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Europa und ich: Ohnmacht und/oder


Mitgestaltung?
Wolfgang Palaver
Was ist christlich an Europa

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Bürgerkrieg und Part isanent um im Werk von Carl Schmit t


Niklaas Machunsky
E u ro p a u n d ic h : tischen Modells, das ein friedliches Zusammenleben von
O h n m a c h t u n d /o d e r M itg e s ta ltu n g ? Regionen, Staaten, Kulturen und Religionen in Europa
möglich macht, ohne dazu auf äußere Feinde angewiesen
zu sein. Diese Aufgabe bedeutet einerseits eine Weiterent-
W o lfg a n g P a la v e r vutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
wicklung jenes einzigartigen Friedensprojektes in Europa,
das 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemein-
Auf den ersten Blick erscheint das einzelne Individuum schaft für Kohle und Stahl als Antwort auf die Katastrophe
dem großen politischen Gebilde Europa gegenüber als hilf- des Zweiten Weltkriegs begonnen wurde und über ver-
los und ohnmächtig. Doch dieser oberflächliche Eindruck schiedene Zwischenstufen vorläufig zu jener gegenwärtigen
muss korrigiert und ergänzt werden. Gegen den vorherr- Europäischen Union geführt hat, die seit Mai 2004
schenden Trend, die individuelle Existenz und die politi- 25 Staaten umfasst. Der politischen Einigung Europas
schen Strukturen völlig voneinander loszulösen, möchte kommt andererseits aber auch eine weltweite Bedeutung
der folgende Beitrag zeigen, dass bei aller Unterschieden- zu, weil es angesichts einer immer enger zusammenwach-
heit der beiden Ebenen auch ein wichtiger Zusammenhang senden Welt neue Formen des politischen Zusammenlebens
- eine Verbindung von Mystik und Politik - festgehalten braucht, die Solidarität und Einheit nicht mehr durch die
werden muss. Mein Beitrag zielt auf die spirituellen Abgrenzung von einem gemeinsamen Feind herzustellen
Grundlagen, die ein christliches Engagement für die politi- versuchen. Wer die politischen Probleme der Globalisie-
sche Gestaltung Europas voraussetzt. rung wirklich zur Kenntnis nimmt - der globale Terroris-
Die Antwort auf das gestellte Thema erfolgt in drei mus und die dagegen geführten Kriege sind an erster Stelle
Schritten. Erstens wird die gegenwärtig vordringlichste zu nennen -, wird erkennen, dass wir heute vor der Auf-
politische Aufgabe Europas erörtert, bei der es um den gabe stehen, Formen des politischen Zusammenlebens zu
Aufbau einer positiven Identität geht, die nicht auf Kosten entwickeln, die über alle bisherigen Modelle hinausgehen
äußerer gemeinsamer Feinde gewonnen wird. Zweitens müssen.
stellt sich die Frage nach den tieferen Wurzeln politischer Ein unverstellter Blick auf die europäische Geschichte
Feindschaften, um dadurch zeigen zu können, dass schon zeigt, dass die Überwindung von politischen Freund-Feind-
unser Verhalten im ganz gewöhnlichen Lebensalltag über Mustern im Zentrum unserer zukünftigen Anstrengungen
die großen politischen Entwicklungen mitentscheidet. Drit- liegen muss. Obwohl das Moment der Feindschaft nicht
tens wird mit dem spezifischen Beitrag auseinandergesetzt, zwingend zur Politik gehört, lässt sich in der politischen
den die christlichen Kirchen zu einer positiven europä- Geschichte Europas unschwer immer wieder die prägende
ischen Identität beitragen können. Kraft verschiedenster Freund-Feind-Muster entdecken.
Schon in der griechischen Antike finden sich klare Ausfor-
mulierungen des politischen Feinddenkens. In Aischylos'
D a s p o litis c h e Z u k u n fts p ro je k t E u ro p a s :
TragödieGFEDCBA
D ie E u m e n id e n aus dem 5. Jahrhundert vor
E u ro p ä is c h e Id e n titä t o h n e ä u ß e re F e in d e
'Christus wird gezeigt, wie die Überwindung des Bürger-
Am Beginn der Überlegungen soll eine der zentralen poli- kriegs in der Stadt Athen erst durch die kollektive Feind-
tischen Aufgaben stehen, die Europa heute und in Zukunft schaft nach außen möglich wurde. Die entscheidenden
zu bewältigen hat. Es geht um die Entwicklung eines poli- Verse betonen zwar das positive Ziel der Politik - gemein-

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same Freude und einmütige Liebe -, aber der gemeinsame Feinde, die im Mittelalter für die Entstehung des christli-
Hass als Möglichkeitsbedingung dafür wird nicht ver- chen Europas bestimmend waren: »insolentia Saracenorum,
schwiegen: »Freuden mög wechselnd man tauschen, / Ein- schisma Graecorum und sevitia Tartarorum« - die über-
mütig liebenden Herzens, / Und auch hassen eines Sinns!« heblichen Sarazenen! Araber, die schismatischen Griechen!
(Aischylos, V. 984-986; vgl. Palaver, Quellen 36f.) Der Byzanz und die schrecklichen Tataren/Mongolen (zit, nach
Krieg gegen die äußeren Feinde der Polis soll den inneren Geremek 92). Am Ende des Mittelalters tauchte mit den
Frieden herstellen. Türken ein neuer äußerer Feind auf, der wiederum den
Natürlich gehören diese kulturgeschichtlich wichtigen inneren Zusammenhalt in Europa stärkte. Zu Recht fasst
Verse nicht zur Geschichte Europas im engeren Sinn, aber der Essayist Denis de Rougemont diese Periode der euro-
sie sind ein früher Beleg für ein politisches Muster, das päischen Geschichte im Kapitel »Der Türke als Sünden-
auch tiefe Spuren in Europa selbst hinterlassen hat. Im bock« zusammen (de Rougemont 80-82).
8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung findet sich ein erster Der Zusammenbruch der mittelalterlichen Einheit der
Beleg für die politische Verwendung des Begriffs Europa, europäischen Christenheit förderte hingegen das Entstehen
der gleichzeitig auch deutlich vom Freund-Feind-Denken politischer Freund-Feind-Muster im Inneren Europas. Der
geprägt ist. Anlässlich des Sieges von Karl Martell über die neuzeitliche Nationalstaat prägte und prägt bis heute die
muslimischen Araber in der Schlacht von Poitiers im Jahre politische Ordnung auf unserem Kontinent. Seine konsti-
732 wird von den siegreichen Europäern -GFEDCBAE uropenses - tutive Feindschaft nach außen konnte zwar die mit der
gesprochen, die sich gegen den gemeinsamen Feind ver- Entstehung des Kapitalismus einhergehende zunehmende
bündet hatten (vgl. de Rougemont 46f.).1 Neben den mus- innerstaatliche Konkurrenz einhegen, indem er deren nega-
limischen Arabern diente später auch das östliche Byzanz tive Folgen - den Neid, der so leicht mit dem Wetteifer
als Feind zur Selbstidentifikation eines auf den Westen be- einhergehen kann - nach außen ableitete, gleichzeitig be-
schränkten Europas (vgl. Harle 67f.). drohte der Nationalstaat aber in Folge der technischen
Auch im Mittelalter war das politische Europabewusst- Entwicklung immer mehr den Weltfrieden, weil die aus
sein eng mit dem Kampf gegen gemeinsame Feinde ver- den nationalen Feindschaften hervorgehenden Kriege sich
bunden. Äußere Feinde - vorrangig der Islam - trugen nicht mehr begrenzen ließen. Zwei Weltkriege haben uns
wesentlich zur Entstehung einer europäischen Identität bei. im vergangenen Jahrhundert gezeigt, dass der traditionelle
Vor allem die Kreuzzüge dienten der Einheit der westli- Nationalstaat mit seiner konstitutiven Verfeindung nach
chen Christenheit, indem sie den Kampf gegen islamische außen in der modernen Welt seine moralische Berechtigung
Araber, Juden und das östliche Byzanz antrieben. Ebenso verloren hat. Das europäische Einheitsprojekt verdankt
förderte das Vordringen der Mongolen im Osten Europas sich ausdrücklich dieser Einsicht. Ein politisch geeintes
diese innere Einheit. Auf dem Ersten Konzil von Lyon im Europa soll zukünftige Kriege für immer verhindern.
Jahre 1245 nannte Papst Innozenz IV. die drei äußeren Doch auch die Geschichte der Europäischen Union
bleibt von Freund-Feind-Mustern begleitet. Der nach dem
Zweiten Weltkrieg ausbrechende Kalte Krieg spaltete die
De Rougemont 46: »Zum ersten Mal wird hier mit dem Wort
Europäer eine kontinentale Gemeinschaft bezeichnet, die alle Völker Welt in Ost und West und trug damit indirekt auch zur
nördlich der Pyrenäen und der Alpen umfaßt und die sich gegen Einigung Westeuropas bei. Die Erbfeinde Deutschland und
einen gemeinsamen Feind verteidigt.« Frankreich konnten sich angesichts eines gemeinsamen

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Feindes im Osten - die Sowjetunion mit ihren Satelliten- leben, die an der Wiege des politischen Europas stand.
staaten - leichter einigen. Deutliche antiislamische Stellungnahmen des italienischen
Das Ende des Kalten Krieges hat Europa vor die Aufga- Ministerpräsidenten Berlusconi oder des russischen Präsi-
be gestellt, den Einigungsprozess voranzutreiben, ohne denten Putin lassen erkennen, dass heute auch wieder die
weiter auf gemeinsame Feinde angewiesen zu sein. Gerade Gefahr besteht, Europas Identität in Abgrenzung zum Is-
deshalb ist die gegenwärtige Erweiterung der EU - die lam zu bestimmen. Selbst unser eigenes kleines Land
Europäisierung des europäischen Kontinents - so wichtig. Österreich hat große Mühe, sich von traditionellen politi-
Der Eiserne Vorhang darf nicht die Grenze der EU blei- schen Freund-Feind-Mustern zu lösen. Das verkrampfte
ben. Die heutige Lage Europas zeigt aber, wie schwierig es Festhalten an der Neutralität, die als unverzichtbarer Pfei-
ist, ohne äußere Feinde innere Einheit herzustellen. Einer- ler der österreichischen Identität angesehen wird, übersieht,
seits sehen wir, wie immer wieder Streit und Spaltungen dass jede Neutralität klare Freund-Feind-Muster braucht,
die Einheit innerhalb der EU gefährden. Die im Jahre 2000 um ihrer Bestimmung gerecht werden zu können.
von 14 Mitgliedsstaaten der EU gegen Österreich verhäng- In einem wichtigen Essay hat der englische Zeithistori-
ten Sanktionen waren beispielsweise eine Folge dieser Kri- ker Timothy Garton Ash vor zwei Jahren darauf aufmerk-
sensituation (vgl. Schneider). Und noch bevor die Erweite- sam gemacht, dass Europa nur dann den Gefahren des
rung über den alten Eisernen Vorhang hinaus vollzogen Feinddenkens entkommen kann, wenn es gelingt, eine
ist, droht schon wieder die Abspaltung eines Kerneuropas. positive Identität Europas aufzubauen, die sich nicht gegen
Andererseits können wir seit dem Ende des Kalten Krieges einen Anderen abgrenzen muss.i Auch ich halte diese Auf-
beobachten, wie da und dort neue Feindbilder konstruiert gabe für zentral und frage mich, welchen Beitrag wir
werden, um die innere Einheit Europas zu fördern (Vgl. Christen und unsere Kirchen dazu leisten können und
Ash; Niethammer 530f.). Eine erste, stärker von der politi- müssen.ONMLKJIHGFEDCBA
schen Linken vorangetriebene Tendenz versuchte in der
Abgrenzung von den USA Europas Identität zu festigen.
V o n d e r p e rs ö n lic h e n W u rz e l p o litis c h e r F e in d s c h a fte n :
Die Terroranschläge vom 11. September 2002 stoppten
D ie g ro ß e n e u ro p ä is c h e n R o m a n s c h rifts te lle r e n tla rv e n
für kurze Zeit diese Entwicklung. Angesichts Tausender
d ie s c h e in b a re E ig e n s tä n d ig k e it p o litis c h e r S tru k tu re n
getöteter Menschen schien die westliche Welt wieder ein
geschlossenes Bündnis zu sein. Doch bald verstärkten sich Angesichts dieser erdrückenden Vorherrschaft von Freund-
antiamerikanische Strömungen wieder, die von Politikern Feind-Mustern in der Welt der großen Politik stellt sich ra-
wie z. B. Gerhard Sehröder geschickt für ihre eigenen in- dikal die Frage, ob das nicht die Kräfte eines jeden einzel-
nenpolitischen Interessen genutzt wurden. Zu Recht hat nen Menschen weit übersteigt und wir daher ohnmächtige
vor kurzem der niederländische Schriftsteller Leon de Zuschauer der politischen Entwicklungen bleiben müssen.
Winter vor dem sich breit machenden Antiamerikanismus Sozialwissenschaften und politische Philosophie haben ge-
gewarnt, indem er auf den untergründigen Antisemitismus rade in der modernen Welt solchen Ohnmachts gefühlen
hinwies, der teilweise damit einhergeht. Er spricht von ei-
2 Ash 68: »The task for those who believe, as I do, in a project called
nem »alten Gift«, das sich im neuen Europa wieder auszu-
-Europe- is to build a strong, positive European identity, one that
breiten scheint. Mit den Ereignissen des 11. Septembers binds people emotionally to a set of institutions, without the help
stieg aber auch die Gefahr, jene alte Feindschaft neu zu be- of a clear and present Other.«

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oft Vorschub geleistet. Die modernen politischen Ideolo- zu verteidigen, dem Islam ausliefern. Den Feind im politi-
gien Kapitalismus und Kommunismus wurzeln beide im schen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen und
utopischen Traum, allein durch Strukturveränderungen Ge- erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen
rechtigkeit und Wohlstand herstellen zu können (vgl.GFEDCBA -Feind-, d. h. seinen Gegner, zu lieben.« (Schmitt 29)
G r o te /M c G e e n e y 141-143). Doch dieser Traum ist eine Weil Schmitt nach der Machtergreifung Hitlers für eini-
Illusion, der übersieht, dass Struktur- und Selbstverände- ge Jahre den Nationalsozialismus unterstützte, glauben
rung - bzw. Strukturenethik und Individualmoral - einan- viele, seine These ließe sich einfach ignorieren. Die heutige
der ergänzen und unterstützen müssen. Die politische Weltlage konfrontiert uns aber wieder mit seinen Über-
Theorie Carl Schmitts mit ihrer Betonung des Freund- legungen. So begegnet uns in Samuel P. Huntingtons These
Feind- Verhältnisses und das neoliberale Wirtschaftsdenken vom Kampf der Kulturen eine Freund-Feind-Logik, die
von Friedrich August von Hayek, das sich ausdrücklich deutliche Parallelen zu Schmitt aufweist, und die oft wie-
gegen das Freund-Feind-Denken richtet, dienen im Fol- derholte These, dass mit der Bergpredigt keine Politik zu
genden als negative Beispiele für die vorherrschende Be- machen sei, versucht ähnlich wie Schmitt die biblische
vorzugung der Makroebene. Aufforderung zur Feindesliebe durch ihre Privatisierung
Der deutsche Staatsrechtsgelehrte Carl Schmitt ist für politisch zu entschärfen.
seine erstmals im Jahre 1927 ausformulierte These berühmt Auch auf das vorherrschende neoliberale Wirtschafts-
geworden, dass das Politische gerade in der Freund-Feind- denken müssen wir hier einen kritischen Seitenblick wer-
Unterscheidung bestehen würde: »Die spezifisch politische fen, denn dieses ist gerade mit dem moralischen Anspruch
Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlun- in die Welt getreten, durch eine möglichst freie Entfaltung
gen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterschei- des Wettbewerbs alle alten Formen von Freund-Feind-
dung von F r e u n d und F e in d .« (Schmitt 26) Ausdrücklich Politik für immer aus der Welt verbannen zu können. Der
meinte Schmitt damit das außenpolitische Verhältnis zwi- freie Handelsgeist werde Kriege zum Verschwinden brin-
schen Staaten oder politischen Großräumen, indem er das gen. Dabei stimmen aber interessanterweise die traditionel-
private Verhältnis zwischen Menschen von dieser These len Vertreter der Freund-Feind-Politik mit den Befürwor-
ausnahm. Mit dieser radikalen Trennung von privatem Ver- tern des ungehemmten Wettbewerbs darin überein, dass
halten der Individuen einerseits und den politischen Ver- die Grundsätze der Individualmoral und die ethischen
hältnissen andererseits glaubte er auch die biblische Auf- Regeln für die großen Strukturen klar auseinander zu hal-
forderung zur Feindesliebe entschärfen zu können. Nach ten sind.
Schmitt ist in der Bergpredigt »vorn politischen Feind Der neoliberale Wirtschaftsnobelpreisträger Hayek
nicht die Rede« (Schmitt 29). glaubt, dass mittels der Unterscheidung zwischen Regeln,
Zur Unterstützung dieser These verweist er auf die Ge- die bloß für Kleingruppen gültig sind und jenen für Groß-
schichte jener schon oben erwähnten europäischen Chris- gruppen Freund-Feind-Verhältnisse überwunden werden
tenheit, die sich gerade immer wieder durch ihre Feind- können: »Eine friedliche Offene Gesellschaft ist nur mög-
schaften nach außen konstituierte: »In dem tausendjährigen lich, wenn sie auf die Methode, Solidarität zu erzeugen,
Kampf zwischen Christentum und Islam ist niemals ein verzichtet, die in der kleinen Gruppe am wirksamsten ist,
Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus nämlich nach dem Prinzip zu handeln, -wenn Leute in
Liebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt es Harmonie sein sollen, dann lasse man sie nach einem ge-

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meinsamen Ziel streben-, Dies ist eine Vorstellung davon, päischen Romanschriftsteller berufen, die diesen Zusam-
wie man Kohärenz schaffen kann, die geradewegs zur In- menhang in ihren Schriften immer wieder betont haben.
terpretation aller Politik als einer Sache von Freund-Feind- Der französisch-amerikanische Kulturtheoretiker Rene
Beziehungen führt.« (Hayek 200f,) Ähnlich wie Schmitt Girard hat diese Einsichten systematisiert und vor allem
unterscheidet auch Hayek zwischen einer Kleingruppen- am Beispiel von Autoren wie Proust oder Dostojewski ge-
moral und den Regeln für die großen Strukturen. Das neo- zeigt, wie eng Mikro- und Makrokosmos im menschlichen
liberale Wirtschaftsdenken geht in seiner Trennung von In- Leben zusammenhängen (Girard, Figuren 224-236; Ressu-
dividualmoral und Strukturenethik sogar über die Position rection 59, 139f.; Heilige 41H). Neidischer Wetteifer und
Schmitts hinaus, insofern es alle positive Hoffnung auf eine Feindschaft auf der individuellen Ebene führen nämlich
wundersame Wohltätigkeit individueller Sünden setzt. Die kaskaden artig zu den Feindschaftsmustern auf politischer
privaten Laster der einzelnen - Habgier, Geiz und Neid - Ebene. Ein arabisches Sprichwort bringt die in den ele-
sollen zum Wohlstand aller führen. mentarsten menschlichen Verhältnissen wurzelnde Feind-
Doch hat sich dieser Wunschtraum erfüllt? In unserem schaft mit ihrer Neigung, sich bis hin zur weltpolitischen
Zeitalter der Globalisierung erkennen wir zwar, wie die Ebene aufzuschaukeln, gut zum Ausdruck: "Ich gegen
weltweite ökonomische Konkurrenz alte politische Gren- meine Brüder, meine Brüder und ich gegen unsere Vettern,
zen obsolet werden lässt und traditionelle Freund-Feind- meine Brüder, Vettern und ich gegen die Welt.« (Zit, nach
Muster sich aufzulösen beginnen. Aber ist damit tatsäch- Gellner 111) Sozial philosophisch hat der deutsche Schrift-
lich das Problem der politischen Feindschaft gelöst? An steller Hans Magnus Enzensberger festgehalten, dass der
die Stelle der nationalstaatliehen Feindschaften, die auch Konflikt mit dem Nachbarn der Fremdenfeindschaft vor-
eine gewisse Hegung der ökonomischen Konkurrenz be- ausgeht: »Der verabscheute Andere ist ursprünglich wohl
wirkten, ist eine weltweite Konkurrenz getreten, die den immer der Nachbar, und erst, wenn sich größere Gemein-
globalen Terrorismus hervorbringt. Versuche, den Terroris- wesen gebildet haben, wird der Fremde jenseits der Grenze
mus auf einen Kampf der Kulturen zurückzuführen, ver- zum Feind erklärt.« (Enzensberger 11) Die Feindstruktu-
schleiern seinen tatsächlichen Ursprung in jenem Neid, ren in der Politik können nur dann überwunden werden,
den die globale Konkurrenz mit sich bringt (vgl. Girard, wenn auch die Feindschaften in den elementaren menschli-
Gewalt 441-443; Palaver, Terrorismus 219-221). Weil der chen Beziehungen ein Ende finden. Letztlich haben die
gegen das Feind-Denken angetretene Neoliberalismus ähn- großen Schriftsteller in ihrem eigenen Leben erkannt, dass
lich wie Schmitt die tiefere Wurzel politischer Konflikte im es eine persönliche Umkehr braucht - eine Absage an den
Neid zwischen einzelnen Individuen ausblendet, bedeutet satanischen Stolz und den giftigen Neid -, um auch die
seine Ausbreitung keine Überwindung des Problems, son- sozialen und politischen Verhältnisse verändern zu kön-
dern dessen Globalisierung und Verschärfung. nen.
Auch wenn sich - um auf Schmitts These zurück- Ein gutes Beispiel dafür ist das Romanwerk Dostojew-
zukommen - die Bergpredigt sicher nicht naiv politisch skis, das in einem Aufruf zur persönlichen Vervollkomm-
umsetzen lässt, möchte ich gegen die Trennung zwischen nung gipfelt. Weil für den russischen Dichter alles wie;n--
individuellem Verhalten und den großen politischen Struk- einem großen Ozean zusammenhängt, erkannte er, dass
turen die Verbundenheit von Mikro- und Makroebene auch das scheinbar nebensächlichste Verhalten der Men-
hervorheben. Wir können uns dabei auf die großen euro- schen die großen politischen Entwicklungen beeinflusst.

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Im seinem RomanGFEDCBA D ie B r ü d e r K a r a m a s o w findet sich eine Auch wenn Dostojewski in seinen politischen Essays
beeindruckende Stelle, die diese umfassende Sicht des rus- selbst immer wieder den Versuchungen des Feinddenkens
sischen Dichters zum Ausdruck bringt: - auch des Antisemitismus - erlegen ist, bleiben diese Ein-
»Tag für Tag und Stunde für Stunde, jede Minute habe wände gegen Grad6wskij bedeutend. In seinem Roman
dich im Auge und gib acht auf dich, dass deine Erschei- D ie B r ü d e r K a r a m a s o w finden sie sich an entscheidenden
nung eine wohlgestalte ist. Es geschieht einmal, daß du an Stellen wieder. So erklärt der fremde Gast dem Starez
einem kleinen Kind vorbeigehst, grollend, mit einem häßli- Sossima, warum die gelebte Brüderlichkeit absoluten Vor-
chen Wort auf den Lippen und Zorn im Herzen; vielleicht rang vor ihrer institutionellen Verwirklichung haben muss,
hast du das Kind nicht einmal beachtet, aber es hat dich ein Gedanke, den der Starez später selbst in seine Lehre
gesehen, und dein Bild, ungestalt und unanständig, ist viel- aufnimmt:
leicht in seinem wehrlosen kleinen Herzchen geblieben. »Um die Welt verwandeln zu können, müssen die Men-
Du hast es nicht einmal gemerkt, aber vielleicht hast du schen selbst innerlich einen anderen Weg einschlagen. Be-
damit einen bösen Samen in das Kind gesät, und er könnte vor nicht jeder tatsächlich zum Bruder des anderen wird,
in ihm aufgehen, und dies nur, weil du vor dem Kind dich kann es keine Brüderlichkeit geben. Keine Wissenschaft
nicht in acht genommen hast, weil du in deinem Inneren und kein Utilitarismus werden den Menschen jemals dazu
die tätige, die umsichtige Liebe nicht großgezogen hast.« bringen, sein Hab und Gut und seine Rechte redlich zu
(Dostojewskij, Brüder 515) teilen. Jeder wird sich übervorteilt fühlen, alle werden
Auf den ersten Blick wirkt eine solche moralische Auf- murren, einander beneiden und einander vertilgen.«
forderung politisch naiv und für die großen Probleme (Dostojewskij, Brüder 488; vgl. 510)
Europas ungeeignet. Schon zu seinen Lebzeiten wurde In der politisch wichtigen und berühmten Legende vom
Dostojewski deshalb vom liberalen Staatsrechts gelehrten Großinquisitor zeigt Dostojewski im selben Roman auf,
Alexander D. Grad6wskij scharf kritisiert. Dostojewskis welche Konsequenzen von den rein institutionellen Ein-
Appell an die persönliche Umkehr genüge nicht, es komme richtungen des Friedens zwischen den Menschen zu er-
nämlich einzig und allein auf die Errichtung geeigneter so- warten sind und zielt damit indirekt auf die beiden oben
zialer Institutionen an. Dostojewski hat in der von ihm diskutierten Versuchungen unserer Welt: einerseits die tra-
herausgegeben Monatszeitschrift T a g e b u c h e in e s S c h r ift- ditionellen politischen Freund-Feind-Muster und anderer-
s te lle r s auf diesen Vorwurf geantwortet und Grad6wskij seits die Abschaffung des herkömmlichen Menschen durch
entgegen gehalten, dass dessen Art von Wissenschaft einen eine ökonomistische Zentralverwaltung - die universelle
lebendigen Organismus wie mit einem Messer zerschneide, Vereinigung der Welt in Form eines »allgemeinen und
wenn er die sozialen Institutionen von der persönlichen gleichgesinnten Ameisenhaufens« (Dostojewskij, Brüder
Vervollkommnung abtrenne. Die in der Französischen 415; vgl. Palaver, Distanz 116). Was der russische Dichter
Revolution neben der Freiheit und Gleichheit geforderte in seiner Legende ausgesprochen hat, hat sich in der mo-
Brüderlichkeit setze nämlich brüderliche Verhältnisse zwi- dernen Welt vielfach bestätigt und erklärt, warum diese zu
schen den Menschen voraus und könne nicht ohne grau- einem der großen klassischen Texte des politischen Den-
same, alle Menschen auf den Status von Insekten reduzie- kens geworden ist.
rende Zwangsmaßnahmen als bloße Institution eingerichtet Dostojewskis Einsicht in den organischen Zusammen-
werden (Dostojewski, Tagbuch 524-549). hang von persönlichem Verhalten und politischen Struktu-

48 49
ren bedeutet für die Frage nach der Zukunft Europas, dass Selbstveränderung und Strukturveränderung gegenseitrg
wir alle in unserem ganz alltäglichen Leben immer auch bedingen. Am ausführlichsten hat dies Papst Paul VI. in
schon an den politischen Entwicklungen mitwirken. Wo seinem apostolischen Schreiben E v a n g e lii n u n tia n d i ausge-
immer wir den Versuchungen zur Feindschaft widerstehen, sprochen: »Die Kirche erachtet es gewiss als bedeutend
ermöglichen wir auch politische Formen des Zusammen- und dringlich, Strukturen zu schaffen, die menschlicher
lebens, die nicht auf äußere Feinde angewiesen bleiben. und gerechter sind, die Rechte der Personen mehr achten,
Wo wir aber diesen Versuchungen nachgeben, ebnen wir weniger beengend und unterdrückend sind; sie ist sich aber
für die großen Freund-Feind-Muster die Bahn. Dostojew- dessen bewusst, dass die besten Strukturen, die idealisti-
ski ist in seiner Einsicht in den organischen Zusammen- schen Systeme schnell unmenschlich werden, wenn nicht
Hang zwischen persönlichem Verhalten und den politischen die unmenschlichen Neigungen im Herzen des Menschen
Strukturen entschieden von der christlichen Tradition ge- geläutert werden, wenn nicht bei jenen, die in diesen
prägt, die diesen Gedanken immer wieder herausgestrichen Strukturen leben oder sie bestimmen, eine Bekehrung des
hat. Herzens und des Geistes erfolgt.« (Nr.36)ONMLKJIHGFEDCBA
Ein frühes Beispiel dafür ist Augustinus, der den Un-
frieden nicht auf einen Kampf zwischen fremden Kulturen,
D e r b ib lis c h e G e is t d e r F e in d e s lie b e w ill v e rk ö rp e rt w e rd e n :
sondern auf die Feindschaft im eigenen Haus zurückführt.
D ie c h ris tlic h e n K irc h e n u n d k irc h lic h e n G e m e in d e n a ls
Für den lateinischen Kirchvater nennt Mt 10,36 die tiefere
B a u s te in e e in e r e u ro p ä is c h e n K u ltu r d e s F rie d e n s
Ursache des Unfriedens: »Des Menschen Feinde sind seine
eigenen Hausgenossen« (Augustinus 537f [XIX.5]). Diese Dostojewskis Aufforderung zur persönlichen Umkehr ver-
Einsicht führt ihn konsequent zur These, dass der staatli- dankt sich letztlich seinem christlichen Hintergrund. Aus-
che Friede bereits auf dem Frieden in der Familie aufbauen drücklich verweist der Starez Sossima auf das Bild Christi,
muss (Augustinus 560 [XIX.16]j vgl. Elshtain 34-42, 96). das wie ein »kostbarer Diamant der ganzen Welt leuchten
Auch die Tradition der katholischen Soziallehre betont wird« und damit das Fundament einer wahren Brüderlich-
den Zusammenhang von persönlichem Verhalten und poli- keit legt (Dostojewskij, Brüder 510). Ähnlich hat dies
tischen Strukturen. So heißt es im KonzilsdokumentGFEDCBA G au- Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, an-
d iu m e t s p e s , dass die »tieferen Wurzeln« für die in der lässlich der Tagung »1000 Städte für Europa« in Innsbruck
»gesellschaftlichen Ordnung vorkommenden Störungen« im November 2001 in ihrem Referat »Geschwisterlichkeit
im »Stolz und Egoismus der Menschen« zu finden sind in der Politik als Schlüssel zur Einheit Europas und der
(Nr.25). Und Papst Johannes Paul 11. führt die »Struktu- Welt« zum Ausdruck gebracht: »Die Geschwisterlichkeit
ren der Sünde« - eines der zentralen Beispiele für ihn ist wurde der Menschheit von Jesus geschenkt, der vor seinem
die Spaltung der Welt in Ost und West während des Kalten Tod gebetet hat: -Vater, alle sollen eins sein.. Jesus offen-
Krieges - in seiner Enzyklika S o llic itu d o r e i s o c ia lis auf die bart, dass Gott der Vater aller ist und die Menschen folg-
»Gier nach Profit« und dem »Verlangen nach Macht« zu- lich untereinander Brüder und Schwestern, eine einzige
rück, dem sowohl »Einzelpersonen- als auch »Nationen Familie sind. Damit reißt Jesus die Mauern ein, die die
und Blöcke« verfallen können (Nr.37). Diese Einsicht in -Gleichen- von den -Anderen-, die Freunde von den Fein-
den Zusammenhang von persönlichem Verhalten und poli- den, eine Stadt von der anderen trennen. Er befreit jeden
tischen Strukturen führt konsequent zur These, dass sich Menschen aus den Banden, die ihn gefangen halten, aus

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den unzähligen Formen von Abhängigkeit und Sklaverei, Beginn der Eucharistie steht nicht das Einschwören auf ge-
aus jeder ungerechten Beziehung und bewirkt so eine wah- meinsame Feinde, sondern das Bekenntnis der eigenen
re Revolution auf existentieller, kultureller und politischer Schuld. Getragen von der Barmherzigkeit Gottes brauchen
Ebene.« (Lubich 27) wir unsere eigenen Schwächen nicht mehr auf Fremde ab-
In Leben und Lehre Jesu Christi entdecken wir eine zuwälzen.
radikale Absage an das übliche Feinddenken. Während für Das in der Eucharistie gefeierte Geheimnis gehört zu
Aischylos die gegenseitige Liebe den gemeinsamen Hass jenen kulturprägenden Impulsen unserer Welt, die auf ein
zur Voraussetzung hat, fordert Jesus in der Bergpredigt Leben ohne politische Feindstrukturen hoffen lässt. Seit
dazu auf, herkömmliche Freund-Feind-Muster zu über- den Anfängen der frühen Kirche hat das Christentum in
winden: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst diese Richtung auch die Entwicklung der europäischen
deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber Kultur beeinflusst. Neben den großen Freund-Feind-
sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch Strukturen, die die Geschichte der Christenheit begleiten,
verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel wer- gibt es auch ein Fortwirken des Offenbarungsimpulses, der
det.« (Mt 5,43-45) zu einer Humanisierung der Welt beigetragen hat. Immer
Girards Kulturtheorie hilft uns zu verstehen, wie sehr wieder haben einzelne Menschen und Gruppen Zeugnis
die biblische Botschaft mit ihrer Betonung der Feindesliebe dafür abgelegt, dass Feindschaft kein unausweichliches
eine neue Form des Zusammenlebens der Menschen in die Schicksal der Menschen ist. Als Beispiel sei auf Franz von
Welt bringt, die die bisherigen kulturellen Formen grund- Assisi, einem der großen Heiligen der europäischen Ge-
sätzlich in Frage stellt (vgl. Palaver, Theorie 251-345). schichte, hingewiesen, der sich mitten in der Zeit der
Während das Freund-Feind-Denken in einem Gründungs- Kreuzzüge für die von Jesus grundgelegte Feindesliebe
mord am Beginn der menschlichen Zivilisation wurzelt, bei und Gewaltfreiheit entschied. So wollte er beispielsweise
dem mittels eines Sündenbockmechanismus Frieden auf sowohl die als Ketzer bekämpften Katharer als auch die
Kosten eines gemeinsamen Feindes erzeugt wurde, deckt andersgläubigen Mauren ohne Waffengewalt bekehren.
die biblische Offenbarung diese Gewaltstrukturen auf, »Als er 1219 das Kreuzfahrerheer nach Ägypten begleitete,
indem sie sich mit den ausgeschlossenen Sündenböcken konnte er es wagen, mitten durch die vor Damiette Kämp-
der menschlichen Geschichte solidarisch erklärt. In der fenden zum Sultan vorzudringen und ihm von der Liebe
Eucharistie feiern wir diese Umkehr der Sündenbocklogik des Erlösers zu erzählen; er wies damit der Mission des
(vgl. Schwager 279-287; Niewiadomski). Von der Liebe Kreuzes einen neuen Weg; statt mit Waffen zu besiegen,
Gottes beschenkt können wir uns für alle Menschen öff- sollte sie durch Liebe bezwingen.« (Franzen 206f.)
nen. Der Empfang der Hostie ist keine Wiederholung der Mit Franziskus ist einer jener europäischen Heiligen er-
archaischen Opferlogik oder eines damit verbundenen wähnt, die als Vorbild für jene persönliche Vervollkomm-
Feindmusters, wie die lateinische Wurzel des Wortes ver- nung stehen, die uns allen aufgetragen ist. Am Beginn der
muten lassen könnte -GFEDCBA h o s tia bedeutet Menschen- oder christlichen Tradition wurde Europa - im Gegensatz zum
Tieropfer und h o s tis steht für Fremder oder Feind -, son- schon lange vorher hoch gepriesenen Orient - erst dann
dern die Öffnung für jene Wirklichkeit Gottes, die in der zu einem positiven Begriff, als es selbst auf das Vorbild
Hingabe Jesu eine Liebe sichtbar werden ließ, die allen von Heiligen verweisen konnte. Sulpicius Severus, der Bio-
ausgrenzenden Formen des Opfers ein Ende bereitete. Am graph des hl. Martin von Tours, erkennt um das Jahr 400

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eine solche positive Entwicklung in Europa: »Wenn du bis Feinde lieben können, dann erst können und dürfen wir
nach Ägypten gehst, das sich so stolz der großen Zahl und uns Christen nennen, denn seine Freunde lieben, das kann
der Tugenden seiner Heiligen rühmt, kannst du es trotz- der Antichrist oder der Heide auch- Qägerstätter 116). -
dem wissen lassen, daß Europa ganz Asien nicht nachsteht »Feindesliebe ist nicht charakterlose Schwäche, sondern
und dies ganz allein schon wegen Martinus.« (Zit. nach de heldische Seelenkraft und Nachahmung des göttlichen Vor-
Rougemont 45) bildes- Qägerstätter 184).
Der hl. Martin fand viele Nachfolger und Chiara Lubich Es ist die in den großen Heiligen repräsentierte christli-
kann zugestimmt werden, wenn sie herausstreicht, dass che Tradition, die es fortzusetzen gilt, um jene europäische
»Europa auf Heiligkeit gegründet ist« (Lubich 27). Sie Identität zu fördern, die ein politisches Zusammenleben
spannt den Bogen von Benedikt von Nursia über die ohne äußere Feinde möglich machen soll. Für uns einzelne
Slawenapostel Kyrill und Methodius, Brigitta von Schwe- Christen heißt dies zuerst, an unserer eigenen persönlichen
den, Katharina von Siena sowie Edith Stein bis hin zur Umkehr zu arbeiten. In einem weiteren notwendigen
Einleitung von Seligsprechungsprozessen für Robert Schu- Schritt sind aber damit vor allem auch die christlichen Kir-
man und Alcide de Gasperi, zwei Gründervätern der mo- chen und Gemeinden aufgefordert, zu einer europäischen
dernen Europäischen Einigung. Kultur des Friedens beizutragen. Die biblische Botschaft
Es wäre eine konsequente Fortsetzung dieser Linie, der Feindesliebe darf nicht spiritualistisch zur Flucht aus
wenn wir in Zukunft auch den oberösterreichischen Bau- der Kultur und den politischen Verhältnissen führen, son-
ern und Wehrdienstverweigerer Franz Jägerstätter in diese dern fordert seine Verkörperung. So wie der gewaltfreie
Reihe europäischer Heiliger aufnehmen könnten. Jäger- Gott der Bibel in Christus Mensch geworden ist, so zielt
stätter wurde 1943 von den Nationalsozialisten hingerich- auch der Geist der Feindesliebe auf eine konkrete soziale
tet, weil er sich geweigert hatte, am Eroberungskrieg Existenz. Die Kirche ist der politische Körper, in dem sich
Hitlers teilzunehmen. Ausdrücklich widersprach er der dieser biblische Geist zuerst verwirklichen muss. Die ka-
ideologischen Rechtfertigung dieses Krieges, die den tholische Kirche ist dabei ganz besonders herausgefordert,
Kampf gegen den Bolschewismus als Rettung des »Chri- wenn sie allen Versuchungen, sich durch Abgrenzungen zu
stentums in Europa- ausgab Qägerstätter 139). Für Jäger- definieren, widersteht und mit dem modernen Kirchen-
stätter waren sowohl die regelmäßige Feier der Eucharistie, vater Henri de Lubac den Katholizismus als jene »einzige
die Verehrung der Heiligen als auch die eingehende Aus- Wirklichkeit« versteht, »die, um zu sein, es nicht nötig hat,
einandersetzung mit der Bibel wichtige Quellen seiner sichGFEDCBA
e n tg e g e n z u s e tz e n , also alles andere als eine -geschlos-
Spiritualität (vgl. Scheuer). Mit dem hl. Franziskus verbin- sene Gesellschaft-« ist (de Lubac 263). Es ist genau dieser
det ihn dabei vor allem sein Beitritt zum Dritten Orden im offene Katholizismus, der uns helfen muss, eine positive
Jahre 1940 (vgl. Putz 103-105). Jägerstätters Betonung der europäische Identität ohne äußere Feinde aufzubauen.
Feindesliebe verdankt sich seiner Bibellektüre und stellt Insofern in den kirchlichen Gemeinden Feindschaften,
ihn in die Reihe jener großen europäischen Christen, die Nationalismus sowie ethnische Vorurteile überwunden und
sich vom herkömmlichen Feinddenken distanzierten. Zwei Vergebung gelebt wird, tragen sie entscheidend zu einer
Aufzeichnungen - die zweite bereits 1943 im Gefängnis in europäischen Kultur des Friedens bei. So wie in unseren
Berlin geschrieben - unterstreichen dies deutlich: »Die eigenen Gemeinden erste Schritte zur Überwindung von
Liebe, sie soll in uns so wachsen, daß wir auch unsere Feindschaft gesetzt werden müssen, so sind wir auch auf-

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gefordert, aufgebrochene Spaltungen innerhalb Europas zu Franzen, August: Kleine Kirchengeschichte. Freiburg/Br. 10. Auf!.
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überbrücken. Sehr klar haben sich in diese Richtung die
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Ländergrenzen hinweg gehören genauso dazu wie das Ruh. Münster 1998.
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zwischen Pfarrgemeinden in Ost und West könnten bei-
SS.437-454.
spielsweise dazu beitragen, die Wunden des Kalten Krieges Grote, J im /M c G e e n e y , John: Manager - Klug wie die Schlangen? Wirt-
schneller zu heilen. Wichtiger als die Nennung Gottes oder schaftsethik und Büropolitik. Aus dem Englischen von A. Erlacher.
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