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Max Scheler
Die Stellung des Menschen
im Kosmos
Meiner
M A X SCH EL ER
FEL I X M EI N ER V ER L AG
H A M BU RG
PH I L O S OPH I S C H E BI BL IO T H E K BA N D 6 7 2
www.meiner.de
M A X SCH EL ER
Die Stellung des Menschen im Kosmos
Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Anhang
A m Donnerstag, den 28. April 1927, von 11 bis etwa 13.30 Uhr
hielt Max Scheler in Darmstadt auf der achten Tagung der
»Schule der Weisheit« des Grafen Hermann Keyserling seinen
berühmt gewordenen Vortrag über die »Sonderstellung des
Menschen«. Der Vortrag wurde allgemein als der Höhepunkt
der Tagung angesehen, und so war es nur zu verständlich, dass
ihn viele der Anwesenden als Sonderdruck zu haben wünschten.
Nach gut einem Jahr konnten sie unter dem neuen Titel Die Stel-
lung des Menschen im Kosmos (im Folgenden: Kosmos-Schrift)
zugleich eine Übersicht über die Entwicklung und das eigentli
che Anliegen von Schelers Philosophie in Händen halten. Denn
in der Vorrede schreibt Scheler, dass ihn die Fragen »Was ist der
Mensch, und was ist seine Stellung im Sein?« vom Anfang seines
philosophischen Werdegangs an wesentlicher und zentraler be
schäftigt haben als jede andere Frage der Philosophie. Mit diesen
Worten gab Scheler seinen stark auseinandergehenden philo
sophischen Interessen und Arbeiten eine einheitliche Grund
linie. Nachdem er 1922 mit der Ausarbeitung einer umfassenden
Philosophischen Anthropologie begonnen hatte, konnte er mit
zunehmender Befriedigung feststellen, »daß der Großteil aller
Probleme der Philosophie«, die er schon behandelt hatte, »in
dieser Frage mehr und mehr koinzidierten«. (S. 3,6 – 15)1 Er sah
in der Philosophischen Anthropologie etwas wie die Summe und
Synthese seiner philosophischen Bestrebungen.
In dieser Perspektive will auch die Broschüre über Die Stel-
lung des Menschen im Kosmos gelesen sein: Sie steht nicht nur
allein für sich, sondern zugleich für einen Großteil von Schelers
vorangegangenen Arbeiten und für die eigentliche Intention sei
ner Philosophie, der er rückblickend eine anthropologische Deu
3 Der späte Scheler weist wiederholt darauf hin, dass das Schicksal
der gesamten Menschheit an das Schicksal des vergänglichen Erdpla
neten gebunden sei; vgl. unten S. 7,21; 129,29; 137,23 und andernorts. Al
les irdische Leben gehe zu Ende, auch der gesamte Planet Erde: teils auf
Grund des Entropiegesetzes, teils wegen der unabwendbaren fortschrei
tenden Annäherung der Erde an die Sonne (B.I.12, S. 1 f.)
*14 Wolfhart Henckmann · Einleitung
5 In der Vorrede zur dritten Auflage von Vom Umsturz der Werte
schreibt Scheler im Juli 1923, dass das, was in der Abhandlung »Zur Idee
des Menschen« »nur keimhaft angedeutet« sei, in der geplanten Philo
sophischen Anthropologie »breite Ausgestaltung und tiefere Fundie
rung finden« werde (GW 3, S. 11). Den Zusammenhang zwischen beiden
Schriften deutet sich Scheler durch die Metapher von einem »organi
schen Wachstum«, also nicht durch einen logisch geordneten Zusam
menhang von analysierten Sachverhalten, Urteilen, Schlüssen.
*16 Wolfhart Henckmann · Einleitung
Deshalb (?) empfiehlt die Vorrede dem Leser, sich ein Bild von
der Entwicklung der anthropologischen Anschauungen Sche
lers zu machen. Doch darüber, in welchem Verhältnis die Ent
wicklung zu den dann aufgezählten Themenkreisen steht, etwa,
ob Scheler im Laufe seiner Entwicklung bestimmte Lehren fal
len gelassen oder wie weit die Darstellung bereits in die von der
Entwicklung eröffneten Sachbereiche eingedrungen ist, wird
nichts weiter gesagt. Dies hätte sich auch erst von der Vollen
dung der Philosophischen Anthropologie aus sagen lassen – die
Bemerkungen zur Entwicklung legen somit indirekt Zeugnis
dafür ab, dass Scheler noch nicht an das Ende seiner langjähri
gen Forschungen gelangt ist.
Die Entwicklung von Schelers anthropologischen Anschau
ungen von der Jahrhundertwende an, als er sich wie Husserl
und die Neukantianer kritisch mit dem Psychologismus und
Anthropologismus auseinandersetzte, bis zum Ende der zwan
ziger Jahre, als er rückblickend die Frage nach dem Wesen des
Menschen als die zentrale Frage seiner Philosophie erkannte,
*18 Wolfhart Henckmann · Einleitung
aber zum ersten Mal 1913 und in ergänzter Form 1915 erschienen
ist8 – in den vorangegangenen zwanzig Jahren hatte sich Scheler
immerhin bereits zweimal habilitiert, hatte zehn Jahre lang Vor
lesungen und Seminare gehalten, war vom neukantianischen
Standpunkt seiner Jenaer Privatdozentenzeit zur Phänomenolo
gie der Münchner Privatdozentenzeit übergegangen9 und hatte
seine ersten großen phänomenologischen Untersuchungen ver
öffentlicht, aber so gut wie nichts speziell zur Anthropologie !
Von all seinen vor dem Aufsatz »Zur Idee des Menschen« er
schienenen neukantianischen und phänomenologischen Schrif
ten nahm er allein die von ihm in der veröffentlichten Vorrede
nicht datierte, aber bereits der phänomenologischen Periode
angehörende Abhandlung über das Ressentiment (1912) in die
Liste seiner anthropologischen Schriften auf (S. 3,27 f.), im Ent-
wurf jedoch nur als historische Untersuchung der »Ideenge
schichte« der Frage nach dem Wesen des Menschen (S. 141,2),
so dass der Beginn der Entwicklung seiner anthropologischen
Anschauungen in die Zeit der Aneignung der Phänomenologie
verlegt werden müsste, also in seine Privatdozentenzeit an der
Universität München (1906 – 1910). Die grundlegende Bedeutung
der anthropologischen Frage wäre demzufolge Scheler erst dann
bewusst geworden, als er vom transzendentalen Subjektivismus
des Neukantianismus auf den, mit Dilthey und vielen anderen
zu sprechen, Ansatz beim anthropologisch »ganzen Menschen«
übergegangen war. Daraus ergäbe sich die Aufgabe, alle seine
neukantianischen Veröffentlichungen bis einschließlich des
1906 aus dem Druck zurückgezogenen Fragments der Logik I,
in dem sich Scheler noch sehr kritisch zu Husserls Phänome
nologie geäußert hat, daraufhin zu untersuchen, ob nicht auch
schon in seinen neukantianisch oder neo-idealistisch inspirier
ten Schriften die anthropologische Grundfrage eine wenn auch
Offene Stellen gibt Scheler schon dadurch zu, dass er sich darauf
beschränken wollte, nur »einige Hauptpunkte« seiner philoso
phischen Anthropologie anzusprechen. Aber welche Probleme
hat Scheler im Auge, wenn er von »einigen Hauptpunkten der
Philosophischen Anthropologie« spricht, womit er vermutlich
seine eigene Anthropologie und nicht die bis auf die sokratische
Forderung des »Erkenne dich selbst« zurückgehenden anthro
pologischen Betrachtungen des abendländischen Kulturkreises
meint?
Seit Scheler sich Anfang der zwanziger Jahre entschlossen
hatte, den (nie erschienenen) zweiten Band Vom Ewigen im
Menschen nicht mehr, wie ursprünglich geplant, der Frage der
Vorbilder und Führer, sondern der Philosophischen Anthropo-
logie zu widmen, hat er in einer Vielzahl von Gliederungsent
würfen ein Gesamtkonzept der Philosophischen Anthropologie
*26 Wolfhart Henckmann · Einleitung
24 Vgl. GW 9, S. 120.
*38 Wolfhart Henckmann · Einleitung
26 Ich beziehe mich im Folgenden zum Teil auf meinen vor sechs
Jahren verfassten Aufsatz: Max Scheler: Die Stellung des Menschen im
Kosmos, der erscheinen soll in: Philosophische Anthropologie. Haupt
autoren und Grundschriften, hrsg. v. Joachim Fischer, S. 30 – 65.
*40 Wolfhart Henckmann · Einleitung
27 GW 12, S. 8.
Zur Einleitung *41
dass er sich von vornherein des rechten Weges bewusst ist und
sich auf Anschauungen und Urteile stützt, die er in jahrelangen
Forschungen gewonnen hat – er präsentiert sich als eine mit der
Sache wohlvertraute Autorität, die sich dem ethischen Gebot
der Wahrhaftigkeit bzw. der Ethik der Wissenschaft verpflich
tet weiß. Dadurch verweist er implizit eine kritische Auseinan
dersetzung mit konkurrierenden Theorien in das Vorfeld der
Entwicklung seiner eigenen anthropologischen Anschauungen.
Dies wäre eine der möglichen Interpretationen des Wortes »in«
im Titel des Abschnitts.
Liest man in diesem Sinne die – allerdings sehr knappen, ja
viel zu knappen – Ausführungen des einleitenden Abschnitts,
so wird man in eine sehr weit gespannte Problematik einge
führt. Scheler deutet in zwei Absätzen, die nicht, wie in den
folgenden Abschnitten II – VI, durch eigene Überschriften von
einander unterschieden werden, zwei Arten einer kritischen
Hinterfragung der Voraussetzungen einer anthropologischen
Untersuchung an. Im ersten Absatz beschreibt er »drei unter
sich ganz unvereinbare Ideenkreise«, in denen das Wesen des
Menschen bestimmt wird (S. 7,4 f.), im zweiten Absatz setzt er
sich mit der »tückischen Zweideutigkeit« des anthropologischen
Grundbegriffs »Mensch« (S. 8,15 f.) auseinander – so ist er bereits
im Aufsatz »Zur Idee des Menschen« vorgegangen; in diesem
Punkt hat sich also nichts geändert. Mit den beiden Absätzen
will er offenbar präzisieren, wonach mit der »Sonderstellung des
Menschen« bzw. mit der »Idee des Menschen« eigentlich gefragt
wird. Das Ergebnis fällt überraschend einfach aus, obwohl es
sich um zwei sehr unterschiedliche Ansätze handelt: Das ei
gentliche Thema des Vortrags bestehe darin, die Berechtigung
eines »Wesensbegriffs« des Menschen gegenüber dem »natur
systematischen Begriff« zu erweisen (S. 9,23 ff.). Demzufolge
ginge es in den folgenden Teilen der Kosmos-Schrift darum,
den Wesensbegriff des Menschen im Verhältnis zu Pflanze und
Tier in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und
danach im Verhältnis zur metaphysischen Sonderstellung des
Menschen (S. 8,11 – 13) zu erläutern und zu rechtfertigen, so dass
*42 Wolfhart Henckmann · Einleitung
noch sehr viel mehr, so dass nach den Gründen zu fragen wäre,
warum sich Scheler auf die angegebenen drei der fünf oder mehr
Ideenkreise beschränkt hat.
In der Darmstädter Einleitung hat Scheler schließlich noch
einen dritten Ausgangspunkt für eine dem Wesen des Men
schen gerecht werdende Forschungsrichtung genannt, nämlich
entweder das Wesen des Menschen mit Nietzsche an den »höch
sten Exemplaren« der Gattung Mensch aufzuweisen, an den
»Genies«, oder aber mit Darwin an den primitiven, aus der Evo
lution der Tiere hervorgehenden ersten Exemplaren des homo
sapiens.28 Scheler lehnt jedoch diese Alternative umstandslos
ab: »Vom Wesen, nicht vom Ursprung ist auszugehen.« (S. 132,8)
Einleitende Überlegungen wie die erwähnten hat Scheler, wie
gesagt, auch schon in der Anthropologie-Vorlesung von 1925
vorgetragen, 29 mit zum Teil prägnanteren Worten und schärfe
ren Akzentuierungen, und alles im Rahmen einer zusammen
hängenden Fragestellung, die sogar auf den methodologischen
Aspekt einer Einleitung eingeht. Im Vergleich mit den Ausfüh
rungen von 1925 stellen die Einleitung zur Kosmos-Schrift und
die Problemliste der Disposition situationsbedingt eine nicht
unbeträchtliche Problemverkürzung und Problemvereinfa
chung dar, aber inwiefern das zutrifft, müssten die Ausführun
gen zu den vier anderen Fragen der Disposition zeigen.
»Methodisches«
30 B.I.2, S. 57 – 61.
31 Rudolf Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Der Grund
begriffe der Gegenwart dritte umgearbeitete Auflage, Leipzig 1904, ins
besondere Abschnitt D: »Zu den Problemen des Menschenlebens«, d. h.
zu Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Kunst und Moral, Persönlichkeit
und Charakter, Freiheit des Willens: lauter »Monopole des Menschen«. –
Schelers Verhältnis zu Eucken ist nicht einfach zu bestimmen (vgl. Rein
hold J. Haskamp, Spekulativer und phänomenologischer Personalismus,
Freiburg/München 1966, S. 21 ff.). Scheler fühlte sich trotz aller späteren
kritischen Vorbehalte seinem Doktorvater für die vielfältigste Förde
rung stets dankbar verbunden.
32 GW 10, S. 380.
Zur Einleitung *45
einer teils durch die Sachen, teils durch die eigene innere Gier
nach immer Neuem und Kolossalem (um einen damals in der
Schwabinger Bohème beliebten Ausdruck zu verwenden) erreg
ten Gemüt, wodurch es bei ihm immer wieder zu unkritischen,
emotionalen Stellungnahmen kam. Dies lässt sich freilich mit
einem rein wissenschaftlichen Denkverfahren nicht vereinba
ren, aber dadurch stellt sich nur die sehr viel weiter reichende
Frage, ob die philosophische Anthropologie überhaupt als eine
Wissenschaft im strengen Sinne zu verstehen oder ob sie nicht
vielmehr aus einer weltanschaulichen Position und mit weltan
schaulichem Engagement zu entwickeln sei. So betrachtet neh
men die beiden methodologischen Fragen der Kosmos-Schrift
und die fünf Aspekte der Disposition auf einmal eine einleuch
tende Funktion an und rücken die Kosmos-Schrift um ein wei
teres Stück aus dem Diskussionsforum heraus, in dem sich Pless
ners Stufen des Organischen und Gehlens Der Mensch befinden.
So ging es Scheler mit der Apostrophe an die gebildeten Euro
päer wohl um nichts Anderes als um eine kulturgeschichtliche
Ortsbestimmung der Kosmos-Schrift, wobei es fraglich ist, ob
Scheler sich dazu außerhalb oder innerhalb der Gruppe der ge
bildeten Europäer positioniert hat. Bezieht er einen Standpunkt
außerhalb der Sphäre der gebildeten Europäer, dann wird er von
einer kulturell indifferenten, anthropologisch universalen Po
sition aus argumentieren und progressiv die kulturbedingten
Einschränkungen anthropologischer Aussagen aufzuweisen
und dadurch zu neutralisieren versuchen. Teilt er hingegen die
Position der gebildeten Europäer, dann bedeuten seine Ausfüh
rungen eine mehr oder weniger kritische Selbstverständigung
über die spezifisch europäischen Auffassungen des menschli
chen Wesens, einschließlich der These, dass es keine universal
gültige Anthropologie, sondern immer nur eine höchstens für
den jeweiligen Kulturkreis gültige Anthropologie geben kann.
Erkenntnistheoretisch würde das unter anderem bedeuten, dass
er einerseits die phänomenologische Wesensforschung als Be
freiung der Wesenheiten von allen kulturbedingten Vorurteilen
verstehen wollte, oder aber andererseits der Auffassung war, dass
*50 Wolfhart Henckmann · Einleitung
rung, in: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1915,
S. 251 (GW 4, S. 154).
40 Vgl. B.I.6, S. 1 – 2.
41 Vgl. M. Scheler, Ernst Troeltsch als Soziologe (1923), GW 6, S. 387.
*52 Wolfhart Henckmann · Einleitung
44 GW 9, S. 122.
45 Scheler, Lehre von den drei Tatsachen (ca. 1910), GW 10, S. 431 – 474.
Zur Einleitung *55
gangen ist46 – oder gibt sich die Elite der gebildeten Europäer
mit alltäglichen, widersprüchlichen, ungebildeten Vorstellun
gen wie den Menschenbildern der natürlichen Weltanschau
ung überhaupt nicht ab? Handelt es sich im Grunde nur um
die Menschenbilder bestimmter gesellschaftlicher Klassen oder
Kreise, Rassen oder Nationen? Wer oder was ist also das Subjekt
der drei grundlegenden Ideenkreise?
Die Frage kompliziert sich dadurch, dass es Scheler 1927/28
nicht bei den drei Grundarten bewenden ließ, sondern weitere
Grundideen fand, diese aber weniger als kollektive Modelle des
menschlichen Selbstverständnisses verstand, sondern als »Men
schenbilder« nach Maßgabe eines bestimmten menschlichen
Idealtypus, wie er in unterschiedlichen Natur- und Geistes
wissenschaften zum Ausdruck kommt. So spricht er z. B. vom
»homo curans«, womit er auf Heideggers Sein und Zeit anspielt,
oder vom »homo oeconomicus« des Marxismus, vom »homo
dionysiacus« der Lebensphilosophie oder vom »homo eroticus«
der Schule Freuds.47 Seine Lehre von den »Grundideen« weist
eine gewisse Mehrdeutigkeit auf, da sie mit einer (charaktero
logischen) Lehre von »Menschenbildern« verwechselt werden
kann, die nicht auf grundlegenden Weltanschauungen beru
hen müssen. Je näher Scheler die Lehre von den »Grundideen«
von den prähistorischen Mythen angefangen über die jüdisch-
christlichen, antiken und den naturwissenschaftlichen Gedan
kenkreisen bis an die Gegenwart heranführt, desto spezifizierter
und personalisierter fasst er sie auf, desto enger rücken sie an die
»Menschenbilder« heran, bis zu dem Punkt, an dem ein Men
schenbild zum Ausdruck einer persönlichen Weltanschauung,
geradezu zu einem Selbstbekenntnis wird, wie Scheler selber
es am Ende der Kosmos-Schrift vorführt. Seine Lehre von den
drei Ideenkreisen öffnet sich dadurch mehr und mehr zu einer
Charakterisierung durch all die »homo«-Ideen, die den Wissen
46 Vgl. M. Scheler, Das Wesen des Todes (1923/24), GW 12, S. 267 ff.
47 Vgl. die Liste von dreizehn Idealtypen in der »Einteilung (II)«, in
GW 12, S. 22 f.
*56 Wolfhart Henckmann · Einleitung
48 GW 6, S. 16.
Zur Einleitung *57
49 GW 8, S. 63.
Zur Einleitung *59
66 GW 12, S. 16.
67 M. Scheler, Ursprung und Zukunft des Menschen, B.I.2, S. 1 – 35
(zur Zukunft insbes. S. 13 ff.), davon wurden die S. 1 – 13 veröffentlicht in
GW 12, S. 89 – 97.
*68 Wolfhart Henckmann · Einleitung
69 Vgl. seinen Vortrag: Die Formen des Wissens und die Bildung: »In
dieser Zeit, in der sich in schmerzvollem Ringen um eine neue Welt ein
neuer Mensch eine neue Form zu geben versucht, steht das Problem der
Bildung des Menschen im Zentrum des Interesses.« (GW 9, S. 89)
*70 Wolfhart Henckmann · Einleitung
70 Vgl. GW 8, S. 85 ff.
71 Artikel »Mensch«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wil
helm Grimm, bearb. v. Moriz Heyne, Bd. 6, Leipzig 1885, Sp. 2021 – 2038.
*72 Wolfhart Henckmann · Einleitung
männliche Idee. Ich glaube nicht, dass diese Idee in einer von
Weibern beherrschten Kultur entstanden wäre.«72 Scheler hätte
stattdessen auch auf die Bedeutungsunterschiede der verschie
denen »homo«-Grundtypen hinweisen können – aber als »tü-
ckisch« lassen sich solche semantischen Unterschiede eigentlich
nicht bezeichnen. Worin das Tückische bestehen soll, erschließt
sich einem auch nicht dadurch, dass Scheler nur zwei Begriffe
von »Mensch« nennt, die eine unterschiedliche Bedeutung ha
ben: der »Wesensbegriff« und der »natursystematische« Begriff
des Menschen. Das Tückische scheint er vielmehr darin zu se
hen, dass bei der Verwendung des Begriffes »Mensch« der Hörer
oder Leser nicht erkennen kann, ob das Wort im Sinne des We
sensbegriffs oder des natursystematischen Begriffs verwendet
wird. Die bloße lexikalische Differenz ist dabei nicht das Ent
scheidende, sondern dass der »Mensch« jeweils nur nach einer
seiner beiden fundamentalen Seinszugehörigkeiten verstanden
und dadurch in zwei völlig verschiedene Wissensebenen und
Methodologien eingeordnet wird: mit dem »Wesensbegriff«
wird der Mensch als Geistwesen in seiner Stellung zur Sphäre
der Wesenheiten erforscht, mit dem »natursystematischen Be
griff« als ein Naturwesen in seiner Stellung und Funktion in
der Natur – man kann dem Begriff »Mensch« nicht unmittelbar
entnehmen, in welchem methodologischen Kontext er gerade
diskutiert wird. Zwei nicht identifizierbare, sozusagen »hinter
hältig« einseitige Aussagen über den Menschen stehen sich ge
genüber, und in dieser verdeckten Zweideutigkeit mag Scheler
das Tückische gesehen haben, vor allem dann, wenn es um die
Einschätzung des Menschen als Menschen geht. Scheler scheint
davon auszugehen, dass das Tückische nur aufgedeckt und un
schädlich gemacht werden kann, wenn der Mensch dualistisch
verstanden wird und beide Seinsbereiche in ihrem unaufheb
baren Angewiesensein aufeinander verstanden werden. Die
philosophische Anthropologie hätte dann auch diese Art von
»Einheit« des Menschen (S. 7,25) zu rechtfertigen, nicht nur des
72 GW 3, S. 195.
Zur Einleitung *73
79 B.I.2, S. 57 – 61.
Zur Einleitung *79
83 GW 3, S. 175.
Zur Einleitung *81
84 GW 12, S. 16.
85 GW 6, S. 13 – 26.
*82 Wolfhart Henckmann · Einleitung
86 GW 9, S. 120.
87 Vgl. meinen Aufsatz: Der Systemanspruch von Schelers Philoso
phie, in: Phänomenologische Forschungen 28/29 (1994), S. 271 – 312.
88 Vgl. Parvis Emad, The Great Themes of Scheler, in: Philosophy To
day 12 (1968), S. 4 – 12 (geht nur auf vier Themen ein, lässt »Welt« unbe
rücksichtigt); M. S. Frings, Max Scheler: Drang und Geist, in: Grund
probleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, hrsg.
v. Josef Speck, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 9 f.
Zur Einleitung *83
Metascienzen Metaph[ysik] des Absoluten
(Met[aphysik] I. Art.[)] (II. Art.)
Metanthropologie.
108 Vgl. unten die Ausführungen zur »Unsterblichkeit« (S. 135 – 139).
109 GW 14, S. 257 – 361.
110 B.I.51 – 52; Abschrift CA.XIII.9, S. 1 – 48; teilweise veröffentlicht in
GW 12, S. 121 – 126, ein weiterer Teil in GW 15, S. 228 – 231. In dieser Vorle
sung behandelt Scheler jedoch den Geist noch innerhalb eines Gesamt
zusammenhanges, der von den primitivsten seelischen Eigenschaften bis
zu den höchsten Vorgängen und Akten des menschlichen Geistes reicht
(GW 12, S. 121).
Stufenfolge des psychophysischen Seins *99
also der Anfang und das Ende der Stufen des psychophysischen
Seins. Die fundamentale Funktion der Mikrokosmos-Idee, die
über die Sphäre des Organischen hinausreicht, verlangt indes
sen, auch die Stufe des anorganischen Seins kurz in Betracht zu
ziehen; die Kosmos-Schrift überspringt sie, wofür noch keine
Erklärung gefunden worden ist.
Doch was ist überhaupt unter einer »Stufe« zu verstehen?
Scheler hat sich in diesem Fall nicht um die Klärung von Äqui
vokationen gekümmert, auch keine Begriffserläuterung, ge
schweige denn eine Definition vorgelegt. Er hat aber erkennen
lassen, dass er mit einer »Stufe« eine grundlegende Wesenheit
und Wesensstruktur einer Sphäre von Seiendem meint, von der
eine Vielheit von in ihr fundierten, durch zusätzliche spezifi
zierende Eigenschaften unterschiedene Arten von Seiendem be
stimmt ist. Als grundlegende Wesenheit konstituiert eine Stufe
somit einheitlich und durch die ihr eigentümliche Gesetzlich
keit, die sich auch auf die wesensgemäße Ausbildung der in ihr
fundierten Wesenheiten erstreckt, eine ganze Region von Seien
dem. Wegen ihrer allgemeinen, durchgehenden Gesetzlichkeit
gibt es keinen allmählichen, evolutionären Übergang zwischen
der ihr gegebenenfalls vorhergehenden, tiefer liegenden Schicht,
ebenso wenig wie einen evolutionären Übergang zu einer höhe
ren Stufe, wie ihn die empirische Forschung festzustellen sucht,
sondern nur ein sprunghaftes Auftauchen einer neuen Wesen
heit und die daran anschließende progressive Ausgestaltung
ihrer noch unentwickelten potentiellen Eigenschaften. Solche
fundamentalen, im Sinne von Stufen verstandenen Wesenhei
ten und Seinsschichten sind die vier Stufen von Gefühlsdrang,
Instinkt, Assoziation und Intelligenz. Für Scheler bilden sie eine
abgeschlossene Stufenfolge, weil die darauf folgende Stufe über
haupt nicht mehr dem »Leben« entsprungen sein kann, sondern
durch die ganz andere Seinsart des Geistes konstituiert wird.
Die sprunghafte Konstituierung des in keiner Weise aus dem
universalen Leben ableitbaren Geistes bedeutet für Scheler, dass
sich über den Menschen hinaus keine weitere Stufe des Lebens
mehr bilden könne – der Mensch ist soviel wie eine »Sackgasse
Stufenfolge des psychophysischen Seins *101
111 B.I.17, S. 1.
112 Scheler hat sich eingehend mit der Theorie des katholischen
Biologen Hans André auseinandergesetzt, wie die Randbemerkungen
zeigen: Hans André, Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und
Mensch. Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas
von Aquins, Habelschwerdt o. J. (1925). (Ana 315.Z.120) Den drei Korre
lationsstufen von Lebensform und Lebenssphäre von H. Plessner, Die
Einheit der Sinne (Bonn 1923), stellt André im Ausgang von Aristoteles
und Thomas drei »Emanationsstufen« des Lebens als Ausdruck von drei
»Verinnerlichungsstufen der Tätigkeit« entgegen: »Die Pflanze ist in der
Assimilation zwar aus sich heraus tätig, aber sie hat noch keine Inner
lichkeit und deshalb auch noch sozusagen keinen Leib, den sie von innen
heraus beherrscht. Das Tier beherrscht von innen heraus triebhaft seinen
Leib, aber es hat noch sozusagen keine Gewalt über sich selbst, da es sich
nicht selbst sich gegenüberstellen kann. Es befindet sich also trotz in
*102 Wolfhart Henckmann · Einleitung
114 Vgl. hierzu insbesondere den Abschnitt »Leib und Seele«, GW 12,
S. 141 ff.
115 Wolfgang Koehler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im
stat ionären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Braun
schweig 1920.
116 Vgl. hierzu die kurzen Notizen zur »Abzweigung der organisier
ten Bilder von den anorganischen Bildern«, in B.I.2, S. 91 – 92.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *105
118 Ganz ähnlich drückt sich Hans André aus (Der Wesensunter
schied a. a. O., S. 31).
Stufenfolge des psychophysischen Seins *107
schen Leben und Geist als einen durch die Menschheit, ja durch
den gesamten Kosmos hindurchgehenden, letztlich im Gottwer
dungsprozess angelegten und ausgetragenen ontologischen Vor
gang zu interpretieren. Dem ergänzenden Text zufolge wird die
gesamte Kosmos-Schrift vom transzendenten Prinzip des Welt
grundes metaphysisch durchdrungen. Der Sublimierungspro
zess wird zum dynamischen Zentrum der Mikrokosmosstruk
tur des Menschseins und macht aus Schelers philosophischer
Anthropologie eine spezifische Art von metaphysischer Anthro
pologie und Ontogenese. Das in den Notizen zur »Sublimirung«
skizzierte Forschungsprojekt konnte Scheler nicht mehr ausfüh
ren – nichts zeigt deutlicher den Fragmentcharakter von Sche
lers philosophischer Anthropologie als der unterentwickelte
Stand des Sublimierungsproblems, man muss wohl sagen: die
Ungelöstheit dieses erst spät erkannten Fundamentalproblems.
Gäbe es nach Schelers Auffassung einen Sublimierungsprozess
schon vom allerersten Augenblick der Menschwerdung an, ja
schon vom Beginn der creatio continua (S. 122,14) der Gottwer
dung im Weltprozess an, dann löst sich die von Scheler so pro
vokant vorgetragene These von der konstitutiven »Ohnmacht
des Geistes« (S. 73,13 ff.) in nichts auf, denn schon lange bevor
sich der Mensch als Mensch begreifen lernte, waren ontologi
sche Sublimierungsprozesse abgelaufen, die dem Menschen die
Möglichkeit gaben, geistig tätig zu werden.
121 Der Sache nach bereits in »Zur Idee des Menschen« angesprochen
(GW 3, S. 190).
122 Hermann Keyserling, Der erdbeherrschende Geist, in: Mensch
und Erde, a. a. O., S. 255 – 276.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *115
Lösung des Problems gefunden hat. Doch ebenso gut ließe sich
annehmen, dass die Kosmos-Schrift gegenüber den Dispositio
nen ein fortgeschritteneres Erkenntnisstadium repräsentiert,
da sie den Wesensunterschied zwischen Leben und Geist nicht
mehr durch eine Stufenfolge der »natürlichen Lebensevolution«
(S. 47,1) überbrückt, sondern den Wesensunterschied als meta
physisches Problem erkennt; nicht umsonst spricht Scheler im
zweiten Abschnitt die »Metaphysik des Menschen« an (S. 46,1).
Demzufolge befände sich Schelers philosophische Anthropo
logie in einem Prozess zunehmender »Metaphysizierung«. Ob
die genetische oder die metaphysische Lesart den Intentionen
Schelers mehr entspricht, kann jedoch nicht ohne Vorbehalte
behauptet werden; Scheler scheint eine solche Alternative sogar
abzulehnen (S. 46,3 f.). Doch das hängt davon ab, wie man sei
nen in der Kosmos-Schrift mit großer Geste aufgestellten Geist-
Begriff interpretiert und mit seinen sehr viel differenzierteren
Analysen aus dem Formalismusbuch in Einklang zu bringen
vermag.
Bei den Ausführungen des zweiten Abschnitts muss man
die Unterscheidung zwischen dem griechischen Vernunftbe
griff (also der »klassischen Theorie« des Menschen) und dem
»umfassenderen Wort« (S. 47,6) des Geistes stets gegenwärtig
haben. Scheler nimmt zwar den Vernunftbegriff der Griechen
als »Ideendenken« in seinen Geistbegriff auf, schreibt dem Geist
aber darüber hinaus noch einige weitere Vermögen zu: Zunächst
die Fähigkeit zur »Anschauung von Urphänomenen oder [und?]
Wesensgehalten«; sodann eine bestimmte Klasse »emotionaler«
und schließlich noch eine Klasse »volitiver Akte«, so dass der
Geist vier Aktarten umfasst: Ideendenken, Anschauung von
Urphänomenen und Wesensgehalten, emotionale und volitive
(willentliche) Akte. Über die Gründe, den griechischen Ver
nunftbegriff auf diese Weise zu ergänzen, sagt Scheler nichts;
die Erweiterung erfolgt aller Wahrscheinlichkeit nach aus der
bei ihm vorauszusetzenden persönlichen Wesensanschauung
und Erfahrung des Geistes und aus der objektiven Verschieden
artigkeit erlebter Urphänomene, die sich nicht aus den Erfah
*118 Wolfhart Henckmann · Einleitung
Daran schließt sich die Frage an, wie es zu einer Über- und
Unterordnung von geistigen Aktarten überhaupt kommen kann,
worin diese offenbar veränderlichen Ordnungen eigentlich be
stehen und unter welchen Bedingungen sie sich ändern. Was ist
im vorliegenden Fall mit der »Spitze des Geistbegriffes« (S. 48,6)
gemeint –: handelt es sich um die Spitze der Bestimmung des
Wesens des Geistes oder um die Spitze der Seinsart des Geistes?
Aber die von Scheler an die Spitze gestellte Wissensart ist dem
Text zufolge gar nicht eine besondere Wissensart, sondern eine
besondere Seinsweise, die überdies nur durch Negationen be
stimmt wird, nämlich durch die »existentielle Entbundenheit,
Freiheit [vom …], Ablösbarkeit« vom Organischen (S. 48,9 f.), von
der gesamten Lebewelt. Wer sich an dieser Stelle an die theisti
sche Periode und insbesondere an den nachgelassenen Aufsatz
über den »Ordo Amoris« (ca. 1914 – 1916) erinnert,129 hätte an
der »Spitze« Schelers Begriff der (geistigen) »Liebe« erwartet,
der aber an dieser entscheidenden Stelle gar nicht vorkommt
– er fehlt zwar nicht vollständig im zweiten Abschnitt, aber er
wird auf die volitiven Akte beschränkt (S. 62 f.) und ist dadurch
nicht mehr der das gesamte Gefüge der Aktarten des Geistes
fundierende Begriff wie einst (unklar ist, auf welche Weise er
überhaupt mit den Aktarten verbunden ist). Aus dem Kontext
ergibt sich, wenn man ihn mit Ausführungen aus der theisti
schen Periode vergleicht, eine signifikante Depotenzierung der
Liebe, die wohl als eine Folge der Depersonalisierung des gött
lichen Geistes zu einem unpersönlichen Weltgrund zu erklären
ist. In welchem Maße muss man hier von einer (von Scheler
verschwiegenen?) tiefgreifenden Korrektur von Schelers Geist
philosophie sprechen?
»Ist« der Geist diese Entbundenheit, manifestiert er sich als
diese besondere Art von Entbundenheit? Oder bringt er sie aus
der ihm eigenen Freiheit erst hervor, so dass er über eine ihm ei
gene Selbstsetzungs- oder Selbsterhaltungskraft gegenüber dem
Organischen verfügen würde? Entsteht die Entbundenheit aus
Gleich der erste Satz des neuen Absatzes lässt die systematische
Intention der folgenden Ausführungen erkennen: aus der Seins
struktur der Selbstgegebenheit des Menschen sollen »einige«, in
der Großen Anthropologie vermutlich »alle« spezifisch mensch
lichen, d. h. geistigen Besonderheiten zwar nicht abgeleitet, aber
»verständlich« gemacht werden. Der Leser wird von Scheler hier
allerdngs keine ausgearbeitete Hermeneutik der Selbstgegeben
heit des Geistes erwarten, da Scheler die ausgewählten Beson
derheiten nur kurz anführen wollte, nämlich drei: die Substanz
kategorie (S. 56 f.), die Leerformen von Raum und Zeit (S. 57 – 59)
sowie die Weltüberlegenheit der Person (S. 59 – 61). Mit diesen
»Beispielen«, eigentlich eher als Wesensmomente der Seins
struktur denn als geistige Kategorien zu verstehen, setzt Sche
ler die begonnene Bestimmung des Wesens des Geistes in Ab
grenzung vom tierischen Verhalten fort. Man kann sich fragen,
ob Scheler in der Konstellation der nach keiner expliziten Regel
ausgewählten Beispiele auf einen zugrundeliegenden, in der Sa
che verborgenen systematischen Zusammenhang aufmerksam
machen wollte und welche Bedeutung die Beispiele für eine Sy
stematik seiner Geistphilosophie eigentlich haben, was aber er
*132 Wolfhart Henckmann · Einleitung
132 Vgl. Heinz Leonardy, Liebe und Person. Max Schelers Versuch
eines »phänomenologischen« Personalismus, Den Haag 1976.
133 GW 4, S. 413.
*134 Wolfhart Henckmann · Einleitung
nen volitiven Akt. Die Lehre von den vier (oder mehr) Aktarten
ist ein vielschichtiges Beispiel dafür, wieweit sich die Vergegen
ständlichung des Geistes in ihn selbst hinein durchführen ließe
– was darüber hinaus an ihm nicht vergegenständlicht werden
kann, lässt sich dann kaum mehr anders denn als das unerklär
liche Wunder bezeichnen, dass so etwas wie ein geistiger Akt
überhaupt in Erscheinung getreten ist. Doch dies gilt im Grunde
von allem Seienden: dass es ist, und nicht vielmehr nicht ist, und
dass es so ist, wie es ist, und nicht anders.
Geist- und Triebsphäre bilden bei Scheler einen metaphysi
schen Dualismus, der auf eine mysteriöse Weise so verstanden
wird, dass die beiden nicht weiter reduzierbaren und vor allem
auch nicht aufeinander rückführbaren Prinzipien dennoch auf
einander Einfluss nehmen können. Scheler verstand sich meta
physisch in gewisser Weise als »Monist«, nämlich in dem Sinne,
dass Geist und Drang von allem Ursprung im Ens a se an von
beiden Seiten aus aufeinander bezogen sind: »Vergeistigung des
Lebens« und »Verlebendigung des Geistes« bezeichnet die ihnen
beiden vorausliegende, beide Momente verbindende Tendenz
zur wechselseitigen Durchdringung und Harmonisierung, der
sich der Mensch verdankt und die er selber weiterzuführen ver
mag – die weiterzuführen die eigentliche Bestimmung des Men
schen im Weltall ausmacht. Diese Auffassung hat Scheler be
sonders nachdrücklich gegen Ludwig Klages vertreten (S. 111 ff.),
sie kommt aber auch in seiner Theorie der Sublimierung zum
Ausdruck (S. 88 f., 146 ff.), in der es um die Assimilation von
Triebenergie durch den Geist und damit um die »Erkräftigung«
oder »Energisierung« des Geistes geht, auf dass seine Ideen und
Wertvorstellungen in die Realität überführt werden können.
Man sollte dabei zweierlei nicht übersehen: erstens, dass die
Vereinigungslehre eine eminent metaphysische Lehre ist, die
Schelers Lehre vom Absoluten voraussetzt, und zweitens, dass
Scheler keine einheitliche und in sich gleichbleibende Konzep
tion des Absoluten vertreten hat. Das ließe sich durch einen Ver
gleich mit der theistisch fundierten Biologie von Hans André
genauer belegen. In Andrés Buch über Die Kirche als Keimzelle
*138 Wolfhart Henckmann · Einleitung
sich der Geist selbst negieren würde, oder ob der Mensch durch
den real empfundenen Druck und die Enge der Wirklichkeit,
also durch Angst und Leid zu einem Nein getrieben wird, das
ihm allererst die Möglichkeit zu nicht wirklichkeitsgebunde
nen, »freien« Verhaltensweisen, also die Möglichkeit zu geisti
gen Aktarten eröffnet? Ob die Beispiele von Buddha, Platon und
Husserl für die eine oder die andere oder für noch weitere Deu
tungen sprechen, wäre im Zusammenhang mit Schelers Bemer
kungen zum Wirklichkeitserlebnis weiter zu untersuchen, die er
in seiner Philosophie der Wahrnehmung139 und im Aufsatz über
»Idealismus – Realismus«140 dargestellt hat.
Aus den sehr wenigen und kurzen Ausführungen zum Wirk
lichkeitserlebnis, die sich in der Kosmos-Schrift finden, sei die
zentrale These hervorgehoben, dass das »ursprüngliche Wirk
lichkeitserlebnis als Erlebnis ›des Widerstandes der Welt‹«
(S. 69,4 f.) gegen den (ebenfalls der Welt angehörenden) zentra
len Lebensdrang des Menschen zu verstehen sei, das allem Be-
wusstsein, aller Vorstellung, aller Wahrnehmung vorhergehe.
Damit meint Scheler nicht ein zeitliches Vorhergehen, so dass
der Mensch erst nach einer bestimmten Dauer seines Daseins
unter dem Zwang des Lebensdranges zu Wahrnehmungen und
Vorstellungen gelangen könne, sondern dass alle Wahrneh
mung, Vorstellung, alles Bewusst-sein von vornherein mitbe
dingt sei durch einen primären »Impuls unseres Lebensdranges«
(S. 70,1), wann immer der erlebt wird. Was unter dem »Mitbe
dingtsein« zu verstehen ist, bleibt ebenfalls unausgeführt. Wich
tig für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen ist je
doch, die These von der Gleichursprünglichkeit von Geist und
Lebensdrang im Auge zu behalten, die sich spiegelt in der These,
dass Wesen stets mit Dasein und Dasein stets mit Wesen ver
bunden seien.
weder auf die Probleme von Werttäuschungen noch auf die von
Wertkonflikten eingegangen, die in seiner mittleren Periode
eine große Rolle gespielt haben, und schließlich vollziehen sich
alle Leitungs- und Lenkungstätigkeiten im Horizont von Welt
anschauungen, die ihren Vertretern zuerst und zumeist nur auf
dem Niveau traditioneller Überzeugungen präsent sind. Es blei
ben also noch einige Fragen zu erörtern, was anderen überlassen
bleiben mag. Doch sei noch einmal eigens hervorgehoben, dass
Scheler für die Probleme der Leitung und Lenkung der mensch
lichen Verhältnisse innerhalb des Universums sowohl die geisti
gen Ideen als auch die Wertordnungen, d. h. die noetischen und
axiologischen Sphären und damit die gesamte Tiefe und Breite
des menschlichen Geistes in Anpruch nimmt. Seine Anthropo
logie ist ihrem Wesen nach weder reiner Intellektualismus noch
geistiger Emotionalismus, sondern umfasst beides. Auf welche
Weise aber beide Geistsphären miteinander verbunden sind, auf
harmonische oder widersprüchliche Weise, um schließlich doch
»solidarisch« wirksam zu werden, bleibt unerörtert.
Scheler hat bereits am Ende des dritten Abschnitts auf die Fä
higkeit des Menschen hingewiesen, »seine Triebenergie zu gei
stiger Tätigkeit zu sublimieren« (S. 72,13). Hatte er anfangs be
reits die Pflanze als den größten Chemiker unter den Lebewesen
bezeichnet (S. 15,24), so überträgt er nun den chemischen Begriff
der Sublimierung auf das Triebleben des Menschen – es ist also
nicht sicher, ob Scheler den Begriff der Sublimierung allein von
Freud entlehnt hat, wie es der Textzusammenhang nahelegt
(S. 72,6 ff.), oder ob er den Begriff nicht zuvor schon im Verlauf
seiner biochemischen Studien kennen gelernt hat. Jedenfalls
hält sich Scheler nicht an Freuds Auffassung der Sublimierung,
sondern gibt ihm einen Sinn, den er aus dem Verhältnis zwi
schen Drang und Geist im Menschen gewinnt (»sublimiert«).
*158 Wolfhart Henckmann · Einleitung
behauptet, dass es nur einen einzigen Geist gebe, von dem alle
endlichen Geister nur Modi oder aber individuelle Tätigkeits
zentren darstellen. Beiden Formen begegnet Scheler mit der seit
dem Formalismusbuch, ja schon seit der Jenaer Habilitations
schrift (1900) vertretenen These, dass das Personzentrum des
Menschen keine Substanz sei, »sondern nur eine monarchische
Anordnung von Akten, unter denen je einer die Führung und
Leitung« besitze (S. 84,12 f.). Welche Verfassung und welche Re
gierungsform diese »Monarchien« im Laufe der Menschheits
geschichte angenommen haben, annehmen werden oder aber
annehmen sollten, bleibt nach wie vor ungeklärt. Aus der Lehre
vom Menschen als homo sapiens folgt nach Scheler erstens, dass
die »Seinsformen nicht nur an Sinn und Wert, sondern auch an
Kraft und Macht zunehmen, je höher sie sind« (S. 84,19 f.), und
zweitens, dass sie mit dem Aufbau des Geistes ein konstantes
Ordnungssystem bilden. In der mittleren Periode hat Scheler
diese in der theistischen Weltanschauung gipfelnde Lehre sel
ber vertreten. Man kann sie sogar noch in der von der untersten
Stufe aufsteigenden Stufenfolge des psychischen Lebens wieder
erkennen (Abschnitt II), doch hat Scheler nach seiner Abkehr
vom Theismus die Teleologie der Stufenfolge durch seine Lehre
von der werdenden Gottheit ersetzt.
144 Vgl. vor allem »Mensch und Geschichte«, GW 9, bes. S. 125 – 129,
und die Ausführungen in GW 12, S. 31 ff.
*160 Wolfhart Henckmann · Einleitung
145 Leopold Ziegler, Das Heilige Reich der Deutschen, Bd. 1, Darm
stadt 1925, S. 214.
*164 Wolfhart Henckmann · Einleitung
gisch streng identisch« seien (S. 97,20), eine Auffassung, die sich,
wie er meint, »heute in allen Wissenschaften« durchgesetzt habe
(S. 98,23). Wenn Scheler demgemäß von der »Identität« von Leib
und Seele spricht, dann heißt das nicht unbedingt, dass sich
beide in allen ihren Eigenschaften entsprechen, sondern dass
sie »ontologisch«, also von ihrem Seinsgrund (im »Leben«) aus
gehend eine organisch funktionale Einheit bilden (S. 102,6 ff.).
Scheler führt zugunsten der organologischen Identitätsthese
die Auffassungen einiger moderner Wissenschaftler an, geht
aber nicht näher auf die damals wie heute unentschiedene Dis
kussionslage ein – eine »letzte philosophische Vertiefung dieser
Theorie« müsse er sich hier ersparen (S. 102,6 f.); später verweist
er auf seine Abhandlung »Erkenntnis und Arbeit« (S. 104,13 f.).
Scheler fügt seiner Einheitsauffassung des psychophysischen
Lebens eine kulturkritische Betrachtung an, die von einer me
thodologischen Forderung ausgeht: »Nach meiner Meinung ist
der Forschung heute geradezu das methodische Ziel zu stellen,
einmal im weitesten Maße zu prüfen, wieweit die gleichen Ver
haltungsweisen des Organismus einmal durch physikalisch-
chemische Reize von außen her, ein andermal durch psychische
Reizung […] herbeigeführt und abgeändert werden können.«
(S. 101,1 ff.) Im Sinne dieser Forderung hatte Scheler bereits im
ersten Abschnitt der Kosmos-Schrift die Begrifflichkeit einer
einseitig physiologisch ausgerichteten Psychologie durch dieje
nige moderner, verhaltensorientierter Disziplinen ersetzt.146 Er
weitet nun seine Kritik auf die gesamte abendländische Psycho
logie und Medizin aus (S. 102,8 ff.) und ergänzt sie durch eine
Kritik an der komplementär einseitig verfahrenden indischen
Medizin (S. 102,21 f.), um erneut auch gegen die theistische See
lenlehre zu polemisieren (S. 102,22 ff.). Mit all diesen kritischen
Bemerkungen stellt er sich aus der abendländischen Tradition
heraus, zu der er sich in der Einleitung zur Kosmos-Schrift be
kannt hat, und nimmt eine Position auf dem Boden einer mo
dernen, international anerkannten positiven Wissenschaft ein,
habe dabei aber den Geist irrtümlich auf die technische Intel
ligenz reduziert. Scheler hätte nun genauer auf das noch unge
klärte Verhältnis zwischen Geist und Intelligenz eingehen kön
nen, doch er beschränkt sich darauf, gegen die Grundthese vom
Geist als destruktivem Prinzip erneut die wechselseitige Ange
wiesenheit von Geist und Leben aufzustellen: »Geist und Leben
sind aufeinander hingeordnet, und es ist ein Grundirrtum, sie
in eine ursprüngliche Feindschaft oder einen Kampfzustand zu
bringen.« (S. 115,11 – 14) Mit dieser These bestimmt Scheler indi
rekt auch seine Randstellung zur zeitgenössischen Lebensphi
losophie.149 Zugleich diagnostiziert er die Panromantik als eine
Fluchtbewegung, die als Reaktion auf die in der Zivilisationsge
schichte der Menschheit entstandene »Übersublimierung« der
Lebensenergien entstanden sei. Schelers Sublimierungsmodell
ist deshalb als ein Maßhalten zwischen Über-sublimierung, d. h.
lebenzerstörender »Vergehirnlichung« (Über-Rationalisierung),
und »Re-sublimierung« als einer geist-kritischen Rücknahme
von Sublimierung zu verstehen. Schelers Auseinandersetzung
157 GW 3, S. 195.
158 »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs« (1927), GW 9, S. 152.
Identität von Leib und Seele *175
und gefaßt wie die klassische Idee des Menschen als ›homo
sapiens‹.«160
Der Geschlechtergegensatz liegt demzufolge nicht im Ens a
se selber begründet, sondern beruht auf den beiden Attribu
ten, in denen sich uns der Urgrund offenbart: »Geist« ist das
männliche, »Leben« das weibliche Prinzip, beide ursprünglich
unvermischt, aber aufeinander angewiesen, um die – wie auch
immer beschaffene Spannung zwischen ihnen – zum Ausgleich
zu bringen. Da diese beiden Attribute das gesamte Universum
durchdringen, ist alles Seiende in unabsehbarer Vielfalt und
in den unterschiedlichsten Maßverhältnissen zugleich männ
lichen und weiblichen Wesens, also schon immer in einem be
stimmten Maß und in einer bestimmten Art »ausgeglichen«.
Welche Eigenschaften des Geistes das Männliche, welche des
Lebens das Weibliche ausmachen und wie sie sich im Mann oder
Weib verbinden, da beide Geschlechter aus einer funktionalen
Verbindung von Geist und Leben bestehen, hat Scheler nicht
mehr im Einzelnen auseinandergelegt. Immerhin aber hat er
anhand einer Anzahl von überwiegend traditionellen Dualis
men unterschiedlichster Art charakteristische Differenzeigen
schaften zusammengestellt: Männliches und weibliches Wesen
unterscheiden sich wie Geist und Leben, Tag und Nacht, Han
deln und Dulden, Sonne und Mond usw., wobei diese Unter
schiede vermutlich eher dem männlichen als dem weiblichen
Geist plausibel erscheinen mögen, während eine weibliche An
thropologie wohl von vornherein eine solche »antinomische«
Charakterisierung ablehnen würde.
Seine Disposition zu einer für Frankfurt 1928 geplanten Vor
lesung über die »Soziologie der Geschlechter« gibt einen geord
neteren Überblick über das, was er zur Geschlechterdifferenz
in Schriften wie dem posthum veröffentlichten Aufsatz »über
Scham und Schamgefühl«,161 im Aufsatz »Zum Sinn der Frauen
160 GW 9, S. 158 f.
161 GW 10, S. 65 – 154, bes. S. 145 ff.
Identität von Leib und Seele *177
166 Johannes Ranke, Der Mensch. Bd. I: Entwickelung, Bau und Le
ben des menschlichen Körpers, Leipzig 1886; Bd. II: Die heutigen und die
vorgeschichtlichen Menschenrassen, Leipzig 1887.
167 GW 1, S. 348. Im Sachregister des von Maria Scheler und M. S.
Frings herausgegebenen Bandes 1 der Gesammelten Werke findet sich
das Stichwort »Rasse« nicht.
Zur Metaphysik des Menschen *179
äußeren Gründen – Scheler ist offenbar nicht mehr dazu gekommen, sie
so weit auszuarbeiten, wie er in der Kosmos-Schrift und schon in der
Anthropologie-Vorlesung von 1925 bereits gekommen war (vgl. GW 12,
S. 20 f.).
171 Vgl. GW 3, S. 73 u. ö.
172 Eine der letzten Darstellungen der Evidenzordnung findet sich in
»Realismus – Idealismus« (1928), GW 9, S. 187 f.
Zur Metaphysik des Menschen *181
173 Scheler unterscheidet die folgenden Arten von Kategorien: 1.) Ka
tegorien der natürlichen Weltanschauung, 2.) Kategorien der positiven
Wissenschaften des Anorganischen, 3.) Kategorien des Lebens (objektive
und subjektive Biologie), 4.) Kategorien der Geschichte, 5.) Kategorien
des endlichen Geistes, 6.) Kategorien des Urseienden, schließlich noch
Kategorien der formalen Ontologie (Gegenstand, Beziehung, Mannig
faltigkeit) und Kategorien der Mathematik. Er hat seine Kategorienlehre
jedoch nur punktuell entwickelt.
174 Scheler, Gott und Geschichte, in: B.I.22, S. 36; Abschr.: CE.XXII.13,
S. 1.
*182 Wolfhart Henckmann · Einleitung
176 GW 9, S. 82.
177 B.I.2, S. 35 – 54.
178 Der Abschnitt »Metaphysische Sonderstellung des Menschen«
ist, wenn auch nicht ganz vollständig und korrekt, von M. S. Frings in
GW 12, S. 207 – 219 veröffentlicht worden. Auf den Zusammenhang dieses
Abschnitts mit der Kosmos-Schrift hat er nicht hingewiesen.
*184 Wolfhart Henckmann · Einleitung
kunde alle Dinge dieser Welt »aus dem durch sich seienden Sein
hervorgehen« (S. 122,14 f.); dies betrifft sowohl die anorganische
Natur als auch die Stufenfolge des psychophysischen Seins bis
hin zur Existenz des Menschen als der höchsten Entwicklungs
stufe der Natur. All dies ist schon als eine unendlich mannig
faltige Durchdringung von Drang und Geist zu verstehen, wozu
die unterschiedlichsten Arten und Grade sublimierter Lebens
energie gedient haben. Die erste Ebene erweist sich also als we
sentlich durch die Evolution des Lebens auf dem Erdplaneten
geprägt.
Die zweite Ebene ist die des Menschen, begriffen als »das
menschliche Selbst und das menschliche Herz« (S. 122,10f.).
Mit den beiden Merkmalen »Selbst« und »Herz« sind die bei
den Grundaktarten des Geistes gemeint: Das Selbst steht für
das Selbstbewusstsein als ein Vermögen, alle Wesenheiten der
Dinge in der Einheit eines Selbstbewusstseins zusammenzufas
sen, und das »Herz« steht für das Vermögen, den lebendigen
inneren Wert und den Sinn des Seienden in der ewigen Wert
ordnung alles Seienden im Universum zu fühlen. Dadurch wird
der Mensch nicht bloß ein »Ort«, sondern ein lebendiger, in
dividueller Teilhaber und Mitwirker an dem überindividuellen
Prozess der Vergöttlichung der Welt als des Prozesses der Gott
werdung. In einem solchen Individuum konzentriert oder par
zelliert sich der Gottwerdungsprozess nach Maßgabe von gei
stigen Erkenntnissen und Wertrealisierungen, die dem ewigen
Logos entsprechen. All dies vermag das Ens a se nicht durch sich
selbst, denn es »weste« am Anfang nur als ein so spannungs
geladenes, von sich bildenden und auflösenden Widersprüchen
durchdrungenes Chaos, dass es irgendeinen Entlastung verspre
chenden Ausweg suchen musste – ein durch und durch anthro
pomorphes Argument. Diesen Ausweg bildet letztlich, sozusa
gen am Ende der Sechstagewoche der Schöpfungsgeschichte,
der Mensch, der aus dem Ens a se hervorgegangen ist und mit
ihm wesensidentisch ist, dem also weder die unendlichen Ge
staltungsmöglichkeiten der Deitas noch die Machtfülle des Le
bensdrangs fremd sind, und ebenso wenig der unbezwingliche
*190 Wolfhart Henckmann · Einleitung
185 In GW 12, S. 213 ff. sind die Kennzeichnungen als »Einwände« ge
strichen worden, so dass der Zusammenhang mit der Kosmos-Schrift
nicht mehr erkennbar ist.
*192 Wolfhart Henckmann · Einleitung
Mensch und Erde, hrsg. vom Grafen Hermann Keyserling (Der Leuchter,
Bd. 8), Darmstadt 1927, S. 256. Vgl. auch den umfangreichen Tagungsbe
richt von Otto Frh. v. Traube, in: Der Weg zur Vollendung, H. 14, Darm
stadt 1927, S. 18 – 62. Einer der Gegensätze, die auf der Tagung zur Sprache
gekommen sind, bestand darin, »dass Professor Scheler den Geist als
ohnmächtig, Graf Keyserling ihn als erdbeherrschend darstellte« (S. 48).
Keyserling hat sich im Übrigen wiederholt zur »absoluten Wertlosigkeit
jeder Gelehrtenphilosophie« geäußert (u. a. in seiner Bücherschau, in:
Der Weg zur Vollendung, H. 14, S. 78).
199 Erich Rothacker, Zur Lehre vom Menschen. Ein Sammelreferat
über Neuerscheinungen zur Philosophie des Organischen, zur philo
sophischen Anthropologie, zur Geisteswissenschaft, Geschichtsphilo
sophie, Kultursoziologie und Kulturphilosophie, in: Deutsche Viertel
jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 10 (1932),
S. 173 – 184; Bd. 11 (1933), S. 145 – 163; hier: Bd. 10, S. 174.
*202 Wolfhart Henckmann · Einleitung
207 Ernst Cassirer, ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Ge
genwart, in: Die neue Rundschau 41/1 (1930), S. 246; später in: Cassirer,
Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 17: Aufsätze und kleine
Schriften (1927 – 1931), bearb. v. Tobias Berben, Hamburg, S. 185 – 205.
208 Ebd. S. 252.
209 Ebd. S. 260.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *205
210 Martin Buber, Die Lehre Schelers (engl. 1946), in: Buber, Das Pro
blem des Menschen, Heidelberg 1948, S. 127 – 157.
211 Karl Löwith, Scheler und das Problem einer philosophischen
Anthropologie, in: Theologische Rundschau, N. F. 7 (1935), S. 349 – 372;
später in: Löwith, Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropo
logie, hrsg. v. Klaus Stichweh, Stuttgart 1981 (Sämtliche Schriften, Bd. 1),
S. 219 – 242, hier: S. 220.
*206 Wolfhart Henckmann · Einleitung
221 Anonym, Bericht über die 12. Tagung der Deutschen Philoso
phischen Gesellschaft, in: Blätter für Deutsche Philosophie 8 (1934),
S. 65 – 70.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *211
losophie Max Schelers (1937) ernst mit Schelers These, dass ihn
die Frage nach dem Wesen des Menschen von den Anfängen
seines Philosophierens an beschäftigt habe – der anthropolo
gische Gesichtspunkt sei der Schlüssel für das Verständnis von
Schelers Philosophie.222 Von der werttheoretischen Frühphase
ausgehend verfolgt sie die Entwicklung von Schelers anthropo
logischer Grundfrage über die Kriegsschriften, die sein Men
schenbild erheblich erweitert und neue Wege zur Bestimmung
des Verhältnisses der nationalen Wesenheit und dem Men
schenwesen eröffnet haben, über die soziologischen Schriften, in
denen Scheler schließlich in einem »religiösen Atheismus«, der
der Philosophie von Leopold Ziegler verwandt sei, die Basis für
sein philosophisch-anthropologisches Denken gefunden habe.
In den darauf aufbauenden Schriften seit dem wegweisenden
Aufsatz über die »Formen des Wissens und die Bildung« habe
sich Schelers Anthropologie zu einer Fundamentalanthropo
logie als Grunddisziplin der Philosophie entwickelt, die vom
Standpunkt eines Allmenschentums die »organisierende Idee«
für die Verbindung aller Aktivitäten der Menschen entwickele.
Schelers Fundamentalontologie ende nicht in einer universalen
Seinsphilosophie, sondern frage darüber hinaus nach dem Sinn
des Seins des Menschen in der Evolution des Kosmos. In An
knüpfung an Schelers Auffassung der Philosophie als Bildungs
wissen bestehe das »Bild des Menschen« in der doppelseitigen
schaffenden Mitwirkung an der Verlebendigung des Geistes
und der Vergeistigung des Lebens, wonach sich der Geist in sei
nem Eingehen auf die realen Gegebenheiten progressiv in neue
Funktionen ausdifferenziere und sich dadurch zugleich die We
senspotentiale der Gegebenheiten entfalten. Im Verlaufe dieses
kontinuierlichen Schaffensprozesses entstehe aus dem Urseien
den am Ende Gott. Ihre verständnisvolle, sorgfältig ausgearbei
tete Dissertation ist in der Rezeption von Schelers Anthropolo
gie bis heute fast ohne Echo geblieben.
222 Sigrid Wilhelm, Das Bild des Menschen in der Philosophie Max
Schelers, Dresden 1937, S. 10.
*212 Wolfhart Henckmann · Einleitung
223 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in
der Welt, textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes
der 1. Aufl. von 1940, 2 Teilbände, hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frank
furt am Main 1993 (Gehlen, Gesamtausgabe, Bd. 3.1 – 2).
224 Vgl. Arnold Gehlen, Rückblick auf die Anthropologie Max Sche
lers, in: Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie a. a. O.,
S. 179 – 188; später in: Gehlen, Gesamtausgabe Bd. 4, S. 247 – 258.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *213
Scheler, Berlin 1937, sei bei Scheler und M. Geiger die Phänomenologie in
einen »metaphysischen Realismus« umgeschlagen (S. 5 u.ö.).
230 Edmund Husserl, Phänomenologie und Anthropologie (1931), in:
Vorträge und Aufsätze (1922 – 1937), mit ergänzenden Texten hrsg. v. Tho
mas Nenon u. Hans Rainer Sepp, Dordrecht 1989, S. 164 ff. Auf Husserls
anthropologische Anschauungen ist Ludwig Landgrebe eingegangen:
Philosophie der Gegenwart, Bonn 1952, bes. S. 35 ff.
231 Hinweise auf Husserls Randbemerkungen zur Kosmos-Schrift
verdanke ich Matthias Schloßberger, auch auf ihre Transkription in:
*216 Wolfhart Henckmann · Einleitung
Seine Kritik bezog sich nicht allein auf Scheler, sondern auch
auf Heidegger. Scheler hatte Sein und Zeit (1927) im Entwurf
der Vorrede als »überaus originalen Versuch« bezeichnet, »die
Ontologie des Menschen« herauszuarbeiten (S. 142,10 – 12). Hei
degger knüpft zwar in seinem dem Gedächtnis Max Schelers ge
widmeten Buch (die Widmung ist in späteren Auflagen wieder
fortgefallen) Kant und das Problem der Metaphysik (1929) an die
Kosmos-Schrift an, aber nur um die Mehrdeutigkeit und innere
Begrenztheit des Begriffs »philosophische Anthropologie« her
auszustellen und zu zeigen, dass die ihr zugeschriebene zentrale
Stellung nicht aus dem Wesen der Philosophie begründet wer
den könne, also hinfällig sei.232 Auf all das, was Heidegger der
Philosophie Scheler verdankte, ist er nicht weiter eingegangen.233
Im Unterschied zur grundsätzlichen Kritik von Heidegger
und Husserl geht Alexander Pfänder in seinen Notizen von 1928
zu Schelers Aufsatz über die Idee des Menschen auf die Sachen
selbst ein, doch auch nicht weniger kritisch als die beiden an
deren führenden Phänomenologen Husserl und Heidegger: Er
wendet sich gegen die radikale Trennung zwischen Drang und
Geist, der er seine Lehre vom Geist als »Grundwesen der Seele
und des Leibes« entgegensetzt; die leiblich-seelische Natur des
Menschen brauche den Geist, »um zu ihrer vollen Auszeugung
zu gelangen.«234 In seinem Spätwerk Die Seele des Menschen
(1935)235 setzt er sich zwar nicht mit der psychologischen, biolo
gischen oder philosophischen Forschungsliteratur auseinander,
lrich Kaiser, Das Motiv der Hemmung in Husserls Philosophie, Mün
U
chen 1997, S. 57 ff.
232 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929),
2. unveränd. Aufl. Frankfurt am Main 1951, S. 188 ff.
233 Vgl. hierzu Otto Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler
und Heidegger, in: Studien zur Philosophie von Max Scheler, hrsg. v.
Wolfgang Ernst Orth u. Gerhard Pfafferott, Bonn 1994 (Phänomenolo
gische Forschungen 28/29), S. 166 – 203.
234 Alexander Pfänder, Nachlass (Bayerische Staatsbibliothek Mün
chen, Pfänderiana A,VI,10).
235 Alexander Pfänder, Die Seele des Menschen. Versuch einer verste
henden Psychologie, München 1935.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *217
knüpfung von Leben und Geist sah Geiger, und mit ihm alle,
die Scheler gekannt haben, die Besonderheit von Schelers rast
losem Philosophieren: »Erst am Ende der Tage steht der Aus
gleich zwischen Geist und Drang. Hier liegt die Lösung seiner
anthropologischen Metaphysik, die zum letzten Ende zu führen
ihm nicht beschieden war.«
Fritz Heinemann bespricht in seiner kritischen Übersicht
über Neue Wege der Philosophie (1929) Max Schelers Philosophie
nicht unter den Grundbegriffen »Geist« und »Leben«, sondern
unter dem dritten der neue Wege herausfordernden Grundbe
griffe der zeitgenössischen Philosophie, der »Existenz«. Unter
dem Titel der »Anbahnung neuer universal-philosophischer
Einstellungen« stellt Heinemann die Entwicklung der Phä
nomenologie von Brentano bis Heidegger dar, wobei Scheler
den Denkern zugerechnet wird, die nach der Wendung zum
Akt (Brentano) wie Meinong und Husserl die Wendung vom
Phänomen zum Wesen vollzogen haben. »Auf dem Wege zur
Existenz bedeutet die Philosophie Max Schelers […] die wich
tigste Etappe.«241 Heinemann charakterisiert die Entwicklung
von Schelers Denken durch die bereits damals allgemein an
genommenen drei Perioden hindurch und gelangt in der drit
ten zur Anthropologie: »Die Wendung, die Scheler jetzt durch
führt, entspricht der Grundwendung der Zeit, der Wendung zur
Existenz als Wendung zum Konkreten. Und hier müssen wir
betonen, dass der erste großartige Versuch vorliegt, mit einem
einzigen Blick die historische und die biologisch-psychologisch-
anthropologische Welt zu umspannen. Dadurch erhält das
Schelersche Denken Größe.« (S. 362) Befreit von religiösen und
mythologischen Vorstellungen verknüpfe Scheler seine neu ge
wonnene »soziologisch-historische Grundauffassung mit einer
neuen Auffassung des Menschen, und es entsteht gleichzeitig die
erste Anthropologie des neuen Zeitalters seit Lotze, die den Men
251 Vgl. den Artikel von W. Schultz, Über die Aufgabe einer theolo
gischen existentialen Anthropologie, in: Zeitschrift für Theologie und
Kirche NF 14 (1933), S. 125 – 147.
252 Eberhard Grisebach, Gegenwart: Eine kritische Ethik, Halle 1928.
Grisebach stellt sich die Aufgabe, »die Menschen auf die Gefahr ihrer
Selbstüberschätzung aufmerksam zu machen« (S. XII). Zu Grisebachs
Anthropologie vgl. Heinz Erich Eisenhuth, Die Auffassung vom Men
schen in Grisebachs kritischer Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und
Kirche NF 14 (1933), S. 148 – 165.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *225
und sie von allen bloß vitalen Erlebnissen scharf trennte, der auf
die Unsterblichkeit der geistigen Person gegenüber dem sterb
lichen bloßen Lebewesen wie Tier und Pflanze immer wieder
hinwies, schloss sich mehr und mehr einer Unterordnung des
Geistigen unter das triebhaft Vitale an, wie sie etwa Klages ver
tritt, und erklärte die Bestimmung des Menschen als Vernunft
wesen für eine Erfindung der Griechen.«253 Hildebrand führte
noch weitere »Umkippungen« an, die alle nur aus der zügellosen
Natur Schelers zu erklären seien – Schelers Anthropologie sei
nichts anderes als das Spiegelbild des problematischen, in sich
zerrissenen Menschen Scheler. Den tiefsten Grund für den gei
stigen Zerfall von Schelers Philosophie sah Hildebrand darin,
»dass ihm der eigentliche übernatürliche Gehalt der Kirche ver
schlossen blieb […]. Er vermochte nicht, aus der erkennenden
Einstellung zu der liebenden Hingabe an Gott und dem Leben
aus dem Glauben überzugehen« (S. 615). Hildebrand wollte seine
Auffassung von Schelers tragischer Entwicklung in einer Mono
graphie darstellen, doch dazu ist es nicht mehr gekommen, er
musste 1933 aus Deutschland fliehen. Das Wort vom tragischen
Schicksal des Philosophen Scheler machte, wenn auch in un
terschiedlicher Auslegung, unter den christlichen Philosophen
und Theologen seine Runde.
Der christliche Existenzphilosoph Peter Wust erwartete An
fang der zwanziger Jahre von der ȟberragenden Gestalt Max
Schelers« eine Vermittlung zwischen dem Neukantianismus
und der Lebensphilosophie, musste aber in Schelers Vorträgen
über »Die Wissensformen und die Bildung« (1925) und »Mensch
und Geschichte« (1926) erkennen, dass Scheler zum »Totengrä
ber seines eigenen Lebenswerkes« zu werden drohte.254 Wust
kam am Ende einer ausführlichen Analyse von Schelers Anthro
pologie vor und nach der Wende von 1922 zu dem Ergebnis, dass
Scheler, zwischen Theismus, Pantheismus, sogar Atheismus hin
und her taumelnd, zwar das Verdienst habe, auf der Grundlage
der biblischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Men
schen »das Problem vom Wesen des Menschen allen Ernstes
für seine Zeit noch einmal gestellt und in den Mittelpunkt der
heutigen Philosophie gerückt zu haben«, dass aber in der letzten
Phase die »ungeheure Katastrophe dieses Denkerlebens sicht
bar geworden« sei und »Scheler seinen Nachfolgern eigentlich
nichts weiter als die Problemstellung auf einem unabsehbaren
Felde von Trümmern« hinterlassen habe. Auf diesem Trüm
merfeld stelle sich nach wie vor die ewige Urfrage all unseres
menschlichen Denkens in einer beinahe erschreckenden Gestalt
neu, was eigentlich der Mensch sei.255
Ähnlich urteilte Hans-Eduard Hengstenberg, der als ehema
liger Schüler Schelers 1996 zum Ehrenmitglied der zweiten, 1993
gegründeten Max-Scheler-Gesellschaft gewählt worden war,
in seinen Betrachtungen zur tragischen Denkgeschichte Max
Schelers. Schelers Gotteslehre habe sich geradezu in eine »an
gewandte Anthropologie« verwandelt.256 Infolge einer persön
lich bedingten Überbewertung des naturhaften Drangs sei er
zur Lehre von der Ohnmacht des Geistes sowohl im Menschen
als auch in Gott gekommen – denn die Gnade eines Ringens mit
Gott habe Scheler nie erfahren.
Der ehemalige Jesuit und katholische Theologe Hans Urs von
Balthasar sieht in Schelers Leitbild einer »totalen Anthropolo
gie«, in der Philosophie, Wissenschaft und Kultur zusammen
laufen, den Ausdruck eines geistigen Titanismus, der in einem
»in der deutschen Geistesgeschichte beispiellosen Ikarussturz«
endete.257 Die wichtigsten Wurzeln von Schelers Lehre sieht
255 Peter Wust, Max Schelers Lehre vom Menschen (1928/29), in: Ge
sammelte Werke, Bd. 7, S. 286 f.
256 Hans-Eduard Hengstenberg, Die Tragik eines Philosophen. Zur
Denkgeschichte Max Schelers, in: Germania Nr. 233, Berlin 24.8.1934.
257 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele, a. a. O.
S. 85.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *227
Nietzsche gefeiert wird, dessen Werk aber »von der Zunft tot
geschwiegen oder kleinlich bekrittelt« werde.272 Schelers Ver
dienst liege vor allem darin, dass er in Deutschland, und nur
in Deutschland, »eine neue Erkenntnis des Menschen erarbei
tet« habe (S. 28). Die philosophische Anthropologie müsse eine
Trieb-, Seelen- und Geistlehre enthalten, worüber es allerdings
auch bei Scheler noch keine einheitliche Anschauung gebe. In
der Geistlehre wich Curtius sogar von Scheler ab – mit Goethe
ist für ihn der Geist in seiner erhabensten Wirkform »Schöp
fergeist« (S. 91), also gerade das Gegenteil eines ohnmächtigen
Geistes.
Der Soziologe Werner Sombart war mit Scheler seit der Vor
kriegszeit in einem eifersüchtigen Konkurrenzverhältnis be
freundet, so dass er es abgelehnt hat, einen Nachruf auf Sche
ler zu schreiben. In seinem Buch Vom Menschen. Versuch einer
geistwissenschaftlichen Anthropologie (1938) wollte er das Pro
gramm der »philosophischen Anthropologie« ausführen, 273
das Scheler am Anfang des sechsten Abschnitts der Kosmos-
Schrift umrissen hat. »Philosophisch« ersetzte er dabei durch
»geistwissenschaftlich«, was den nicht-philosophischen Stand
punkt erkennen lässt, der sich nur für die geist-bedingte, kul
turgeschichtliche Dimension von Schelers Konzept interessiert.
Warum er es unter dieser Einschränkung als »in der Natur der
Sache gelegenes Programm« bezeichnen konnte, wird nicht wei
ter ausgeführt, ebenso wenig, dass er Schelers Auffassung des
Menschen als Neinsager oder Gottsucher wie alle anderen von
Platon bis N. Hartmann stammenden Wesensbestimmungen
des Menschen für »einseitig« gehalten hat (S. 4). Nach Sombarts
Meinung seien bereits in C. A. Werthers System der Pneumato-
logie (1867)274 »so ungefähr alle Gedanken enthalten […], die
295 Katharina Kanthack, Max Scheler und wir, in: Berliner Hefte für
geistiges Leben 3 (1948), S.160 – 170, hier: S. 160.
*242 Wolfhart Henckmann · Einleitung
vom Geist der betreffenden Kulturen aus zu erklären (S. 170 f.),
womit er implizit die These von der Historizität einer jeden An
thropologie vertritt. Im SS 1954 hielt er an der Universität Mün
chen eine Vorlesung über das damals aktuelle »Studium Gene
rale«, die in wesentlichen Teilen auf der Anthropologie Schelers
beruhte. Mit seinen beiden epochemachenden Entdeckungen,
der Rangordnung der Werte und der Rangordnung der Wissens
formen, habe Scheler dem Studium Generale »einen großen, ja
entscheidenden Dienst geleistet. Er hat die Bedeutung der phi
losophischen Anthropologie erkannt. Mit der Objektivität der
Menschenwelt, mit der überzeitlichen Gültigkeit der Wertewelt,
mit der Rangordnung der Werte, Wissensformen und Berufe
hat er mit anderen Namen schon die horizontale Synthese vor
bereitet, die wir als dringlichste Forderung jedes Versuchs, eine
einheitliche Philosophie und die Einheit der Wissenschaften zu
schaffen, erkannt haben.«310 Schelers Anthropologie als Grund
legung eines Studium Generale – diese Vision hat jedoch keine
weiteren Anhänger mehr gefunden.
Am nachdrücklichsten, aber letztlich merkwürdig un
entschieden setzte sich Erich Rothacker mit seinem Vortrag
»Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit«311 für Schelers An
thropologie ein. In Anerkennung von Schelers unorthodoxer
Wesensanalyse warb er dafür, die philosophische Anthropolo
gie als Einzelwissenschaft auszubauen: »Im Grunde erweist sich
das Festhalten einer anschaulichen Haltung, d. h. der entschlos
sene Verzicht auf jedes deduktive konstruierende Verfahren, die
Methode, auch transzendentale Notwendigkeiten in Gestalt von
Fundierungszusammenhängen aufzuweisen, als die fruchtbar
ste Voraussetzung jeder Weiterentwicklung zur Weltoffenheit.
Wenn es eine indirekte Rechtfertigung philosophischer Me
thoden aus ihrer Fruchtbarkeit gibt, dann ist die Schelersche
310 Alois Dempf, Die Einheit der Wissenschaft, Stuttgart 1955 (Urban
Taschenbücher, 18), 21962, S. 64.
311 S. 102 – 104; vollständig erschienen in: Schelers Durchbruch in die
Wirklichkeit, Bonn 1948 (Akademische Vorträge und Abhandlungen, 13)
*250 Wolfhart Henckmann · Einleitung
des Menschen geben. Und das blieb bei ihm nicht methodolo
gische Erwägung. Sondern es befähigte ihn – um nur ein Bei
spiel zu nennen – etwa an ein Problem wie das des Todes her
anzugehen als an ein biologisches, psychologisches, ethisches,
metaphysisches und als an ein Glied der ›Meta-Anthropologie‹,
in die sein ganzes Philosophieren zusammenströmen sollte.«
(S. 104)
Im Anschluss an den Vortrag von Wilhelm Keller: Der posi
tive Begriff der Existenz und die Psychologie (S. 147 – 151) drückte
Hermann Wein seine Verwunderung aus, »wie wenig der Reich
tum der sachlich oft nahe beieinander liegenden anthropologi
schen Ergebnisse in den letzten Jahrzehnten ineinander verar
beitet worden ist«. Das ist ganz im Sinne von Schelers Bemühung
um eine Einheit unseres Wissens vom Wesen des Menschen
gedacht. Wein schöpfte daraus die Hoffnung, der auch andere
zustimmten: »Das Anderssein von psychologischer, anthropo
logischer und existenzphilosophischer Frageweise kann sehr
scharf gesehen, aber auch der Aspekt einer notwendigen und
vielleicht gar nicht mehr so fernen Konvergenz dieser Fragewei
sen, wenn wir die verschiedenen Ansätze dieses Kongresses be
denken, kann in den Blick gefasst werden.« (S. 151) Darin sprach
er, offenbar ohne sich dessen bewusst zu sein, das Anliegen
von Schelers Großer Anthropologie aus, die sich auf diese Weise
in der Tat als aktuell erwies, wenn auch anonym und uner-
kannt.
Von einer Scheler-Renaissance konnte, im Ganzen betrachtet,
trotzdem keine Rede sein, allenfalls von einer an unterschied
lichen Ecken und Enden aufkeimenden Hoffnung auf eine Re
naissance, die aber nur auf ihre Weise bezeugte, dass Schelers
Anthropologie zu fragmentarisch geblieben ist, um als einheit
liche, Orientierung stiftende Konzeption wahrgenommen wer
den zu können. Ein Aktualitätsanspruch würde voraussetzen,
dass die metaphysische Dimension als unveräußerliches We
sensmoment seiner philosophischen Anthropologie anerkannt
würde. Es hatte sich damals aber noch nicht einmal die Nobili
tierung der historischen Betrachtung von Schelers Anthropolo
*252 Wolfhart Henckmann · Einleitung
gie als das Werk eines der drei »Klassiker der philosophischen
Anthropologie« der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert.
Sollte indessen heutzutage ein Leser der Kosmos-Schrift, der
auch noch durch die abwechslungsreiche Landschaft ihrer er
sten Rezeptionsphase gewandert ist, sich noch an den sechsten
Abschnitt erinnern, in dem Scheler die Metaphysik des Men
schen mit der erstaunten Frage beginnt, wo denn er selber, der
philosophische Anthropologe, in all den Daseinsrelativitäten
stehe, die den Menschen mit Gott und der Welt vieldeutig und
wesentlich verbinden, dann wäre er bei einer Einstellung ange
langt, die Scheler sich wohl für die Beschäftigung mit der Kos
mos-Schrift gewünscht hätte: seine fragmentarisch gebliebene
Anthropologie als einen umfassenden Entwurf zu lesen, den er
an sein eigenes Selbstverständnis hält, um zu prüfen, ob er sich
nicht auf das Wagnis einlassen solle, an der Ausarbeitung und
Realisierung eines Entwurfs wie demjenigen Schelers mitzu
wirken, um nicht als ein namenloses, zufälliges Sandkorn über
die Wüste dieser Welt dahingeweht zu werden, sondern sich im
Sinne der Kosmos-Schrift als ein unersetzbares, notwendiges
Lebenselement im Aufbau und in der Erhaltung dieses unend
lich erstaunlichen, einzigartigen Ganzen von Mensch und Uni
versum zu verstehen und zu erweisen. Schelers Kosmos-Schrift
erwartet, würde Scheler sagen, einen hochgemuten, einsatzbe
reiten Leser, der die Gefahr nicht scheut, von den Vielen, die
ebenfalls einmal »kritisch« durch die Schrift hindurchgeblättert
haben, für einen aus den Aktualitäten der Gegenwart herausge
fallenen Don Quichote gehalten zu werden.
Zur Textgenese *253
8. Zur Textgenese
314 Guido Cusinato hat als erster die Textgenese untersucht, sich da
bei aber auf die dritte und vierte Phase beschränkt (Scheler, La posizione
dell’uomo nel cosmo, a cura di Guido Cusinato, Milano 2000, § 10: Storia
dell’edizione di La posizione dell’uomo nell cosmo, S. 62 – 67).
*254 Wolfhart Henckmann · Einleitung
und werde dann mit Max beratschlagen. Daß der Vortrag nicht
so, wie er gesprochen wurde, veröffentlicht werden kann, aber
steht doch wohl fest; er würde auch viel zu umfangreich für den
›Leuchter‹ werden. Jedenfalls dürfen Ihr Mann und Sie sicher
sein, daß mein Mann – und auch ich auf meine Weise – alles
dazu tun werden, das M[anu]S[kript] Ihnen gut und bald aus
händigen zu können.«319 Am 8.7.1927 meldete Scheler sich dann
ebenfalls noch: »Andererseits ist das Excerpt, das ich aus mei
nem großen Manuskript für die Veröffentlichung im Leuchter
vorzunehmen habe, von niemand anders zu machen wie von
mir selbst; weder meine Frau noch mein Assistent können das
machen. Es ist wirklich schon eine rechte Misere, das[s] s[einer]
Z[eit] in Darmstadt mein Vortrag nicht gleich mit stenogra
phiert wurde, so dass ich jetzt die schwere Arbeit habe.
So sehr unangenehm es mir ist, Ihre Reisedispositionen und
Ihre Ruhe auf der Reise ein wenig zu belasten, so muss ich Sie
– will ich Ihnen nicht Undurchführbares versprechen – und
Reichl doch bitten, sich bis zum 8. August mit der Zusendung
des Manuskripts zu gedulden. Es ist das ein Maximumtermin;
wahrscheinlich kann ich das Manuskript Ihnen schon in den
ersten Tagen des August einsenden. Nach dem, was Ihre ver
ehrte Frau schreibt, muss ich Ihnen also anheim geben, entwe
der Ihre zwei Aufsätze unabhängig von meinem Manuskript zu
schreiben oder sie erst in der Schweiz zu verfassen. Auf keinen
Fall braucht doch der Termin Ihrer Abreise durch diesen lei
digen Umstand verschoben zu werden. Meine Anthropologie
wird unter dem Titel ›Das Wesen des Menschen. Neuer Versuch
einer Philosophischen Anthropologie‹ voraussichtlich Anfang
des nächsten Jahres im Verlag neuer Geist erscheinen.« Sche
ler war gesundheitlich seit langem sehr angegriffen und befand
sich nach einem anstrengenden Semester Anfang August 1927 in
einem stark geschwächten Zustand, so dass er ein Sanatorium
320 Der dritte Vortrag: »Der erdbeherrschende Geist«, S. 255 – 276, der
vierte Vortrag: »Der Mensch aus kosmischer Schau«, S. 325 – 344.
Zur Textgenese *265
322 Man kann also nicht sagen, dass Scheler ȟber der Fertigstellung
der ›Philosophischen Anthropologie‹« gestorben sei, wie es Frings wie
derholt behauptet hat (GW 9, S. 346; GW 12, S. 345; GW 13, S. 273). Ma
ria Scheler hat 1947 in einem Brief an O. Reichl dieses Gerücht als »ge
schmacklos« bezeichnet, Reichl schrieb es Keyserling zu. Es lebt wieder
auf bei Thomas Seng, Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der
Otto Reichl Verlag 1909 – 1954, St. Goar 1994, S. 500.
323 Maria Scheler, »Meine Arbeit seit 1928«, Ana 315, F.III.4, Heft 3, 2.
Abschnitt.
Zur Textgenese *269
Mit dem Sonderdruck von 1928 und der von diesem nur wenig
abweichenden zweiten Auflage von 1930 scheint die Kosmos-
Schrift diejenige Fassung erhalten zu haben, die den auf das
Thema der Sonderstellung begrenzten Intentionen Schelers ein
Jahr vor dem geplanten Erscheinen seiner Philosophischen An-
thropologie noch am ehesten entsprochen haben mochte. Dieser
Auffassung widerspricht allerdings die im Entwurf geäußerte
Erweiterungsabsicht. Eine auch noch darüber hinausgehende
Erweiterung hätte bedeutet, die Kosmos-Schrift zu einer Teil
ausgabe der Philosophischen Anthropologie anwachsen zu las
sen, was in niemandes Interesse lag. Man könnte sich allerdings
leicht eine Bearbeitung etwa wie beim Vortrag über Die Formen
des Wissens und die Bildung (1925) vorstellen, der einen relativ
umfangreichen Abschnitt neu hinzugefügter Anmerkungen er
halten hat. In der Regel benutzte Scheler solche Anmerkungen,
um zu zeitgenössischen Theorien Stellung zu nehmen oder um
auf ausführlichere oder »streng wissenschaftliche« Ausführun
gen in demnächst erscheinenden eigenen Werken hinzuweisen.
rede dann doch noch eine Anzahl von Irrtümern enthielt, muss
man der Eile zugute halten, in der der Sonderdruck nach dem
Erscheinen von Plessners Stufen des Organischen auf den Markt
gebracht werden sollte. Warum aber kein einziger dieser Fehler
in der Auflage von 1930 korrigiert worden ist und nicht einmal
das inzwischen erfolgte Erscheinen von Mensch und Geschichte
(1929) als Einzelbroschüre angegeben und ebenso wenig die An
gabe korrigiert wurde, dass das »umfassende Werk«, d. h. die
Philosophische Anthropologie, in Jahresfrist erscheinen werde,
obwohl Maria Scheler bereits begonnen hatte, sich um eine
mehrbändige Ausgabe von Schelers Nachlass zu kümmern und
der Verlag an anderen Stellen des Textes Druckfehler behoben
hatte, lässt sich kaum anders denn aus einem sehr gelockerten
Verhältnis zwischen Verlag und Herausgeberin erklären.
c) Das Namenregister. Vermutlich auf Wunsch des Verlags,
aber auch im Einklang mit Registern, die für andere Werke
Schelers angelegt worden sind, ist auch für den schmalen Band
der Kosmos-Schrift ein Namenregister erstellt worden. Im Na
menregister von 1928 sind den Namen noch nicht in allen Fäl
len die Initialen der Vornamen hinzugefügt worden, wie zuneh
mend in den späteren Auflagen, und einzelne Namen sind falsch
geschrieben, wie »Yennings« oder »Pierce« – auch dies spricht
für einen noch nicht genügend mit der Fachliteratur vertrauten
Verfasser, wie es Maria Scheler gewesen ist. In das Namenregi
ster der vorliegenden Ausgabe sind auch die von Scheler in den
Fußnoten angeführten Autoren mit ihren Initialen aufgenom
men worden.
d) Die dem Inhaltsverzeichnis entsprechende Gliederung
des Textes umfasst die Einfügung von römischen Ziffern in
die Leerzeilen, mit denen 1927 ein Hauptabschnitt begann, mit
Ausnahme des vierten (S. 73,3); zur Kennzeichnung des Beginns
von Unterabschnitten wurden wie 1927 die ersten Buchstaben
durch eine Initiale wiedergegeben, in einem Fall aber versetzt:
von S. 56,3 nach S. 52,14; gelegentlich wurden 1928 neue Absätze
gemacht (S. 12,19; 45,10).
Zum Anhang *279
Zum Anhang
lich gar nicht für den Zweck des Darmstädter Vortrags ausge
arbeitet hat, sondern dass es einen Teil eines anderen Projekts
bildet, etwa der Philosophischen Anthropologie, so dass Scheler
sein Manuskript erst während des Vortrags spontan dem von
Keyserling vorgegebenen Thema anzupassen suchte. Deshalb
blieben auch die Partien, die er den »Monopolen« gewidmet
hatte, in Darmstadt unberücksichtigt. Mit dem Abschnitt über
»Mensch und Gott« wich Scheler deutlich von Keyserlings Vor
gaben ab. Es scheint, dass Scheler der Tagung nicht ein so großes
Gewicht beigemessen hat, dass er es für nötig gehalten hat, für
das vereinbarte Thema ein besonderes Manuskript auszuarbei
ten, vielmehr scheint er vorgezogen zu haben, an seiner Philo-
sophischen Anthropologie weiterzuarbeiten und aus diesen Ma
nuskripten etwas Passendes für die Tagung auszuwählen. Dazu
gehören für den letzten Teil des Vortrags auch Ausführungen
aus dem zweiten Manuskriptheft (B.I.2), was die sprunghafte
Anordnung der einzelnen Abschnitte seines Vortrags erklärt.
Andererseits spricht er im Vortragsmanuskript auch einmal den
Veranstalter persönlich an, so dass das Manuskript doch für die
Darmstädter Tagung gedacht war. Die Abweichung der beiden
Titel bleibt also ungeklärt.
Die von Maria Scheler den nach dem zweiten Weltkrieg erschie
nenen Auflagen hinzugefügten Ergänzungen, die sie zum gro
ßen Teil den beiden Anthropologieheften entnommen hat, sind
in den Textfassungen der Typoskripte Ts 1 und Ts 2 wiederge
geben. Sie dienen der Vervollständigung des Gesamtbildes, das
sich Maria Scheler von der Stellung des Menschen im Kosmos
gemacht hat.
Verzeichnis der Abkürzungen
Fn. Fußnote
gestr. gestrichen
GW Gesammelte Werke
hs. handschriftlich
korr. korrigiert
Ms. Manuskript
resp. respektive
Ts Typoskript
Ts 1 Typoskript für die vierte Aufl. der Kosmos-Schrift, Ver
lagsexemplar
Ts 2 Durchschlag von Ts 1, Exemplar der Herausgeberin
Ts 1/2 beide Typoskripte
u. a. unter anderem
u. ö. und öfter
v verso, Rückseite
v. von
Z. Zeile
+ plus (im Ms. statt »und«)
[…] Einfügung durch den Herausgeber oder ausgelassene Teile
eines Zitats
Text im Ms. durchgestrichenes Wort
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di Max Scheler, Padova (Ricerche. Collana della Facoltà di Lettere
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– (2003a): L’altra persona. Note sul problema dell’empatia in Edith
Stein e Max Scheler, in: Annuario Filosofico 19, 319 – 331.
– (2016): Fenomenologia delle emozioni. Scheler e Husserl, Milano.
Weiss, Andreas (2011): Vom fremden Ich. Eigenart und Grenzen der
Erschließung des Fremden bei Max Scheler, in: Der Anspruch des
Fremden als Ressource des Humanen, hrsg. v. Franz Gmainer-
Pranzl und Matina Schmidhuber, Frankfurt am Main, 237 – 256.
*302 Literaturverzeichnis
Vorrede
land getreten sind und daß auch weit hinaus über die philo
sophischen Fachkreise Biologen, Mediziner, Psychologen und
Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Men
schen arbeiten.
5 Aber dessenungeachtet hat die Selbstproblematik des Men
schen in der Gegenwart ein Maximum in aller uns bekannten
Geschichte erreicht. In dem Augenblick, da der Mensch sich ein
gestanden hat, daß er weniger als je ein strenges Wissen habe
von dem, was er sei, und ihn keine Möglichkeit der Antwort auf
10 diese Frage mehr schreckt, scheint auch der neue Mut der Wahr-
haftigkeit in ihn eingekehrt zu sein, diese Wesensfrage ohne die
bisher übliche ganz-, halb- oder viertelsbewußte Bindung an
eine theologische, philosophische und naturwissenschaftliche
Tradition in neuer Weise aufzuwerfen und – gleichzeitig auf der
15 Grundlage der gewaltigen Schätze des Einzel | wissens, welche
die verschiedenen Wissenschaften vom Menschen erarbeitet
haben – eine neue Form seines Selbstbewußtseins und seiner
Selbstanschauung zu entwickeln.
5
F ragt man einen gebildeten Europäer, was er sich bei dem
Worte Mensch denke, so beginnen fast immer drei unter
sich ganz unvereinbare Ideenkreise in seinem Kopfe miteinan
der in Spannung zu treten. Es ist einmal der Gedankenkreis der
jüdisch-christlichen Tradition von Adam und Eva, von Schöp
fung, Paradies und Fall. Es ist zweitens der griechisch-antike
Gedankenkreis, in dem sich zum erstenmal in der Welt das
10 Selbstbewußtsein des Menschen zu einem Begriff seiner Sonder
stellung erhob, und zwar in der These, der Mensch sei Mensch
durch Besitz der »Vernunft«, logos, phronesis, ratio, mens usw. –
logos bedeutet hier ebensowohl Rede wie Fähigkeit, das »Was«
aller Dinge zu erfassen. Eng verbindet sich mit dieser Anschau
15 ung die Lehre, es liege eine übermenschliche »Vernunft« auch
dem ganzen All zugrunde, an der der Mensch, und von allen
Wesen er allein, teilhabe. Der dritte Gedankenkreis ist der ja
auch längst traditional gewordene Gedankenkreis der moder
nen Naturwissenschaft und der genetischen Psychologie, es sei
20 der Mensch ein sehr spätes Endergebnis der Entwicklung des
Erdplaneten, ein Wesen, das sich von seinen Vorformen in der
Tierwelt nur in dem Komplikationsgrade der Mischungen von
Energien und Fähigkeiten unterscheide, die an sich auch in
der untermenschlichen Natur bereits vorkommen. Diesen drei
25 Ideenk reisen fehlt jede Einheit untereinander. So besitzen wir
denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine
theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander küm
mern. Eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen | wir
nicht. Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften,
Buche »Der Umsturz der Werte«, Bd. II. Hier ist nachgewiesen, daß der
traditionelle Begriff des Menschen durch die Ebenbildlichkeit mit Gott
konstituiert ist, daß er also die Idee Gottes als Bezugszentrum bereits
voraussetzt.
2 ein Recht habe ] Ts 1/2, 3 u. 1947,11 : zu Recht bestehe 3 das ist … Vor-
trags. ] Ts 1/2, 3 u. 1947,11 : das ist unser Thema.
16 | 17 11
Die Lehre, das Psychische beginne erst mit dem »assoziativen Ge
*
20 dächtnis«, oder erst im Tiere – oder gar erst im Menschen (Desca rtes),
hat sich als irrig erwiesen. Willkürlich aber ist es, dem Anorganischen
Psychisches zuzuschreiben.
10 auf die … kann ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,11: auf die hier nicht eingegangen
werden soll 11 Selbstformung ] 1949,14: Selbstforschung; 1962 ,11:
Selbstformung 14 noch ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,11: auch 16 jenen ] Ts 1/2 ,3
u. 1947,11: den 18 besitzt. ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,12 folgt: Es ist die psychische
Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt
– das psychische Urphänomen des Lebens. 19 Ts 1, 3 : Fn. in den Text
versetzt; Ts 2, 3 : im Text durchgestr. und auf Seite 3v als Fn. gekennzeich-
net, dann aber wieder durchgestr.; 1962,11 : als Fn.
12 Stufenfolge des psychophysischen Seins 17 | 18
Gefühlsdrang (Pflanze)
von der Langsamkeit ihrer Lebensvorgänge her. Vor der Zeitlupe ver 25
schwindet dieser Eindruck vollkommen.
Pflanze nur eines von diesen Dingen, müßte sie auch das andere,
und alle anderen haben. Da es keine Empfindung ohne Trieb
impuls und ohne Mitanfang einer motorischen Aktion gibt,
muß da, wo das Machtsystem fehlt (aktiver Beutefang, spon
5 tane Geschlechtswahl), auch ein System von Empfindungen feh
len. Die Mannigfaltigkeit der Sinnesqualitäten, die ein tierischer
Organismus besitzt, ist nie größer als die Mannigfaltigkeit sei
ner spontanen Beweglichkeit – und eine Funktion der letzteren.
Die wesenhafte Richtung des Lebens, die das Wort »pflanz-
10 lich«, »vegetativ« bezeichnet – daß wir es hier nicht mit empi
rischen Begriffen zu tun haben, beweisen die mannigfachen
Übergangserscheinungen zwischen Pflanze und Tier, die schon
Aristoteles kannte –, ist ein ganz nach außen gerichteter Drang.
Ich spreche bei der Pflanze daher | von »ekstatischem« Gefühls-
15 drang, um dieses totale Fehlen einer dem tierischen Leben
eigenen Rückmeldung von Organzuständen an ein Zentrum,
dieses völlige Fehlen einer Rückwendung des Lebens in sich
selbst, einer noch so primitiven re-flexio eines noch so schwach
»bewußten« Innenzustandes zu bezeichnen. Denn Bewußt
20 sein wird erst in der primitiven re-flexio der Empfindung, und
zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände gegenüber
der ursprünglichen spontanen Bewegung.* Empfindungen zu
entbehren aber vermag die Pflanze nur darum, weil sie – der
größte Chemiker unter den Lebewesen – aus den anorganischen
25 Substanzen selber ihr organisches Aufbaumaterial bereitet. So
sensformen und die Gesellschaft«, Leipzig 1926, und »Das Problem der 25
Realität«, Cohen, Bonn 1928.
2 ist ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16 folgt: nicht nur in allen Tieren, sondern 3 wir
werden es sehen ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16: gestr.; 1962 ,17: wieder eingefügt
4 auch ] 1947,16: gestr. 6 Der Mensch … ihres Seins. ] Dieser Satz
wurde in 1949,18 an eine spätere Stelle versetzt (vgl. unten S. 90, Lemma
zu Z. 14); 1962 ,16: in Klammern gesetzt 7 noch so einfache ] Ts 1,7 u.
1947,16: gestr. 9 seinem ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16 folgt: die 18 Ferner ist
es der Gefühlsdrang ] Ts 1/2 ,7: Der Gefühlsdrang ist ferner; 1947,16 u.
1962 ,17: Der Gefühlsdrang ist auch 20 von dem … daß es ] Ts 1,7 u.
1947,16: das 21 und ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16: gestr. 23 Vorstellungen ]
Ts 1/2 ,7 u. 1947,16: Vorstellen
24 | 25 Instinkt (Tier) 19
bares Denken können uns nie etwas anderes als das Sosein und
Anderssein dieser Wirklichkeit indizieren; sie selbst als »Wirk
lichsein« des Wirklichen aber ist uns in einem mit Angst ver
bundenen allgemeinen Widerstande, beziehungsweise einem
5 Erlebnis des Widerstandes gegeben. Organologisch stellt das
vor allem die Nahrungsverteilung regelnde »vegetative« Ner
vensystem, wie schon sein Name sagt, im Menschen die noch
in ihm vorhandene Pflanzlichkeit dar. Eine periodische Ener
gieentziehung am animalischen, das äußere Machtverhalten
10 regelnden Systeme zugunsten des vegetativen, ist wahrschein
lich die Grundbedingung der Rhythmik der Schlaf- und Wach
zustände; insofern ist der Schlaf ein relativ pflanzlicher Zustand
des Menschen. –
Instinkt (Tier)
Der Instinkt ist ohne Zweifel eine primitivere Form des psy
chischen Seins und Geschehens als die durch Assoziationen
bestimmten seelischen Komplexbildungen. Er ist also nicht –
wie Spencer meinte – auf Vererbung von Verhaltungswei
5 sen zurückzuführen, die auf Gewohnheit und Selbstdressur
beruhen. Wir sind in der Lage zu zeigen, daß die psychischen
Abläufe, die der assoziativen Gesetzmäßig | keit folgen, auch im
Nervensystem erheblich höher lokalisiert sind als die instinkti
ven Verhaltungsweisen. Die Großhirnrinde scheint wesentlich
10 ein Dissoziationsorgan zu sein gegenüber den biologisch ein
heitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen, nicht
also ein Assoziationsorgan. Ebensowenig aber kann das instink
tive Verhalten auf eine Automatisierung verständigen Verhal
tens zurückgeführt werden. Wir dürfen vielmehr sagen, daß das
2 Widerstände. ] Ts 1,12v folgt: Das gilt zunächst für die relative ›Einzel
empfindung‹. Das Tier hat wahrscheinlich noch keine Flächenfarben,
nur Oberflächenfarben. Beim Menschen stellen sich nach bestimmten
pathologischen Ausfallserscheinungen bilaterale, symmetrische Emp
findungen ein (Schilder). Es bedarf bestimmter Hemmungen, damit
es zu annähernd einzelnen Empfindungen kommt. Auch nimmt die
Reizproportionalität der Empfindung, ferner die Isolierbarkeit einer
Sensation von anderen, die ›Figur vom Hintergrund‹, die Isolierbarkeit
und Neukombinierbarkeit einer Vorstellung aus einem Vorstellungs
ganzen, (z. B. des jeweiligen Umweltsganzen, auch des menschlichen)
ebensowohl mit der Reifung des Organismus und seinem Altern als
mit der organisatorischen Höhe der Tiere, als auch in der Entwicklung
vom Primitiven zum Civilisierten mit Sicherheit zu. [Absatz] Dasselbe
gilt auch für den soz[ialen] Trieb. Die sogenannten Triebhandlungen
des Menschen sind ja darin das absolute Gegenteil der Instinkthand
lungen, daß sie ganz sinnlos sein können (Rauschgift, Paralytiker).
Die Befreiung des Triebes aus der sinneinheitl[ichen] Artgebunden
heit des Instinktes, z. B. das schon beim höheren Tiere, erst recht beim
Menschen eintretende Herausfallen der Sexualbefr[iedigung] aus der
Fortpflanzungs- und Brunstperiodik bedeutet den ›Gang nach oben‹.
(Die Verwillkürlichung überhaupt hat wahrscheinl[ich] sogar bei den
Sexualtrieb[en] angefangen).; nicht in 1947,23 4 spezifische ] Ts 1/2 ,12
u. 1947,23 (dort ohne Klammern) folgt: (inhaltlich verschiedene, daher
nicht ohne Wahrnehmung gegebene) 4 stellt ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,23 folgt:
als solcher 6 stellt … dar ] 1927,178: ist 6 angeborenen ] Ts 1/2 ,12 u.
1947,23: eingeborenen
31 | 32 Assoziatives Gedächtnis 29
Assoziatives Gedächtnis
1 nun ] Ts 1,13 u. 1947,23: wie wir sahen, 2 der instinktiven ] Ts 1/2 ,13
folgt: Verhalten[sweise]; 1947,23: dem instinktiven Verhalten 2 näm-
lich ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 5 die ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: das
5 also ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 6 unterscheiden ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23
folgt: den Inbegriff der Tatsachen der Assoziation, Reproduktion, des
bedingten Reflexes, d. h. 8 wie … meinten, ] Ts 1,13 u. 1947,23: gestr.
9 richtig ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 13 also ] 1947,23: d. h. 17 Spiel
bewegungen ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23 folgt: z. B. der jungen Hunde und
Pferde
30 Stufenfolge des psychophysischen Seins 32 | 33
1 jene ] 1962 ,29: diese 2 von Überlieferung ] 1927,182: von aller Überlie
ferung; Ts 1/2 ,16 u. 1947,27: gestr. 7 ist ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,27 folgt: daher
7 Tradition ] 1927,182 folgt: selbst 13 die wahrscheinlich … eigen ist, ]
Ts 1/2 ,16 u. 1947,27: ist nur dem Menschen eigen; sie 15 sind ] Ts 1/2 ,16
u. 1947,27: als; 1962 ,29: sind 16 und erweisen sich wohl ] Ts 1/2 ,16 u.
1947,27: sie erweisen sich 24 einen ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,28: den 26 Sach-
verhalt ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,28: Sach-Sinnverhalt 28 geurteilt ] Ts 1/2 ,16 u.
1947,28 u. 1962 ,30: beurteilt
36 Stufenfolge des psychophysischen Seins 37 | 38
1947,29; 1962 ,96 Fn.: Vgl. zu ›Fühlen‹ (als Funktion) und ›Gefühl‹ (als
Zustand) in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
Abschnitt V 2; s[iehe] Sachregister der 4. Auflage 1954, Ges. W. Bd. 2.
1 aber ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,29: gestr. 2 jene ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,29:
die 4 nur ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,29: gestr. 9 oben ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,29:
gestr. 9 immer auch ] 1947,29: gestr. 10 Fähigkeit ] 1949,33: Fähig
keiten; 1962 ,32: Fähigkeit 11 mithineingelegt ] 1927,185: hineinge
legt 11 Und ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,29: gestr. 12 die vierte … Lebens ]
Ts 1,18: von fremder Hand eingeklammert; 1947,29: ohne Klammern
übernommen 13 praktische ] In Ts 1/2 ,18 u. 1947,29 hinzugefügt
14 die ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,29 folgt: ebenso noch organisch gebundene
16 ferner die Vorzugsfähigkeit für die Güter oder für die ] Ts 1/2 ,18 u.
1947,29 f.: die Vorzugsfähigkeit zwischen Gütern und die über den blo
ßen Geschlechtstrieb hinausgehende Vorzugsfähigkeit zwischen den
17 (Anfänge des Eros). ] 1947,88 Fn.: Vgl. über Geschlechtstrieb und
Geschlechtsliebe in ›Wesen und Formen der Sympathie‹; ferner in der
Abhandlung ›Über Scham und Schamgefühl‹, Nachlaßband I 1933.;
39 | 40 Praktische Intelligenz (Höhere Tiere) 39
1 zufolge ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: zur Folge 3 usw. ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31:
gestr. 4 die Tiere ] 1947,31: das Tier 4 höchsten ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31:
höchstorganisierten 7 wissenschaftlicher ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr.
8 den … berühren ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: der hier nur oberflächlich be
rührt werden 10 Geduld ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: Genauigkeit 12 in
den … Wissenschaft ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr.; 1962 ,34: als Fn. wieder
eingefügt 13 der ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: dieser 14 haben. ] 1947,88 Fn.:
Vgl. Wolfgang Köhler, Abhandlungen der Preußischen Akademie der
Wissenschaften.; 1962 ,34: Fn. geändert in: In den Abhandl. d. Preuss.
Akad. der Wissenschaften, Berlin 1917/18. 16 Intelligenzhandlungen ]
Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: im oben definierten Sinne 18 als ] Ts 1/2 ,19 u.
1947,31 folgt: assoziatives 21 dem ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr. 22 etwa
eine Banane ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr.
42 Stufenfolge des psychophysischen Seins 42 | 43
H ier erhebt sich nun die für unser ganzes Problem ent-
scheidende Frage : Besteht, wenn dem Tiere Intelligenz
zukommt, überhaupt noch mehr als ein nur gradueller Unter-
5 schied zwischen Mensch und | Tier ? Besteht dann noch ein
Wesensunterschied ? Oder aber gibt es über die bisher behan
delten Wesensstufen hinaus noch etwas ganz Anderes im Men
schen, ihm spezifisch Zukommendes, was durch Wahl und Intel-
ligenz überhaupt nicht getroffen und erschöpft ist ?
10 Hier scheiden sich die Wege am schärfsten. Die Einen wollen
dem Menschen Intelligenz und Wahl vorbehalten und sie dem
Tiere absprechen. Sie behaupten also zwar einen Wesensunter
schied, behaupten ihn aber eben da, wo nach meiner Ansicht
kein Wesensunterschied vorliegt. Die Anderen, insbesondere
15 alle Evolutionisten der Darwin- und Lamarckschule, lehnen
mit Darwin, Schwalbe und auch W. Köhler einen letzten Unter
schied zwischen Mensch und Tier ab, eben weil das Tier auch
bereits Intelligenz besitze. Sie hängen eben damit in irgendeiner
Form der großen Einheitslehre vom Menschen an, die als Theo
20 rie des »homo faber« bezeichnet wird – und kennen selbstver
ständlich dann auch keinerlei metaphysisches Sein und keine
*Vgl. dazu den Aufsatz »Der Ursprung des Geistbegriffes bei den
Griechen« von Julius Stenzel in der Zeitschrift »Die Antike«.
1 das man als solches ] Ts 1/2 ,23: eine echte neue Wesenstatsache,
die man als solche; in 1947,35 übernommen, aber man gestr. 2 zu-
rückführen ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: zurückgeführt werden 2 das ]
Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 3 obersten ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35 folgt: einen
4 also ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 4 Teil-Manifestation auch ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,35: eine große Manifestation 7 der Vernunft ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,35: ›Vernunft‹ 9 Anschauung ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr.
11 noch zu charakterisierender ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 11 z. B. ]
Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: wie 12 Ehrfurcht ] Ts 1,23 u. 1947,35 folgt: geistige
Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung
12 usw. ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 14 wollen … bezeichnen ] Ts 1,23 u.
1947,35: bezeichnen wir als ›Person‹ 16 hin ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr.
18 Ts 1/2, 23: gestr.; 1947, 88 u. 1962, 38: leicht gekürzt als Fn.: Vgl. Julius
Stenzel ›Der Ursprung des Geistbegriffes bei den Griechen‹ in der Zeit
schrift ›Die Antike‹.
48 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 47
¶ Was aber ist nun jener »Geist«, jenes neue und so entschei
dende Prinzip ? Selten ist mit einem Worte so viel Unfug getrie
ben worden – einem Worte, bei dem sich nur wenige etwas 5
Bestimmtes denken. Stellen wir an die Spitze des Geistbegriffes
eine besondere Wissensfunktion, eine Art Wissen, die nur er
geben kann, dann ist die Grundbestimmung eines »geistigen«
Wesens seine existentielle Entbundenheit, Freiheit, Ablösbar-
keit – oder doch die seines Daseinszentrums – vom Banne, vom 10
Drucke, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom »Leben«
und von allem, was zum »Leben« gehört, also auch von seiner
eigenen triebhaften Intelligenz. Ein solches »geistiges« Wesen
ist nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern »umwelt
frei« und, wie wir es nennen wollen, weltoffen. Ein solches 15
Wesen hat »Welt«. Es vermag die ursprünglich auch ihm gege
benen »Widerstands-« und Reaktionszentren seiner Umwelt, in
die das Tier ekstatisch aufgeht, zu »Gegenständen« zu erheben,
vermag das Sosein dieser »Gegenstände« prinzipiell selbst zu
3 aber ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr.; 1962 ,38: aber 6 wir ] Ts 1,23 u.
1947,35 folgt: hier 6 Geistbegriffes ] Ts 1/2 ,23 folgt: (seiner logischen
Seite nach); nicht in 1947,35 übernommen 7 eine ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35:
seine 7 eine ] 1962 ,38: die 9 Wesens ] Ts 1/2 ,23 u. 1962 ,38 folgt: wie
immer es psychophysisch beschaffen sei; 1947,36: wie immer es psycho
logisch beschaffen sei 9 Entbundenheit ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36 folgt: vom
Organischen, seine 10 vom ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: von dem [so auch vor
Drucke] 11 vom Organischen, ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: gestr.; 1962 ,38: wie-
der eingefügt 12 von ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: gestr. 12 seiner ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,36: der; 1962 ,38: seiner 13 solches ] Ts 1,23 u. 1947,36: gestr.
14 ist ] Ts 2 ,23 folgt: also; in Ts 1 durchgestr.; in 1947,36 übernommen
16 Es vermag ] Ts 1,23: Es heißt ferner: ein solches Wesen; 1947,36: Ein
solches Wesen vermag ferner 18 in die das Tier ekstatisch aufgeht, ]
Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: die das Tier allein hat und in die es ekstatisch auf
geht, 19 vermag ] Ts 1/2 ,23: und es vermag; 1947,36: und 19 selbst ]
1949,40: gestr.; 1962 ,39: wieder eingefügt
47 | 48 Wesen des »Geistes« 49
5 selbst. ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: Geist ›hat‹ nur ein zu vollendeter
Sachlichkeit fähiges Lebewesen. Schärfer gesagt: 5 Und ] Ts 1/2 ,24 u.
1947,36: Nur 7 seiner ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: wie mit sich selber
7 Tiere ] Ts 1/2 ,24 folgt: (mit Einschluß seiner Intelligenz); ohne Klam-
mern übernommen in 1947,36 8 hat. ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: Was ist
diese ›Umkehrung‹? 9 ob es hoch … ist ] Ts 1/2 ,24: ob hoch oder nied
rig organisiert; 1947,36: ob hoch oder niedriger organisiert 12 Seite ]
Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: Instinkte, 13 Wahrnehmung ] Ts 1/2 ,24 u.
1947,36: Wahrnehmungen 13 diese ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36: die Instinkte
und 15 ist ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: dem Tier 16 Verabscheuen ]
Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: d. h. für das Tier als biologisches Zentrum.
17 physiologisch-psychischen ] 1947,36: physiologisch-psychologischen;
1962 ,36: physiologisch-psychischen 19 seiner ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36:
dabei der 20 seiner morphologischen Eigenart ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36:
der morphologischen Eigenart des Tieres, 20 ist ferner ] Ts 1,24 u.
1947,36: gestr.; 1962 ,39: ist
50 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 48 | 49
2 Diese ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: Die Form eines solchen Verhaltens ist
die der 2 »Weltoffenheit« ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37 folgt: der prinzi
piellen Abschüttelung des Umweltbannes; Ts 2: Maria Scheler er-
gänzt: der Umwelthypnose gleichsam [nicht in 1947,37 übernommen]
3 hat also folgende Form: ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr. 5 einmal ]
Ts 1/2 ,25 u. 1947,37 folgt: konstitutionell 7 reicht. ] Ts 1/2 ,25 folgt:
Menschwerdung ist also Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes;
ohne also auch in 1947,37 7 also ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr. 8 kann. ]
Ts 1/2 ,25 folgt: (1. Wesensdefinition.); nicht in 1947,37 übernommen
8 aber ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr. 9 nur ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr.
11 geht. ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38 folgt: – es vermag diese Umwelt nicht
zum Gegenstande zu machen. 11 Die ] Ts 1/2 ,25: Diese; 1947,38: Die
12 und Substantivierung einer ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38: diese Distanzie
rung der 12 »Welt« ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38 folgt: (resp. zu einem Symbol
der Welt), deren der Mensch fähig ist, 13 also ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38
gestr. 13 ebensowenig ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38: nicht 17 ohne ] Ts 1/2 ,25
irrtümlich: um; so auch in 1947,38 u. 1962 ,41 19 ekstatisch ] Ts 1/2 ,25 u.
1947,38 folgt: in seine Umwelt hinein,
52 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 50 | 51
2 sein ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38: ihr 4 Das Tier … wir, ] Ts 1,26 u. 1947,38: es
4 Empfindung ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: Sensorium 6 seines Leibschemas
und seiner ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: seiner jeweiligen 9 verhält ] Ts 1/2 ,26
folgt: und seine Intelligenz bleibt organisch-triebhaft-praktisch gebun
den. Wie aber vermag ein geistiges Wesen jene Vergegenständlichung
zu vollziehen?; ohne den gestr. Satz in 1947,38 übernommen 11 da-
gegen ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: gestr. 14 Akt ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38 folgt:
»Sammlung« nennen 15 und sein Ziel … »Sichsammelns« ] Ts 1/2 ,26:
und ihn und sein Ziel, das Ziel dieses ›Sichsammelns‹, zusammenneh
mend,; 1947,38 u. 1962 ,41: und sein Ziel … zusammenfassend 17 also
hat wohl ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: hat 21 und -möglichkeit ] 1947, 38: gestr.
22 also ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: gestr.
51 | 52 Wesen des »Geistes« 53
stenz, die der Geist möglich macht, ist auch gleich das zweite
Wesensmerkmal des Menschen gegeben : Der Mensch vermag
nicht nur die »Umwelt« in die Dimension des »Welt«-seins zu
erweitern und »Wider«stände »gegen«ständlich zu machen,
5 sondern er vermag auch, und das ist das Merkwürdigste, seine
eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes
einzelne psychische Erlebnis selbst wieder gegenständlich zu
halten. Nur darum vermag er auch sein Leben frei von sich zu
werfen. Das Tier hört und sieht – aber ohne zu wissen, daß es
10 hört und sieht; wir müssen an sehr seltene ekstatische Zustände
des Menschen denken – wir finden sie bei abebbender Hypnose,
bei Einnahme bestimmter Rauschgifte, ferner unter Vorausset
zung gewisser den Geist inaktivierender Techniken, z. B. orgia
stischer Kulte aller Art –, um uns einigermaßen in den Normal
15 zustand des Tieres hineinzuversetzen. Auch seine Triebimpulse
erlebt das Tier nicht als seine Triebe, sondern als dynamische
Züge und Abstoßungen, die von den Umweltdingen selbst aus
gehen. Sogar der primitive Mensch, der in gewissen Zügen dem
Tiere noch nahe steht, sagt nicht, »ich« verabscheue dieses Ding,
20 sondern | das Ding »ist tabu«. Einen die Triebimpulse und ihren
1 auch gleich ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: gestr. 2 gegeben: ] Ts 1/2 ,26 folgt:
seine Selbstgegebenheit!; nicht in 1947,39 übernommen 2 Der Mensch
vermag ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: Kraft seines Geistes vermag das Wesen,
das wir ›Mensch‹ nennen, 7 Erlebnis ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39 folgt: jede
einzelne seiner vitalen Funktionen 8 halten ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: ma
chen 8 er ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: dieses Wesen 10 sieht ] Ts 1/2 ,26 u.
1947,39 folgt: Die Psyche des Tieres funktioniert [1947, 39: folgt Komma]
lebt – aber das Tier ist kein möglicher Psychologe und Physiologe!
11 wir finden sie ] Ts 1/2, 26 u. 1947, 39: gestr. 13 ferner … Geist ]
Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: bei gewissen den Geist bewußt (d. h. schon mit
Hilfe des Geistes) 14 Kulte ] Ts 2 ,26 folgt: (wir wollen sie dionysische
und resublimierende Techniken nennen); Maria Scheler ergänzt: nicht
drucken 17 Umweltdingen selbst ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: Dingen der Um-
welt selber 18 Zügen ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: seelischen Eigenschaften
19 sagt ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39 folgt: noch 19 »ich« verabscheue dieses
Ding ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: ›ich verabscheue dieses Ding‹ 20 das Ding
»ist tabu«. ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: ›das Ding ist tabu‹; es folgt: Für das
54 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 52
Das Tier vermag die Leerform des Raumes und der Zeit so wenig
von bestimmten Inhaltlichkeiten der Umweltdinge loszulösen
wie die »Zahl« von einer als größer oder kleiner in den Dingen
selbst liegenden »Anzahl«. Es lebt ganz in die konkrete Wirk-
5 lichkeit seiner jeweiligen Gegenwart hinein. Erst wenn die in
Bewegungsimpulse sich umsetzenden Trieberwartungen das
Übergewicht erhalten vor all dem, was faktische Trieberfüllung
in einer Wahrnehmung oder Empfindung ist, findet – im Men
schen – das überaus seltsame Phänomen statt, daß die räumliche
10 Leere, und analog die zeitliche, allen möglichen Inhalten der
Wahrnehmung und der gesamten Dingwelt als vorhergehend,
als »zugrunde liegend« erscheint. So blickt der Mensch, ohne es
zu ahnen, seine eigene Herzensleere als eine »unendliche Leere«
des Raumes und der Zeit an, als ob diese auch bestünde, wenn es
15 gar keine Dinge gäbe ! Erst sehr spät korrigiert die Wissenschaft
diese ungeheure Täuschung der natürlichen Weltanschauung,
indem sie lehrt, daß Raum und Zeit nur Ordnungen, nur Lage-
und Sukzessionsmöglichkeiten der Dinge sind, und außer und
unabhängig von ihnen keinen Bestand haben. – Auch den Welt-
20 raum, sagte ich, hat das Tier nicht. Ein Hund mag jahrelang in
einem Garten leben und an jeder Stelle des Gartens schon häu
fig gewesen sein – er wird sich niemals ein Gesamtbild des Gar
tens und der von seiner Körperlage unabhängigen Anordnung
seiner Bäume, Sträucher usw. machen können, wie klein und
25 groß der Garten auch sei. Er hat nur mit | seinen Bewegungen
wechselnde Umwelträume, die er nicht auf den ganzen, von sei
ner Körperstellung unabhängigen Gartenraum zu koordinieren
vermag. Der Grund ist, daß er seinen eigenen Leib und dessen
Dieses Zentrum aber, von dem aus der Mensch die Akte voll
zieht, durch die er die Welt, seinen Leib und | seine Psyche ver
gegenständlicht, kann nicht selbst ein »Teil« eben dieser Welt
sein, kann also auch kein bestimmtes Irgendwo oder Irgend
5 wann besitzen – es kann nur im obersten Seinsgrunde selbst
gelegen sein. So ist der Mensch das sich selbst und der Welt über-
legene Wesen. Als solches Wesen ist er auch der Ironie und des
Humors fähig, die stets eine Erhebung über das eigene Dasein
einschließen. Schon I. Kant hat in seiner tiefen Lehre von der
10 transzendentalen Apperzeption jene neue Einheit des cogitare,
die »Bedingung ist aller möglichen Erfahrung und darum auch
aller Gegenstände der Erfahrung« – nicht nur der äußeren, son
dern auch jener inneren Erfahrung, durch die uns unser eige
nes Innenleben zugänglich wird –, im wesentlichen klarge
15 stellt. Er hat damit zuerst den »Geist« über die »Psyche« erhoben
und ausdrücklich geleugnet, daß er nur eine Funktionsgruppe
einer sogenannten Seelensubstanz sei, die nur unberechtigter
Verdinglichung der aktualen Einheit des Geistes ihre fiktive
Annahme verdanke.
1 Dieses ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: Das 2 Welt ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44 folgt: in
ihrer räumlichen und zeitlichen Fülle 2 seinen ] 1927,202 folgt: eigenen
6 Mensch ] Ts 1/2, 31 u. 1947,44 folgt: als Geistwesen 6 selbst ] Ts 1/2 ,31
u. 1947,44: (als Lebewesen) 7 Wesen ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: gestr.
16 er ] Ts 1/2 ,31: dieser; 1947,44: der Geist 21 bereits ] 1947,44: gestr.
22 gekennzeichnet ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: bezeichnet 23 und ] Ts 1/2 ,31
u. 1947,44: gestr. 24 dieser ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: gestr. 25 also ]
Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: gestr.; 1962 ,48: wieder eingefügt
62 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 58 | 59
noch dingliches Sein, sondern nur ein in sich selbst stetig selbst
sich vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ordnungsgefüge von
Akten. Seelisches vollzieht »sich selbst« nicht; es ist eine Ereig
nisreihe | »in« der Zeit, der wir, eben aus dem Zentrum unse
res Geistes heraus, noch prinzipiell zuzuschauen vermögen und 5
die wir in der inneren Wahrnehmung und Beobachtung noch
gegenständlich machen können. Zum Sein unserer Person aber
können wir uns nur selbst sammeln, zu ihm hin uns konzen
trieren, nicht aber es objektivieren. Auch fremde Personen sind
als Personen nicht gegenstandsfähig. Nur dadurch können wir 10
an ihnen Teil gewinnen, daß wir ihre freien Akte nach- und mit-
vollziehen, uns mit dem Wollen, der Liebe usw. einer Person und
dadurch mit ihr selbst, wie wir zu sagen pflegen, »identifizieren«.
Auch an den Akten jenes einen übersingulären Geistes – den wir
auf Grund des unverbrüchlichen Wesenzusammenhangs von 15
Idee und Akt anzunehmen haben, wenn wir überhaupt eine in
dieser Welt sich realisierende Ideenordnung unabhängig vom
1 in sich selbst ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44 f.: gestr. 3 Akten. ] Ts 1/2 ,31 f. u.
1947,45 folgt: Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie.; 1962 ,96
als Anm.: Vgl. zu ›Person‹ in Der Formalismus in der Ethik und die
materiale Wertethik, Abschnitt VI A 3. 5 und ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45:
gestr. 7 können. ] Ts 2 ,32 folgt: zum mindesten in der unmittelbaren
Erinnerung; in Ts 1 durchgestr.; nicht in 1947,45 übernommen; Ts 1/2 ,32
u. 1947,45 folgt: Alles Seelische ist gegenstandsfähig, nicht aber der
Geistesakt, die Intentio, das die seelischen Vorgänge in ihrem Abfluß
selbst noch Schauende.; Ts 1 u. 1947,45: in ihrem Abfluß weggelassen
7 aber ] in Ts 1,32 nachträglich eingefügt, dann gestr.; nicht in 1947,45
übernommen 8 selbst ] 1947,45 u. 1962 ,48: gestr. 10 gegenstandsfähig ]
Ts 1/2 ,32 u. 1947,45 folgt: (In diesem Sinne sagt Goethe von Lili, er habe
›sie zu sehr geliebt, als daß er sie hätte beobachten können.‹) 11 Teil ]
Ts 1/2 ,32 u. 1947,45: wissenden Anteil 12 mit-vollziehen ] Ts 1/2 ,32 u.
1947,45 folgt: durch das, was ein armes Wort ›Gefolgschaft‹ nennt, oder
durch jenes nur durch die Haltung der geistigen Liebe mögliche ›Verste
hen‹, das äußerstes Gegenteil aller Vergegenständlichung ist, d. h. da
durch, daß wir 14 usw. ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45: gestr. 13 identifizieren ]
1962 ,96 Fn.: Vgl. zu Fremdperson – Verstehen ›Wesen und Formen der
Sympathie‹, Teil C. Vom fremden Ich. 14 einen ] 1947,45 gestr.; 1962 ,48:
wieder eingefügt
59 | 60 Geist als pure Aktualität 63
15 Wollen wir von hier aus tiefer in das Wesen des Menschen drin
gen, so haben wir uns das Gefüge der Akte vorzustellen, die zum
Akt der Ideierung führen. Bewußt oder unbewußt vollzieht der
Mensch eine Technik, die man als versuchsweise Aufh ebung des
Wirklichkeitscharakters bezeichnen kann. Das Tier lebt ganz im
es; 1947,48: wir sahen es 2 nun ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48: gestr. 3 und
zweitens ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48: ferner 8 sein ] Ts 1,34 u. 1947,49: als
Zitat gekennzeichnet, es folgt: und eine Technik der Entwirklichung der
Welt und des Selbst entwickelte. 10 um ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: hier
13 d. h. ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49: gestr.; 1962 ,53: wieder eingefügt 17 wohl
aber zugeben, daß ] 1927,208: Daß aber 18 definiert ] 1927,208 folgt:
das sei kurz angedeutet 20 man ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: zunächst
22 blau, hart usw. ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49: hart, fest etc. 22 Die ] Ts 1/2 ,35
u. 1947,49: Auch die 25 das ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: (zufällige)
26 Dasein ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: (= Wirklichsein)
63 | 64 Die »phänomenologische Reduktion« 69
2 und ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: diesen 2 eben ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49:
gestr. 3 Lebensdrang. ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 f. folgt: Nicht ein Schluß
führt z. B. zur Realsetzung der Außenwelt (die als Sphäre z. B. auch im
Traume, in der Fantasie besteht), nicht der anschauliche Gehalt der
Wahrnehmung (wie die ›Formen‹, ›Gestalten‹ [Ts 2 folgt: Düfte etc.])
gibt uns das Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit (die ja auch
Phantasiertes hat), nicht die fixe Stelle im Raume in der Bewegung der
Aufmerksamkeit usw. –, sondern der erlebte Widerstandseindruck
gegen die unterste, primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze noch
zukommende Stufe des seelischen Lebens, den ›Gefühlsdrang‹, gegen
unser nach allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch im Schlafe und
in den letzten Stufen der Bewußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum.
In der streng geregelten Ordnung seiner Bestandteile (Farbe, Gestalt,
Ausdehnung etc.), in der sich, sowohl objektiv wie bei seiner Wahrneh
mung für uns, irgendein körperliches Ding aufbaut – eine Ordnung, die
wir z. B. beim pathologischen Abbau der Wahrnehmungsfähigkeit [Ts 2
folgt: genau] studieren können –, ist keiner [1947,50: keines] ursprüng
licher als die Realität, resp. das erlebte Realitätsmoment. Lasset für ein
Bewußtsein alle Farben und sinnlichen Materien verbleichen, alle Ge
stalten und Beziehungen zergehen, alle dinglichen Einheitsformen ver
schweben – das, was schließlich gleichsam nackt und vor jeder Art der
Beschaffenheit frei und ledig noch bleiben wird, das ist der machtvolle
Eindruck der Realität, der Wirklichkeitseindruck der Welt.; 1947,88 Fn.
zu Lebensdrang: Vgl. ›Erkenntnis und Arbeit‹ und ›Idealismus – Realis
mus‹ a. a. O.; 1962 ,96 Fn.: Vgl. zum folgenden ›Erkenntnis und Arbeit‹
a. a. O. Abschnitt V. 5 geht ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,50 folgt: also 7 den ]
Ts 1/2 ,35 folgt: (äußeren); nicht in 1947,50 übernommen 10 gleichfalls ]
Ts 1/2 ,35 u. 1947,50: gestr.; 1962 ,54: wieder eingefügt
70 Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes 64 | 65
1 unseres ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: des; 1962 ,54: unseres 2 die ] Ts 1/2 ,36 u.
1947,50: gestr.; 1962 ,54: wieder eingefügt 3 mögliche Wahrnehmung ]
Ts 1,36 u. 1947,50: möglichen Empfindungen und Wahrnehmungen
6 schon ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: gestr. 9 daher ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: also
11 also ] 1947,50: aber; 1962 ,54: also 11 kräftige ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50:
gestr. 13 das ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50 folgt: (schon in jeder natürlichen
Wahrnehmung liegende) 14 zurückhalten; ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50 folgt:
das Urteil: ›A ist real‹ fordert ja in seinem Prädikat selbst eine Erlebnis
füllung, wenn ›real‹ nicht ein leeres Wort sein soll. 14 versuchsweise ]
Ts 1/2 ,36 u. 1947,50 folgt: (für uns) 17 tief ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: gestr.
19 wohnen.« ] Ts 1/2 ,36v u. 1947,51 folgt: Denn alle Wirklichkeit, schon
weil sie Wirklichkeit ist und ganz gleichgültig, was sie ist, ist für jedes
lebendige Wesen zunächst ein hemmender, beengender Druck und die
›reine‹ Angst (d. h. ohne jedes Objekt) ihr Korrelat.
65 Der Mensch als »Asket des Lebens« 71
Der Mensch ist also das Lebewesen, das sich zu seinem Leben,
das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen
10 Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, ihnen Nah
rung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versa-
gend – verhalten kann ! Mit dem Tiere verglichen, das immer
»ja« sagt zum Wirklichsein, auch da noch, wo es verabscheut
und flieht, ist der Mensch der »Neinsagenkönner«, der »Asket
15 des Lebens«, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.
5
H ier aber erhebt sich nun die entscheidende Frage : Ent-
springt durch die Askese, Verdrängung, Sublimierung
erst der Geist, oder erhält er durch sie nur seine Energie ? Nach
meiner Überzeugung ist durch jene negative Tätigkeit, jenes
»Nein« zur Wirklichkeit, keineswegs das Sein des Geistes, son
dern nur gleichsam seine Belieferung mit Energie, und damit
seine Manifestationsfähigkeit bedingt. Der Geist selbst ist, wie
10 wir sagten, in letzter Linie ein Attribut des Seienden selbst, das
im Menschen manifest wird, in der Konzentrationseinheit der
sich zu sich »sammelnden« Person. Aber – als solcher ist der
Geist in seiner »reinen« Form ursprünglich schlechthin ohne
alle »Macht«, »Kraft«, »Tätigkeit«. Um überhaupt irgendeinen
15 noch so kleinen Grad von Tätigkeit zu gewinnen, muß jene
Askese, jene Triebverdrängung und gleichzeitige Sublimierung
hinzukommen, von der wir sprachen. |
3 nun die entscheidende ] Ts 2 ,38: die entscheidendste; Ts 1,38 u. 1947,52:
wiederum eine entscheidende 4 die Askese, Verdrängung, Sublimie-
rung ] Ts 2 ,38: diese Askese, Verdrängung, Sublimierung, durch dieses
nicht gelegentliche, sondern konstitutionelle Nein; nicht in 1947,52
übernommen 5 Energie? ] 1927,210 folgt: In der Beantwortung dieser
Frage scheiden sich die Wege in einem entscheidenden Sinne.; Ts 1,38
u. 1947,52 folgt: Ist diese innere Technik – wenngleich durch das ›non
fiat‹ des triebhemmenden Wollens selbst schon bedingt – nur eine
Dispositionsschaffung für die Manifestation des Geistes im Menschen,
oder aber entspringt der Geist seinem Wesen, seinen Prinzipien und
seinen Gesetzen nach erst durch diese [1947,52 folgt: Art] Verdrängung,
Sublimierung? 7 Wirklichkeit, ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,52 folgt: jene Abstel
lung, Inaktivierung der Wirklichkeit und Bild gebenden Triebzentren
9 selbst ] Ts 2 ,38 u. 1947,52: gestr. 10 wir ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,52 folgt: be
reits 13 »reinen« ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: reinen 14 überhaupt ] Ts 1/2 ,38
u. 1947,53: gestr. 15 von ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: Kraft und 17 von
der wir sprachen. ] Ts 1,38 u. 1947,53: gestr.
74 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 67
Von hier aus gewinnen wir nun Einsicht in zwei erste Mög-
lichkeiten der Auffassung des Geistes, die in der Geschichte der
Menschidee eine fundamentale Rolle spielen. Die erste dieser
Theorien, die die Griechen ausgebildet haben, spricht dem Gei
ste selbst nicht nur Kraft und Tätigkeit, sondern das Höchstmaß 5
der Macht und Kraft zu – wir nennen sie die »klassische« Theorie
vom Menschen. Sie ist Bestandteil einer Gesamtweltanschau
ung, die behauptet, daß das von vornherein bestehende und
durch den Werdeprozeß der Geschichte unveränderliche Sein
der »Welt« (Kosmos) so gebaut sei, daß die höheren Formen des 10
Seins von der Gottheit bis zur materia bruta auch die je mächti-
geren, kraftvolleren, also die kausierenden Seinsweisen sind. Der
Höhepunkt einer solchen Welt ist dann natürlich der geistige
und allmächtige Gott, der Gott also, der eben durch seinen Geist
auch allmächtig ist. Die zweite entgegengesetzte Auffassung, die 15
wir die »negative Theorie« des Menschen nennen wollen, vertritt
die umgekehrte Meinung, daß der Geist selbst – soweit dieser
Begriff dann überhaupt zugelassen wird –, daß zum minde
sten alle »Kultur erzeugenden« Tätigkeiten des Menschen, also
1 nun ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 1 erste ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr.
5 nur ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: eine eigentümliche Wesenheit und Au
tonomie, sondern auch 5 Tätigkeit ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: (νοῦς
ποιητικóς) 5 sondern ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: ja 6 der Macht und
Kraft ] Ts 1/2 ,38 u. 1962 ,57: von Macht und Kraft; 1947,53: von Macht des
Geistes 6 sie ] 1927,211: diese Theorie 7 – wir nennen … vom Men-
schen ] 1947,53: gestr.; 1962 ,57: wieder eingefügt; Ts 1,38: – wir nennen
… des Geistes; nicht in 1947,53 übernommen 7 ist ] 1927,211 folgt: der
10 (Kosmos) ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 gestr.; 1962 ,57: wieder eingefügt
10 die ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: je 12 also ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr.;
1962 ,57: wieder eingefügt 13 dann natürlich ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53:
gestr. 14 Gott, der Gott also, ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 15 allmäch-
tig ist ] 1947,53 u. 1962 ,57: allmächtige Gott 15 Auffassung ] Ts 1/2 ,38
u. 1947,53: Lehre 16 des Menschen ] Ts 1,38 u. 1947,53: des Geistes;
1962 ,57: des Menschen 16 wollen ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 17 die
umgekehrte ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: umgekehrt die 17 selbst ] Ts 1/2 ,38 u.
1947,53: gestr.; 1962 ,57: wieder eingefügt
67 | 68 Negative Theorie und Kritik 75
1 also auch ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 4 daß zwar durch jenen nega-
tiven Akt ] Ts 1/2 ,38 u. 1947, 53: daß der Geist zwar eigenes Wesen und
Gesetzlichkeit hat, aber keinerlei ursprüngliche Eigenenergie; daß zwar
durch jenen negativen Akt des (selbst schon geistigen) triebhemmenden
Wollens 6 eben ] Ts 1/2, 38 u. 1947, 53: gestr. 12 das ] Ts 1,39 u. 1947,53:
ferner das 16 Ich kann … widmen. ] Ts 1,39 u. 1947,54: gestr. 16 Bud-
dha ] Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: der mit unvergleichlicher Tiefe erkannte,
daß Wirklichkeitsgegebenheit Leiden am Widerstande ist, 17 re-
spektive ] Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: in der; 1962 ,58: bzw. in der 19 oder ]
Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: mythologisch ausgedrückt: 20 Nur ] Ts 1,39 u.
1947,54 folgt: seine Technik der Erkenntnis und des leidenüberwinden
den ›heiligen Wissens‹ und
76 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 68 | 69
bildung kennt, ist ihm eine Folge der Sprache, nicht ihre Wurzel;
die Sprache selbst sieht er als »immaterielles Werkzeug« zwecks
Ausschaltung der Arbeit der Sinnesorgane an. Als Grund für die
Entstehung dieses »Prinzips der Menschlichkeit« oder die Ten
5 denz des Lebens, seine Organe auszuschalten und »Werkzeuge«
und »Zeichen« an die Stelle der lebendigen Organfunktion zu
setzen, und damit auch als Grund der steigenden »Vergehirn
lichung« des Menschen im morphologischen und physiologi
schen Sinne, sieht Alsberg die besonders mangelhafte Organan
10 passung des Menschen an seine Umwelt an (Mangel an Greif
fuß, Kletter | fuß, Klauen, Eckzähnen, Haarkleid usw.), d. h. den
Mangel an jenen spezifischen Organanpassungen, die seine
nächsten Anverwandten, die Menschenaffen, besitzen. Das,
was man »Geist« nennt, ist also für Alsberg ein spät entstande
15 nes Surrogat für mangelnde Organanpassung – man könnte im
Sinne Alfred Adlers sagen : eine Überkompensation von konsti-
tutioneller Organ-Minderwertigkeit der Menschenart. – Auch
die Spätlehre S. Freuds gehört in den Kreis der negativen Theo
rien des Menschen. Die Worte Trieb- und Affekt»verdrängung«
20 hatte sogar schon Schopenhauer ausdrücklich gebraucht, um,
wie er sich ausdrückt, bestimmte »Wahnformen« zu erklären.
Es ist bekannt, wie großartig Freud diesen Gedanken für die
Entstehung der Neurose ausbaute. Aber nach Freud sollen diese
selben Triebverdrängungen, die nach der einen Richtung die
25 Neurose erklären sollen, für den Fall, daß die verdrängte Ener
gie der Triebe »sublimiert« wird, andererseits nichts weniger
4 in »Jenseits des Lustprinzips« ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: gestr.; 1962 ,60 Fn.:
Vgl. ›Jenseits des Lustprinzips‹ (1918), S. 40. 10 usw. (S. 40) ] Ts 1/2 ,40
u. 1947,55: gestr.; vgl. vorangegangene Anm. 10 noch ] Ts 1/2 ,40 u.
1947,55 folgt: viel zu 12 Grundlehre ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: Lehre
14 seltsamen, ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,56 folgt: zuweilen zu klarer Bewußtheit
gelangenden 16 Geistes vom materiellen Ding ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,56:
Daseins, von materiellen Dingen 17 Weisen ] 1927,215: Menschen
26 zerstörenden ] Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: zerstörerischen
71 | 72 Negative Theorie und Kritik 79
logie, die Ideologie einer Oberklasse, des Bürgertums. Vgl. meine »Sozio
logie des Wissens« in »Wissen und Gesellschaft« (S. 202 ff.).
diese klassische Theorie des Geistes auftritt bei Plato und Aristo
teles, wo die Ideen und die Formen zuerst als gestaltende Kräfte
auftreten, die aus einem » μὴ ὄν« respektive dem »Möglichsein«
der prima materia die Weltdinge formen; ob sie in der theisti
5 schen Form jüdisch-christlicher Religiosität erscheint, die Gott
nur reinen Geist sein läßt und ihm als solchem nicht nur Lei
tung und Lenkung (Hemmen und Enthemmen), sondern einen
positiven, schöpferischen, ja sogar allmächtigen Willen beilegt;
ob sie in mehr pantheistischer Form auftritt wie bei J. G. Fichte
10 oder in Hegels Panlogismus, nach dem die Weltgeschichte auf
der Selbstexplikation der göttlichen Idee nach einem Gesetz der
Dialektik beruhen soll, der Mensch aber in seinem Kerne nur
das werdende Selbstbewußtsein ist, das die ewige geistige Gott
heit von sich selbst »in ihm« gewinnt – die klassische Theorie
15 krankt überall und immer an demselben Irrtum, es besitze Geist
und Idee eine ursprüngliche Macht. Diese klassische Menschen
lehre tritt vor allem in zwei Hauptformen auf : in der Lehre von
besitzt, den die Pflanze durch ihre Art von Ernährung hat. In
gleicher Unabhängigkeit steht analog die Masse als solche in
der Geschichte da in der Eigengesetzlichkeit ihrer Bewegungen
gegenüber den höheren Formen des menschlichen Daseins. Kurz
und selten | sind die Blüteperioden der Kultur in der mensch 5
lichen Geschichte. Kurz und selten ist das Schöne in seiner Zart-
heit und Verletzlichkeit. – Die ursprüngliche Anordnung der
Beziehungen, die zwischen den höheren respektive den nie
deren Seinsformen und Wertkategorien und den Kräften und
Mächten bestehen, in denen sich diese Formen verwirklichen, 10
ist gekennzeichnet mit dem Satze : »Mächtig ist ursprünglich das
Niedrige, ohnmächtig das Höchste.« Jede höhere Seinsform ist im
Verhältnis zu der niedrigeren relativ kraftlos, und sie verwirk-
licht sich nicht durch ihre eigenen Kräfte, sondern durch die
Kräfte der niedrigeren. Der Lebensprozeß ist an sich ein gestal 15
teter Vorgang in der Zeit von eigener Struktur : verwirklicht wird
er aber ausschließlich durch die Stoffe und Kräfte der anorgani-
schen Welt. Ganz analog aber steht der Geist zum Leben. Wohl
1 von ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: der 2 gleicher ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: analo
ger 2 analog ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: gestr. 3 Geschichte ] Ts 1/2 ,45 u.
1947,60 folgt: des Menschen 3 ihrer ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60 folgt: histo
risch trägen 4 Daseins. ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60 f. folgt: Fast nur wie ein
glückhafter [1962,66: glücklicher,] gnadenreicher Zufall erscheint es
zunächst unseren endlichen Augen, wenn die Erde oder irgendein ferner
Stern ›lebensreif‹ wird, reif, Leben zu tragen, oder wenn der eigengesetz
liche Zug menschlicher Massenbewegungen in eine Richtung gerät, in
der die Masse den Genius auch nur zu dulden vermag – geschweige denn
darüber hinaus ihre Interessen und Leidenschaften seine Ideen und
Werte aufzunehmen vermögen, um sich durch sie befruchten zu lassen!
Welch seltener Glücksfall, wenn in dieser Welt der sittlich Gutwillige
und gut Gesinnte auch Erfolg hat – das erreicht, was wir ›historische
Größe‹ nennen, d. h. erhebliche Wirkmacht auf die Geschichte. 6 ist ]
Ts 1/2 ,45 u. 1947,61: gestr.; 1962 ,66: wieder eingefügt 7 Verletzlichkeit. ]
Ts 2 ,45 u. 1947,61 folgt: »Nein! Das ursprünglich aller Macht, aller Wirk
samkeit Bare ist gerade der Geist, je reiner er Geist ist. 7 Die ] Ts 1/2 ,45
u. 1947,61 folgt: wahre, 8 respektive den ] Ts 1/2 ,45: resp. den; 1947,61:
respektive; 1962 ,66: bzw. 17 aber ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,61: gestr. 18 aber ]
Ts 1/2 ,45 u. 1947,61: gestr.
77 | 78 Verhältnis von Geist und Macht 87
5 das … gelegen ist. ] Ts 1,46 u. 1947,62: das sich hinter dem Gesetz
formalmechanischer Art türmt. 6 formalmechanischer Struktur ]
Ts 1/2 ,46 u. 1947,62: gestr. 8 Vorgänge ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,62: Ge
samtvorgänge 15 Da ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,62: Und da 16 physiologi-
schen ] Ts 1,46: physischen; so auch in 1947,62; 1962 ,67: physiologischen
20 dann ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,62 folgt: aber 26 1947, 89: Vgl. die Abhand
lung ›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O.; 1962,67: Vgl. meine Ausführungen
in der Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹, Abschn. V.
79 | 80 [ Verhältnis von Geist und Macht in der Geschichte ] 89
läßt und der die Energie des Menschen anzieht, auf die bloße
Bekämpfung, Negierung eines Triebes richtet, dessen Ziel als
»schlecht« vor dem Gewissen steht. So muß der Mensch auch
sich selber dulden lernen, auch diejenigen Neigungen, die er als
5 schlecht und verderblich in sich erkennt. Er darf sie nicht durch
direkten Kampf angreifen, sondern muß sie indirekt überwin
den lernen durch Einsatz seiner Energie für wertvolle Aufgaben,
die sein Gewissen als gut und trefflich erkennt und die ihm
zugänglich sind. In der Lehre vom »Nichtwiderstand« gegen
10 das Böse schlummert, wie schon Spinoza in seiner Ethik tief
sinnig ausgeführt hat, eine große Wahrheit. Unter diesen Begriff
der Sublimierung gebracht, stellt die Menschwerdung die uns
bekannte höchste Sublimierung und zugleich die innigste Eini-
gung aller Wesensregionen der Natur dar. Vor einem Weltbild,
15 wie es hier angedeutet ist, zergeht der Gegensatz, der so viele
Jahrhunderte beherrscht hat : der Gegensatz einer »teleologi
schen« und »mechanischen« Erklärung der Weltw irklichkeit.* |
1 der ] Ts 1/2 ,48 u. 1947,63: gestr. 10 Ethik ] 1927,224 folgt: so; erst in
1962 ,69 wieder eingefügt 12 Menschwerdung ] Ts 1/2 ,48 u. 1947,64 folgt:
wie ich schon sagte, 14 dar. ] Ts 1,48 u. 1947,64 folgt: Denn der Mensch
faßt alle Wesensstufen des Daseins überhaupt, insbesondere des Lebens
in sich zusammen, wenigstens den Wesensregionen nach, nicht deren
zufälliger Ausgestaltung und noch weniger quantitativer Verteilung
nach. 19 Selbstverständlich ] Ts 1,48 u. 1947,64: gestr. 22 1947, 89:
Vgl. ›Probleme einer Soziologie des Wissens‹ a. a. O.; 1962,68: Vgl. dazu
meine Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O.
92 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 82 | 83
andere abhängt, kann, sofern ihm das Attribut des Geistes zuge
sprochen wird, als geistiges Sein keinerlei ursprüngliche Macht
oder Kraft besitzen. Es ist vielmehr jenes andere zweite Attribut,
von dem ich sprach – es ist die »natura naturans« im höchsten
Sein, der allmächtige, mit unendlichen Bildern geladene Drang, 5
der die Wirklichkeit und das durch Wesensgesetze und Ideen
niemals eindeutig bestimmte zufällige Sosein dieser Wirklich-
keit zu verantworten hat. Nennen wir das rein geistige Attribut
im obersten Grunde alles endlichen Seins »deitas«, so kommt
ihr, kommt dem, was wir den Geist und die Gott-heit in diesem 10
Grund nennen, keinerlei positive schöpferische Macht zu. Der
Gedanke einer »Weltschöpfung aus nichts« zerfällt vor dieser
Folgerung. Wenn in dem Sein »durch sich selbst« diese Urspan-
nung von Geist und Drang gelegen ist, dann muß das Verhältnis
dieses Seins zur Welt ein anderes sein. Wir drücken dies Verhält 15
nis aus, wenn wir sagen : Der Grund der Dinge mußte, wenn er
seine deitas, die in ihr angelegte Ideen- und Wertfülle, verwirk-
lichen wollte, den weltschaffenden Drang enthemmen, um im
zeithaften Ablauf des Weltprozesses sich selbst zu verwirklichen
– er mußte den Weltprozeß sozusagen in Kauf nehmen, um in 20
und durch diesen Prozeß sein eigenes Wesen zu verwirklichen.
Und nur in dem Maße wird das »Sein durch sich« zu einem
Sein, das würdig wäre, | göttliches Dasein zu heißen, als es im
Drange der Weltgeschichte im Menschen und durch den Men
schen die ewige Deitas verwirklicht. Und nur im selben Maße 25
kann dieser an sich zeitlose, aber sich für endliches Erleben zeit
haft darstellende Prozeß seinem Ziele, der Selbstverwirklichung
der Gottheit, näher rücken, als auch die Welt selbst der vollkom
3 vielmehr jenes andere zweite ] Ts 1,48 u. 1947,64: jenes andere; 1962 ,70:
vielmehr jenes andere 4 von dem … es ist ] Ts 1,48 u. 1947,64: gestr.
16 Verhältnis ] 1947,64 f. u. 1962 ,70: gestr. 19 um im zeithaften … ver-
wirklichen ] 1947,65: gestr.; 1962 ,70: wieder eingefügt 21 diesen Prozeß
sein eigenes ] Ts 1,49: diesen Prozeß sein; 1947,65 u. 1962 ,70: den zeit
haften Ablauf dieses Prozesses sein 26 aber ] Ts 1,49 u. 1947,65: gestr.;
1962 ,71: wieder eingefügt
83 | 84 [ Verhältnis von Geist und Macht im Weltgrund ] 93
mene Leib des ewigen Geistes und Dranges geworden sein wird.
Erst in der Bewegung dieses gewaltigen Wettersturmes, der die
»Welt« ist, kann eine Angleichung der Ordnung der Seinsfor
men und der Werte an die tatsächlich wirksamen Mächte, und
5 umgekehrt dieser an jene erfolgen. Ja, im Verlauf dieser Ent
wicklung kann eine allmähliche Umkehrung des ursprünglichen
Verhältnisses eintreten, nach welchem die höheren Seinsformen
die schwächeren, die niedrigeren aber die stärkeren sind. Anders
ausgedrückt : Die gegenseitige Durchdringung des ursprünglich
10 ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämonischen, d. h.
gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blinden Dranges
durch die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale,
die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die gleichzeitige
Ermächtigung[,] d. h. Verlebendigung des Geistes, ist das Ziel
15 und Ende endlichen Seins und Geschehens. Der Theismus stellt
es fälschlicherweise an seinen Ausgangspunkt. |
1 als auch die Welt selbst der vollkommene Leib des ewigen Geistes
und Dranges ] Ts 1,49 u. 1947,65: als das, was wir die ›Welt‹ nennen, der
vollkommene Leib der ewigen Substanz 8 aber ] Ts 1,49 u. 1947,65:
gestr. 12 Dranges durch ] 1962 ,65: Dranges:
94 84
Die Kluft, die Desca rtes zwischen Körper und Seele auf
richtete, hat sich heute fast bis zur Greifbarkeit der Einheit des
Lebens geschlossen. Wenn ein Hund ein Stück Fleisch sieht und
derweil bestimmte Magensäfte sich in seinem Magen bilden, so
5 ist das für Descartes, der aus der »Seele« das gesamte Trieb- und
Affektleben herauswarf und gleichzeitig eine rein chemisch-
physikalische Erklärung der Lebenserscheinungen auch nach
ihren Strukturgesetzen forderte, natürlich ein absolutes Wunder.
Warum ? Weil er auf der einen Seite den Triebimpuls des Appetites
10 ausgeschaltet hat, der im selben Sinne eine Bedingung ist für das
Zustandekommen der optischen Wahrnehmung des Fressens,
wie es der äußere Reiz ist – der überdies niemals, wie Descartes
glaubt, Bedingung des Inhalts der Wahrnehmung, sondern nur
der Jetzthier-Wahrnehmung dieses Inhalts ist, der als Teil des
15 »Bildes« von allem »Bewußtsein« ganz unabhängig besteht –,
und weil er auf der anderen Seite die Magensaftbildung, die
dem Appetit entspricht, nicht für einen echten Lebensvorgang
hält, verwurzelt in der physiologischen Funkt ionseinheit und
ihrer Struktur, sondern für einen Vorgang, der ganz unabhän
20 gig vom zentralen Nervensystem rein chemisch-physikalisch
im Magen abläuft. Was würde aber Descartes dazu sagen, wenn
man ihm Heyers Feststellung vor Augen führte, daß sogar die
bloße Suggestion des Essens einer Speise die gleiche Wirkung
nach sich ziehen kann wie das wirkliche Essen ? Man sieht den
2 der Menschen und Tiere ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70: in Mensch und Tier«;
es folgt: (trotz seiner Schrift über die ›Passiones‹) 4 Bewußtseins. ]
Ts 1/2 ,53 u. 1947,70 folgt: Er und alle ältere Physiologie hält die physio
logische Funktionseinheit für ein Punkt für Punkt im Sinne eines for
mal-mechanischen Nahewirkungsprinzips von irgendwelchen morpho
logisch schon vollständig bestimmten starren Teilen des organischen
Körpers je ausgehendes und so viel [1947,70: so gut] wie völlig mecha
nisch determiniertes Geschehen. Das aber ist sie eben nicht. 9 erst ]
Ts 1/2 ,53 u. 1947,70: gestr. 12 bestehen ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70: besteht
14 Patellarreflex ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70 folgt: (Kniescheibenreflex). Auch
physiologisch kann der Organismus dieselben Ziele erreichen bei weit
gehender Auswechslung der körperlichen Strukturen und Substrate,
mit denen er arbeitet, auch bei Ablenkung durch eine neue Ursache.
14 ferner ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70 : gestr.; 1962 ,76: wieder eingefügt
15 des Organismus ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,70: gestr. 15 wie ] Ts 1/2 ,54 u.
1947,70 folgt: das psychische bzw. 16 ebenso ] Ts 1,54 u. 1947,70: gestr.
17 Abläufe. ] Ts 1,54v u. 1947,70 folgt: Wenn z. B. bei Regenerationsvor
gängen [Ts 2: Regenerationserscheinungen] des Organismus an der
Wundstelle zwei Köpfe anstatt einem [1947,70: eines; 1962 ,76: des einen]
entstehen, so finden wir dasselbe in Fällen der Wiederherstellung eines
psychischen Komplexes, nach Gegebenheit eines Teiles, in dem blinden
90 | 91 Identität von Leib und Seele – Kritik Desca rtes 101
Und endlich müssen auch nach unserer Lehre die geistigen Akte,
da sie ja ihre ganze Tätigkeitsenergie aus der lebendigen Trieb
sphäre beziehen und ohne irgendeine »Energie« sich für unsere
Erfahrungen, auch für die eigene, nicht manifestieren können,
stets ein physiologisches und psychisches Parallelglied besitzen. 5
Das psycho-physische Leben also ist | eins. Letzte philosophische
Vertiefung dieser Theorie muß ich mir hier ersparen. –
Diese Einheit der physischen und psychischen Funktionen ist
eine Tatsache, die für alle Lebewesen, also auch für den Men
schen unbedingt gilt. Daß sich die abendländische Wissenschaft 10
vom Menschen als Naturwissenschaft und Medizin vor allem
mit seiner Körperseite beschäftigt hat und die Lebensvorgänge
besonders durch den Korridor von außen her zu beeinflussen
suchte, ist eine Teilerscheinung des überaus einseitigen Interes
ses, das der abendländischen Technik überhaupt eigen ist. Wenn 15
uns die Lebensvorgänge von außen her um soviel zugänglicher
erscheinen als über den Korridor des Bewußtseins, so braucht
das aber eben gar nicht auf dem tatsächlichen Verhältnis zwi
schen Seele und Physis zu beruhen, sondern es kann auch in
einem jahrhundertelang einseitig eingestellten Interesse begrün 20
det sein. Die indische Medizin etwa zeigt die entgegengesetzte
psychische, nicht minder einseitige Einstellung. Den Menschen
seinem Seelenleben nach mehr als gradweise vom Tier zu tren
nen, seiner Leib-Seele etwa eine besondere Art von Herkunft
und zukünftigem Schicksal zuzuschreiben, wie es der the 25
1 Und ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,71: gestr. 2 da ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,71 folgt: und
sofern 4 Erfahrungen ] 1947,71: Erfahrung 7 Letzte … ersparen. ]
Ts 1,54 u. 1947,71: gestr.; 1962 ,78: als Fn., ersparen durch versagen ersetzt
8 der physischen und psychischen Funktionen ] Ts 1/2 ,54: gestr.
10 gilt. ] Ts 2 ,54 folgt: sie ist im Menschen nicht im mindesten unter
brochen.; Zusatz nicht in 1947,71 12 seiner Körperseite ] Ts 1/2 ,55 u.
1947,71: der Körperseite des Menschen 13 besonders ] Ts 1/2 ,55 u.
1947,71: in erster Linie 14 suchte ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,71: gesucht hat
18 aber eben gar nicht ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,71: eben nicht 19 Seele ]
Ts 1/2 ,55 u. 1947,71: Psyche 19 es kann auch ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72:
kann 24 etwa ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72: gestr. 25 zukünftigem ] 1947,72:
künftigem
92 | 93 Identität von Leib und Seele – Kritik Desca rtes 103
1 Form ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74 folgt: des Körpers 5 auch ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,74: gestr. 8 Aber ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr. 8 wesensver-
schieden ] Ts 1/2, 57 folgt: aber auch; 1947,71: auch; 1962, 81: aber auch
9 nach … Auffassung ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr. 15 Dieses ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,74: Das; Maria Scheler wollte nach verwirklichen eine Leerzeile
einfügen, in die sie eintrug: Der Lahme (Geist) und der Blinde (Leben);
nicht in 1947,74 übernommen 15 soeben ] 1962 ,81: hier 16 umschrie-
ben ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74 folgt: haben 16 nun ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr.
19 »naturalistisch« ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: »naturalistische« Theorien
20 Theorien ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr.
96 | 97 Kritik der »naturalistischen« Auffassungen 107
1 aller ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,76: der 1 wieder ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,76: gestr.
3 die Forscher ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: gestr. 4 oder das System ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: das 5 endlich das System ] Ts 1/2 ,59: das System; 1947,76:
das 6 Triebsystem ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: System 6 halten ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: gehalten wird 11 sondern ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: als vielmehr
16 der Kunst … Recht ] 1947,76: alle Artikel gestr. 22 vom ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: gestr. 24 Ts 2, 59: »Vgl. meine Kritik des historischen Ma
terialismus in ›Soziologie des Wissens‹.; 1947, 89: Vgl. ›Probleme einer
Soziologie des Wissens‹ a. a. O.; 1962, 83 ähnlich wie in 1928: Vgl. meine
Kritik des historischen Materialismus in ›Probleme einer Soziologie des
Wissens‹ a. a. O.
110 Identität von Leib und Seele – Kritik Desca rtes 99 | 100
wie der Gruppe vor allem abhängt von der Kontinuität dieser
Vorgänge und ihrer symbolischen Bildkorrelate – wie auch der
dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als
vielmehr er den Gang der Geschichte der Völker weitgehend
5 bestimmt. Alle diese Theorien jedoch haben darin geirrt, daß
sie nicht nur die Tätigkeit, die Kraftgewinnung des Geistes und
seiner Ideen und Werte, sondern auch diese Ideen selbst nach
ihrem inhaltlichen Sinnbestande, ferner die Gesetze des Geistes
und sein inneres Wachstum, aus diesen Triebmächten herleiten
10 wollten. Wenn der Irrtum des abendländischen Idealismus der
»klassischen« Theorie mit seiner mächtigen Überschätzung des
Geistes die tiefe Wahrheit Spinozas übersah, daß die Vernunft
unfähig ist, die Leidenschaften zu regeln, es sei denn, daß sie –
kraft Sublimierung, wie wir es heute nennen würden – selbst zu
15 einer Leidenschaft werde, so haben die sogenannten Naturalisten
ihrerseits die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit des Geistes
vollständig mißachtet. – |
Die Scheidung von »Geist« und »Leben« liegt schon meiner Erst
*
1 wie ] Ts 1,60 u. 1947,77 folgt: die 4 der Völker ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,77:
gestr. 7 sondern ] Ts 2 ,60 folgt: – hier beginnt der Irrtum –; in Ts 1
durchgestr. u. nicht in 1947,77 übernommen 16 haben die … ihrer-
seits ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,77: hat der sogenannte Naturalismus seinerseits
21 vor allem ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,77: gestr. 24 Methode« ] 1962, 84 folgt:
(1899)
112 Identität von Leib und Seele – Kritik Desca rtes 101 | 102
1 sie jeweilig die ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: ihn jeweilig eine; 1962 ,86: ihn
jeweilig die 9 weitgehendst nur ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: weitestgehend
11 mit ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: daß sie mit; 1962 ,86: mit 12 aber ]
Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: gestr.; 1962 ,86: wieder eingefügt 14 zerstörlichen ]
Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: zerstörerischen 17 Vitalseele ] Ts 1/2 ,62 folgt: (Aus
drucksbewegungen), nicht in 1947,79 übernommen 17 diese letzteren ]
Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: erstere 18 Grundsymptome ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,79
folgt: solcher Art 22 selbst ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: gestr. 24 ist in Wirk-
lichkeit nur eine ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80: das ist in Wirklichkeit nicht der
Geist, sondern nur die
104 | 105 Kritik der anthropologischen Theorie von L. Klages 115
7 also ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: gestr. 15 und zwar ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84:
gestr. 17 die ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: diese 19 Treffpunkt. In ] Ts 1/2 ,66
u. 1947,84: Treffpunkt, und in 22 die Mensch- und die Gottwerdung ]
Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: Mensch- und Gottwerdung 25 Sein ] 1947, 85: Seins
26 jene ] 1947,85: die
112 | 113 Der Mensch als metaphysischer Ort 123
1 auch ] Ts 1,66 u. 1947,85: aber auch; 1962 ,92: auch 3 in diesen ihren
Manifestationen ] Ts 1,66 f.: gestr.; 1947,85 u. 1962 ,92 wieder eingefügt
18 aber ] Ts 1,67 u. 1947,85: gestr. 25 »wirkliche« Sein ] Ts 1,67 u. 1947,85:
wirkliche ›Sein‹ 26 eben ] Ts 1,67 u. 1947,85: gestr. 27 das ] Ts 1,67
u. 1947,85 folgt: Sein 30 und als bloße ] Ts 1,67: als bloße; 1947,85 u.
1962 ,93: zur bloßen
124 Zur Metaphysik des Menschen 113
1 Schmale Heftseite 15,8 × 21,7 cm, unpaginiert, dem Heft B.I.17 beige-
legt, keine Abschrift vorhanden. 11 6.) ] mit Rotstift nachträglich neben
Nr. 5 u. 6 gesetzt, als ob sie diese ersetzen sollte. Mit Rotstift sind sonst
nur die beiden ersten Zeitangaben eingefügt und die Titel von 2.) u. 3, 2.)
unterstrichen worden.
1 a | 2 a 127
Darmstädter Einleitung
1 Schmale Heftseiten 16,3 × 20,9 cm, paginiert 1a – 7a, von Maria Scheler
verstreut im Nachlass gefunden und dem Heft B.I.17 beigelegt. Abschrif-
ten: CA.I.3 und CE.XVII.13; weichen gelegentlich vom Original ab. Es
wurde darauf verzichtet, die Abweichungen dieser Abschriften kenntlich
zu machen.
128 Darmstädter Einleitung 2a|3a
Methodisches
13 sie ] Hier beginnen mit Fragt man […] die Ausführungen von B.I.17,
die beiden Typoskripte von D.IX.7c (Ts 1 u. Ts 2) sowie die Druckfassun-
gen 1927,161 und 1928,13.
130 Darmstädter Einleitung 4a|5a
Freiheit
1 Aus dem Heft B.I. 2, das fast das gleiche Format wie B.I.17 hat, S. 49–
51; Abschrift: CA. XI.17, 18–21, mit Abweichungen veröffentl.in GW 12,
215 – 217. Freiheit mit Rotstift nachträglich am oberen Seitenende ein-
getragen. 2 V.) ] Am äußeren Rand von S. 49 zusätzl. mit Bleistift ein-
getragen: 5.) 13 Notwendigkeit des »Wesens« ] Am Heft-Innenrand:
s[iehe ] Blatt.
134 Freiheit 50 | 51
Unsterbl[ichkeit]
11 Wofür man lebt! ] Ein Kreuz in der Mitte der Seite lässt vermuten,
dass Scheler diesen Satz als Überschrift der folg. Ausführungen verstan-
den hat. 12 Absatz am Innenrand des Heftes mit einem roten Strich
markiert.
138 Unsterblichkeit 53 | 54
so will ich wenigstens ein paar der Namen von M[enschen] nen
nen, die im Rahmen dieser Denkart heute lebten und dachten.
20 Wahrlich nicht, um mich zu decken durch diese Namen. Das
habe ich nicht nötig – und Einer könnte recht haben in diesen
Dingen und Alle Anderen unrecht : Stimmenzahl und Demo
cratie bedeuten hier Nichts und Alles die Wahrheit. Sondern
um an Beispielen zu zeigen : Wie sehr Menschen, deren Bedeu
25 tung ohne Frage ist, in die Richtung derselben Idee vom Grund
der Dinge und vom Verh[ältnis] des Menschen zu ihm denken.
Da darf ich – ich spreche nicht von lange Toten wie Meister
Eckehart, Boehme, Spinoza, Fichte, Hegel, Schelling, E. von
Hartmann und Anderen – : In Deutschland die Philos[ophen]
30 Stumpf, E. Becher, H. Schwarz, L. Ziegler, W. Rathenau, in
Frankr[eich] Bergson.
[In] Engl[and] Wells.
1 Zwei lose Blätter (linierte Heftseiten 16,3 × 20,6 cm) in B.III.31h, auf der
Vorderseite paginiert mit rotem Stift als Blatt 4 und 5. Text bis auf einige
mit Bleistift geschr. Zeilen auf der Rückseite von Bl. 5 mit Tinte geschrie-
ben. 4 Menschen« ] Die von Scheler angeführte Fn. enthält nur: S[iehe];
folgen sollte vermutlich die bibliogr. Angabe des Bandes »Der Leuchter«
(Bd. 8, 1927) mit den Seitenangaben von Schelers Vortrag.
4v|5 Entwurf der Vorrede 141
23 nicht ] auf dem unteren Rand von Bl. 5 in Fortsetzung der nachträgl.
Textergänzung.
142 Entwurf der Vorrede 5|5v
Es ist mir als hätten wir erst heute den vollen Ernst der Wahr-
haftigkeit erreicht, sie ohne alle bisher übliche halb- und vier
telsbewußte Traditionsbindung aufzuwerfen, andererseits aber
auch die posit[iv]wiss[enschaftlichen] Grundlagen, um es allsei
tiger und gründlicher zu tun, als es je geschah. – 5
Max Scheler
[ Disposition Anthropologie ]
I. 1.) E
inleitung : Fragwürdigkeit des Menschen. Anarchie
der Lehren; Geschichtsauff[assungen]; Trad[itionelle]
philos[ophische] Anthropologie.
2.) Probleme und Methoden. Kritik des Begriffes »Mensch« 5
3.) Gesch[ichte] des Selbsterlebens des Menschen.
(Ethnol[ogie], große Kulturen)
4.) Gesch[ichte] der Ideen – bes[onders] im Abendlande.
Stenzel, Dilthey.
5.) Die gegenw[ärtigen] V Ideen. Kritik (mit »Nietzsche«, 10
K lages, Gesetz usw., N[eue] Rundschau), E. v. Hartmann
II. A. Die Constitution des Menschen
1.) D ie Seinsweisen des Menschen und ihre Einheit.
»Wesen des Wesens«, »Imago Dei.« (Krit[ik] falscher
Lehren, Kritik Heidegger) 15
2.) P hänom[enologie] des Lebens und »Wesen des
Anorg[anischen]«. Axiomata.
3.) Die Pflanze, das Tier, der Mensch in wesensph[äno
menologischer] Betr[achtung]
4.) Altern und Tod. Geburt. S[iehe] dort[ ?]. 20
5.) »Körper«, »Leib«, »Seele«, »Geist« (Bewußtsein[,] Un-
Unter- Neben-Vorbew[ußtsein]), Person. Die Grund
formen des seel[ischen] L[ebens- ?]Zusammen[hangs ?]
6.) D as psychophys[ische] Problem und das des Menschen
insbes[ondere] 25
7.) D
as noetisch[ ?]-biolog[ische] Problem α) Trieblehre
β) Geistlehre. [(]Sublimirung)
Sublimirung
das Sein der höheren Seinsart (und Wertart) abzuleiten aus dem
Seienden der niederen Seinsform: [Er] Verkennt a) Eigenwesen
b) Eigengesetzlichkeit. Der Teleologe macht umgekehrt aus dem
Sein der höheren Seinsf[ormen] eine Urs[ache] und Kraft – bis
5 [zum] ens a se. Beides ist falsch ! Die höhere Seinsart tritt in
Erscheinung, »offenbart« sich – wenn ihre fundirenden Seinsbe
dingungen geg[eben] sind. Aber sie sublimirt dann die in ihren
Seinsbed[ingungen] steckende »Energie«. |
X 25.) Die Menschwerdung ist der letzte Actus der Subli
10 mirung des Weltprocesses, den wir bisher kenen. Triebaskese
und Vergehirnlichung sind nur zwei Erscheinungen dess[elben]
Processes.
26.) Begriffe von Über-sublimirung und Resublimirung.
27.) Sublimirung des Dranges und Realisirung des Wesens
15 und Wertes ist im Ens a se und der Hinordn[ung] von Drang und
Geist aufeinander selbst angelegt. Die Welt ist eine Geschichte,
die strebt – das Realsein und das Ideasein zu einigen und zu har
monisiren. Die Harmonie an den Anfang zu setzen (Theismus
des allm[ächtigen] Geistes) ist so irrtümlich, als die Tendenz zur
20 H[armonie] zu leugnen.
28.) Zu untersuchen bleibt: der Sublimirungsvorg[ang] zw[i
schen] den Arten der Energie und ihren materiellen Erschei
nungsformen im Bereich des Anorg[anischen]: Electron, Atom,
Molekül, Krystallisation, flüssige Krystalle, Bio-gen (physio
25 l[ogische] Einheit der Function); die Richtung des Energiewan
dels ist I.) die Richt[ung] von der leb[endigen] Kraft – zum Licht
(strahlender Energie). II.) Von Materie-bild[ender] Energie zu
imat[erieller] Energie. Vgl. E. v. Hartm[ann], Nernst, W. Stern
(Wärmetod und Messung der Energie am techn[ischen] Prin
30 cip). Licht als Bedingung der Erfahrbarkeit der Welt für Lebe
wesen überind[?ividueller Natur].
Anmerkungen zu Text und Fußnoten
V,8: Zur Schichtung des emotionalen Lebens, GW 2, S. 331 ff.; S. 384 ff.:
Abschn. VI: Formalismus und Person, GW 2, S. 370 ff.
Das Sachregister zur 3. Auflage wurde auf Grund des allzu um
fangreichen Sachregisters, das Herbert Leyendecker für die zweite
Auflage (1921) ausgearbeitet hatte, in einer gekürzten Fassung von
Schelers Assistent Herbert Rüssel erstellt (31927, S. 621 – 646).
4,1 – 3 Die erste Auflage des Buches Wesen und Formen der Sym-
pathie erschien unter dem Titel: Zur Phänomenologie und Theorie der
Sympathiegefühle und von Liebe und Hass, Halle 1913. In der zweiten,
erheblich erweiterten Auflage erhielt es den neuen Titel, die 3. Aufl.
erschien 1926 in Bonn, jetzt in GW 7, S. 7 – 258.
4,5 – 8 Der Vortrag »Mensch und Geschichte« erschien in: Die
Neue Rundschau 37 (1926), Bd. 2, S. 449 – 476, als Broschüre mit dem
gleichen Titel im Verlag der Neuen Schweizer Rundschau 1929, jetzt
GW 9, S. 120 – 144.
4,8 – 10 Das Buch: Die Wissensformen und die Gesellschaft er
schien 1926 im Neue Geist Verlag, Leipzig, jetzt in GW 8.
4,10 – 12 Max Scheler: Die Formen des Wissens und die Bildung,
Bonn 1925, jetzt in GW 9, S. 85 – 119.
4,13 – 18 Max Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs,
in: H. Lichtenberger, J. Shotwell, M. Scheler †: Ausgleich als Aufgabe
und Schicksal, mit einem Vorwort von E. Jäckh (Politische Wissen
schaft, H. 8), Berlin-Grunewald 1929, S. 31 – 63, jetzt in GW 9, S. 145 –
170.
In einer Anmerkung zu »Verlag W. Rothschild, 1928« führt Maria
Scheler in der 6. Auflage der Kosmos-Schrift 1962, S. 95 die neuen
Auflagen der von Scheler genannten Schriften an: »Die kleineren in
der Vorrede des Verfassers zitierten Arbeiten ›Mensch und Ge
schichte‹, ›Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs‹ (vom Verfasser
geänderter Titel) und ›Die Formen des Wissens und die Bildung‹ (vgl.
dort die eingehenden Anmerkungen, in denen der Verfasser auf
schlussreiche Hinweise auf die geplanten Werke ›Philosophische An
thropologie‹ und ›Metaphysik‹ gibt) sind nach dem Tode des Verfas
sers in Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, veröffentlicht
worden; unter dem gleichen Titel in den Dalp-Taschenbüchern
Bd. 301, Francke Verlag. Die Aufsätze werden in Bd. 9 der Gesammel-
ten Werke aufgenommen werden«, der erst nach ihrem Tode (1969)
erschienen ist.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 153
der erste, der den Menschen in das zoologische System aufnahm, aber
nur vom morphologischen Gesichtspunkt aus, so dass die traditio
nelle Auffassung der Sonderstellung des Menschen im Aufbau der
Natur unangetastet blieb.
8,30 Die Fußnote wurde von der 4. Auflage 1947 an gestrichen.
9,25 Zum Aufsatz »Zur Idee des Menschen« vgl. die Anm. zu
3,23 – 27. Der Aufsatz ist in Umsturz der Werte nicht in Bd. 2, sondern
in Bd. 1, S. 271 – 312 wieder abgedruckt worden.
9,26 Da sich Scheler von allen traditionellen, »unter sich ganz un
vereinbaren« Bestimmungen des Wesens des Menschen losgesagt hat
(S. 7,3 f.), ist es fraglich, ob er wirklich noch an dem Nachweis von des
Menschen »Ebenbildlichkeit mit Gott« aus seinem Aufsatz von
1913 festgehalten hat – sein Gottesbegriff hat sich stark gewandelt.
11,21 – 22 Scheler spielt an auf Gustav Theodor Fechner: Nanna
oder über das Seelenleben der Pflanzen, Leipzig 1848, vierte Aufl. mit
einer Einleitung von Kurd Laßwitz, Hamburg/Leipzig 1908. Unter der
Voraussetzung eines zugleich allgegenwärtigen, allwissenden und
allwaltenden Gottes erstreckt sich Fechner zufolge die Beseelung über
die gesamte Natur, »und es wird nichts in der Welt aus dieser Besee
lung herausfallen, weder Stein, noch Welle, noch Pflanze«. (S. 1) Ähn
lich äußert sich Fechner in: Die Tagesansicht gegenüber der Nachtan-
sicht, Leipzig 1879, S. 87 ff. Wenn Scheler in seiner Fußnote es für
willkürlich hält, dem Anorganischen Psychisches zuzuschreiben,
widerspricht er seiner eigenen Metaphysik, in der er die Welt als Leib
Gottes auffasst; ein Leib ist stets ein beseelter Leib. In seiner Schrift:
Über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die un-
sichtbare zu finden (1861, 2. Aufl. besorgt von Eduard Spranger, mit
einem Geleitwort von Friedrich Paulsen, Hamburg/Leipzig 1907) ver
teidigt Fechner seine »Ausdehnung des Seelenreiches über die Men
schen- und Tierwelt hinaus« (S. 23 ff.), insbesondere auch auf die Kri
stalle und Gestirne. Scheler hat bedauert, dass Fechners Philosophie
»auf die gegenwärtige Philosophie eine nur geringe Wirkung ausge
übt« habe; seine »eigentliche Metaphysik der ›Tagesansicht‹ und der
Allbeseelung hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die
ihr meines Erachtens innewohnt«. (Die deutsche Philosophie der Ge
genwart, 1922, GW 7, S. 275)
12,14 – 16 Zu Schelers Auffassung der anorganischen Körper vgl.
bereits die Biologievorlesung von 1908 (GW 14), in der allerdings noch
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 155
solchen Fällen, nur auf die rechte Deutung an« (S. 263). Dies gilt na
türlich auch für den Kulturvergleich Europa – Asien.
20,12 f. »Teleoklin«: Ein von Oskar Kohnstamm (1871 – 1917) einge
führter Terminus für ziel- oder zweckgerichtetes Verhalten eines Or
ganismus und vom Aufbau der Lebewelt überhaupt.
20,13 Zu den ersten Behavioristen unter den Psychologen, die
statt vom »Erlebnis« oder von der »Introspektion« von der Beobach
tung des Verhaltens (»behavior«) der Lebewesen ausgehen, zählt
Scheler Conwy Lloyd Morgan (1852 – 1884), englischer Psychologe und
Zoologe, Edward Lee Thorndike (1874 – 1949), amerikanischer Psy
chologe, sowie den amerikanischen Zoologen Herbert Spencer Jen
nings; vgl. die Anm. zu 21,8 f.
20,18 »Ausdruck« ist ein Grundbegriff von Schelers Philosophie
des Lebens, also keineswegs auf den Ausdruck menschlicher seeli
scher Innenzustände beschränkt. Auf dieser weiten Auffassung des
Ausdrucks beruht seine Lehre von der universalen Grammatik aller
Ausdrucksphänomene. Im Sympathiebuch heißt es: »Die Zusam
menhänge zwischen Erlebnis und Ausdruck haben elementare Zu
sammenhangsgrundlagen, die von unseren spezifisch menschlichen
Ausdrucksbewegungen unabhängig sind. Es gibt hier gleichsam eine
universale Grammatik, die für alle Sprachen des Ausdrucks gilt und
oberste Verständnisgrundlage für alle Arten von Mimik und Panto
mimik des Lebendigen ist.« (GW 7, S. 22)
21,8 f. Herbert Spencer Jennings (1868 – 1947), amerikanischer
Zoologe, Anhänger des Pragmatismus von William James und John
Dewey: Das Verhalten der niederen Organismen unter natürlichen
und experimentellen Bedingungen (1906), Leipzig/Berlin 1910; vgl.
S. 383 ff. – Zu Jennings’ Kritik der Tropismentheorie vgl. Jennings
a. a. O., Kap. XIV. – Dazu Karl Bühler: »Der bedeutendste Fortschritt,
den die Psychologie der niederen Tiere im letzten Menschenalter ma
chen konnte, war wohl die endgültige Überwindung der Tropismen-
theorie. Ich denke, niemand wird das Buch von Jennings aus der Hand
legen, ohne die Überzeugung gewonnen zu haben, dass hier der Be
weis von der Unzulänglichkeit der Tropismentheorie Loebs und an
derer bündig geworden sei.« Karl Bühler: Die Krise der Psychologie,
Jena 1927, S. 35 (Ana 315.Z.837); zu Bühler vgl. auch die Anm. zu 26,23.
Zum Prinzip von Versuch und Irrtum (»trial and error«) schreibt
Jennings S. 390, dass die »fundamentale und allgemeine Bedeutung«
160 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
Psychologen, Berlin 1924 (Ana 315.Z.752), bes. Kap. II: Die Lehre von
der Wahrnehmung, S. 16 ff. – Paul Schilder, O. Kauders: Lehrbuch der
Hypnose, Wien/Berlin 1926, S. 30. – Vgl. auch P. Schilder: Über das
Wesen der Hypnose, Berlin 1922, S. 23 f.
29,8 Ewald Hering (1834 – 1918), deutscher Physiologe: Über das
Gedächtnis als eine allgemeine Function der organischen Materie
(1870), 2. Aufl. 1876 (Ana 315.Z.684). – Richard Semon (1859 – 1918),
deutscher Zoologe: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel
des organischen Geschehens, Leipzig 1904. – R. Semon ersetzte die
für seine allgemeine biologische Fragestellung zu engen Worte »Ge
dächtnis« und »Erinnerungsbild« durch den Terminus »Mneme«,
worunter er »die Summe der Engramme« versteht, »die ein Organis
mus ererbt oder während seines individuellen Lebens erworben hat«
(S. 20). Als »Engramm« bezeichnet er die »bewirkte Veränderung der
organischen Substanz«, die ein Reiz hervorgerufen hat. Schelers Kri
tik trifft also Semons grundsätzlicheren Ansatz nicht genau.
29,9 Aristoteles: Über Gedächtnis und Erinnerung, in: Aristote
les: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 14, Teil II: De memoria et re-
miniscentia, übers. und erläutert von R. A. H. King, Darmstadt 2004.
30,8 Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 – 1936), russischer Mediziner,
Physiologe, Nobelpreis für Medizin 1904: Die Arbeit der Verdauungs-
drüsen. Vorlesungen. Autoris. Übers. aus d. Russ. v. A. Walther. Mit
e. Vorw. und Zusätzen des Verf., Wiesbaden 1898. – Auf einer frühen,
undatierten Heftseite bezeichnet Scheler Pawlow als den Begründer
der Biophysik, durch die die Biologie als Wissenschaft von den Le
bensprozessen mit der Physik als Wissenschaft von der toten Natur
verbunden werde (B.III.35, Bl. 40).
31,22 Zum Assoziationsgesetz von Berührung und Ähnlichkeit
vgl. das Formalismusbuch, Abschn. VI, A 3,g: Apriorisch materiale
Prinzipien der erklärenden Psychologie (GW 2 , S. 421 ff.); auf das
Ähnlichkeitsprinzip geht Scheler S. 439 ff. ein.
32,8 – 20 Diese Zeilen wiederholen Aussagen, die Scheler in seiner
Vorlesung über die Philosophie des Todes (1923/24) über das Altern
des psychischen Organismus vorgetragen hat: »Das Altern und Ster
ben des psychischen Organismus nähert sich also dem Seelenbilde
an, das die Assoziationspsychologie vom Seelischen gibt.« (B.I.73, S. 5)
Beim Altern des leiblichen Organismus nähert dieser sich dem Bild,
»das die mechanische Physiologie vom Leben gibt«. (ebd.)
164 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
nur der in seinen Impulsen nach Kraft und Richtung wechselnde Be
wegungsdrang des Menschen als Lebewesen ist es, der das seltsame
Wunder, das unerhörte Fiktum der natürlichen Weltanschauung des
Menschen hervorbringt, dass ihm eine bestimmte Art des Nichtseins
(von μὴ ὄν) allem positiv Seinsbestimmten gleichwie ein fundierendes
Sein vorherzugehen scheint: der leere Raum.« (GW 9, S. 219 f.)
58,17 Der Begriff des »Könnenserlebnisses« spielt in Schelers
Analyse des menschlichen Handelns eine wichtige Rolle: »Dieses
Können als Erlebnisakt, in dem uns Strebungsinhalte in einem ›Ich
kann etwas‹ ursprünglich gegeben sein können, ist vom bloßen Be
wusstsein des Könnens völlig verschieden. In ihm ist uns irgendein
Inhalt unmittelbar als unter unserer Willensmacht stehend gegeben.«
(GW 2, S. 239)
59,19 – 60,21 Ähnlich heißt es bei dem mit Scheler befreundeten
Psychologen Adhémar Gelb: »Ich kann mich in einem, mir auch nur
wenig bekannten Gelände gut zurechtfinden und bedarf dazu keines
Ordnungsraumes. Ein Haustier kann das ja auch, aber das Tier besitzt
selbstverständlich trotz guten Orientierungsvermögens keine sche
matische Gesamtvorstellung der Geländeanlage; es kann sich doch
keinen ›Plan‹ entwerfen! Hierzu bedarf es eben eines spezifischen
Raumbewusstseins. Darüber aber verfügt nur der Mensch und auch
nur dann, wenn er die Umwelt denkend darstellt. Mit einer solchen
denkenden Darstellung geht aber der Mensch über den Umweltraum,
über die bloße ›Umwelt‹ hinaus und gewinnt so die Möglichkeit, den
Begriff des ›Weltraumes‹ und der ›Welt‹ zu fassen.« (A. Gelb: Zur me-
dizinischen Psychologie und philosophischen Anthropologie, Den Haag
1937, S. 72; Ana 315.Z.679)
60,33 f. In »Idealismus – Realismus« schreibt Scheler: »Wohl
aber ist nach unserer Lehre auch die Zeitlichkeit noch daseinsrelativ
auf den Geist, der, ontisch erhoben über das Leben, den Lebenspro
zess selbst und seine Werdeform noch zu schauen vermag.« (GW 9,
S. 236)
61,7 f. »Wie Humor und Ironie im Wesen des Menschen zeigen«,
schreibt Scheler in B.I.2, S. 89 zu Alfred Seidels (vgl. unten Anm. zu
80,30 – 32) Lehre von der »Hypertrophie«, mit der Seidel Freuds Theo
rie der Triebsublimierung kritisiert.
61,9 – 12 In der transzendentalen Analytik schreibt Kant im Ab
schnitt »Von dem obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile«:
172 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
buchs (1913) lautete der Abschnitt: Ȇber den Grund zur Annahme
des fremden Ich«; er entspricht, überarbeitet und ergänzt, dem
Abschnitt »Die Fremdwahrnehmung« der zweiten Auflage (GW 7,
S. 232 – 257).
63,1 – 4 Zur Kritik der Grundthese aller Arten von Idealismus,
dass die Ideen »ante res« seien, vgl. Scheler u. a. in GW 11, S. 257 f.,
261 f. und im Notizbuch B.II.65, S. 79 die Bemerkungen zu »Ideae non
ante res, sed cum re«.
63,7 – 12 Zum menschlichen Mitvollzug der Akte der stetigen
Weltrealisierung (creatio continua) vgl. aus den nachgelassenen
Schriften zu »Idealismus – Realismus«: GW 9, S. 251 f. und Schelers
Lehre von der Funktionalisierung des Geistes, unten Anm. zu 67,
9 – 11.
64,8 – 17 Zu Schelers Lehre vom Schmerz vgl. den Aufsatz »Vom
Sinn des Leides« (1916/23), in GW 6, S. 36 – 72. Vgl. unten die Anm. zu
76,31 – 33.
64,19 Scheler kannte die Bekehrungsgeschichte Buddhas u. a. aus
dem Buch: Das Leben des Buddha. Eine Zusammenstellung alter Be-
richte aus den kanonischen Schriften der südlichen Buddhisten. Aus
dem Pali übersetzt und erläutert von Julius Dutoit, Leipzig 1906 (Ana
315.Z.711).
64,24 – 65,2 Scheler spielt an auf René Descartes: Meditationen
über die Grundlagen der Philosophie (1635), entweder auf die zweite
Meditation (Meditationen …, mit den sämtlichen Einwänden und Er-
widerungen, übers. und hrsg. v. Artur Buchenau, Hamburg 1954 (PhB
27), S. 23) oder, wie in B.I.17, S. 40, auf Descartes’ Meditationen über
die »Ausdehnung«.
66,10 f. Die verschiedentlich G. W. F. Hegel zugeschriebene These,
Ideen seien »Fenster ins Absolute«, konnte nicht ermittelt werden.
Zitiert hat sie ohne Nachweis u. a. auch Eugen Fink in seiner Dis
sertation: »Vergenwärtigung und Bildbewusstsein. Beiträge zu einer
Phänomenologie der Unwirklichkeit« (1930), in: Studien zur Phäno-
menologie, Den Haag 1966, S. 18. Zu Finks Auffassung der These vgl.
László Tengelyi: Finks ›Fenster ins Absolute‹, in: Phänomenologische
Forschungen 30 (1996), S.65 – 87, doch auch er ohne Zitat-Nachweis
weder bei Hegel noch bei Scheler. Es ist nicht auszuschließen, dass
Fink das Hegel zugeschriebene Wort einfach von Scheler übernom
men und dass Scheler es verwechselt hat mit einer Stelle aus Otto
174 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
elle Ichsein« ein Datum unmittelbarer Intuition sei. »Das Wesen ›Ich
heit‹ aber ist für das Wesen ›psychisch‹ konstitutiv und steht mit der
Richtung innerer Wahrnehmung in einem Wesenszusammenhang,
der in der formlosen puren Intuition selbst noch in beiden Gliedern
gegeben ist.« (GW 2, S. 408)
108,13 – 17 Zu Schelers Auseinandersetzung mit dem Positivismus
und dessen »neuestem Ableger«, dem vom amerikanischen Mathe
matiker und Philosophen Charles Sanders Peirce (1839 – 1914), von
William James (vgl. Anm. zu 90,17 – 18), F. C. S. Schiller (1864 – 1937)
und John Dewey (1859 – 1952) entwickelten Pragmatismus vgl. Sche
ler: Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1922; GW 7, S. 293 – 297)
und: Erkenntnis und Arbeit, GW 8, S. 193 – 382, bes. S. 212 – 226, sowie
die »Zusätze«, S. 447 – 465.
108,21 Hans Vaihinger (1852 – 1933), Vertreter eines durch Nietz
sche modifizierten Pragmatismus, Begründer des »Fiktionalismus«:
Die Philosophie des Als-ob. Mit einem Anhang über Kant und Nietz
sche (1911), 9./10. Aufl. Leipzig 1927. In »Erkenntnis und Arbeit« hebt
Scheler in Vaihingers fiktionalistischer Form des Pragmatismus das
Festhalten an der sensualistischen Erkenntnistheorie hervor, wonach
alles, was über sinnlich Wahrnehmbares hinausgeht, als »Fiktion«
bezeichnet wird, so dass die inneren Wesensunterschiede zwischen
übersensuellen Seinsformen, hypothetischen Realitätsannahmen,
religiösen Gegenständen usw. bestritten werden (GW 8, S. 225 f.).
Vgl. Scheler: Die deutsche Philosophie der Gegenwart« (1922; GW 7,
S. 296 f.) und Vaihingers Selbstdarstellung in: Die Philosophie der
Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Raymund Schmidt, Bd. 2,
Leipzig 21923, S. 183 – 212.
109,7 Das Zitat »Der Mensch ist, was er ißt« stammt ursprünglich
nicht von Carl Vogt (1817 – 1895, Prof. der Zoologie: Vorlesungen über
den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte
der Erde, Gießen 1863), sondern von Ludwig Feuerbach. In seinem
Aufsatz: »Das Geheimnis des Opfers, oder: Der Mensch ist, was er
ißt« (1862), bezeichnet Feuerbach den Satz, den er bereits in einem
Aufsatz von 1850 ausgesprochen hatte, als den einzigen Satz, »der von
meinen bekanntlich längst ›verschollenen‹ Schriften noch heute ge
wissen Leuten in den Ohren klingt« (Feuerbach, Gesammelte Werke,
Bd. 11, hrsg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1982, S. 26) – wenn Sche
ler ihn auch nicht mehr auf den richtigen Autor zurückzuführen ver
196 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
mochte. Scheler hat sich offenbar auch nicht mehr an Franz v. Baaders
Aufsatz über »Alle Menschen sind im seelischen guten oder schlim
men Sinn unter sich Anthropophagen« (1834) erinnert, wo es heißt:
»man ist, sagt Paracelsus, was man isset«, d. h. aufgrund seelischer
und leiblicher »Alimentation«.
109,21 – 110,5 Vgl. zur anthropologischen Priorität des Macht
triebs M. Schelers Vorträge über »Politik und Moral«, bes. GW 13,
S. 18 ff.
109,24 f. Scheler nimmt im Rahmen seiner Auseinandersetzung
mit dem Pragmatismus nur kurz zum historischen Materialismus
von Karl Marx Stellung; vgl. »Erkenntnis und Arbeit«, GW 8, S. 222 f.
und 242 ff.
110,4 f. Zu Alfred Adler vgl. die Anm. zu 77,16 – 17.
110,9 – 11 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vor-
stellung, Bd. 2, 4. Buch, Kap. 45: »Von der Bejahung des Willens zum
Leben«: Der Geschlechtsakt sei die Konzentration, der Brennpunkt
des Willens zum Leben. »In diesem Akt also spricht das innere Wesen
der Welt sich am deutlichsten aus.« Die Bejahung des Willens zum
Leben, die natura naturans komme allererst in dem mit Vernunft
ausgestatteten Lebewesen, dem Menschen, zur Besinnung (Schopen
hauer: Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet und hrsg. v. Wolfgang
Frh. v. Löhneysen, Bd. 2, Darmstadt 1961, 731 f.).
110,25 f. Für seine Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Lie
bestheorie verweist Scheler auf die jüngste Auflage seines Buchs: We-
sen und Formen der Sympathie (1923), 3. Aufl. 1926, S. 195 – 208. Dort
sagt er jedoch, dass er »Freuds Lehre von der Genese der Liebesarten«
nur kurz behandeln werde. Eingehender wolle er sie im zweiten Band
dieses Werkes behandeln – gemeint war damit seine geplante, aber
nicht über den ersten Band hinausgekommene Schriftenreihe: Die
Sinngesetze des emotionalen Lebens: Band 2: Wesen und Formen des
Schamgefühls; Band 3: Wesen und Formen der Angst und Furcht,
Band 4: Wesen und Formen des Ehrgefühls. Mit diesen vier Bänden
wollte Scheler alle Hauptstämme des emotionalen Lebens behandelt
haben (GW 7, S. 10).
111,12 – 15 Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik (a. a. O. Anm. zu 91,9 – 11),
Teil IV: »Von der menschlichen Knechtschaft«, 7. Lehrsatz.
111,20 In B.I.17, S. 84 spricht Scheler sehr viel respektvoller von
dem »sehr tiefdenkenden und hochverdienstvollen Klages«.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 197
hefte Schelers zeigen, dass er einen Essai über die »Vergottung des
Stifters« schreiben wollte (B.II.66, S. 51; B.II.67, S. 7).
120,27 f. Zur »Vergottung des Stifters« (S. 122,8) vgl.: Probleme ei
ner Soziologie des Wissens (GW 8, S. 73 f.). Der von Scheler angekün
digte Aufsatz über die Soziologie der Vergottung des Stifters (GW 8,
S. 73, Fn. 3) ist nicht mehr ausgearbeitet worden. Einige Notizen in
B.II.67, S. 24 zeigen, dass Scheler die Vergottung des Stifters in China,
im Mahayamabuddhismus, in der Antike und natürlich auch die Ver
gottung Jesu behandeln wollte.
122,11 Die Metapher des »menschlichen Herzens« kann dem Kon
text zufolge weder als »Gemüt« noch als »Organ seelischer Gefühle«
verstanden werden, sondern in dem engeren Sinne eines Fühlens der
absoluten Wertrangordnung, wodurch der Mensch Anteil gewinnt
am Prozess der Selbstverwirklichung Gottes, in dem Mensch- und
Gottwerdung aufeinander angewiesen sind (S. 122,21 f.). Vgl. oben
die Anm. zu 58,5.
124,7 – 9 In diesem Satz klingt nach, was Scheler 1921 über die
»Glaubensevidenz« geschrieben hat: »Nur die Freiheit des Glaubens
aktes im Unterschiede vom rein sachgebundenen Verstandesakte
macht die Evidenz des Glaubens und die ›felsenfeste Gewissheit‹
möglich. Glaube ist freie Einsetzung der Person und ihres Kernes für
den Glaubensinhalt und das Glaubensgut« (GW 5, S. 147).
Zum Anhang
Darmstädter Einleitung
127,18 f. Der Titel »Monopole des homo sapiens« nimmt die Über
schrift des Heftes B.I.17 auf. Wer der »Jemand« ist, von dem die Be
schreibung der Sonderstellung des Menschen durch »Monopole des
homo sapiens« stammt, konnte nicht ermittelt werden.
128,13 Hermann Klaatsch (1863 – 1916), Mediziner, Anatom und
Anthropologe: Entstehung und Entwicklung des Menschenge
schlechts, in: Hans Kraemer (Hrsg.): Weltall und Menschheit, Berlin/
Leipzig 1902; Die Stellung des Menschen im Naturganzen, in: Die
Abstammungslehre. Zwölf gemeinverständliche Vorträge über die De-
szendenztheorie im Licht der neueren Forschung, Jena 1911, S. 321 – 483;
202 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
Der Werdegang der Menschheit und die Entstehung der Kultur, Berlin
1916.
128,13 Johannes Ranke (1836 – 1916), Physiologe und Anthropo
loge der Universität München, bei dem Scheler 1894 eine Vorlesung
über Anthropologie gehört hat: Der Mensch, 2 Bde., Leipzig 1886/87.
Eine zweite, gänzlich neu bearbeitete Auflage erschien in Leipzig
1894.
128,13 Julius Kollmann (1834 – 1918), Zoologe, Anatom und An
thropologe: Plastische Anatomie des menschlichen Körpers. Ein Hand-
buch für Künstler und Kunstfreunde (1886), 3. verm. und umgearb.
Aufl., Leipzig 1910. Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte des Men-
schen, Jena 1898.
128,13 Adolf Naef (1883 – 1949), Schweizer Zoologe: Idealistische
Morphologie und Phylogenetik. Zur Methodik der systematischen
Morphologie, Jena 1919 (Ana 315.Z.1205).
128,13 Lodewijk Bolk (1866 – 1930), holländischer Anatom: Das
Problem der Menschwerdung, Jena 1926. In B.I.65, S. 50 zitiert Scheler
Bolks Definition des Menschen als »infantilen Affen mit gestörter
innerer Secretion«. In seinem eigenen Exemplar strich Scheler die
Stelle an: »dann möchte ich den Menschen in körperlicher Hinsicht
als einen zur Geschlechtsreife gelangten Primatenfetus bezeichnen«
(Ana 315.Z.755, S. 8).
128,13 Max Westenhöfer (1871 – 1957), Pathologe und Biologe: Die
Aufgaben der Rassenhygiene (des Nachkommenschutzes) im neuen
Deutschland, Berlin 1920.
128,14 Zu Edgar Dacqué vgl. die Anm. zu 112,4.
128,14 Gustav Schwalbe (1844 – 1916), Anatom und Anthropologe:
Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane, 2 Bde., Erlangen 1887; Stu-
dien zur Vorgeschichte des Menschen, Stuttgart 1906.
128,14 f. Hans Friedenthal (1870 – 1942), Physiologe und Anthro
pologe: Neue Versuche zur Frage nach der Stellung des Menschen
im zoologischen System (SB. d. Kgl. Akad. d. Wiss. Berlin, 10.7.1902);
Beiträge zur Naturgeschichte des Menschen, Jena 1908; Die Sonder-
stellung des Menschen in der Natur. Mensch und Affe, Berlin 1925;
Menschheitskunde, Leipzig 1927. Friedenthal leitet die »Stellung des
Menschen im Reiche der Lebewesen« aus der menschlichen Physis ab,
einschließlich der Frage nach dem »voraussichtlichen Endziel, dem
die bisherige Entwicklung des Menschengeschlechtes entgegenstrebt«
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 203
ten, über ›Leib und Seele‹ hat er mehrfach Übungen abgehalten (WS
1919, SS 1922, WS 1924/25), ebenso über die ›Entwicklungspsychologie‹
(SS 1924, SS 1925, SS 1926). Vgl. die Anm. zu S. 4,20 bis 4,21 – 23.
141,19 – 22 Die deszendenztheoretische Problematik umfasst bei
Scheler nicht bloß die Frage der Abstammung und Herkunft des
Menschen, sondern auch, ob sich die Menschheit fortentwickeln oder
ob sie in die Tierheit zurückfallen werde, und wie sie sich im Laufe
der Erdgeschichte entwickelt hat, wobei die Erdgeschichte wiederum
nicht unabhängig von der Realisierung des Weltgrundes im Univer
sum zu verstehen ist. Zur Deszendenztheorie hat sich Scheler u. a. in
B.I.7-B.I.11, B.I.22-B.I.23 geäußert.
142,10 – 12 Heideggers Sein und Zeit (Halle 1927, Ana 315.Z.1325)
ist einige Wochen vor Schelers Vortrag erschienen. In B.I.17 und B.I.2
nimmt Scheler bereits Stellung zu Sein und Zeit; er ist einer der ersten,
die sich gründlich mit Heideggers Werk auseinandergesetzt haben.
Maria Scheler hat Schelers Randnotizen abgeschrieben, M. S. Frings
hat sie vervollständigt (jedoch immer noch mit Lücken und Fehl
lesungen) und veröffentlicht in: GW 9, S. 305 – 340.
142,13 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der
Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/Leip
zig 1928 (Ana 315.Z.1146). Widmung: »Mit herzlichen Weihnachts
wünschen v[om] Verf[asser] 19. XII. 1927«.
Plessner schreibt im Vorwort: »In der Überzeugung, dass es sich
bei diesen Disziplinen [u. a. Psychologie, Soziologie, Biologie] um
Wissenschaften von eigener Methodik mit ursprünglichem Anschau
ungsfundament handelt, stimmen die folgenden Untersuchungen mit
den Ansichten jenes genialen Forschers überein, der – soweit es sich
literarisch übersehen lässt – bis heute allein auf diesem Gebiete ge
arbeitet hat: Schelers unbestreitbares Verdienst ist es, in seinen Un
tersuchungen über Emotionalprobleme, über Strukturgesetze der
Person und die Strukturzusammenhänge von Person und Welt eine
Fülle von Entdeckungen gemacht zu haben, die zum thematischen
Bestand der philosophischen Biologie und Anthropologie gehören.
Seine Tätigkeit in den letzten Jahren zeigt überdies, dass er im Begriff
ist, unter Zusammenfassung auch weiter zurückliegender biophiloso
phischer Analysen – die dem älteren Münchener und Göttinger Phä
nomenologenkreis teilweise bekannt gewesen sind und z. B. Hedwig
Conrad-Martius’ Ansätze in ihren ›Metaphysischen Gesprächen‹ be
210 Anmerkungen zu Text und Fußnoten
[ Disposition Anthropologie ]
Sublimirung
logie) in Bd. III, S. 96 ff.; vgl. auch: Die Weltanschauung der modernen
Physik, Leipzig 1902 (Ana 315.Z.3). Was Scheler mit Hartmanns Ethik
gemeint hat, ist unklar. Wenn er überhaupt Eduard von Hartmann
und nicht vielmehr Nicolai Hartmann gemeint hat, dann kommen
für E. v. Hartmanns Ethik, über die er eine selbstständige Schrift
nicht verfasst hat, in Betracht: Phänomenologie des sittlichen Bewusst-
seins, Berlin 1879 (Ana 315.Z.1675), ergänzend dazu: Ethische Studien,
Leipzig 1898 (Ana 315.Z.947), und: Grundriss der ethischen Prinzipien
lehre, Bad Sachsa 1909.
Ist Nicolai Hartmann gemeint, dann seine Ethik (1926; vgl. die
Anm. zu 85,13 – 15); zu Nicolai Hartmanns Kategorientheorie vgl. die
Anm. zu 85,14 – 15.
149,21 – 31 Über die Arten und Stufen des Energiewandels vgl.
Eduard von Hartmann: Die Entwertung der Energie, in ders.: Die
Weltanschauung der modernen Physik, Leipzig 1902 (Ana 315.Z.3),
S. 16 – 43; Das Problem des Lebens. Biologische Studien, Bad Sachsa
1906; Grundriss der Naturphilosophie, Bad Sachsa 1907.
Walther Nernst (1864 – 1941), Physiker: Das Weltgebäude im Lichte
der neueren Forschung, Berlin 1921 (Ana 315.Z.1463); Zum Gültigkeits-
bereich der Naturgesetze (Berliner Rektoratsrede), Berlin 1921.
William Stern (1871 – 1938), Philosoph und Psychologe, Vertreter
eines »kritischen Personalismus«: Der zweite Hauptsatz der Energe-
tik und das Lebensproblem: eine naturphilosophische Untersuchung,
Leipzig 1903.
Personenregister
Lamarck, J. de 17, 45, 79, 128 Scheler, Maria 51, 53, 106, 139,
Lamettrie, J. de 83, 107 144, 146
Leibniz, G. W. 52, 67 Scheler, Max 3 f., 8 f., 18 f., 33 f.,
Lessing, Th. 112 38 f., 44, 56 f., 60, 62, 104,
Linné, K. v. 8, 130 108 – 111, 117 f., 120, 136,
Locke, J. 32 140 – 142, 145
Loeb, J. 21, 24 Schelling, F. W. J. 84, 139
Lotze, H. 98 Schilder, P. 28, 35, 101
Lucretius 107 Schiller, F. 70
Luther, M. 148 Schiller, F. C. 108
Schopenhauer, A. 75 – 77, 83, 110,
Mach, E. 76, 107 131, 148
Machiavelli, N. 83, 109 Schwalbe, G. 45, 128, 145
Marx, K. 83, 89, 109 Schwarz, H. 139
Mendel, G. 103, 135 Semon, R. 29, 30
Mill, J. St. 32 Seidel, A. 80
Spencer, H. 25
Naef, A. 128 Spengler, O. 112
Nernst, W. 149 Spinoza, B. de 84, 91, 111, 121,
Newton, I. 97 139
Personenregister 217