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Es ist nicht möglich, hier auf alle bei Cassirer und Kreis umgewälzten Begriffe und Argu-
mente einzugehen, von der Frage, was eine (zum Beispiel mathematische oder organolo-
gische) Funktion ist (60), über die Frage, warum ein logisches Verständnis von Relationen
als parametrisierte Prädikate (nach Art von „x ist groß in Bezug auf N“ wobei N für Sokrates,
Kebes, Simmias etc. stehen kann) ein Kontextprinzip (Frege) voraussetzt, bis zur Frage, in
welchem Sinn wir in Sellars’ Reden von einem space of reason ein ‚Echo des objektiven
Geistes‘ vernehmen können (317) – und schließlich, warum man Robert Brandoms norma-
tiven Inferenzialismus und Hegels Identifikation von generischem Wissen mit begrifflichen
Schlussregeln als notwendige Zwischenstücke braucht, um überhaupt zu begreifen, wie Welt
im Allgemeinen erklärt und im empirisch Einzelnen sprachlich beschrieben beziehungsweise
‚repräsentiert‘ werden kann (vgl. 304). Es zeigt sich aber, dass sich eine Auseinandersetzung
mit diesem Werk und mit Cassirer überhaupt weiterhin lohnt.

Jenseits von Macht und Gegenmacht

Von Ruth Sonderegger (Wien)

Isabell Lorey: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Verlag
diaphanes, Zürich 2011, 343 S.

Es sind drei „Figuren des Immunen“ samt den jeweils korrespondierenden Konzeptionen
des Politischen, die Isabell Lorey in ihrer gleichnamigen Monographie untersucht. Zwei die-
ser Immunitätsfiguren bezeichnet sie als herrschaftsförmig, eine als widerständig. Die erste
herrschaftssichernde Form des Immunen ist die juridische Immunität. Sie stützt sich auf die
politiktheoretische Annahme, dass nur ein auf absolute Souveränität gegründetes Recht den
über Eigentum definierten Rechtssubjekten Schutz vor Übergriffen und damit Sicherheit
gegenüber chaotischen (Natur-)Zuständen garantieren kann. Absolute Rechtssouveränität ist
aber eine Fiktion, wie jede Erinnerung an den Moment der Instituierung einer Rechtsordnung
und die Setzung ihrer axiomatischen Normen verdeutlicht. Gerade wegen dieses Mangels
tendieren auf Rechtssouveränität basierte politische Systeme Lorey zufolge dazu, das nur
vermeintlich souveräne Recht um seiner selbst willen zu schützen. Letztlich immunisiert das
Recht sich selbst und fordert von seinen Subjekten eine immer unerbittlichere Unterordnung.
Die Immunität von Parlamentariern, an die man wohl als erstes denkt, wenn heute von poli-


Dass rechtliche und politische Souveränitätsansprüche nichts anderes als eine kompensatorische
beziehungsweise verschleiernde Reaktion auf den Mangel an Souveränität darstellen und dass sich
der daraus ergebende vitiöse Zirkel nur durch die Anerkennung einer dem Recht vorausliegenden
konstituierenden Macht auflösen ließe, ist die zentrale These von Antonio Negri in Insurgencies.
Constituent Power and the Modern State (Minneapolis/London 1999). Und nichts anderes als
Negris Theorie der konstituierenden Macht samt seiner darauf aufbauenden Kritik an rechtlichen
Souveränitätsmodellen ist es, die Isabell Lorey in ihren Figuren des Immunen weiter entwickelt
beziehungsweise an einem anderen historischen Material entwickelt. Auch die für Lorey zentrale
Unterscheidung zwischen konstituierender Macht (potentia), die „keineswegs ausschließlich auf
Souveränität zurück geführt werden muss“ (57), und konstituierter Macht (potestas), wie sie sich
insbesondere in niedergeschriebenen Gesetzen und staatlichen Institutionen manifestiert, übernimmt
Lorey von Negri (vgl. bei Lorey 57–59).

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tischer oder juridischer Immunität die Rede ist, stellt demnach nur eine abgeleitete Form der
viel grundsätzlicheren Selbst-Immunisierungstendenz des Rechts dar.
Das zweite Modell herrschaftsförmiger Immunität ist die biopolitische Immunisierung.
Die entsprechenden Politiken haben – hier folgt Lorey Michel Foucault – aus dem wunden
Punkt der juridischen Immunität gewissermaßen gelernt. Sie haben eingesehen, dass absolu-
te Souveränität und hundertprozentiger Schutz Phantasmen sind; wenn nicht grundsätzlich,
so zumindest im Zeitalter unüberschaubarer Waren- und Menschenströme, wie Foucault sie
schon in Bezug auf das 18. Jahrhundert analysiert hat. Unter diesen Umständen muss die nie
gänzlich beherrschbare Bedrohung von außen – sei es in der Form der Fremden, der Revol-
tierenden, der Anormalen oder Kranken – zum Instrument einer Politik des Gefahrenmanage-
ments gemacht werden: Manche Aspekte des Fremden werden durch Integration unschäd-
lich gemacht; andere hingegen gilt es zu hegen und zu pflegen, damit sie als abschreckender
Horror an die Wand gemalt werden können. Denn solcher perhorreszierter Schrecken ist die
beste Voraussetzung, um unter dem Vorwand der Sicherheit unterschiedlichste Herrschafts-
formen zu legitimieren. Angst ist hier das Kapital einer Kontrolle, die nicht aufs Ganze und
Absolute zielt, sondern mit Wahrscheinlichkeiten, Durchschnittlichem und Normalisierungen
rechnet und regiert. Nicht umsonst spricht Lorey in Bezug auf die erste Figur des Immunen
vom Anspruch auf absolute Immunität, hinsichtlich der zweiten von einem unabschließbaren
Prozess der Immunisierung. Im Zusammenhang der unabschließbaren Immunisierung dis-
kutiert sie die scheinbar diametral entgegengesetzten Gemeinschaftskonzeptionen von Fer-
dinand Tönnies und Roberto Esposito als gleichermaßen problematisch, weil letztlich beide
ein gegenüber Fremdem schützenswertes Eigenes voraussetzen (vgl. 223–227).
Die dritte Figur des Immunen ist – wie gesagt – eine widerständige. Lorey ist es dabei um
die Bewegung eines von Negri inspirierten Instituierens zu tun (vgl. Fn. 1), das heißt um das
Formieren eines Gemeinwesens unbestimmt Vieler, das sich weder affirmativ noch negierend
an bereits konstituierten Institutionen orientiert. In ihrer Konzeption des Politischen impli-
ziert solches Instituieren begrifflich, dass es um die kreative Selbstermächtigung derjenigen
geht, die aus der Perspektive eines bestehenden Gemeinwesens als Fremde und als Bedro-
hung abgewehrt werden. Wenn diese Anderen sich nach ihren eigenen Regeln konstituieren,
dann tun sie es – zumindest vorläufig und in den von Lorey als paradigmatisch beschriebenen
historischen Prozessen, auf die ich gleich zurückkomme – unter Anerkennung ihrer Bedroht-
heit und Verletzbarkeit, also jenseits der Phantasmen juristischen oder biopolitischen Sicher-
heitsdenkens.
Lorey zufolge hängen die drei genannten Politikkonzeptionen über die lateinische Wort-
wurzel munus für „Schutz“ und „Abgabe“ miteinander zusammen (vgl. Kap. 2, 181–291),
wobei sie vom für die dritte Figur bestimmenden immunio (wörtlich: „hineinbauen“, 281 ff.),
was als „errichten“ übersetzt werden kann, den Konstitutionsgedanken ableitet. Viel wichtiger
als der meines Erachtens letztlich zufällige etymologische Zusammenhang zwischen den drei
Figuren des Immunen scheint mir aber ein Zusammenhang ganz anderer Art: Theoretiker jener
juridischen Souveränität, die auch noch der biopolitischen Transformation souveräner Politik
zu Grunde liegt, haben sich immer wieder auf die so genannten plebejischen Ordnungskämpfe
in der frühen römischen Republik (5.–3. Jahrhundert v. u. Z.) als eine Art Ursprungsszene des
rechtlichen Souveränitätsgedankens berufen. Genau dort jedoch, wo Souveränitätstheoretiker
das Eingliedern der Plebejer in die allumfassenden Rechtsvorstellungen der Patrizier sehen,
ja überhaupt die Grundlegung des rechtssouveränen Denkens lokalisieren, zeigt Lorey etwas
ganz anderes auf: einen paradigmatischen Prozess sich konstituierender, anti-souveräner
Macht. Die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Kämpfe zwischen den Patriziern
und den Plebejern rekonstruiert sie als eine Bewegung widerständiger Konstitutionen seitens

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der Plebejer, die erst am uninteressanten Ende des Prozesses zu einer von patrizischen und
plebejischen Männern geteilten und sich souverän gebärdenden patriarchalen Ordnung führt.
Nicht umsonst sind der äußerst spannend geschriebenen Rekonstruktion und Interpretation
der römischen Ordnungskämpfe beinah zwei Drittel des Buches gewidmet (vgl. Kap. 1).
Das Bemerkenswerte an den widerständigen plebejischen Sezessionen, welche die Ord-
nungskämpfe zwischen Plebejern und Patriziern strukturieren, besteht Lorey zufolge darin,
dass die Plebejer sich nach dem gemeinsamen Auszug aus der Stadt einerseits zwar eigene
Gesetze geben und diese auch mit einem Eid beschwören, dass sie andererseits aber in kom-
plexer Weise auf die römische Polis und das römische Recht bezogen bleiben und sich nicht
als Alternative mit souveränem Alleinherrschaftsanspruch verstehen. So werden die sich im
Auszug und vermittelt über eigene Gesetze konstituierenden Plebejer viel eher zum Para-
digma eines Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen Gemeinschaftsordnungen denn
zum Paradigma einer alternativen Gemeinschaft. Lorey spricht in Bezug auf die Plebejer von
einer Komposition der Vielen statt einer auf Gleichsein beruhenden Gemeinschaft. In diesem
Zusammenhang sind ihre Ausführungen zum homo sacer besonders hervorzuheben, das heißt
zu jener Androhung, als homo sacer aus dem rechtlichen Schutz ausgeschlossen zu werden,
welche zentraler Teil der plebejischen Gesetze war. Während Giorgio Agamben im Anschluss
an Carl Schmitt diese Figur geradezu zum Beweis der Souveränität des Rechts macht, ent-
mythologisiert Lorey die Dramatisierung des homo sacer zu einer vogelfrei auf sich und
dem allmächtigen Recht gegenübergestellten Figur. Sie weist nach, dass es in den wenigen
überhaupt überlieferten Ausführungen zum homo sacer nicht zu spektakulären Tötungen
und auszelebrierten Entscheidungen über Leben und Tod kommt, sondern zu gewöhnlichen
Rechtsprozessen, bei denen Angeklagte durchaus mit Geldstrafen davon kamen.
Damit erweist sich das Paradigma rechtlicher Souveränität, das von Hobbes bis Agam-
ben als Scharnier okzidentaler politischer Theorie gilt, Lorey zufolge als begrenzt und als
keinesfalls alternativlos. Nicht zuletzt – so die zentrale These von Lorey – zeigt dieses Para-
digma sich im Licht der konstituierenden Macht der Plebejer als Ausdruck eines Willens
zur Souveränität um Willen der Herrschaft der Souveränität. So plausibel es meines Erach-
tens ist, (nur teilweise verbürgte) historische Prozesse noch einmal neu zu erforschen, weil
sie als Ursprung okzidentaler Rechts- und Politikverständnisse gelten, so ambivalent bleibt
der systematische Status der für Lorey paradigmatischen Szenen plebejischen Widerstands.
Schon deshalb, weil mit der Zentralstellung der römischen Ordnungskämpfe ein – gerade in
Loreys Augen problematischer – Kanon politischer Theorie auch bestärkt und weiter tradiert
wird.
Auch das extrem kurz ausgefallene dritte und letzte Kapitel (293–313), in dem die verschie-
denen historischen und etymologischen Fäden miteinander verknüpft und auf gegenwärtige
Diskussionen bezogen werden, birgt keine Antwort auf die Frage nach dem systematischen
Stellenwert der neu gelesenen römischen Ordnungskämpfe. Mit einem verallgemeinerten,
über die römischen Ordnungskämpfe hinausweisenden Begriff des „Plebejischen“ reagiert
die Autorin im Schlusskapitel auf die offensichtlich wichtige Frage der Verallgemeinerbarkeit
ihrer case study so vage, dass sie sich einem nur umso hartnäckiger in den Weg stellt, zumal
Lorey von Anfang an betont, dass es sich bei den plebejischen Sezessionen nicht um eine
„universelle Widerstandsfigur“ (18) handelt. Schon allein deswegen nicht, weil die plebe-
jische Selbstkonstitution wie das Vermögen einer konstituierenden Macht überhaupt „immer
auch selbst begrenzt“ bleibe und Ausschlüsse produziere (vgl. 179). Solche Hinweise auf die
universelle Begrenztheit widerständiger konstituierender Macht sagen aber nichts zur Frage,
wie die römischen Plebejer sich zu „dem Plebejischen“ verhalten. Unbeantwortet bleiben
auch die Fragen, warum beispielsweise keine gegenwärtigen Bewegungen konstituierender

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Macht diskutiert werden; warum nicht weniger okzidentale und patriarchale Bewegungen
zur Sprache kommen, zumal Lorey die patriarchale Begrenztheit der plebejischen Kämpfe
brillant herausarbeitet (vgl. 127–179). Viel mehr würde man auch gerne darüber erfahren,
wie sich Loreys case study, die mehr als ein bloßes Beispiel und weniger als das universelle
Paradigma konstituierender Macht zu sein scheint, zu Negris Rekonstruktion solcher Macht
in Auseinandersetzung mit den einander fortschreibenden Revolutionen in Frankreich, Ame-
rika und Russland verhält (vgl. Fn. 1).
Durchaus deutlich wird im letzten Kapitel jedoch die Verortung in zeitgenössischen Debat-
ten – insbesondere Loreys Nähe und Ferne zu Foucault und Jacques Rancière, die schon 1977
ein Gespräch über die Plebejer führten, das zweifelsohne den Auftakt zu Rancières späteren
diesbezüglichen Ausführungen darstellt. In Hinsicht auf Foucault hebt Lorey hervor, dass ihr
Konzept der widerständigen Konstituierung nichts anderes sei als das, was Foucault ein an
keine bestimmte Gruppe oder Zeit gebundenes Plebejisches genannt und in seinen Schriften
ab den 1970er Jahren ins Zentrum gerückt habe: eine Macht des Widerstands und der Kritik,
die auf Gegenmächte bezogen und für herrschaftsförmige Verfestigungen bis hin zu voll-
kommen totalitär gewordenen Gewaltverhältnissen immer anfällig bleibe. Die einzige, aber
entscheidende Erweiterung die Lorey an diesem Verständnis widerständiger Macht anzu-
bringen beansprucht, ist die, dass widerständige Konstituierung ihrer Meinung nach auch in
beziehungsweise gegen Herrschaftsverhältnisse und nicht nur in dynamischen Beziehungen
zwischen Macht und Gegenmacht möglich ist (vgl. 298). Ihr Verhältnis zu Rancière hingegen
ist eines der kritischen Abgrenzung. Lorey wirft Rancière vor, dass er die Selbstermächtigung
der Plebejer auf Sprechakte reduziere – genauer gesagt auf die Verhandlungen der Plebejer
mit dem römischen Konsul Menenius Agrippa – und dem Exodus aus der Stadt ebenso wenig
Aufmerksamkeit schenke wie den durch einen Eid geheiligten Gesetzen der Plebejer. Darüber
hinaus führt Lorey gegen Rancière ins Feld, dass seine Unterscheidung zwischen dem wider-
ständigen Politischen einerseits und der institutionalisierten Politik andererseits – offensicht-
lich eine Variante des Begriffspaars konstituierende/konstituierte Macht – zu manichäisch
dual gedacht sei.
Zur Relativierung der bei Rancière tatsächlich oft im Vordergrund stehenden Rolle der
Sprache könnte man allerdings an seine unzähligen Hinweise erinnern, wonach das (sprach-
liche) Verhandeln nur dann einsetzen kann, wenn auch eine ästhetische Bühne für die Unter-
handlung geschaffen wird; eine Bühne, die nicht-sprachliche Handlungen ebenso impliziert
wie zum Beispiel räumliche Arrangements oder zeitliche Konstruktionen. Im Sinn einer sol-
chen ästhetischen Bühne negiert Rancière die strategisch schlaue, zur richtigen Zeit unter-
nommene Sezession – sie konnte die Patrizier nur so lange empfindlich treffen, als es noch
kein Berufsheer gab und Rom auf den Militärdienst der Plebejer angewiesen war – genauso
wenig wie Lorey.
Auch was Agamben betrifft, würde sich eine wohlwollendere Lektüre lohnen. Dann könnte
man Agamben trotz Loreys historisch und systematisch überzeugender Dekonstruktion sei-
ner Souveränitätsfixierung hinsichtlich des homo sacer zu Gute halten, dass er mit den für


Zu Foucaults Gespräch mit Rancière vgl. M. Foucault, Mächte und Strategien, in: ders., Schriften in
vier Bänden. Dits et Ècrits, III: 1976–1979, Frankfurt/M. 2003, 538–550; zu Rancières Beschäfti-
gung mit den Sezessionen der Plebejer vgl. etwa J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philo-
sophie, Frankfurt/M. 2002.

Man denke beispielsweise an die subversive Verkehrung der Tag- und Nachtzeiten jener Arbeiter,
die schon im Zentrum von Rancières Dissertation steht: J. Ranciere, La nuit des prolétaires. Archi-
ves du rêve ouvrier, Paris 1981.

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ihn paradigmatischen Figuren des homo sacer – den Muselmännern in den Konzentrations-
lagern – Verhältnisse ins Zentrum rückt, in denen widerständige konstituierende Macht nicht
nur keine Option ist, sondern auch das Konstatieren ihrer Abwesenheit etwas Zynisches hat;
nämlich Verhältnisse, die Lorey nur en passent in Bezug auf Foucault erwähnt, denen sie
jedoch keine systematische Aufmerksamkeit widmet: Zustände total gewordener Gewalt. Sie
werden in Theorien widerständiger Konstitution, in deren Tradition Lorey sich einschreibt,
grundsätzlich ausgeblendet: bei Negri genauso wie bei Rancière. So ermächtigend die Kon-
zentration auf Möglichkeiten des Widerstands sein kann, die Lorey nicht nur mit Negri, son-
dern auch mit Rancière teilt, so problematisch wird diese Betonung, wenn sie nahe legt,
Möglichkeiten der widerständigen Selbstkonstituierung stünden prinzipiell allen, dann merk-
würdig stark erscheinenden Subjekten immer und überall offen. Das heißt nicht, dass mit
Loreys Widerstandstheorie etwas grundsätzlich nicht stimmt, sondern dass man gerne mehr
darüber erfahren möchte, wie sie sich zu Situationen schwacher oder gar in Auslöschung
begriffener Subjekte verhält.

Denken lernen Zug für Zug

Von Fabian Börchers (Berlin)

Christian Barth: Objectivity and the Language-Dependence of


Thought. A Transcendental Defence of Universal Lingualism. Routledge, New York 2011,
258 S.

Die Frage, inwiefern das Denken auf die Sprache angewiesen ist, ob also Wesen nur dann zu
denken in der Lage sind, wenn sie ebenfalls eine Sprache beherrschen, treibt die Philosophie
bekanntlich schon eine ganze Weile um. Sie ist, wie Christian Barth in seinem ausgesprochen
strukturiert vorgehenden Buch gleich zu Beginn hervorhebt, nicht zuletzt eine Variante, die
Frage nach der Besonderheit des Menschen zu stellen. Denn wenn es stimmt, dass wir Men-
schen im Unterschied zu den Tieren diejenigen Wesen sind, die eine Sprache in einem reichen
Sinn, der über bloßes Signalgeben hinausgeht, zu sprechen in der Lage sind, und wenn es
zudem stimmt, dass eine solche Sprache zu sprechen notwendige Voraussetzung dafür ist,
denken zu können, dann hätte man eine Variante gefunden, mit der man auch heute noch, und
zudem sehr trennscharf, die These des Aristoteles verteidigen kann, dass wir Menschen die
vernünftigen Tiere sind.
Entsprechend ist die These eines solchen engen Zusammenhangs von Sprache und Den-
ken in der letzten Zeit in dem Maße unter Druck geraten, wie man sich in den empirischen
Wissenschaften mit den geistigen Fähigkeiten von Tieren und vorsprachlichen Kindern einer-
seits und den körperlichen Voraussetzungen unseres Denkens andererseits beschäftigt hat.
Denn je genauer das Verständnis davon wird, was Tiere und kleine Kinder schon alles können,
desto stärker wird der Drang, auch ihnen eine, mindestens partielle Denkfähigkeit einzuräu-
men. Und je mehr die Beschäftigung mit unserem Gehirn herausstellt, dass nur bestimmte
Bereiche desselben mit der Sprache beschäftigt sind, die in vielerlei Hinsicht unabhängig
von den anderen funktionieren (ein Ergebnis, das auch schon Noam Chomsky in seiner These
von einem angeborenen Sprachmodul in Anspruch genommen hat), desto mehr kann man
sich genötigt fühlen, einen umfassenden Zusammenhang von Geistesaktivität und Sprache

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