Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Duden Kreatives Schreiben - Schreiben Au - Schreiben Auf Reisen Und Wanderungen, KL
Duden Kreatives Schreiben - Schreiben Au - Schreiben Auf Reisen Und Wanderungen, KL
Schreiben
auf Reisen.
Ein Schreibverführer neuen Typs: die literarische
Schreibwerkstatt als Meisterkurs. Kein Lehrbuch
mit Geboten und Regeln, sondern ein breites
ISBN 978-3-411-75371-0
14,95 3 (D) • 15,40 3 (A)
Duden
Hanns-Josef Ortheil
Schreiben
auf Reisen
Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten –
Aufzeichnungen von unterwegs
Dudenverlag
Mannheim • Zürich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Wort Duden ist für den Verlag Bibliographisches Institut GmbH als
Marke geschützt.
© Duden 2012 D C B A
Bibliographisches Institut GmbH, Dudenstraße 6, 68167 Mannheim
ISBN 978-3-411-75371-0
Auch als E-Book erhältlich unter: ISBN 978-3-411-90326-9
www.duden.de
Vorwort
Georg erinnert sich noch genau an seine erste Reise. Damals war
er fünf Jahre alt, und er befand sich zusammen mit seiner Mutter
auf dem Wochenmarkt. Plötzlich aber war die Mutter ver-
schwunden. Erschrocken hatte Georg den ganzen Markt abge-
sucht und war schließlich in eine Seitenstraße gelaufen, wo er
jede Orientierung verloren hatte. Kurz darauf war er dann sogar
in Gegenden geraten, in denen er noch nie gewesen war. Da
wusste er, wohin es ihn verschlagen hatte: Er war in der Fremde
und damit in einem Land, in dem es keine Menschen gab, die
ihn kannten oder mit ihm reden wollten.
Als er sechzehn war, ist Georg dann mit dem Fahrrad so rich-
tig allein auf Reisen gegangen. Auch während dieser Tour durch
Frankreich hatte er manchmal Angst gehabt, wie der kleine Bub,
der auf dem Wochenmarkt die Orientierung verloren hatte. Die-
se Angst aber hatte einfach zum Abenteuer der Reise gehört.
Das Abenteuerliche an der Reise war nämlich der anhaltende
Ausnahmezustand, in den man mit dem Aufbruch geriet und der
1
so ganz anders war als der vertraute heimische Alltag. Auf Rei-
sen war alles fremd und neu, ja, man kam sich vor wie ein Kind,
das die einfachsten Gesten und Verhaltensformen erst wieder
lernen musste.
Während seiner Frankreichfahrt hatte Georg zum ersten Mal
in seinem Leben Tagebuch geführt. Er hatte nichts Besonderes
notiert, sondern einfach nur Tag für Tag aufgeschrieben, wohin
1 Vgl. Georg Simmel: Das Abenteuer und andere Essays. Hrsg. von Christian Schärf.
Frankfurt/M. 2010.
5
Vorwort
6
Inhalt
Vorwort 5
Inhalt 7
Einführung Reisen und Schreiben 9
7
Inhalt
Nachbetrachtung:
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen 143
Literaturverzeichnis
Zitierte Primärliteratur 148
Weitere Primärliteratur 151
Sekundärliteratur 155
8
Einführung:
Reisen und Schreiben
Kaum eine andere kulturelle Praxis hat so viel zur Ausbildung des
Schreibens beigetragen wie das Reisen. Wer unterwegs war, ver-
sicherte sich nämlich seines Standorts und seiner Bewegungen
in der Fremde oft dadurch, dass er notierte: Von wo nach wo
reise ich ? Wem begegne ich unterwegs ? Was fällt mir an Beson-
derem auf ?
So war das Reisen von Anfang an mit einem fortlaufenden
Schreiben verbunden, das die Orientierung in der Fremde fixier-
te. Schreiben auf Reisen war dadurch ein kontrolliertes Beobach-
ten, Sammeln, Recherchieren und Dokumentieren. Zum einen
wurde so die Distanz zur Fremde abgebaut, zum anderen aber
auch dafür gesorgt, dass die Reise nicht nur ein beliebiges Aben-
teuer, sondern eben auch gestaltete Erfahrung wurde.
Wer mit vielen Aufzeichnungen wieder nach Hause zurück-
kam, zeigte in diesem Sinne eine Ernte. Er war nicht wie ein
bloßer Abenteurer oder Vagabund unterwegs gewesen, sondern
hatte die Reise als eine Lebenslehre verstanden und sich selbst
als einen wissbegierigen Schüler, dessen Forschungseifer ein
reichhaltiges Material hervorgebracht hatte. Nach der Rückkehr
konnte es den Freunden zu Hause vorgelegt werden. So konnten
sie an der Reise teilnehmen und erhielten als Zuhörer oder Leser
eines Berichts oder einer Erzählung die Möglichkeit, über die
Begrenztheit des eigenen Horizonts hinausschauen zu können.
Die ersten antiken Reisetexte hatten noch die Form von
knappen Reisebeschreibungen, in denen oft kaum mehr festge-
halten wurde als Ortsnamen, geografische Besonderheiten oder
9
Einführung
10
Reisen und Schreiben
11
Textprojekte und Schreibaufgaben I:
Vorübungen –
Schreiben im Revier
1. Der Spaziergang 1
Beginnen wir mit einigen Vorübungen, mit deren Hilfe wir uns
auf unsere Reisen vorbereiten. Solche Vorübungen haben den
großen Vorteil, dass wir sie auch zu Hause, in einem vertrauten
Terrain, angehen und dann später auf Reisen weiterentwickeln
können. In allen Fällen handelt es sich dabei um überschaubare,
eher kleine Projekte, die einen bestimmten Raumausschnitt in
einer bestimmten Manier erkunden.
Die auf den ersten Blick einfachste und geläufigste Form
einer solchen Raumerkundung ist der Spaziergang. Spazieren
gehen wir immer wieder, daher glauben wir wohl auch zu wissen,
was ein Spaziergang ist und wie er verläuft. Anders stellt sich das
Projekt aber dar, wenn es um die schriftliche Fixierung eines ein-
fachen Spaziergangs geht. Haben wir überhaupt je einmal Texte
gelesen, in denen Spaziergänge dokumentiert wurden oder in
12
Der Spaziergang 1
3 Vgl.: Auf buntbewegten Gassen. Literarische Spaziergänge von Schiller bis Kafka.
Hrsg. von Stefan Geyer. Frankfurt/M. 2011.
13
Textprojekte und Schreibaufgaben I
14
Der Spaziergang 1
15
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Schreibaufgabe
n Gehen Sie von Ihrer Wohnung aus eine oder zwei Stunden
in der näheren Umgebung spazieren. Halten Sie zunächst
den Aufbruchsort fest und notieren Sie während des Spazier-
gangs dann einige starke Wahrnehmungen oder Beobachtun-
gen zu beiden Seiten des Weges in kontinuierlicher Folge.
n Erkunden Sie so ein bestimmtes Revier Ihrer Umgebung
mit dem besonderen Blick darauf, welche Raumelemente
(Wege, Kreuzungen, Straßen, Plätze, Unterführungen etc.)
dieses Revier strukturieren und wie genau Sie von diesen
Raumelementen geführt und in Ihrer Wahrnehmung stimu-
liert werden.
n Komponieren Sie Ihre Notate einige Stunden nach Ihrem
Spaziergang zu einem Bericht oder einer Erzählung und ver-
suchen Sie, einige der markanteren Eindrücke auch in Form
von sprachlichen Bildern zu fixieren. Reihen Sie diese Bilder
aneinander und machen Sie dann und wann deutlich, welche
Raumatmosphären die Bilder in ihrer Folge hervorgebracht
haben.
16
2. Der Spaziergang 2
Geben wir uns also ganz der Freude hin, mit unserer Seele zu plau-
dern: sie ist das Einzige, was die Menschen uns nicht rauben können.5
17
Textprojekte und Schreibaufgaben I
18
Der Spaziergang 2
8 Heinrich Meier: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rous-
seaus Rêveries in zwei Büchern. München 2011.
19
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Die Quelle des wahren Glücks, so lernte ich durch eigene Erfahrung,
liegt in uns selber; und keine Macht der Welt vermag es, jemanden
elend zu machen, der glücklich sein will und weiß, wie er es wird …
So erlebte ich auf manchen meiner einsamen Wanderungen Verzü-
ckungen, ja Ekstasen …9
Schreibaufgabe
n Machen Sie einen Spaziergang durch ein eher weites,
offenes Landschaftsgelände und suchen Sie einen Punkt, von
dem aus das Gelände gut zu überblicken ist.
n Beschreiben Sie, wie dieses Gelände auf Sie wirkt und wel-
che Empfindungen es in Ihnen auslöst.
n Erläutern Sie weiter, inwieweit Sie für diese Empfindungen
empfänglich sind und zu welchen Zeitabschnitten sie in Ihrer
Biografie besonders aktiv waren.
n Fragen Sie sich zum Abschluss, welche Ihnen bekannte
Musik zu jenen Emotionen passt, die Sie gerade gehabt
haben. Vertiefen Sie auf diesem Weg die Beschreibung Ihrer
Emotionen.
20
3. Der Spaziergang 3
21
Textprojekte und Schreibaufgaben I
22
Der Spaziergang 3
Bei Tageslicht war die Bar wie verwandelt: Es herrschte ein buntes
Treiben, und an der Theke drängten sich Büroangestellte, junge,
aufstrebende Broker und Finanzmakler, die gerade eine Pause
einlegten. Stoney trank einen Grand Marnier und dazu ein 7-Up.
Er sah mich ernst an. »Was meinst du ?« fragte er mich. »Soll ich
Prediger werden ?«14
23
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Auf der Theke des Killarney Rose standen fünf leere Grand-Mar-
nier-Gläser und daneben fünf 7-Ups, und Stoney bestellte seine
sechste Runde. Er prostete mir zu, und sein Gesicht war so aus-
druckslos wie die Rückseite des Mondes. Bevor er trank, gestattete
er sich ein kleines, verkniffenes Lächeln. »Na und ?« fragte er. »Hab
ich dir jetzt dein verdammtes Herz gebrochen ?«15
Der Aufbau einer solchen Szene zeigt, wie Cohn bei seiner Feld-
forschung vorgeht. Er schließt sich einer oder mehreren Perso-
nen an, lässt sich mit ihnen treiben, beobachtet, mit welchen
Räumen und Umgebungen sie Kontakt aufnehmen, erkundet
diese Kontakte, lässt sich mit seinen Begleitern irgendwo nieder,
fragt weiter nach und erfährt Geschichten über Geschichten.
Die Wege, die sich hierbei ergeben, werden durch einen
Wechsel der Schreibweise lebendig. Cohn arbeitet mit kurzen
Beschreibungen und mit knappen, rasch geführten Dialogen.
Wenn eine Person länger zu Wort kommen soll, übernimmt er
die Rolle des Erzählers und erzählt packend und zusammenfas-
send, was er von dieser Person erfahren hat. So übernimmt er die
Rolle eines Moderators, der die verschiedensten Stimmen und
Schicksale zusammenführt und durch sein Nachfragen und
Zuhören Verbindungen zwischen ihren sehr unterschiedlichen
Geschichten herstellt.
Dabei verliert er aber nie das eigentliche Thema seiner
Erkundungen, den Großraum Manhattan mit all den Orten, von
denen die Menschen so magisch angezogen werden, aus dem
Blick. Die Geschichte dieser Orte erscheint in Cohns Erzählung
eingebunden in die Geschichten der Menschen, sodass man als
Leser gut erkennt, welch unterschiedlichen Gebrauch die ver-
schiedenen Menschen von ein und demselben Raum machen.
24
Der Spaziergang 3
Schreibaufgabe
n Markieren Sie auf einer Karte ein bestimmtes städtisches
oder dörfliches Revier, von dem Sie wissen, dass es durch
seine Geschichten einen bestimmten Ruf und Namen hat.
Machen Sie einige Spaziergänge durch dieses Revier und
beobachten Sie, welche Menschen Ihnen an welchen Orten
begegnen.
n Versuchen Sie, mit diesen Menschen in Kontakt zu kom-
men, unterhalten Sie sich mit ihnen und erkundigen Sie
sich nach bestimmten Eigenarten oder Besonderheiten des
Reviers, in dem Sie sich befinden. Intensivieren Sie diese
Gespräche durch Nachfragen nach Lebensumständen oder
Details von Lebensgeschichten.
n Machen Sie sich nach Ihren Wegen und Gesprächen kurze,
prägnante und detailreiche Notizen.
n Schreiben Sie aufgrund dieser Notizen eine fortlaufende
Erzählung in der Manier von Nik Cohn. Die Lektüre seines
Buches gibt Ihnen viele weitere Hinweise.
25
4. Die Flanerie
Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir
wohl zugetragen haben ? 16
Auch die Flanerie ist ein Spaziergang, aber ein Spaziergang ganz
besonderer Art. Entstanden ist sie im großstädtischen Paris des
neunzehnten Jahrhunderts,17 und zwar im Paris jener glasüber-
dachten Passagen, die große Gebäudekomplexe durchbrachen
und den Flaneur wettergeschützt von einem breiten Boulevard
zum andern schlendern ließen.
Anders als der normale Spaziergänger folgt der Flaneur dabei
aber nicht einem bestimmten Weg oder Plan, den er im Auge behält,
sondern lässt sich im Strom der Menge treiben. Dass diese sich
meist ungeordnet, zufällig und spontan bewegt, ist ihm gerade recht.
Auch ihn zieht es nämlich bald hierhin, bald dorthin, mal betrachtet
er eine seltene oder besonders auffällige Ware im Schaufenster eines
Ladens, mal verweilt er an einer Straßenecke, um in Ruhe die Bewe-
gungen der Menge zu studieren. Manchmal aber bewegt auch er
sich in dieser Menge mit, bleibt dabei jedoch immer der geheime
Beobachter auf der Spurensuche nach interessanten oder merkwür-
digen Details. In diesem Sinn ist der Flaneur ein stiller Sammler,
süchtig nach dem besonderen, einzigartigen Bild, neugierig auf das
seltene und von ihm zuerst oder gar allein bemerkte Ereignis.
Durch genaue Beobachtung und inszenierte Distanz entzieht
sich der Flaneur den Bewegungen der Masse. Auch nach außen
hin macht er manchmal deutlich, dass er anders als die meisten,
16 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band V.1. Das Passagen-Werk. Hrsg. von
Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1982, S. 527.
17 Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturge-
schichte des Flaneurs bis 1933. Berlin 1989.
26
Die Flanerie
27
Textprojekte und Schreibaufgaben I
elemente der Flanerie. Sie ergeben sich zunächst vor allem als
Reaktionen auf Interessantes oder Neues, dessen spezifischen
Reizen nachgeschaut oder nachgeforscht wird.
Ein derartiges Nachforschen kann aber auch umschlagen in Erin-
nerungen daran, wie sich der gerade betrachtete Raum früher einmal
präsentierte. Flaneure durchstreifen ihre Reviere nämlich nicht nur
einmal oder ab und zu, sondern sind immer wieder auch auf längst
bekannten Wegen unterwegs. Charakteristisch für sie ist, dass sie eine
starke Anhänglichkeit an die Stadt entwickeln, die sie immer genau-
er kennenlernen wollen, von ihren früheren Erscheinungen bis in die
Gegenwart. Daher sind viele Namen großer Flaneure meist mit nur
einem einzigen Städtenamen verbunden. In dieser Stadt haben sie
sich jahre- oder jahrzehntelang aufgehalten, und sie wollen nicht auf-
hören, genau diese eine geliebte Stadt immer weiter zu erforschen.
Erfahrene Flaneure sammeln dann nicht nur Bilder des
gegenwärtigen Zustands einer Stadt, sondern verbinden Gegen-
wartseindrücke mit Erinnerungsbildern, die im Extremfall bis
zur Kindheit des jeweiligen Flaneurs zurückreichen. Rückblen-
den dieser Art durchziehen etwa die Flanerien des Schriftstellers
Franz Hessel (1880–1941), der in den 1920er-Jahren die Groß-
stadt Berlin durchstreifte:
28
Die Flanerie
29
Textprojekte und Schreibaufgaben I
noch ein eher unauffälliges Kino ist. Betrachtet man aber den
Kinoeingang genauer, so erkennt man, dass dieser Eingang ein-
mal ein prachtvoller Hoteleingang war. Eine kurze Leserremi-
niszenz erinnert an einen einzigen der früheren Gäste und gibt
dem Leser eine Vorstellung davon, welche Gäste es waren, die
gerade dieses Hotel besuchten. Mithilfe dieser Reminiszenz
blendet Lenz in die Welt seiner Vorfahren zurück und erzählt
anhand von wenigen, sehr markanten Details, was diese Vorfah-
ren mit dem früheren Hotel verband.
Solche meisterhaften Passagen gelingen nur, wenn der Fla-
neur nicht nur über die Gabe einer möglichst präzisen Beobach-
tung, sondern auch über viel Erinnerungsmaterial verfügt. Dieses
Material kann aus Lektüren (am besten eignen sich dafür ältere
Reiseliteratur, Memoiren und Autobiografien im weitesten Sinn),
aus eigenen Erinnerungen, aber eben auch aus Erinnerungen von
Familienmitgliedern bestehen.
Ein Projekt der Rückerinnerung an Vergangenes mit dem
Blick auf einen bestimmten und begrenzten städtischen Raum
hat sich der Schriftsteller Peter Kurzeck (geb. 1943) in seinem
Erinnerungsbuch »Mein Bahnhofsviertel« vorgenommen. An-
fang der Achtzigerjahre durchstreifte er noch einmal die Gegend
um den Frankfurter Hauptbahnhof, in der er sich als junger
Mann an Wochenenden der späten Fünfzigerjahre sehr häufig
aufgehalten hatte:
30
Die Flanerie
31
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Schreibaufgabe
n Durchstreifen Sie einen möglichst belebten Straßenzug
in einer möglichst großstädtischen Innenstadt. Notieren Sie
kurz kleine Details, die Ihnen auffallen.
n Überarbeiten Sie später diese Details, nummerieren Sie die
korrigierten Texte und komponieren Sie so eine durchnum-
merierte Folge von flaneurartigen Momenteindrücken in einer
bestimmten Straße.
n Wollen Sie das Projekt erweitern, so flanieren Sie in einem
Straßenterrain, das Sie schon aus der Kindheit kennen.
n Beobachten Sie genau, wie sich dieses Terrain verändert
hat: Welche Details Ihrer Kindheitseindrücke sind noch vor-
handen, welche haben sich verändert ?
n Erzählen Sie von Ihren Kindheitseindrücken, indem Sie die-
se Erinnerungen mit noch vorhandenen Gegenständen oder
Personen in Beziehung bringen.
n Wollen Sie Ihr Revier noch weitgehender erforschen, so
fragen Sie andere Personen, die es aus der Vergangenheit
kennen, nach ihren Eindrücken.
n Notieren Sie diese Eindrücke und ergänzen Sie das Materi-
al eventuell durch Lektüren.
n Schreiben Sie dann eine flaneurartige Schilderung des
Terrains, indem Sie von ihm aus den unterschiedlichsten zeit-
lichen und personalen Erinnerungsperspektiven erzählen.
32
5. Die Wanderung
33
Textprojekte und Schreibaufgaben I
dann hinter sich lassen. Das Wandern ist durch eine solche Fol-
ge von Stationen bestimmt. Jede einzelne Station signalisiert,
wie nahe der Wanderer dem großen Ziel, an dem er seine Wan-
derung als Ganzes ausrichtet, bereits gekommen ist. Die Station
hat dadurch die Aufgabe, den Verlauf der Annäherung an das
Ziel zu markieren und festzulegen. Gleichzeitig ist die Station
aber auch selbst ein Ziel, sodass man sie als ein Ziel im Kleinen
verstehen könnte. Der Wanderer bewegt sich also auf solche Zie-
le im Kleinen und letztlich auf ein großes Ziel zu.
Genau diese Orientierungen hin auf Ziele machen denn
auch vor allem die Besonderheiten der Wanderung aus. So spiel-
en der Wanderweg und seine Umgebung zwar immer eine nicht
unbedeutende Rolle, dominanter als die Aufmerksamkeit für den
Weg ist aber das Empfinden des Wanderers, sich auf einem Weg
hin zu einem Ziel zu bewegen. Den Weg kennt er meist noch
nicht, aber das Ziel hat er zumindest schon vor seinem inneren
Auge. So werden die einzelnen Details des Weges in der Be-
schreibung der Wanderung meist nur gestreift oder erwähnt,
während das Ziel eine längere Beschreibung oder sogar eine
besondere Würdigung erfährt.
Oft ist es ein besonderer Raum, eine einsam gelegene Hütte,
ein Bergplateau, ein Dorf, eine kleine Siedlung an einem Fluss
oder auch eine Stadt. Der erste Anblick dieses Raums hat etwas
Erlösendes, sodass seine spätere Schilderung nicht selten auch
etwas von einer Würdigung oder einer Feier im Kleinen hat. Der
Wanderer empfindet Genugtuung darüber, einen bestimmten
Weg glücklich zurückgelegt zu haben. Was er an einer Station
empfindet und dann schließlich feiert, ist das Glück der Ankunft.
Matsuo Bashô ist ein Meister solcher Würdigungen. Viele Stati-
onen und kleine Ziele würdigt er durch ein kleines Gedicht, ein
Haiku. Ein solches Haiku hält in nur drei Zeilen einige Beson-
derheiten der Station fest. Indem es niedergeschrieben wird,
34
Die Wanderung
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir in der Tem-
pelherberge am Fuße des Berges um ein Nachtlager baten. Dann
stiegen wir hinauf zu den oberen Tempelhallen. Fels auf Fels liegt
da übereinandergeschichtet und bildet diesen Berg. Die Kiefern
und Eichen sind hochbejahrt, die Erde und das Gestein uralt, das
Moos ist von schlüpfriger Glätte. Die auf Steingrund gebauten
Tempelgebäude hatten ihre Torflügel alle geschlossen. Kein Laut
war zu vernehmen. Wir umstreiften die Klippen, krochen unter
manch einem Felsspalt hindurch und verweilten andächtig vor der
Buddha-Halle.
Einzigartig verschwiegen war die ganze Landschaft um uns, ich
hatte das untrügliche Gefühl, daß sie allein nur für uns da war,
um unser Herz zu läutern.
Shizukasa ya
Iwa ni shimi-iru
Semi no koe
Stille … !
Tief bohrt sich in den Fels
25
das Sirren der Zikaden …
Bashôs Haiku ist ein kleines Gedicht auf die glückliche Ankunft
und die nun einkehrende abendliche Stille an einer bestimmten
Station. All seine Wege laufen immerzu auf solche Stationen zu,
35
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Das Prechtal entlang, es geht steil bergauf, kaum Autos, es ist neblig
verhangen und ein ständiges Nässen in der Luft. Immer höher hinauf.
Braunes Farnkraut, geknickt, klebt am Boden. Hoher Wald und tiefe,
dampfende Täler. Die Wolken und der Nebel, die ziehen über einen
weg. Wasser vom Schmelzen rieselt überall, ganz oben gehe ich nur
26
noch in den Wolken, von allen Steinen tropft es.
Eher summarisch nimmt der Wanderer Herzog hier von der Um-
gebung Notiz. Eingewoben in diese Wahrnehmungen der unmit-
telbaren Umgebung sind kurze, fortlaufende Hinweise auf die
Fortbewegung: Es geht steil bergauf …, immer höher hinauf …,
und ganz oben … – geht man in Wolken. So setzt sich ein derar-
36
Die Wanderung
Was ich sehe, ist das unerwartete plötzliche, ganz grundlose Auf- und
Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm. Der Schat-
tenriß eines holzbeladenen Menschen auf dem Wiesenpfad. Die dün-
ne Physiognomie eines Jasminzweiges, über den Gartenmauerrand
27
gelehnt. Das Verzittern einer fremden Kinderstimme in der Luft.
37
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Schreibaufgabe
n Machen Sie während einer Wanderung zunächst nur kurze
Notate von der Umgebung, und zwar solche summarischer
(vgl. Herzog) und solche vertiefender (vgl. Roth) Art.
n Nehmen Sie sich an Ihrem Ziel ausführlich Zeit, die Beson-
derheit dieses Ziels zu erfassen und darzustellen, indem Sie
sich fragen, worin das besondere Glück einer Ankunft besteht:
In einem Ausblick ? Im Ankommen in einem geschützten
Raum ? In einer bestimmten, beruhigenden Atmosphäre, nach
der Sie sich die ganze Wanderung über gesehnt haben ?
n Arbeiten Sie Ihre Weg-Notate und die Darstellung der An-
kunft dann an einem freien Tag aus, indem Sie Ihre Texte zu
einer Gesamtdarstellung dieser Wanderung zusammenfügen.
n Versuchen Sie, dieser Darstellung auch dadurch einen dra-
maturgischen Akzent zu verleihen, dass Sie dann und wann
Spannung aufkommen lassen. (Ist der eingeschlagene Weg
richtig ? Werde ich es bis zum Abend wirklich schaffen, mein
Ziel zu erreichen ? Etc.)
38
6. Die Reise um mein Zimmer
Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter
dem fünfundvierzigsten Breitengrad; seine Lage zeigt von Osten
nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechs-
unddreißig Schritt im Umfang hat.28
Kommen wir nun zur letzten unserer »Vorübungen«, die wir, wie
schon angedeutet, auch vor einer Reise, gleichsam als Aufwärm-
training, durchführen können. Sie dienen, wie jetzt wohl gut zu
erkennen ist, dem besseren Verständnis von prototypischen Be-
wegungen im Raum. So können diese Vorübungen dazu beitra-
gen, derartige Bewegungen möglichst genau zu unterscheiden
und darüber nachzudenken, wie sie in schriftlicher, literarischer
Form möglichst adäquat darzustellen wären.
Zuletzt geht es um eine auf den ersten Blick kurios erscheinende
Bewegung: die Reise um das eigene Zimmer. Der Literaturwissen-
schaftler Bernd Stiegler hat das Genre dieser merkwürdigen Reisen
neuerdings in einem Buch gründlich erforscht. Aus diesem Buch
kann man sich für eigene Texte viele Anregungen holen, die an die-
29
ser Stelle leider nicht ausführlicher vorgestellt werden können.
Stattdessen konzentrieren wir uns hier auf ein Buch des fran-
zösischen Schriftstellers Xavier de Maistre (1763–1852), das
unter den Texten dieses Genres das bekannteste ist, und zeigen
anhand dieses Beispiels, wie man eine solche Reise inszenieren
und beschreiben könnte.
Xavier de Maistres »Die Reise um mein Zimmer« erschien
28 Xavier
de Maistre: Die Reise um mein Zimmer., S. 11.
29 BerndStiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte des Reisens im
und um das Zimmer herum. Frankfurt/M. 2010.
39
Textprojekte und Schreibaufgaben I
40
Die Reise um mein Zimmer
tung erweckt sie gleichsam zum Leben, und indem sie lebendig
werden, zeigen sie dem Betrachter, was sie genau mit seinem
eigenen Leben verbindet.
So erscheint das Bett eben nicht nur als einfaches Nachtlager,
sondern als eine Liege, die es dem Liegenden erlaubt, einen klei-
nen Film zu verfolgen. Dieser Film besteht aus dem Spiel der
Sonnenstrahlen auf den Vorhängen, ihrem Vorrücken und ihren
durch die Ulmen gebrochenen Reflexen auf dem Bett. Zur Optik
dieser bewegten Bilder tritt eine besondere Akustik: das Gezwit-
scher der Vögel. Bild und Ton zusammen versetzen den Betrach-
ter in eine gewisse Stimmung, es ist eine typische Morgenstim-
mung, eine Stimmung angenehmster Empfindungen.
De Maistre untersucht seinen privaten Raum also mit dem
Blick darauf, wie die Einzelheiten dieses Raums sein eigenes
Leben prägen und bestimmen. An den räumlichen Gegebenhei-
ten und den aufgestöberten Dingen entlang wird so eine biogra-
fische Geschichte individueller Passionen und Lebensformen
erzählt. Der kleine Raum und seine Dinge entlocken de Maistre
intime Szenen und kleine, sonst nicht weiter bemerkte »Sensa-
tionen«, die das alltägliche Leben ausmachen.
Dass de Maistre sie jetzt genauer bemerkt und ganz nebenbei
auch besser versteht, lässt ihn sein eigenes Leben und Erleben ins-
gesamt genauer durchschauen. Zugleich führen derartige Beschrei-
bungen und Schilderungen aber auch dazu, dass der sonst
»gewöhnlich« gescholtene Alltag eine besondere Würdigung er-
fährt. Plötzlich erhalten viele seiner Momente eine eigene Schön-
heit, die auch diese Momente zu etwas Besonderem machen.
42 Tage dauert diese seltsame Reise, die man natürlich nicht
nur zu Hause, sondern auch auf weiten Reisen unternehmen kann.
Dann begibt man sich in einem Hotelzimmer oder sonst einem
kleinen geschlossenen, bewohnten Raum auf weite Fahrt …
41
Textprojekte und Schreibaufgaben I
Schreibaufgabe
n Durchstreifen Sie den geschlossenen Raum, den Sie er-
forschen wollen, zunächst ohne einen bestimmten Plan und
notieren Sie jene Raumdetails oder Gegenstände, denen Sie
sich dann länger widmen werden.
n Machen Sie zu jedem dieser Details und Gegenstände
kurze Notizen und fragen Sie sich dabei, wann und wie sie in
Ihrem alltäglichen Leben erscheinen und eine Rolle spielen.
n Denken Sie dabei auch an die unterschiedlichsten Zeiten,
also etwa an bestimmte Wochentage, an die Jahreszeiten, an
Kindheitstage oder an Zeiten, als Sie krank waren.
n Nach Abschluss Ihrer Notizen überlegen Sie sich einen
Weg durch Ihr Zimmer, mit dessen Hilfe Sie die einzelnen
Geschichten miteinander verbinden können.
n Nehmen Sie sich dann ausreichend Zeit, von diesem Weg
und seinen einzelnen Stationen ausführlich zu erzählen, und
widmen Sie jedem Raumdetail ein eigenes Kapitel.
n Lassen Sie sich zusätzlich von Bill Brysons Buch »Eine
kurze Geschichte der alltäglichen Dinge« inspirieren, das
von den verschiedenen Räumlichkeiten eines Hauses (Küche,
Flur, Treppe, Badezimmer etc.) auf sehr verblüffende Weise
berichtet.31
31 Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge. Ins Deutsche übertragen
von Sigrid Ruschmeier. München 2011.
42
Textprojekte und Schreibaufgaben II:
Schreiben für sich selbst
7. Das Reisetagebuch
Schon wieder mit jener Dame beisammen, die übrigens auch eine
Schreibnärrin ist. Sie trägt eine Schreibmappe bei sich mit viel
Briefpapier, Karten, Federn und Bleistiften, was im Ganzen sehr
anfeuernd ist.32
So, jetzt sind wir nach einigen Vorübungen wirklich auf Reisen
und sollten uns fragen, wie wir unsere Reiseeindrücke einfangen
und aufschreiben. Als Erstes fällt uns natürlich das klassische
Reisetagebuch ein, in das wir täglich unsere Aufzeichnungen
eintragen könnten. Wann und wo aber sollten wir solche Auf-
zeichnungen machen und wie genau könnten sie aussehen ?
Ein Reisetagebuch ist vor allem dazu da, den zeitlichen Ver-
lauf einer Reise möglichst genau zu protokollieren. Dafür gibt es
mehrere unterschiedliche Methoden, für eine von ihnen sollte
man sich entscheiden, auf keinen Fall aber sollte man ohne aus-
reichende Vorüberlegungen einfach drauflosschreiben. Beginnen
wir also mit diesen Vorüberlegungen und fragen wir uns genau-
er, welche Gründe im Einzelnen für welche Form des Tagebuchs
sprechen.
Täglich Aufzeichnungen in ein Reisetagebuch zu notieren,
das könnte in der Praxis bedeuten: solche Aufzeichnungen
43
Textprojekte und Schreibaufgaben II
33
Limmatrichtung, Uraniasternwarte.
Man merkt diesen Notaten an, dass Kafka sie in einem fast regel-
mäßigen Rhythmus gemacht und immer wieder neu zu ihnen
44
Das Reisetagebuch
45
Textprojekte und Schreibaufgaben II
fen, mal vom Wetter die Rede. Solche Sprünge spiegeln wider,
dass diese Aufzeichnungen dem Rhythmus der plötzlich auftau-
chenden Gedanken und Ideen folgen, wie sie im Gehirn des
Reisenden entstehen. Daher dokumentieren sie nicht – wie Kaf-
kas Aufzeichnungen – Motive und Momente draußen, in der
Umgebung, sondern sie erzählen den Fluss der Gedanken, die im
Kopf während der Reise entstehen.
Angenommen, wir haben für solche regelmäßigen Aufzeich-
nungen während des Tages keine Zeit, könnte man sich aber
auch eine Methode ausdenken, durch die man mithilfe eines ein-
zigen längeren Eintrags den vergangenen Tag rekapituliert und
zusammenfasst. Ein solch längerer Tagebucheintrag könnte am
späten Abend oder in der Nacht eines Tages erfolgen, ja, er
könnte sogar am Morgen des nächsten Tages entstehen, als
Rückblick auf den gerade vergangenen Tag. Ein noch größerer
Abstand zwischen einem solchen Eintrag und dem beschriebe-
nen Tag sollte allerdings nicht entstehen, sonst werden die Ein-
tragungen zu ungenau.
Der französische Schriftsteller Albert Camus (1913–1960)
hat durch solche Aufzeichnungen eine Schifffahrt von Marseille
nach Südamerika im Jahr 1949 festgehalten. Am 2. Juli fasst er
den gerade vergangenen Tag in der Einsamkeit seiner Schiffska-
bine so zusammen:
46
Das Reisetagebuch
während der Tag zu Ende geht, belebt sich das Meer ein wenig,
und während die Lautsprecher an Bord die Eroica schmettern,
entfernen wir uns von den stolzen Küsten Spaniens und lassen Eu-
ropa endgültig hinter uns. Ich blicke unaufhörlich auf dieses Land,
das Herz beklommen.
Nach dem Abendessen Kino. Ein amerikanischer Kitschfilm von
starkem Kaliber, von dem ich nur die ersten Bilder schlucken kann.
Ich kehre zum Meer zurück.35
Man erkennt, dass Camus nicht allzu viel Zeit und Anstrengun-
gen für die tägliche Tagebucheintragung verwenden will. Sie
dient denn auch nicht dem Zweck, detaillierte Beobachtungen
(wie Kafka) festzuhalten oder sich selbst die Reise berichtend
und nachfragend (wie Nooteboom) zu erzählen. Camus möchte
stattdessen nur den Verlauf eines Tages dokumentieren und sich
knapp Rechenschaft darüber ablegen, was zu den verschiedenen
Tageszeiten passiert ist.
Deshalb ist seine Eintragung auch durch die betonte Hervor-
hebung der Tageszeiten gegliedert. Der Morgen, der Mittag, der
Nachmittag, der Abend, die Nacht – Camus ordnet jeder Tages-
zeit ein bestimmtes Ereignis zu, um die kleinen Veränderungen
während des Tages festzuhalten. Sein Eintrag ist der Tagebuch-
eintrag eines Melancholikers, dem auch eine außergewöhnliche
Reise nichts außerordentlich Neues oder gar Sensationelles
beschert. Erst dieses, dann jenes, dann wieder dieses, dann wie-
der jenes – so lässt er den Tag Revue passieren, als fänden im
Grunde gar keine eigentlichen Veränderungen statt und als wäre
die Zeit der Reise kaum unterschieden von der Zeit zu Hause.
So spiegelt sich im Charakter dieser Aufzeichnungen auch
der Charakter Camus’, der gegenüber den Reiseeindrücken sto-
47
Textprojekte und Schreibaufgaben II
48
Das Reisetagebuch
36 Christian Schärf: Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Mannheim 2012.
49
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Schreibaufgabe
n Testen Sie Ihre Tagebuchkapazitäten, indem Sie während
eines einzigen Tages jeweils nur Aufzeichnungen in der Ma-
nier Kafkas, Nootebooms oder Camus’ machen.
n Lassen Sie diese unterschiedlichen Tagebucheintragungen
eine Weile liegen, nehmen Sie die Texte nach einiger Zeit
wieder zur Lektüre vor und überlegen Sie, welche Form der
Aufzeichnungen Ihnen nun (trotz eines vielleicht erheblichen
Arbeitsaufwandes) am besten gefällt oder entspricht.
n Orientieren Sie sich anhand des Buches von Christian
Schärf über weitere mögliche Tagebuchprojekte und überlegen
Sie, welche Konsequenzen die Übernahme eines bestimmten
Projektes für Ihr eigenes Schreiben haben könnte.
n Erweitern Sie Ihr Reisetagebuch durch kleine Skizzen oder
durch eingeklebtes sonstiges Material (Zeitungsausschnitte,
Details von Flyern, Eintrittskarten etc.) und überlegen Sie, wel-
ches Format für Ihr Tagebuch das richtige wäre.
n Schreiben Sie Ihre Aufzeichnungen nicht in linierte oder
(noch schlimmer) karierte Tagebücher, sondern auf absolut
leere Seiten und verwenden Sie dafür die unterschiedlichs-
ten Fineliner oder (feine, dünne) Bleistifte, keineswegs aber
Kugelschreiber.
50
8. Das frei geführte Notizbuch
Lapidarium ist ein Ort (ein Platz in einer Stadt, Hof in einem
Schloß, Patio in einem Museum), wo man gefundene Steine
zusammenträgt, Stücke von Figuren und Fragmente von Bauwer-
51
Textprojekte und Schreibaufgaben II
ken – hier das Bruchstück eines Torsos oder einer Hand, dort der
Brocken eines Gesimses oder einer Säule, mit einem Wort, Dinge,
die Teil eines nicht (bereits, noch, mehr) existierenden Ganzen sind
und von denen man nicht weiß, was man mit ihnen anfangen
soll.38
52
Das frei geführte Notizbuch
53
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Bäume spenden Frieden, sie retten uns, sie sind die letzten Freunde,
die letzten Verteidiger.
____
Alte Leute gehen so langsam und vorsichtig, als hätten sie Angst,
jeden Moment auf eine Mine zu treten.
____
54
Das frei geführte Notizbuch
All das bleibt noch offen, denn diese Notizen eines frei (und
das meint: vorläufig, ohne bestimmte Absichten und Zwecke)
geführten Notizbuchs befinden sich in einem Übergangsstadium.
Sie tendieren zu einem längeren Text, aber die Gestalt dieses
Textes ist noch nicht klar.
Diese Offenheit und Unbestimmtheit kann man auch an
einer dritten Kategorie von Kapuścińkis Notizen beobachten.
Solche Notizen macht er im Jahr 1982 in Warschau:
55
Textprojekte und Schreibaufgaben II
56
Das frei geführte Notizbuch
Schreibaufgabe
n Schreiben Sie auf die erste Seite Ihres freien Notizbuchs
eine knappe Notiz dazu, wo und an welchem Tag Sie mit
diesen Notizen begonnen haben.
n Nehmen Sie sich immer wieder ein bestimmtes Terrain ei-
ner Stadt, eines Dorfes oder einer Landschaft vor und machen
Sie in diesem Terrain kurze Aufzeichnungen der verschiedens-
ten Art.
n Setzen Sie Ihre Aufzeichnungen gut sichtbar, z. B. durch
Leerzeilen oder kleine Striche zwischen den Zeilen, voneinan-
der ab.
n Sind Sie auf den letzten Seiten des Notizbuchs angekom-
men, so lassen Sie einige Seiten frei.
n Lesen Sie dann längere Zeit in Ihren Notizen und überle-
gen Sie, mit welchen Details des Raumes oder mit welchen
Themen generell Sie sich besonders häufig beschäftigt haben.
n Schreiben Sie auf die letzten noch leeren Seiten Ihres
Notizbuchs untereinander einige zentrale Begriffe, die solche
Details oder Themen fixieren und unterscheiden.
n Beenden Sie Ihr freies Notizbuch mit einer knappen Notiz
dazu, wo und an welchem Tag Sie dieses Notizbuch beendet
haben.
57
9. Das thematisch geführte Notizbuch
Ein frei geführtes Notizbuch können wir mit einem relativ ge-
ringen Aufwand aber auch in ein thematisch geführtes Notiz-
buch verwandeln. Im Netz finden sich dazu in einem auch sonst
sehr lesenswerten und informativen Notizbuchblog44 einige
Notizbuchregeln45 von Christian Mähler, die man sich einmal
genauer anschauen sollte.
Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass der Autor
darüber nachdenkt, wie man die losen und noch ungeordneten
Einträge in einem freien Notizbuch ordnen und miteinander
verbinden könnte. Dazu schlägt er bestimmte zusätzliche Einträ-
ge auf jeder Notizbuchseite vor:
In der linken oberen Ecke sollten immer ein oder zwei Stichworte
als Schlüsselworte stehen, die durch einen Kasten eingerahmt sind.
Das hilft beim späteren Durchblättern und schnellen Auffinden
von Einträgen. Es mag manchem etwas zu formal und eintönig
anmuten, ist es aber ganz und gar nicht. Das Buch bekommt da-
durch eine schöne Durchgängigkeit und ist wesentlich produktiver
43 Jean-Paul Sartre: Königin Albemarle oder Der letzte Tourist. Fragmente, S. 205.
44 http://www.notizbuchblog.de/about/
45 http://www.notizbuchblog.de/ebook/25_Notizbuchregeln.pdf
58
Themen auf reisen
46 http://www.notizbuchblog.de/ebook/25_Notizbuchregeln.pdf, S. 5.
47 Zu den Kategorien findet man Genaueres auf Seite 10 der Notizbuchregeln.
59
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Themenliste zu Venedig
1. Keine Aggressivität.
2. Glatte Fassaden.
3. Das Auge verliert sich.
4. Die Geschwindigkeit des Boliden.
5. Keine Reflexivität.
6. Narzißmus.
7. Denken des Wassers.
8. Die Tiefe.
9. Die Erinnerung an meinen Wahnsinn.48
60
Themen auf reisen
61
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Das Wasser ist zu brav; man hört es nicht. Von einem Verdacht
ergriffen, beuge ich mich hinaus: der Himmel ist hineingefallen. Es
wagt sich kaum zu rühren, und seine Millionen Falten wiegen
verwirrt die unstet aufblitzende, mürrische Reliquie. Da hinten,
gen Osten, hört der Kanal auf, dort beginnt die große, milchige
Lache, die sich bis nach Chioggia hinzieht; aber auf dieser Seite ist
das Wasser weg: mein Blick rutscht von einer Glasfläche ab, gleitet
aus und verliert sich zum Lido hin in trübem Glast. Es ist kalt, ein
unscheinbarer Tag kündet seine Kreide an …49
Schreibaufgabe
n Machen Sie sich vor einem Aufenthalt in einer Stadt, einem
Dorf oder einer Landschaft kleine Listen mit den Orten, an
denen Sie sich aufhalten wollen, und mit den Themen, die Sie
an den jeweiligen Orten verfolgen wollen.
n Ordnen Sie bestimmte Orte den Themen zu und überlegen
Sie, wie Sie an Material zu Ihren Themen kommen.
n Notieren Sie später in einem thematisch geführten Notiz-
buch, dessen Seiten Sie durchnummerieren und oben links
jeweils mit einem Themenkasten versehen, Notate, die an
den Themen ausgerichtet sind.
n Überlegen Sie, wie sich diese Themen miteinander verbin-
den ließen, und entwerfen Sie einen Übersichtsplan, auf dem
die Themen durch Linien miteinander verbunden sind.
62
9.2 Dinge auf Reisen
Ich packe meinen Koffer und nehme mit: die Taucherbrille, das
Badezeug, den Regenschirm, das Medikament gegen Reisekrank-
heit usw.50
50 Daniella Seidl/Johannes Moser: Dinge auf Reisen. In: Dinge auf Reisen. Materiel-
le Kultur und Tourismus. Hrsg. von Johannes Moser und Daniella Seidl. Münster
2009, S. 11.
63
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Lisa Bock heiße ich und in meiner Handtasche habe ich ein selbst
gehäkeltes Spitzentaschentuch. Ich bin Gastwirtin und habe zwei
Jahre die Landwirtschaftsschule besucht. Da habe ich auch häkeln
gelernt, nähen und weben. Das ist jetzt ein eher einfaches Muster,
ich habe schon viel schönere Sachen gemacht.
Was habe ich denn noch hier ? Ein Odol-Mundspray, das ist ganz
wichtig. Ein Reinigungstuch für meine Brille: Alles klar ! Und
ein Lippenstift von Jade, ich mach die rosarote Farbe. Mein Sohn
Käthe meint, ich mach da ein bisschen viel drauf, aber ich mach das
51
leiden.
64
Dinge auf Reisen
65
Textprojekte und Schreibaufgaben II
55 Gottfried
Korff: Sieben Fragen zu den Alltagsdingen. In: Alltagsdinge. Erkundun-
gen zur materiellen Kultur. Hrsg. von Gudrun König. Tübingen 2002.
66
Dinge auf Reisen
Schreibaufgabe
n Legen Sie eine kleine Liste all der Gegenstände an, die Sie
während eines Reisetags unbedingt in einer Tasche etc. mit
sich führen, und notieren Sie Erinnerungen oder Geschichten,
die mit diesen Gegenständen verbunden sind.
n Führen Sie auf Ihrer Reise immer wieder »Raumerkun-
dungen« durch, indem Sie jene Gegenstände auflisten und
beschreiben, die Sie an bestimmten, häufig von Ihnen aufge-
suchten Räumlichkeiten immer wieder vorfinden oder sogar
in die Hand nehmen.
n Fragen Sie sich, welche Sinne die einzelnen Gegenstände in
Ihrer Tasche oder in einem Raum besonders ansprechen, und
beschreiben Sie diese Sinneseindrücke.
n Notieren Sie dann, zu welchen Emotionen diese Sinnes-
eindrücke im Einzelnen beitragen, und beschreiben Sie nur
anhand der Beschreibung von Gegenständen jene häufiger
aufgesuchten Räume, in denen Sie sich während Ihrer Reise
besonders wohl, und im Gegensatz dazu auch jene Räume,
an denen Sie sich unwohl oder »fehl am Platz« fühlen.
67
9.3 Gastrosophisches Schreiben auf Reisen
Wenn man in Frankreich nach Süden reist und kurz hinter Valence
nach Mornas kommt, dann erlebt man, daß ein neuer Geschmack
beim Essen hinzukommt, der Geschmack des Knoblauchs.56
68
Gastrosophisches Schreiben auf Reisen
uns vor Ort erkundigen, woher diese Produkte kommen und wie
sie gerade in dieser Region verarbeitet werden.
Während solcher Streif- und Erkundungsgänge sollten wir
ein kleines Wörterbuch anlegen, das die Begriffe für die jeweili-
gen Speisen in der Originalsprache festhält. Wir sollten also zu-
nächst den fremdsprachigen Namen, dann eine mögliche Über-
setzung und schließlich die Eindrücke notieren, die wir von der
jeweiligen Speise durch erste Betrachtungen gewonnen haben:
Wie sieht sie aus ? Wie breit ? Wie groß ? Welche Farben ? Wel-
cher Geruch ? Sieht sie anziehend aus ? Wie sollte man weiter
mit dieser Speise umgehen ? Zerlegen ? Zerschneiden ? Als Gan-
zes zubereiten ? Usw.
Anregungen für solche Notate könnten wir aus einem wegen
seiner originellen Beschreibungen berühmt gewordenen »Appe-
titlexikon« des späten neunzehnten Jahrhunderts gewinnen, in
dem Speisen etwa so beschrieben werden:
69
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Sauerkraut ist ein typisches Gericht der Deutschen, die ganz ver-
rückt danach sind. Auch ist es sprichwörtlich geworden, nämlich als
sicheres Mittel, sich totschlagen zu lassen; so wie in Italien, wenn
man dort die Frauen nicht hübsch findet, oder in England, wenn
man über die Freiheiten disputiert, die das Volk dort erreicht hat,
so schwebt man in Deutschland in höchster Lebensgefahr, wenn
man nicht verkündet, daß Sauerkraut eine göttliche Speise sei …
Vorzugsweise wird Sauerkraut in Fässern konserviert, und zwar
unter einer Schicht von Essig, Wein oder einer anderen säurehalti-
gen Flüssigkeit. Meist verwendet man Weißkohl. Man entfernt die
hängenden Blätter am Stiel, schneidet das Herzstück in Scheiben
und hobelt es mit einer Art Küferhobel. So entstehen winzig
schmale Streifen, die sich wie Bänder entfalten. Der Boden des
Fasses wird mit Meersalz bedeckt, und darauf kommt eine Schicht
59
des gehobelten Kohls.
70
Gastrosophisches Schreiben auf Reisen
71
Textprojekte und Schreibaufgaben II
Schreibaufgabe
n Fotografieren Sie auf Märkten, in Markthallen, in Metzge-
reien, Gemüse-, Obst-, Käse- und Brotläden etc. das Angebot
und nehmen Sie dabei immer nur ein einzelnes Produkt auf.
Notieren Sie den fremdsprachigen Namen des Produkts und
beschreiben Sie es genauer, wie oben angegeben.
n Fotografieren Sie die kleinen und großen Mahlzeiten, die
Sie während eines Tages zu sich nehmen (vergessen Sie die
Getränke nicht). Notieren Sie die einzelnen Bestandteile die-
ser Mahlzeiten in der jeweiligen Landessprache und beschrei-
ben Sie den Geschmack der einzelnen Speisen und Getränke.
n Legen Sie ein Wörterbuch der verschiedenen Produkte so-
wie der Mahlzeiten an, und erzählen Sie in den Artikeln dieses
Wörterbuchs, was Sie über diese Produkte und die Mahlzeiten
alles erfahren haben.
n Notieren Sie Rezepte der jeweiligen Reiseregion und
versuchen Sie nach Ihrer Rückkehr nach Hause, einige dieser
Rezepte nachzukochen. Erzählen Sie von Ihren Erfahrungen
während des Kochens und schließlich auch vom Genuss der
selbst zubereiteten Speisen.
n Laden Sie zu diesem Genuss eine Tischgesellschaft ein und
protokollieren Sie die Gespräche während des Essens, indem
Sie diese Gespräche aufnehmen und auf einer CD festhalten.
72
9.4 Fragen auf Reisen
73
Textprojekte und Schreibaufgaben II
74
Fragen auf Reisen
75
Textprojekte und Schreibaufgaben II
76
Fragen auf Reisen
Schreibaufgabe
n Nehmen Sie an einem bestimmten Ort (in einem Café, auf
einer Parkbank, am Strand) Platz und notieren Sie sich eine
Liste von Fragen, die sich auf diesen Ort beziehen.
n Beantworten Sie diese Fragen dann schriftlich, indem Sie
den Gefühlen und Empfindungen nachgehen, die Ihre Fragen
berühren.
n Sammeln Sie während Ihrer Reise immer wieder Fragen
zum Verlauf der Reise und zu einzelnen Ereignissen, die Sie
besonders irritiert haben.
n Beantworten Sie diese Fragen zum Verlauf Ihrer Reise als
Ganzes dann am Ende Ihrer Reise und versuchen Sie, mit
diesen Antworten zu einem Resümee der Reise zu gelangen.
(In der umgänglichen Version könnten die Fragen etwa so
lauten: Welche Momente der Reise bleiben Ihnen besonders
in Erinnerung ? Waren Sie insgesamt gerne unterwegs oder
nicht ? Was hat Sie während Ihrer Reise besonders enttäuscht ?
Würden Sie diese Reise in dieser Form noch einmal machen ?
In der sezierenden Version aber wären Fragen wie etwa die
folgenden denkbar: Wenn Sie Ihr eigener Begleiter auf dieser
Reise gewesen wären, hätten Sie während der Reise dann
manchmal auf die Idee kommen können, diesen Begleiter zu
erschießen, weil Sie ihn einfach nicht mehr ertragen oder aus-
gestanden, ja, weil Sie ihn gehasst hätten ? Was im Einzelnen
hätte diesen Hass hervorgerufen und was hätte Sie davon
abgehalten, wirklich so rigoros zu verfahren ?)
77
Textprojekte und Schreibauf-
gaben III: Schreiben für und an
andere
Meine liebe Telefonklingel, stell Dir vor, ich bin in einer Stadt, da
lachen die Autos.70
Machen wir uns nun einige Gedanken zu Texten, die wir nicht
für uns selbst, sondern vor allem für andere schreiben. Seit jeher
nämlich hat das Reisen auch dazu animiert, die eigenen Beob-
achtungen und Gedanken nicht für sich zu behalten, sondern sie
den Zuhausegebliebenen bereits während der Reise mitzuteilen.
Für Texte solcher Art ist wichtig, dass wir den Empfänger immer
im Auge behalten. Wenn wir für andere schreiben, sollten wir
unsere Mitteilungen selektieren und uns fragen: Was interessiert
den Empfänger wirklich ? Und wie unterhalten wir ihn gut,
anstatt ihn mit Allerweltsmitteilungen über das Wetter, kleine
Leiden oder zu hohe Preise zu nerven ?
Eine der beliebtesten Formen solcher Mitteilungen war im
71
letzten Jahrhundert die Ansichtskarte. Sie erlaubte es, einen
kurzen schriftlichen Gruß mit einer Fotografie des Reiseortes
78
Die Ansichtskarte
auf der Rückseite zu verbinden. Oft nahm der Text auf das Foto
Bezug, hob ein Detail hervor oder skizzierte eher summarisch
einen Eindruck des jeweiligen Ortes. Ansichtskarten in dieser
Form waren »Lebenszeichen«, die den Empfängern signalisieren
sollten, dass die Reisenden sich wirklich »vor Ort« befanden, dass
es ihnen auch in der Fremde gut ging und dass sie an die Empfän-
ger der Grußbotschaften dachten.72 Insofern waren solche Karten
die direkten Vorläufer der heutigen erheblich rascheren elektroni-
schen Grußformen. Seit es SMS, MMS oder Mails gibt, sind
Ansichtskarten daher auch immer seltener geworden. Was aber
nicht heißt, dass man mit ihnen nicht experimentieren und sie
nicht als literarische Textformen verstehen und nutzen könnte.
Wie man so etwas macht, zeigen auf besonders brillante Wei-
se die Ansichtskarten, die der Schriftsteller Jurek Becker (1937
bis 1997) an seine Freunde und an seinen Sohn Jonathan ge-
schrieben hat. Während seiner Reisen ist Becker dafür oft auf
Suche nach besonders komischen oder abgefahrenen Bildmotiven
gegangen, zu denen er dann kleine Kommentare geschrieben hat.
Im Januar 1988 reist er zum Beispiel nach Hawaii, die An-
sichtskarte, die er seinen Berliner Freunden schickt, zeigt eine
Gruppe von Hawaiianern mit entblößten Oberkörpern, buntem
Lendenschurz und Schmuck: drei Männer, drei Frauen, alle
übertrieben lachend, alle auf einem Boot. Dazu schreibt Becker:
79
Textprojekte und Schreibaufgaben III
Du alte Leseratte,
hast Du schon je auf einer einzigen Postkarte ein solches Durch-
einander gesehen ? Ein Telefon, Sterne, ein flatterndes Segel, eine
Sonne, ein abgenagter Fisch, eine Sanduhr und was nicht alles ! Ich
glaube, der Maler hatte ein bißchen viel Phantasie. Einen Regen-
wurm sehe ich auch noch. Und Du ( ?)
74
Dein Paps
80
Die Ansichtskarte
Du alter Seeräuber,
interessiert es Dich, wohin Batman und Robin so schnell mit ihrem
Boot fahren ? Batman hat fürchterlichen Hunger (er hat nämlich
nicht gefrühstückt) und will im Restaurant fünf doppelte Hambur-
ger essen. Und Robin muß ganz nötig pinkeln, das kann er auch in
dem Restaurant machen. Und danach wollen die beiden sich noch
ein bißchen zum Mittagsschlaf aufs Ohr legen, denn heute ist nicht
viel los mit den Verbrechern.
75
Dein Paps
Anhand solcher Texte kann man gut erkennen, wie lebendig und
unterhaltsam man auch auf kleinstem Raum schreiben kann.
Voraussetzung ist, dass sich die Texte eng auf das Bildmotiv
beziehen und dabei kleine Erzählungen entwerfen, die zur
genaueren Betrachtung des Bildmotivs anleiten. Diese »Anlei-
tung« muss jedoch unmerklich und locker geschehen, sodass der
Betrachter die Freiheit behält, auf eine solche Erzählung mit
einer eigenen Erzählung zu reagieren.
Gelungene Ansichtskarten-Texte beschäftigen den Empfän-
ger daher sowohl mit dem Bild als auch mit offenen Stellen im
Text. Sie sorgen dafür, dass der Empfänger eine solche Karte
nicht gähnend oder sonstwie gelangweilt beiseitelegt, sondern
hin und her wendet auf der Suche nach genau jenem Text, den
er selbst zu diesem Motiv geschrieben hätte. So gesehen, sind
gelungene Ansichtskarten-Texte Animateure: Sie machen Lust,
81
Textprojekte und Schreibaufgaben III
Schreibaufgabe
n Suchen Sie während einer Reise nach Ansichtskarten, die
statt der üblichen Ferienmotive ein merkwürdiges Detail Ihres
Urlaubsortes aus ungewohnter Perspektive zeigen.
n Schreiben Sie zu diesem Detail eine kleine Erzählung: Wie
Sie darauf gestoßen sind, was danach so alles passiert ist und
wie Sie mit der Sache fertig geworden sind.
n Erzählen Sie so, als wollten Sie bloß einen Erzählvorschlag
machen und als könnte es auch noch andere Erzählversionen
zu demselben Bildmotiv geben.
n Verstehen Sie Ihre Karte als einen Versuch, auf freund-
schaftliche und heitere Art eine enge Verbindung nach Hause
herzustellen, vermeiden Sie deshalb jede solipsistische Reise-
larmoyanz.
n Schreiben Sie nicht nur eine Ansichtskarte, sondern schrei-
ben Sie an ein und denselben Empfänger viele Ansichtskarten,
am besten Tag für Tag eine. So arbeiten Sie ganz nebenbei an
einem neuen literarischen Genre: der Fortsetzungserzählung
auf Ansichtskarten.
82
11. Der Reisebrief
Auch der Brief von unterwegs ist auf den ersten Blick eine Mit-
teilungsform, die nicht mehr zeitgemäß erscheint. Und doch hat
gerade dieses Genre noch immer seine eigene Schönheit und
Würde. Einen Brief zu schreiben setzt nämlich voraus, dass man
sich auch wegen seiner Herstellung einige Gedanken macht.
Man tippt nicht einfach nur eine Botschaft auf einer Tastatur,
sondern macht sich zunächst einmal auf die Suche nach ange-
messenen Materialien, nach Briefbögen und Briefumschlägen,
nach Briefmarken und Tinte. (In manchen Hotelzimmern findet
man auf dem obligatorischen kleinen Schreibtisch noch immer
eine ledergebundene Schreibmappe, in der sich hoteleigenes
Briefpapier und hoteleigene Briefumschläge mit dem Aufdruck
der Hoteladresse befinden. Einen wahren Schreiber verleiten sie
sofort zum Schreiben.)
Briefe wollen mit Füllfederhalter und Tinte auf bestem
Papier geschrieben und in Briefumschläge gesteckt werden, die
auf der vorderen Seite oben rechts eine leuchtende Briefmarke
schmückt. Das beweist, dass Briefe eben nicht einfache Mittei-
lungen oder Botschaften, sondern im Grunde kleine Geschenke
sind. Sie werden mit der Hand geschrieben und sind mit einem
gewissen zeitlichen Aufwand verbunden.
Später werden sie sogar verpackt und frankiert, sodass sie
beinahe wie minimalistische Schatzkästchen erscheinen. Denn
ähnlich wie in Schatzkätzchen verbergen sich auch in Briefen
83
Textprojekte und Schreibaufgaben III
84
Der Reisebrief
Das ist ein Ausschnitt aus einem Brief des begnadeten Brief-
schreibers Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957), der als
Literat durch seinen Roman »Il gattopardo« weltberühmt gewor-
den ist. Lampedusas Brief stammt aus dem Jahre 1928, sein aus
Sizilien stammender Verfasser ist auf Tour durch Europa. Gera-
de ist er in London eingetroffen und erzählt nun von einem
Empfang in der dortigen französischen Botschaft.
Das Zeremoniell steht ihm dabei noch so nah und direkt vor
Augen, dass er es unbedingt im Präsens mitteilen muss. Schaut
mit mir hin, will er den Empfängern des Briefes (zwei seiner
Lieblingscousins in Sizilien) sagen, schaut, wie die Botschafte-
rin dasteht, schaut, was für eine Erscheinung ! Werft mit mir
einen kurzen Blick auf ihre Gestalt, auf ihr Gesichtspuder, auf
ihre blutlosen Wangen ! Und nun hört, wie der Haushofmeister
die klangvollen, aber urkomischen Namen der Gäste aufruft !
Und nun seht, wie sich die drei lautstark angekündigten Herr-
schaften dem Botschafter nähern ! Und nun erkennt, wie er um
Worte ringt und wie er dabei dramatisch scheitert, urkomisch
auch das !
Als Empfänger eines solchen Briefes nimmt man genau wahr,
85
Textprojekte und Schreibaufgaben III
86
Der Reisebrief
sondern eine Szene und Bilder. Wo liege ich, was umgibt mich,
was passiert, wer spricht mit mir, was antworte ich ? Lampedusa
zeigt sich von allem Fremden, was ihm auf Reisen begegnet, so
beschäftigt und so animiert, dass er gar keine Zeit für längere
Selbstbetrachtungen findet. Stattdessen stellt er das Fremde in
seinem Gären, Kreisen und Sichproduzieren aus, während er
selbst von der Überfülle des Geschehenden und Gesehenen bei-
nahe verschlungen zu werden droht: »Das Monstrum fühlt sich
durch so viele Ortswechsel langsam wie ein Kreisel.«79
Genau so aber sollte es sein. Ein guter Brief zeigt den Rei-
senden inmitten eines sehr bunten Geschehens, mit großen
Augen alles Neue und Sonderbare aufschnappend und mit has-
tiger, fliegender Feder alles notierend, immer mit dem Blick auf
den einen Empfänger, dem man seine Mitteilungen zum beson-
deren Geschenk macht.
Vor allem aber lässt ein solcher Brief eine einzigartige, unver-
wechselbare Stimme hören, beinahe so, als handelte es sich um
eine gesungene Arie. Eine solche Stimme hat unterschiedliche
Tempi, sie bewegt sich sehr individuell in Höhe und Tiefe, sie
setzt ab, holt Luft, nimmt einen neuen Anlauf. Eng ist sie mit
dem Nervensystem und daher mit dem Körper des Schreibenden
verbunden. Reisebriefe im besten Sinne sind also Nerven- und
Körperbotschaften, sie übersetzen das Atmen, Schwitzen, Rumo-
ren oder Abtauchen auf Reisen in kleinste sprachliche Partikel,
in Gestalt eines momentanen sprachlichen Dramas.
87
Textprojekte und Schreibaufgaben III
Schreibaufgabe
n Schreiben Sie an einem (oder an mehreren Tagen, also
stückweise) einen Brief an eine Person, die Sie schätzen, mö-
gen oder lieben.
n Erzählen Sie darin, möglichst nahe an dem, was Sie erlebt
haben, von bestimmten Momenten oder Szenen, die den
besonderen Charakter der fremden Umgebung auf lebendige
Weise vermitteln.
n Schweifen Sie nicht ab und verstehen Sie Ihre Rolle als die
eines präzise beobachtenden Auges.
n Erzählen Sie vom fremden Leben auf heitere und das heißt
souveräne Art: belustigt, amüsiert.
n Behalten Sie aber immer den Empfänger des Briefes im
Auge, beziehen Sie sich auf seine besonderen Interessen und
Vorlieben, sprechen Sie ihn diskret an, fragen Sie ihn etwas,
erwecken Sie den Eindruck, dass Sie sich mit ihm austau-
schen wollen und dass es Ihnen darauf ankommt, seine
Meinung zu einer Sache zu hören. (Auch wenn Ihr Brief kein
Liebesbrief ist [die besten Briefe sind Liebesbriefe]), so sollte
Ihr Brief doch ein Liebesmoment enthalten: das der Verliebt-
heit in all das, was Sie gerade gesehen haben und was Sie
erregt.)
88
12. Mediales Schreiben
80 Anna
Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ? Neues aus
SMSvonGesternNacht.de., S. 114.
89
Textprojekte und Schreibaufgaben III
90
Simsen, mailen und twittern
91
Textprojekte und Schreibaufgaben III
3:10
Hi Spatz, wann kommst du nach Hause ?
92
Simsen, mailen und twittern
3:21
Gleich, zieh dich schon mal aus und leg dich ins Bett ! ;-)
3:22
Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. LG Mama82
12:38
Und, gute Fahrt gehabt ?
13:02
Fängt zumindest gut an, sitze verkatert und übernächtigt
ohne Reiseplan in einem Regio ins Blaue und werde nur noch von
83
Spucke und Optimismus zusammengehalten.
82 Anna Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ?, S. 138.
83 Anna Koch/Axel Lilienblum (Hrsg.): Ist meine Hose noch bei euch ?, S. 237.
93
Textprojekte und Schreibaufgaben III
21. 01. 03
Eben komme ich aus einem zweiten Türkischen Bad, das ich aus-
probieren wollte. Es gibt insgesamt drei von diesen alten, origi-
nalen Dampfstuben. Die dritte ist zur Zeit geschlossen. Ich wollte
die beiden anderen gesehen haben, um dann auch wirklich fundiert
Auskunft geben zu können über diese Art Badekultur. Offenbar
habe ich den falschen Nachmittag erwischt. Eine geschlossene Ver-
anstaltung des lokalen Wichsvereins. Unappetitlich. Lauter ältere
Männer unseres Semesters. Mindestens vierzig. Ich wusste kaum,
wo hingucken. In den Becken lagen sie beinahe geschichtet im
kollektiven Samen. In der Dampfstube Leib an Leib. Ich zog mich
also in die Sauna zurück, dort war es den meisten zu heiß und zu
94
Simsen, mailen und twittern
trocken. Da saß ich dann auf einer Pritsche und tropfte vor mich
hin. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch eine Massage gebucht.
Nach kurzem holte mich ein fetter, unsympathischer Kerl aus der
Sauna, sagte Massage, Massage, und ging vor mir her.84
84 Matthias
Zschokke: Lieber Niels, S. 19.
85 Eine
gute Anleitung findet man bei Tim O’Reilly und Sarah Milstein: Das Twitter-
Buch. Deutsche Übersetzung von Jørgen W. Lang. Köln 2009.
95
Textprojekte und Schreibaufgaben III
Sam atmete schwer. Er starrte auf den Zettel. »Du darfst mor-
gen auf keinen Fall in den Flieger steigen !«, stand dort. In seiner
Handschrift.
86 Florian Meimberg: Auf die Länge kommt es an. Tiny Tales. Sehr kurze Geschichten,
S. 76 und 78.
96
Simsen, mailen und twittern
Schreibaufgaben
n Bevor Sie sich auf ein intensives mediales Schreiben auf
Reisen einlassen, überlegen Sie genau, ob ein solches Schrei-
ben Ihre Reisezeit nicht zu sehr beansprucht oder Ihnen viel
von der Aufmerksamkeit für die Fremde entzieht.
n Wollen Sie nicht allzu viel Zeit investieren, senden Sie dann
und wann eine SMS und inszenieren Sie – wie gezeigt – einen
kurzen Dialog.
n Wollen Sie etwas mehr Zeit investieren, twittern Sie mehr-
mals am Tag und konstruieren Sie dabei kleine Geschichten,
die den Lesern die Aufgabe stellen, Ihre geheimen Wege
durch einen unbekannten Kosmos anhand kleiner Hinweise
zu erraten und zu verfolgen.
n Wollen Sie aber einen intensiveren Austausch über das,
was Sie auf einer Reise so alles sehen, schreiben Sie Mails, in
denen Sie das Gesehene erzählen und kommentieren, und
zwar immer mit dem Blick darauf, dass Sie vom Empfänger
ebenfalls einen Kommentar zu Ihrem Text erwarten.
97
12.2 Schreiben in Facebook und Bloggen
98
schreiben in facebook und bloggen
Kevin Kuhn hey, lass mich doch hier nicht allein !!!!
09. März 2010 um 12:24 88
99
Textprojekte und Schreibaufgaben III
Ganz anders steht es mit dem Bloggen. Das Bloggen auf Reisen
könnte nämlich eine gute, praktische und vor allem einfache
Methode sein, die vielfältigsten Beobachtungen und Textsorten in
einem übergeordneten Erzählzusammenhang zu präsentieren.
Das Zentrum dieses Erzählzusammenhangs wäre man selbst, und
zwar so, wie es der Journalist und Extrem-Blogger Andrew Sul-
livan in einem gescheiten Essay über das Bloggen beschrieben hat:
100
schreiben in facebook und bloggen
Man schreibt schließlich über sich selbst, da man ein relativ fester
Punkt ist in dieser ständigen Interaktion mit den Ideen und Fak-
ten der Außenwelt. Und in diesem Sinne ist diejenige traditionelle
Form, die den Blogs am nächsten kommt, das Tagebuch. Mit dem
Unterschied jedoch, dass ein Tagebuch immer eine Privatangelegen-
heit ist.89
Das Bloggen ist Tagebuch, aber ein Tagebuch, das von vornher-
ein für eine möglichst breite Netz-Leserschaft entsteht. Sein Ton
ist dadurch auch weniger bedächtig und selbstbezogen als der
des bloß privaten Tagebuchs. Der Blogger spricht offener, freier
und vor allem mehr auf die Außenwelt bezogen als der im
Privaten verharrende Tagebuchschreiber. »Interaktion mit den
Ideen und Fakten der Außenwelt« nennt Sullivan diese Offen-
heit, und damit meint er, dass ein Blog Themen setzen und die
Arbeit an diesen Themen möglichst von Tag zu Tag fortsetzen
sollte.
Themenarbeit würde dann bedeuten: Viele Hinweise und
Dokumente am Wegrand sammeln und mit dem eigenen Blog
verlinken, Texte zu den spezifischen Kulturen der jeweiligen
Fremde aufspüren, kommentieren und weiterverfolgen, Umge-
bungen fotografieren und die Fotos kommentiert in den Blog
integrieren, Musik in jeder Form sammeln, Beispiele in den Blog
stellen und wiederum kommentieren etc. Dabei gilt:
101
Textprojekte und Schreibaufgaben III
Der Blogger beobachtet und reagiert aber nicht nur auf sich
selbst, er reagiert (wenn er das denn will) auch auf die Netz-
Öffentlichkeit, die sich zu seinem Blog äußert, nachfragt, Fehler
korrigiert oder alternative Kommentare abgibt. In diesem Sinn
ist das Bloggen immer auch ein Zusammenarbeiten und Kom-
munizieren, ein stetes Verbessern und Weiterforschen, auf der
Suche nach immer neuen Entdeckungen und Details.
»Reisen« als Tätigkeit und Lebenspraxis könnte eine ideale
Basis gerade für gutes Bloggen sein. Am idealsten wäre dann
aber vielleicht ein Reisen, das sich Zeit nähme, sich von einem
bestimmten Ort oder Punkt aus zu artikulieren. Besser für das
relativ zeitaufwendige und intensive Bloggen wäre es also, meh-
rere Wochen suchend und forschend an einem einzigen Ort zu
verbringen, als in diesen Wochen reisend täglich an einem ande-
ren Ort zu sein.
Auch und gerade das Bloggen braucht Ruhe und Konzentrati-
on, ja, es braucht einen »Standort«. Die Fremde führt ihm wie von
selbst ein unendlich vielfältiges, reiches Material zu. In alle Rich-
tungen und zu den unterschiedlichsten Themenbereichen (Politik,
Sport, Gastronomie, Ökonomie, Städtebau, Verkehr etc.) verlau-
fen die Spuren, man braucht sich bloß auf den Straßen (und
gleichzeitig im Netz) zu bewegen, um sie zu verfolgen. Gespräche
mit Einheimischen, die man mitschneidet und ins Netz stellt,
Geräuschkulissen, die man wie Musik behandelt und in die eige-
nen Texte integriert: Bloggen könnte die multimediale Form
schlechthin sein, um auf das Überangebot an Themen während
einer Reise zu reagieren.
102
schreiben in facebook und bloggen
Schreibaufgaben
Wie man in Facebook schreibt oder wie man bloggt, weiß
heutzutage beinahe jeder – und wenn nicht, ist darüber viel in
dem Buch von Stephan Porombka über das Experimentieren
mit Blogs und Facebook (ebenfalls in dieser DUDEN-Reihe)
zu erfahren.92 Genauere Hinweise darauf, wie man beide
Textformen auch auf Reisen einsetzen könnte, wurden bereits
gegeben. Deshalb gibt es an dieser Stelle ausnahmsweise
keine weiteren konkreten Schreibaufgaben.
103
Textprojekte und Schreibauf-
gaben IV: Reiseprojekte
Die Sonne ist der Adler mit den feurigen Pfeilen, Herr und Gott
des Jahres. Sie scheint, glänzt und strahlt.93
Kommen wir nun zu einem Schreiben auf Reisen, das sich einer
bestimmten Perspektive verschreibt. Eine solche Perspektive ist
hilfreich, weil sie den Blick und das Interesse des Reisenden
fokussiert und durch ein bereits vor der Reise entworfenes Rei-
seprojekt ein tiefer gehendes und gründlicheres Verständnis der
Fremde erlaubt. Ein Reisender, der so projektgebunden reist,
lässt andere Perspektiven bewusst außer Acht und versteht das
Reisen als einen Forschungsprozess, bei dem es vor allem um
Erkenntnisse und Erfahrungen in einem bestimmten For-
schungsfeld geht.
Dieses Forschungsfeld muss nicht wissenschaftlicher Natur
sein, vielmehr gibt es durchaus auch ästhetische, die Kommuni-
kation betreffende oder einfach nur persönliche Forschungsfelder.
Einige Beispiele aus solchen Bereichen sollen in diesem vierten
Großkapitel nun vorgestellt und zur Nachahmung oder Ausein-
andersetzung empfohlen werden.
Beginnen wir mit dem ethnologischen Schreiben. Nach der
Eroberung Mexikos durch die Spanier hielt sich im 16. Jahrhun-
93 Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, S. 117.
104
Ethnologisches Schreiben
105
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
106
Ethnologisches Schreiben
Zunächst einmal haben die Stäbchen – ihre Form sagt dies bereits
zur Genüge – eine deiktische Funktion: Sie zeigen die Nahrung,
bezeichnen das Stück und verleihen – durch die Auswahlgeste
schlechthin, d. h. durch den Index – Existenz. Statt daß die Nah-
rungsaufnahme zu einer mechanischen Abfolge geriete, bei der man
sich darauf beschränkte, die Bestandteile eines Gerichtes hinunter-
zuschlingen, bezeichnen die Stäbchen, was sie auswählen (wählen
107
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
für den Augenblick dies und nicht das), und führen damit in den
Nahrungsgebrauch zwar keine Ordnung, wohl aber Phantasie und
so etwas wie Muße ein: in jedem Falle eine Tätigkeit, die nicht
mehr mechanisch, sondern intelligent ist. Eine weitere Funktion
des Stäbchenpaares liegt darin, das Stück Speise einzuklemmen
(und nicht mehr fortzureißen, wie es unsere Gabeln tun) …95
108
Ethnologisches Schreiben
Schreibaufgabe
n Machen Sie sich zunächst mit den unterschiedlichsten
Lebenswelten in der Fremde (Straßen, Plätze, Märkte, öffent-
liche Zentren, intimere Versammlungsorte etc.) vertraut und
wählen Sie einige dieser Orte, die Sie besonders anziehen, für
längere Beobachtungsphasen aus.
n Beobachten Sie genau, was sich an diesen Orten ereignet
und welchen Gebrauch die Bewohner im Einzelnen mithilfe
welcher Praktiken und Rituale von diesen Orten machen.
n Lassen Sie sich von den Einheimischen über die verschie-
denen Bedeutungen unterrichten, die der jeweilige Ort für
sie hat: Wann besuchen sie diesen Raum ? Wohin platzieren
sie sich ? Wie lange halten sie sich an ihm auf ? Was machen
sie während ihres Aufenthaltes alles ? Mit wem nehmen sie
Kontakt auf ? Etc.
n Notieren Sie Ihre Beobachtungen und all das, was Sie von
den Einheimischen erfahren haben, und machen Sie daraus
einen ethnologischen Text, der ein lebensweltliches Detail der
Fremde präsentiert: Menschen, Dinge, Handlungen, Räume –
und das alles aus der Perspektive der Einheimischen selbst.
109
14. Reisen auf den Spuren eines anderen
Im Gästezimmer lag ein großes Buch über van Gogh, und da ich
in meiner ersten Nacht in der Provence nicht schlafen konnte, las
ich mehrere Kapitel, bis ich, den Band auf dem Schoß liegend, doch
einschlief, als in der Fensterecke ein Hauch von Morgenrot erschien.96
110
Reisen auf den Spuren eines Anderen
Es war ein klarer Tag. Ein Mistral wehte, der die Weizenähren
auf einem angrenzenden Feld zauste. Ich hatte tags zuvor schon an
dieser Stelle gesessen, bemerkte aber erst jetzt die zwei hohen Zy-
pressen, die am Ende des Gartens standen – eine Entdeckung, die
mit meiner nächtlichen Lektüre des Kapitels über deren Darstel-
97
lung durch van Gogh zu tun hatte.
De Botton sieht aber nicht nur mit den Augen van Goghs, son-
dern er erinnert sich plötzlich – angesichts der Umgebung, die
nun ausschaut wie von van Gogh gemalt – auch daran, was der
Maler in seinen Briefen aus dieser Gegend über Olivenbäume,
Weizenfelder oder Zypressengruppen gesagt hatte. Die Zypres-
sen zum Beispiel waren ihm wie ägyptische Obelisken erschie-
nen, aus der Nähe betrachtet, zeigten sie einen besonders feinen
Grünton, aus der Ferne dagegen wirkten sie wie schwarze Fle-
cken. Außerdem erschienen die Äste der Zypressen irgendwie
seltsam verdreht und erweckten aus der Ferne den Eindruck
einer im Wind flackernden Flamme.
All das beginnt de Botton nun auch langsam wahrzunehmen,
er nähert sich der Zypressengruppe und betrachtet sie von allen
Seiten. Und genau in diesem Moment wird ihm klar, wo und wie
er sich bewegt: Er bewegt sich in einem allmählich vertrauter
111
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
Durch van Gogh darauf hingelenkt, ging mir auf, dass auch die
Farben in der Provence ungewöhnlich waren. Das hatte klimati-
sche Gründe. Der Mistral, der, von den Alpen kommend, durch das
112
Reisen auf den Spuren eines Anderen
113
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
Natürlich lässt sich ein solches Verfahren nicht nur mit dem
Blick auf bekannte Bilder und Maler anwenden, sondern auch
auf die anderen Künste ausdehnen. Man könnte (sogar sehr
genau) verfolgen, wo und wie Goethe sich während seines langen
Romaufenthaltes in den Jahren von 1786 bis 1788 in Rom
bewegte; oder man könnte Liszt auf seinen Reisen durch die
Schweiz begleiten und sich dabei auf seine Kompositionen
beziehen.
Reisen auf den Spuren eines anderen haben den großen Vor-
zug einer Art von Führung, indem sie sich an bereits vorhande-
nes Material anlehnen und dieses Material neu lesen. Anderer-
seits könnten sie aber auch einen Nachteil haben, nämlich den
einer Verengung. Am Ende würde man dann die Provence kaum
noch mit eigenen Augen sehen, sondern immer und überall nur
mit den Augen van Goghs. Und was wäre dagegen zu tun ?
Zunächst einmal gar nichts. Man sollte das Verfahren der Spu-
rensuche ausprobieren und nebenher ein zweites Notizbuch
anlegen. Und in dieses Notizbuch sollte man eintragen, was
einem selbst so aufgeht, während man die Provence als ein Dop-
pelgänger durchreist.
114
Reisen auf den Spuren eines Anderen
Schreibaufgabe
n Orientieren Sie sich genau, welche bekannten Künstler,
Schriftsteller, Musiker etc. sich an dem von Ihnen bereits ins
Auge gefassten Reiseziel längere Zeit aufgehalten und sich
über diese Zeit auch ausführlicher geäußert haben.
n Verfolgen Sie vor Ort die Wege dieser »Vorgänger«, besu-
chen Sie nach Möglichkeit die Häuser, in denen sie gelebt
haben, und lesen Sie alles, was diese »Vorgänger« über ihren
Aufenthalt geschrieben haben.
n Markieren Sie auf einem Stadtplan diese Wege und Auf-
enthaltsorte und machen Sie sich Notizen über Ihre eigenen
Eindrücke von diesen Orten.
n Beschreiben Sie die Orte, indem Sie sich auf die Arbeiten
Ihrer »Vorgänger« beziehen, und versuchen Sie sich klarzu-
machen, welche neuen Perspektiven über die jeweiligen Orte
Ihnen diese Arbeiten eröffnen.
n Verfolgen und vertiefen Sie diese Perspektiven, indem Sie
anhand der Arbeiten der »Vorgänger« darüber nachdenken,
was das Besondere der Reiseorte ausmacht und wodurch
dieses Besondere eigentlich entstanden ist.
n Verarbeiten Sie all Ihre unterschiedlichen Notizen in einem
Text, in dem Sie Ihren »Vorgänger« durch den gemeinsamen
Reiseort begleiten: Heimlich ? Sich mit ihm unterhaltend ?
Konkret und damit real ? Oder nur in Ihrer Fantasie ? Entschei-
den Sie selbst.
115
15. Reisen zu zweit
116
Reisen zu zweit
Ich tue es, gehe hinauf, er reibt sich mit Seife und Waschlappen, hat
allen möglichen Luxus aus dem Koffer gepackt und geht nicht, ehe
er wieder alles in Ordnung gebracht hat. Ich habe den Koffer nicht
101
geöffnet.
Max Brod ahnt nicht, dass sich Freund Kafka in seinem Hotel-
zimmer keineswegs so wie er beeilt und nur flüchtig mit etwas
Wasser durchs Gesicht gefahren hat. Kafka vielmehr ist zunächst
auf den Balkon seines Hotelzimmers getreten, um einen Blick
auf Paris zu werfen:
117
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
Erstes Heraustreten auf meinen Balkon und Umblick wie wenn ich
jetzt in diesem Zimmer erwacht wäre, während ich doch von der
Nachtfahrt so müde bin, daß ich nicht weiß, ob ich es imstande sein
werde für den ganzen Tag in diese Gassen hinauszulaufen, beson-
ders wie ich sie jetzt von oben aus, noch ohne mich sehe.102
118
Reisen zu zweit
führt sie auch jetzt vor beim Vorwürfemachen den Mund aber auch
das ganze Gesicht süßlich zusammenzuziehn, als suche er dadurch
einerseits das Verständnis seiner Vorwürfe zu befördern und als
wolle er andererseits zeigen, daß nur dieses süßliche Gesicht, das er
gerade hat, ihn davon abhalte mir eine Ohrfeige zu geben …103
…mit mir auf den Balkon trat und die Aussicht besprach, vor al-
lem, wie pariserisch sie sei. Ich sah eigentlich nur wie frisch er war,
wie er sicher zu irgendeinem Paris paßte das ich gar nicht bemerkte,
wie er jetzt aus seinem dunklen Hinterzimmer kommend zum
erstenmal seit einem Jahr in der Sonne auf einen Pariser Bal-
kon trat und sich dessen würdig bewußt war, während ich leider
deutlich müder war, als bei meinem ersten Hinaustreten auf den
Balkon ein Weilchen vor Maxens Kommen. Und meine Müdigkeit
in Paris kann nicht durch Ausschlafen sondern nur durch Weg-
fahren beseitigt werden. Manchmal halte ich das sogar für eine
104
Eigentümlichkeit von Paris.
119
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
Was also zeigt die kleine, vielsagende Szene? Sie stellt den gestan-
denen Schriftsteller Max Brod vor, wie er dabei ist, sich nach den
typischen Vorstellungen, die sich ein gestandener Schriftsteller von
Paris macht, der Weltstadt Paris zu nähern. Er spricht über die Stadt,
er weiß bereits, was pariserisch ist. Und er tut so, als befände er sich
in einem Raum, der sich ihm gleich, während des ersten Spazier-
gangs mit seinem Freund Franz, ganz von selbst öffnen wird.
Für Kafka jedoch verläuft die Annäherung an Paris ganz
anders. Er schweigt, hört zu und versteht nicht, wovon die Rede
ist. Paris erschließt sich ihm ganz und gar nicht auf den ersten
Blick, ja er hat sogar den starken Verdacht, dass Paris sich ihm
überhaupt nicht erschließen wird. Am liebsten würde er gar
nicht erst in die fremden Gassen hinuntergehen, am liebsten
würde er sofort wieder abreisen, so endgültig erscheint bereits in
den ersten Stunden, in denen er in Paris ist, das Bild, das er sich
von dieser Stadt macht.
Anhand dieses Beispiels kann man gut erkennen, wie das Pro-
jekt einer »Reise zu zweit« aussehen könnte. Zwei parallel laufen-
de Notatfolgen von ein und derselben Reise zeigen bei genauerer
Betrachtung die unterschiedlichen Erlebnisformen, mit denen die
beiden Reisenden auf die Fremde reagieren. Im Grunde reichen
die Notizen aber noch weiter, ja sie reichen sogar bis in die tiefsten
Erlebnisstrukturen, die sich nicht nur im Verhältnis der Reisenden
zur Fremde, sondern eben auch in den kleinen Dramen offenbaren,
die sich zwischen den Reisenden abspielen.
Die Reisebeschreibungen, an denen die beiden arbeiten,
arbeiten also in Wahrheit am »Psychodrama des Reisens« in ver-
schiedenen Szenen und Auftritten, mit den entsprechenden
Konflikten und Höhepunkten. Der Reisepartner ist dabei für
jeden der beiden ein geheimer Verstärker oder ein unabsichtli-
cher Provokateur oder ein unerwarteter Analysand der eigenen
Stimmungen.
120
Reisen zu zweit
Schreibaufgabe
n Verreisen Sie mit einer guten Freundin oder einem guten
Freund (die Sie schon seit einiger Zeit kennen und die Ihnen
daher sehr vertraut sind). Verständigen Sie sich darauf, wäh-
rend der gesamten Reise Ihre Eindrücke festzuhalten.
n Sprechen Sie vor der Reise darüber, in welcher Form diese
Reiseeindrücke festgehalten werden sollen. (Als kurze stich-
wortartige Notate ? Als Tagebucheintragungen ? Als fortlaufen-
der Reisebericht ? Als Reiseerzählung ?)
n Sprechen Sie während der Reise nicht über Ihre Aufzeich-
nungen. Notieren Sie stattdessen fortlaufend, welche Details
der Fremde Sie im Einzelnen anziehen, abstoßen oder zumin-
dest interessieren.
121
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
122
16. Künstlerreisen als Reiseprojekte
Wer längere Zeit an einem Ort in eine Richtung schaut, hört, wie
die Natur aus ihrer planetarischen Bewegung heraus spricht. Das
geht von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und setzt sich in der
Erdbewegung fort.105
Vor etwas mehr als zehn Jahren erschienen zwei Nummern der
renommierten Kunstzeitschrift »Kunstforum«, die sich thematisch
auf den Schwerpunkt der Künstlerreise konzentrierten. In Ausga-
ben mit Titeln wie »Ästhetik des Reisens« und »Atlas der Künst-
lerreisen« führten sie ihren Lesern anhand vieler Beispiele vor, dass
die Künstler das Reisen neu für sich entdeckt hatten.106
Jedes Mal ging es dabei um bestimmte, oft bereits vor der
Reise konzipierte und dann während der Reise dokumentierte
Projekte. Es gab Künstler, die mit dem Zug durch ganz Sibirien
und die Mongolei gefahren waren und 131 kleinformatige Aqua-
relle der vorbeiziehenden Landschaft gemalt und dazu dann
einige Texte geschrieben hatten, und es gab andere Künstler, die
das Projekt »Transsibirische Bahn« in einem Schuppen in Darm-
stadt mithilfe einer Installation verwirklicht hatten, die man nur
von außen, durch ein Guckloch, betrachten konnte.
Viele Künstler beschäftigten sich mit dem Thema »Bewe-
gung« oder »Behausung« und untersuchten alternative Formen
der Fortbewegung oder wenig bekannte Formen des flüchtigen
oder nomadischen Wohnens in eher einsamen Gegenden. Wie
funktionierte zum Beispiel »Zen im Gehen« ? Unter anderem so:
123
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
Weiter fest auftreten, die Augen auf das richten, was zwischen drei
und fünf Metern vor uns liegt, die Augen ohne Anspannung über
das Gesehene »schleifen« lassen, und langsam das Sehen mit dem
Schrittrhythmus verbinden, dann mit jedem Schritt den Boden
»heranziehen«, bis sich mit allen Sinnen das unerschütterliche Ge-
fühl einstellt, daß uns die Erde schrittweise entgegenkommt.107
107 Zen im Gehen nach Meister Nuel Rho San. Von Elmar Dalesi und Ralf Kersten.
In: Kunstforum 136, S. 136 f.
108 Michael Rutschky: Das Auto ist eine Kamera. In: Kunstforum Band 136, S. 163.
124
Künstlerreisen als Reiseprojekte
Mit der Zeit bemerkte ich, daß jeder Ort unterschiedliche, ja ganz
eigene Farbtonskalen und Lichtverhältnisse besitzt. Oft konnte
ich die Farben schon aus der Ferne aufgrund der Erdbeschaffenheit
erkennen oder in der flirrenden Tönung der Luft sehen.109
109 Elisabeth Arpagaus: Orte des Lichts. In: Kunstforum Band 137, S. 74.
125
Textprojekte und Schreibaufgaben IV
Wo sich zwei Linien berühren, ist ein Punkt, den Punkt bestim-
me ich, dort schlage ich einen Nagel ein. Der Schatten des Nagels
stellt eine neue Linie dar – die Bewegung des Schattens wird zur
Wahrnehmung von Zeit. Die Richtungsbezogenheit des Nagels
in diese Welt und die Artikulation von Licht und Schatten sind
Dimensionserweiterungen. Man wird rundherum blicken – da uns
110
eine Richtung blind gemacht.
126
Künstlerreisen als Reiseprojekte
Schreibaufgabe
Reiseprojekte dieser Art bedürfen der freien Fantasie vor Ort.
Deshalb sollen hier keine speziellen Aufgaben formuliert wer-
den. Stattdessen könnte man in eher allgemeinem Sinn sagen,
dass solche Projekte sich meist auf noch wenig beobachtete,
beschriebene oder dokumentierte Vorgänge und Details der
Fremde konzentrieren. Solche Details oder Vorgänge machen
sie sich als Erlebnisräume bewusst. Und in diese Erlebnisräu-
me greifen sie dann dokumentierend, hinweisend oder verän-
dernd ein. Den Prozessen dieser Eingriffe gilt schließlich das
eigentliche »Schreiben«: Es präsentiert einen Werkprozess
vor Ort, mit Objekten und in Räumen des jeweiligen Ortes.
127
Textprojekte und Schreibaufgaben V:
Schreiben nach der Reise
Nehmen wir nun an, dass wir mit reichlich Notiz- oder Tage-
buchmaterial von unserer Reise zurückgekehrt sind. Während
wir unterwegs waren, hatten wir selten ausreichend Zeit, unsere
meist knapp gehaltenen Aufzeichnungen auszuarbeiten. Jetzt
aber, nach unserer Rückkehr, können wir das mitgebrachte Text-
material auswerten und zu einem längeren, in sich geschlossenen
Text umschreiben.
Die klassische und älteste Form einer solchen Ausarbeitung
113
ist der Reisebericht (oder auch: die Reisebeschreibung). Einer
der umfangreichsten und bekanntesten Reiseberichte der deut-
schen Literatur stammt von dem Aufklärer Georg Forster
(1754–1794), der seinen Vater bei der zweiten Weltumseglung
128
DER REisebericht
129
Textprojekte und Schreibaufgaben V
Wir waren nicht über zween Tage in dieser Bay gewesen, so wur-
den wir bereits überzeugt, daß sie nicht unbewohnt seyn müsse. Als
nehmlich am 28.Morgens einige unsrer Officier in einem kleinen
Boote auf die Jagd gingen, und etwa zwei oder drey englische
Meilen weit vom Schiffe in eine Bucht hineinruderten, wurden sie
auf dem Strande einige Einwohner gewahr, die ein Canot (Kahn)
ins Wasser setzen wollten. Bey ihrer Annäherung fiengen die Neu-
114
Seeländer an überlaut zu rufen …
Die Passage zeigt, wie Forster erstens daran gelegen ist, einen
wenn auch noch so minimalen Erzählfluss in Bewegung zu hal-
ten: Was passierte dann und dann ? Was passierte darauf ? Gleich-
sam an den Rändern dieses Erzählflusses werden zweitens die
Details genau benannt: Die Offiziere benutzen ein kleines
Ruderboot, sie entfernen sich zwei oder drei englische Seemeilen,
die Einheimischen setzen ein Kanu ins Wasser, dann beginnt ein
überlautes Geschrei. Beide Komponenten werden schließlich
einem plastischen, für den Leser gut vorstellbaren Bildeindruck
untergeordnet. Man sieht die Offiziere aufbrechen, in eine Bucht
hineinrudern und eine Entdeckung machen. Damit ist nicht
zuletzt für eine gewisse Spannung gesorgt.
Die dramaturgischen Mittel sind also sehr einfach, sie dienen
aber der Sache, fesseln den Leser an das Geschehen und geben
durch die Detailangaben zu erkennen, dass der Autor auch wirk-
lich vor Ort gewesen ist und sich gründlich umgeschaut hat.
Genau das ist, knapp gesagt, die Zielsetzung eines guten Rei-
130
Schreiben nach der Reise
Schreibaufgabe
n Verschaffen Sie sich nach einer Reise einen Überblick über
Ihre Notizen und Tagebucheintragungen.
n Entwerfen Sie einen groben ersten Plan Ihres Reiseberichts,
indem Sie die einzelnen Stationen nacheinander festhalten
und zu jeder Station knappe Stichworte notieren.
n Fokussieren Sie anhand dieser Stichworte jeweils auf
bestimmte (möglichst unterschiedliche) Ereignisse, Personen,
Objekte oder Räume der Reise.
n Berichten Sie dann chronologisch, indem Sie in einfacher,
sachlicher Form davon erzählen, was Sie gesehen und erlebt
haben.
n Enthalten Sie sich langer Wertungen oder sonstiger Ab-
schweifungen, schreiben Sie vielmehr bildlich und anschau-
lich, im Dienst an der Sache.
131
18. Die Reiseerzählung
Man konnte barfuß gehen, aber es war kühl im Mai, und Mokas-
sins waren auf den Marmortreppen angenehmer. Man aß herrlich
und trank gut.115
132
Die Reiseerzählung
133
Textprojekte und Schreibaufgaben V
Ich beobachtete ihn, wie er ungeduldig wartete, den Stier nie aus
den Augen verlor, wie er ihn aufmerksam betrachtete, analysierte,
wie er nachdachte, plante. Er sagte Juan, wo er den Stier haben
wollte, und dann ging er hinaus und übernahm den Stier mit vier
tief ausgeführten Manövern; das linke Knie, der Unterschenkel
und der Knöchel im Sand, das rechte Bein ungeschützt, ließ er
den Stier durch die magische Kraft seiner muleta nach vorn und
wieder zurückgehen, versprach ihm alles, bot sich ihm als Ziel an
und zeigte ihm einfühlsam und sanft, daß dieser Teil des tödlichen
117
Spiels weder schmerzhaft noch strapaziös war.
134
Die Reiseerzählung
Kämpfe vor und zeigt Vorgänge, zu denen der Leser nie einen
Zugang haben wird – so wie hier, als Hemingway nach einem
Stierkampf den Torero Antonio aufsucht und der äußerst knap-
pe Dialog dem Torero die Meisterschaft des Kampfes (und dem
Erzähler die Meisterschaft der Beobachtung) bescheinigt, sodass
sich beide auf ein gemeinsames Essen verständigen können:
Oben im Hotel lag Antonio auf dem Bett, müde eher von dem
Tragen auf den Schultern als vom Kampf, und lächelte sein dunkles,
glückliches Lächeln.
»Contento, Ernesto ?« fragte er.
»Muy contento.«
»Ich auch«, sagte er. »Hast du gesehen, wie er war ?
Hast du alles mitbekommen ?«
»Ich glaube schon«, sagte ich.
»Laßt uns in Fraga essen.«
»In Ordnung.«
»Fahrt vorsichtig.«
118
»Wir sehen uns in Fraga«, sagte ich.
135
Textprojekte und Schreibaufgaben V
136
Die Reiseerzählung
Schreibaufgabe
n Verschaffen Sie sich einen guten Überblick über die No-
tizen und Tagebuchaufzeichnungen, die Sie während einer
Reise gemacht haben.
n Legen Sie eine kleine Liste der Personen an, mit denen Sie
gereist bzw. mit denen Sie während Ihrer Reise zusammenge-
troffen sind. Halten Sie auch kurz das Aussehen, bestimmte
Eigenheiten und charakteristische Handlungsweisen dieser
Personen fest. Überlegen Sie, welche dieser Personen Sie in
Ihrer Erzählung auftreten lassen wollen.
n Fertigen Sie eine Skizze der Reisestrecke mit ihren verschie-
denen Stationen an und notieren Sie, was Sie an diesen Stati-
onen erlebt haben, welche dieser Erlebnisse sich gut erzählen
ließen und welche Personen dabei auftreten sollen.
n Überlegen Sie, welche Themen (oder Obsessionen etc.) die
Reise bestimmten und wie diese Themen durch die Erzählung
der Reiseerlebnisse vertieft oder dramatisiert werden könnten.
n Erzählen Sie die Reise dann als eine Geschichte aus der
Perspektive eines Erzählers. (Sind das Sie selbst ? Oder ist
es ein anderes Mitglied der Reisegruppe ?) Bleiben Sie dabei
nahe an den Erlebnissen und arbeiten Sie mit lebendigen, die
Personen charakterisierenden Dialogen.
137
19. Der Reiseroman
Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich
recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige
Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das
lange Dorf hinaus.120
138
Der Reiseroman
Als ich eine Strecke so fortgewandert war, sah ich rechts von der
Straße einen sehr schönen Baumgarten, wo die Morgensonne so
lustig zwischen den Stämmen und Wipfeln hindurchschimmerte,
dass es aussah, als wäre der Rasen mit goldenen Teppichen belegt.
Da ich keinen Menschen erblickte, stieg ich über den niedrigen
Gartenzaun und legte mich recht behaglich unter einem Apfelbaum
121
ins Gras …
121 Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 28.
139
Textprojekte und Schreibaufgaben V
Der Typ überbrüllte das Dröhnen einfach, und ich musste bloß zu-
rückbrüllen, und das war total locker. Und er ballerte die Kiste bis
nach Rapid City, Iowa, durch, brüllte mir echt witzige Geschichten
zu, wie er in jeder Stadt mit unfairem Tempolimit die Gesetzeshü-
ter zum Narren hielt, und wiederholte immer wieder, »mir werfen
122
die Cops keine Knüppel zwischen die Beine.« Er war wunderbar.
140
Der Reiseroman
141
Textprojekte und Schreibaufgaben V
Schreibaufgabe
n Versuchen Sie, das erste Kapitel eines Reiseromans zu
schreiben.
n Lassen Sie diesen Roman an einem Ort beginnen, den Sie
gut kennen, benennen Sie diesen Ort aber nicht.
n Fangen Sie mit einer Aufbruchsszene an: Die Hauptfigur
macht sich plötzlich zunächst noch allein auf den Weg.
n Folgen Sie ihr auf diesem Weg eine Weile und beschreiben
Sie die schwankenden Stimmungen der Figur, eingebettet in
kurze Beschreibungen oder Andeutungen der Außenwelt.
n Führen Sie Ihre Figur so zu ihrer ersten Station. Gönnen
Sie ihr einen Moment des längeren Verweilens und konfron-
tieren Sie die Figur dann mit ihrer ersten »Begegnung«.
n Machen Sie aus dieser »Begegnung« (mit einer anderen
Figur oder einem Gegenstand etc.) einen spannenden, aben-
teuerlichen Moment.
142
Nachbetrachtung:
Kleine Methodik des Schreibens
auf Reisen
143
Nachbetrachtung
144
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen
145
Nachbetrachtung
halb datieren und nur auf der rechten Seite eines Heftes schrei-
ben (bei Spiralheften ist das Beschreiben auf der linken Seite
sowieso nicht sehr praktisch). Auch Zeichnungen und Skizzen
sollten immer nur auf der rechten Seite eines Heftes erscheinen.
So füllt man während einer Reise mehrere Notizbücher, hat es
jedoch punktuell immer nur mit einem einzigen Notizbuch zu
tun.
Der Clou daran ist, dass man die vollgeschriebenen (und
datierten) rechten Seiten nach der Reise aus den Notizheften
herauslösen und sie auf die Seiten eines großen blanko Skizzen-
blocks (zu empfehlen ist das Format DIN A3) kleben kann. Auf
einem solchen Großformat finden dann alle während der Reise
gemachten Aufzeichnungen (der unterschiedlichsten Textver-
fahren) über- oder nebeneinander Platz. Zeichnungen und Foto-
grafien lassen sich leicht den Texten zuordnen oder in sie integ-
rieren. Das Endprodukt ist dann ein einziger Skizzenblock, der
alle einzeln gemachten Aufzeichnungen in all ihrer Buntheit
sammelt und zu einer Gesamtdarstellung vereinigt.
Die anderen Formen einer Gesamtdarstellung der Reise
wären die schon angesprochenen: Reisebericht, Reiseerzählung,
Reiseroman. Entschließt man sich für eine dieser aus der Rück-
schau konzipierten Formen, so hat das während der Reise gesam-
melte Material lediglich die Aufgabe einer vorläufigen Quellen-
und Dokumentensammlung. Der später geschriebene Gesamttext
dagegen erscheint in sich geschlossen und wirkt dadurch oft
souverän und abgerundet.
Frischer, lebendiger und vielleicht sogar anarchischer könnten
aber Dokumentationen (wie der große Skizzenblock) ausfallen,
in denen alles während einer Reise geschriebene, gezeichnete
oder fotografierte Material in bunter Form gesammelt er-
scheint. Eine solche Präsentation wird die direkten Wahrneh-
mungsprozesse im Verlauf der Reise in den Mittelpunkt rücken
146
Kleine Methodik des Schreibens auf Reisen
147
Literaturverzeichnis
Zitierte Primärliteratur
Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de
Sahagún. Übersetzungen von Leonhard Schultze Jena, Eduard
Seler und Sabine Dedenbach-Salazar-Sáenz. Frankfurt/M. 1989.
Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Aus dem Französi-
schen von Michael Bischoff. Frankfurt/M. 1981.
[Becker, Jurek:] Jurek Beckers Neuigkeiten an Manfred Krug &
Otti. Hrsg. und kommentiert von Manfred Krug. Düsseldorf
1997.
[Becker, Jurek:] Lieber Johnny. Jurek Beckers Postkarten an sei-
nen Sohn Jonathan. Hrsg. von Trude Trunk. Berlin 2006.
Botton, Alain de: Kunst des Reisens. Aus dem Englischen von
Silvia Morawetz. Frankfurt/M. 2002.
Brod, Max: Reise Lugano – Mailand – Paris. In: Max Brod/
Franz Kafka: Eine Freundschaft. Reiseaufzeichnungen. Hrsg.
unter Mitarbeit von Hannelore Rodlauer von Malcolm Pas-
ley. Frankfurt/M. 1987.
Camus, Albert: Reisetagebücher. Hrsg. und mit einer Einfüh-
rung von Roger Quilliot. Deutsch von Guido G. Meister.
Reinbek bei Hamburg 1980.
Cohn, Nik: Das Herz der Welt. Aus dem Amerikanischen von
Dirk van Gunsteren. München 1992.
Corino, Eva: Das TASCHENbuch. Berlin 2001.
Dumas, Alexandre: Aus dem Wörterbuch der Kochkünste. Aus
dem Französischen übersetzt und hrsg. von Joachim Schultz.
München 2002.
148
Zitierte Primärliteratur
149
Literaturverzeichnis
150
Weitere Primärliteratur
151
Literaturverzeichnis
152
Weitere Primärliteratur
153
Literaturverzeichnis
154
Sekundärliteratur
155
Literaturverzeichnis
156
Sekundärliteratur
157
Literaturverzeichnis
158
Ein Schreibverführer neuen Typs
Die literarische Schreibwerkstatt
als Meisterkurs!
Schreiben dicht am Leben. Schreiben Tag für Tag. Schreiben unter Strom.
Notieren und Skizzieren. Journal und Tagebuch. Experimentieren mit Twitter,
Blogs, Facebook & Co.
Von Hanns-Josef Ortheil Von Christian Schärf
160 Seiten. Herausgeber: Von Stephan Porombka
Festeinband, Hanns-Josef Ortheil Herausgeber:
abgerundete Ecken 160 Seiten. Festeinband, Hanns-Josef Ortheil
und Lesebändchen abgerundete Ecken 160 Seiten. Festeinband,
978-3-411-74911-9 und Lesebändchen abgerundete Ecken
978-3-411-74901-0 und Lesebändchen
978-3-411-74921-8
KREATIVES SCHREIBEN
Schreiben
auf Reisen.
Ein Schreibverführer neuen Typs: die literarische
Schreibwerkstatt als Meisterkurs. Kein Lehrbuch
mit Geboten und Regeln, sondern ein breites
ISBN 978-3-411-75371-0
14,95 3 (D) • 15,40 3 (A)