leser die Erzählung so liest, als
läse er eine gut erfundene, mit Spannungs- und Überraschungs-
momenten arbeitende Erzählung. In einer solchen Erzählung
sind dann selbst die ruhigen, stillen Momente noch Momente
einer packenden Dramaturgie, sie lassen den Leser ausatmen
und bilden doch bereits das erste Moment eines neuen Span-
nungsbogens hin zum nächsten Höhepunkt der Reise:

Draußen vor dem Fenster peitschte ein mittelschwerer Sturm die


119
Zweige der Platanen, und ab und zu regnete es.

119 Ernest Hemingway: Gefährlicher Sommer, S. 107.

136
Die Reiseerzählung

Schreibaufgabe
n Verschaffen Sie sich einen guten Überblick über die No-
tizen und Tagebuchaufzeichnungen, die Sie während einer
Reise gemacht haben.
n Legen Sie eine kleine Liste der Personen an, mit denen Sie
gereist bzw. mit denen Sie während Ihrer Reise zusammenge-
troffen sind. Halten Sie auch kurz das Aussehen, bestimmte
Eigenheiten und charakteristische Handlungsweisen dieser
Personen fest. Überlegen Sie, welche dieser Personen Sie in
Ihrer Erzählung auftreten lassen wollen.
n Fertigen Sie eine Skizze der Reisestrecke mit ihren verschie-
denen Stationen an und notieren Sie, was Sie an diesen Stati-
onen erlebt haben, welche dieser Erlebnisse sich gut erzählen
ließen und welche Personen dabei auftreten sollen.
n Überlegen Sie, welche Themen (oder Obsessionen etc.) die
Reise bestimmten und wie diese Themen durch die Erzählung
der Reiseerlebnisse vertieft oder dramatisiert werden könnten.
n Erzählen Sie die Reise dann als eine Geschichte aus der
Perspektive eines Erzählers. (Sind das Sie selbst ? Oder ist
es ein anderes Mitglied der Reisegruppe ?) Bleiben Sie dabei
nahe an den Erlebnissen und arbeiten Sie mit lebendigen, die
Personen charakterisierenden Dialogen.

137
19. Der Reiseroman
Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich
recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige
Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das
lange Dorf hinaus.120

Der Reiseroman schließlich ist das Meisterstück der Reiselitera-


tur. Sein Autor aber interessiert sich nur noch ganz am Rande
für die Daten und Fakten der Reise, und es geht ihm auch nicht
mehr darum, Themen und Terrains der Fremde mithilfe einer
Erzählung zu erforschen. Stattdessen tritt das Erzählen selbst
ganz in den Vordergrund, und zwar so sehr, dass die im Reise-
roman auftauchenden Namen von Städten oder Landschaften
anfänglich nur noch wie nebenbei erwähnt werden.
Der Autor lenkt aber auch später den Fokus nicht mehr auf all
diese Räume, höchstens in knappen Beschreibungen oder Andeu-
tungen kommen sie noch vor. Viel wichtiger ist nämlich die
Geschichte selbst, die meist von einem Reiseabenteuer oder einem
starken Reiseerlebnis zum nächsten führt. Erzählen bedeutet
dann: einer Stationenkette besonderer Reiseereignisse zu folgen.
Die Wege zwischen den unterschiedlichen Orten der Reise
lehnen sich häufig aber nicht mehr an die üblichen Streckenver-
bindungen oder Routen an. Sie können vielmehr ganz willkür-
lich und spontan entstehen, je nach Lust und Laune der han-
delnden Personen, die sich dann ziellos durch die Landschaft
treiben lassen, mal nach Norden, dann wieder westwärts, zurück
in den Osten und unerwartet wieder nach Norden.

Das Vorbild für ein solch zielloses, spontanes und in gewissem

120 Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 5.

138
Der Reiseroman

Sinn anarchisches Reisen ist Joseph von Eichendorffs »Aus dem


Leben eines Taugenichts«. Im Vorfrühling macht sich die
Hauptfigur auf, nicht ahnend, wohin der Weg sie dann führen
wird. Sie folgt vielmehr ganz ihren eigenen Impulsen und den
sich zufällig am Wegrand auftuenden Verlockungen:

Als ich eine Strecke so fortgewandert war, sah ich rechts von der
Straße einen sehr schönen Baumgarten, wo die Morgensonne so
lustig zwischen den Stämmen und Wipfeln hindurchschimmerte,
dass es aussah, als wäre der Rasen mit goldenen Teppichen belegt.
Da ich keinen Menschen erblickte, stieg ich über den niedrigen
Gartenzaun und legte mich recht behaglich unter einem Apfelbaum
121
ins Gras …

Ein Baumgarten, die Morgensonne, ein Gartenzaun, ein Apfel-


baum – so knapp wird eine Station der Reise skizziert. Sie lädt
den Reisenden zum Verweilen ein und hinterlässt beim Leser
die Frage danach, was nun als Nächstes passieren wird.
Auf solchen Stationen wird die Hauptfigur gleichsam stillge-
stellt und muss warten, bis die Außenwelt sich zeigt und auf sie
zukommt. Meist tut sie das an jeder Station dann auf andere,
verblüffende Weise. Dann kommen Personen, Gegenstände oder
Räume ins Spiel, die mit dem Verlassen der jeweiligen Station
sofort wieder im Dunkel verschwinden.
Daher sind solche Stationen meist nur flüchtig berührte Orte,
an denen sich jeweils eine kleine Szene (ein kleines Drama) der
Reise abspielt. Solche Szenen (oder Dramen) haben inhaltlich
die Aufgabe, den Reisenden von einer neuen oder anderen Seite
zu zeigen und ihm verblüffende Reaktionen zu entlocken, dra-
maturgisch aber haben sie die Funktion, in dem sonst eher

121 Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 28.

139
Textprojekte und Schreibaufgaben V

gleichförmigen Vergehen der Reisezeit gewisse Spannungsmo-


mente zu setzen.

In »On the Road«, dem bekanntesten Reiseroman der amerika-


nischen Literatur, lässt der Autor Jack Kerouac (1922–1969) sei-
nen Erzähler dann und wann auch mit einem Trucker fahren:

Der Typ überbrüllte das Dröhnen einfach, und ich musste bloß zu-
rückbrüllen, und das war total locker. Und er ballerte die Kiste bis
nach Rapid City, Iowa, durch, brüllte mir echt witzige Geschichten
zu, wie er in jeder Stadt mit unfairem Tempolimit die Gesetzeshü-
ter zum Narren hielt, und wiederholte immer wieder, »mir werfen
122
die Cops keine Knüppel zwischen die Beine.« Er war wunderbar.

Auch an dieser Station des Romans wird die Hauptfigur stillge-


stellt und reagiert kaum. Für die Dauer des Verweilens an der
Station treten vielmehr ganz neue Figuren in den Vordergrund,
die sofort ausreichend Raum erhalten, um sich darzustellen.
Stationen ermöglichen also große Auftritte von Figuren,
Selbstdarstellungen, Monologe, aber auch Kontrasthandlungen
zu den Handlungen der Hauptfigur. Gleichzeitig enthalten sie
im Hintergrund oft auch ein gewisses Gefahrenmoment, dessen
Schweben oder Flimmern in der Hauptfigur eine Unsicherheit
hinterlässt. Im nächsten Augenblick könnte sich der Trucker in
ein Monstrum verwandeln, oder es könnte passieren, dass er
wegen seines temperamentvollen Erzählens von der Straße
abkommt und einen Unfall verursacht.

Reiseromane erzählen also mit verhaltenen Spannungsbögen, die


immer wieder zu kleinen Abenteuern (mit Kontrastfiguren oder

122 Jack Kerouac: On the Road. Die Urfassung, S. 27 f.

140
Der Reiseroman

auch Reisebegleitern) hinüberblenden. Die Orte, an denen sie


spielen, sind oft abgelegen und haben auf den ersten Blick über-
haupt nichts Faszinierendes. Auf keinen Fall aber sind es touris-
tische Orte, ja man könnte sogar sagen, dass der Reiseroman
gegenüber Gegenden, die vom Tourismus geprägt sind, eine
natürliche Feindschaft unterhält.
Im Abseits wie die Orte befinden sich meist denn auch seine
Figuren, die sich als Außenseiter verstehen und auf Reisen sind,
um sich selbst besser kennenzulernen oder überhaupt erst zu
erahnen, wo ihr Platz in der Welt in ferner Zukunft einmal sein
könnte. In diesem Sinn wirken ihre Begegnungen mit anderen
Figuren denn auch wie kurze Testverfahren, die ihnen die Essenz
und die Dramatik eines fremden Lebens konzentriert vorführen.
Indem sie sich von diesem fremden Leben gleich wieder abwen-
den oder indem sie es eine Weile begleiten, zeigen sie Impulse
von Antipathie oder Sympathie.
Und so bietet ihnen der Reiseroman lauter Gelegenheiten,
ihre Emotionen auszuloten und allmählich zu jenem inneren
Gleichgewicht zu finden, an dessen Möglichkeit sie anfänglich
nicht einmal zu glauben wagen. Höchstens in kleinen, vorsichti-
gen Zeichen präsentiert ihnen der Reiseroman zu seinem Beginn
eine derartige Hoffnung. Und doch leuchten solche anfänglichen
Zeichen dann wie Wegweiser durch die vielen Hundert Seiten,
die er oft zurücklegt, bis den Roman sein meist künstliches Ende
(denn er will ja eigentlich gar nicht enden) ereilt.

Ein deutscher Reiseroman, jüngeren Datums und auf den Spu-


ren des Taugenichts, beginnt mit einem solchen kurzen Leuchten:

An einem Vorfrühlingsabend kehrte der junge Fermer nicht mehr


in die Kaserne zurück. Es war noch recht kühl, doch waren die
ersten Anzeichen des nahenden Frühlings zu bemerken. »Es tut sich

141
Textprojekte und Schreibaufgaben V

etwas«, dachte Fermer, »scheint nicht alles aufspringen zu wollen ?«


Um den Vollmond flogen eilend Wolkenfetzen, die sich sofort wieder
zerstreuten; die sonst fahle Himmelsdecke war an einigen Stel-
len weit aufgerissen, und Fermer konnte die leuchtenden Sterne
erkennen.123

Schreibaufgabe
n Versuchen Sie, das erste Kapitel eines Reiseromans zu
schreiben.
n Lassen Sie diesen Roman an einem Ort beginnen, den Sie
gut kennen, benennen Sie diesen Ort aber nicht.
n Fangen Sie mit einer Aufbruchsszene an: Die Hauptfigur
macht sich plötzlich zunächst noch allein auf den Weg.
n Folgen Sie ihr auf diesem Weg eine Weile und beschreiben
Sie die schwankenden Stimmungen der Figur, eingebettet in
kurze Beschreibungen oder Andeutungen der Außenwelt.
n Führen Sie Ihre Figur so zu ihrer ersten Station. Gönnen
Sie ihr einen Moment des längeren Verweilens und konfron-
tieren Sie die Figur dann mit ihrer ersten »Begegnung«.
n Machen Sie aus dieser »Begegnung« (mit einer anderen
Figur oder einem Gegenstand etc.) einen spannenden, aben-
teuerlichen Moment.

123 Hanns-Josef Ortheil: Fermer. Roman. Frankfurt/M. 1979, S. 9.

142
Nachbetrachtung:
Kleine Methodik des Schreibens
auf Reisen

In ihrer Großstruktur folgen die Textprojekte und Schreibauf-


gaben dieses Buches jenem »reisegeschichtlichen Dreiklang«
von Vorbereitung, Ausführung und Auswertung der Reise,
der schon in den ältesten Reisemethodiken seit dem Zeit-
alter des Humanismus und der Renaissance erscheint.124 Seit-
her wurde das Reisen in all seinen Formen und in seiner prakti-
schen Umsetzung als eine Kunst (ars apodemica) betrachtet, die
in umfangreichen und viel gelesenen Kompendien beschrieben
und gelehrt wurde. Zum Inhalt dieser Lehre gehörte natür-
lich auch das Schreiben auf Reisen, das die jeweilige Reise-
praxis reflektierte und in ihrer besonderen Form dokumen-
tierte.
Um für sich selbst genau jene Formen zu finden, die heut-
zutage für einen Schreiber interessant sein könnten, sollte man
nun aber auch einen Blick auf die einzelnen Teile der Textpro-
jekte und Schreibaufgaben in diesem Buch werfen. Da gibt es
an erster Stelle jene Verfahren, die man bereits zu Hause erpro-
ben und dann nach Belieben auf Reisen anwenden kann, um
von bestimmten Spaziergängen, Flanerien, Wanderungen etc.
zu erzählen (Teil I). Solche »Erkundungsgänge« sollte man
sich auf einer Reise eigens vornehmen und in einer ihnen je-

124 Vgl. Justin


Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800.
Wien, Köln, Weimar 2002, S. 100.

143
Nachbetrachtung

weils entsprechenden, hier vorgestellten Textform festhalten.


Sie bilden ein anspruchsvolles Schreibgenre, das die fremden
Räume auf Höhepunkte und Besonderheiten hin durchstreift
und diese Räume in exemplarischer Form näher bringt.
Viel einfacher sind jene Textverfahren des Notierens und
Aufzeichnens für sich selbst, die den Verlauf und den Alltag
einer Reise in unterschiedlich kurzen oder langen Schreibphasen
festhalten (Teil II). Solche Verfahren reichen vom Reisetagebuch
über das frei geführte Notizbuch bis zu thematisch geführten
Notizbüchern. Da man nicht die Zeit haben wird, mehrere sol-
cher Verfahren gleichzeitig anzuwenden, sollte man zunächst
überlegen, welche man überhaupt erproben oder welche man
miteinander kombinieren will.
Nützlich wird es auf jeden Fall sein, den jeweiligen Verlauf
eines Reisetages am Abend, in der Nacht oder am Morgen
des nächsten Tages in der Kurzform eines Reisetagebuchs
zu notieren. So behält man den räumlichen und zeitlichen
Verlauf der Reise (Wo war ich genau wann ?) deutlich im Blick.
Daneben sollte man aber ein Notizbuch führen, in das man
während eines Tages einzelne Beobachtungen knapp und
prägnant notiert. Dazu gehört faktisches Material, dazu können
aber auch Beobachtungen zum eigenen Befinden oder Beob-
achtungen zu Kulturen der Fremde gehören. Ein solches No-
tieren kann frei, aber auch mit dem Blick auf ein bestimmtes
Thema erfolgen. Notiert man frei, reicht ein einziges Notizbuch,
notiert man darüber hinaus aber auch thematisch, sollte man für
das thematische Notieren jeweils ein eigenes Notizbuch anle-
gen.
Auch das »Schreiben für und an andere« in den verschiede-
nen Formaten, die hier vorgestellt wurden (Teil III), sollte man,
sofern das auf Reisen möglich ist, auf jeden Fall festhalten.
Ansichtskarten und Briefe sollte man kopieren, und mediale Tex-

144
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen

te sollte man zur weiteren Verwendung (oder als Sonderformen


der Dokumentation einer Reise) ausdrucken.
Selbstständige Reiseprojekte von der Art schließlich, wie sie
ebenfalls hier skizziert wurden, gehören zu den anspruchsvolls-
ten Formen der Reisedokumentation (Teil IV). Sie erfordern
sehr viel Zeit und führen nicht selten dazu, dass die Reise beina-
he ausschließlich auf das Projekt zentriert verläuft. In diesem
Sinne ist das Projekt dann eine selbstständig gewählte, alle Akti-
vitäten berührende Kunstform, deren Dokumentation aus-
schließlich die jeweilige Kunstpraxis beschreibt und reflektiert
und sich nicht weiter mit sonstigen Themen oder Reizangeboten
einer Reise beschäftigt.
Will man das während einer Reise gesammelte Material
noch einmal in einer fortlaufenden, sich auf die wesentlichen
Momente und Beobachtungen einer Reise konzentrierenden
Form zusammenfassen, so kann man das Material zu einem Rei-
sebericht, einer Reiseerzählung oder sogar zu einem Reiseroman
aus- und umarbeiten (Teil V). Das Material für solche rückbli-
ckenden Großformate sollte durch Zeichnungen und Foto-
grafien komplettiert werden, auf die man zurückgreifen kann,
wenn man bestimmte Beobachtungen oder Eindrücke präzisie-
ren will.
Der wichtigste Ratschlag aber betrifft die Materialien der
Reisetage- oder Notizbücher. Im extremen Fall schleppt man auf
Reisen eine stattliche Zahl von ihnen mit sich herum. Das könn-
te lästig oder unpraktisch sein. Deshalb ein guter Vorschlag:
Man sollte ausschließlich Spiralnotizbücher mit Blankopapier
verwenden, davon aber gleich mehrere mitnehmen. Alle Notizen
eines Tages kommen dann in ein einziges solches Notizbuch,
und zwar so, dass man die Texte später auch einzeln vor sich
haben und herausreißen kann.
Man sollte die einzelnen Aufzeichnungen oder Blätter des-

145
Nachbetrachtung

halb datieren und nur auf der rechten Seite eines Heftes schrei-
ben (bei Spiralheften ist das Beschreiben auf der linken Seite
sowieso nicht sehr praktisch). Auch Zeichnungen und Skizzen
sollten immer nur auf der rechten Seite eines Heftes erscheinen.
So füllt man während einer Reise mehrere Notizbücher, hat es
jedoch punktuell immer nur mit einem einzigen Notizbuch zu
tun.
Der Clou daran ist, dass man die vollgeschriebenen (und
datierten) rechten Seiten nach der Reise aus den Notizheften
herauslösen und sie auf die Seiten eines großen blanko Skizzen-
blocks (zu empfehlen ist das Format DIN A3) kleben kann. Auf
einem solchen Großformat finden dann alle während der Reise
gemachten Aufzeichnungen (der unterschiedlichsten Textver-
fahren) über- oder nebeneinander Platz. Zeichnungen und Foto-
grafien lassen sich leicht den Texten zuordnen oder in sie integ-
rieren. Das Endprodukt ist dann ein einziger Skizzenblock, der
alle einzeln gemachten Aufzeichnungen in all ihrer Buntheit
sammelt und zu einer Gesamtdarstellung vereinigt.
Die anderen Formen einer Gesamtdarstellung der Reise
wären die schon angesprochenen: Reisebericht, Reiseerzählung,
Reiseroman. Entschließt man sich für eine dieser aus der Rück-
schau konzipierten Formen, so hat das während der Reise gesam-
melte Material lediglich die Aufgabe einer vorläufigen Quellen-
und Dokumentensammlung. Der später geschriebene Gesamttext
dagegen erscheint in sich geschlossen und wirkt dadurch oft
souverän und abgerundet.
Frischer, lebendiger und vielleicht sogar anarchischer könnten
aber Dokumentationen (wie der große Skizzenblock) ausfallen,
in denen alles während einer Reise geschriebene, gezeichnete
oder fotografierte Material in bunter Form gesammelt er-
scheint. Eine solche Präsentation wird die direkten Wahrneh-
mungsprozesse im Verlauf der Reise in den Mittelpunkt rücken

146
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen

und auf Schwerpunkte oder Abrundung verzichten. Eine Reise


zu beschreiben, heißt dann: sie für einen Leser in all ihrer schö-
nen Spontaneität nachvollziehbar zu machen.

147
Literaturverzeichnis

Zitierte Primärliteratur
Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de
Sahagún. Übersetzungen von Leonhard Schultze Jena, Eduard
Seler und Sabine Dedenbach-Salazar-Sáenz. Frankfurt/M. 1989.
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dem Französischen übersetzt und hrsg. von Joachim Schultz.
München 2002.

148
Zitierte Primärliteratur

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von Hartwig Schultz. Stuttgart 2011.
Forster, Georg: Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand.
Frankfurt/M. 2007.
Frisch, Max: Fragebogen. Frankfurt/M. 1992
Frisch, Max: Hoch über dem Meer. In: Die Kunst des Wanderns.
Ein literarisches Lesebuch. Hrsg. von Alexander Knecht und
Günter Stolzenberger. München 2010.
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Schmitz. Reinbek bei Hamburg 2010.
Herzog, Werner: Vom Gehen im Eis. In: Die Kunst des Wan-
derns. Ein literarisches Lesebuch. Hrsg. von Alexander
Knecht und Günter Stolzenberger. München 2010.
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Hohler, Franz: Spaziergänge. München 2012.
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Max Brod/Franz Kafka. Eine Freundschaft. Reiseaufzeich-
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Literaturverzeichnis

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Sartre. Deutsch von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg, 1994.
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Wagner, David: Welche Farbe hat Berlin. Berlin 2011.
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150
Weitere Primärliteratur

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u. a. 1995. [Pilgerbericht der Pilgerin Egeria von einer Pilger-
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Auf buntbewegten Gassen. Literarische Spaziergänge von Schil-
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[Anthologie mit klassischen Spaziergang-Texten.]
Benjamin, Walter: Städtebilder. Frankfurt/M. 1963. [Städtebil-
der sind ein eigenes Reisegenre. Walter Benjamin war ihr
Meister, hier mit Texten über Berlin, Moskau, Weimar, Mar-
seille und San Gimignano.]
Bourdain, Anthony: Ein Küchenchef reist um die Welt. Auf der
Suche nach dem vollkommenen Genuss. Aus dem Amerika-
nischen von Dinka Mrkowatschki. München 2004.
Bracharz, Kurt: Esaus Sehnsucht. Ein gastrosophisches Tage-
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Büscher, Wolfgang: Deutschland, eine Reise. Berlin 2005. [Er-
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mal um Deutschland herum.]
Canetti, Elias: Die Stimmen von Marrakesch. München 1974. [Klas-
siker des Genres Reiseerzählung, überaus sinnlich und intensiv.]
Capote, Truman: Die Reise-Erzählungen. Frankfurt/M. 1980.
[Wie erzählt man wirklich lebendig, pointiert und sehr
unterhaltsam vom Reisen ? Die Reiseerzählungen von Tru-
man Capote beantworten diese Frage.]
Chatwin, Bruce: Auf Reisen. Photographien und Notizen. Aus
dem Englischen von Anna Kamp. Frankfurt/M. 1995. [Ein-
blicke in die Notizbücher des großen Reisenden.]

151
Literaturverzeichnis

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schen von Anna Kemp. Frankfurt/M. 1998 [Reiseerzählun-
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Spanischen von Dagmar Ploetz und Willi Zurbrüggen.
München 2006. [Brillante Porträts von Städten: auf wenigen
Seiten die Atmosphären einer Stadt einfangend.]
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bahn. Eine zeitlose Reise Paris–Marseille. Aus dem Spani-
schen von Wilfried Böhringer. Frankfurt/M. 1996. [Reise-
projekt einer verrückten »Reise zu zweit«: Eine Fahrt im
VW-Bus auf der Autobahn von Paris nach Marseille, mit
Halt an jedem Rastplatz und Übernachtung an jedem zwei-
ten …]
Die Kunst des Wanderns. Ein literarisches Lesebuch. Hrsg. von
Alexander Knecht und Günter Stolzenberger. München 2010.
Espedal, Tomas: Gehen oder die Kunst, ein wildes und poeti-
sches Leben zu führen. Aus dem Norwegischen von Paul
Berf. Berlin 2011. [Erzählung, Essay und Manifest eines
anderen Lebens. Ein Buch, das genau einlöst, was der schöne
Titel verspricht.]
Fermor, Patrick Leigh: Die Zeit der Gaben. Zu Fuß nach Kon-
stantinopel. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Zürich
2005. [Fermor ist der große Guru der passioniert Reisenden.
Seine Reisebücher sind Klassiker und allesamt empfehlens-
wert.]
Hohler, Franz: 52 Wanderungen. München 2005.
Humboldt, Alexander von: Von Mexiko-Stadt nach Veracruz.
Tagebuch. Hrsg. von Ulrike Leitner. Berlin 2005. [Faszinie-
rende, vorbildliche Faksimileausgabe der Reisenotizbücher
Humboldts (mit Abschriften der Handschrift) aus den Jah-
ren 1803/1804.]

152
Weitere Primärliteratur

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Andreas Beyer. München 1992. [Der Klassiker der Bildungs-
reise mit höchstem Anspruch: reisen, sehen und sich die gan-
ze Welt selbst erklären, mit einfachsten Hilfsmitteln, aber
bestechender Beobachtungsgabe.]
Ibn Battuta: Die Wunder des Morgenlandes. Reisen durch Afri-
ka und Asien. Ins Deutsche übertragen, kommentiert und
mit einem Nachwort versehen von Ralf Eger. München 2010.
[ Jahrzehntelang reiste der aus Marokko stammende Ibn Bat-
tuta bereits im 14. Jahrhundert durch die islamischen Länder
seiner Zeit.]
Magris, Claudio: Die Welt en gros und en détail. Aus dem Itali-
enischen von Ragni Maria Gschwend. München 1999. [Star-
ke Reisebilder von Lieblingsorten und -räumen des in Triest
lebenden Schriftstellers und Essayisten.]
Mosebach, Martin: Als das Reisen noch geholfen hat. Von
Büchern und Orten. München 2011. [Brillante Reiseessays,
darunter Spaziergänge, Städte- und Landschaftsbilder, in
denen historisches Wissen und Reiseerfahrung sehr gelun-
gen und unaufdringlich miteinander verbunden werden.]
Polo, Marco: Die Beschreibung der Welt. Hrsg. von Detlef
Brennecke. Stuttgart, Wien 2003. [Marco Polo, Sohn eines
venezianischen Juwelenhändlers, reiste von 1271 bis 1295
von Venedig nach China und zurück. Sein Reisebericht ist
der bekannteste des Mittelalters.]
Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre
1802. Hrsg. von Reinhard Kaiser. Nördlingen 1985. [ Johann
Gottfried Seume reiste in den Jahren 1801/1802 von Leipzig
zu Fuß nach Syrakus und wieder zurück. Sein Reisebericht
wurde ein großer Publikumserfolg.]
Sterne, Laurence: Eine empfindsame Reise durch Frankreich
und Italien. Von Mr. Yorick. Neu aus dem Englischen über-

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Literaturverzeichnis

setzt von Michael Walther. Berlin 2010 [Prototyp der »senti-


mental journey«, ein europäischer Klassiker.]
Svevo, Italo: Kurze sentimentale Reise. Übersetzung von Piero
Rismondo. Stuttgart 1978. [Herr Aghios reist von Mailand
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Thoreau, Henry David: Vom Spazieren. Ein Essay. Aus dem
Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Zürich 2004.
[Zuerst 1862 erschienener amerikanischer Klassiker eines
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Wagner, Christoph: Le Tour Gourmand. Ein kulinarisches Rei-
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2002.
Walser, Robert: Der Spaziergang. Zürich 1978. [1917 erschienen,
ein Klassiker der Spaziergänger-Literatur: Der Spaziergang
als poetisches Schlendern, Fantasieren, Imaginieren.]

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men, hiersein, weggehen. Kunstforum Bd. 136. Ruppich-
teroth 1997. [Reiseprojekte von Künstlern, interessante Theo-
rietexte zu den verschiedensten Formen des Reisens.]
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Künstlerreisen. Kunstforum Bd. 137. Ruppichteroth 1997.
[Weitere Reiseprojekte von Künstlern.]
Albes, Claudia: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu
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Thomas Bernhard. Tübingen 1999.
Blum, Elisabeth: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der
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Reinhold Messner und Bruce Chatwin. Frankfurt/M. 2004.
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Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsge-
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schen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt/M.
1989. [Sammelband mit literaturwissenschaftlichen Aufsät-
zen zur Geschichte des Reiseberichts.]
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Johannes Moser und Daniella Seidl. Münster 2009.
Dünne, Jörg: Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzäh-
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Literaturverzeichnis

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Long, Francis Alÿs, Marina Abramovic oder Sophie Calle, die
das Gehen in den Mittelpunkt stellen.]
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Susanne Held. Stuttgart 2011. [Grundlegende, gut lesbare Stu-
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fahrer des 8. Jahrhunderts v. Chr., die das Mittelmeer erober-
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Fuest, Leonhard: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrate-
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geschichte des Reisens 1500 – 1800. Frankfurt/M. 2001.
Gros, Frédéric: Unterwegs. Eine kleine Philosophie des Gehens.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer und Michael Bay-
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Blick auf Uecker. Köln 1997. [Faszinierender und sehr anre-
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lers Günther Uecker.]
Kaschuba, Wolfgang: Die Überwindung der Distanz. Zeit und
Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt/M. 2004.
[Eisenbahn, Auto, Flugzeug, Foto, Radio, Kino – wie haben
sie unsere Raumerfahrungen verändert ?]
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Einführung. 2., überarbeit. u. erw. Auflage Wiesbaden
2008. [Einführung in Theorie und Praxis des Reisejournalis-
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1989. [Beginnt mit Studien zur urbanen Literatur in Frank-
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Spuren einer bürgerlichen Praktik. Wien 1996.
Kufeld, Klaus: Reisen. Ansichten und Einsichten. Frankfurt/M.
2007. [Essay über die Kunst des Reisens und Sehens.]
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mit Twitter, Blogs, Facebook & Co. Mannheim 2012.
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Stuttgart 1991. [Materialreicher Katalog zu einer großen
Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek
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von Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff.
München 1991. [Aufsatzsammlung zu Theorie und Praxis
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musforschung. Hrsg. von Dieter Kramen und Ronald Lutz.
Frankfurt/M. 1992. [Sammelband mit Studien zu Erlebnis-
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Schärf, Christian: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch.


Mannheim 2012.
Stagl, Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Rei-
sens 1550–1800. Wien, Köln, Weimar 2002.
Stichweh, Rudolf: Der Fremde. Studien zur Soziologie und
Sozialgeschichte. Berlin 2010.
Stiegler, Bernd: Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturge-
schichte des Reisens im und um das Zimmer herum.
Frankfurt/M. 2012.
Sutterlüty, Ferdinand/Imbusch, Peter (Hrsg.): Abenteuer Feld-
forschung. Soziologen erzählen. Frankfurt/M. 2008.
Thompson, Carl: Travel Writing. London u. a. 2011.
Traveling shots. Film als Kaleidoskop von Reiseerfahrungen.
Hrsg. von Winfried Pauleit u. a. Berlin 2007.
Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen. Hrsg. von
Bernd Blaschke u. a. Bielefeld 2008.
Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. Stationen eines poeti-
schen Codes. Würzburg 1991.
Weppen, Wolfgang von der: Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in
der die Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995.

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Ein Schreibverführer neuen Typs
Die literarische Schreibwerkstatt
als Meisterkurs!

Schreiben dicht am Leben. Schreiben Tag für Tag. Schreiben unter Strom.
Notieren und Skizzieren. Journal und Tagebuch. Experimentieren mit Twitter,
Blogs, Facebook & Co.
Von Hanns-Josef Ortheil Von Christian Schärf
160 Seiten. Herausgeber: Von Stephan Porombka
Festeinband, Hanns-Josef Ortheil Herausgeber:
abgerundete Ecken 160 Seiten. Festeinband, Hanns-Josef Ortheil
und Lesebändchen abgerundete Ecken 160 Seiten. Festeinband,
978-3-411-74911-9 und Lesebändchen abgerundete Ecken
978-3-411-74901-0 und Lesebändchen
978-3-411-74921-8
KREATIVES SCHREIBEN

Schreiben
auf Reisen.
Ein Schreibverführer neuen Typs: die literarische
Schreibwerkstatt als Meisterkurs. Kein Lehrbuch
mit Geboten und Regeln, sondern ein breites

Schreiben auf Reisen.


Spektrum kreativer Ansätze zum Ausprobieren!
Dieser Band verführt dazu, das Reisen, die Sprache
und das Schreiben zusammenzubringen. Es gilt,
Schreiben
auf Reisen.
im Unterwegssein anzukommen.

Hanns-Josef Ortheil, Schrift- Wanderungen, kleine Fluchten


steller und Professor für Kreatives und große Fahrten –
Schreiben und Kulturjournalismus
an der Universität Hildesheim, ist
Aufzeichnungen von unterwegs.
Herausgeber der Reihe „Kreatives
Schreiben“ und Autor der Bände „Schreiben dicht am von Hanns-Josef Ortheil
Leben“ und „Schreiben auf Reisen“.

ISBN 978-3-411-75371-0
14,95 3 (D) • 15,40 3 (A)

Herausgeber der Reihe: Hanns-Josef Ortheil

Schreiben auf reisen_75371-0_5009513_00.indd 1 17.01.12 15:42

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