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Philosophische Bibliothek

Max Scheler
Die Stellung des Menschen
im Kosmos

Meiner
M A X SCH EL ER

Die Stellung des Menschen


im Kosmos

Mit einer Einleitung und Anmerkungen


herausgegeben von
wolfhart henckmann

FEL I X M EI N ER V ER L AG
H A M BU RG
PH I L O S OPH I S C H E BI BL IO T H E K BA N D 6 7 2

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Inhalt

Einleitung. Von Wolfhart Henckmann . . . . . . . . . . . . . . . . . *11

Zur Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *13


Zur Entwicklung von Schelers anthropologischen Anschauun­
gen *17 | »Einige Hauptpunkte der ›Philosophischen Anthro­
pologie‹« *25 | Zum Wandel des Titels *32 | Das historische
Maximum der Selbstproblematik des Menschen *37

Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *39


»Das Problem in der Idee des ›Menschen‹« *39 | »Metho­d i­
sches« *43 | »Fragt man einen gebildeten Europäer …« *47 |
»Drei unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise« *52 | Die »tü­
ckische Zweideutigkeit« des Begriffes Mensch *71 | Zur Stellung
der Anthropologie im System der Philosophie *82

1. Stufenfolge des psychophysischen Seins . . . . . . . . . . . . . . . *88


1.1 Zur Konstitution des Wesens des Menschen *93 | 1.2 Zur
Sphäre des Anorganischen *102 | 1.3 Gefühlsdrang *105 |
1.4 Praktische Intelligenz *113

2. Wesensunterschied von Mensch und Tier . . . . . . . . . . . . . *116


2.1 Das Wesen des Geistes *121 | 2.2 Beispiele ›geistiger‹ Kate­
gorien *131 | 2.3 Geist als reine Aktualität *135

3. Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes . *141


3.1 Phänomenologische Reduktion und Widerstandsaufhe­
bung *145 | 3.2 Der Mensch als Asket des Lebens *148

4. Negative und klassische Theorie vom Menschen . . . . . . . *151


4.1 Zur Lehre von der Ohnmacht des Geistes *153 | 4.2 Zur ne­
gativen Theorie *154 | 4.3 »Sublimierung auf alles Weltgesche­
*6 Inhalt

hen zu formalisieren« *157 | 4.4 Zur klassischen Theorie *158 |


4.5 Zum Kräfte­verhältnis zwischen den höheren und den nied­
rigeren Seinsformen und Wertkategorien *159

5. Identität von Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *163


5.1 Die weltexzentrische Position des Geistes als Basis der Kri­
tik naturalistischer Theorien *166 | 5.2 Kritik an Ludwig Kla­
ges *168 | 5.3 Einige Lücken – zum Beispiel eine vergleichende
­Anthropologie *171 | »Mann und Weib« *173 | Die Menschen­
rassen *177

6. Zur Metaphysik des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *179


6.1 Haupttypen der religiösen Ideen über das Verhältnis
Mensch – Gott *183 | 6.2 Der Mensch als metaphysischer Ort
des Zusammenspiels von Drang und Geist *186

7. Zur ersten Rezeption der »Stellung des Menschen


im Kosmos« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *191
7.1 Stellungnahmen aus der Sicht zeitgenössischer ­philosophi­-
scher Standpunkte und Richtungen *194 | 7.2 Zur Rezeption
von Schelers Anthropologie in der ­phänomenologischen Bewe­
gung *214 | 7.3 Kritik aus christlicher Sicht *222 | 7.4 Stel­
lungnahmen außerhalb der Philosophie *231 | 7.5 Schelers
Anthropologie in der zeitgenössischen ­Historiographie der Phi­
losophie *236 | 7.6 Schelers zwanzigster Todestag 1948 *241

8. Zur Textgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *253


Erste Phase: Ausarbeitung des Darmstädter Vortrags (1925 –
1927) *254 | Zweite Phase: Erstellung der Druckfassung (Mai –
August 1927) *261 | Dritte Phase: Herstellung des Sonderdrucks
(1927 – 1930) *268 | Vierte Phase: Maria Schelers Nachkriegsaus­
gaben *270

Zur vorliegenden Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *275


Inhalt *7

Zum Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *279


Gliederung des Vortrags *279 | Darmstädter Einleitung *279 |
Sublimirung *280 | Texte aus dem zweiten Anthropologieheft
B.I.2 *281 | Aus den »Losen Blättern« des Nachlasses *282

Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *284


Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *285

M A X SCH EL ER
Die Stellung des Menschen im Kosmos

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Einleitung : Das Problem in der Idee des »Menschen« . . . . . 7

I. Stufenfolge des psychophysischen Seins . . . . . . . . . . . . . 11


Gefühlsdrang (Pflanze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Instinkt (Tier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Assoziatives Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Praktische Intelligenz (Höhere Tiere) . . . . . . . . . . . . . . . 38

II. Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« . . . . . . . . 45


Wesen des »Geistes« – Freiheit, Gegenstands-Sein,
­Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Beispiele »geistiger« Kategorien : Substanz;
Raum und Zeit als »Leer«formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
[ Geist als pure Aktualität ] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

III. Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des


Geistes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Grundakt des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
*8 Inhalt

Die »phänomenologische Reduktion« als Technik


der ­Widerstandsaufhebung (Realität, Widerstand,
­Bewußtsein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Der Mensch als »Asket des Lebens« . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

IV. »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen . . 73


Theorie vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Negative Theorie und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Klassische Theorie und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Verhältnis von Geist und Macht in Natur, Mensch,
­Geschichte und Weltgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
[ Verhältnis von Geist und Macht in der Geschichte ] . . 89
[ Verhältnis von Geist und Macht im Weltgrund ] . . . . . 91

V. Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­artes . . . . . . 94


Kritik Desc­artes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
[ Gegensatz von Leben und Geist ] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Kritik der »naturalistischen« Auffassungen :
ihres ­formal-mechanischen Typus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
[ Kritik ] ihres vitalistischen Typus in seinen ­
drei Unterarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Kritik der anthropologischen Theorie von L. Klages . . 111

VI. Zur Metaphysik des Menschen – »Metaphysik« und


­»Religion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
»Metaphysik« und »Religion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
[ Haupttypen der religiösen Ideen über das
Verhältnis Mensch – Gott ] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
[ Der Mensch als metaphysischer Ort des
Zusammenspiels von Drang und Geist ] . . . . . . . . . . . . . 122
Inhalt *9

Anhang

Gliederung des Darmstädter Vortrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126


Darmstädter Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Methodisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Unsterbl[ichkeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Entwurf der Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
[ Disposition Anthropologie ] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
Sublimirung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

Anmerkungen zu Text und Fußnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151


Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Für Clara Aurelia

Einleitung

A m Donnerstag, den 28. April 1927, von 11 bis etwa 13.30 Uhr
hielt Max Scheler in Darmstadt auf der achten Tagung der
»Schule der Weisheit« des Grafen Hermann Keyserling seinen
berühmt gewordenen Vortrag über die »Sonderstellung des
Menschen«. Der Vortrag wurde allgemein als der Höhepunkt
der Tagung angesehen, und so war es nur zu verständlich, dass
ihn viele der Anwesenden als Sonderdruck zu haben wünschten.
Nach gut einem Jahr konnten sie unter dem neuen Titel Die Stel-
lung des Menschen im Kosmos (im Folgenden: Kosmos-Schrift)
zugleich eine Übersicht über die Entwicklung und das eigentli­
che Anliegen von Schelers Philosophie in Händen halten. Denn
in der Vorrede schreibt Scheler, dass ihn die Fragen »Was ist der
Mensch, und was ist seine Stellung im Sein?« vom Anfang seines
philosophischen Werdegangs an wesentlicher und zentraler be­
schäftigt haben als jede andere Frage der Philosophie. Mit diesen
Worten gab Scheler seinen stark auseinandergehenden philo­
sophischen Interessen und Arbeiten eine einheitliche Grund­
linie. Nachdem er 1922 mit der Ausarbeitung einer umfassenden
Philosophischen Anthropologie begonnen hatte, konnte er mit
zunehmender Befriedigung feststellen, »daß der Großteil aller
Probleme der Philosophie«, die er schon behandelt hatte, »in
dieser Frage mehr und mehr koinzidierten«. (S. 3,6 – 15)1 Er sah
in der Philosophischen Anthropologie etwas wie die Summe und
Synthese seiner philosophischen Bestrebungen.
In dieser Perspektive will auch die Broschüre über Die Stel-
lung des Menschen im Kosmos gelesen sein: Sie steht nicht nur
allein für sich, sondern zugleich für einen Großteil von Schelers
vorangegangenen Arbeiten und für die eigentliche Intention sei­
ner Philosophie, der er rückblickend eine anthropologische Deu­

1 Im Folgenden wird die vorliegende Ausgabe mit Seiten- und unmit­


telbar nach dem Komma folgender Zeilenzahl zitiert.
*12 Wolfhart Henckmann · Einleitung

tung gegeben hat. Auf diese Zusammenhänge sollen die folgen­


den Bemerkungen dem Leser einige Hinweise zur Erweiterung
der Kosmos-Schrift, zu ihrer Vertiefung und Differenzierung,
aber auch zur kritischen Überprüfung einiger ihrer Argumente
und des gedanklichen Aufbaus der Kosmos-Schrift geben.
Um der Lektüre eine komprimierte Vorstellung vom welt­
anschaulichen Horizont der anthropologischen Anschauungen
Schelers zugrunde zu legen, kann sich der Leser an einem Weis­
heitsspruch aus der christlichen Tradition des Mittelalters ori­
entieren, der Scheler seit seiner Jugendzeit begleitet und den er
mehrfach zitiert hat:
»Ich leb’, ich weiß nicht wie lang,
Ich sterb, ich weiß nicht wann,
Ich fahr’, ich weiß nicht wohin,
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.« 2
Im Sinne dieses Spruches wäre Schelers Anthropologie im per­
sönlichen Selbstverständnis des Menschen nicht so sehr als
eines Individuums, als vielmehr eines Menschen verankert,
das getragen ist von einem Wissen um die Begrenztheit und
die Kontingenz der menschlichen Existenz im Universum. Das
Wissen um die Kontingenz bezieht sich auf den Grundzug des
menschlichen Lebens, einem Schicksal ausgesetzt zu sein, über
dessen Beginn und Ende der Mensch nicht Herr ist und dessen
Verlauf er nicht steuern kann. Doch das Wissen um die Unbe­
greiflichkeit des eigenen Ausgesetztseins beruht auf einer un­
bezweifelbaren Gewissheit, dass sich der Mensch trotz aller Ge­
wissheit von der Unerkennbarkeit des Grundes und des Sinns
seiner Existenz seinem nach Dauer, Woher und Wohin unge­
wissen »Erdenwallen« sorglos und fröhlich überlassen kann.
Die Einsicht in die Grenzen menschlichen Wissens wird durch
einen unergründlichen Seinsglauben ausgeglichen. Schelers An­
thropologie ist durchdrungen von einer erlebten Metaphysik des

2 Zitiert in der Dissertation (GW 1, S. 137), in »Tod und Fortleben«,


GW 10, S. 28 (B.I.78, S. 19), u. ö.
Zur Vorrede *13

Absoluten, die auf der Evidenz ihres obersten Prinzips beruht:


»Es gibt nicht Nichts«, was zu der Überzeugung führt: Es gibt
ein sich selbst setzendes Absolutes, aus dem heraus sich über­
haupt erst die Negation des so selbstsicher auftretenden Nicht­
wissens begreifen lässt. Die Anthropologie ordnet sich dadurch
der Selbstmanifestation des Absoluten und seiner Entfaltung
in das Ganze des Universums ein, in der die Geschichte der
Menschheit und jedes Individuums eine Funktion erfüllt, die
aus diesen übergreifenden und letztlich unbegreiflichen, über
den Verstehenshorizont des Menschen unendlich weit hinausge­
henden Zusammenhängen begriffen sein will, auch wenn dazu
der einzelne Mensch und die gesamte Menschheit nicht ausrei­
chen sollten – sie dürfen sich gewiss sein, von einem Absoluten
in ihrem Hier- und Jetztsein getragen zu sein, weshalb sie sich
fröhlich ihres Daseins erfreuen dürfen, so lange es währt. So
vollzieht sich das Leben des Menschen auf drei Ebenen: auf der
Ebene des Ganzen seines individuellen Lebens, auf der Ebene
des Ganzen der Menschheit von ihrem ersten Ursprung an bis
zur Vollendung der Bestimmung der Menschheit auf unserem
»Erdplaneten«,3 und auf der Ebene des Absoluten selbst, das sich
als Geschichte der Welt und nicht bloß als Geschichte unseres
Planeten manifestiert.

Zur Vorrede (S. 3 – 5)

Die zweieinhalb Seiten der Vorrede sollte man aus editorischen


Gründen nicht ohne den Entwurf (S. 140 – 143) lesen, weil nicht
sicher ist, ob bzw. in welchem Maße Maria Scheler, die letzte
Ehefrau des Philosophen und Herausgeberin seiner Gesam-

3 Der späte Scheler weist wiederholt darauf hin, dass das Schicksal
der gesamten Menschheit an das Schicksal des vergänglichen Erdpla­
neten gebunden sei; vgl. unten S. 7,21; 129,29; 137,23 und andernorts. Al­
les irdische Leben gehe zu Ende, auch der gesamte Planet Erde: teils auf
Grund des Entropiegesetzes, teils wegen der unabwendbaren fortschrei­
tenden Annäherung der Erde an die Sonne (B.I.12, S. 1 f.)
*14 Wolfhart Henckmann · Einleitung

melten Werke, an der Formulierung der Ende April 1928, also


noch zu Lebzeiten Schelers unterzeichneten Vorrede mitgewirkt
hat und deshalb auch für gewisse Unterschiede zwischen dem
handschriftlichen Entwurf und der veröffentlichten Fassung
(mit)verantwortlich ist.4
In der 1928 in der Kosmos-Schrift veröffentlichten Fassung
ebenso wie im Entwurf drückt Scheler die synthetisierende
Funktion seiner anthropologischen Frage komparativisch aus:
Sie habe ihn »wesentlicher und zentraler« (S. 3,8) beschäftigt als
jede andere. Es ist sicherlich nicht so, dass die Frage nach dem
Wesen des Menschen seine anderen philosophischen Fragen
von Anfang an mitbestimmt hätte. Eher ist anzunehmen, dass
erst ab etwa 1922, als Scheler seine Philosophische Anthropologie
auszuarbeiten begann, die ursprüngliche, noch nicht disziplin­
theoretisch, also im Sinne der (intendierten) Anthropologie ge­
formte Frage nach dem Wesen des Menschen in die nun nach
und nach entwickelte, aber nie vollendete Systematik seiner phi­
losophischen Anthropologie aufgenommen hätte, um über ihr
Verhältnis zu seinen anderen philosophischen Fragen Klarheit
zu gewinnen. Der Leser hätte also zwischen der ursprünglichen
Grundfrage nach dem Wesen des Menschen einerseits und ihrer
Entfaltung zu einer philosophischen Disziplin andererseits zu
unterscheiden. Vor 1922 scheint Scheler die anthropologische
Grundfrage erst auf eine vorparadigmatische, theoretisch noch
ungeformte und kaum entfaltete Weise verstanden zu haben,
von 1922 an hat sie sich dann zunehmend zu einem theoreti­
schen Paradigma entwickelt, das seine vollständige Entfaltung
in der für 1929 (S. 3,5) in Aussicht gestellten Philosophischen An-
thropologie erhalten sollte. Demzufolge hätte Scheler auch in
seinem kurzen, nichtsdestoweniger von ihm als programma­
tisch verstandenen Aufsatz »Zur Idee des Menschen« (1913/15)
noch kein durchdachtes Konzept einer umfassenden systemati­
schen Anthropologie vor Augen gehabt, sondern hätte sich dar­

4 Vgl. hierzu unten den Abschnitt »Zur Textgenese«, insbesondere


zur zweiten Phase.
Zur Vorrede *15

auf beschränkt, erst einmal einige der sich ihm aufdrängenden


Probleme im Umkreis der anvisierten »Idee des Menschen« zu
benennen und ihren Problemgehalt vorläufig zu erläutern.5 Ob
Scheler tatsächlich eine solche zweistufige Entwicklung seiner
anthropologischen Anschauungen vor und nach 1922 gemeint
hat, müsste an seinen weiteren Aussagen über seine »langjäh­
rigen Bemühungen« überprüft werden, in denen er »von allen
möglichen Seiten her das Problem« umringt habe (S. 3,9 – 11) –
»umringt« ist freilich ein merkwürdiger Ausdruck für eine der
Absicht nach systematische Untersuchung – falls es denn wirk­
lich eine »systematische«, die logische Struktur von Problemen
herausarbeitende Untersuchung werden sollte, die Scheler vor­
schwebte.
Das sonderbare Wort »umringen« lässt an einen Abschnitt
aus dem posthum edierten Aufsatz über »Phänomenologie
und Erkenntnistheorie« (1914) denken, in dem Scheler sich zur
Frage des »Phänomenologischen Streits« äußert (im Manuskript
heißt es übrigens treffender: »Phänomenologie und Streit«):
Die Phänomenologie lege dasjenige, was sie von einem Sach­
verhalt erkannt hat, nicht in Definitionen, Beweisen und logi­
schen Schlussketten dar, nach Schelers Auffassung: nicht »sym­
bolisch« in sprachlichen und gegebenenfalls mathematischen
Zeichen, sondern alle ihre Formulierungen dienen nur dazu,
das Gemeinte »zur Erschauung zu bringen«; die sprachlichen
Formulierungen lösen sich gleichsam in der Evokation des zu
Erschauenden auf. Die Untersuchung kreist das Phänomen ein,
indem sie es aus allen Relationen und Richtungen, in denen es
wahrgenommen wird, durch die es aber auch immer nur in Re­

5 In der Vorrede zur dritten Auflage von Vom Umsturz der Werte
schreibt Scheler im Juli 1923, dass das, was in der Abhandlung »Zur Idee
des Menschen« »nur keimhaft angedeutet« sei, in der geplanten Philo­
sophischen Anthropologie »breite Ausgestaltung und tiefere Fundie­
rung finden« werde (GW 3, S. 11). Den Zusammenhang zwischen beiden
Schriften deutet sich Scheler durch die Metapher von einem »organi­
schen Wachstum«, also nicht durch einen logisch geordneten Zusam­
menhang von analysierten Sachverhalten, Urteilen, Schlüssen.
*16 Wolfhart Henckmann · Einleitung

lationen, aber nicht in sich selbst erkannt wird, herauslöst und


freilegt, bis es rein für sich und als es selbst unmittelbar zur
Anschauung kommt. Die Sprache der Phänomenologie ist des­
halb auf eine spezifische Weise doppeldeutig: Zum einen durch
die ihr innewohnende (konventionelle oder präzisierte) lexikali­
sche Bedeutung, zum anderen durch die Dienstfunktion, etwas
zur Erschauung zu bringen, von dem sie ihre lexikalische Be­
deutung zurückzieht, um den von der lexikalischen Bedeutung
gänzlich unabhängigen Sinn des erschauten Wesens zur An­
schauung kommen zu lassen. Deshalb kann erst rückblickend
vom Erschauten her die Zweckmäßigkeit der lexikalischen Be­
deutung für das zur-Erschauung-Bringen des Wesens eingese­
hen, und, wenn der Versuch der Evokation der Wesenheit nicht
geglückt war, durch Variation der Ausdrucksmittel wiederholt
werden – ein beliebig oft wiederholbares Experiment. Wenn
Scheler schreibt, dass er von allen möglichen Seiten das Wesen
des Menschen »umringt« habe, dann wollte er allererst alle Rela­
tionen kennenlernen, in denen es steht, um es alsdann von allen
Verbindungen mit anderen Gegebenheiten freizusetzen und es
als es selbst zur Anschauung zu bringen. Es ging ihm dabei,
wie stets in seinen Untersuchungen, zugleich um den Aufweis,
worum es eigentlich mit einer Frage nach dem »Wesen« geht,
denn außerhalb der verschiedenen Arten von Wesensforschung
ist die Frage nach dem Wesen alles andere als selbstverständlich.
Scheler bereitet also schon in der Vorrede den Leser darauf vor,
dass sich die Selbsterforschung des Menschen als eine Art von
»Wesensforschung« versteht, was aber nicht unbedingt für das
Ganze von Schelers Philosophischer Anthropologie gelten muss
– es ist bezeichnend, dass sich diese Ambivalenz in einer an­
fangs merkwürdig anmutenden sprachlichen Wendung ankün­
digt, denn das »Umringen« muss außer der Ausrichtung auf das
»Wesen« zugleich von einem vorphänomenologischen Wissen
um die Eigenschaften der auszugliedernden Relationen geleitet
sein.
Es kündigt sich aber darüber hinaus noch ein weiteres Pro­
blem an: ob nämlich die langjährigen Bemühungen Schelers
Zur Vorrede *17

zur Freilegung des Wesens des Menschen wirklich schon zu ei­


nem Abschluss gekommen sind, ob er also für sich selbst das
Wesen des Menschen bereits phänomenologisch »adäquat« zur
Erschauung gebracht hat oder ob er mit seinen langjährigen
Forschungen bisher nur zu einem vorläufigen Ergebnis gelangt
ist, so dass der Leser früher oder später den Prozess des Umrin­
gens und zur-Anschauung-Bringens über Scheler hinaus, aber
vielleicht auf seinen Bahnen fortschreitend, selber fortzusetzen
haben werde; mit dem Risiko, wie Scheler erfahren zu müssen,
dass das Bemühen um eine allseitige Erkenntnis des Menschen
nie zu einem Ende kommen kann, weil der Mensch, so heißt
es in Schelers programmatischem Aufsatz »Zur Idee des Men­
schen«, zu viele Enden aufweise und undefinierbar sei.

Zur Entwicklung von Schelers anthropologischen


­Anschauungen (S. 3,20 ff.)

Deshalb (?) empfiehlt die Vorrede dem Leser, sich ein Bild von
der Entwicklung der anthropologischen Anschauungen Sche­
lers zu machen. Doch darüber, in welchem Verhältnis die Ent­
wicklung zu den dann aufgezählten Themenkreisen steht, etwa,
ob Scheler im Laufe seiner Entwicklung bestimmte Lehren fal­
len gelassen oder wie weit die Darstellung bereits in die von der
Entwicklung eröffneten Sachbereiche eingedrungen ist, wird
nichts weiter gesagt. Dies hätte sich auch erst von der Vollen­
dung der Philosophischen Anthropologie aus sagen lassen – die
Bemerkungen zur Entwicklung legen somit indirekt Zeugnis
dafür ab, dass Scheler noch nicht an das Ende seiner langjähri­
gen Forschungen gelangt ist.
Die Entwicklung von Schelers anthropologischen Anschau­
ungen von der Jahrhundertwende an, als er sich wie Husserl
und die Neukantianer kritisch mit dem Psychologismus und
Anthropologismus auseinandersetzte, bis zum Ende der zwan­
ziger Jahre, als er rückblickend die Frage nach dem Wesen des
Menschen als die zentrale Frage seiner Philosophie erkannte,
*18 Wolfhart Henckmann · Einleitung

ist zu komplex, um hier rekonstruiert werden zu können.6 Die


Hinweise, die Scheler in der Vorrede, im Entwurf und an an­
deren Stellen der Kosmos-Schrift zur Entwicklung seiner an­
thropologischen Anschauungen gibt,7 stellen seinen Darmstäd­
ter Vortrag in einen Zusammenhang, der in genetischer und
systematischer Hinsicht beträchtlich über die Kosmos-Schrift
hinausreicht, in beide Bereiche allerdings mit verschwimmen­
den Konturen, aber doch so, dass durch die Kosmos-Schrift
hindurch ein großer, vielschichtiger philosophischer Problem­
horizont sichtbar wird, in dem Schelers anthropologischen An­
schauungen recht unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren
haben. Dadurch verbietet es sich geradezu, Schelers philoso­
phische Anthropologie als ein methodologisch und inhaltlich
einheitliches Theoriegefüge aufzufassen.
Um etwas genauer auf die genetische Frage einzugehen: Im
Entwurf führt Scheler die Entdeckung der zentralen Stellung
der anthropologischen Frage bis auf seine Münchner Gymna­
sialzeit zurück (S. 140,22), in der gedruckten Fassung hingegen
bis auf die Zeit des ersten Erwachens seines philosophischen
Bewusstseins (S. 3,7 f.), wann immer das gewesen sein mag. Wer
vom Entwurf ausgeht, wird das erste Erwachen natürlich auf
die Gymnasialzeit zurückführen, es fragt sich aber, ob damals
wirklich schon seine persönliche, das heißt diejenige Auffas­
sung der Philosophie entstanden ist, aus der sich, ihren inne­
ren Leitlinien folgend, seine philosophische Anthropologie
entwickelt hat. Die Veröffentlichungen, die Scheler als Belege
anführt, sind erst zwanzig Jahre nach dem Abschluss seiner
Gymnasialzeit (1894) erschienen: Zuerst der Aufsatz »Zur Idee
des Menschen«, den er irrtümlich auf das Jahr 1916 (S. 141,2),
dann ebenfalls irrtümlich auf das Jahr 1918 (S. 3,24) datiert, der

6 Für einen vorläufigen Überblick vgl. meine Darstellung: Über die


Entwicklung von Schelers anthropologischen Anschauungen, in: Phi­
losophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth
Plessner im Vergleich, hrsg. v. Ralf Becker, Joachim Fischer u. Matthias
Schloßberger, Berlin 2010, S. 19 – 49.
7 Vgl. z. B. S. 3,21 f. und S. 140,26 f.
Zur Vorrede *19

aber zum ersten Mal 1913 und in ergänzter Form 1915 erschienen
ist8 – in den vorangegangenen zwanzig Jahren hatte sich Scheler
immerhin bereits zweimal habilitiert, hatte zehn Jahre lang Vor­
lesungen und Seminare gehalten, war vom neukantianischen
Standpunkt seiner Jenaer Privatdozentenzeit zur Phänomenolo­
gie der Münchner Privatdozentenzeit übergegangen9 und hatte
seine ersten großen phänomenologischen Untersuchungen ver­
öffentlicht, aber so gut wie nichts speziell zur Anthropologie !
Von all seinen vor dem Aufsatz »Zur Idee des Menschen« er­
schienenen neukantianischen und phänomenologischen Schrif­
ten nahm er allein die von ihm in der veröffentlichten Vorrede
nicht datierte, aber bereits der phänomenologischen Periode
angehörende Abhandlung über das Ressentiment (1912) in die
Liste seiner anthropologischen Schriften auf (S. 3,27 f.), im Ent-
wurf jedoch nur als historische Untersuchung der »Ideenge­
schichte« der Frage nach dem Wesen des Menschen (S. 141,2),
so dass der Beginn der Entwicklung seiner anthropologischen
Anschauungen in die Zeit der Aneignung der Phänomenologie
verlegt werden müsste, also in seine Privatdozentenzeit an der
Universität München (1906 – 1910). Die grundlegende Bedeutung
der anthropologischen Frage wäre demzufolge Scheler erst dann
bewusst geworden, als er vom transzendentalen Subjektivismus
des Neukantianismus auf den, mit Dilthey und vielen anderen
zu sprechen, Ansatz beim anthropologisch »ganzen Menschen«
übergegangen war. Daraus ergäbe sich die Aufgabe, alle seine
neukantianischen Veröffentlichungen bis einschließlich des
1906 aus dem Druck zurückgezogenen Fragments der Logik I,
in dem sich Scheler noch sehr kritisch zu Husserls Phänome­
nologie geäußert hat, daraufhin zu untersuchen, ob nicht auch
schon in seinen neukantianisch oder neo-idealistisch inspirier­
ten Schriften die anthropologische Grundfrage eine wenn auch

8 Vervollständigte bibliographische Angaben zu Schelers Veröffent­


lichungen finden sich in den »Anmerkungen zum Text«.
9 Vgl. hierzu meinen Artikel: Schelers Münchner Dozentenzeit, in:
Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie 58 (2014), S. 121 – 136.
*20 Wolfhart Henckmann · Einleitung

nicht dominierende, so doch wenigstens untergründig (trieb-


bedingt) oder hintergründig (geist-bedingt) wirksame Rolle
gespielt hat oder aber ob er gar seine früheste Entwicklungspe­
riode aus der Genesis seiner anthropologischen Anschauungen
hat ausschließen wollen.
Eine weitere, scheinbar geringfügige Differenz zwischen dem
Entwurf und der gedruckten Fassung liegt in der Aufzählung
derjenigen Veröffentlichungen, die Scheler als Zeugnisse der
Entwicklung seiner anthropologischen Anschauungen angege­
ben hat. Im Entwurf zählt er in chronologischer, aber nicht mit
Erscheinungsdatum präzisierter Reihenfolge neun Schriften auf,
von denen die letzte erst posthum erschienen ist, während in der
gedruckten Fassung (meist mit Angabe des Erscheinungsjahres)
die anthropologischen Schriften auf vier Gruppen verteilt wer­
den, die nun die »Stufen der Entwicklung« seiner Anschauun­
gen (S. 3,21) dokumentieren sollen: Was bedeutet hierbei »Stufe«,
insbesondere im Unterschied zur chronologischen Reihe des
Entwurfs? Die »Stufen« haben sicherlich auch einen chronologi­
schen Sinn, da ihnen jeweils zeitlich nahe beieinander liegende
Veröffentlichungen zugeordnet werden (1. Stufe: 1912 – 1915;
2. Stufe: 1913 – 1923; 3. Stufe: 1925 – 1926; 4. Stufe: 1927 und später),
aber im Vordergrund steht offenbar der Gesichtspunkt einer
stufenweise systematischen Entfaltung der Anthropologie, die
von den (1.) theoretisch und ideengeschichtlich grundlegenden
Schriften über (2.) die »entsprechenden« anthropologischen,
insbesondere das emotionale Leben betreffenden Schriften und
(3.) die gesellschafts- und geschichtsphilosophischen Schriften
bis (4.) zu dem die zukünftige Entwicklung des Menschenge­
schlechts betreffenden Vortrag fortschreitet: So bildet sich die
Vorstellung eines der Idee nach konsequenten Fortschritts in
der systematischen Erforschung des anthropologischen Pro­
blemfeldes. Durch die Andeutung einer systematischen Ent­
wicklung unterscheidet sich die gedruckte Fassung deutlich
vom Entwurf. Dadurch verstärkt sich die Vermutung, dass das
»erste Erwachen« von Schelers philosophischem Bewusstsein in
der Erkenntnis des inneren, systematischen Zusammenhangs
Zur Vorrede *21

der von ihm bereits behandelten Probleme liegen könnte. Geht


man dieser Annahme nach, so wird einem auffallen, dass die
gedruckte Vorrede, vergleicht man sie mit der chronologischen
Reihenfolge des Entwurfs, eine bemerkenswerte Lücke aufweist:
Sie lässt die große religionsphilosophische Untersuchung Vom
Ewigen im Menschen (1921) unberücksichtigt! Ist dies als ein blo­
ßes Versehen zu verstehen? Oder hat Scheler seine Religions­
philosophie absichtlich aus der Entwicklung seiner anthropo­
logischen Anschauungen ausschließen wollen, weil er um 1922
eine neue philosophische Wendung vollzogen hat – fort vom
Theismus seiner Religionsphilosophie hin zu einer anthropo­
logisch fundierten Metaphysik? Maria Scheler scheint in ihren
späteren, nach dem zweiten Weltkrieg herausgegebenen Auf­
lagen der Kosmos-Schrift von einem bloßen Versehen ausge­
gangen zu sein, da sie in Fußnoten einige Male auf die Schrift
Vom Ewigen im Menschen verweist, aber sie verweist dabei nicht
auf den religionsphilosophischen Hauptteil des Sammelbandes,
sondern auf den Aufsatz über das Wesen der Philosophie, mit
dem Scheler seine Erkenntnistheorie und Metaphysik, also die
zweite große, unvollendet gebliebene Schrift seiner nach-the­
istischen Periode, einleiten wollte.10 Dadurch würde das »erste
Erwachen« sogar erst in den Beginn seiner post-theistischen
Philosophie fallen, was aber unvereinbar wäre mit den seit 1912
erschienenen anthropologischen Veröffentlichungen – es bleibt
nichtsdestoweniger unklar, wann die Entwicklung derjenigen
Anschauungen, die in seiner Philosophischen Anthropologie
zum Abschluss kommen sollten, eigentlich begonnen und wie
viel von seinem Lebenswerk sie tatsächlich erfasst hat.
Die Hinweise auf die »Stufen« der Entwicklung hat Scheler
vermutlich nicht so verstanden, dass sie zurückgelegt und über­

10 M. Scheler, Vom Wesen der Philosophie und der moralischen


Bedingung des philosophischen Erkennens (1917), erweitert in GW 5,
S. 61 – 99. Vgl. meinen Aufsatz: Schelers Begriff der Philosophie in der
Zeit des ›Umsturzes der Werte‹, in: Vom Umsturz der Werte in der mo­
dernen Gesellschaft, II. Intern. Kolloquium der Max-Scheler-Gesell­
schaft, hrsg. v. Gerhard Pfafferott, Bonn 1997, S. 20 – 33.
*22 Wolfhart Henckmann · Einleitung

wunden, sondern dass sie in seinen aktuellen Anschauungen


noch erhalten geblieben sind – auf welche Weise, ist eine offene
Frage; einschließlich der Vermutung, dass die eine oder andere
der angeführten Schriften vielleicht doch als überholt zu gelten
hätte. Trotzdem: Sie alle, auch die eventuell inzwischen aufge­
gebenen Lehren, müssen als Zeugnisse der Entwicklung seiner
anthropologischen Anschauungen anerkannt werden, und die
Kosmos-Schrift wäre sicherlich nicht adäquat verstanden, wenn
die früheren anthropologischen Veröffentlichungen nicht be­
rücksichtigt würden: Angefangen mit der Ouvertüre »Zur Idee
des Menschen« (1913) und der Schrift über das Ressentiment
(1912), fortgesetzt nicht nur mit den ausdrücklich genannten
Abschnitten seines Hauptwerkes über den Formalismus in der
Ethik und die materiale Wertethik (1913/16), sondern mit dem
gesamten Formalismusbuch, weitergeführt mit der in erster
Auflage bereits vor dem ersten Teil des Formalismusbuchs er­
schienenen, ebenfalls anthropologische Fragen behandelnden
Schrift über die Sympathiegefühle (1913), die 1923, nach dem
übergangenen Werk Vom Ewigen im Menschen (1921), in einer
wesentlich erweiterten Auflage erschienen ist, fortgeführt mit
Fragen der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie in den
Vorträgen »Die Formen des Wissens und die Bildung« (1925)
und »Mensch und Geschichte« (1926), die Scheler ebenfalls aus­
drücklich dem Projekt der Philosophischen Anthropologie zu­
geordnet hat, ebenso wie den umfangreichen Sammelband Die
Wissensformen und die Gesellschaft (1926), bis hin zu dem das
Anthropologie-Projekt gewissermaßen abschließenden Vortrag
»Der Mensch im kommenden Zeitalter des Ausgleichs« (1927).
Hätte Scheler seine Philosophische Anthropologie vollenden kön­
nen, dann hätte er sicherlich auch den Rundfunkvortrag über
die »Philosophische Weltanschauung« zu seinen anthropolo­
gischen Forschungen gerechnet, den er Anfang März, wenige
Wochen vor seinem Tod, gehalten hat, und sicherlich auch die
im Frühjahr 1927 gehaltenen Vorträge über »Politik und Moral«.
Fragen nach einer genetischen Kontinuität oder einem sy­
stematischen Neuansatz stellen sich auch anhand von Schelers
Zur Vorrede *23

Hinweisen auf seine Kölner Lehrveranstaltungen, in denen er


seine anthropologischen Anschauungen weiter ausgebaut haben
will. In der gedruckten Vorrede führt er vier Vorlesungen an,
deren Forschungsergebnisse nach seinen eigenen Worten weit
über das in der Kosmos-Schrift gegebene Fundament (S. 4,23 f.)
hinausreichen, diese Schrift also mit anderen seiner Schriften
verbinden: Vorlesungen über die Grundlagen der Biologie, über
die Philosophische Anthropologie, Erkenntnistheorie und Me­
taphysik. Durch alle diese Hinweise nimmt die Kosmos-Schrift
am Ende nur noch einen begrenzten, aber noch keineswegs
deutlich zu bestimmenden Teil von Schelers Philosophischer
Anthropologie ein.
Im Entwurf führt Scheler acht Vorlesungen und Seminare an,
die nicht nur die grundlegenden Disziplinen, sondern auch be­
stimmte Sachbereiche betreffen: Probleme der Biologie, der phi­
losophischen Anthropologie, Unsterblichkeit, Tod und Altern,
Philosophie und Psychoanalyse, Leib und Seele, Entwicklungs­
psychologie und Deszendenztheorie (S. 141,12 – 23), ohne dass
Scheler auf die Frage eingeht, wie sie sich zu dem in der Kosmos-
Schrift dargestellten Fundament verhalten. Im Entwurf nennt
er merkwürdigerweise noch nicht die Disziplinen der Erkennt­
nistheorie und Metaphysik, die in der gedruckten Fassung eine
wichtige Rolle spielen, so als ob sie nun den fundamentaltheore­
tischen Anspruch der Anthropologie andeuten sollten, der dann
aber erst in der Zeit zwischen der Niederschrift des Entwurfs
und der endgültigen Fassung der Vorrede in den Vordergrund
getreten sein müsste – innerhalb einer Zeitspanne von maximal
einem halben Jahr – wenn diese Ergänzung nicht überhaupt erst
von Maria Scheler hinzugefügt worden ist. Denn sonst müsste
sich Scheler innerhalb dieser Zeitspanne entschlossen haben,
die beiden klassischen Probleme der Metaphysik: Freiheit und
Unsterblichkeit (S. 140,8 f.), nicht mehr in die geplante Erweite­
rung seines Darmstädter Vortrags aufzunehmen, was eine nicht
unwesentliche Veränderung seines Projekts bedeutet hätte.
Nun aber deutet er am Ende der Kosmos-Schrift nur noch das
Grundanliegen seiner persönlichen Metaphysik an – über die
*24 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Gründe, die zu der Änderung geführt haben, fällt kein einziges


Wort, was für Scheler eigentlich untypisch ist.
Betrachtet man die Kosmos-Schrift im Licht der hier nur an­
gedeuteten entstehungsgeschichtlichen Angaben, die in den bei­
den Fassungen der Vorrede, aber auch in den auffallend häufigen
Eigenzitaten zu finden sind, durch die die Verflochtenheit der
Anthropologie mit anderen Problemkreisen von Schelers Phi­
losophie vor Augen geführt wird,11 so stellen sich drei Fragen.
Erstens – die Liste der angeführten anthropologischen Schriften
ist unvollständig, sie stellt eine Auswahl dar, deren Auswahl­
prinzip jedoch nicht klar erkennbar ist: Durch welche Veröf­
fentlichungen (und auch durch welche Schriften aus Schelers
Nachlass)12 müsste sie ergänzt werden, damit sich ein vollstän­
diges Bild von der genetischen und systematischen Entwick­
lung von Schelers anthropologischen Anschauungen ergäbe?
Und auf welche Weise sind die Untersuchungen der genann­
ten Schriften mit der anthropologischen Grundfrage verbun­
den? Zweitens – die gedruckte Vorrede weist eine nume­rische
Gliederung der anthropologischen Schriften auf, in der sich
entstehungsgeschichtliche und systematische Gesichtspunkte
verbinden. Wie verhalten sich diese Gesichtspunkte zueinan­
der: Ergänzen oder widersprechen sie sich in der Entwicklung
von Schelers anthropologischen Anschauungen? Drittens – die
beiden Vorreden ordnen die Anthropologie in das Ganze von
Schelers philosophischem Lebenswerk ein: Lässt sich die An­
thropologie wirklich als das zentrale Anliegen seiner Philoso­
phie verstehen, insbesondere wenn man seine der Öffentlichkeit
damals wohlbekannten Standpunktwechsel13 in Betracht zieht,

11 Wichtig wäre vor allem der Hinweis auf seine Habilitations­


schrift über die Transzendentale und psychologische Methode von 1900
(S. 111,23 f.), doch ansonsten zitiert er vor allem seine beiden jüngsten
Schriften: »Idealismus und Realismus« (1928) und vor allem Die Wis­
sensformen und die Gesellschaft (1926).
12 Vgl. meinen Bericht: Geist und Buchstabe. Zur Edition von Sche­
lers Nachlass in der Ausgabe der Gesammelten Werke, Nordhausen 2017.
13 Vgl. unten den Abschnitt zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift.
Zur Vorrede *25

die nicht ohne weiteres, wenn überhaupt, als anthropologisch


motiviert gelten können?
Diese drei Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man das
Verhältnis zwischen Diachronie und Synchronie von Schelers
anthropologischen Anschauungen durch alle seine Schriften
hindurch verfolgt; wobei sich zeigen würde, dass sein Lebens­
werk, als ein Ganzes betrachtet, ein eigenes, buchstäblich offenes
Problem darstellt, spricht Scheler doch selber von seinem »offe­
nen System«, was man angesichts seiner persönlichen Beziehung
zu dem oben zitierten Weisheitsspruch auch nicht anders erwar­
ten kann. Seine Veröffentlichungen erweisen sich als Fragmente
eines Ganzen, das sich nicht mehr vollständig ausbilden konnte
und vielleicht sogar eine abschließende Form gar nicht zulassen
würde. Deshalb muss auch das Verständnis der Fragmente, wie
auch die Kosmos-Schrift eines ist, in mancherlei Hinsicht offene
Stellen aufweisen. Die freilich erst noch gefunden sein wollen.

»Einige Hauptpunkte der ›Philosophischen A


­ nthropologie‹«
(S. 3,3 f.; 140,17)

Offene Stellen gibt Scheler schon dadurch zu, dass er sich darauf
beschränken wollte, nur »einige Hauptpunkte« seiner philoso­
phischen Anthropologie anzusprechen. Aber welche Probleme
hat Scheler im Auge, wenn er von »einigen Hauptpunkten der
Philosophischen Anthropologie« spricht, womit er vermutlich
seine eigene Anthropologie und nicht die bis auf die sokratische
Forderung des »Erkenne dich selbst« zurückgehenden anthro­
pologischen Betrachtungen des abendländischen Kulturkreises
meint?
Seit Scheler sich Anfang der zwanziger Jahre entschlossen
hatte, den (nie erschienenen) zweiten Band Vom Ewigen im
Menschen nicht mehr, wie ursprünglich geplant, der Frage der
Vorbilder und Führer, sondern der Philosophischen Anthropo-
logie zu widmen, hat er in einer Vielzahl von Gliederungsent­
würfen ein Gesamtkonzept der Philosophischen Anthropologie
*26 Wolfhart Henckmann · Einleitung

entworfen, ohne sich für einen von ihnen endgültig entscheiden


zu können. Den ausführlichsten hat er im Spätsommer 1927 nie­
dergeschrieben, nachdem er die Druckfassung seines Vortrags
über die Sonderstellung des Menschen abgeschlossen hatte. Als
etwa ein halbes Jahr später, »Ende April 1928«, die Vorrede zur
Sonderausgabe von wem auch immer unterzeichnet wurde, hätte
er sich auf dieses Konzept beziehen können, vielleicht auch auf
seine letzte Vorlesung über die philosophische Anthropolo­
gie, die er ein halbes Jahr nach dem Darmstädter Vortrag im
WS 1927/28 gehalten und wenige Wochen vor der Unterzeich­
nung der Vorrede beendet hatte. Wie die Vorlesungsnachschrift
von Hengstenberg14 jedoch zeigt, hat Scheler selbst in seiner letz­
ten Anthropologie-Vorlesung noch keine vollständige Darstel­
lung seiner Anthropologie, sondern wiederum nur einen relativ
kurzgefassten Überblick vortragen können – eine dreistündige
Vorlesung war offenbar zu kurz, um ein so komplexes Problem­
feld, wie es seine Anthropologie inzwischen geworden war, zu
einer wenigstens in ihren Grundzügen halbwegs vollständigen
Entfaltung kommen zu lassen.
Halten wir uns an den Text der Kosmos-Schrift selber, so müs­
sen als »Hauptpunkte« vor allem die beiden Prinzipien »Leben«
und »Geist« bezeichnet werden, die von Grund aus das Ganze
seiner Anthropologie beherrschen. Auf dem »Leben« als dem
Prinzip, das den Aufbau der biopsychischen Welt bestimmt,
und auf dem »Geist« als das dem Leben entgegengesetzte Prin­
zip beruht die Sonderstellung des Menschen im Kosmos, nicht
im Sinne eines additiven Nebeneinanders, sondern als wech­
selseitig aufeinander angewiesene Attribute des Absoluten, in
dem sie gemeinsam fundiert sind, wie es im sechsten Abschnitt
heißt (S. 122,15 ff.). Während Scheler das Prinzip des Lebens in
die vier »Wesensstufen« Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives
14 Die Nachschrift befindet sich im Scheler-Nachlass unter der Signa­
tur Ana 315, F.III.3; Maria Scheler hat in F.III.4 unter Berücksichtigung
von Schelers Anthropologie-Heften eine Übersicht der letzten Anthro­
pologie-Vorlesung ausgearbeitet, aber nichts über das Verhältnis dieser
Vorlesung zur geplanten Philosophischen Anthropologie gesagt.
Zur Vorrede *27

Gedächtnis und Intelligenz aufgliedert und dadurch vier weitere


»Hauptpunkte« (oder dem Prinzip »Leben« untergeordnete, in
ihm enthaltene Sachbereiche) nennt, wodurch sich eine im Le­
bensprinzip fundierte (Teil)Systematik anzukündigen beginnt,
hat er die Sphäre des Geistes nicht auf eine analoge Weise ge­
gliedert. Dadurch ergeben sich eine Reihe von Unklarheiten und
Schwierigkeiten. Scheler hätte den Begriff der »Person« und das
»Gefüge der geistigen Aktarten« anführen können, um die in­
nere Systematik des Geistes anzudeuten. Er geht aber nur un­
systematisch, manchmal sogar fast nur assoziativ auf einige aus­
gewählte Aspekte ein – was alles unter einem »Hauptpunkt« zu
verstehen ist, kann dadurch nicht klarer werden. Deshalb bleibt
auch die Ordnungsstruktur, die die Haupt- und Nebenpunkte
durch Über-, Neben- und Unterordnung miteinander verbindet,
undurchsichtig, und wenn Scheler schließlich unter anderem
sagt: »Welt-, Selbst- und Gottesbewußtsein bilden eine unzer­
reißbare Struktureinheit« (S. 118,18 f.) – in die das Leben-Geist-
Verhältnis erst noch einzuordnen wäre –, so bleibt der auf diese
Weise hergestellte strukturelle Systemzusammenhang so lange
eine bloße Behauptung, als die Unzerreißbarkeit der Struk­tur­
einheit nicht der anthropologischen, sondern der metaphysi­
schen »Hauptpunkte« Welt, Selbst und Gott sowie ihre Funk­
tion innerhalb der Anthropologie nicht nachgewiesen worden
ist.
Will man also genauer erfahren, was Scheler unter einem
Hauptpunkt und damit unter einem (systematischen) Koinzi­
dieren verstanden hat, bleibt nichts anderes übrig, als vom Ar­
gumentationszusammenhang der Kosmos-Schrift auszugehen.
Dabei könnte man einfachheitshalber auf die Gliederung zu­
rückgreifen und in ihren sechs Abschnitten die »Hauptpunkte«
sehen, doch dann würde man den systematischen Sinn von
»Hauptpunkt« durch einen rhetorischen ersetzen, der zufolge
ein Hauptpunkt darin besteht, dass sich Scheler in seinem
Darmstädter Vortrag über ein bestimmtes Thema relativ aus­
führlich geäußert hat, gleichgültig auf welche Weise und in was
für einem theoretischen Zusammenhang dies geschehen ist. In
*28 Wolfhart Henckmann · Einleitung

die Vortragsmanuskripte hat Scheler die Gliederung sowieso


erst im nachhinein, aber weder vollständig noch konsequent
eingearbeitet, so dass sich Maria Scheler später das Recht her­
ausnehmen konnte, sie in ihren erweiterten Ausgaben nach ei­
genem Ermessen zu ergänzen oder zu variieren – keineswegs
willkürlich, wie man anerkennen muss, sondern sich eng an den
Verlauf des sog. »Vortragsmanuskripts« (B.I.17) haltend.
In dem angekündigten »umfassenden Werk«, auf das hin die
Kosmos-Schrift zu lesen ist und das schon »in Jahresfrist« er­
scheinen sollte,15 hätten die Hauptpunkte wahrscheinlich voll­
ständig und in systematischer oder »organischer« Ordnung dar­
gestellt werden sollen, aber dieses Werk konnte Scheler nicht
mehr fertigstellen, und es gibt auch keinen endgültigen Plan,
wie es aufgebaut sein sollte. Es gibt aber, wie gesagt, eine Anzahl
von »Dispositionen«, also Gliederungen oder Problemübersich­
ten, die Scheler spätestens seit 1922 entworfen hat. In diese im­
mer wieder überprüfte und geänderte Ordnung des »umfas­
senden Werks« gehört schließlich auch Schelers Vortrag über
die »Sonderstellung des Menschen« (1927) mit seiner Auswahl
und Anordnung von »Hauptpunkten«, so dass sich erst auf­
grund eines Überblicks über das »umfassende Werk«, also von
der Zukunft aus retrospektiv, bestimmen ließe, was als Haupt-,
Neben- oder untergeordneter Punkt der Kosmos-Schrift bzw.
der geplanten Philosophischen Anthropologie zu verstehen wäre.
Mit anderen Worten: Die Kosmos-Schrift ist nicht allein aus
dem Ganzen ihres zum Zwecke des Vortrags gekürzten Tex­
tes, sondern auch aus dem intendierten Ganzen des »umfas­
senden Werks« zu lesen. Der Leser hätte seine Lektüre deshalb
auf zwei, auf unterschiedliche Weise nicht genügend entwickelte
Sinnzusammenhänge einzurichten, so dass er sein Verständnis
einzelner Wörter, Sätze, Absätze, Abschnitte usw. einer dop­

15 1927, als Schelers Vortrag über die Sonderstellung des Menschen


erschien, wurde das umfassende Werk für das Jahr 1928 (1927, S. 162), 1928
dagegen für das Jahr 1929 in Aussicht gestellt (S. 3,5; 8,30).
Zur Vorrede *29

pelten Überprüfung zu unterziehen hätte. Mit einer »kleinen«


Lektüre hätte er einen jeden Textteil auf das Textganze der
Kosmos-Schrift zu beziehen, mit einer »großen« auf das erst
teilweise in verschiedenen Entwürfen außerhalb der Kosmos-
Schrift vorläufig formulierte, unfertige Ganze des umfassenden
Werks, von dem die Kosmos-Schrift einen in seiner Funktion
und seinem Anteil nicht näher bestimmten Teil ausmacht. Kann
für die erste Form der Überprüfung dessen, was einen (rheto­
rischen?) Haupt- oder Nebenpunkt ausmacht, das Inhaltsver­
zeichnis dienen, so für die zweite Überprüfung die verschiede­
nen Dispositionen, am zweckmäßigsten die der Kosmos-Schrift
zeitlich am nächsten liegende Disposition, die in systematischer
Absicht einen Haupt- oder Nebenpunkt festlegt. Die letzte, nach
der Beendigung der Kosmos-Schrift, also innerhalb der letzten,
unabgeschlossenen Entstehungsphase des umfassenden Werks
entworfene Disposition16 findet sich im Anhang der vorliegen­
den Ausgabe (S. 144 f.). Mit ihr wäre das Inhaltsverzeichnis von
1928 zu vergleichen – aber nicht nur mit dieser, sondern auch
mit früheren, im Prinzip mit allen überlieferten Dispositionen,
was wir uns hier jedoch ersparen. Doch soll von Mal zu Mal
auf frühere Dispositionen wenigstens hingewiesen werden, na­
türlich auch auf die Disposition der ersten Vorlesung über die
philosophische Anthropologie, die Scheler im Sommersemester
1925 gehalten hat.17 Das »umfassende Werk«, das den Titel tra­
gen sollte: Das Wesen des Menschen. Neuer Versuch einer phi-
losophischen Anthropologie, bezeichnen wir im Folgenden der
sie leitenden Idee nach als Schelers Große Anthropologie, aber
wenn die für 1928 oder 1929 geplante Buchausgabe gemeint ist,
als seine Philosophische Anthropologie.
Blickt man auf die von M. S. Frings in den Gesammelten Wer-
ken veröffentlichte Fassung der Kosmos-Schrift, so sieht man,

16 Um Verwechslungen mit den anderen Dispositionen zu vermei­


den, wird im Folgenden die letzte Disposition kursiv gedruckt.
17 Von M. S. Frings mit einigen Lücken und Eingriffen abgedruckt in
GW 12, 1987, S. 16 – 21.
*30 Wolfhart Henckmann · Einleitung

dass ihr gar kein Inhaltsverzeichnis beigegeben worden ist.


Frings ließ es fortfallen, weil es dafür keine Manuskriptvorlage
gibt und weil er »den Fluss des gesprochenen Wortes so weit wie
möglich zu erhalten« wünschte.18 Die Kosmos-Schrift ist aber
nicht die Wiedergabe, sondern eine für die Veröffentlichung
völlig neu ausgearbeitete Fassung des Vortrags.19 Da dem Son­
derdruck von 1928 ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt, wenn
auch nicht an den bezeichneten Stellen in den Fließtext eingear­
beitet worden ist, so besteht kein Grund, das Inhaltsverzeichnis
fortzulassen, vor allem dann nicht, wenn man, wie im vorlie­
genden Fall, die Ausgabe von 1928 und nicht eine der später von
Maria Scheler erweiterten Ausgaben zugrunde legt. Wer sich
also vor dem Beginn seiner Lektüre, wie es die Hermeneutik
empfiehlt, ein Bild vom Ganzen der Kosmos-Schrift machen
möchte, kann sich durchaus am Inhaltsverzeichnis orientieren.
Das Inhaltsverzeichnis von 1928 erweckt allerdings einen
zwiespältigen Eindruck. Einerseits entwirft es einen großarti­
gen Überblick über das breitgefächerte anthropologische Pro­
blemfeld, das von den allerersten Anzeichen des Lebendigen,
wenn auch nicht gerade von den Bakterien an, bis zum Geist des
Menschen aufsteigt und in einer »Metaphysik des Menschen«
gipfelt, andererseits lässt sich in ihren sechs Abschnitten kaum
eine gedankliche Folge oder eine sinnvolle Einteilung des »gro­
ßen Gegenstands«, vielmehr nur eine Folge von zum Teil nur
lose miteinander verbundenen Einzeluntersuchungen erkennen.
Wenn Scheler in der Vorrede sagt, dass er sich in seiner Zu­
sammenfassung auf »einige« Hauptpunkte beschränken werde,
dann klingt das nach einer persönlichen Auswahl von solchen
Hauptpunkten, die er zur Darstellung der »Sonderstellung des
Menschen« für wichtig gehalten hat, aber nicht danach, dass er
sich an eine systematische Konzeption gehalten hätte, die – nach
einer Formulierung aus der Vorrede zu seinem philosophischen

18 Nachwort des Herausgebers, GW 12, S. 346.


19 Vgl. unten den Abschnitt »Zur Textgenese«, besonders zur zweiten
Phase.
Zur Vorrede *31

Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wer-


tethik (1913/16) – in den »erforschbaren Sachen der Welt selber«
liegen müsse. Zu einer solchen in der Sache selber liegenden Sy­
stematik hat sich Scheler einst ausdrücklich bekannt, und seine
Ethik rechnet er ja auch zu den Werken, die die Entwicklung sei­
ner anthropologischen Anschauungen dokumentieren;20 aber in
der Kosmos-Schrift ist er dieser Maxime nicht gefolgt. Oder lässt
sich in den ausgewählten Hauptpunkten der Kosmos-Schrift
vielleicht doch eine gewisse Systematik entdecken, die sich aus
der intendierten Systematik der Großen Anthropologie herlei­
tet? Oder belegt die Auswahl und Reihenfolge der sechs Haupt­
abschnitte nur einmal mehr die bekannte Unfähigkeit Schelers,
eine Schrift in gedanklich strenger Ordnung auszuführen? Wie
die erste Rezeptionsperiode der Kosmos-Schrift zeigt, gehen
die Meinungen hierüber stark auseinander. Sollte sich aber tat­
sächlich eine im Wesen des Menschen begründete Systematik
aufweisen lassen, so müsste dies zwar noch keineswegs bedeu­
ten, dass sie mit dem Aufbau der Großen Anthropologie überein­
stimmte, aber es würde sich immerhin zeigen, dass der Kosmos-
Schrift und der Großen Anthropologie ein gemeinsames, in sich
sinnvoll strukturiertes philosophisches Konzept zugrunde liegt.
Der Leser stünde damit vor der schwierigen Aufgabe, sich an der
Rekonstruktion der vermuteten inneren Systematik von Schelers
philosophischer Anthropologie zu versuchen.
Der zwiespältige Eindruck, den das Inhaltsverzeichnis er­
weckt, beruht schließlich auch darauf, dass die Abschnitte I, II,
III und VI zwar einen halbwegs schlüssig fortschreitenden Auf­
bau andeuten, die Abschnitte IV und V dagegen den angedeute­
ten Argumentationszusammenhang willkürlich unterbrechen.
Der erste Satz des fünften Abschnitts bestätigt dies ausdrück­
lich: »Wir sind ein wenig hoch gestiegen. Kehren wir zurück zu
dem der Erfahrung näherliegenden Problem der menschlichen
Natur« (S. 94,3 – 5) – will Scheler von der Höhe der metaphysi­

20 Vgl. Schelers Vorwort zur ersten Auflage des Formalismus-Buches,


GW 2, S. 10 f.
*32 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schen Spekulation in die Niederungen der Erfahrung zurück­


kehren oder wenigstens in die Nähe der menschlichen Natur
gelangen, zu der metaphysische Höhenschwünge nicht gehören?
Wir lassen es hier bei der Feststellung bewenden, dass Sche­
lers Ausführungen von methodologischen Reflexionen beglei­
tet sind, die den plötzlichen Wechsel der Untersuchungsebene
zwar nicht rechtfertigen, aber wenigstens erläutern und den
großräumigen Argumentationszusammenhang sichtbar ma­
chen, der von den allerersten Lebensregungen bis zur Begrün­
dung alles Seienden in einem absoluten Weltgrund reicht. Umso
mehr stellt sich durch die gesamte Schrift hindurch die Aufgabe
herauszufinden, nach welchen Gesichtspunkten die einzelnen
Abschnitte miteinander verbunden sind und auf welcher Refle­
xionsebene sich die Untersuchung bewegt.

Zum Wandel des Titels

Der Eindruck unmotivierter Sprünge verstärkt sich, wenn man


erfährt, dass sich der Titel von Schelers »gedrängter Zusam­
menfassung« (S. 3,2 f.; 140,16) seiner Philosophischen Anthropo-
logie einige Male geändert hat. Am Anfang stand der von Key­
serling vorgegebene Titel »Die Sonderstellung des Menschen«,
der fest im Tagungskonzept Mensch und Erde verankert war.21

21 Im Vorabdruck des Tagungsprogramms (in: Der Weg zur Vollen­


dung, hrsg. v. Graf Hermann Keyserling, Heft 12, Darmstadt 1926, S. 18)
konnte ein Referent für den Vortrag über die Sonderstellung des Men­
schen noch nicht genannt werden, erst in Heft 13, 1927, S. 25 wird das
vollständige Programm mit den Namen aller Referenten abgedruckt.
Zu Keyserlings »Schule der Weisheit« vgl. Ute Gahlings, Hermann Graf
Keyserling. Ein Lebensbild, Darmstadt 1996. Zum Verhältnis zwischen
Scheler und Keyserling vgl. meinen Aufsatz: Die Erdgebundenheit des
Geistes – ein Dissens zwischen den anthropologischen Anschauungen
Keyserlings und Schelers?, in: Michael Schwidtal; Jaan Undusk, hrsg. un­
ter Mitw. v. Liina Lukas: Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschicht­
liche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling,
Heidelberg 2007, S. 469 – 486.
Zur Vorrede *33

Wie sehr sich Scheler dadurch eingeengt gefühlt haben mochte,


deutet sich in seiner Einleitung zum Darmstädter Vortrag an
(S. 127,2 ff.). Einerseits willigt er ein, sich der Konzeption Key­
serlings zu fügen, andererseits erweitert er stillschweigend die
Frage nach der Sonderstellung des Menschen über den Umkreis
der Erde hinaus zur Frage nach der »Sonderstellung des Men­
schen im Ganzen des erfahrbaren Alls« (S. 127,17 f.), einer offen­
sichtlich metaphysischen Frage. Mit einigen wenigen Aussagen
über Problemaspekte, die er auslassen müsse, vermittelt er sogar
einen Einblick in seine Große Anthropologie: Die als zentrale
Frage hervorgehobene »Metaphysik des Menschen« müsse er
übergehen, ebenso die Fragen nach dem letzten Sinn und der
Bedeutung des menschlichen Daseins und nach dem Aufbau
seines Wesens, nach dem ersten Ursprung des Menschen und
seiner eigentlichen Bestimmung, die Fragen nach einer höhe­
ren philosophischen Deutung des menschlichen Daseins und
nach der Bedeutung der religiösen Glaubensideen (S. 127,11 ff.).
Das alles sind wahrhaft große und bedeutende Problemkreise
einer philosophischen Anthropologie, die sich nicht mehr bloß
als »Wissenschaft« versteht, sondern im Ausgang vom »ganzen
Menschen« zu einer »Weisheitslehre« werden will. Damit hätte
er jedoch den von Keyserling vorgegebenen Rahmen überschrit­
ten – er entschied sich der Darmstädter Einleitung zufolge aber
dazu, den vorgegebenen Rahmen einzuhalten. Das mag etwas
herablassend gewirkt haben, da Scheler noch hinzugefügt hatte,
dass er sich mit diesem Rest »begnügen« wolle (S. 127,16), eben
mit der (erweiterten) Frage nach der Sonderstellung des Men­
schen im Ganzen des erfahrbaren Alls. Warum hat er dann aber
das Manuskript seines Darmstädter Vortrags unter den Titel
»Die Monopole des Menschen im Ganzen der Lebewelt« gestellt
(B.I.17, S. 1 ff.), womit er dunkel auf den grundlegenden Dualis­
mus seiner Anthropologie, auf den Gegensatz von Geist und
Leben, angespielt hatte? Da dieser Gegensatz gerade die »Son­
derstellung des Menschen« ausmacht, mochte der Titel seines
Manuskripts nichts anderes denn eine Interpretation von Key­
serlings Themenstellung gewesen sein.
*34 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Anders verhält es sich mit der dritten Titelvariante, die 1928


dem Sonderdruck – man weiß nicht durch wen – gegeben wurde:
Die Stellung des Menschen im Kosmos. Nur scheinbar stimmt er
mit dem Titel der »Sonderstellung des Menschen« überein – ge­
nauer genommen führt er sogar zu einer Verfälschung von Sche­
lers Konzeption. Denn mit dem Begriff des »Kos­mos« würde
seine Anthropologie auf die »klassische Theorie« vom Menschen
festgelegt werden, von der er sich an mehreren Stellen ausdrück­
lich distanziert hat. Diese Theorie, schreibt er, sei »Bestandteil
einer Gesamtweltanschauung, die behauptet, daß das von vorn­
herein bestehende und durch den Werdeprozeß der Geschichte
unveränderliche Sein der ›Welt‹ (Kosmos) so gebaut sei, daß die
höheren Formen des Seins von der Gottheit bis zur materia bruta
auch die je mächtigeren, kraftvolleren, also die kausierenden
Seinsweisen sind. Der Höhepunkt einer solchen Welt ist dann
natürlich der geistige und allmächtige Gott, der Gott also, der
eben durch seinen Geist auch allmächtig ist.« (S. 74,7 – 15) Diesen
Kosmos-Begriff weist Scheler sogar in der Kosmos-Schrift selber
entschieden zurück, und nicht nur in ihr. In Ausführungen zur
Evolutionslehre, die er kurz nach seinem Darmstädter Vortrag
niedergeschrieben haben muss, bekennt er sich in »scharfem
Gegensatz« zum Denkschema von Darwins Evolutionstheo­
rie zu einer neuen, tief veränderten Grundanschauung der ge­
samten Lebewelt. Die neue Grundanschauung sei »keineswegs
eine (romantische) Rückkehr zu jenem statischen Weltbegriff
eines Kosmos, einer ruhenden Seins- und Werthierarchie der
Weltdinge in einem absolut realen Raum, zu jener Concep­
tion des griechischen Geistes, der in der Lehre von der Con-
stanz der Lebensformen und urspr[ünglichen] Schöpf[ung] d[e]r
Lebensf[ormen] auch die Biologie bis Linné, Cuvier und Agas­
siz beherrschte. Eher das Gegenteil: der erste Satz dieses neuen
Weltbildes ist vielmehr, daß das Sein aller endlichen Dinge –
also auch das Sein der gesamten anorganischen Natur, welche
die ältere mechanische Physik als einen Inbegriff absoluter Sub­
stanzen, constanter Kräfte und Gesetze im Raum verstand, – als
abs[olut] constanten Hintergrund der Lebens-evolution – kein
Zur Vorrede *35

›Kosmos‹ ist, sondern ein geschichtliches Werdesein in der Zeit


– vom System der Sterne bis zum zur Zeit einfachst[en] Elec­
tron. Das, was immer noch ein irreführender Sprachgebrauch
die Welt (Kosmos) nennt, ›hat‹ nicht eine Geschichte, sondern
›ist‹ eine Geschichte; und alles Sein im Raume ist wie dieser
selbst nur relativ auf ein stets werdendes Lebendiges vorhanden
(Materie, Elemente, Atome, Electron). […] Hera­clits panta rhei
hat vielmehr auf der ganzen Linie gesiegt, auch für das tote Sein
und auch für die Ideen und Gestalten – und erst recht für die
leges naturae, die sich immer mehr als ›statistische Gesetze‹ ent­
puppt haben (Wahrscheinlichkeitsgesetze).«22 Scheler behauptet
an diesen und anderen Stellen in allen Punkten also gerade das
Gegenteil der klassischen Theorie vom Menschen.
Der so dezidiert abgelehnte Titel könnte deshalb kaum von
Scheler stammen – wenn er ihn in der Disposition nicht selber
verwendet hätte ! Dort heißt es unzweideutig: »Der Mensch im
Ganzen des Kosmos.« (S. 145,16) Der Leser wird somit an heraus­
gehobenen Stellen mit Schelers inkonsequenter Verwendung der
von ihm selber kritisch diskutierten Begriffe konfrontiert – ein
häufig auftretendes Phänomen in Schelers Schriften, das im vor­
liegenden Fall zu zwei radikal voneinander abweichenden Inter­
pretationen führt, zwischen denen es keine Vermittlung gibt.
Man müsste sich denn eine geeignete Interpretation von Sche­
lers – von vielen, unter anderem auch von Gadamer irrtümlich
für inexistent gehaltenen – Sprachphilosophie23 zurecht­legen,
wonach es für ihn nicht darauf ankäme, ja er es für unphiloso­
phisch gehalten hätte, sich an eine festgelegte Terminologie zu

22 Max Scheler: Zur Evolutionslehre, in: B.I.22, S. 1 – 3; Abschrift:


CE.XXII.1a, S. 1 – 2. Auf S. 8 und 9 bezieht sich Scheler auf seinen Vor­
trag über die »Sonderstellung des Menschen«, der Text ist also später ent­
standen.
23 Bezeichnenderweise hat Scheler bereits in »Zur Idee des Men­
schen« Grundzüge seiner Sprachphilosophie dargelegt (GW 3, S. 177 ff.);
auch in der Philosophischen Anthropologie wollte er in Auseinanderset­
zung mit zeitgenössischen Autoren seine Sprachphilosophie darstellen
(vgl. GW 12, S. 192 ff.).
*36 Wolfhart Henckmann · Einleitung

halten, da es ja einzig auf den geistigen Akt ankommt, durch


den aus jederzeit veränderbaren symbolischen Zeichen der ge­
meinte Wesensgehalt zu erfassen sei. Was Scheler in der Dis-
position mit »Kosmos« gemeint hat, könnte das Gleiche bedeu­
ten, was er an anderer Stelle als das Ganze des erfahrbaren Alls
bezeichnet. Dies ließe sich allerdings auch umgekehrt sagen:
Das Ganze des erfahrbaren Alls wird an anderer Stelle eben als
Kosmos bezeichnet und müsse deshalb im griechischen Sinne
verstanden werden – Scheler schien es für möglich gehalten zu
haben, trotz widersprüchlicher Formulierungen dennoch den
gemeinten Sinn hinreichend sicher intersubjektiv mitteilen zu
können. Seine in der Wesensschau begründete Toleranz gegen­
über sprachlichen Ausdrucksformen beruht auf der Überzeu­
gung, dass die Sprache nicht mehr denn ein Mittel ist, als solches
aber das bestmögliche, mit dem der Hörer oder Leser an ein
Verstehen der gemeinten Bedeutung herangeführt werde, und
dass erst dann, wenn dies gelingt, die gemeinte Bedeutung in
einem spontanen Akt des Verstehens erfasst werde, nicht hinge­
gen durch die Festlegung einer definierten Terminologie, die ja
ebenfalls erst noch richtig verstanden werden müsse. Nur durch
die geistige Einsicht in die gemeinte Sache ließen sich demzu­
folge terminologische Streitigkeiten lösen, und nur aufgrund der
Variabilität der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ließe sich
intersubjektiv ein und dieselbe Einsicht in die gemeinte Sache
vermitteln. Wer Scheler seine widersprüchliche, vage, ungenaue
Ausdrucksweise vorwirft, würde deshalb den Verdacht auf sich
ziehen, die geistige Anschauung des von Scheler Gemeinten
nicht nachvollziehen zu können. Dass er sie vollzogen habe,
ließe sich freilich auch nur wieder in einer frei und variabel ge­
haltenen Sprache mitteilen, so dass man sich in einem Zirkel
bewegt. Es kommt letztlich alles darauf an, was man aus den
Formulierungen macht – es kommt auf ein geistig kreatives Ver­
ständnis an, in das man die Formulierungen aufgehen lässt – in
die persönliche aktuelle Anschauung eines Wesensgehalts, die
man für so evident hält, dass man überzeugt ist, dass jeder sie
nachvollziehen können müsste.
Zur Vorrede *37

Das historische Maximum der Selbstproblematik des


­Menschen (S. 4,25 ff.)

Die Vorrede schließt mit einer pathetischen Erklärung, dass die


Selbstproblematik des Menschen in der Gegenwart ihr (bisheri­
ges?) Maximum erreicht habe und die Probleme der philosophi­
schen Anthropologie in Deutschland, nicht in anderen Ländern,
in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik getreten
seien – Scheler erhebt hiermit die Entwicklung seines eigenen
anthropologischen Problemverständnisses zur objektiven Ent­
wicklung des Zeitgeistes, ja der Menschheit in »aller uns be­
kannten Geschichte« (S. 5,6 f., 141,32). Ähnlich überschwänglich
hat er sich auch bei anderen Gelegenheiten geäußert, z. B. im
Vortrag über »Mensch und Geschichte« (1926), 24 ohne dass er
viel darüber gesagt hätte, warum die Frage nach dem Wesen des
Menschen mit einem neuen Mut der Wahrhaftigkeit (S. 5,10 f.)
zu stellen sei – so als ob die traditionellen Antworten unehrlich
oder zu ängstlich gewesen seien. Scheler macht die Anthropo­
logie dadurch (falls es sich nicht bloß um eine Anspielung auf
Hegels Wort vom »Mut zur Wahrheit« handelt) zu einer Frage
der moralischen Einstellung, doch nicht nur dies, sondern auch
zur Frage einer Abrechnung mit den bisher üblichen ganz-,
halb- oder viertelsbewussten Traditionsbindungen menschli­
chen Selbstverständnisses in Theologie, Philosophie und in den
Naturwissenschaften (S. 5,12 f., 142,2 f.) – er macht sie zur Frage
einer Revolutionierung der geistigen Kultur der Menschheit.
Scheler will, dass seine Ausführungen zur Stellung des Men­
schen im Universum im Geiste des Beginns eines neuen Zeit­
alters des menschlichen Selbstverständnisses gelesen werden,
womit er seinen Ausführungen von Anfang an eine geschichts­
metaphysische Ausrichtung gibt: Seine Anthropologie soll die
Anthropologie der größtmöglichen Souveränität des Menschen
im Ganzen des Alls werden.

24 Vgl. GW 9, S. 120.
*38 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Diese Idee bzw. diese Vision stellt er der Krisensituation


seiner Zeit entgegen. In einer Skizze über »Die Krisen der Ge­
genwart« zählt er zehn Krisenherde auf, die er vermutlich in
seine kritische Revue der herrschenden Formen menschlichen
Selbstverständnisses einbezogen hätte, wenn ihm die Zeit dazu
geblieben wäre:
»1.) Die biolog[ische] Krise [bis hin zur Rassengenealogie],
2.) Die erotische Krise. Ehe, Liebe usw. 3.) Die polit[ische] Krise:
Unterg[ang] der Demokratie und des Parlamentarismus. […]
4.) Die ökonomische Krise (der Klassenkampf). 5.) Krise der
Lebensalter (Vater und Sohn). 6.) Die geistige Kulturkrise […]
[6.] Die Rechtskrise (Recht und Macht). 7.) Die kirchliche Krise
[…] 8.) Die religiöse Krise 9.) Die Krise ›Gottes‹ als ›Ur-Krise‹
[…]«.25 Allen diesen Krisen liegt ein charakteristisches Bild vom
Wesen des Menschen zugrunde, das auch wohl mit dem Men­
schenbild anderer Krisenherde in Verbindung stehen kann, des­
wegen aber noch nicht ausdrücklich mit dem von Scheler aus­
gerufenen historischen Maximum der Selbstproblematisierung
verbunden sein muss – es sei denn, dass Scheler die in all diesen
Krisenherden zum Ausdruck kommende Spezialisierung, Ni­
vellierung und Zerrissenheit des menschlichen Selbstverständ­
nisses als das historische »Maximum« verstanden wissen wollte.
Ob das Maximum durch eine solche kultursoziologisch aufge­
fasste Konstellation an Aussagekraft gewinnen oder nur zerlegt
und geschwächt würde, sei dahingestellt. Wie wir sehen werden,
geht Scheler nur auf drei der damals herrschenden Menschen­
bilder etwas näher ein. Das übt eine ernüchternde Wirkung auf
den Leser aus und trägt nicht gerade zur Bekräftigung seiner
These vom historischen Maximum der Selbstproblematisierung
des Menschen bei, doch nichts hindert den Leser, Schelers These
weiter auszubauen und sozial- sowie kulturkritisch zu konkre­
tisieren.

25 B.I.173, S. 17, ca. 1923/24.


Zur Einleitung *39

Zur Einleitung (S. 7 – 10)26

Die Einleitungen haben in Schelers Schriften und Vorlesun­


gen insofern eine besondere Bedeutung, als sie nicht bloß in
die sachliche Thematik einführen, sondern auch in vorläufiger
kritischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen For­
schung die »richtige Problemstellung« entwickeln, wozu Sche­
ler problemgeschichtliche, wissenschaftskritische, methodolo­
gische Überlegungen im Vorgriff auf die eigene Problemstellung
heranzieht. So kündigt sich bereits in der Einleitung an, dass
sich ein Gegenstand wie der Mensch, der so viele verschiedene
Enden hat, nicht »mono-methodologisch«, sondern nur »poly-
methodologisch« erforschen lässt. An den Unterschieden zwi­
schen der veröffentlichten Fassung der Einleitung und den Be­
merkungen, mit denen er seinen Darmstädter Vortrag einleiten
wollte (vgl. S. 127 – 132), zeigt sich allerdings, dass Scheler mit den
in der Einleitung angesprochenen Fragen noch keine festgelegte
Strategie in Hinsicht auf seine Philosophische Anthropologie ver­
folgt, denn dazu betreffen die sechs ausgewählten Fragen allzu
unterschiedliche und ihrem Gehalt und ihrer Tragweite nach
noch allzu unentwickelte Probleme.

»Das Problem in der Idee des ›Menschen‹« (S. 7 – 10)

Die Überschrift des kurzen, die gesamte Kosmos-Schrift ein­


leitenden Abschnitts ist merkwürdig: Soll es sich wirklich um
ein Problem »in« der Idee des Menschen handeln, die dann in
sich selbst auf irgendeine Weise, etwa wegen verborgener Anti­
nomien, als problematisch hingestellt würde, oder soll es sich
nicht vielmehr um das Problem handeln, wie sich eine »Idee

26 Ich beziehe mich im Folgenden zum Teil auf meinen vor sechs
Jahren verfassten Aufsatz: Max Scheler: Die Stellung des Menschen im
Kosmos, der erscheinen soll in: Philosophische Anthropologie. Haupt­
autoren und Grundschriften, hrsg. v. Joachim Fischer, S. 30 – 65.
*40 Wolfhart Henckmann · Einleitung

des Menschen« überhaupt gewinnen ließe und worin sie be­


stünde? Wird die Einheitlichkeit und die Möglichkeit einer Idee
in Frage gestellt oder ist der Mensch ein so widersprüchliches
Wesen, dass es unmöglich zu sein scheint, seine Eigenschaften
auf eine unveränderliche, »einheitliche Idee« (S. 7,28) zu brin­
gen? Wenn »Mensch« auch noch in Anführungsstriche gesetzt
wird, soll das dann seine innere Brüchigkeit und (moralische?)
Fragwürdigkeit bezeichnen, oder soll es bedeuten, dass dieses
Lebewesen strenggenommen gar nicht den normativen Begriff
»Mensch« verdient, weil es der vielerlei Arten umfassenden
Gattung der »Hominiden« zuzurechnen sei oder überhaupt nur
eine Spielart des Zusammenwirkens natürlicher Energien und
Lebensprozesse darstellt? Denn in der Einleitung zur Anthro­
pologie-Vorlesung von 1925 heißt es: »Der Mensch besitzt kein
ihm eigentümliches Wesen, sondern ist nur ein Konglomerat
aus Elementen und Energien und deren Gesetzen, wie sie auch
außerhalb seiner in der organischen und anorganischen Natur
herrschen.«27 Steht also die Art und Weise zur Diskussion, wie
uns überhaupt so etwas wie »Mensch« im Unterschied zu ähn­
lichen Lebewesen gegeben sein kann?
Man muss auf die Vorgehensweise achten, der Scheler nor­
malerweise in seinen philosophischen Untersuchungen folgt,
um besser zu verstehen, worum es ihm geht. Am Anfang seiner
Untersuchungen steht meist eine Kritik der überlieferten oder
aktuell diskutierten Theorien, inwiefern sie das Problem richtig
gestellt haben – es handelt sich um den Anfang des »Umrin­
gens« eines Problems. Scheler will mit seiner Kritik zugleich die
eigene Problemstellung von ungeprüften Vormeinungen und
Vorurteilen befreien. In seinen Ausführungen scheint er dabei
keiner bestimmten Methode zu folgen. Er sieht sich auch nicht
allzu gewissenhaft in der aktuellen Forschungslage um, welche
ernst zu nehmenden alternativen Verfahren oder Standpunkte
es im Problemfeld der Anthropologie seiner Zeit gibt. Der Ge­
stus seiner einleitenden Überlegungen demonstriert vielmehr,

27 GW 12, S. 8.
Zur Einleitung *41

dass er sich von vornherein des rechten Weges bewusst ist und
sich auf Anschauungen und Urteile stützt, die er in jahrelangen
Forschungen gewonnen hat – er präsentiert sich als eine mit der
Sache wohlvertraute Autorität, die sich dem ethischen Gebot
der Wahrhaftigkeit bzw. der Ethik der Wissenschaft verpflich­
tet weiß. Dadurch verweist er implizit eine kritische Auseinan­
dersetzung mit konkurrierenden Theorien in das Vorfeld der
Entwicklung seiner eigenen anthropologischen Anschauungen.
Dies wäre eine der möglichen Interpretationen des Wortes »in«
im Titel des Abschnitts.
Liest man in diesem Sinne die – allerdings sehr knappen, ja
viel zu knappen – Ausführungen des einleitenden Abschnitts,
so wird man in eine sehr weit gespannte Problematik einge­
führt. Scheler deutet in zwei Absätzen, die nicht, wie in den
folgenden Abschnitten II – VI, durch eigene Überschriften von­
einander unterschieden werden, zwei Arten einer kritischen
Hinterfragung der Voraussetzungen einer anthropologischen
Untersuchung an. Im ersten Absatz beschreibt er »drei unter
sich ganz unvereinbare Ideenkreise«, in denen das Wesen des
Menschen bestimmt wird (S. 7,4 f.), im zweiten Absatz setzt er
sich mit der »tückischen Zweideutigkeit« des anthropologischen
Grundbegriffs »Mensch« (S. 8,15 f.) auseinander – so ist er bereits
im Aufsatz »Zur Idee des Menschen« vorgegangen; in diesem
Punkt hat sich also nichts geändert. Mit den beiden Absätzen
will er offenbar präzisieren, wonach mit der »Sonderstellung des
Menschen« bzw. mit der »Idee des Menschen« eigentlich gefragt
wird. Das Ergebnis fällt überraschend einfach aus, obwohl es
sich um zwei sehr unterschiedliche Ansätze handelt: Das ei­
gentliche Thema des Vortrags bestehe darin, die Berechtigung
eines »Wesensbegriffs« des Menschen gegenüber dem »natur­
systematischen Begriff« zu erweisen (S. 9,23 ff.). Demzufolge
ginge es in den folgenden Teilen der Kosmos-Schrift darum,
den Wesensbegriff des Menschen im Verhältnis zu Pflanze und
Tier in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und
danach im Verhältnis zur metaphysischen Sonderstellung des
Menschen (S. 8,11 – 13) zu erläutern und zu rechtfertigen, so dass
*42 Wolfhart Henckmann · Einleitung

sich aus den einleitenden Überlegungen eine im wesentlichen


methodologisch orientierte, um nicht zu sagen methodologisch
begründete Ausrichtung des Vortrags ergäbe. Aber solchen Ge­
sichtspunkten ist Scheler dann doch nicht konsequent gefolgt,
so dass die Einleitung, methodologisch betrachtet, folgenlos ge­
blieben zu sein scheint.
Die einleitende Exposition der Problemstellung hat darüber
hinaus noch einen sehr komplexen Hintergrund, so dass die
folgenden Ausführungen vielfach über den Rahmen der Recht­
fertigung eines Wesensbegriffs hinausgehen, woran sich zeigt,
dass Exposition und Ausführung der Problemstellung ausein­
andergehen. Scheler überspielt dies rhetorisch geschickt da­
durch, dass es ihm nur darum gehe, »einen kleinen Teil der Re­
sultate anzudeuten« (S. 8,13 f.), zu denen er gekommen sei. Aber
mit einer Andeutung von Resultaten lässt sich keine Wesens­
analyse durchführen, es lässt sich eben nur über die Ergebnisse
von Untersuchungen berichten, nicht die Untersuchung selber
durchführen. Mit anderen Worten: Wer an einer systematischen
Rekonstruktion von Schelers Anthropologie interessiert wäre,
müsste die Begründung der Resultate allererst aus Schelers
Schriften beibringen.
Dass Exposition und Ausführung des Themas einander nicht
entsprechen, wäre insofern einzuschränken, als Scheler gar
nicht die Absicht hatte und in einem Vortrag vor dem Publi­
kum der Schule der Weisheit auch gar nicht die Absicht haben
konnte, der angesprochenen Problemstellung wissenschaftlich
gerecht zu werden – das musste er sich für seine Philosophi-
sche Anthropologie vorbehalten. Ein Blick auf deren Disposi-
tion zeigt dann auch (S. 144), dass in der zukünftigen Einlei­
tung fünf Probleme zur Sprache kommen sollten, von denen
Scheler in der Kosmos-Schrift immerhin drei aufgegriffen hat,
nämlich das erste (»traditionelle Anthropologie«), das zweite
(»Probleme und Methoden. Kritik des Begriffes ›Mensch‹«) und
das fünfte (»Die gegenwärtigen fünf Ideen. Kritik …«) – die in
der Kosmos-Schrift dargestellten »drei Grundideen« haben sich
in der Disposition auf fünf Ideen vermehrt, aber es gibt deren
Zur Einleitung *43

noch sehr viel mehr, so dass nach den Gründen zu fragen wäre,
war­um sich Scheler auf die angegebenen drei der fünf oder mehr
Ideenkreise beschränkt hat.
In der Darmstädter Einleitung hat Scheler schließlich noch
einen dritten Ausgangspunkt für eine dem Wesen des Men­
schen gerecht werdende Forschungsrichtung genannt, nämlich
ent­weder das Wesen des Menschen mit Nietzsche an den »höch­
sten Exemplaren« der Gattung Mensch aufzuweisen, an den
»Genies«, oder aber mit Darwin an den primitiven, aus der Evo­
lution der Tiere hervorgehenden ersten Exemplaren des homo
sapiens.28 Scheler lehnt jedoch diese Alternative umstandslos
ab: »Vom Wesen, nicht vom Ursprung ist auszugehen.« (S. 132,8)
Einleitende Überlegungen wie die erwähnten hat Scheler, wie
gesagt, auch schon in der Anthropologie-Vorlesung von 1925
vorgetragen, 29 mit zum Teil prägnanteren Worten und schärfe­
ren Akzentuierungen, und alles im Rahmen einer zusammen­
hängenden Fragestellung, die sogar auf den methodologischen
Aspekt einer Einleitung eingeht. Im Vergleich mit den Ausfüh­
rungen von 1925 stellen die Einleitung zur Kosmos-Schrift und
die Problemliste der Disposition situationsbedingt eine nicht
unbeträchtliche Problemverkürzung und Problemvereinfa­
chung dar, aber inwiefern das zutrifft, müssten die Ausführun­
gen zu den vier anderen Fragen der Disposition zeigen.

»Methodisches«

In der Darmstädter Einleitung geht Scheler ausdrücklich auf


»Methodisches« ein (S. 129 ff.), was sein nicht-akademisches
Publikum kaum erwartet haben dürfte. Bei der Ausarbeitung
der Druckfassung der »Sonderstellung« ist diese Überschrift
jedoch fortgefallen. Dadurch ist überhaupt verloren gegan­
gen, dass Scheler seine Philosophische Anthropologie mit ei­

28 Vgl. unten S. 131,24 – 132,8.


29 Vgl. GW 12, S. 16 f.
*44 Wolfhart Henckmann · Einleitung

ner Stellungnahme zu methodischen Fragen einleiten wollte.


Auch in der Disposition ist der zweite Punkt der Einleitung
ausdrücklich den »Problemen und Methoden« gewidmet, und
im zweiten Anthropologie-Heft (B.I.2) gibt es eine detaillierte
thesenartige Übersicht über die Probleme der »Methode einer
philosophischen Anthropologie«.30 Scheler verfährt ähnlich wie
sein Jenaer Doktorvater Rudolf Eucken, der zu Beginn seiner
Ausführungen über die Grundbegriffe der Gegenwart auf die
»Geschichte und Kritik« der Grundbegriffe eingegangen ist.31
Doch was heißt und bedeutet »Methodisches« bei Scheler in Be­
ziehung auf die Anthropologie?
In seinem Aufsatz über »Phänomenologie und Erkenntnis­
theorie« (1914) hat Scheler die Phänomenologie als eine »Einstel­
lung des geistigen Schauens« bezeichnet und sie ausdrücklich
von jeglicher »Methode« abgegrenzt: »Methode ist ein zielbe­
stimmtes Denkverfahren über Tatsachen, z. B. Induktion, De­
duktion. Hier aber handelt es sich erstens um neue Tatsachen
selbst, die vor aller logischen Fixierung liegen, zweitens um ein
Schauverfahren.«32 Wenn Scheler »Methode« im Sinne eines
zielbestimmten Denkverfahrens »über« Tatsachen ablehnt zu­
gunsten eines Rückgangs auf vor aller logischen Fixierung gege­
bene Tatsachen, dann stellt sich die Frage, wie denn überhaupt
diese neuen Tatsachen gegeben und nicht verfehlt oder missver­
standen werden können, und worin sie überhaupt bestehen.

30 B.I.2, S. 57 – 61.
31 Rudolf Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Der Grund­
begriffe der Gegenwart dritte umgearbeitete Auflage, Leipzig 1904, ins­
besondere Abschnitt D: »Zu den Problemen des Menschenlebens«, d. h.
zu Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Kunst und Moral, Persönlichkeit
und Charakter, Freiheit des Willens: lauter »Monopole des Menschen«. –
Schelers Verhältnis zu Eucken ist nicht einfach zu bestimmen (vgl. Rein­
hold J. Haskamp, Spekulativer und phänomenologischer Personalismus,
Freiburg/München 1966, S. 21 ff.). Scheler fühlte sich trotz aller späteren
kritischen Vorbehalte seinem Doktorvater für die vielfältigste Förde­
rung stets dankbar verbunden.
32 GW 10, S. 380.
Zur Einleitung *45

Zweierlei ist zu unterscheiden: Zum einen die Methodenfrage


der philosophischen Anthropologie, zum anderen die Metho­
denfrage der Erörterung der Methodenfrage, also eine Meta-
Methodologie. Im ersten Fall ist die philosophische Anthropo­
logie der Gegenstand der Methodenfrage, im zweiten Fall ist es
die Methodologie selbst, die nach einer bestimmten Methode
untersucht und geklärt sein will. Die beiden Absätze der Einlei­
tung (S. 7 – 10) gehören überwiegend zur ersten Problemschicht,
die Einleitung zur Anthropologie-Vorlesung von 1925 geht aber
auch auf die zweite Problemschicht ein.
Widersprechen aber diese beiden Problemstellungen nicht
der weit verbreiteten These von der phänomenologisch-»naiven«
Einstellung von Schelers Philosophie? Sie tun es in der Tat, doch
können sich diejenigen, die Scheler einen phänomenologischen
Intuitionismus und seine sog. geistige Schaukraft vorwer­
fen, wie es vor allem der Neopositivismus getan hat, 33 darauf
stützen, dass er die einleitenden Methodenfragen oft nur sehr
flüchtig behandelt hat, so dass man sie als methodologische
Überlegungen nicht allzu ernst nehmen zu müssen glaubte.
Im Grunde aber ist Scheler seit seinen beiden ersten Buchver­
öffentlichungen, der Dissertation Beiträge zur Feststellung der
Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien
(1899) und Die transzendentale und die psychologische Methode
(1900) ein methodologisch äußerst reflektierter Denker, nicht
jedoch im Sinne der konsequenten Durchführung eines sorg­
fältig ausgearbeiteten Denkverfahrens, also als Vertreter eines
dogmatischen Methoden-Monismus, sondern im Sinne eines
umsichtigen Methodenkritizismus, konsequent dem Prinzip
des Aristoteles folgend, dass es der Gegenstand einer Unter­
suchung ist, dem sich die Methode anzupassen habe.
In der Kosmos-Schrift ist der Gegenstand der Untersuchung
der Mensch. Aus dem gesamten Problemfeld, wie denn dieser

33 Vgl. Julius Kraft, Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänome­


nologischen Philosophie (1932), 2., erw. Aufl. Frankfurt am Main 1957,
S. 53 – 82.
*46 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Gegenstand adäquat erkannt werden könne, hebt Scheler nur


zwei methodische Fragen hervor: die Frage nach den drei un­
vereinbaren Gedankenkreisen, durch die die anthropologische
Grundfrage traditionell beantwortet wird, und davon unabhän­
gig die Frage nach der Zweideutigkeit des Begriffes »Mensch«.
Die so gefassten Untersuchungsgegenstände erfordern unter­
schiedliche Methoden. Der Leser hätte also herauszufinden, ob
sich Scheler dazu äußert (1. Problemschicht) und welche Me­
thoden den methodologischen Bemerkungen Schelers zugrunde
liegen (2. Problemschicht), und er hätte schließlich (3.) auch
noch zu fragen, ob die Methoden den von Scheler auf bestimmte
Weise vorgestellten Untersuchungsgegenständen angemessen
sind und inwiefern sie dem methodologischen Problemfeld der
Anthropologie gerecht werden. Im Übrigen fällt auf, dass unter
den zwei methodischen Fragen der Einleitung in die Kosmos-
Schrift und unter den fünf methodischen Vorfragen, die in der
Disposition angeführt werden, keine vorkommt, die sich mit
den Methoden der überlieferten theologischen, philosophischen
und naturwissenschaftlichen Anthropologien auseinandersetzt.
Der einleitende methodologische Teil der Philosophischen An-
thropologie kann also noch keineswegs, gemessen am Anspruch
von Schelers neuer Anthropologie, als hinreichend ausgearbei­
tet gelten.
Bevor wir etwas genauer auf die beiden methodologischen
Fragen der Einleitung eingehen, ist noch eine weitere methodo­
logische Frage zu erwähnen, die Scheler zwar nur ganz flüchtig
berührt, die aber für die Kosmos-Schrift, aber natürlich nicht
allein für diese, von besonderer Bedeutung ist: nämlich Schelers
beiläufige Bezugnahme auf den »gebildeten Europäer«, oder im
Aufsatz »Zur Idee des Menschen« die Bezugnahme auf »West­
europa«. In der Disposition wäre sie vielleicht im vierten Ab­
schnitt zu behandeln oder auch im ersten Abschnitt als »tradi­
tionelle philosophische Anthropologie«, aber beide Titel treffen
nicht das Problem, das sich hinter der Apostrophe des »gebilde­
ten Europäers« verbirgt.
Zur Einleitung *47

»Fragt man einen gebildeten Europäer …« (S. 7,3)

Der Leser versteht den ersten Satz der Einleitung vermutlich


als Anrede an das Publikum, eine Anrede, die rhetorisch mit
einer captatio benevolentiae verbunden ist, da er seine Hörer als
»gebildete Europäer« bezeichnet. Gebildet, wie sie ihm erschei­
nen, würden sie mit der Fachterminologie verschiedener Wis­
senschaften so weit vertraut sein, dass sie seinen Ausführun­
gen, die auf verschiedene Disziplinen eingehen, folgen können,
sie würden griechische, lateinische, französische und englische
Begriffe verstehen, den Anspielungen auf antike und moderne
Dichter und auf ostasiatische Denker folgen können und sie
würden sich durch den Vortrag in ihrem Selbstverständnis und
Status als »gebildete Europäer« und als »Elite« anerkannt füh­
len. Konkreter gesprochen, wendet sich Scheler an das geho­
bene Bürgertum, 34 das sich in der Schule der Weisheit und bei
ähnlichen Kulturveranstaltungen wie den Versammlungen des
Frankfurter China-Instituts oder den Jahrestagungen der Wei­
marer Nietzsche-Gesellschaft zusammenfand. Die Vorträge, die
in Darmstadt vor Keyserlings »Gesellschaft für freie Philoso­
phie« gehalten wurden, durften keine rein wissenschaftlichen
Untersuchungen sein, sondern sollten, so wollte es Keyserling,
eine persönliche, möglichst pointierte Auffassung einer Teilthe­
matik innerhalb eines vorformulierten Problemfeldes zur Spra­
che bringen.
Scheler war sich des Unterschieds zwischen einem eher un­
persönlichen, akademisch-fachwissenschaftlichen und einem
»allgemeinbildenden«, populären Vortrag sehr wohl bewusst.
In einigen seiner anderen, an ein breiteres Publikum gerich­
teten Vorträge hat er auf den Unterschied zu einem von ihm
»andernorts« dargelegten wissenschaftlichen Fundament oder
auf ein in Arbeit befindliches, streng wissenschaftliches Werk
ausdrücklich hingewiesen, in dem er dem »Anspruch auf jene

34 Vgl. Klaus Vondung, Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur


Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976.
*48 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Art von Präzision, die mir als Ideal vorschwebt«, 35 gerecht zu


werden versuche. Sein Darmstädter Vortrag gehört zweifellos zu
seinen populären Vorträgen, selbst noch in der Form des Son­
derdrucks (1928), also in eine offenere, unreglementiertere Kom­
munikationssphäre als etwa Plessners Buch über die Stufen des
Organischen (1928) oder Gehlens Buch Der Mensch. Seine Natur
und seine Stellung in der Welt (1940), so dass schon der Darstel­
lungs- und Argumentationsform nach die anthropologischen
Hauptwerke der drei Klassiker der philosophischen Anthropo­
logie des 20. Jahrhunderts36 nicht auf der gleichen Ebene liegen.
Doch dann stellt sich umso nachdrücklicher die Aufgabe, den
Sprachstil der Kosmos-Schrift (und der anderen populären Vor­
träge und Schriften Schelers) so genau wie möglich zu beschrei­
ben, damit sich klären lässt, was Scheler mal auf die eine, mal
auf die andere Weise oder auch mit den gleichen Worten in ver­
schiedenen Situationen oder Entwicklungsphasen seiner Philo­
sophie zum Ausdruck bringen wollte. Katharina Kanthack hat
drei Ebenen von Schelers Darstellungsweise unterschieden:37 die
typische Diktion des Akademikers, die Darstellungsweise einer
gehobenen Journalistik und zwischen beiden eine Essayistik im
Stile Schopenhauers und Nietzsches. Sie musste jedoch zugeben,
dass Scheler sich in Vorträgen und Schriften meist auf allen drei
Ebenen zugleich bewegt habe. Das aber erfolgte nicht aufgrund
eines bestimmten Kalküls, sondern in Abhängigkeit von Sche­
lers Temperament und einer ausgesprochen feinfühligen Rea­
gibilität auf die ihm vor Augen stehenden Inhalte, mit denen
er sich gerade auseinandersetzte. Der Darstellungsstil der Kos­
mos-Schrift folgt also nicht einer konstanten, in sich ruhenden
geistigen Haltung, sondern den Schwankungen und Sprüngen

35 Scheler, Probleme der Religion, GW 5, S. 124. Vgl. auch die einlei­


tenden Bemerkungen zum Vortrag »Die Formen des Wissens und die
Bildung«, GW 9, S. 85.
36 Vgl. hierzu Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine
Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, München 2008.
37 Katharina Kanthack, Max Scheler. Zur Krisis der Ehrfurcht, Ber­
lin/Hannover 1948, S. 27 – 34.
Zur Einleitung *49

einer teils durch die Sachen, teils durch die eigene innere Gier
nach immer Neuem und Kolossalem (um einen damals in der
Schwabinger Bohème beliebten Ausdruck zu verwenden) erreg­
ten Gemüt, wodurch es bei ihm immer wieder zu unkritischen,
emotionalen Stellungnahmen kam. Dies lässt sich freilich mit
einem rein wissenschaftlichen Denkverfahren nicht vereinba­
ren, aber dadurch stellt sich nur die sehr viel weiter reichende
Frage, ob die philosophische Anthropologie überhaupt als eine
Wissenschaft im strengen Sinne zu verstehen oder ob sie nicht
vielmehr aus einer weltanschaulichen Position und mit weltan­
schaulichem Engagement zu entwickeln sei. So betrachtet neh­
men die beiden methodologischen Fragen der Kosmos-Schrift
und die fünf Aspekte der Disposition auf einmal eine einleuch­
tende Funktion an und rücken die Kosmos-Schrift um ein wei­
teres Stück aus dem Diskussionsforum heraus, in dem sich Pless­
ners Stufen des Organischen und Gehlens Der Mensch befinden.
So ging es Scheler mit der Apostrophe an die gebildeten Euro­
päer wohl um nichts Anderes als um eine kulturgeschichtliche
Ortsbestimmung der Kosmos-Schrift, wobei es fraglich ist, ob
Scheler sich dazu außerhalb oder innerhalb der Gruppe der ge­
bildeten Europäer positioniert hat. Bezieht er einen Standpunkt
außerhalb der Sphäre der gebildeten Europäer, dann wird er von
einer kulturell indifferenten, anthropologisch universalen Po­
sition aus argumentieren und progressiv die kulturbedingten
Einschränkungen anthropologischer Aussagen aufzuweisen
und dadurch zu neutralisieren versuchen. Teilt er hingegen die
Position der gebildeten Europäer, dann bedeuten seine Ausfüh­
rungen eine mehr oder weniger kritische Selbstverständigung
über die spezifisch europäischen Auffassungen des menschli­
chen Wesens, einschließlich der These, dass es keine universal
gültige Anthropologie, sondern immer nur eine höchstens für
den jeweiligen Kulturkreis gültige Anthropologie geben kann.
Erkenntnistheoretisch würde das unter anderem bedeuten, dass
er einerseits die phänomenologische Wesensforschung als Be­
freiung der Wesenheiten von allen kulturbedingten Vorurteilen
verstehen wollte, oder aber andererseits der Auffassung war, dass
*50 Wolfhart Henckmann · Einleitung

alle freizulegenden Wesenheiten letztlich in unhintergehbaren


und nicht eliminierbaren Weltanschauungen begründet seien,
deren kukturkreishaft bedingte Wesensgehalte durch die phä­
nomenologische Wesensforschung zur Anschauung zu bringen,
aber auch zu vertreten seien. Mit anderen Worten ginge es um
die Entscheidung, entweder der universal ausgerichteten »tran­
szendentalen Phänomenonologie« Husserls oder einer im Sinne
von Diltheys Weltanschauungstypologie beeinflussten Phäno­
menologie zu folgen. Der Leser der Kosmos-Schrift steht somit
vor einem hermeneutischen Experiment: Scheinen ihm Sche­
lers Ausführungen überzeugender zu sein, wenn sie im Sinne
von Husserls Phänomenologie oder wenn sie aus der Tradition
von Diltheys Weltanschauungsphilosophie einschließlich der
wohlbekannten Bedenken von Relativismus und Historismus
interpretiert werden? Ein philosophisch gebildeter Leser wird
einwenden, dass Husserls und Diltheys Lehren viel zu komplex
sind, um einen eindeutig kalibrierten Maßstab abgeben zu kön­
nen, an dem man Schelers Anthropologie messen könnte. Aber
vielleicht würde der Leser dann eher einer kritisch-­beschrei­
benden historiographischen Darstellungsweise zuneigen, wie
sie der Hermeneutiker Joachim Wach ausgeführt hat. 38 Für
welches Interpretationsmodell sich der Leser auch entscheiden
wollte – er müsste sich aufgefordert fühlen, als »gebildeter Euro­
päer« Stellung zu nehmen, denn es geht um sein eigenes, euro­
päisch geprägtes Selbstverständnis als Mensch. Scheler-Kenner
werden sich vielleicht erinnern, dass Scheler in seinem einst
weit verbreiteten Buch Der Genius des Krieges und der Deutsche
Krieg (1915) nicht so sehr als Deutsch-Nationaler, als vielmehr
als Europäer, mit Nietzsches bekanntem Wort sogar als »guter
Europäer« gesprochen haben wollte. Scheler war überzeugt, dass
es »völlig unabhängig von den formalen internationalen Inter­
essen und Institutionen einen festen europäischen Menschen-
und Kulturtypus gibt – einen ›guten Europäer‹.«39 Doch war-

38 Joachim Wach, Typen religiöser Anthropologie, Tübingen 1932.


39 M. Scheler, Die geistige Einheit Europas und ihre politische Forde­
Zur Einleitung *51

um hat er sich in der Kosmos-Schrift nicht ausdrücklich dazu


bekannt, dass er die Anthropologie genau dieses europäischen
Menschen- und Kulturtypus entwickeln wolle, dem man dann
vergleichend und ergänzend die Anthropologien der anderen
Menschen- und Kulturtypen dieser Welt an die Seite zu stel­
len hätte, im Sinne einer komparativen Kulturanthropologie?
In einem Heft aus der Zeit der ersten Anthropologievorlesung
(1925) thematisiert Scheler ausdrücklich die »Idee Mensch im
europäischen Sinne«, durch die der Mensch einerseits der »un­
termenschlichen Natur« entgegengesetzt, andererseits die Idee
des Menschen auf Gott bezogen werde, denn erst mit dem Mo­
notheismus habe sich der Sinn von »Idee« ausgebildet.40
Wenn Scheler sich an den »gebildeten Europäer« wendet,
dann bedeutet dies jedenfalls nicht, dass er einen »eurozentri­
stischen« Standpunkt vertritt, der sich selbst gegenüber allen
anderen Kulturen als Norm und Maßstab ausgibt. Wie Ernst
Troeltsch lehnt Scheler den Europäismus als »verfeinerten Eu­
ropäerhochmut« ab.41 Seine »kosmopolitische« Einstellung zeigt
sich unter anderem an seinen Worten über die buddhistische
Duldungsphilosophie und methodologisch ganz allgemein an
seinen weltanschauungsphilosophischen und kultursoziologi­
schen Schriften, in denen er einer jeden Kultur einen unvertret­
baren und unersetzbaren Anspruch auf die Ausbildung ihrer
geistigen Anlagen zuerkennt. Erst durch die Entwicklung aller
prinzipiell eigenständigen, unvertretbaren Kulturen und durch
ihre teils kritischen, teils kreativen und ausgleichenden wechsel­
seitigen Beziehungen vermag sich der Reichtum der dem Geist
des Menschen erreichbaren Werte zu realisieren. In diesem
»kosmopolitischen« oder früher in seiner theistischen Periode
vorzugsweise als »solidarisch« bezeichneten kulturgeschicht­
lichen Sinne wendet er sich an die gebildeten Europäer, denen

rung, in: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1915,
S. 251 (GW 4, S. 154).
40 Vgl. B.I.6, S. 1 – 2.
41 Vgl. M. Scheler, Ernst Troeltsch als Soziologe (1923), GW 6, S. 387.
*52 Wolfhart Henckmann · Einleitung

er den gegenwärtigen Stand der Entwicklung der europäischen


Menschenauffassung bewusst zu machen versucht, um sie zu
einer selbstbewussten Aus- und Weiterbildung ihrer spezifi­
schen Kulturbestimmung anzuregen – dies wäre demzufolge
das Anliegen seiner im Dilthey’schen Sinne verstandenen
»neuen Anthropologie«, von der sich übrigens Husserl sehr
entschieden abgegrenzt hat. Wie Scheler sich die Bewältigung
der schwierigen Aufgaben und Probleme interkultureller, aber
auch der intrakulturellen Kommunikation vorgestellt hat, zeigt
sein Vortrag über den »Menschen im Weltalter des Ausgleichs«
(1927).
Mit der Apostrophe an die gebildeten Europäer scheint Sche­
ler zumindest am Anfang seine anthropologische Grundfrage
nicht in einem universal allgemeinen Sinnhorizont entwi­ckeln
zu wollen, sondern im konkreteren Rahmen der abendländisch-
europäischen Kultur. Dadurch wird von vornherein zum Pro­
blem erhoben, inwiefern eine Anthropologie, die aus der abend­
ländisch-europäischen Kultur hervorgegangen, aber offenbar
am Ende in eine tiefgehende Krise geraten ist, innerhalb dieser
Vorgaben oder aber über sie hinausgehend – wohin auch im­
mer – eine »neue« und nicht eine von vornherein defätistische
Anthropologie schaffen könne. Da es innerhalb der abendlän­
disch-europäischen Kultur genügend Krisenzeiten und Para­
digmenwechsel gegeben hat, so fragt es sich, ob nicht auch die
Krisensituation, die Scheler zu einem Maximum ausgewachsen
sieht, nicht geradezu als ein Wesensmerkmal ihres europäischen
Erbguts zu verstehen ist.

»Drei unter sich ganz unvereinbare Ideenkreise«


(7,4 ff.; 129,14 ff.)

Scheler richtet sich nicht an ein Publikum von Europäern mit


einer gemeinsamen, in Jahrhunderten entstandenen und ge­
pflegten Allgemeinbildung, sondern an ein Publikum, das das
Subjekt von sehr widersprüchlichen Vorstellungen über das We­
Zur Einleitung *53

sen des Menschen ist. Aus dem europäischen Bildungsgut hebt


er drei miteinander konkurrierende (S. 129,16) Ideenkreise über
das Wesen des Menschen hervor, die er für die einflussreichsten
hält: den jüdisch-christlichen, den griechisch-antiken und den
neuzeitlichen, naturwissenschaftlich fundierten Gedankenkreis
des menschlichen Selbstverständnisses. Diese drei Gedanken­
kreise haben ihrem charakteristischen Selbstverständnis ent­
sprechend religiöse, philosophische und naturwissenschaftliche
Theorien ausgebildet, so dass sich eine Fortschrittslinie erken­
nen lässt – darin wirkt wohl auch A. Comtes Drei-Stadien-Lehre
nach, mit der sich Scheler wenige Jahre zuvor kritisch ausein­
andergesetzt hat.42
Mit den drei Idealtypen hat sich das menschliche Selbstver­
ständnis über das einer jeden von ihnen zugrunde liegende,
vor-theoretische Selbstverständnis des Menschen erhoben.
1926 hat Scheler den religiösen, theologischen und philosophi­
schen Theorien noch – vermutlich angeregt durch E. Cassirers
Philosophie der symbolischen Formen, dessen zweiter Teil das
mythische Denken behandelt43 – die »mythischen« Theorien
vorangestellt, auf die er aber nicht mehr näher eingegangen ist.
Es fragt sich, ob die drei 1928 von Scheler angeführten Grund­
typen des menschlichen Selbstverständnisses wirklich wie bei
Comte einen sich stufenweise vollziehenden Fortschritt bil­
den, durch den die früheren Stufen progressiv »aufgehoben«
werden, oder lösen sie sich eben doch nicht – zumindest im
euro­päischen Kulturkreis – nacheinander ab, sondern sind als
Grundtypen menschlichen Selbstverständnisses in jeder Ge­
schichtsepoche nachzuweisen? Folgen sie sich vielleicht nur
innerhalb einer jeden einzelnen Kultur und auf je spezifische
Weise im Sinne von Spenglers Kulturmorphologie, nicht aber
alle Kulturen übergreifend auf eine einheitliche, gesetzlich

42 M. Scheler, Über die positivistische Geschichtsphilosophie des


Wissens (Dreistadiengesetz) (1921), GW 6, S. 27 – 35.
43 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das
mythische Denken, Berlin 1924.
*54 Wolfhart Henckmann · Einleitung

fortschreitende Weise? Scheler schwankt: Einerseits spricht er


von einem Fortschritt, da sich in der geschichtlichen Folge der
Grundideen eine sprunghafte Steigerung des menschlichen
Selbstbewusstseins ausdrücke,44 andererseits behauptet er, dass
alle drei Grundtypen menschlichen Selbstverständnisses auch
heute noch vertreten werden und womöglich nie gänzlich außer
Kraft gesetzt werden können – obwohl sie alle »heute weithin
erschüttert« (S. 8,4) seien, was in seinen Augen ihre öffentliche
Präsenz jedoch kaum zu beeinträchtigen scheint – höchstens
ihre Breitenwirkung. Aber was vermag eine Weltanschauung
zu erschüttern, wenn sie nach Scheler durch wissenschaftliche
Kritik überhaupt nicht tangiert werden kann?
Da sich die drei Grundideen in ihren theologischen, philoso­
phischen und naturwissenschaftlichen Theorien über das »na­
ive« Selbstverständnis der Menschen erheben, stellt sich gemäß
dem frühen Aufsatz über die drei Tatsachen45 die Frage, ob jede
der drei Grundideen alle drei einst unterschiedenen Wissens­
stadien durchlaufen: von der »natürlichen Weltanschauung«
über das phänomenologische Wissen bis zum positiv-wissen­
schaftlichen Wissen? Oder ob sich die drei Grundideen nur je
einer der drei Wissensformen zuordnen lassen, zum Beispiel der
seinem gebildeten Publikum vielleicht noch am nächsten lie­
genden »natürlichen Weltanschauung«, die ihrem Wesen nach
stark von pragmatischen Lebensbedürfnissen beherrscht ist?
Die Fragen so zu stellen bedeutet, dass Scheler die Wissensart,
in der uns seine drei Grundideen gegeben sind, nicht klar genug
bestimmt hat.
Damit stoßen wir auf ein neues Problemfeld: In Schelers
einleitender Klärung von methodologischen Fragen fehlt das
menschliche Selbstverständnis auf der primären Ebene der na­
türlichen Weltanschauung bzw. des alltäglichen, gelebten und
erlebten menschlichen Selbstverständnisses, von dem er z. B. in
seiner Vorlesung über die Philosophie des Todes (1923) ausge­

44 GW 9, S. 122.
45 Scheler, Lehre von den drei Tatsachen (ca. 1910), GW 10, S. 431 – 474.
Zur Einleitung *55

gangen ist46 – oder gibt sich die Elite der gebildeten Europäer
mit alltäglichen, widersprüchlichen, ungebildeten Vorstellun­
gen wie den Menschenbildern der natürlichen Weltanschau­
ung überhaupt nicht ab? Handelt es sich im Grunde nur um
die Menschenbilder bestimmter gesellschaftlicher Klassen oder
Kreise, Rassen oder Nationen? Wer oder was ist also das Subjekt
der drei grundlegenden Ideenkreise?
Die Frage kompliziert sich dadurch, dass es Scheler 1927/28
nicht bei den drei Grundarten bewenden ließ, sondern weitere
Grundideen fand, diese aber weniger als kollektive Modelle des
menschlichen Selbstverständnisses verstand, sondern als »Men­
schenbilder« nach Maßgabe eines bestimmten menschlichen
Idealtypus, wie er in unterschiedlichen Natur- und Geistes­
wissenschaften zum Ausdruck kommt. So spricht er z. B. vom
»homo curans«, womit er auf Heideggers Sein und Zeit anspielt,
oder vom »homo oeconomicus« des Marxismus, vom »homo
dionysiacus« der Lebensphilosophie oder vom »homo eroticus«
der Schule Freuds.47 Seine Lehre von den »Grundideen« weist
eine gewisse Mehrdeutigkeit auf, da sie mit einer (charaktero­
logischen) Lehre von »Menschenbildern« verwechselt werden
kann, die nicht auf grundlegenden Weltanschauungen beru­
hen müssen. Je näher Scheler die Lehre von den »Grundideen«
von den prähistorischen Mythen angefangen über die jüdisch-
christlichen, antiken und den naturwissenschaftlichen Gedan­
kenkreisen bis an die Gegenwart heranführt, desto spezifizierter
und personalisierter fasst er sie auf, desto enger rücken sie an die
»Menschenbilder« heran, bis zu dem Punkt, an dem ein Men­
schenbild zum Ausdruck einer persönlichen Weltanschauung,
geradezu zu einem Selbstbekenntnis wird, wie Scheler selber
es am Ende der Kosmos-Schrift vorführt. Seine Lehre von den
drei Ideenkreisen öffnet sich dadurch mehr und mehr zu einer
Charakterisierung durch all die »homo«-Ideen, die den Wissen­

46 Vgl. M. Scheler, Das Wesen des Todes (1923/24), GW 12, S. 267 ff.
47 Vgl. die Liste von dreizehn Idealtypen in der »Einteilung (II)«, in
GW 12, S. 22 f.
*56 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schaften vom Menschen, von der Theologie angefangen bis hin


zur Psychologie, Soziologie, Ethnologie usw., leitend zugrunde
liegen, die aber auch gewisse Vorbild-Typen gesellschaftlicher
Kollektive und Eliten zum Ausdruck bringen. Die auf traditio­
nelle Typen festgelegten Gedankenkreise lösen sich somit in
Gedankenbewegungen auf, die das Wesen des Menschen »um­
ringen«. Vor dieser Tendenz nimmt sich Schelers Beschrän­
kung auf drei Grundideen als extreme, der krisengeschüttelten
geschichtlichen Stunde keineswegs gerecht werdende Verein­
fachung aus – und das in einer Zeit, in der er seine allgemeine
Kultursoziologie ausgearbeitet hat. Dabei sollte jedoch nicht
übersehen werden, dass er die methodologische Frage nach den
drei traditionellen Grundideen auf eine progressive Problemati­
sierung hin geöffnet und mit ihr zugleich eine Prognose für die
zukünftige Entwicklung der Menschheit verbunden hat, getreu
der Überzeugung, dass der Mensch wesensgemäß auf die (dies­
seitige und/oder jenseitige) Zukunft ausgerichtet ist.
Scheler behauptet überraschenderweise, dass die drei Ideen­
kreise sich »nicht umeinander kümmern« (S. 7,25; 130,12), son­
dern indifferent nebeneinander stehen – dies widerspricht
grundlegend seinem aus der katholischen Periode stammen­
den Prinzip eines universalen »Solidarismus«, wonach Theo­
rien und ganze Kulturen, bei allen Streitigkeiten und Kämpfen,
sich miteinander austauschen, aneinander wachsen und inein­
ander übergehen können – seine Lehre vom Zeitalter des Aus­
gleichs wäre unmöglich, wenn er an der These festhielte, dass
die Grundtypen sich nicht umeinander kümmerten.
Sachlich betrachtet ließe sich eine Lehre von den Grund­
typen am ehesten einer Forschungsebene zuordnen, die er im
Aufsatz über »Weltanschauungslehre, Soziologie und Welt­
anschauungssetzung« (1922) als »Bildungsweltanschauung« be­
zeichnet hat. Die Ebene der historisch wandelbaren Bildungs­
weltanschauung bildet sich Scheler zufolge auf dem »ehernen
Fundament relativ natürlicher Weltanschauung« aus.48 Im Bil­

48 GW 6, S. 16.
Zur Einleitung *57

dungs­bewusstsein eines Europäers soll in jedem Grundtypus


letztlich eine »unzerreißbare Struktureinheit« (S. 118,18 f.) von
Selbst-, Welt- und Gottesbewusstsein zum Ausdruck kommen.
Diese Struktureinheit wäre dann als die einheitliche Grund­
lage aller Menschen-Ideen zu verstehen, zunächst innerhalb
des Kategoriensystems der abendländischen Kultur, in Zukunft
vielleicht einmal universell in allen Kulturen. Die unzerreiß­
bare Struktureinheit mag inhaltlich aus den unterschiedlich­
sten Gründen variieren, aber formal müsste sie überall ein und
dieselbe bleiben, innerhalb des Abendlandes also kultur- und
weltanschauungsgeschichtlich indifferent. Man könnte versu­
chen, die unzerreißbare Struktureinheit in den verschiedenen
idealtypischen Menschenbildern genauer und vollständiger zu
bestimmen – dass sie nichts miteinander gemein haben sollen,
kann, abgesehen von ihrer Gebundenheit an eine ihnen allen
gemeinsame formale, unzerreißbare Grundstruktur, auch des­
wegen nicht gelten, weil es in allen anthropologischen Theorien
um die Klärung der Probleme geht, die allen Menschen gemein­
sam sind, z. B. um den Zusammenhang zwischen der Trieb- und
Geistsphäre des Menschen oder um das Verhältnis dieses merk­
würdigen »vernunftbegabten Lebewesens« zu einem obersten
absoluten Wesen. Solche Aspekte einer anthropologischen Kon­
kretisierung der Grundideen hatte Scheler 1926 in seinem Vor­
trag über Mensch und Geschichte bereits angesprochen, in den
Ausführungen der Kosmos-Schrift jedoch nur andeutungsweise
wieder aufgegriffen. Außer der dreigliedrigen Grundstruktur
des Bildungsbewusstseins gibt es analoge Ausgestaltungen auch
noch in Religion, Kunst, sittlichem Ethos – insgesamt also ein
komplexes Gefüge von Bildungsbereichen, die sich in jahrhun­
dertealten Traditionen entwickelt haben.
Scheler greift aus dem Ganzen der abendländischen Kultur
das zeitgenössische Bildungswissen vom Menschen heraus, in
dem abgeschattet allerdings auch die anderen Bildungsbereiche
miterfasst sind. Wenn man sich die strukturierte Breite und
entwickelte Vielfalt der einzelnen Bildungsbereiche vor Augen
führt, gewinnt man eine Vorstellung davon, was Scheler still­
*58 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schweigend aus der Thematisierung der Frage nach dem Men­


schen ausgegrenzt hat, wenn er sich auf nur drei Grundideen
beschränkt, was dann aber dennoch an verschiedenen Stellen
in seine Ausführungen hineinspielt, scheinbar rein assoziativ,
faktisch aber den Zusammenhängen folgend, die sich in den
Traditionen des europäischen Bildungsbewusstseins ausgebil­
det haben.
Auf zwei dieser Zusammenhänge sei besonders hingewiesen,
weil sie in der Kosmos-Schrift eine nicht zu übersehende Rolle
spielen: Erstens auf die hierarchische Ordnung, die zwischen
den einzelnen Bildungsbereichen besteht und die Scheler nach
Maßgabe der »Künstlichkeit« ihrer Ausbildung bestimmt hat.
In seiner Kultursoziologie unterscheidet er sieben Stufen dieser
geistig-künstlichen Ausbildung: »1) Mythos und Sage als undif­
ferenzierte Vorformen des religiösen, des metaphysischen und
des Natur- und Geschichtswissens; 2) das in der natürlichen
Volkssprache (im Gegensatz zu Bildungssprache, zu gehobener
dichterischer Sprache oder Terminologie) implizit mitgege­
bene Wissen […], 3) religiöses Wissen in seinen verschiedenen
Aggregatzuständen von der frommen, gefühlswarmen, vagen
Intuition bis zum fest fixierten Dogma einer Priesterkirche;
4. die Grundarten des mystischen Wissens, 5. das philosophisch-
metaphysische Wissen, 6. das positive Wissen der Mathematik,
der Natur- und Geisteswissenschaften, 7. das technologische
Wissen.«49 Demnach müsste sich der Leser der Kosmos-Schrift
von Aussage zu Aussage, von Absatz zu Absatz Gedanken ma­
chen, ob sich Schelers Argumentation durchgehend auf ein
und derselben Ebene der Künstlichkeit bewegt oder auf welche
Ebene seine Argumentation inzwischen übergewechselt ist. Da­
bei ließe sich auch unter der Hand immer genauer feststellen, in
welchen Gebieten Scheler besonders bewandert war.
Zweitens unterliegen die Bildungsgehalte je einer eigenen,
von den anderen Bildungsbereichen unterschiedenen geschicht­
lichen Bewegungs- bzw. Entwicklungsform – nicht bloß einer

49 GW 8, S. 63.
Zur Einleitung *59

fortschreitenden Höherbildung ihrer künstlichen Ausbildung,


sondern auch des Wachsens, Umgestaltens, auch des Ab- bzw.
Aussterbens einzelner Bildungsbereiche, vor allem einer unter­
schiedlichen Geschwindigkeit der Veränderung, so dass sich
das Bildungsbewusstsein einer Zeit durchdrungen erweist vom
Gesetz der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, dessen aktu­
ell bestehenden Zeitlichkeitsrelationen jedoch kaum bewusst
sind. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kann Scheler seine
Diagnose vom historischen Maximum der Selbstproblematisie­
rung des Menschen eigentlich nur von einer bestimmten Stufe
der Künstlichkeit aus stellen, und dies vielleicht auch nur für
die kurze Dauer der historischen Stunde, in der er seine Dia­
gnose gestellt hat. Wenige Jahre nach seinem Ableben begann in
Deutschland die Zeit des Tausendjährigen Reiches, dessen Vor­
boten er übrigens kaum wahrgenommen, und wenn, dann nicht
richtig eingeschätzt hatte, und dreißig Jahre später verkündete
der Phänomenologe Günther Anders, Sohn von William Stern,
der wie Scheler einen philosophischen Personalismus vertrat,
dass die Frage nach dem Wesen des Menschen durch und durch
antiquiert sei.50 Dies wird aber dem seit der Antike unerledig­
ten Weisheitsspruch des »Erkenne dich selbst« in keiner Weise
gerecht; eher vielleicht, wenn auch auf ganz andere Weise, dem
christlichen Weisheitsspruch über das Nicht-Wissen des Woher
und Wohin des Menschen.
Schelers (allzu kurze) Analyse der Bildungsweltanschauung
des Europäers ist Ausdruck eines Problembewusstseins, das
die kritische Untersuchung der »gebildeten« Voraussetzungen
und Vorurteile für eine jede Frage nach dem Wesen des Men­
schen mit Recht für unerlässlich hält. Für Scheler ist es die Auf­
gabe einer deskriptiven Weltanschauungslehre, die »idealtypi­
schen Grundarten, in denen er [der Mensch] sich selbst dachte,
schaute, fühlte und in die Ordnungen des Seins hineingestellt

50 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die


Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956), München
7 1992,Einl.
*60 Wolfhart Henckmann · Einleitung

ansah«,51 in ihrem inneren Aufbau und ihren Gehalten zu be­


schreiben. Es geht dabei nicht bloß um die Beschreibung ab­
strakter »Ideenkreise«, sondern um die Beschreibung »gelebter
Weltanschauungen« in ihrer idealtypischen Ausprägung, nicht
um eine historisch-empirische Beschreibung der in einer Ge­
sellschaft vertretenen Durchschnittstypen von Weltanschau­
ungen. Damit wäre die Frage nach der Methode von Schelers
Methodenkritik insofern beantwortet, als die Methode der
Beschreibung und Analyse der drei Ideenkreise eine Aufgabe
der deskriptiven Weltanschauungslehre wäre, die aber ihrer­
seits ihre eigene Methode des Aufweises von Idealtypen des
Mensch-Seins erst noch zu finden hätte. Es versteht sich von
selbst, dass eine deskriptive Weltanschauungslehre die Idealty­
pen menschlichen Selbstverständnisses sehr viel umfassender
und differenzierter auszuführen gehabt hätte, als Scheler es in
seinem Vortrag tun konnte; ausführlicher hatte er sich bereits
1926 in seinem Vortrag über »Mensch und Geschichte« ge­äu-
ßert.
Die Kenntnis dieses Vortrags konnte Scheler bei seinen Hö­
rern voraussetzen, da Keyserling dessen Lektüre den Tagungs­
teilnehmern dringend empfohlen hatte. Wie aber sollten sie es
sich erklären, dass Scheler 1926 fünf, jetzt aber nur drei ideale
Grundarten anführte? 1926 hatte er, wie schon im Aufsatz »Zur
Idee des Menschen«, noch der neuromantischen Lehre vom
Menschen als einer entwicklungsgeschichtlich zu Ende ge­
henden »Sackgasse des Lebens«52 die Lehre vom Menschen als
»krankem Tier« an die Seite gestellt, die er paradigmatisch bei
L. Klages ausgearbeitet fand, und außerdem noch den »postu­
latorischen Atheismus des Ernstes und der Verantwortung«,53
die er seinem Kölner Kollegen Nicolai Hartmann zuschrieb.
Diese beiden Lehren hat Scheler 1928 im Sonderdruck von der

51 M. Scheler, Mensch und Geschichte (1926), GW 9, S. 120 – 144, hier:


120.
52 GW 9, S. 134 – 141.
53 GW 9, S. 141 – 144.
Zur Einleitung *61

Einleitung auf die erst später folgende Auseinandersetzung mit


modernen naturalistischen Ansätzen verschoben – warum er
in Darmstadt eine solche Zäsur an seinen »fünf Ideen« (S. 144:
I. 5) vorgenommen hat, wird nicht klar. In der Einleitung zu
seiner Philosophischen Anthropologie wollte er, wie die Dispo-
sition zeigt, wieder alle fünf Ideen gemeinsam erörtern. Es ist
aber nicht sicher, ob es die gleichen fünf gewesen wären, denn
an anderen Stellen hat er die beiden letzten durch zwei andere
ersetzt: durch die Anthropologie von Weltanschauungstypen,
wie sie E. R. Jaensch und K. Jaspers vorgetragen haben, 54 und
durch die Ontologie des Menschen von M. Heidegger. Sollten
seine Darmstädter Hörer annehmen, dass die fünf Grundideen
eigentlich auf drei zu reduzieren seien, dass also die vierte und
fünfte noch nicht die erforderliche Aussagekraft erreicht haben?
Davon war in den Vorträgen weder 1926 noch 1927 die Rede.
Und was sollten sich seine Leser denken, wenn er 1927 behaup­
tete, dass wir eine »einheitliche Idee vom Menschen« (S. 7,28;
130,9) nicht besitzen, in »Mensch und Geschichte« aber gefor­
dert hatte, dass eine »Geschichte des Selbstbewusstseins des
Menschen von sich selbst«,55 also offenbar eine Geschichte des
durch alle geschichtlichen Wandlungen hindurch einheitlichen
Selbstbewusstseins des Menschen, einer jeglichen »Geschichte
der mythischen, religiösen, theologischen, philosophischen
Theorien vom Menschen vorhergehen« müsse?56 Wie verhal­
ten sich die drei (oder fünf) »idealtypischen Grundarten« zu
der in ihnen und durch sie hindurch sich entwickelnden, im
gesellschaftlich-geschichtlichen Leben sich manifestierenden

54 Vgl. Erich R. Jaensch, Die Eidetik und die typologische Forschungs­


methode in ihrer Bedeutung für die Jugendpsychologie und Pädagogik,
für die allgemeine Psychologie und die Psychophysiologie der mensch­
lichen Persönlichkeit. Mit besonderer Berücksichtigung der grund­
legenden Fragen und der Untersuchungsmethodik, Leipzig 1925 (Ana
315.Z.697); Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, zweite,
durchges. Auflage Berlin 1922 (Ana 315.Z.1745).
55 GW 9, S. 120.
56 Ebd.
*62 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Geschichte des Selbstverständnisses des Menschen, die er auch


in seinem kurz vor dem Darmstädter Vortrag veröffentlichten
Buch über Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926) dar­
gestellt hatte?
Seinen Bericht über die Forschungslage der Ethik (1914) hatte
Scheler einst mit der These begonnen, dass die Ethik einer Zeit,
abgesehen von ihren persönlichen Urhebern und dem jeweili­
gen Stand der wissenschaftlichen Forschung, durch die »sitt­
liche Weltlage der Zeit, schärfer gesagt, durch das Ethos ihrer
führenden Schichten wesentlich mitbestimmt« werde.57 Lässt
sich etwas Analoges über die Anthropologie einer Zeit sagen?
Welche Auffassung vom Menschen herrschte in den Kreisen der
Gebildeten der Weimarer Republik – knapp ein Jahrzehnt nach
dem ersten Weltkrieg, dieser Katastrophe des ersten »Gesamt­
erlebnisses der Menschheit«?58 Bildet etwa dieses Gesamterleb­
nis den Hintergrund zu Schelers These, dass der Mensch sich
noch nie so völlig und restlos »problematisch« geworden sei wie
in der Gegenwart?59
Das ist kaum anzunehmen, denn Schelers These ist nicht exi­
stenziell, politisch oder sozialpsychologisch, sondern kulturge­
schichtlich gemeint, womit sie sich an Rudolf Euckens kultur­
geschichtliche Lebensdeutungen anschließt:60 Es gebe keine
einheitliche Theorie vom Wesen des Menschen, sondern nur
mehrere im Laufe der Kulturgeschichte entstandene, vonein­
ander abweichende Grundideen, die auch in der gegenwärtigen
Krise des Menschen ihre Vertreter fänden, ja sogar »herrschend«
seien.61 »Herrschend« sind sie jedoch nur in verschiedenen

57 Scheler, Ethik. Eine kritische Übersicht der Ethik der Gegenwart


(1914), GW 1, S. 373.
58 Scheler, Der Krieg als Gesamterlebnis (1916), GW 4, S. 267 ff.
59 GW 9, S. 120.
60 Vgl. Rudolf Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Der
Grundbegriffe der Gegenwart dritte umgearbeitete Auflage (Leipzig
1904), bes. das einleitende Kapitel über »Der geistige Notstand der Zeit
und die Notwendigkeit neuer Wendungen«.
61 Scheler, Mensch und Geschichte, GW 9, S. 123.
Zur Einleitung *63

Gruppen von Gebildeten als Formen ihres Selbstverständnis­


ses als Menschen, nicht im Sinne der Alleinherrschaft eines be­
stimmten Menschenbildes über die anderen. Deshalb konnte
Scheler 1927 relativ unbekümmert die drei wichtigsten »inhalt­
lichen Ideen über den Menschen« (S. 129,9) ideengeschichtlich
und ideologiekritisch charakterisieren.
Entsteht dadurch aber nicht die Gefahr jenes grenzenlosen
Relativismus und Historismus, den man Dilthey vorzuwerfen
pflegt, und D. v. Hildebrand seinem einstigen Freund Max Sche­
ler? Da Scheler nach der Einleitung seine Problematisierung der
Selbstproblematisierung des Menschen nicht mehr weiterge­
führt hat, scheint es fast so, als ob ihn die Gefahr des Relativis­
mus zu einem Sprung in die ganz andere, nicht-relativistische
Wesensanalyse und Metaphysik gedrängt hätte. Als Julius Sten­
zel in Heideggers Sein und Zeit ein ganz anderes Menschenbild
wahrnahm als bei Platon und Aristoteles, fragte er: »Wo bleibt
das Recht, mit dem der Humanismus steht und fällt, einen ob­
jektiven Menschen durch die ganze Geschichte hindurch fest­
zuhalten und gar im antiken Menschen eine besonders starke
und reine Form dieses Menschen überhaupt zu sehen?«62 Diese
Frage betrifft auch Scheler – den überhistorischen Humanis­
mus, nach dem Stenzel gefragt hat, lehnt er ab.63 Aber auf was
für einer »idealtypischen Grundart« beruht dann Schelers ei­
gene Auffassung vom Wesen des Menschen? Oder lehnt er alle
überlieferten und überhaupt jegliche Bindung an eine Grund­
idee vom Wesen des Menschen ab, weil sie alle zu einseitig, zu

62 Julius Stenzel, Die Gefahren modernen Denkens und der Huma­


nismus, in: Die Antike 4 (1928), S. 42 – 65, hier: S. 44. J. Stenzel versucht
nicht wie Scheler, die Veränderungen des Selbstverständnisses des Men­
schen auf idealtypische Grundarten zurückzuführen, sondern den un­
unterbrochenen Prozess der »Verinnerlichung« des Menschenbildes bis
zur Gegenwart anhand der Schriften verschiedener Philosophen aufzu­
weisen. Vgl. hierzu auch Bernhard Groethuysen, Philosophische An­
thropologie, München/Berlin 1931.
63 Vgl. Egon Haffner, Der ›Humanitarismus‹ und die Versuche seiner
Überwindung bei Nietzsche, Scheler und Gehlen, Würzburg 1988.
*64 Wolfhart Henckmann · Einleitung

eng sind, nur »flüchtige und verzeichnete Spiegelbilder […], die


dieses Wesen sich von sich selbst gemacht hat« (S. 130,4 f.), wie
er in seiner Darmstädter Einleitung behauptet hatte? Bestand
die Aufgabe seiner deskriptiven Weltanschauungslehre als er­
kenntniskritischer Methode darin, überlieferte Anthropologien
auf ein begrenztes Menschenbild zurückzuführen und dadurch
indirekt zu behaupten, dass eine philosophische Anthropologie
erst dann ihrer Aufgabe gerecht werden könne, wenn sie jede
Möglichkeit, auf ein begrenztes Menschenbild festgelegt zu wer­
den, von Grund auf überwunden hätte? Oder wenigstens, wenn
das noch nicht möglich sein sollte, Mittel und Wege aufwiese,
eine dem Wesen des Menschen nicht gemäße Begrenzung zu
erkennen und zu überwinden?
In der Tat: Zu nichts anderem dient seine weit über die drei
Grundideen hinausgeführte Lehre von den einander wider­
sprechenden Ideenkreisen, in denen sich die Ideen vom We­
sen des Menschen ausbilden – bisher insgesamt zu den allzu
engen Selbstauffassungen des Menschen der Gegenwart. Sche­
ler ist nicht bei den drei Grundideen geblieben, die er schon
in »Zur Idee des Menschen« und später in der Kosmos-Schrift
charakterisiert hat, er ist auch nicht bei den fünf Grundideen
von »Mensch und Geschichte« geblieben, sondern hat schließ­
lich mehr als dreizehn Grundideen aufgezählt, die er aus der
»höchst zusammengesetzten abendländischen Geistestradition«
(S. 129,10 f.) herausgehoben hat,64 in der sicheren Annahme, dass
sich in anderen Kulturkreisen noch weitere und eventuell ganz
andere Grundideen finden ließen. Sei es, dass die zu engen Men­
schenbilder durch die zugrunde liegenden Weltanschauungen
(die klassische Theorie von Platon bis Hegel, theologische oder
konfessionelle Theorien, die unterschiedlichsten naturalisti­
schen Theorien bis zu Marx, Nietzsche, Freud, usw.), sei es,
dass sie durch einseitige, perspektivisch begrenzte Menschen­

64 In GW 12, S. 22 f. irreführend als »Einteilung (I) und (II)« bezeich­


net; die zugrunde liegenden Manuskripte wurden nicht nachgewiesen
(Einteilung I stammt aus B.I.2, S. 65, Einteilung II aus B.I.21, S. 150 f.).
Zur Einleitung *65

auffassungen (homo sapiens, faber, oeconomicus, libidinosus,


curans von den Anfängen des Abendlandes an bis zu Denkern
der damaligen Gegenwart wie Dilthey, Freud oder Heidegger)
zustande kommen – sie alle werden von Scheler als zu eng ab­
gewiesen, aber bei aller auch hier wieder stark übertreibenden
Polemik nicht vollständig und grundsätzlich, sondern nur inso­
fern sie den Anspruch erheben, das Wesen des Menschen voll­
ständig und angemessen erfasst zu haben.
Indem sich Schelers Kritik im Prinzip ausnahmslos auf alle
bisher entwickelten Anthropologien erstreckt, stellt er seine
eigene Anthropologie unter den Anspruch, die bisherigen Be­
grenzungen zwar nicht grundsätzlich und vollständig zu negie­
ren, da sie alle etwas Zutreffendes zur Geltung bringen, wie er in
seinen Notizen zur Methode der philosophischen Anthropolo­
gie zugibt,65 sondern ihre Grenzen zu öffnen, nicht nur hier und
dort, sondern die durch das endliche Sein des Menschen not­
wendig vorgegebenen Grenzen auf das historische und ontolo­
gisch Unbegrenzte hin zu öffnen, das ebenso wie das Begrenzte
zum Wesen des Menschen gehört. Das Unbegrenzte ist nicht
bloß als Negation von bestehenden Begrenzungen zu verstehen,
sondern als positive Erweiterung aller möglichen Begrenzungen
auf das in den begrenzten Menschenbildern noch nicht Erfas­
ste. Man kann hierfür das alte Wort vom »homo absconditus«
verwenden, der als positive Negation des Begrenzten, gleichsam
als dunkle Ahnung des noch zu Gewärtigenden, hinter allen
Anthropologien steht. Scheler geht noch einen Schritt weiter,
indem er alle möglichen Anthropologien Grenzen negierend
und Möglichkeiten aufweisend auf das unausdenkliche und
unausschöpfbare Absolute, auf den unendlichen, unbegrenzten
Weltgrund, also auf die zu jedem menschlichen Selbstverständ­

65 »Die Anthrop[ologie] ist so zu halten, daß 1.) alle hist[orischen]


Wesensbegriffe ›bewahrt‹ und zugleich so als mögl[iche] Teilmomente
verst[anden] werden, daß sie aus der ges[amten] Struktur des Sein[s] des
Menschen verständlich werden. So hat die negat[ive], klass[ische], die
natur[alistische] Lehre, die jüd[ische] und christl[iche] relat[iv] Recht.«
(B.I.2, S. 58)
*66 Wolfhart Henckmann · Einleitung

nis gehörende Gottesidee bezieht. Das eigentlich entscheidende


Wort der methodologischen Einleitung der Kosmos-Schrift, das
er vermutlich auf der Darmstädter Tagung nicht einmal mehr
ausgesprochen hat, findet sich in einer Fußnote, in der sich
Scheler auf seinen Aufsatz »Zur Idee des Menschen« beruft: dass
nämlich der Begriff des Menschen die Idee Gottes als Bezugs­
zentrum voraussetze (S. 9,27 f.), die Idee eines unbekannten, un­
definierbaren, schlechthin alles fundierenden Absoluten. Man
mag einwenden, dass Scheler diesen Bezug allein einer von ihm
negierten »traditionellen« Auffassung des Menschen zuschreibt,
die er mit der Kosmos-Schrift gerade überwinden wollte. Da er
aber nicht alle überlieferten Theorien schlechthin negiert, son­
dern nur ihre Einseitigkeiten und Begrenztheiten ablehnt, und
da er auch gar nicht anders kann, als kritisch prüfend an sie an­
zuknüpfen, so kann er auch an der Idee Gottes (in seiner neuen
Interpretation) als absolutem Bezugszentrum festgehalten ha­
ben, weil erst durch sie alle Kritik an der Begrenztheit der über­
lieferten Menschenauffassungen möglich wird, ohne gleichzei­
tig in einen ausweglosen Relativismus abzugleiten. Doch auch
die Gottesidee ist nicht jederzeit absolut gegeben, sondern nur
in historisch bedingten, abgeschatteten Anschauungen ihres
absoluten Gehalts. Wenn Scheler am Ende der Kosmos-Schrift
seine Anthropologie in den Prozess der »Selbstvergottung« der
Weltgeschichte (S. 122,8) einordnet, dann deutet sich an, wie er
sich die Öffnung der Grenzen einer philosophischen Anthro­
pologie gedacht hat: als Aufnahme eines progressiven Vordrin­
gens ins absolut Unbegrenzte in diejenigen endlichen Grenzen
des Mensch-Seins, die es im aktuellen Stand der kosmischen
Geschichte angenommen hat. Durch die Aufnahme des Unbe­
grenzten in das Begrenzte sind die unvermeidlichen Begren­
zungen einer jeden Anthropologie, auch derjenigen Schelers,
im Prinzip aufgelöst in die Richtung einer durch sie ermög­
lichten Weiterbildung ins Unbegrenzte hinein. Dadurch rela­
tiviert Scheler in einem höchst konstruktiven Sinn die je schon
erreichten Erkenntnisse aller Anthropologien und legt zugleich
die Koordinaten fest, innerhalb derer er den Ausbau seiner ei­
Zur Einleitung *67

genen begrenzt-unbegrenzten Anthropologie, also sein »offenes


System« der Anthropologie auszuführen gedachte. Wenn er mit
seiner (wiederum übertriebenen) Kritik an den drei, fünf oder
dreizehn Grundideen die »geistigen Augen reinigen [wollte] von
der Macht traditioneller Begriffsschemata, die jede rein sach­
liche Untersuchung unmöglich machen«,66 so wollte er sie zu­
gleich öffnen für die anthropologischen Möglichkeiten von ins
Unbegrenzte führenden Grenzüberschreitungen des mensch­
lichen Selbstverständnisses.
Deshalb ist Schelers Lehre von der »Zukunft des Menschen«
nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in methodologischer
Hinsicht ein wesentlicher Bestandteil seiner Anthropologie,
den er im zweiten Anthropologieheft zu entwickeln begonnen
hat.67 Dass eine solche Konzeption im gegenwärtigen Welt­
alter bereits aufgestellt werden könne, versucht Scheler durch
die These zu rechtfertigen, dass die Menschheitsgeschichte im­
merhin schon den Status eines »relativen Allmenschen« erreicht
habe, aus dem heraus sich der bereits absehbare Standpunkt des
»absoluten Allmenschen« entwickeln werde, der die gesamte
Menschheit repräsentiere. Welche Anschauungen aus den von
ihm angeführten Grundideen in die zukünftige »Anthropolo­
gie des Allmenschen« übernommen werden können, hat Scheler
konsequenterweise nicht ausgeführt, doch lässt sich aufgrund
des Vortrags über den Ausgleich erwarten, dass alle überliefer­
ten Grundideen einen Prozess der Auflösung von in und zwi­
schen ihnen bestehenden Antagonismen durchlaufen werden.
Scheler ist überzeugt, dass die »Einheit des Menschen« nicht am
(paradiesischen) Anfang, sondern erst am Ende der Entwick­
lungsgeschichte der Menschheit erreicht werde. Der methodo­
logische Sinn seiner Bemerkungen über die Grundideen scheint
also zuletzt darin zu bestehen, alle Aussagen über das Wesen des

66 GW 12, S. 16.
67 M. Scheler, Ursprung und Zukunft des Menschen, B.I.2, S. 1 – 35
(zur Zukunft insbes. S. 13 ff.), davon wurden die S. 1 – 13 veröffentlicht in
GW 12, S. 89 – 97.
*68 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Menschen auf die geschichtliche Dynamik der Entwicklung der


Menschheit zu beziehen – eine geschichtsphilosophische und
zugleich geschichtsteleologische Auffassung, deren letztes, ei­
gentliches Telos jedoch unbekannt ist. Da alle Grundideen not­
wendige und unersetzbare Ausdrucksformen des menschlichen
Geistes sind, kommt ihnen auch eine allen zugrunde liegende
Einheitlichkeit zu: Es geschieht wohl im unausgesprochenen
Rückgriff auf diesen Einheitsgrund, dass Scheler von der epo­
chalen Aufgabe spricht, eine »einheitliche Idee vom Menschen«
zu gewinnen. Die Möglichkeit einer solchen Einheit lässt sich
zur Zeit aber nur ahnungsweise erfassen, wenn alle drei das
ihrer Wissensform Wesensmögliche zum Ausdruck gebracht
haben. An dieser Aufgabe orientiert sich Schelers Große An-
thropologie – eine Anthropologie des Ausgleichs aller obersten
Wissensformen zu einer – heute, in der erreichten Geschichtse­
poche noch gar nicht absehbaren – Einheitsanthropologie, die
im Grunde auch nicht mehr nur als »philosophische Anthro­
pologie« zu bezeichnen wäre, da diese nur dem Bildungswissen
oder aber der klassisch-antiken Idee des Menschen entsprechen
würde, sondern einer dem absoluten Allmenschen entsprechen­
den Wissensform, deren Wesen dem menschlichen Geiste noch
verborgen, vielleicht sogar auf neue Funktionalisierungen des
Geistes angewiesen ist. Schelers Große Anthropologie will den
Weg zu diesem Ziel aufweisen – was übrigens im Untertitel
»Neuer Versuch einer Philosophischen Anthropologie« nicht
zum Ausdruck kommt, die Große Anthropologie vielmehr dem
Missverständnis aussetzt, nur eine weitere neue Anthropologie
des Bildungswissens zu sein. Schelers »neuer Versuch« kann
somit mindestens dreierlei bedeuten: »neu« im Verhältnis zur
»spezifisch philosophischen Anthropologie von Aristoteles bis
zu Kant und Hegel«,68 »neu« im Verhältnis zu seinen eigenen
früheren Versuchen oder schließlich »neu« im Verhältnis zu
den traditionsgebundenen Anthropologien der zeitgenössischen
Diskussion – wenn nicht gar »neu« – und das wäre eine vierte,

68 M. Scheler, Mensch und Geschichte, GW 9, S. 126.


Zur Einleitung *69

die eigentlich gemeinte Version – im Sinne einer Anthropologie


des »neuen Menschen«, der sich Scheler zufolge zu bilden begon­
nen habe.69 Dadurch würde sich seine Anthropologie antizipa­
torisch auf einen neuen, zukünftigen, noch gar nicht vollstän­
dig ausgebildeten Boden begeben – was verständlich machen
würde, dass seine Anthropologie unvollendet geblieben ist und
unvollendet bleiben musste, weil sich ihr idealer Grundtypus
des »neuen Menschen« noch nicht hinreichend entwickelt hat.
Vor diesem Hintergrund möchte der Leser dann doch noch
genauer wissen, warum sich Scheler auf die ausgewählten drei
Menschenbilder beschränkt hat, die nun gerade kein Maximum
der Selbstproblematisierung, sondern eine mit drei Beispielen
sehr übersichtlich gehaltene, problemgeschichtlich einleuch­
tende Ordnung von Selbstdeutungen darstellt. Zwei Überlegun­
gen bieten sich an: Erstens hätten die drei Grundideen mit den
ihnen jeweils entsprechenden paradigmatischen Wissenschaf­
ten Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft den gesam­
ten höheren Wissenshorizont des anthropologischen Problems
abdecken sollen, und zweitens sollte vielleicht an den Leitlinien
der drei anthropologischen Grundkonzeptionen Schelers neuer
Versuch einer philosophischen Anthropologie von einem über­
geordneten Standpunkt aus ein ihnen allen überlegenes Profil
gewinnen. So werden seine Hörer die einleitenden Bemerkun­
gen als Versuch verstanden haben, mit den drei Grundideen
das gesamte anthropologische Problemfeld in seinem gegen­
wärtigen krisenhaften Zustand zu umreißen. Sie werden sich
dann aber noch gefragt haben, welcher dieser Grundideen, die
Scheler zufolge nichts miteinander zu tun haben, sein eigenes
Menschenbild zuzuordnen sei. Vielen schien er die griechische,
klassische Idee des Menschen zu vertreten, die Position des
homo sapiens. Aber dies trifft nicht zu. Scheler hat sich, wie wir

69 Vgl. seinen Vortrag: Die Formen des Wissens und die Bildung: »In
dieser Zeit, in der sich in schmerzvollem Ringen um eine neue Welt ein
neuer Mensch eine neue Form zu geben versucht, steht das Problem der
Bildung des Menschen im Zentrum des Interesses.« (GW 9, S. 89)
*70 Wolfhart Henckmann · Einleitung

wissen, von der klassischen Theorie des Menschen distanziert,


der er eine Überschätzung des Geistbegriffs vorwirft (S. 82 ff.).
Entscheidend mochte vielmehr gewesen sein, dass er über all
die Gegensätzlichkeiten zwischen überlieferten, auch gegenwär­
tig noch vertretenen Anthropologien hinaus eine grundsätzlich
neue Anthropologie entwerfen wollte: Die eigentliche Heraus­
forderung im herrschenden Chaos bestehe darin, dass es noch
keine einheitliche Idee vom Menschen gibt (S. 7,28). Er war sich
bewusst, dass in einem Zeitalter, in dem alle universalen Ein­
heitstheorien dem Zersetzungsprozess des wissenschaftlichen
Spezialistentums ausgesetzt waren, neue Einheitstheorien nur
auf Skepsis stoßen würden, so dass sie anderen Domänen wie
der Dichtung oder dem religiösen Sektierertum überantwor­
tet worden wären. Das machte ihn aber nicht irre an seinem
Versuch, »streng wissenschaftlich« eine neue Anthropologie zu
entwickeln; und offenbar wollte er durch sie die in lauter be­
ziehungslos nebeneinander stehenden Auffassungen vom Men­
schen zerfallene Krise überwinden. Die Krise des Selbstver­
ständnisses des Menschen wäre demnach noch nicht bis in die
anthropologische Grundfrage vorgedrungen: bis in den Zweifel,
ob eine solche Frage überhaupt sinnvoll gestellt werden könne,
oder bis zur gelangweilten Gleichgültigkeit gegenüber solchen
Fragen überhaupt.
Scheler schränkt die beabsichtigte Radikalität seines neuen
Ansatzes allerdings sofort wieder ein. Einerseits differenziert er
die bisher üblichen Theorie-Bindungen nach dem Umfang ihrer
Gebundenheit (ganz-, halb- oder viertelsbewusste Bindungen),
so dass im Prinzip eine (neue) Anbindung an die noch nicht in
Anspruch genommenen Potentiale traditioneller Lehren durch­
aus sinnvoll erscheinen kann, andererseits will er sich uneinge­
schränkt die »gewaltigen Schätze des Einzelwissens« der posi­
tiven Wissenschaften vom Menschen nutzbar machen, wobei
er speziell die Biologie, Medizin, Psychologie und Soziologie
im Auge hat (S. 5,2 f.) – dies scheint ihm in der Gegenwart die
dringlichste Aufgabe zu sein. Im Entwurf (S. 141,28 – 30) nennt er
jedoch auch noch die Wertwissenschaften (darunter versteht er
Zur Einleitung *71

in der Regel Ethik, Ästhetik, Kulturwissenschaften, gelegentlich


auch die Wirtschaftswissenschaften) und die Geschichtslehre,
und er präzisiert die Soziologie durch die Soziologie der Meta­
physik und der Religionsphilosophie, über die er 1926 in seiner
»Soziologie des Wissens« gesprochen hatte70 – als hätte er sich
nicht gerade (S. 5,13 f.) von der »bisher üblichen« Bindung an die
philosophische und naturwissenschaftliche Tradition losge-
sagt!

Die »tückische Zweideutigkeit« des Begriffes Mensch


(S. 8,15 – 10,3; 130,18 ff.)

Unter diesen Voraussetzungen gewinnt der zweite Absatz der


Einleitung eine besondere Bedeutung. Scheler hebt die »tücki­
sche Zweideutigkeit« (S. 8,15 f.; 130,19) des Begriffs »Mensch« her­
vor. Er befolgt dabei die seit Husserls Logischen Untersuchungen
zur Standardaufgabe einer phänomenologischen Analyse gehö­
rende Klärung von Äquivokationen, die sich im alltäg­lichen
und wissenschaftlichen Sprachgebrauch gebildet haben. Scheler
wusste natürlich, dass das Wort »Mensch« nicht bloß »zweideu­
tig«, sondern ausgesprochen vieldeutig ist, insbesondere in der
»Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern« (S. 9,7 f.),
worin erneut die interkulturelle Perspektive seiner europäischen
Anthropologie anklingt. Im Aufsatz »Zur Idee des Menschen«
hat er sich zur Klärung des Wortgebrauchs auf das Deutsche
Wörterbuch der Brüder Grimm71 bezogen und unter anderem
im Sinne der erst Jahrzehnte später differenzierter diskutierten
Gender-Theorie hervorgehoben, dass das Wort »Mensch« von
»männisch« abstamme und dass in vielen Sprachen »Mensch«
zugleich »Mann« bedeute (homo, homme): »Auch die Idee ei­
nes Menschen, der Mann und Weib umfassen soll, ist nur eine

70 Vgl. GW 8, S. 85 ff.
71 Artikel »Mensch«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wil­
helm Grimm, bearb. v. Moriz Heyne, Bd. 6, Leipzig 1885, Sp. 2021 – 2038.
*72 Wolfhart Henckmann · Einleitung

männliche Idee. Ich glaube nicht, dass diese Idee in einer von
Weibern beherrschten Kultur entstanden wäre.«72 Scheler hätte
stattdessen auch auf die Bedeutungsunterschiede der verschie­
denen »homo«-Grundtypen hinweisen können – aber als »tü-
ckisch« lassen sich solche semantischen Unterschiede eigentlich
nicht bezeichnen. Worin das Tückische bestehen soll, erschließt
sich einem auch nicht dadurch, dass Scheler nur zwei Begriffe
von »Mensch« nennt, die eine unterschiedliche Bedeutung ha­
ben: der »Wesensbegriff« und der »natursystematische« Begriff
des Menschen. Das Tückische scheint er vielmehr darin zu se­
hen, dass bei der Verwendung des Begriffes »Mensch« der Hörer
oder Leser nicht erkennen kann, ob das Wort im Sinne des We­
sensbegriffs oder des natursystematischen Begriffs verwendet
wird. Die bloße lexikalische Differenz ist dabei nicht das Ent­
scheidende, sondern dass der »Mensch« jeweils nur nach einer
seiner beiden fundamentalen Seinszugehörigkeiten verstanden
und dadurch in zwei völlig verschiedene Wissensebenen und
Methodologien eingeordnet wird: mit dem »Wesensbegriff«
wird der Mensch als Geistwesen in seiner Stellung zur Sphäre
der Wesenheiten erforscht, mit dem »natur­syste­matischen Be­
griff« als ein Naturwesen in seiner Stellung und Funktion in
der Natur – man kann dem Begriff »Mensch« nicht unmittelbar
entnehmen, in welchem methodologischen Kontext er gerade
diskutiert wird. Zwei nicht identifizierbare, sozusagen »hinter­
hältig« einseitige Aussagen über den Menschen stehen sich ge­
genüber, und in dieser verdeckten Zweideutigkeit mag Scheler
das Tückische gesehen haben, vor allem dann, wenn es um die
Einschätzung des Menschen als Menschen geht. Scheler scheint
davon auszugehen, dass das Tückische nur aufgedeckt und un­
schädlich gemacht werden kann, wenn der Mensch dualistisch
verstanden wird und beide Seinsbereiche in ihrem unaufheb­
baren Angewiesensein aufeinander verstanden werden. Die
philosophische Anthropologie hätte dann auch diese Art von
»Einheit« des Menschen (S. 7,25) zu rechtfertigen, nicht nur des

72 GW 3, S. 195.
Zur Einleitung *73

einen Teils des Mensch-Seins, auch nicht irgendeine Art von


weicher, »humanistischer« Einheitssynthese oder Auflösung
der dualistischen Grundstruktur, sondern durch den Aufweis
des spannungsvollen Verhältnisses zwischen den grundlegend
und ursprünglich verschiedenen Seinsbereichen. Scheler kann
deshalb nicht dabei stehen bleiben, den Geist als das eigentlich
den Menschen zum Menschen machende Prinzip aufzustel­
len, wie er es höchst missverständlich im zweiten Abschnitt tut
(S. 46,19 ff.), vielmehr muss er vom wechselseitigen Verhältnis
zwischen Geist- und Natur-Sein des Menschen als der Grund­
struktur der dualistischen Einheit und problematischen Ganz­
heit des Menschen ausgehen. Die Mikrokosmos-Idee, der zu­
folge nach Scheler der Mensch »alle Wesensstufen des Daseins
überhaupt, und insbesondere auch des Lebens, in sich« zusam­
menfasse, »wenigstens den Wesensregionen nach« (S. 18,3 – 5), er­
weist sich somit als die maßgebende Grundidee seiner Anthro­
pologie73 – jedenfalls für einen längeren Zeitraum, denn gegen
Ende seines Lebens korrigierte er sich: »Besser als ›der Mensch
ist Mikrokosmos‹ ist zu sagen: die Welt ist Makro-homo.«74 In
beiden Fällen nimmt die Anthropologie strukturell das gesamte
Problemfeld der Philosophie ein.
Die kaum zu übersehende Unbestimmtheit der methodolo­
gischen Klärung von Schelers eigener Position nimmt eine wei­
tere Dimension dadurch an, dass er seinen neuen Versuch »auf
breitester Grundlage« (S. 8,9) durchführen will. Damit kann
wiederum zweierlei gemeint sein: zum einen die methodisch
geklärten Erfahrungsbereiche der »wachsenden Vielheit der
Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäfti­
gen« (S. 7 f.), also die empirischen Erkenntnisse von Disziplinen
wie der Biologie, Zoologie, Psychologie, Medizin, aller Geistes-

73 Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt es: »In der


vom Altertum überkommenen, in der mittelalterlichen Gelehrsamkeit
allgemeinen und ausgebildeten Vorstellung ist der Mensch der Mikro­
kosmos, die Welt im Kleinen, in welchem sich die Art und Beschaffenheit
des Weltalls wiederholt: von den Elementen an« (a. a. O., Sp. 202,2).
74 B.I.2, S. 94.
*74 Wolfhart Henckmann · Einleitung

und Sozialwissenschaften usw., zum anderen die Erfahrungs­


grundlage eines erweiterten Begriffs menschlicher Erfahrung,
der außer der sinnlichen auch un- oder übersinnliche, religiöse,
moralische, ästhetische, metaphysische Erfahrungen usw. zur
Grundlage des »neuen Versuchs« macht. Schelers Ausführun­
gen zeigen, dass er hauptsächlich die Erfahrungsgrundlage ge­
meint hat, die durch die Erkenntnisse der fortgeschrittensten
Naturwissenschaften gewonnen worden ist, so dass sein »neuer
Versuch« dadurch Neuheit beansprucht, dass er den traditio­
nellen »natürlichen« Erfahrungshorizont der Philosophie über­
schreitet und sich auf den Boden der wissenschaftlich geklärten
Erfahrung vorzugsweise der Naturwissenschaften stellt. Da­
durch gerät die philosophische Anthropologie jedoch in Gefahr,
sich vom Erkenntnisstand der Einzelwissenschaften und ihrer
Fortschritte abhängig zu machen und dann überhaupt Schritt
halten zu müssen mit der Entwicklung der empirischen Wissen­
schaften; ganz abgesehen davon, dass die Anthropologie, ohne
Urteilskompetenz zu besitzen, also mehr oder weniger auf Treu
und Glauben sich an diejenigen Richtungen der empirischen
Wissenschaften anschließen müsste, die im Ruf stehen, die
fortgeschrittensten zu sein. Scheler wusste sehr wohl, dass das
Plädoyer für die »breiteste Grundlage« einschloss, die philoso­
phische Anthropologie »natursystematisch« und wissenschafts­
geschichtlich zu relativieren; es käme aber darauf an herauszu­
finden, auf welche Weise er dies durchgeführt hat. Jedenfalls
wurde die von den positiven Wissenschaften entwickelte Kritik
an ihren Errungenschaften, wie sie etwa in Karl Bühlers Buch
über Die Krise der Psychologie75 oder in Paul Alsbergs Auseinan­
dersetzung mit den »bisherigen Lösungen« des Menschheitsrät­
sels76 durchgeführt worden ist, zu einem regulären Bestandteil
von Schelers methodologischen Überlegungen.

75 Karl Bühler, Die Krise der Psychologie, Jena 1927.


76 Paul Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen
Lösung, Dresden 1922, Erster Teil: »Das Menschheitsproblem und seine
bisherigen Lösungen. Kritik und Weg«, S. 21 – 91.
Zur Einleitung *75

Der Gefahr des Relativismus und der Abhängigkeit von den


empirischen Wissenschaften begegnete Scheler dadurch, dass
er sich zwar die »gewaltigen Schätze des Einzelwissens, welche
die verschiedenen Wissenschaften vom Menschen erarbeitet ha­
ben« (S. 5,15 – 17), nutzbar machen wollte, aber nicht durch eine
unkritische, wissenschaftsgläubige Übernahme ihrer durch wel­
che Autoritäten auch immer beglaubigten Ergebnisse, sondern
erst aufgrund einer phänomenologischen Kritik der materialen
Grundbegriffe und der Problemstellungen dieser Wissenschaf­
ten. Wenn er alsdann die gewaltigen Schätze zu einem »natur­
systematischen Begriff« des Menschen zusammenzufassen
plante, dann kommt zur phänomenologischen Wissenschafts­
kritik im Einzelnen noch die Vereinheitlichung zu einem syste­
matischen Naturbegriff hinzu, den er dann natürlich als einen
phänomenologisch geklärten »Wesensbegriff« verstehen müss-
te. Im Gegensatz zur unaufhaltsam zunehmenden Spezialisie­
rung der positiven Wissenschaften, die nur jeweils methodolo­
gisch immer enger begrenzte Erfahrungsbereiche beherrschen,
integriert die Philosophie alles phänomenologisch geklärte Ein­
zelwissen zu einer in sich strukturierten Ganzheitsauffassung
der Natur. Ähnlich wie »Geist« allen geistigen Anschauungen,
Wertungen, Erkenntnissen zugrunde liegt und ihre einheitliche
Auffassung unter einer Idee ermöglicht, so liegt die Idee der
»Natur« allen empirischen Erfahrungen und Einzelerkenntnis­
sen der positiven Wissenschaften vom Menschen als integrie­
render Universalbegriff zugrunde.
Macht man sich diese Intention bewusst, so erkennt man,
dass sie sich von dem ersten methodologischen Ansatz bei
den drei Grundtypen des menschlichen Selbstverständnisses
stark unterscheidet – es sei denn, dass die deskriptive Weltan­
schauungslehre als diejenige Disziplin zu verstehen ist, die das
Wissen der »natürlichen Weltanschauung« vom Menschen in­
nerhalb der ihr immer schon zugehörigen kulturellen Umwelt
untersucht, damit auf dieser Grundlage die Transformation des
Wissens der natürlichen Weltanschauung in die Sphäre (natur-)
wissenschaftlicher Begriffe kritisch überprüft werden kann.
*76 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Dazu müsste jedoch das Verhältnis der Tatsachen der positiven


Wissenschaften zu den Tatsachen der natürlichen Weltanschau­
ung wenigstens methodologisch geklärt worden sein. Doch zu
dem Problem der Überführung des Wissens der natürlichen
Weltanschauung in das künstliche Wissen der positiven Wis­
senschaften hat sich Scheler in der Kosmos-Schrift nicht weiter
geäußert, und ob er überhaupt die beiden so unterschiedlichen
Ansätze der Einleitung auf einen zusammenhängenden Pro­
zess der Erkenntnisbildung bezogen haben wollte, ist ebenfalls
ungesichert. In der Disposition allerdings gehören beide in ein
und denselben Abschnitt: »I.2. Probleme und Methoden. Kritik
des Begriffes ›Mensch‹« (S. 144,4). Keiner dieser fünf Punkte der
Einleitung geht jedoch auf das Wissen der natürlichen Welt­
anschauung ein – eine auffallende Lücke in der Disposition zu
Schelers Philosophischer Anthropologie.
Will man noch etwas konkreter auf Schelers Methode ein­
gehen, dann folgt man am besten den einleitenden Worten sei­
ner Anthropologie-Vorlesung von 1925: »Die philosophische
Anthropologie hat ihre Fragen selbst in eigener Methodik zu
stellen. Sie ist ja gegenüber der naturwissenschaftlichen Anthro­
pologie (Lehrbuch von Martin 1924, Fischer und Schwalbe in
der Kultur der Gegenwart)77 auf viel umfassendere, in letzter
Linie eben – Stellung des Menschen im All überhaupt – [auf]
metaphysische Fragen eingestellt. Aber sie hat dabei soviel als
möglich von den ›gesichertsten‹ Resultaten auch der naturwis­
senschaftlichen Anthropologie, der Psychologie und Evolu­
tions­lehre, ferner der Ethnologie und Praehistorie zu lernen. Nur
das Gesicherte! Ungesichertes zu diskutieren, auf Folgen für die
philosophische Anthropologie zu betrachten. Nur so kann es zu

77 Rudolf Martin, Lehrbuch der Anthropologie in systematischer


Darstellung: mit besonderer Berücksichtigung der anthropologischen
Methoden; für Studierende, Ärzte und Forschungsreisende, Jena 1914;
Anthropologie, unter Leitung v. G. Schwalbe u. E. Fischer bearbei­
tet v. E. Fischer, R. F. Graebner, M. Hoernes, Th. Mollison, A. Ploetz,
G. Schwalbe, Leipzig/Berlin 1923 (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Ent­
wicklung und ihre Ziele, hrsg. v. Paul Hinneberg, 3. Teil, 5. Abteilung).
Zur Einleitung *77

einer Überwindung der vier Wahrheitenlehren über den Men­


schen kommen, die unsere gegenwärtige Bildung kennzeichnen.
Körper, Leib, Vitalseele, Geist.«78 Mit der vier Wahrheitenlehre
meint er offenbar, dass sich die Anthropologien dadurch von­
einander unterscheiden, dass sie jeweils nur einen der vier ge­
nannten Begriffe zum einzigen Grundbegriff ihrer anthropo­
logischen Forschungen erheben – eine ganz andere Einteilung
der Anthropologien als diejenige, mit der sich Scheler in der
Einleitung der Kosmos-Schrift auseinandersetzt.
Mit der Forderung nach einer »eigenen Methodik« grenzt
sich Scheler auch von denjenigen philosophischen Anthro­
pologien ab, die nur einen Anwendungsfall von bereits vor­
gegebenen Methoden darstellen (Scholastiken aller Art, Neu­
kantianismus, Neuhegelianismus usw.). Die philosophische
Anthropologie habe eben ihre Methoden an ihrem eigensten
Gegenstand zu entwickeln. Wenn Scheler die philosophische
Anthropologie aber in letzter Linie auf metaphysische Fragen
ausgerichtet sieht, wodurch er sie insgesamt zu einer Disziplin
der Metaphysik erklärt, so stellt sich zusätzlich die Frage, was sie
als philosophische Disziplin vor der letzten Linie sein solle – in
der Kosmos-Schrift wäre dies den Ausführungen vor dem sech­
sten Abschnitt zu entnehmen. In den ersten fünf Abschnitten
würde es um eine Anthropologie gehen, die die herrschende
Vier-Wahrheitenlehre kritisch zu korrigieren bzw. zu überwin­
den versucht. Sie müsste sich dabei auch mit den anthropologi­
schen Lehren der philosophischen Tradition auseinandersetzen,
vor allem aber mit den neuesten Ergebnissen der Natur- und der
Geschichtswissenschaften (Ethnologie und Prähistorie). Scheler
erwähnt hierbei mit keinem Wort die theologischen Wissen­
schaften (von den jüdischen und den christlichen Konfessionen
bis zum Islam), denen er in der Kritik der traditionellen Ideal­
typen noch einen eigenen Rang eingeräumt hatte – dies sollte
sich in der ersten Rezeptionsphase seiner Anthropologie als eine
offene Flanke erweisen.

78 GW 12, S. 21, korrigiert und ergänzt anhand Manuskript B.I.1, S. 28.


*78 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Während Scheler der Disposition zufolge den Aufbau seiner


Philosophischen Anthropologie mit einer Einleitung beginnen
wollte, die im Abschnitt I.2 eine Reflexion über »Probleme und
Methoden« und eine »Kritik des Begriffs ›Mensch‹« enthalten
sollte, beginnen die Notizen zur »Methode einer philosophi­
schen Anthropologie«79 mit der für die Phänomenologie cha­
rakteristischen Forderung nach Voraussetzungslosigkeit: »Es
darf keiner der Begriffe Ich, Seele, Bew[usstsein], Leib, Körper,
Wille, Vernunft« vorausgesetzt, sie müssen vielmehr alle aus der
»Seins-constitution des Menschen« hergeleitet werden – eine
Aufgabe, die er natürlich nicht in der Kosmos-Schrift, sondern
systematisch erst in der Philosophischen Anthropologie oder gar
erst in der Großen Anthropologie hätte durchführen können.
Oder kann man davon ausgehen, dass der Verwendung dieser
Begriffe in der Kosmos-Schrift bereits eine Herleitung aus der
Seins-Konstitution vorausgegangen ist? Scheler würde sicher­
lich mit einem Hinweis auf seine langjährigen Untersuchungen
mit Ja geantwortet haben. Es bleibt jedoch dabei, dass die vor-
metaphysische phänomenologische Anthropologie genau diese
Aufgabe zu erfüllen hätte: alle materialen Grundbegriffe, die zur
Bestimmung des Wesens des Menschen erforderlich sind, aus
der Seinskonstitution des Menschen herzuleiten. Dies versteht
Scheler als die zentrale Aufgabe der Phänomenologie, die er in
der Regel zwar grundsätzlich von der Metaphysik unterscheidet,
sie aber zugleich als unerlässliche Voraussetzung der Metaphy­
sik versteht. Da er die Phänomenologie im Sinne der Münche­
ner Phänomenologengruppe als »Wesensontologie« und damit
als Teildisziplin einer allgemeinen Ontologie interpretiert, ist
der Übergang von der Phänomenologie zur Metaphysik flie-
ßend.
Während in der Disposition eine »Gesch[ichte] der Ideen [des
Menschen] – besonders im Abendlande« vorgesehen war, ver­
mutlich aus der Sicht des »gebildeten Europäers«, spricht Sche­
ler in seinen Thesen zur »Methode einer philosophischen An­

79 B.I.2, S. 57 – 61.
Zur Einleitung *79

thropologie« von den »Antinomien in der ›Idee‹ des Menschen«


(Nr. 9), die er an der klassischen, jüdischen und evangelischen
sowie an der Zwei-Naturen-Lehre aufweisen wollte. Kurz dar­
auf bezieht er sich auf eine leicht geänderte Reihe von »Ideen«:
auf die negative, die klassische, naturalistische, jüdische und
christliche Idee80 – die Unsicherheit der Charakterisierung und
Wertung der »Ideen vom Menschen« wird zu einem methodo­
logischen Grundsatz verschärft, indem Scheler ganz im Sinne
Nietzsches die »Unwahrscheinlichkeit« hervorhebt, »dass der
Mensch je erkenne, was er ist«.81 Damit dies nicht im Sinne ei­
ner radikalen Skepsis verstanden wird, ist auf Schelers Grund­
satz hinzuweisen, dass sich das Selbstverständnis des Menschen
und mit ihm die philosophische Anthropologie dem wahren,
am schlechthin Absoluten bemessenen Begriff des Menschen
nur unendlich annähern, ihn aber nie erreichen kann. Die in­
tentionale Ausrichtung auf einen Begriff vom Wesen des Men­
schen, der mit dem Absoluten vereinbar ist, schließt einen
Relativismus aus, der sich an beliebigen endlichen Begriffen
orientiert.
In der Vorrede zu seiner Sammlung von Abhandlungen und
Aufsätzen (1915) hat Scheler sich unzweideutig zu einer »phäno­
menologischen Einstellung« bekannt, »vermöge der alle unsere
Welt- und Grundbegriffe auf ihre letzten und wesensmäßigen
Erlebnisgrundlagen zurückgeführt werden«.82 In diesem Sinne
beruht Schelers philosophische Anthropologie auf phänome­
nologischer Wesensschau, doch bleibt offen, was er eigentlich
unter den letzten und wesensmäßigen Erlebnisgrundlagen ver­
standen hat, und inwiefern diese Erlebnisgrundlagen als histo­
risch konstant oder als kulturgeschichtlich determiniert zu ver­
stehen sind. Da eine Methode immer auch die Nachprüfbarkeit
von Aussagen gewährleisten soll, würden Schelers Aussagen nur
im Nachvollzug der phänomenologischen Erlebnisgrundlagen

80 B.I.2, S. 58, Nr. 11.


81 B.I.2, S. 59, Nr. 19.
82 GW 3, S. 7.
*80 Wolfhart Henckmann · Einleitung

und den an ihnen durchgeführten Wesensanalysen überprüft


werden können. In der Kosmos-Schrift hat er sich auf die Mit­
teilung der Ergebnisse seiner Analysen beschränkt, aber nicht
die Wege gezeigt, auf denen er zu ihnen gelangt ist. Denn was er
im dritten Abschnitt über den Akt der Ideierung sagt (S. 65 ff.),
betrifft zwar die phänomenologische Einstellung, aber nicht die
durch sie ermöglichte Wesensanalyse.
Bei der Erforschung des Wesens des Menschen, der »zu viele
Enden« aufweist, um »einfach« erfasst werden zu können, 83
scheint es unmöglich zu sein, alle Enden zu einem »Einheits­
bewußtsein im Forschungsverfahren« zusammenzufassen. In
Schelers Kosmos-Schrift sind deshalb auch mindestens vier
verschiedene Forschungsverfahren zu unterscheiden: 1.) die
deskriptive Weltanschauungslehre zur Klärung der traditio­
nellen Vorurteile; 2.) die »empirischen«, positiv-wissenschaft­
lichen Verfahren, da Scheler seine Anthropologie auf »breite­
ster Grundlage« der wissenschaftlich gesicherten Ergebnisse
entwickeln will; 3.) die »phänomenologische« Wesensanalyse,
in der es um den Aufweis der »Konstitution des Wesens des
Menschen« und die dadurch ermöglichte Bestimmung der
materialen Grundbegriffe geht, und 4.) die »metaphysischen«
Verfahren, bei denen es um das Verhältnis des Menschen zum
Weltgrund geht. Alle vier Arten von Methoden stellen die phi­
losophische Anthropologie vor komplexe Probleme, die einer
Vereinheitlichung und Zusammenfassung der jeweils gewon­
nenen Erkenntnisse in Hinsicht auf die angestrebte »einheit­
liche Idee vom Menschen« (S. 7,28) große Schwierigkeiten ent­
gegenstellen. Die Philosophische Anthropologie hat sich nicht
nur generell mit der Methodenvielfalt der unterschiedlichen
Wissenschaften vom Menschen auseinanderzusetzen, sondern
sie muss darüber hinaus auch die Ergebnisse der verschiedenen
Forschungsverfahren miteinander vergleichen und verbinden,
um ein alle Unterschiede und Widersprüche aufhebendes Ge­
samtkonzept zu gewinnen. Mit anderen Worten – sie muss sich

83 GW 3, S. 175.
Zur Einleitung *81

weltanschauungskritisch mit der Geschichte und den Ideen der


Kulturen, wissenschafts- und erkenntniskritisch mit den For­
schungen der Naturwissenschaften, insbesondere der sog. Le­
benswissenschaften von der Bio-Chemie angefangen bis zur
Bio- und Zoologie der höchst-entwickelten Lebewesen, sowie
mit den Forschungen der Human- und Gesellschaftswissen­
schaften einschließlich der Geisteswissenschaften auseinander­
setzen, darüber hinaus mit den Anthropologien der philosophi­
schen Schulen und Traditionen und nicht zuletzt auch mit den
von Scheler vernachlässigten Lehren der theologischen Wis­
senschaften. Es ist kein Wunder, dass Schelers Notizen in der
Disposition noch kein einheitliches methodologisches Konzept
erkennen lassen, sondern eine Zusammenstellung verschiede­
ner, unter einige Hauptgesichtspunkte (S. 144 f., Nr. I–V) zusam­
mengefasster Aspekte darstellen. Sie erweist sich darin als ein
Abbild seiner damaligen Beurteilung der Diskussionslage und
der an inneren und äußeren »Enden« überreichen Komplexität
des anthropologischen Problemfeldes.
In die methodologische Problematik ist somit ein geschicht­
liches Moment eingegangen, das sich schließlich als das die
gesamte Philosophische Anthropologie Schelers bestimmende
Motiv erweisen wird. Es deutet sich zunächst nur erst in der kul­
turgeschichtlichen Reflexion auf die nacheinander in verschie­
denen Zeiten und Kulturen aufgetretenen Grundauffassungen
des Menschen von sich selbst an – methodologisch beruft sich
Scheler in der Anthropologie-Vorlesung von 1925 dabei auf die
»rationale und empirische Weltanschauungslehre«.84 Wie kom­
plex dieser Forschungsansatz ist, hat Scheler in seinem Aufsatz
über »Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungs­
setzung« (1922) erkennen lassen.85 Die Methodenfrage wächst
sich zwangsläufig zu einer Weltanschauungs- und Kulturkritik
aus, die auch über das, was man heute »Ideologiekritik« nennt,
weit hinausgeht, weil sich Scheler zufolge der radikal anset­

84 GW 12, S. 16.
85 GW 6, S. 13 – 26.
*82 Wolfhart Henckmann · Einleitung

zende Anthropologe aus dem gesamten Komplex von Kultur


und Menschheitsgeschichte herausstellen müsse, wenn er die­
sen Komplex von Grund auf erforschen will. Damit scheint er
die These von der Fundiertheit der Menschenauffassung in der
kulturkreishaft bedingten Weltanschauung aufzugeben: »Nur
indem man einmal mit allen Traditionen über diese Frage völlig
tabula rasa zu machen gewillt ist und in äußerster methodischer
Entfremdung und Verwunderung auf das Mensch genannte
Wesen blicken lernt, wird man wieder zu haltbaren Einsichten
gelangen können.«86 Doch dies ist gerade eine in der abendlän­
dischen Wissenschaftsgeschichte entwickelte Idee, auch wenn
durch sie diese Bedingtheit in Frage gestellt wird.

Zur Stellung der Anthropologie im System der Philosophie

Bei Scheler von einem »System der Philosophie« zu sprechen,


wird von den meisten Scheler-Forschern eher belächelt, denn
sie sehen ein auszeichnendes Merkmal seines Philosophierens
gerade darin, dass er sich jenseits allen »Systemzwangs« aus­
gewählten Sachproblemen zugewandt habe, 87 besonders den
fünf Grundproblemen Gott, Liebe, Person, Wert und Welt.88
Trotz der inneren Zusammenhänge zwischen diesen Ideen er­
geben sie kein schulgerechtes System, da sie das Problemfeld
der Philosophie nicht vollständig erfassen und nicht die logi­
schen Grund-Folgeverhältnisse zwischen und innerhalb der
Grundprobleme aufweisen. So hat Nicolai Hartmann letztlich
recht, dass Scheler kein »Systembildner«, sondern vor allem

86 GW 9, S. 120.
87 Vgl. meinen Aufsatz: Der Systemanspruch von Schelers Philoso­
phie, in: Phänomenologische Forschungen 28/29 (1994), S. 271 – 312.
88 Vgl. Parvis Emad, The Great Themes of Scheler, in: Philosophy To­
day 12 (1968), S. 4 – 12 (geht nur auf vier Themen ein, lässt »Welt« unbe­
rücksichtigt); M. S. Frings, Max Scheler: Drang und Geist, in: Grund­
probleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, hrsg.
v. Josef Speck, 2. erg. Aufl. Göttingen 1981, S. 9 f.
Zur Einleitung *83

ein »Problemdenker« gewesen sei.89 Doch die Differenz, die er


zwischen dem Systembildner und dem Problemdenker aufge­
wiesen hatte, verschwamm, als er hinzufügte, dass sich alles,
was Scheler angriff, unter seinen Händen sogleich systematisch
geformt habe; so wurde gerade dies zu seinem eigentlichen Pro-
blem.
Die Fünf-Probleme-Interpreten vernachlässigen jedoch, dass
sich Scheler nur gegen »geschlossene Systeme« etwa von der Art
Fichtes gewandt, sich selber aber für ein »offenes System der
Philosophie« und außerdem mehrfach gegen eine kontingente
»Bilderbuchphänomenologie« ausgesprochen hat.90 Sie überse­
hen auch, dass Scheler in den zwanziger Jahren einen Großteil
der von ihm bereits behandelten Probleme frei zu einer einheitli­
chen Gesamtkonzeption zusammenwachsen sah; sie misstrauen
seiner Selbstdeutung, wofür sie allerdings auch einigen Grund
haben. Doch die wachsende Selbstvereinheitlichung seiner phi­
losophischen Bemühungen hat Scheler mehrfach in Briefen an
Märit Furtwängler und in seinen Spätschriften zum Ausdruck
gebracht, so auch in der Vorrede zur Kosmos-Schrift (S. 3,13 – 15),
so dass man sich ernsthaft mit ihr auseinander zu setzen
hätte.
Man übersah aber vor allem, dass Scheler das sich in seinem
Philosophieren realisierende System zu einem Gegenstand re­
flexiver Klärung und Rechtfertigung gemacht hat. Er war sich
so sehr der systematischen Tendenz seiner Philosophie bewusst,
dass er sie theoretisch auf den Begriff zu bringen suchte.
In einem Heft, das auf das Jahr 1927 datiert wird (B.I.25, S. 1),
findet sich die folgende Skizze:

89 Nicolai Hartmann, Max Scheler †, in: Kleinere Schriften, Bd. 3,


Berlin 1958, S. 356.
90 Gegen die »Bilderbuchphänomenologie« besonders der Münche­
ner Phänomenologen wendet sich Scheler im Vorwort zum Formalis­
musbuch (GW 2, S. 10) und an anderen Stellen.
*84 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Stellung der Anthrop[ologie] im System d[er] Philos[ophie].

Prima philosophia (Wesensstruktur alles dessen, was ist).


Metascienzen Metaph[ysik] des Absoluten
(Met[aphysik] I. Art.[)] (II. Art.)

Metanthropologie.

Diesem Schema zufolge wäre zwischen der »Metanthropologie«


und der – hier nicht direkt angesprochenen – philosophischen
Anthropologie zu unterscheiden: diese untersucht den Wesens­
aufbau des Menschen, jene umreißt den systematischen Zu­
sammenhang der Metaprobleme der philosophischen Anthro­
pologie im Ganzen eines offenen, philosophischen Systems.
»Metanthropologie« würde dann nicht »metaphysische Anthro­
pologie« bedeuten, von der Scheler allerdings ebenfalls mehr­
fach, unter anderem in seiner Metaphysikvorlesung von 1923
gesprochen hat,91 sondern »Metaprobleme« oder »metaphysi­
sche Grundprobleme der philosophischen Anthropologie«. Die
Grundlage der Metanthropologie wäre eine generelle Lehre von
der »Wesensstruktur alles dessen was ist«, also eine systemati­
sche Sphärentheorie92 oder allgemeine Wesensontologie, in der
die »Natur der Gegenstandswelt und ihres Zusammenhangs«,
wie sie sich in der phänomenologischen Einstellung darbietet,
aufgedeckt wird. Auf der Grundlage dieser Gegenstandswelt
lassen sich die materialen Grundbegriffe der verschiedenen
Metaszienzen (der Grundlagentheorien bzw. der Regionalonto­
logien der Natur- und Geisteswissenschaften) ebenso wie die

91 Vgl. GW 11, S. 53.


92 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Il problema delle sfere in Scheler, in:
Discipline Filosofiche 20 (2010), H. 2, S. 27 – 78 (aus dem Deutschen übers.
v. Giuliana Mancuso).
Zur Einleitung *85

der »Metaphysik des Absoluten« klären. Auf der Grundlage


der Metaszienzen (Metaphysik I) und der Metaphysik des Ab­
soluten (Metaphysik II) mit ihren unterschiedlichen Grund­
begriffen stellt die »Metanthropologie« die Grundbegriffe der
philosophischen Anthropologie in dem ihr angemessenen we­
senhaften Zusammenhang dar, der durch die mikrokosmische
Grundstruktur des menschlichen Wesens vorgeprägt ist und
deshalb die Metaszienzen mit der Metaphysik des Absoluten
vermittelt.93 Die Metanthropologie hätte demzufolge die Auf­
gabe, zu untersuchen, in welchem Maße die Metaszienzen und
die Metaphysik des Absoluten an den Grundlagenproblemen
der philosophischen Anthropologie teilhaben und in welchem
Sinne die philosophische Anthropologie die Gegenstandswel­
ten der Metaphysik I und II zusammenfasst – dies würde nur
auf der Grundlage einer Auffassung des Wesens des Menschen
als Mikrokosmos möglich sein. So ließe sich die Metanthropo­
logie verstehen als die Theorie vom Wesen des Menschen als
Mikrokosmos. »Erst wenn dies geschehen ist, können die phi­
losophischen Disziplinen entwickelt und kann das Verhältnis
der Philosophie zu allen Arten nichtphilosophischer Erkennt­
nisart: 1) zur natürlichen Weltanschauung, 2) zur Wissenschaft,
3) zu Kunst, Religion, Mythos entwickelt werden.«94 Der Aus­
bau der Philosophischen Anthropologie ist also durchgehend be­
gleitet von erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen mit
unterschiedlichen Erkenntnisarten und Methoden, so dass bei
jeder anthropologischen Aussage zu untersuchen wäre, welcher
Reflexionsstufe und welcher materialen Region sie zuzuordnen
wäre. Mit Fragestellungen dieser Art hat sich die Scheler-For­
schung bislang erst wenig beschäftigt. Das liegt zweifellos auch
an Scheler selbst. Seine erkenntnistheoretischen Reflexionen
beschränken sich oft nur auf kurze, allgemein gehaltene Über­
93 Eine genauere Vorstellung von der Metanthropologie entwi­ckelt
Scheler in seinem Aufsatz über »Philosophische Weltanschauung« (1928),
eine seiner letzten Publikationen, die auch seine letzte Stellungnahme
zur Frage einer Metanthropologie darstellt. Vgl. GW 9, S. 83.
94 GW 5, S. 83.
*86 Wolfhart Henckmann · Einleitung

legungen, die an die unterschiedlichsten Materialien anknüp­


fen, so dass Karl Löwith von »leerlaufenden methodologischen
Erörterungen« sprechen konnte.95 Seine Kritik beruht auf einer
Auffassung, die von der Philosophie eine von einem einzigen
Prinzip abgeleitete und widerspruchslos durchgeführte Syste­
matik fordert. So etwas hat Scheler mit seiner Entscheidung für
das aristotelische Prinzip abgewiesen, wonach es von der Be­
schaffenheit eines Gegenstands abhänge, welche Methode man
zu seiner Erforschung zu entwickeln weiß. Gerade der Mensch
weist so viele Enden auf, dass er nicht von einem einzigen
Prinzip aus und mit einer einzigen Methode erforscht werden
kann.
Das oben angeführte Schema lässt sich auch in umgekehrter
Richtung lesen. Dann hätte die Metanthropologie die Aufgabe,
die Grundbegriffe der Metaszienzen und der Metaphysik des
Absoluten zu »entwerfen«, d. h. sie als Gegenstandsentwürfe aus
den Akten des Geistes hervorgehen zu lassen und diese Ent­
würfe schließlich zu einer Theorie möglicher Gegenständlich­
keiten zu verbinden. Geht man von Schelers Lehre von der We­
sensidentität des menschlichen und des göttlichen Geistes aus,
dann würde diese zweite, im wesentlichen heuristische Lesart
seinen systematischen Intentionen sicherlich mehr entsprechen.
Da Scheler aber weder die ausgeführten Teile seiner Philosophi-
schen Anthropologie noch die verschiedenen Dispositionen mit
seinen Ideen zur systematischen Stellung der Anthropologie
zum Entwurf eines offenen Systems der Philosophie verbunden
hat, muss es dem Leser überlassen bleiben, was er mit den über­
lieferten Materialien anfängt.
Unmittelbar unterhalb des angeführten Schemas hat Scheler
die Gliederung einer Vorlesung (vermutlich der letzten Anthro­
pologie-Vorlesung vom WS 1927/28) notiert:

95 Karl Löwith, Max Scheler und das Problem einer philosophischen


Anthropologie (1935), in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Klaus Stich­
weh, Stuttgart 1981, S. 220.
Zur Einleitung *87

Eint[eilung] der Vorles[ung]


Einl[eitung]: Problemlage in der Gegenwart.
1.) Constitutionsproblem
2.) Monopole.
3.) Ursprung d[es] Menschen
4.) Mögl[iche] Zuk[unft] d[es] M[enschen]
5.) Metaphysik des M[enschen].

Mit dem Konstitutionsproblem knüpft die Philosophische An-


thropologie an die Metanthropologie an, mit den Fragen nach
den Monopolen, dem Ursprung und der Zukunft des Menschen
würde sie sich mit den Ergebnissen der positiven Natur- und
Geisteswissenschaften auseinanderzusetzen haben, und in der
Metaphysik hätte sie die Stellung des Menschen zum Weltgrund
zu bestimmen. Für die Unterscheidung zwischen »Metanthro­
pologie« und »philosophischer Anthropologie« spräche, dass
Scheler in der Disposition (S. 144 f.) und in der Einteilung seiner
letzten Anthropologie-Vorlesung die Metanthropologie über­
haupt nicht erwähnt, sich also auf die philosophische Anthro­
pologie beschränkt, so dass auch die einzelnen Problemkreise
der Anthropologie-Vorlesung nicht mit metanthropologischen
Problemen verwechselt werden dürften. Die Disposition würde
sich zwanglos mit der oben angegebenen Folge der Vorlesungs­
abschnitte verbinden lassen: das Konstitutionsproblem mit
dem Teil II.A der Disposition, die Monopole mit dem Teil II.B,
der Ursprung des Menschen mit dem Teil III, die Zukunft des
Menschen mit dem Teil V, während der Teil IV in der Vorle­
sung nicht behandelt worden zu sein scheint und umgekehrt
die »Metaphysik des Menschen« in der Disposition nicht ver­
treten, sie also genau an dieser Stelle unvollständig geblieben
ist.
Der Gedankengang der Kosmos-Schrift und um einiges dif­
ferenzierter die Disposition lassen erkennen, dass sich Scheler in
seiner philosophischen Anthropologie sehr viel intensiver mit
den positiven Wissenschaften als mit den theologischen Dis­
ziplinen auseinandergesetzt hat – auch dies zweifellos ein Zei­
*88 Wolfhart Henckmann · Einleitung

chen seiner Abkehr von seiner theistischen Periode. In »Mensch


und Geschichte« hatte er ja behauptet, dass eine »religiöse An­
thropologie für eine autonome Philosophie und Wissenschaft
in jedem Sinne ganz bedeutungslos ist«,96 was er in den sehr
viel »offeneren«, toleranteren Notizen zur Methode einer phi­
losophischen Anthropologie allerdings wieder zurückgenom­
men hat. Die Absicht, alle Grundideen menschlichen Selbst­
verständnisses vom Standpunkt eines relativen Allmenschen
auszugleichen,97 ist auch nach Schelers anti-theistischer Wende
unerfüllt geblieben.
Blickt man abschließend auf die kurze Einleitung mit ihren
vielfältigen, teilweise nur angedeuteten, nirgends ausreichend
ausgeführten, in einem sehr weiten Sinn als »methodologisch«
und »erkenntniskritisch« verstandenen Ausführungen zurück,
so wird man wohl sagen müssen, dass sie sich nicht eigentlich
auf eine Einleitung in die Frage nach der Sonderstellung des
Menschen konzentriert haben, sondern eher einen Überblick
über eine Fülle von Ideen und Problemen präsentieren, mit de­
nen sich eine neue philosophische Anthropologie auseinander­
zusetzen hätte – man könnte also eher von einer Einleitung in
die Scheler vorschwebende Große Anthropologie sprechen. Aus
dieser Perspektive müsste dann auch die Frage des ideellen Zu­
sammenhangs der von Scheler ausgewählten »Hauptpunkte«
seiner philosophischen Anthropologie untersucht werden.

1. Stufenfolge des psychophysischen Seins (S. 11 – 44)

Der erste Hauptabschnitt ist der umfangreichste und bestorga­


nisierte der Kosmos-Schrift. Für die meisten philosophischen
Interpreten stellt er das Glanzstück des Vortrags dar.98 Er be­
96 GW 9, S. 124.
97 Vgl. hierzu insbesondere den Vortrag »Der Mensch im Weltalter
des Ausgleichs«, GW 9, S. 145 – 170.
98 So nennt z. B. Peter Wust, ein scharfer Kritiker von Schelers An­
thropologie, die Metaphysik vom Stufenbau des Seins zwar »sehr auf­
Stufenfolge des psychophysischen Seins *89

steche durch seine klare, ausgewogene Beschreibung und Ab­


grenzung der vier Stufen Gefühlsdrang – Instinkt – assoziatives
Gedächtnis – praktische Intelligenz sowie durch die überzeu­
gende Höherführung des Lebensdrangs von der untersten bis
zur höchsten Stufe der Lebensformen, die der Mensch nur noch
mit den höchst organisierten Tieren teilt, bevor er durch den
Geist seine singuläre Sonderstellung erreicht.
In der Disposition wird die Frage der »Stufenfolge des psycho­
physischen Seins« auf zwei Abschnitte verteilt (S. 144: II.A.2 – 3):
auf die »Phänomenologie des Lebens und ›Wesen des Anorgani­
schen‹« sowie auf den darauf folgenden Abschnitt »Die Pflanze,
das Tier, der Mensch in wesensphänomenologischer Betrach­
tung«. Diese beiden Abschnitte knüpfen an die Darstellung
der »Seinsweisen des Menschen und ihre Einheit« an, mit der
Schelers Lehre von der »Konstitution des Menschen« beginnt
(S. 144,14 – 21). Die Kosmos-Schrift übergeht allerdings diesen
die gesamte Anthropologie fundierenden Abschnitt. Hat Sche­
ler ihn einfach übersprungen, oder ist die gesamte Stufenfolge
des psychophysischen Seins als Darstellung der Wesenskonsti­
tution des Menschen zu verstehen? Dann würde die Konstitu­
tion des Wesens des Menschen aber nur den »homo naturalis«
betreffen, zu dem Scheler bereits in »Zur Idee des Menschen«
kritisch Stellung genommen hat,99 also die geistige Dimension
des Menschseins, die gesamte Dimension seiner »Monopole«
auslassen und die Anthropologie auf den Umkreis etwa von
Gehlens empirischer Anthropologie beschränken.
In der Vorlesung von 1925 beginnt Scheler nach der methodo­
logischen Einleitung sofort mit der »Wesensontologie des Men­
schen«, die er als das »Kernstück der philosophischen Sach-An­
thropologie« bezeichnet: »Aus welchen nicht mehr aufeinander
rückführbaren Grundarten und -formen des Seienden besteht
der Mensch und in welchen Wesensverhältnissen bestehen diese

schlussreich und tief«, akzeptiert sie aber nicht (Gesammelte Werke,


Bd. 7, S. 273 f.).
99 Vgl. GW 3, S. 190 ff.
*90 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Teile zueinander?«100 Es geht um die Art und Weise, in der der


Mensch durch die in seinem Wesensaufbau enthaltenen Grund­
arten des Seienden mit der Prima Philosophia vermittelt ist – ge­
nauer gesagt handelt es sich um metanthropologische Fragen.
»Probleme wie die von Leib und Seele, Geist und Seele, Körper
und Leib gehören hier hinein; […]. Aber sie enthält auch weit
mehr, z. B. was Körper, Lebewesen, Bewußtsein denn für eine
Art des Seins sei, worin das noetische Verhältnis des Menschen
zur Welt bestehe usw.«101 Obwohl die genannten Begriffe in der
Kosmos-Schrift eine grundlegende Rolle spielen, ist es jedoch
nicht die Frage nach den Seinsarten an sich, die die Kosmos-
Schrift stellt, auch nicht die Frage nach dem Wesensaufbau des
Menschen aus den Grundarten des Seins, wie es die Mikro­
kosmos-Idee vorgibt – »Der Mensch ist Mikrokosmos aller im
Weltall wesenden Wesenheiten, homo quod[ammodo] omnia
(Arist[oteles], Bruno, Leibniz, Goethe usw.)«102 –, sondern es
ist erst das in der Disposition unter II.A.3 angeführte Anliegen
(»Die Pflanze, das Tier, der Mensch in wesensphänomenologi­
scher Betrachtung«), das Scheler in der Kosmos-Schrift behan­
delt. Eine Beantwortung der beiden ersten Fragen zur Konsti­
tution des Menschen (II.A.1 – 2) muss demzufolge vorausgesetzt
werden. Dies bedeutet zweierlei: Dass erstens eine phänome­
nologische Klärung der Grundbegriffe in der Kosmos-Schrift
deshalb nicht anzutreffen ist, weil die Grundbegriffe als an­
dernorts geklärt gelten, und dass zweitens der gesamte erste
Abschnitt der Kosmos-Schrift nur als eine Teilantwort auf die
Frage nach dem ganzen Menschen, also nach seinem mikrokos­
mischen Aufbau zu verstehen ist. Die Teilantwort bezieht sich
auf seine Naturdimensionen, und auch dies nur zum Teil. Die
Natur­d imen­sionen müssten unter anderem durchgehend auf
den zweiten Teil seines Wesens, auf die Geistdimension bezogen
werden, wenn es wirklich um die Ganzheit des menschlichen

100 GW 12, S. 17, korrigiert nach B.I.1, S. 22.


101 Ebd., korrigiert nach B.I.1, S. 22.
102 GW 12, S. 17 f.; korrigiert nach B.I.1, S. 23.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *91

Wesens ginge – stattdessen scheint es in erster Linie darum zu


gehen, wie und wie weit der Wesensaufbau des Menschen in
den Wesensaufbau des Kosmos eingefügt ist. Dadurch ist das
gesamte Problemfeld der wechselseitigen Beziehungen zwischen
Natur und Geist in dem sozusagen seit Adam und Eva beste­
henden »lebendigen Geistwesen« Mensch zu kurz gekommen,
so dass sie hinter dem Dualismus von Schelers Menschenbegriff
fast verschwinden.
Methodologisch führt dies dazu, dass sich Scheler nur mit
denjenigen positiven Wissenschaften auseinandersetzt, die an
der Erforschung der vier Wesensstufen der biopsychischen
Welt beteiligt sind. Innerhalb dieser Grenzen könnte der erste
Abschnitt der Kosmos-Schrift als ein Lehrstück von Schelers
meta­szientistischer Forschung gelesen werden: Zunächst wird
die biopsychische Welt in die »Wesensstufen« eingeteilt, in de­
nen sie sich aufbaut, dann werden die materialen Grundbegriffe
der einzelnen Wesensstufen mit ihren Wesenszusammenhän­
gen in phänomenologischer Betrachtung und Analyse geklärt.
In der Einleitung hatte Scheler gesagt, dass er den »natursyste­
matischen« Begriffen der empirischen Wissenschaften die
phä­nomenologisch geklärten Wesensbegriffe entgegenstellen
werde. Der erste Abschnitt der Kosmos-Schrift hätte also zu
zeigen, wodurch sich eine phänomenologische von einer po­
sitiv-wissenschaftlichen empirischen Untersuchung nicht nur
unterscheidet, sondern auch als unwiderlegbar erweist. Scheler
hätte nachzuweisen, worin das fundierende Wesensmerkmal
der verschiedenen Regionen der Natur besteht und inwiefern sie
miteinander eine Stufenordnung bilden, die von den einfachs­
ten Lebensformen bis zum menschlichen Lebewesen aufsteigt.
Doch diese Aufgabe musste situationsbedingt im Hintergrund
bleiben. Denn erstens lässt sie sich in einem zeitlich begrenz­
ten Vortrag nicht bewältigen, der auch noch einem gemisch­
ten Publikum verständlich sein sollte, und zweitens gab es gar
keine allgemein anerkannte Auffassung davon, was unter »phä­
nomenologischer Wesensforschung« zu verstehen sei. Wie sich
in den später folgenden Bemerkungen zu Husserls Begriff der
*92 Wolfhart Henckmann · Einleitung

»phäno­menologischen Reduktion« zeigt, vertrat Scheler eine


von Husserl, dem Begründer der phänomenologischen Bewe­
gung abweichende Auffassung von Phänomenologie. Mit dieser
Auffassung wich Scheler nicht nur von Husserl, sondern auch
von anderen Phänomenologen ab, so dass er seinen selbst erwor­
benen Phänomenologiebegriff hätte rechtfertigen müssen – das
wäre endgültig über den Rahmen eines Vortrags vor Keyser­
lings Schule der Weisheit hinausgegangen. Scheler musste sich
also darauf beschränken, seine Auffassung von phänomenologi­
scher Wesensforschung nur in einzelnen charakteristischen Ge­
danken auf eine dem gebildeten Publikum verständliche Weise
mitzuteilen. Für den Leser der Kosmos-Schrift ergäbe sich
nichtsdestoweniger die Aufgabe, aus den verstreuten phäno­
menologischen Begriffen die hinter ihnen stehende Auffassung
von Schelers Phänomenologie der Lebewelt zu rekonstruieren
und auf seine Anthropologie zurückzuführen. Zwei grundsätz­
liche Schwierigkeiten müssten dabei geklärt werden. Erstens hat
Scheler die vier Wesensstufen nicht aus der – hier sowieso nicht
dargelegten – Wesenskonstitution des Menschen »abgeleitet«,
da die Phänomenologie ja deduktive Verfahrensweisen ablehnt,
sondern er hat sie im Sinne eines Stufenbaus einfach überein­
ander geschichtet. Zweitens hat Scheler die vier Wesensstufen
im Grunde gar nicht am Menschen aufgewiesen, sondern an
der organischen Natur überhaupt, so dass der Mensch mit be­
stimmten Eigenschaften einfach in die in Frage kommende We­
sensstufe der »Lebewelt« eingeordnet wurde, ohne dass die Par­
allele zwischen den Wesensstufen des Aufbaus der organischen
Natur und denjenigen des Aufbaus der Natur des Menschen
problematisiert worden wäre. Die Frage nach der Besonderheit
der menschlichen Natur gegenüber der organischen Natur über­
haupt stellt sich merkwürdiger Weise überhaupt nicht. Hierin
liegt die wohl grundlegendste Differenz zwischen Schelers phi­
losophischer Anthropologie und den zeitgenössischen Ansät­
zen einer existenzphilosophischen Anthropologie und ebenso
die Differenz zu einer differentiellen Psychologie, wie sie seit
der Jahrhundertwende paradigmatisch durch William Stern
Stufenfolge des psychophysischen Seins *93

entwickelt worden ist. Scheler fragt nicht danach, inwiefern der


Mensch gemäß seiner Wesenskonstitutionan den allgemein an­
erkannten »Stufen der Natur« teilhat, sondern er stellt umge­
kehrt fest, mit welchen Merkmalen die menschliche Natur am
Wesensaufbau der Lebewelt teilhat.

1.1 Zur Konstitution des Wesens des Menschen

Wir wissen bereits, dass Scheler in der Kosmos-Schrift die


grundlegende Problemschicht der Konstitution des Wesens
des Menschen übergangen hat. Er spricht nur ein einziges Mal
von »Konstitution« (S. 78,3), verwendet aber an einigen Stellen
das Wort »konstitutiv«, womit er im Gegensatz zu »gelegent­
lich« oder »zufällig« ein »wesensgesetzliches« Merkmal meint.
Mit der »menschlichen Konstitution« ist somit der in sich ge­
setzliche »Wesensaufbau« des Menschen gemeint. Er wird in
der Kosmos-Schrift in einigen wenigen »natürlichen« Aspek­
ten beiläufig angesprochen, während in der Disposition unter
dieser Frage nicht weniger als acht unterschiedliche Fragestel­
lungen zusammengefasst werden, die bis zur Charakterologie
und zu den Altersstadien des menschlichen Lebens reichen.
Einige von ihnen greift Scheler an verschiedenen Stellen auf,
aber die Kosmos-Schrift ist entgegen einem ersten Überblick
keine durchgehend nach phänomenologisch aufgewiesenen
Fundierungsgesetzen geordnete Schrift. Das »psychophysische
Problem« (II.A.6) wird zum Beispiel im Abschnitt V behandelt:
»Identität von Leib und Seele« (S. 84 ff.). Andere Fragestellungen
des Abschnitts II der Disposition wie die Phänomenologie des
Lebens, des Wesens des Anorganischen (II.A.2) oder die Trieb-
und Geistlehre (II.A.7) ziehen sich durch mehrere Abschnitte
der Kosmos-Schrift hindurch. Auch wenn man im Unterschied
zu Maria Scheler in der Disposition nicht bloß eine »lose Auf­
reihung der Probleme« sieht (S. 144,29 f.), sondern das Frag­
ment eines systematisierenden Entwurfs der Philosophischen
oder gar der Großen Anthropologie, so sind doch beide Texte,
*94 Wolfhart Henckmann · Einleitung

die Kosmos-Schrift und die Disposition, weit von einer über­


zeugenden Einordnung der verschiedenen Problemkreise unter
eine einheitliche Idee entfernt. Die acht Fragestellungen weiten
das Konstitutionsproblem überdies so sehr ins Empirische aus,
dass es den Charakter des Kernstücks der phänomenologischen
Sach-Anthropologie zu verlieren droht.
Der Disposition zufolge wollte Scheler das Thema der Stufen­
folge in »wesensphänomenologischer Betrachtung« behandeln,
wovon gelegentlich auftauchende phänomenologische Termini
wie die »objektiven wesensphänomenalen Eigenschaften der
Dinge« (S. 11,8 f.), »Urphänomen« (S. 16,5) oder »Wesenszusam­
menhang« (S. 62,13) Zeugnis ablegen; aufschlussreicher wären
hingegen spezifisch phänomenologische Analysen von Begrif­
fen und der Aufweis von Wesens- und Fundierungsverhältnis­
sen gewesen. Wir können aber davon ausgehen, dass Scheler im
ersten Abschnitt der Kosmos-Schrift einen Überblick über eine
Phänomenologie des organischen Seins geben wollte.
Während die Disposition die Phänomenologie des Lebens
mit der Frage nach dem Wesen des Anorganischen verbindet
(II.A.2), grenzt Scheler in der Kosmos-Schrift im ersten Absatz
(S. 12,14 ff.) die unterste Stufe des Psychischen, die Scheler als
die Stufe des »Gefühlsdrangs« bestimmt, scharf von der Welt
der anorganischen Körper ab. Obwohl dem Anorganischen in
Abweichung von der Disposition kein eigener Abschnitt gewid­
met wird, bleibt es dennoch gegenwärtig: Die Lebewelt bzw. die
Sphäre des Organischen und die Sphäre des Anorganischen bil­
den die beiden zusammengehörenden Teile von Schelers Na­
turphilosophie. Beide Teile müssen auch in der Natur des Men­
schen gegeben sein.
Im Laufe der Ausführungen gewinnt man jedoch den Ein­
druck, als verliere Scheler den Menschen aus dem Blick oder
als wolle er die prekäre Randexistenz, die der Mensch nicht
im Kosmos, sondern in der Natur einnimmt, vor Augen füh­
ren. Phänomenologie-methodologisch könnte das bedeuten,
dass man das Wesen des Menschen nicht zu Gesicht bekommt,
wenn man sich unmittelbar der menschlichen Existenz, etwa
Stufenfolge des psychophysischen Seins *95

im Sinne einer Hermeneutik des Daseins, sondern nur dann,


wenn man sich von vornherein dem in den Stufenbau der Le­
bewelt integrierten Mensch-Sein zuwendet, d. h. einer »Einheit«
des Mensch-Seins, die sich aufgrund ihrer mikrokosmischen
Struktur in die »Totalität« des gesamten Kosmos erstreckt. Da
aber die Einheit des Mensch-Seins nicht auf die Stellung des
Menschen in der Natur begrenzt werden kann, da der Mensch
auch noch in die Sphären hineinreicht, die durch seinen Geist
erschlossen sind, kann die wahre Einheit und Totalität des
Mensch-Seins nur durch ein Sein gewährt werden, in dem Na­
tur und Geist vollständig miteinander vermittelt sind – dieses
absolute Sein kommt nach christlich-abendländischer Tradition
nur Gott zu, so dass für Scheler nicht nur in seiner theistischen
Periode, sondern auch in seinen letzten Lebensjahren das We­
sen des Menschen nur im Verhältnis zu Gott bzw. zum Ens a
se, zum Absoluten konstituiert ist (S. 9,25 – 29) – was auch im­
mer er in dieser Periode unter »Gott« verstanden hat. Das Ver­
hältnis zwischen dem Mensch-Sein und dem Absoluten (Gott,
Ens a se, Weltgrund) ist das eigentliche Konstitutionsproblem
der philosophischen Anthropologie Schelers. Da Scheler in der
Kosmos-Schrift die Philosophie des Anorganischen weitgehend
übergangen, die Natursphäre also nur zum Teil berücksichtigt
hat, wird das Konstitutionsproblem nicht nur im Bereich des
»homo naturalis«, sondern später auch im Bereich des »homo
spiritualis« nur fragmentarisch behandelt; wir haben es mit ei­
nem Vortrag zu tun, der sich dem Systematischen nur von aus­
gewählten Positionen aus angenähert hat.
Inhaltlich stellt sich die Frage, warum Scheler die Stellung des
Menschen im Kosmos mit der Stufenfolge des psychophysischen
Seins beginnt und einen Teil dieses Problemkreises, nämlich
das der »Erfahrung näherliegende Problem der menschlichen
Natur« (S. 94,4 f.), auf den fünften Hauptabschnitt verschoben
hat – eine solche (Ein)Teilung verträgt sich schlecht mit einer
phänomenologischen Einstellung, der es um die Freilegung von
nicht weiter reduzierbaren Urphänomenen geht. Noch weniger
verträgt sich mit ihr, dass sich Scheler auf das »psychophysische
*96 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Sein« beschränkt, wo doch seine Auffassung des Menschen als


Mikrokosmos auch die Berücksichtigung der Stufe der anorga­
nischen Natur, des rein Körperlichen, der materia bruta (S. 74,11)
verlangt. Diese Lücke ist ihm bereits von Zeitgenossen wie
A. Pfänder oder Th. Haecker zum Vorwurf gemacht worden.103
D. v. Hildebrand oder Ingarden erklärten sogar, dass Scheler
überhaupt keine Naturphilosophie entwickelt habe.104 Dies trifft
jedoch nicht zu, ebenso wenig trifft es zu, dass er sich allein auf
die Biologie gestützt habe, wie man den methodologischen The­
sen der Einleitung und vielen physikalischen, psychologischen,
medizinischen, soziologischen Aussagen des Textes entnehmen
kann (sehr viel mehr jedoch dem Vortragsmanuskript selbst,
vgl. die Textanmerkungen im Anhang). Die Kosmos-Schrift
ist geradezu durchzogen von einer Theorie des anorganischen
Seins, in der sich Scheler mit den neuesten physikalischen Theo­
rien (Albert Einstein, Max Planck) auseinandersetzt; er hat sie
in der Kosmos-Schrift allerdings nicht als die erste Stufe des
Natur-Seins des Menschen herausgestellt, im Unterschied zur
Disposition, der zufolge sich das Konstitu­tionsproblem des Men­
schen auf das Ganze der »geist-vital-anor­ganischen Einheit« des
Menschen (S. 145,11 f.) erstreckt. Dem entspricht auch die vier-
stufige Auffassung des Menschen mit Körper-Leib-Seele-Geist
(S. 144,23). Vielleicht wollte Scheler die Stufe des Anorganischen
erst in seiner Großen Anthropologie ausarbeiten – oder aber in
das Organische aufgehen lassen, was aber nicht klar genug zum
Ausdruck kommt.
Zusätzliche Fragen ergeben sich, wenn man den ersten Ab­
schnitt der Kosmos-Schrift mit dem Vortragsmanuskript ver­
gleicht. Dort unterscheidet Scheler nicht vier, sondern sechs
nicht weiter ableitbare Wesenskreise des ganzen, unserer Erfah­
rung zugänglichen psychischen Universums.105 Auch hier hat
103 Vgl. unten die Notizen zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift.
104 Dietrich v. Hildebrand, Die Menschheit am Scheideweg, Regens­
burg o. J., S. 633; Roman Ingarden, Nachruf auf Max Scheler (1928), in:
Ingarden, Gesammelte Werke, Bd. 3, Tübingen 1999, S. 218 ff., hier: S. 222.
105 Vgl. B.I.17, S. 1.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *97

Scheler den Wesenskreis des Anorganischen übergangen, dann


aber außer den vier Wesenskreisen von Gefühlsdrang, Instinkt,
Assoziation und praktischer Intelligenz noch fünftens den Geist
hinzugenommen, den sechsten Wesenskreis allerdings nicht
mehr ausgeführt – hier hätte Scheler, in Erinnerung an das
Ewige im Menschen, den Glauben bzw. mit Luther gesprochen
die Gnade anzuführen gehabt, wenn nicht gar die Engel, die er
einst ebenso wie den Menschen als »endliche Vernunftwesen«
verstanden hat.106 Es ist, als ob Scheler sich mit dem so selbst­
sicher begonnenen Aufstieg am Ende der fünften Stufe plötzlich
vor einer Leere gesehen hat. Ein Vierteljahr nach Abbruch des
Vortragsmanuskripts bricht er in der Druckfassung die Stufen­
folge hinter der praktischen Intelligenz ab und beginnt mit dem
Wesenskreis des Geistes eine ganz andere Ordnung, durch die
der Geist nicht bloß dem psychophysischen Sein, sondern al­
lem Sein überhaupt entgegengesetzt wird. Diese einschneidende
Differenz zwischen Vortragsmanuskript und Kosmos-Schrift
lässt sich kaum anders erklären, als dass die theistische Auffas­
sung des Wesensaufbaus des Menschen mit ihren sechs Wesens­
kreisen noch bis in die Niederschrift des Vortragsmanuskripts
hineingereicht hat, dann aber Scheler nicht mehr hinreichend
überzeugte, so dass er den sechsten Wesenskreis nicht mehr wie
geplant ausarbeiten konnte. So zieht er aus der erschreckenden
Selbstkonfrontation die Konsequenz und ändert grundlegend
seine Auffassung vom Wesensaufbau des Menschen: der stetige
Aufbau bis zur sechsten Stufe zerfällt, und zwischen der Stufe
der Intelligenz und der des Geistes reißt eine tiefe Kluft auf. In
die Änderung nimmt er freilich nur die Leitideen auf, die er in
dem in katholischen Kreisen als skandalon empfundenen Vor­
trag über »Die Formen des Wissens und die Bildung« (1925)107
bereits angesprochen hatte. Die Auffassung des Menschen als
Mikrokosmos wurde durch Schelers Selbstkorrektur jedoch

106 Vgl. »Zur Idee des Menschen« (1913), S. 339; GW 3, S. 176.


107 M. Scheler, Die Formen des Wissens und die Bildung, Bonn 1925;
GW 9, S. 85 – 119.
*98 Wolfhart Henckmann · Einleitung

nicht außer Kraft gesetzt, sondern inhaltlich und strukturell


nur anders interpretiert.
Das Psychische ist in Schelers mikrokosmischer Betrachtung
nicht auf die Psyche des Menschen begrenzt, sondern erstreckt
sich, wie er mit Aristoteles, aber auch mit Hans Driesch, Henri
Bergson, Erich Becher behauptet, über das gesamte Reich des
Organischen. Eine solche Ausweitung des Begriffs des Psychi­
schen ist umstritten, in der Phänomenologie wird sie u. a. von
Pfänder und N. Hartmann abgelehnt, bei Pfänder unter ande­
rem deshalb, weil dadurch die Frage nach der Unsterblichkeit
der individuellen menschlichen Seele aufgehoben werde. Aber
die Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, zu
der sich Scheler in seiner theistischen Periode noch bekannt
hatte, ist inzwischen Opfer der Wende von 1922 geworden.108 In
der Großen Anthropologie hätte Scheler die Abwandlung seines
Begriffs des Psychischen sicherlich genauer erläutert. Es geht
ihm nicht um Fragen einer (pneumatischen) Psychologie, son­
dern um ontologische Fragen, um Fragen von »Seinsschichten«,
»Seinsarten« und »Seinsformen«, in die das sich aus all diesen
Stufen aufbauende Sein des Menschen eingefügt wird, d. h. um
den »gesamten Aufbau der biopsychischen Welt« (S. 11,3 – 4), in
dem die Unsterblichkeit der individuellen Seele keinen Platz
mehr findet.
Über den Gesamtbereich der Seinsformen des Psychischen
hat sich Scheler bereits 1908/09 in seiner Vorlesung über die Bio­
logie109 und 1922 über die Entwicklungsstufen der Seele110 geäu­
ßert; auch in seiner Vorlesung über »Leib und Seele« (SS 1926)
geht er auf die verschiedenen Entwicklungsstufen des organi­

108 Vgl. unten die Ausführungen zur »Unsterblichkeit« (S. 135 – 139).
109 GW 14, S. 257 – 361.
110 B.I.51 – 52; Abschrift CA.XIII.9, S. 1 – 48; teilweise veröffentlicht in
GW 12, S. 121 – 126, ein weiterer Teil in GW 15, S. 228 – 231. In dieser Vorle­
sung behandelt Scheler jedoch den Geist noch innerhalb eines Gesamt­
zusammenhanges, der von den primitivsten seelischen Eigenschaften bis
zu den höchsten Vorgängen und Akten des menschlichen Geistes reicht
(GW 12, S. 121).
Stufenfolge des psychophysischen Seins *99

schen Seins ein. Am Anfang der Kosmos-Schrift wendet er sich


nach einem kurzen Blick auf die »objektiven wesensphänome­
nalen Eigenschaften« des Organischen (S. 11,8 – 9), wie Selbstbe­
wegung, Selbstformung usw. (S. 11,10 – 12) relativ ausführlich den
einzelnen Stufen des psychophysischen Seins zu.
Anzahl und Bezeichnung der Entwicklungsstufen schwankt
allerdings in seinen Werken. In der Kosmos-Schrift unterschei­
det er die bereits erwähnten vier Stufen Gefühlsdrang, Instinkt,
assoziatives Gedächtnis und praktische Intelligenz – den Trie­
ben, die eine so wichtige Rolle in Schelers Anthropologie spie­
len werden, wird keine eigene Wesensstufe zuerkannt, vielleicht,
weil er sie nun vage der Stufe des »Gefühlsdrangs« eingeglie­
dert hat. Der Gefühlsdrang lässt sich der Sphäre pflanzlichen
Seins zuordnen, die drei anderen Stufen den verschiedenen
Entwicklungsstufen des tierischen Seins, wobei der Mensch
qua Mikrokosmosnatur (S. 139,13) an allen vier Stufen teilhat.
Dabei ist es für die Eigenart von Schelers Anthropologie be­
zeichnend, dass er, wie gesagt, nicht aus einer Schau des We­
sensaufbaus des Menschen die vier Stufen gewinnt, sondern
von einer Onto­logie des psychophysischen Seins ausgehend von
Stufe zu Stufe fortschreitend einige ausgewählte Eigenschaften
benennt, die sich auch im Wesensaufbau des Menschen aufwei­
sen lassen, bzw. »noch vorhanden« seien (S. 18,2). Diese ontolo­
gische Korrelierung von Natur und Mensch dient ihm zugleich
zur Verifikation der Mikrokosmos-Struktur des menschlichen
Wesens. Es geht Scheler also primär um den Aufweis des Stu­
fenbaus, der sich aus der »Einheit des Lebens im metaphysischen
Sinne« heraus entwickelt hat (S. 16,20). Für Scheler gibt es des­
halb auch keine spezifisch »menschliche« Natur, denn das spe­
zifisch Menschliche konstituiert sich ja erst durch den Geist.
Der menschliche Organismus ist etwas, das der Mensch von der
Natur »hat«, der der Mensch aber nicht »ist«.
Von den vier Entwicklungsstufen des Psychischen seien im
Folgenden nur zwei herausgegriffen, die für Schelers anthropo­
logische Konzeption von besonderem Interesse sind: die Stufe
des Gefühlsdrangs und die Stufe der praktischen Intelligenz,
*100 Wolfhart Henckmann · Einleitung

also der Anfang und das Ende der Stufen des psychophysischen
Seins. Die fundamentale Funktion der Mikrokosmos-Idee, die
über die Sphäre des Organischen hinausreicht, verlangt indes­
sen, auch die Stufe des anorganischen Seins kurz in Betracht zu
ziehen; die Kosmos-Schrift überspringt sie, wofür noch keine
Erklärung gefunden worden ist.
Doch was ist überhaupt unter einer »Stufe« zu verstehen?
Scheler hat sich in diesem Fall nicht um die Klärung von Äqui­
vokationen gekümmert, auch keine Begriffserläuterung, ge­
schweige denn eine Definition vorgelegt. Er hat aber erkennen
lassen, dass er mit einer »Stufe« eine grundlegende Wesenheit
und Wesensstruktur einer Sphäre von Seiendem meint, von der
eine Vielheit von in ihr fundierten, durch zusätzliche spezifi­
zierende Eigenschaften unterschiedene Arten von Seiendem be­
stimmt ist. Als grundlegende Wesenheit konstituiert eine Stufe
somit einheitlich und durch die ihr eigentümliche Gesetzlich­
keit, die sich auch auf die wesensgemäße Ausbildung der in ihr
fundierten Wesenheiten erstreckt, eine ganze Region von Seien­
dem. Wegen ihrer allgemeinen, durchgehenden Gesetzlichkeit
gibt es keinen allmählichen, evolutionären Übergang zwischen
der ihr gegebenenfalls vorhergehenden, tiefer liegenden Schicht,
ebenso wenig wie einen evolutionären Übergang zu einer höhe­
ren Stufe, wie ihn die empirische Forschung festzustellen sucht,
sondern nur ein sprunghaftes Auftauchen einer neuen Wesen­
heit und die daran anschließende progressive Ausgestaltung
ihrer noch unentwickelten potentiellen Eigenschaften. Solche
fundamentalen, im Sinne von Stufen verstandenen Wesenhei­
ten und Seinsschichten sind die vier Stufen von Gefühlsdrang,
Instinkt, Assoziation und Intelligenz. Für Scheler bilden sie eine
abgeschlossene Stufenfolge, weil die darauf folgende Stufe über­
haupt nicht mehr dem »Leben« entsprungen sein kann, sondern
durch die ganz andere Seinsart des Geistes konstituiert wird.
Die sprunghafte Konstituierung des in keiner Weise aus dem
universalen Leben ableitbaren Geistes bedeutet für Scheler, dass
sich über den Menschen hinaus keine weitere Stufe des Lebens
mehr bilden könne – der Mensch ist soviel wie eine »Sackgasse
Stufenfolge des psychophysischen Seins *101

der Natur«. Deshalb bildet die biopsychische Sphäre ein ge­


schlossenes System. Dadurch sind auch weitere Zwischenstufen
ausgeschlossen – was immer mit einem solchen Anspruch auf­
tritt, müsste sich nach genauerer Untersuchung entweder der
niedrigeren oder der höheren Stufe zuordnen lassen.
Der Begriff der Stufe legt die Vorstellung einer Höherent­
wicklung des Lebens vom Niedrigeren zum Höheren nahe. Das
ist eine tief in der abendländischen Kulturgeschichte verwur­
zelte Vorstellung, die in der christlichen Tradition darin gip­
felt, dass der Mensch die »Krone der Schöpfung« darstelle. Das
Manuskriptheft deutet eine davon abweichende Sichtweise an:
»Wenn wir jene Monopole des Menschen betrachten, die zusam­
men mit seiner Mikrokosmosnatur – seiner Anteilhabenschaft
an allen Wesensklassen und Gesetzesänderungen des Wirk­
lichen – seine ›Sonderstellung‹ ausmachen, so können wir im
Sinne steigender Vertiefung unserer Erkenntnis unterscheiden:
1.) Seine Werke und Leistungen 2.) die psychophysiol[ogischen]
Functionen, durch die er dieser Leistungen fähig wird 3.) Sei­
nen constitutionellen und geistigen Aufbau, deren äußeres Zei­
chen jene Functionen sind.«111 Mit der Umkehrung der Fun­
dierungsverhältnisse nach »innen«, die an einen Einfluss von
Hans André denken lässt,112 wird dem Geist der letzte Grund

111 B.I.17, S. 1.
112 Scheler hat sich eingehend mit der Theorie des katholischen
Biologen Hans André auseinandergesetzt, wie die Randbemerkungen
zeigen: Hans André, Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und
Mensch. Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas
von Aquins, Habelschwerdt o. J. (1925). (Ana 315.Z.120) Den drei Korre­
lationsstufen von Lebensform und Lebenssphäre von H. Plessner, Die
Einheit der Sinne (Bonn 1923), stellt André im Ausgang von Aristoteles
und Thomas drei »Emanationsstufen« des Lebens als Ausdruck von drei
»Verinnerlichungsstufen der Tätigkeit« entgegen: »Die Pflanze ist in der
Assimilation zwar aus sich heraus tätig, aber sie hat noch keine Inner­
lichkeit und deshalb auch noch sozusagen keinen Leib, den sie von innen
heraus beherrscht. Das Tier beherrscht von innen heraus triebhaft seinen
Leib, aber es hat noch sozusagen keine Gewalt über sich selbst, da es sich
nicht selbst sich gegenüberstellen kann. Es befindet sich also trotz in­
*102 Wolfhart Henckmann · Einleitung

unserer Welterkenntnis zugesprochen, ohne dass damit ein


transzendentalphilosophischer Ansatz verbunden wäre (wenn
Scheler später auch in Kants Lehre von der transzendentalen
Apperzeption eine mit seiner Geistlehre verwandte Konzep­
tion erkannt hat).113 Jedenfalls legen die einleitenden Worte
von B.I.17 eine ganz andere, eine »vertiefende«, den Stufen des
Geistes nach innen folgende Untersuchung der Sonderstellung
nahe, als Scheler sie in der »aufsteigenden«, den Stufen der bio­
psychischen Welt folgenden Linie der Kosmos-Schrift verfolgt
hat. Die »vertiefende« Sichtweise braucht nicht auf die ontolo­
gischen Fundierungsschichten der Wirklichkeit, sondern nur
auf die unterschiedlichen Stufen des Innenlebens einzugehen,
während bei der aufsteigenden Sichtweise die ontologische Fun­
dierung maßgebend wird. Das von Scheler in phänomenologi­
schen Untersuchungen stets beachtete Prinzip der Korrelation
von Akt und Gegenstand würde allerdings einen dritten Ansatz
verlangen, nämlich eine korrelative Betrachtung der Innen- und
der Außenseite des Lebens – vielleicht hätte er diesen Ansatz in
der Großen Anthropologie durchgeführt.

1.2 Zur Sphäre des Anorganischen

In früheren Schriften hat Scheler vier Seinsstufen im Aufbau


des Mensch-Seins unterschieden: Körper, Leib, Seele und Geist,
was er auch noch in der Disposition beibehalten hat. Die Stufe
des körperlichen Seins umfasst alle diejenigen Elemente, die der

stinktiver Beherrschung des Leibes noch in der ›Leibeigenschaft‹. Durch


das Selbstbewußtsein aber kann der Mensch sich selbst zum Objekt
machen, und ist dadurch über das biologische Leben erhaben.« (S. 23 f.)
Beide Konzeptionen sieht André in »vollkommener Übereinstimmung«
(Vorwort). Dies gilt weitgehend auch für Schelers Theorie der Lebens­
stufen.
113 Vgl. unten S. 61. Friedrich Kreis sah darin eine Annäherung des
späten Scheler an den Kritizismus; vgl. unten den Abschnitt zur ersten
Rezeption der Kosmos-Schrift.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *103

Sphäre der »leblosen Natur« angehören und von Wissenschaf­


ten wie der Physik oder Chemie erforscht werden. Sie bilden
einen wesentlichen Bestandteil der mikrokosmischen Natur
des Menschen – der Mensch ließe sich nie als Mikrokosmos, als
vollständiges, strukturidentisches Analogon des Makrokosmos
verstehen, wenn nicht die anorganischen Elemente als selbstän­
dige Seinsstufe im Sein des Menschen enthalten und somit der
Mensch als wesentlicher, wenn auch nur partieller Bestandteil
der physikalisch-chemischen Sphäre aufgefasst werden könnte.
Wie weit, wie differenziert und auf welche Weise sich die bio­
psychische Stufe des menschlichen Lebewesens in die Stufen des
universalen Lebensdrangs erstreckt bzw. auf welche Grenzen
sie stößt, hat Scheler nicht weiter untersucht, auch nicht um­
gekehrt, wie weit sich der universale Lebensdrang in den bio­
psychischen Aufbau des menschlichen Wesens erstreckt – hier
zeigen sich einige keineswegs unbedeutende Lücken der biolo­
gischen Fundierung seiner Anthropologie.
Scheler hat ein besonderes Verdienst Bergsons darin gesehen,
dass er das Phänomen des Lebens nicht mit den Erkenntnis­
mitteln der Wissenschaften von der toten Natur, sondern nur
mit Hilfe einer spezifischen Kategorienlehre der lebendigen Na­
tur erforschen wollte. Ebenso Scheler. Seine Aussagen über das
Anorganische gehören deshalb einer ganz anderen erkenntnis­
theoretischen Sphäre an als derjenigen, in der er über die Stel­
lung des Menschen in der organischen Welt spricht. Da aber die
Kosmos-Schrift nicht mehr nur von der Stellung des Menschen
in der Lebewelt, sondern im Universum handelt, musste Scheler
auch auf die erkenntnistheoretisch außerhalb der Lebenswis­
senschaften liegenden Problemdimensionen eingehen. Bei der
Lektüre der Kosmos-Schrift ist also zu beachten, dass der Hiatus
zwischen toter und lebendiger Natur mitten durch die Sphäre
des Lebendigen verläuft, als Hiatus aber nicht thematisiert, son­
dern durch den Mikrokosmos-Gedanken übergriffen wird.
Schelers sonderbarer Begriff des Körper-Bildes steht für eine
Auffassung der erfahrbaren Wirklichkeit des Anorganischen,
die wesentlich von Bergson und den modernen Naturwissen­
*104 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schaften bestimmt ist.114 Im Begriff des »Körper-Bildes« sind


zwei Dimensionen verbunden: Als »Bild« bedeutet es so viel wie
die »sinnliche Wahrnehmung von etwas als einer qualitativen,
gestalthaften Erscheinung«; mit »Körper« sind dagegen die das
Bild tragenden Kraftzentren und Kraftfelder gemeint, die auf
den Lebensdrang des wahrnehmenden Menschen einwirken
und ihm einen bestimmten Grad der »Wirklichkeit« des Bil­
des vermitteln. Die Kraftzentren sind »Zentren der gegenseitig
aufeinander wirkenden Kräfte-Punkte, in denen die Kraftlinien
eines [Kraft]Feldes zusammenlaufen« (S. 54 f.). Scheler bezieht
sich hierbei auf die moderne Quantenphysik und (psycholo­
gische) Gestalttheorie vor allem von Wolfgang Koehler.115 Er
fasst das Anorganische also wesentlich als ein Verhältnis auf, in
dem physikalische und andere Kräfte bzw. Energien miteinan­
der bestimmte gesetzliche Beziehungen eingegangen sind, aus
denen sich »Gestalten« aufbauen. Die Körper-Bilder unterschei­
den sich vom Organischen dadurch, dass dieses ein »Inne-Sein«,
eine Selbstbezüglichkeit aufweist, das den Körper-Bildern fehlt.
Die mikrokosmische Struktur des Mensch-Seins bezeugt, dass
das Anorganische und das Organische vielfältige Verbindun­
gen eingehen können. Warum dies zwischen wesensgesetzlich
voneinander unterschiedenen Sphären überhaupt möglich ist,
untersucht Scheler nicht weiter,116 es genügt ihm, auf die we­
senhaften Unterschiede der beiden Seins-Arten hinzuweisen.
Seine »Philosophie der Wahrnehmung« enthält hingegen eine
ausführliche Erörterung dieses Problemkreises – ein genauer
Vergleich zwischen der Körper-Bildlehre der »Philosophie der
Wahrnehmung« mit den verstreuten Äußerungen in der Kos­
mos-Schrift würde zeigen, in welchen Hinsichten sich bei Sche­

114 Vgl. hierzu insbesondere den Abschnitt »Leib und Seele«, GW 12,
S. 141 ff.
115 Wolfgang Koehler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im
sta­t io­nären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Braun­
schweig 1920.
116 Vgl. hierzu die kurzen Notizen zur »Abzweigung der organisier­
ten Bilder von den anorganischen Bildern«, in B.I.2, S. 91 – 92.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *105

ler ein öffentlicher Vortrag von einer wissenschaftlichen Erör­


terung unterscheidet.
In der Vorlesung über »Leib und Seele«117 geht Scheler von
der metaphysischen These aus, die auch der Kosmos-Schrift zu­
grunde liegt, dass sich der universale »Lebensdrang« bzw. das
»Allleben« in zwei Sphären teile: in die Sphäre des Anorgani­
schen und des Organischen, so dass ihre Unterscheidung auf
dem Grund eines einzigen Prinzips aufbaut – eine metaphysi­
sche These, die er im ersten Teil seiner unvollendet gebliebenen
Metaphysik genauer ausführen wollte, wo er dann auch die Ur­
sache dieser ursprünglichen Scheidung zu klären gehabt hätte.
Doch sind seine Ausführungen über das Allleben, aus dem das
Organische und Anorganische hervorgegangen sind, zu unvoll­
ständig geblieben, als dass an ihnen der Unterschied und der
Zusammenhang zwischen phänomenologischer Betrachtung
und metaphysischer Anschauung genauer bestimmt werden
könnte.

1.3 Gefühlsdrang (S. 12 – 19)

Wenn es um die Kennzeichnung der Sonderstellung des Men­


schen im Kosmos geht, bräuchte man dem Text zufolge offenbar
erst mit dem »Aufbau der biopsychischen Welt« zu beginnen
(S. 11,3 – 4). Dies widerspricht, wie gesagt, sowohl dem Titel der
Kosmos-Schrift als auch der Auffassung des Menschen als Mi­
krokosmos, der mit dem Aufbau des Makrokosmos »wesensi­
dentisch« sein soll (S. 18).
Im Verlauf der Ausführungen in der Kosmos-Schrift geht
Scheler wiederholt auf die Frage ein, inwiefern der Mensch als
Lebewesen an der Sphäre des Anorganischen teilhat bzw. auf
sie angewiesen ist. Um existieren zu können, muss die Pflanze
(jeder Organismus, einschließlich des Menschen) aus dem An­

117 Notizen zu dieser Vorlesung in B.I.55, S. 1 – 26c; mit mehreren Kür­


zungen und Fehllesungen veröffentlicht in GW 12, S. 133 – 150.
*106 Wolfhart Henckmann · Einleitung

organischen die Energien gewinnen, die für die Erhaltung und


Ausbildung ihrer spezifischen Lebensform erforderlich sind –
die Pflanze, das pflanzliche Leben überhaupt, sei in der Verar­
beitung anorganischen Materials der »größte Chemiker unter
den Lebewesen« (S. 15,24).118 Die Frage, wie das Anorganische
dem Organischen assimiliert werde, weist Scheler aus metho­
dologischen Gründen ab: für eine »phänomenologische« Un­
tersuchung sind nicht Fragen der Übergänge und der Evolution,
sondern nur die Eigenschaften einer »Wesensstufe« wichtig. Er
geht bis auf die einzelligen Lebensformen zurück, an denen sich
ein »Inne-sein«, ein Prinzip der Selbst-Formung und Selbst-
Bewegung beobachten lasse, wobei er sich auf die Ergebnisse
der modernen Biologie und Bio-Chemie stützt. Es war damals
wie heute jedoch noch keineswegs geklärt, wo genau die Grenze
zwischen dem Anorganischen und dem Organischen verläuft.
Fechner führte jede Art von Veränderung, Wandlung, Bewe­
gung auf ein Lebensprinzip zurück, weshalb er auch nach dem
Lebensprinzip des Entstehens und Vergehens von Sternen und
des gesamten Kosmos fragen konnte. Scheler hat sich davon
zwar distanziert (S. 12 f.), an anderen Stellen seiner Spätphilo­
sophie aber doch den gesamten Kosmos panvitalistisch als »Leib
Gottes« verstanden, so dass er alles Anorganische einem einzi­
gen großen Organismus einverleibte. Dem Prinzip des Mikro­
kosmos zufolge müsste dieses im weitesten Sinne aufgefasste
Organische in irgendeiner Form auch im menschlichen Orga­
nismus aufgewiesen werden können, denn die »erste Stufe der
Innenseite des Lebens, der Gefühlsdrang, ist auch im Menschen
noch vorhanden« (S. 18,1 – 2) – es fragt sich nur, in welcher Form,
doch auf die komplexe innere Struktur des Gefühlsdrangs geht
Scheler nicht hinreichend ein.
Stellt sich also mit dem Gefühlsdrang die Frage nach der
Grenze zwischen Organischem und Anorganischem bis hin zu
der kosmologischen Frage nach der Herkunft und dem Umfang

118 Ganz ähnlich drückt sich Hans André aus (Der Wesensunter­
schied a. a. O., S. 31).
Stufenfolge des psychophysischen Seins *107

des Lebensprinzips, so ist der Gefühlsdrang für Schelers An­


thropologie noch in dreierlei Hinsicht von besonderem Inter­
esse: erstens für die Frage der Entstehung der Trieb- und emo­
tionalen Sphäre des Menschen, zweitens für die Frage nach dem
Realitätserlebnis und drittens für die Frage nach der Sublimie­
rung von Lebensenergien, alles sozusagen »Hauptpunkte« von
Schelers Philosophie und Anthropologie.
1.) Im bewusstlosen, empfindungs- und vorstellungslosen Ge­
fühlsdrang seien »Gefühl« und »Drang« bzw. »Trieb« noch nicht
geschieden: Die offenbar sich bereits ankündigende Sphäre der
Gefühle beschränke sich auf eine »objektlose Lust« und ein
»objektloses Leiden«, und die Sphäre der Lebenstriebe diffe­
renziere sich noch nicht durch konkrete Richtungen und Ziele
(S. 12) – wie muss man sich dieses Differenzieren vorstellen, das
aus dem noch nicht durch eine Ausbildung eines Inneren im
Unterschied zu einem Äußeren bestimmten Lebensdrang her­
vorgeht? Wie verhalten sich Lebensdrang und Gefühlsdrang
zueinander? Diese Frage stellt sich hinsichtlich der ersten We­
sensstufe im Allgemeinen, aber in welcher Form ist der Gefühls­
drang im Menschen »auch noch« vorhanden? Falls der Gefühls­
drang die erste Wesensstufe des Psychischen sein soll, die sich
im Menschen nachweisen lässt, wie verhält es sich dann mit
der Manifestation des Lebensdrangs im Menschen? Schwingt
in den Triebstrukturen des Menschen noch der elementare
Drang-nach-etwas-hin oder -von-etwas-weg mit? Lassen sich
die menschlichen Triebstrukturen nur angemessen verstehen,
wenn man sie auf ihre ursprünglichen Erscheinungsformen zu­
rückführt? Was heißt »Gefühl« in Verbindung mit dem Drang
– nichts weiter als eine kaum näher spezifizierbare Lust oder
ein bedrückendes Leiden, die den Drang zeitweilig durchdrin­
gen? Auf der ersten Wesensstufe kann dieses »Gefühl« kaum
etwas anderes bedeuten als eine elementare Form eines inne­
ren anregenden oder abstoßenden Erlebnisses und den mit ihm
verbundenen Drang nach einer Reaktion, doch dann wäre »Ge­
fühlsdrang« eine ausgesprochen unglückliche Wortschöpfung.
Sie verdankt sich vermutlich dem Interesse, die auf höheren
*108 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Wesensstufen unterscheidbaren psychischen Erlebnisse auf ei­


nen rudimentären Gegebenheitsstatus zurückzuführen – Phä­
nomenologie als Strategie der Begriffsprägung. Was alles zur
Triebenergie gehört, wie sie sich aufbaut und entwickelt, wird
nicht gesagt, so wichtig all dies auch später für Schelers Aneig­
nung des Begriffs der Sublimierung geworden ist.
Scheler hat in Übereinstimmung mit der Tradition drei Ur­
triebsysteme des psychischen Organismus des Menschen unter­
schieden: den Fortpflanzungstrieb, den Ernährungs- und den
Machttrieb. Sind diese drei Triebsysteme wirklich nur durch
konkrete Richtungen und Ziele evolutionär aus dem ursprüng­
lichen Lebenstrieb hervorgegangen oder stellen sie eigengesetz­
liche »Stufen« dar, die möglicherweise erst nacheinander und
zwar in einer gesetzlich geregelten Reihenfolge entstanden sind?
Wie muss der Gefühlsdrang gedacht werden, dass aus ihm die
drei ursprünglichen Triebsysteme hervorgehen können – oder
hervorgehen müssen?
Ähnliche Fragen stellen sich beim Gefühl: Ist das Gefühl
ursprünglich nur die Empfindung des Zustands von Lust und
Leid, der die Regungen des Trieblebens begleitet? Durchdringen
diese beiden Zustände alle Arten von Gefühlen, so dass sich
die Gefühle nicht zu spezifischen Emotionsformen gleichsam
morphologisch mit den ihnen entsprechenden inneren Empfin­
dungen ausgestalten, sondern sich nur nach zufälligen Wahr­
nehmungs- und Erlebnisgehalten ausbilden, oder sind sie nur in
einem primitiven, noch nicht entwickelten Gefühlsleben nach­
weisbar? In seiner mittleren Periode fasste Scheler den Plan, alle
»Hauptstämme« des emotionalen Lebens bis in ihre speziellsten
Verästelungen hinein zu erforschen. Daraus ist als ein erster Teil
die Studie Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiege-
fühle und von Liebe und Hass (1913) hervorgegangen, die Scheler
zehn Jahre später in einer wesentlich erweiterten und veränder­
ten Fassung unter dem Titel Wesen und Formen der Sympathie
(1923) herausgab – die Lehre von der Sublimierung zeigt, dass
Scheler mit dem Sympathiebuch noch nicht das letzte Wort in
der Entwicklung seiner Theorie des emotionalen Lebens gespro­
Stufenfolge des psychophysischen Seins *109

chen hatte. Eine Ableitung der Hauptstämme des Gefühls aus


dem ursprünglichen Gefühlsdrang erfolgt nicht, ebenso wenig
eine Ableitung der mit der Entwicklung der Hauptstämme ein­
hergehenden Ableitung der ursprünglichen Haupttriebe, es gibt
nicht einmal eine Erläuterung, was unter einem »Hauptstamm«
zu verstehen ist und wieviele Hauptstämme des Gefühls und des
Trieblebens es eigentlich gibt – von solchen Nachweisen und
Unterscheidungen hängt die Möglichkeit einer systematischen
Theorie des emotionalen Lebens ab. Auch in der Kosmos-Schrift
ist Scheler auf solche Fragen nicht weiter eingegangen, das emo­
tionale Leben hat er auf keiner der Stufen des psychophysischen
Lebens mit der sprichwörtlichen Unterscheidungskunst eines
Phänomenologen analysiert, und auch in den verschiedenen
Dispositionen zur Philosophischen Anthropologie ist nirgends
eine eigenthematische Untersuchung des emotionalen Lebens
vorgesehen – unerklärliche Lücken, auch weil Scheler in der
Vorrede (S. 4) ausdrücklich auf seine Theorie der Gefühle im
Buch über Wesen und Formen der Sympathie hingewiesen hat.
Vielleicht genügte ihm dieser allerdings erst in der später ver­
fassten Vorrede hinzugefügte Hinweis, um das emotionale Le­
ben in die Anthropologie einzubinden. Aber das reicht nicht,
um die anthropologische Bedeutung des emotionalen Lebens
sichtbar zu machen, denn das Gefühlsleben entwickelt sich auf
jeder Stufe des psychophysischen Seins des Menschen zu beson­
deren Arten und womöglich sogar zu weiteren Hauptstämmen,
die alle auf irgendeine Weise miteinander verbunden sein und
motivierend und regulierend in das menschliche Leben eingrei­
fen müssen, aber was bedeutet das emotionale Leben überhaupt
für das Mensch-Sein und die Stellung des Menschen im Kos­
mos? Fritz Heinemann und viele andere haben ein besonderes
Verdienst Schelers darin gesehen, dass er die Psychologie der
Emotionen ins Zentrum der psychologischen Forschung ge­
rückt habe.119 Da Scheler dieses Gebiet in der Kosmos-Schrift
übergangen hat, kann die Kosmos-Schrift kaum mehr als re­

119 Fritz Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben –


*110 Wolfhart Henckmann · Einleitung

präsentativ für Schelers Anthropologie gelten. Da er in Wesen


und Formen der Sympathie noch nicht vom »Gefühlsdrang«
gesprochen hat, diese persönliche Wortprägung vielmehr erst
Mitte der zwanziger Jahre in seinen Schriften auftaucht, steht
der Leser vor der Frage, ob sich in den fünf Jahren, die zwischen
der zweiten Auflage des Sympathie-Buchs und dem Erscheinen
der Kosmos-Schrift verstrichen sind, die Gefühlslehre Schelers
verändert, vielleicht sogar in seine Trieblehre aufgelöst hat, was
in Hinsicht auf die fundamentale Rolle der Liebe und ihren
Stufen eine fatale Wirkung auf Schelers Philosophie ausgeübt
haben müsste. Deshalb muss ein Leser der Kosmos-Schrift den
nur noch selten auftauchenden Begriff der Liebe mit besonde­
rer Aufmerksamkeit studieren, denn es besteht die Möglichkeit,
dass die Kosmos-Schrift die berühmte Lehre vom »ordo amoris«
(ca. 1916) abgelöst und ersetzt hat.
2.) »Realität« konstituiert sich im Erlebnis des Widerstands,
den irgendetwas auf den Lebensdrang des Menschen ausübt.
Seiendes, das keinerlei Widerstand auf den Lebensdrang aus­
übt, ist »irreal«, von welcher Art von Irrealität auch immer. Da
sich der Lebensdrang im Menschen in alle Wesensstufen des
Lebens hinein entfaltet, muss man davon ausgehen, dass sich auf
allen Wesensstufen das Erlebnis des Widerstands zu je spezifi­
scher Form ausbildet. An den stufenbedingten Grundformen
des Widerstandserlebnisses würden sich je nach der Art und
dem Grad der Ausbildung einer Stufe bestimmte Modifikatio­
nen von Realitätsarten feststellen lassen. Auf die Frage einer
Differenzierung des Realitätsbegriffs ist Scheler aber weder in
der Kosmos-Schrift noch in seiner letzten großen Abhandlung
zum Realitätsproblem, dem ebenfalls Fragment gebliebenen
Aufsatz über »Idealismus – Realismus«, der gleichzeitig mit der
Kosmos-Schrift entstanden ist, näher eingegangen. Im Mittel­
punkt seiner Überlegungen stand stets die primäre Erlebnis­
form von Realität, das Erlebnis des unmittelbar mit den Sinnen

Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig


1929, S. 259.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *111

erlebten Widerstands gegen den – natürlich ebenfalls erleb­


ten – Lebensdrang, so dass das Widerstandserlebnis ursprüng­
lich als eine bipolare Erlebnisform zu verstehen ist. Da sich der
Gefühlsdrang aber in den beiden rudimentären Formen einer
objektlosen Lust und eines objektlosen Leidens äußert, Scheler
aber nur das objektlose Leiden als Indikator der Realität von
etwas Gegebenem ansieht, stellt sich die Frage, ob sich in der
objektlosen Lebenslust nicht ebenfalls »Realität« bekunde. So
wie Scheler das leidvolle Realitätserlebnis durch die verschie­
denen Stufen des Lebensdrangs verfolgt hat, müsste er es auch
beim lustvollen Realitätserlebnis tun – erst dann ließe sich von
einer in ihren Grundzügen vollständigen anthropologischen
Begründung und Ausführung der Realitätstheorie sprechen. In
diesem Zusammenhang wiederholt sich das Schopenhauer-Pro­
blem – die Verdrängung jeder Form von optimistischer, lebens­
bejahender Weltanschauung durch einen universalen Pessi-
mismus.
3.) Später, am Ende des dritten Abschnitts, behauptet Scheler
überraschend, dass der Mensch »seine Triebenergie zu geisti­
ger Tätigkeit sublimieren« könne (S. 72,12 – 13). Das scheint auf
eine Überwindung des Dualismus von Lebensdrang und Geist
hinauszulaufen. Doch wie soll man sich nach Schelers Prämis­
sen eine solche Sublimierung vorstellen? Oder liegt nur eine
Anspielung auf die These vom Anfang des ersten Abschnitts
vor, wonach der Gefühlsdrang der Dampf sei, der »bis in die
lichtesten Höhen geistiger Tätigkeiten alles treibt, auch noch
den reinsten Denkakten und zartesten Akten lichter Güte die
Tätigkeits­energie liefert« (S. 22,4 – 7)? Dort schien es, als ob der
Gefühlsdrang durch alle Tätigkeitsformen und Verhaltenswei­
sen hindurch ein und dieselbe Lebensenergie bliebe, so dass er
keiner besonderen Sublimierung bedürfe. Nun aber scheint der
über das Anorganische hinaus bereits zum Gefühlsdrang subli­
mierte Lebensdrang erst noch in die Triebenergie des Menschen
sublimiert werden zu müssen, damit es überhaupt zu einer noch
so einfachen, rudimentären geistigen Tätigkeit kommen kann.
Kann aber die Triebenergie im Bereich des Psychischen ein und
*112 Wolfhart Henckmann · Einleitung

dieselbe bleiben, wenn sie in geistige Tätigkeit transformiert


wird, oder nimmt sie in ihrer Assimilation an geistiges Verhal­
ten und Handeln eine nur modifizierte oder aber eine ganz an­
dere Seinsart an, so dass der Leben/Geist-Dualismus entweder
überwunden oder aber bekräftigt wird?
Ein weiteres Problem besteht darin, was eigentlich das »Kön­
nen« bedeutet, wenn Scheler schreibt, dass der Mensch seine
Triebenergie zu geistiger Tätigkeit sublimieren »könne«. Beruht
dieses Können auf der dualen Struktur des menschlichen Seins,
die ohne bewusstes Handeln den Sublimationsvorgang voll­
zieht, also als ursprüngliches biopsychisches Ganzes eine Art
von chemischem Sublimationsprozess ausführt? Oder findet die
Sublimierung nur dann statt, wenn sie vom Menschen absicht­
lich vollzogen wird? So dass es keine Sublimierung gäbe, wenn
sich der Mensch seiner geistigen Potentiale nicht absichtlich be­
diente, und es keine geistige Tätigkeit gäbe, wenn der Mensch
nicht die erforderliche Sublimierung durchgeführt hätte? Oder
haben wir es nur mit einer zirkulären Bestimmung zu tun, dass
das Können nur durch eine sublimierte Tätigkeitsenergie zu­
stande käme, die es allererst selbst durch Sublimierung zu er­
zeugen hätte?
Diese Fragen lassen sich nicht beantworten, wenn man
sich allein auf die Kosmos-Schrift stützt. Die Sachregister der
zu Schelers Lebzeiten erschienenen Schriften führen erst im
9. Band der Gesammelten Werke den Begriff der Sublimierung
an.120 Der offenbar als Ergänzung der Kosmos-Schrift (vermut­
lich zu S. 88,20 – 89,10) gedachte, aber von Maria Scheler nicht
veröffentlichte Text über »Sublimirung« (S. 146 – 149) zeigt, dass
Scheler dabei war, den gesamten Prozess der Vermittlung zwi-

120 Mit neun Stellennachweisen in der Kosmos-Schrift und in »Welt­


alter des Ausgleichs«. In den Registern der Nachlass-Bände taucht der
Begriff mit drei Stellennachweisen nur noch in GW 10 (»Vorbilder und
Führer« und »Ordo amoris«) auf, bei Karsten Worm, Max Scheler im
Kontext, werden hingegen 56 Stellen nachgewiesen (vor allem seit Wesen
und Formen der Sympathie).
Stufenfolge des psychophysischen Seins *113

schen Leben und Geist als einen durch die Menschheit, ja durch
den gesamten Kosmos hindurchgehenden, letztlich im Gottwer­
dungsprozess angelegten und ausgetragenen ontologischen Vor­
gang zu interpretieren. Dem ergänzenden Text zufolge wird die
gesamte Kosmos-Schrift vom transzendenten Prinzip des Welt­
grundes metaphysisch durchdrungen. Der Sublimierungspro­
zess wird zum dynamischen Zentrum der Mikrokosmosstruk­
tur des Menschseins und macht aus Schelers philosophischer
Anthropologie eine spezifische Art von metaphysischer Anthro­
pologie und Ontogenese. Das in den Notizen zur »Sublimirung«
skizzierte Forschungsprojekt konnte Scheler nicht mehr ausfüh­
ren – nichts zeigt deutlicher den Fragmentcharakter von Sche­
lers philosophischer Anthropologie als der unterentwickelte
Stand des Sublimierungsproblems, man muss wohl sagen: die
Ungelöstheit dieses erst spät erkannten Fundamentalproblems.
Gäbe es nach Schelers Auffassung einen Sublimierungsprozess
schon vom allerersten Augenblick der Menschwerdung an, ja
schon vom Beginn der creatio continua (S. 122,14) der Gottwer­
dung im Weltprozess an, dann löst sich die von Scheler so pro­
vokant vorgetragene These von der konstitutiven »Ohnmacht
des Geistes« (S. 73,13 ff.) in nichts auf, denn schon lange bevor
sich der Mensch als Mensch begreifen lernte, waren ontologi­
sche Sublimierungsprozesse abgelaufen, die dem Menschen die
Möglichkeit gaben, geistig tätig zu werden.

1.4 Praktische Intelligenz (S. 38 – 44)

Wie bei seinen vorangegangenen Erläuterungen weist Scheler


auch bei der praktischen Intelligenz darauf hin, dass sie eine
Wesensstufe des Organischen sei. Sie manifestiere sich erst in
den höheren Tieren, in ihrer ausgebildetsten Form sogar erst
im Menschen, der ihrer zur Befriedigung seiner unmittelbaren
oder mittelbaren Lebensbedürfnisse bedarf. Die einprägsame
These, dass zwischen einem klugen Schimpansen und Edison,
als Techniker verstanden, nur ein – wenn auch sehr großer –
*114 Wolfhart Henckmann · Einleitung

gradueller Unterschied bestehe (S. 46,21 – 23),121 ist seinerzeit zu


einem geflügelten Wort geworden. In welchem Maße und auf
welche Weise aber das Menschsein bis heute durch die prak­
tische Intelligenz im Alltag und sozialen Leben bestimmt ist
und was alles dieser vor-geistigen Seinsstufe zuzuordnen wäre,
ist wiederum viel zu wenig entwickelt worden – ein Stück un­
bebauten Brachlandes, auf dem die gesamte Arbeitswelt, die
Welt der Zivilisation, der Technik, Wirtschaft und Politik hätte
aufgebaut werden können, ja müssen. Da dies nicht erfolgt ist,
wurde der gesamte Bereich der praktischen Intelligenz des Men­
schen der untermenschlichen Sphäre anheim gegeben. Ebenso
bleibt die philosophische Frage, wie die praktische Intelligenz
mit dem Geist überhaupt zusammenwirken kann, da Intelligenz
und Geist entgegengesetzten Sphären angehören, unbeantwor­
tet, ja ungestellt. Da hatte es Keyserling auf der Darmstädter
Tagung leicht, in die von Scheler offen gelassene Sphäre seine
Auffassung vom »erdbeherrschenden Geist« einzusetzen122 und
Schelers exzentrische Lehre vom weltenthobenen Geist buch­
stäblich zu entkräften – in einem ganz anderen Sinne als Scheler
in seiner Lehre von der Kraftlosigkeit des Geistes.
Schelers Unterscheidung zwischen Intelligenz und Geist ist
aus der abendländischen Tradition der Unterscheidung zwi­
schen Verstand und Vernunft zu verstehen, die im deutschen
Idealismus eine wichtige Rolle gespielt hat, von Scheler aber bis
auf den Begriff des νοῦς ποιητικός des Aristoteles zurückge­
führt wird. Schelers Unterscheidung wird deshalb von neuzeitli­
chen Anthropologen meist unter das Verdikt »alte Metaphysik«
gestellt, umso mehr dann, wenn sie dazu dient, die Menschen in
zwei Gruppen zu teilen: in diejenigen, die sich durch die Domi­
nanz der praktischen Intelligenz zu einem – allerdings hochent­
wickelten – Glied der Tierwelt, zu einem Herdentier herabstu­

121 Der Sache nach bereits in »Zur Idee des Menschen« angesprochen
(GW 3, S. 190).
122 Hermann Keyserling, Der erdbeherrschende Geist, in: Mensch
und Erde, a. a. O., S. 255 – 276.
Stufenfolge des psychophysischen Seins *115

fen, oder etwas zivilisierter ausgedrückt, sich der Gesellschaft


des »homo faber« (S. 45,20) eingliedern, und in diejenigen, die
durch den Vollzug geistiger Akte sich überhaupt erst zum Men­
schen bilden und die geistige Elite, die eigentliche Kulturwelt
ausmachen. Jene Gruppe kommt durch ihren triebhaft gesteu­
erten Verstandesgebrauch wie die höheren Tiere nicht über die
engstirnige Umweltgebundenheit hinaus, der Gruppe der geisti­
gen Elite öffnet sich dagegen die freie, offene Welt des Geistes.
Wenn Scheler von praktischer und technischer Intelligenz
spricht, also die gesamte Welt der Wirtschaft, Politik, Technik
auf den Horizont der »Umweltgebundenheit« festlegt, dagegen
der »offenen Welt« die Kulturleistungen und die Religionen zu­
spricht, stellt sich auch die Frage nach der Rangordnung der
sog. »höheren Erkenntnisformen« und der ihnen korrelieren­
den »Welten« oder »Umwelten«. Scheler ist in mehreren sei­
ner Schriften auf die »obersten Wissensarten« eingegangen,
meist in knappen Bemerkungen, am ausführlichsten in der
Wissenssoziologie,123 doch die soziologische Bedingtheit aller
Wissensarten, auch der beiden höchsten des philosophischen
Bildungs- und des religiösen Heilswissens, hat er nirgends sy­
stematisch ausgearbeitet,124 sich vielmehr darauf beschränkt,
die Ansatzpunkte und einige Richtlinien einer systematischen
Untersuchung anzugeben. Eine konsequente Durchführung der
systematisierungsfähigen Ansätze wäre wohl nur möglich gewe­
sen, wenn sich der »Geist« der pragmatisch denkenden, schluss­
folgernden »Intelligenz« bedient hätte – was aber in Schelers
Augen wohl nur die Gefahr mit sich gebracht hätte, dass der
Geist sich selber zur Intelligenz herabgestuft hätte.

123 M. Scheler, Die Formen des Wissens und die Gesellschaft, GW 8,


bes. S. 60 – 69; vgl. auch: Die Formen des Wissens und die Bildung (1925),
GW 9, S. 85 – 119, bes. 114 ff.
124 Vgl. aber die kurzen Ausführungen zur »Soziologie der Religion«
(GW 8, S. 69 – 84) und zur »Soziologie der Metaphysik« (GW 8, S. 85 – 91).
*116 Wolfhart Henckmann · Einleitung

2. Wesensunterschied von Mensch und Tier (S. 45 – 63)

In Schelers Dispositionen zur Philosophischen Anthropologie


wird der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier nir­
gends so scharf herausgestellt wie in der Kosmos-Schrift. In
der Disposition ist der Wesensunterschied sogar noch in die
»Stufenlehre« eingeebnet, ohne dass diese mit der Feststellung
des tiefreichenden Wesensunterschieds zwischen Mensch und
Tier abbräche und erst mit einem neuen Kapitel weitergeführt
würde. In einer Disposition von ca. 1924/25 werden Geist- und
Trieblehre in je eigenen Kapiteln behandelt,125 wie es dem dua­
listischen Menschenbild Schelers auch entspräche; anschlie­
ßend sollten die sogenannten Monopole des Menschen erörtert
werden, wobei erst hier das Verhältnis zwischen Mensch und
Tier zur Sprache kommen sollte. In einem Heft zur »Konsti­
tution des Menschen« von 1925 war hingegen unmittelbar im
Anschluss an die methodologische Einleitung die Erörterung
der »Entwicklungsstufen der Seele und die Geburt des Geistes«
vorgesehen, dann die »Theorien vom Aufbau des Menschen und
Psychophysisches«126 sowie »Tod und Altern« und erst dann
»Trieblehre und Geistlehre«127 – nirgends also eine so scharfe
Entgegensetzung zwischen Leben und Geist wie in der Kosmos-
Schrift, obwohl Scheler noch ausdrücklich darauf aufmerksam
macht, dass sich die Trennung von Geist und Leben bereits in
seiner Habilitationsschrift (1900) finde (S. 111,23 ff.). Da die Dis­
positionen zeigen, dass Schelers Philosophische Anthropologie in
den zwanziger Jahren noch keine überzeugende innere Organi­
sation gefunden hatte, lässt sich vermuten, dass er auch mit der
scharfen Entgegensetzung von Leben und Geist noch nicht die

125 Notizbuch B.II.50, S. 11.


126 Der Titel ähnelt dem nachgelassenen Manuskript Schelers: Das
Problem der Struktur des Menschen und die sog. ›psychophysischen
Theorien‹, in: Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler
und Helmuth Plessner im Vergleich, hrsg. v. Ralf Becker, Joachim Fischer
und Matthias Schloßberger, Berlin 2010, S. 255 – 283.
127 B.I.8, S. 20.
Wesensunterschied von Mensch und Tier *117

Lösung des Problems gefunden hat. Doch ebenso gut ließe sich
annehmen, dass die Kosmos-Schrift gegenüber den Dispositio­
nen ein fortgeschritteneres Erkenntnisstadium repräsentiert,
da sie den Wesensunterschied zwischen Leben und Geist nicht
mehr durch eine Stufenfolge der »natürlichen Lebensevolution«
(S. 47,1) überbrückt, sondern den Wesensunterschied als meta­
physisches Problem erkennt; nicht umsonst spricht Scheler im
zweiten Abschnitt die »Metaphysik des Menschen« an (S. 46,1).
Demzufolge befände sich Schelers philosophische Anthropo­
logie in einem Prozess zunehmender »Metaphysizierung«. Ob
die genetische oder die metaphysische Lesart den Intentionen
Schelers mehr entspricht, kann jedoch nicht ohne Vorbehalte
behauptet werden; Scheler scheint eine solche Alternative sogar
abzulehnen (S. 46,3 f.). Doch das hängt davon ab, wie man sei­
nen in der Kosmos-Schrift mit großer Geste aufgestellten Geist-
Begriff interpretiert und mit seinen sehr viel differenzierteren
Analysen aus dem Formalismusbuch in Einklang zu bringen
vermag.
Bei den Ausführungen des zweiten Abschnitts muss man
die Unterscheidung zwischen dem griechischen Vernunftbe­
griff (also der »klassischen Theorie« des Menschen) und dem
»umfassenderen Wort« (S. 47,6) des Geistes stets gegenwärtig
haben. Scheler nimmt zwar den Vernunftbegriff der Griechen
als »Ideen­denken« in seinen Geistbegriff auf, schreibt dem Geist
aber darüber hinaus noch einige weitere Vermögen zu: Zunächst
die Fähigkeit zur »Anschauung von Urphänomenen oder [und?]
Wesensgehalten«; sodann eine bestimmte Klasse »emotionaler«
und schließlich noch eine Klasse »volitiver Akte«, so dass der
Geist vier Aktarten umfasst: Ideendenken, Anschauung von
Urphänomenen und Wesensgehalten, emotionale und volitive
(willentliche) Akte. Über die Gründe, den griechischen Ver­
nunftbegriff auf diese Weise zu ergänzen, sagt Scheler nichts;
die Erweiterung erfolgt aller Wahrscheinlichkeit nach aus der
bei ihm vorauszusetzenden persönlichen Wesensanschauung
und Erfahrung des Geistes und aus der objektiven Verschieden­
artigkeit erlebter Urphänomene, die sich nicht aus den Erfah­
*118 Wolfhart Henckmann · Einleitung

rungen »natürlicher«, auch den höheren Tierarten eigentümli­


chen sinnlichen und intelligenten Erkenntnisvermögen ableiten
lassen.
Indem Scheler alle Aktarten auf ein geistiges »Aktzentrum«
zurückführt, das er schon im Formalismusbuch missverständ­
lich genug als »Person« bezeichnet hat (S. 47,14), bereitet er eine
systematische Geistlehre vor, die er »in scharfem Unterschied«
seiner Lehre von den Lebenszentren (Leibzentrum, Seelenzen­
trum) entgegensetzt. Den Begriff des Aktzentrums erläutert er
an einer späteren Stelle durch eine »monarchische Anordnung
von Akten, unter denen je einer die Führung und Leitung be­
sitzt« (S. 84,12 f.). Scheler geht wiederum nicht näher auf diesen
Systematisierungsansatz ein, aber man darf annehmen, dass
prinzipiell jede Aktart des Geistes die Führung und die mon­
archische Aktordnung übernehmen kann – wovon es abhängt,
dass ein Wechsel der Dominanzverhältnisse im Aktgefüge des
Geistes stattfindet, und wie sich die anderen Aktarten der ge­
änderten monarchischen Anordnung entweder konfliktfrei ein­
fügen oder dazu durch bestimmte Gesetze veranlasst, vielleicht
sogar gezwungen oder aber verdrängt oder unterdrückt werden;
wie die Dynastien der Aktordnungen die Welt des Geistes er­
schließen und ihre Geschichte gestalten, ob sie sich, metapho­
risch ausgedrückt, durch Kriege, Revolutionen oder »Heiraten«
ablösen und inwiefern neue Gesetzesordnungen erlassen wer­
den müssen – das alles lässt Scheler im Dunkeln.
Ein folgenreiches Problem ergibt sich daraus, dass Scheler in
der Kosmos-Schrift den Personbegriff offenbar in egologischer
Verkürzung auffasst, während er an vielen anderen Stellen, mit
Nachdruck vor allem in der kurzen Darstellung der Evidenz­
ordnung in »Idealismus – Realismus« die Priorität des Wir vor
dem Ich behauptet; an einzelnen Stellen auch noch eine Priorität
des Du vor dem Ich hinzufügt, womit er Anregungen des einst
mit ihm befreundeten Martin Buber aufzunehmen scheint. Die
egologische Verkürzung des Person-Begriffs stellt faktisch ei­
nen Rückfall in die Transzendentalphilosophie dar, die er nicht
nur in seiner Auseinandersetzung mit Kant, sondern auch mit
Wesensunterschied von Mensch und Tier *119

Husserl zu überwinden suchte. Dadurch stellt sich die Kosmos-


Schrift vom Zentrum des Geistbegriffs ausgehend in einer fun­
damentalen, erhabenen Einseitigkeit dar, die nicht nur die ge­
samte Dimension der Sozialität des Menschen, sondern auch die
gesamte Lebewelt von sich ausgeschlossen hat.
Dem schließt sich sogleich noch ein weiteres Problem an.
Scheler betont hier wie in vielen anderen seiner Schriften, dass
es eine »konstante Vernunftorganisation« des Menschen nicht
gebe (S. 67,6) – eine seiner umstrittensten Thesen, für alle Re­
präsentanten der abendländischen Tradition des homo sapiens
das eklatanteste Zeugnis seines Relativismus und Historismus.
Scheler zufolge ist die monarchische Ordnung geistiger Akt­
arten nicht bei allen Menschen gleich, aber sie ändere sich nicht
so sehr individuell oder sozial bedingt, sondern wesensgesetz­
lich bedingt dadurch, dass sich neue Aktarten bilden und andere
absterben oder dass sich Aktarten wie die Formen des Liebens
und Wertens verändern, also einem überempirischen geschicht­
lichen Wandel unterliegen (S. 67,8). Die dem Wesen des Geistes
eigentümliche Gesetzlichkeit der Veränderung des Akt-Gefüges
beruht nach Scheler in erster Linie darauf, dass sich durch die
»Funktionalisierung« (S. 67,9) von zufällig gewonnenen Wesens­
einsichten aus »neue Denk- und Anschauungsformen, Liebens-
und Wertungsformen« bilden (womit drei der vier Aktarten
genannt sind und mit der Liebe eine neue hinzukommt), d. h.
dadurch, dass die Akte, die bei einer Wesens­erkenntnis ins Spiel
kommen, eine Form annehmen, die wiederholbar und tradier­
bar ist, also gleichsam zur zweiten Natur des Menschen wer­
den kann – dies sei in der abendländischen Tradition als die
den Menschen definierende »konstante Vernunftorganisation«
miss­verstanden worden. Wie sich die Lehre von der Funktiona­
lisierung des Geistes einerseits zur egologischen Grundstruktur
des Geistes und andererseits zu den geistigen Kollektivsubjek­
ten wie den Kulturkreisen und Nationen oder zu den übrigen
menschlichen Individuen und bei Mann und Frau verhält, ge­
hört einmal mehr zu den unausgeführten Teilen von Schelers
Philosophischer Anthropologie.
*120 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Analog zur monarchischen Aktordnung des Geistes lassen


sich auch in Schelers Lebensbegriff Systematisierungsansätze
erkennen, denn es geht ihm um »alle« Lebensfunktionen (also
um ihre Totalität), denen er ein und denselben Lebensdrang als
Einheitsprinzip zugrunde legt. Er bezeichnet dieses Einheits­
prinzip mit dem metaphysischen Begriff des »Allebens«. »Nach
innen hin« betrachtet handelt es sich um »seelische Zentren«,
nach außen hin muss man wohl von »vitalen« Leibzentren spre­
chen, die eine systematisierende Funktion ausüben. Da sowohl
der Geist- als auch der Lebensbegriff systematisch durch Ein­
heitsprinzip und geordnete Totalität bestimmt werden, da zu
dem dualen Gegensatz von Geist und Leben nicht auch noch
weitere Gegensätze oder Pole der gleichen Seinsebene hinzuge­
fügt werden können und da Geist- und Lebensbegriff, die ihre
Sphären vollständig und in einer je spezifischen Ordnung kon­
stituieren, schließlich auf den »obersten Grund der Dinge« zu­
rückgeführt werden, in dem sie eine notwendige, wechselseitige
Beziehung, etwas wie eine dynamische, spannungsreiche Ein­
heit bilden, kann man von dem Entwurf einer systematischen
philosophischen Anthropologie sprechen. Deshalb wären nicht
nur alle folgenden Ausführungen auf ihren Beitrag zur Ent­
faltung dieser Systematik zu interpretieren, sondern es müss­
ten im gleichen Sinn auch die Ausführungen zur Stufenfolge
des psychophysischen Seins einbezogen werden. Rückblickend
wird dadurch verständlich, dass Scheler seine Ausführungen
zur Stufenfolge nicht als eine »Philosophie des Organischen«
bezeichnet hat, sondern als Lehre vom psychophysischen Sein,
also als Teil einer Ontologie bzw. einer Metaphysik verstanden
hat, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, auch ganz andere als
bloß die irdischen Lebewelten als Manifestationsbasis des Gei­
stes in Betracht zu ziehen. Werden die folgenden Ausführun­
gen der Kosmos-Schrift im Lichte von Schelers systematischem
Entwurf gelesen, müsste natürlich nicht nur auf Schelers Entfal­
tung der systematischen Struktur der Geistlehre geachtet wer­
den, sondern auch auf die Entwicklung ihrer Zusammenhänge
mit der Sphäre des Lebens, für die Scheler mit seiner Adap­
Wesensunterschied von Mensch und Tier *121

tion des Begriffs der Sublimierung eine merkwürdige Lösung


des metaphysischen Dualismus von Leben und Geist gefun-
den hat.
Das Inhaltsverzeichnis der Kosmos-Schrift lässt nicht erken­
nen, dass mit dem Abschnitt II eine systematische Theorie der
philosophischen Anthropologie beginnt. Deshalb wird auch
nicht ohne weiteres erkennbar, dass es sich nur um einen der
beiden grundlegenden Teile der Anthropologie handelt, um
die Geistlehre. Ebenso wenig wird klar, dass der Abschnitt III
das gleiche Problem behandelt – nämlich die Entwicklung der
Geistlehre, so dass beide Abschnitte ein Beispiel dafür bieten,
auf welche Weise Scheler speziell das Problem des Geistes von
allen Seiten »umringt« hat (S. 3,11), wenn man will: um eine Lö­
sung dieses Problems »gerungen« hat. Auch der Abschnitt IV
ist den Ausführungen zu einer (phänomenologisch-metaphysi­
schen) Geistlehre zuzurechnen.
Der Abschnitt II ist nach den besprochenen einleitenden Be­
merkungen (S. 45 – 47) in drei Teile gegliedert, die mit der Be­
stimmung des Wesens des Geistes beginnen (S. 48 – 55), danach
Beispiele geistiger Kategorien erläutern (S. 56 – 60), um mit der
umstrittenen These zu enden, dass der Geist als »pure Aktua­
lität« zu verstehen sei (S. 61 – 63). In diesem argumentativen
Dreischritt vollzieht sich trotz einiger Anspielungen auf Hegel
natürlich keine dialektische Selbstanalyse des Geistes, sondern
eine kaum auf eine einheitliche und konsequent befolgte Me­
thode zu bringende, an verschiedenen »Enden« und Beispielen
ansetzende Darstellung einiger Ergebnisse aus Schelers Philo­
sophie des Geistes als dem einzigen das Mensch-Sein konstitu­
ierenden Prinzip.

2.1 Das Wesen des Geistes (S. 48 – 55)

In der Überschrift dieses Unterabschnitts wird das Wesen des


Geistes durch »Freiheit, Gegenstands-Sein, Selbstbewußtsein«
bestimmt, ohne dass ein innerer oder wesensgesetzlicher Zu­
*122 Wolfhart Henckmann · Einleitung

sammenhang dieser Momente angegeben wird. Im ersten Ab­


satz bestimmt Scheler Freiheit und Gegenstands-Sein als Seins­
weisen des Geistes, vermittelt sie aber weder mit dem Geiste
selbst noch mit der Ontologie als einer allgemeinen Theorie der
Arten des Seins; der Freiheitsbegriff bleibt überhaupt unerör­
tert, wodurch die wiederholt von Interpreten wie etwa Nico­
lai Hartmann vorgetragene, nichtsdestoweniger unzutreffende
These bestärkt wird, dass Scheler gar keine eigentliche Philoso­
phie der Freiheit entwickelt habe. Auch das dritte Merkmal, das
Selbstbewusstsein, bleibt rätselhaft, denn Scheler scheint nicht
das Bewusstsein des Geistes selbst, sondern das Bewusstsein ir­
gendeines Selbst gemeint zu haben, in dem sich ein geistiger
Akt vollzieht. Den Vollzug geistiger Akte schreibt Scheler in der
Regel der »Person« zu: Soll sie nun als »Selbstbewusstsein« und
dieses als das Zentrum aller verschiedenen Aktarten verstanden
werden? In seiner Vorlesung über das Wesen des Todes (1923/24)
ergänzte Scheler das (theoretische) »Selbstbewußtsein« durch
das (ethische) »Selbstwertbewußtsein« der Menschenwürde,128
wodurch auf die emotionale Aktart des Geistes und auf einen
Zusammenhang dieser Bewusstseinsmomente in ein und dem­
selben Bewusstseinsakt hingewiesen wird – dies wäre etwas
ganz anderes, als etwa den Geist als Ideendenken von emo­
tionalen Geistesakten begleitet zu sehen. Doch was genau mit
dem Selbstbewusstsein gemeint ist, denn auf den alltäglichen
Sprachgebrauch wird Scheler nicht zurückgegriffen haben,
bleibt ungeklärt. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass Scheler
noch nicht den Standpunkt gewonnen hatte, von dem aus eine
Einsicht in die innere Struktur des Geistes selbst, und nicht in
die seiner endlichen Manifestation in einer Person, vollzogen
werden könnte.
Der Leser hätte erwarten dürfen, dass Scheler, ähnlich wie in
den vorangegangenen Ausführungen, mit erkenntnistheoreti­
schen und methodologischen Überlegungen darüber beginnt,
auf welche Weise der Geist sich selbst erkennt. Schelers erster

128 Vgl. GW 12, S. 298.


Wesensunterschied von Mensch und Tier *123

Satz behauptet nur – mal wieder rhetorisch übertrieben (viel­


leicht auf die methodologische Forderung nach einer Beseiti­
gung von Äquivokationen anspielend?), dass selten mit einem
Wort so viel Unfug getrieben worden sei wie mit dem Begriff des
Geistes. Dass er kurz zuvor noch den griechischen Vernunftbe­
griff in seine Geistkonzeption aufgenommen hat, ist selbstver­
ständlich nicht als Fortsetzung des Unfugs zu verstehen.
Die gegen den Unfug vorgetragene Entwicklung seines ei­
genen Geistbegriffs bewegt sich in einem merkwürdigen Clair/
obscur. Scheler stellt an die »Spitze des Geistbegriffes eine be­
sondere Wissensfunktion« (S. 48,6 f.), ohne das Warum zu klä­
ren oder das Wesen dieser Wissensfunktion genauer zu bestim­
men und sie von den Wissensarten abzugrenzen, die er in Die
Wissensformen und die Gesellschaft (1926) unterschieden hat,
vielmehr verwirrt er sie geradezu. Normalerweise ordnet er
eine »Funktion«, eine bestimmte Vollzugsart, nur dem Seelen­
organismus zu. Wenn er nun aber von einer »Wissensfunktion«
spricht, womit er nur eine Aktart des Geistes gemeint haben
kann, dennoch als eine »Funktion« bezeichnet, stellt sich die
Frage, ob er die Besonderheit dieses Wissens dadurch kenn­
zeichnen will, dass er ihm eine Vollzugsweise wie die eines See­
lenvermögens zusprechen will, was unter anderem bedeuten
würde, dass er dem Geist unter dem (dann doppeldeutig wer­
denden) Begriff des Wissens eine ganz neue, eine schlechthin
fundierende Aktart zuschreiben will. Dann fügt er allerdings
hinzu, dass es sich nur um »eine« Aktart des Geistes und nicht
entweder um die für den Geist wichtigste oder den Geist al­
lererst konstituierende Wissensart handeln soll: warum »eine«
und nicht vielmehr »die« Wissensart? Sollte es mehrere, gleich­
ursprüngliche Wissensarten geben – und wenn er dies zugäbe,
warum hat er eine solche, der Ausübung der Wissensart vor­
ausliegende Wahl oder Entscheidung getroffen, und geschah sie
aus Freiheit? Dann wäre diese Freiheit und nicht die »Wissens­
funktion« das eigentlich grundlegende Prinzip des Geistes. Was
Scheler genau genommen gemeint hat, lässt sich an dieser Stelle
und in dieser Schrift nicht entscheiden.
*124 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Daran schließt sich die Frage an, wie es zu einer Über- und
Unterordnung von geistigen Aktarten überhaupt kommen kann,
worin diese offenbar veränderlichen Ordnungen eigentlich be­
stehen und unter welchen Bedingungen sie sich ändern. Was ist
im vorliegenden Fall mit der »Spitze des Geistbegriffes« (S. 48,6)
gemeint –: handelt es sich um die Spitze der Bestimmung des
Wesens des Geistes oder um die Spitze der Seinsart des Geistes?
Aber die von Scheler an die Spitze gestellte Wissensart ist dem
Text zufolge gar nicht eine besondere Wissensart, sondern eine
besondere Seinsweise, die überdies nur durch Negationen be­
stimmt wird, nämlich durch die »existentielle Entbundenheit,
Freiheit [vom …], Ablösbarkeit« vom Organischen (S. 48,9 f.), von
der gesamten Lebewelt. Wer sich an dieser Stelle an die theisti­
sche Periode und insbesondere an den nachgelassenen Aufsatz
über den »Ordo Amoris« (ca. 1914 – 1916) erinnert,129 hätte an
der »Spitze« Schelers Begriff der (geistigen) »Liebe« erwartet,
der aber an dieser entscheidenden Stelle gar nicht vorkommt
– er fehlt zwar nicht vollständig im zweiten Abschnitt, aber er
wird auf die volitiven Akte beschränkt (S. 62 f.) und ist dadurch
nicht mehr der das gesamte Gefüge der Aktarten des Geistes
fundierende Begriff wie einst (unklar ist, auf welche Weise er
überhaupt mit den Aktarten verbunden ist). Aus dem Kontext
ergibt sich, wenn man ihn mit Ausführungen aus der theisti­
schen Periode vergleicht, eine signifikante Depotenzierung der
Liebe, die wohl als eine Folge der Depersonalisierung des gött­
lichen Geistes zu einem unpersönlichen Weltgrund zu erklären
ist. In welchem Maße muss man hier von einer (von Scheler
verschwiegenen?) tiefgreifenden Korrektur von Schelers Geist­
philosophie sprechen?
»Ist« der Geist diese Entbundenheit, manifestiert er sich als
diese besondere Art von Entbundenheit? Oder bringt er sie aus
der ihm eigenen Freiheit erst hervor, so dass er über eine ihm ei­
gene Selbstsetzungs- oder Selbsterhaltungskraft gegenüber dem
Organischen verfügen würde? Entsteht die Entbundenheit aus

129 GW 10, S. 345 – 376.


Wesensunterschied von Mensch und Tier *125

der Besonderheit der menschlichen Natur, so dass der Geist das


Wissen um eine durch ihn mögliche Ablösbarkeit der mensch­
lichen Natur aus der Gebundenheit an das Organische ist?
­Warum bezeichnet Scheler die existentielle Entbundenheit als
das »Daseinszentrum« des Geistes (S. 48,10), der hier sich noch
in nur vier verschiedenen Aktarten manifestiert, so dass man
nicht genau weiß, worin eigentlich das »Aktzentrum« – oder das
Daseinszentrum? – des Geistes besteht, »in dem Geist innerhalb
endlicher Seinssphären« (S. 47,13) erscheint. Oder bedeutet die
»existentielle Entbundenheit« denjenigen Akt, durch den der
Geist in der Welt des Organischen allein dadurch erscheint, dass
er sich von ihr befreit, da er in keiner Weise mehr »trieb- und
umweltgebunden, sondern ›umweltfrei‹, und, wie wir es nennen
wollen, weltoffen« geworden ist (S. 48,14 f.)? Etwas später wird
Scheler von der grundsätzlichen Weltüberlegenheit der Person
sprechen: »Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag
sich über sich – als Lebewesen – empor zu schwingen und von
einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus
Alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Er­
kenntnis machen.« (S. 60,17 – 21)130 Auch hier ist die existentielle
Positionierung des Menschen, nicht hingegen die Wissensart
des Geistes gemeint, eine Seinsweise, die zwar die Bedingung
für die Möglichkeit einer uneingeschränkten, weltoffenen Er­
kenntnis bilden mag, aber als Positionierung noch keine Er­
kenntnisart ist. An anderer Stelle spricht Scheler dann auch
130 Die Bestimmung der Weltoffenheit stimmt weitgehend mit der Be­
stimmung des Menschen als »wirklichkeitsoffenes« Lebewesen überein,
die Hans André von seinem theistischen Standpunkt aus in der Überle­
genheit des Menschen über die gesamte biologische Welt sieht (Der We­
sensunterschied, a. a. O., S. 45 ff.). Im Unterschied zu Scheler verbindet er
die »Wirklichkeitsoffenheit« mit der »wirklichkeitsbeherrschenden Ak­
tionsform des Menschen«, während Scheler den Geist aller Wirklichkeit
enthebt, ohne ihm irgendeine Energie zu belassen, die Wirklichkeit zu
beherrschen. Deshalb kann diejenige der drei obersten Wissensarten, die
er 1926 als »Leistungs- und Herrschaftswissen« bezeichnet hat (GW 8,
S. 60 ff.), keine geistige Wissensart sein, sondern wäre der »Intelligenz«
gleichzusetzen.
*126 Wolfhart Henckmann · Einleitung

vom »welt-exzentrisch gewordenen Seinskern« des Menschen


(S. 119,18), doch dadurch wird das Verhältnis zwischen Akt und
Dasein des Geistes auch nicht klarer. Wenn Scheler dann noch
schlussfolgernd (eine Tätigkeit der Intelligenz!) hinzufügt, dass
»daher« der Geist (das Wesen des Geistes? die besondere Wis­
sensart?) »Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von
Sachen selbst« sei (S. 49,4 f.), weil das Wesen, das Geist hat, die
Gegenstände frei von ihrer Bedingtheit durch die Umweltge­
bundenheiten aufzufassen vermag, dann fragt man sich, wo­
durch sich diese Gegenständlichkeiten von denen der positiven
Wissenschaften unterscheiden oder wodurch man sicher sein
kann, dass man die gemeinte und nicht irgendeine andere Art
von »Sachlichkeit« verwirklicht hat – auch hier wäre eine Klä­
rung äquivoker Begriffsverwendungen willkommen gewesen.
Die »Weltoffenheit« ist zu einem der bekanntesten Begriffe
der Anthropologie Schelers geworden, von vielen bewundert
und übernommen, aber er kann kaum als das geistige Eigen­
tum Schelers bezeichnet werden. Edith Stein unterscheidet zum
Beispiel in ihren »Beiträgen zur philosophischen Begründung
der Psychologie und der Geisteswissenschaften« (1922) das
auf ein Individuum begrenzte psychische Geschehen von dem
überindividuellen »rein psychischen« Geschehen, das Realisa­
tion geistigen Lebens ist. »Geist ist Herausgehen aus sich selbst,
Offenheit in einem doppelten Sinne: für eine Objektwelt, die
erlebt wird, und für fremde Subjektivität, fremden Geist, mit
dem gemeinsam erlebt und gelebt wird. […] Die Offenheit für
die Welt, sofern sie nicht Geist ist, hebt die Isolierung des Indi­
viduums nicht auf. Die Welt der Objekte – genauer gesagt: der
theoretisch erfaßten (wahrgenommenen, erfahrenen, erschau­
ten, erkannten) Objekte – ist Widerpart des erfassenden Geistes,
ihm entgegengestellt, von ihm abgesetzt, nicht mit ihm eins.
Die Offenheit im anderen Sinne aber beseitigt die Isolierung
des Individuums, stellt es hinein in den Zusammenhang der
geistigen Welt.«131 Die Unterschiede zwischen den beiden Kon­

131 Edith Stein, Beiträge zur philosophischen Begründung der Psy­


Wesensunterschied von Mensch und Tier *127

zeptionen der Weltoffenheit sind freilich nicht zu übersehen. Bei


Edith Stein beruht die Weltoffenheit auf der Differenz zwischen
Psyche und Geist, bei Scheler zwischen Umwelt und Welt; bei
Edith Stein bleibt das Gesetz der Korrelativität von Geist und
Welt gewahrt, bei Scheler wird die »Welt« in die Intentionalität
des Geistes zurückgenommen; bei Edith Stein bildet die fremde
Individualität die Grundlage einer selbständigen Dimension
innerhalb der Weltoffenheit, bei Scheler taucht im Konzept der
Weltoffenheit die besondere Gegenständlichkeit eines fremden
Ich überhaupt nicht auf. Die Unterschiede der im Grundsätzli­
chen übereinstimmenden, bei Edith Stein eher statischen, bei
Scheler eher dynamischen Auffassungen der Weltoffenheit lie­
ßen sich zweifellos vermehren, unter anderem dadurch, dass
auch noch die Konzeptionen anderer Autoren aus der gleichen
Zeit zum Vergleich herangezogen werden, aber mit diesem Hin­
weis wollen wir es hier bewenden lassen.
Eindrucksvoll stellt Scheler alsdann den Unterschied zwi­
schen der Umweltgebundenheit des tierischen Verhaltens und
der Weltoffenheit des menschlichen Verhaltens als Prozess eines
dreiaktigen Dramas dar. Meist hat Scheler die Weltoffenheit auf
das Menschsein insgesamt bezogen: »Der Mensch ist also das
X, das sich in unbegrenztem Maße ›weltoffen‹ verhalten kann«
(S. 51,7 f.), manchmal bezieht er sie nur auf den Geist, so dass
der Mensch als »Träger« (S. 49,5) des Geistes zusätzlich noch
als ein mit der Lebewelt verwachsenes Lebewesen verstanden
wird. Aber gibt es nicht auch eine sozusagen »tierische« Welt­
offenheit des Menschen als Lebewesen, das die Grenzen seiner
Umwelt, die ja keineswegs allein durch die Instinkte festgelegt
sind, unendlich zu überschreiten sucht, getrieben von einem tief
im Lebensdrang angelegten unstillbaren »Durst« nach Verände­
rungen, getrieben von Neugier und Machtgier – bestia cupidis-
sima rerum novarum (S. 72,2 f.)? Warum soll nicht auch der or­
ganisch und triebhaft drängende unstillbare »Durst« eine nicht

chologie und der Geisteswissenschaften, in: Jahrbuch für Philosophie


und phänomenologische Forschung 5 (1922), S. 1 – 283, hier: S. 267 f.
*128 Wolfhart Henckmann · Einleitung

zu befriedigende und nicht einzudämmende »Weltoffenheit«


haben wie der Geist, vielleicht sogar die gleiche, weil auch der
Geist darauf angewiesen ist, dass ihm die Lebensenergien des
Naturwesens Mensch sublimiert zur Verfügung stehen? Ist die
»Weltoffenheit« nicht eher als eine »Sublimierung der Umwelt«
zu verstehen?
Da sich der Geist seine Weltoffenheit nur selber geben kann,
ist dieses sein Geben an die Überwindung der Lebenszwänge
gebunden, unter denen der Geist erscheinen, sich gleichsam
Platz schaffen muss. Dazu muss er über eine Kraft verfügen, sich
gegen die Lebenskräfte durchzusetzen, was in der von Scheler
gemeinten Radikalität nur möglich ist, wenn die Konstitution
der Weltoffenheit in keiner Weise von Lebenskräften, gleich­
viel welcher Art, abhängt. Diese Frage erhält im folgenden Ab­
schnitt in der Lehre von der Ohnmacht des Geistes eine bemer­
kenswerte Zuspitzung.
Scheler erwähnt beiläufig die prinzipielle Unabhängigkeit
des Geistes von aller »triebhaften Intelligenz« (S. 48,13) – nach
der »praktischen« und der »technischen« gibt es nun auch noch
eine »triebhafte« Intelligenz, wodurch die Intelligenz auf unter­
schiedliche Weise in die Umwelt eingebunden wird, die trieb­
hafte Intelligenz etwa in der praktischen und technischen In­
telligenz wirksam wird. Doch der Mensch, ebenso wie einige
höher entwickelte Tierarten, können wählen, welcher Umwelt­
bindung sie in bestimmten Situationen den Vorrang einräumen.
Dem Kontext zufolge steht die Intelligenz primär im Dienst der
Triebstrukturen, sowohl beim Menschen als auch beim Tiere.
Da Scheler an dieser Stelle noch gar nicht auf die besondere Wis­
sensart des Geistes eingegangen ist und nicht einmal gesagt hat,
ob und ggf. in welcher Weise die existentielle Entbundenheit
erlebt oder vielleicht nur unter gewissen Umständen »gewusst«
wird, ansonsten aber von Natur gegeben ist, fragt es sich, ob die
Wissensart des Geistes vielleicht nur in einer Intelligenz besteht,
die sich von ihrer Triebhörigkeit befreit hat. Demzufolge wären
Intelligenz und Geist auf ein und die gleiche »Vernunft«anlage
zurückzuführen, die sich durch die einem Lebewesen angebo­
Wesensunterschied von Mensch und Tier *129

rene Triebhörigkeit als Intelligenz, durch ihre selbst- oder von


außen (frei nach dem Höhlengleichnis Platons) bewirkte Befrei­
ung von der Triebhörigkeit als Geist manifestiert. Die Wissens­
art, die nach Scheler nur der Geist geben kann, wäre demzu­
folge die von der Triebhörigkeit auf welche Weise auch immer
vollständig befreite Intelligenz, und es obläge dieser Intelligenz,
sich durch ihre Befreiung aus den Fesseln der Triebstrukturen
als Geist zu konstituieren. Wie sich Intelligenz und Geist über­
haupt zueinander verhalten, ist nach wie vor ein bei Scheler of­
fen gebliebenes und in der Scheler-Forschung selten analysiertes
Problem, zu dessen Lösung die Kosmos-Schrift auch nur wenige
Materialien beiträgt.
Ganz analog wäre auch die Umwandlung der »Umwelt« der
triebgebundenen Intelligenz in die »Welt« der zum Geist mu­
tierten Intelligenz zu verstehen. Auch hier müsste der Entge­
gensetzung von Umwelt und Welt ein gemeinsamer Inbegriff
von Seiendem, etwa eine Welt vorhandener (zuhandener, vorge­
fundener) Sachen (S. 51,6 f.) zugrunde gelegt werden, der durch
die triebgebundene Intelligenz sich zur Umwelt verengt oder
durch den Geist zu einer prinzipiell unbegrenzten Welt von Ge­
genständen erweitert. Das Verhältnis zwischen Intelligenz und
Geist ließe sich dann ebenso wie das Verhältnis zwischen Um­
welt und Welt als jeweils graduell modifizierbar und in beiden
Richtungen umlenkbar vorstellen (Geist lässt sich zur Intelli­
genz zurückfallen), aber gerade dies unterbindet Scheler durch
die phänomenologische Methode, die die Fragen gradueller Evo­
lutionen den empirischen Wissenschaften überlässt, während
sie selber die »Wesenheiten« voneinander abzugrenzen sucht:
graduelle Übergänge zwischen Wesenheiten gibt es aber nicht.
Da Scheler den Geistbegriff am Beispiel des Wissens, also
nur an einer von mehreren geistigen Aktarten entwickelt, die
er überdies bei der Aufzählung von Aktarten nicht erwähnt
hat (vielleicht gleichzusetzen mit dem Ideendenken? Oder mit
apriorischem Wissen?), die einzigartige Wissensart vielmehr
ganz beiläufig einführt, stellt sich die Frage, welche Eigenschaf­
ten des Geistes etwa durch die Auslegung der anderen Akt­arten
*130 Wolfhart Henckmann · Einleitung

außerdem noch aufgewiesen werden könnten und wie sich alle


Aktarten unter- und miteinander zu einem vorübergehenden
»Aktgefüge« und einer wechselvollen Aktordnung verbin­
den. Eigentlich müssten sie alle, da sie organisch nicht ableit­
bar sind, sich also auch von allen erkennenden und wertenden
Funktionen der Seele grundsätzlich unterscheiden, »plötzlich«
in ihrer Wesenseigentümlichkeit in Erscheinung treten. Doch
dann führt Scheler auf einmal die »Sammlung« des Geistes zu
sich selbst ein, mit der er nicht die psychische Konzentration
des individuellen Menschen auf sich und sein Leben meinen
kann, sondern eher eine Art von Meditation und Einkehr in
eine überindividuelle Spiritualität, wie er es einst dem Gebet
zugesprochen hat – »Sammlung« lässt sich aber kaum anders
denn als ein Prozess, als eine graduelle Annäherung an das
Wesen des Geistes verstehen, ohne dass gesagt werden könnte,
woran der sich sammelnde Geist erkennt, dass er die Sammlung
sinngemäß und erfolgreich durchführt. Da Scheler »Sammlung,
Selbstbewußtsein, Gegenstandsfähigkeit und -möglichkeit des
ursprünglichen Triebwiderstandes« mal wieder als eine »einzige
unzerreißbare Struktur« darstellt (S. 52,22), fragt es sich, ob sich
diese oder andere »unzerreißbare Strukturen« an allen geistigen
Aktarten aufweisen lassen und wie sie sich dann zueinander
verhalten, insbesondere wenn sie noch nicht denjenigen Grad
geistiger Prägnanz gewonnen haben, der für die Bildung der
unzerreißbaren Struktur erforderlich ist; doch auch hier ver­
läuft sich die wesensgemäße in eine empirisch-genetische Frage.
Analoge Probleme ergeben sich, wenn man an den anderen
Aktarten auch den Vergleich der geistigen »Welt«verhältnisse
mit den »Umwelt«verhältnissen der höchsten Tierarten durch­
führt, beispielsweise anhand der emotionalen Akte, von denen
sich einige teils der Enge der Umwelt, teils der Offenheit der
Welt zuordnen lassen. So ergeben sich die unterschiedlichsten
Ansatzpunkte für eine Fortsetzung der systematischen Ent­
wicklung von Schelers Geistphilosophie, wozu vor allem eine
vollständige Lehre der im Laufe der Menschheitsgeschichte bis
heute entstandenen (und auch der vielleicht inzwischen verlo­
Wesensunterschied von Mensch und Tier *131

ren gegangenen) »Aktarten« erforderlich wäre. Was Scheler in


der Kosmos-Schrift zur Entfaltung seiner späten Geistphilo­
sophie vorgetragen hat, musste selbstverständlich im Rahmen
eines zeitlich begrenzten Vortrags bleiben, weshalb er sich ent­
schlossen haben mochte, die am Anfang und im Verlauf seines
Vortrags erwähnten, eine systematische Untersuchung ermög­
lichenden und fordernden Problemaspekte in die gemeinver­
ständlichen Ausführungen verfließen zu lassen, etwa seine
Drei-Zentren-Lehre oder die Stufenleiter im Aufbau der Welt
(S. 55,14 – 19). In der Scheler-Forschung sind die vielfachen syste­
matisierenden Ansätze von Schelers Anthropologie weitgehend
unbeachtet geblieben.

2.2 Beispiele ›geistiger‹ Kategorien (S. 56 – 61)

Gleich der erste Satz des neuen Absatzes lässt die systematische
Intention der folgenden Ausführungen erkennen: aus der Seins­
struktur der Selbstgegebenheit des Menschen sollen »einige«, in
der Großen Anthropologie vermutlich »alle« spezifisch mensch­
lichen, d. h. geistigen Besonderheiten zwar nicht abgeleitet, aber
»verständlich« gemacht werden. Der Leser wird von Scheler hier
allerdngs keine ausgearbeitete Hermeneutik der Selbstgegeben­
heit des Geistes erwarten, da Scheler die ausgewählten Beson­
derheiten nur kurz anführen wollte, nämlich drei: die Substanz­
kategorie (S. 56 f.), die Leerformen von Raum und Zeit (S. 57 – 59)
sowie die Weltüberlegenheit der Person (S. 59 – 61). Mit diesen
»Beispielen«, eigentlich eher als Wesensmomente der Seins­
struktur denn als geistige Kategorien zu verstehen, setzt Sche­
ler die begonnene Bestimmung des Wesens des Geistes in Ab­
grenzung vom tierischen Verhalten fort. Man kann sich fragen,
ob Scheler in der Konstellation der nach keiner expliziten Regel
ausgewählten Beispiele auf einen zugrundeliegenden, in der Sa­
che verborgenen systematischen Zusammenhang aufmerksam
machen wollte und welche Bedeutung die Beispiele für eine Sy­
stematik seiner Geistphilosophie eigentlich haben, was aber er­
*132 Wolfhart Henckmann · Einleitung

fordern würde, alle in der europäischen Kulturgeschichte durch


»Funktionalisierung« entstandenen Kategorien des Geistes ein­
zubeziehen.
Nicht schon das Tier, sondern erst der Mensch habe die »voll
ausgeprägte konkrete Ding- und Substanzkategorie« (S. 56,6 f.)
– dieses Moment hat auch Hans André in den Mittelpunkt sei­
ner Untersuchung der dritten Stufe der organischen Welt ge­
stellt. Scheler versteht unter der Dingkategorie nur das Vermö­
gen, die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen auf einen
»identischen Realitätskern« (S. 57,2) zu beziehen. Dies ist dem
Menschen dadurch möglich, dass seine Dingwahrnehmungen
von seinem eigenen identischen »Zentrum« ausgehen, wodurch
sich eine Korrelation zwischen Person-Zentrum und ding­
lichem Realitätskern ergibt. Dass Scheler hier von »Substanz«
und »Substanzkategorie« spricht, soll vermutlich unabhängig
von seiner Funktionalisierungslehre der Vernunft und ebenfalls
unabhängig von seiner Lehre von der Auflösung der Dingkate­
gorie in der modernen Naturwissenschaft verstanden werden.
Jedes körperliche Ding hat außer einem Realitätskern noch
eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit. Mit der Erläuterung
der Leerformen von Raum und Zeit geht Scheler nicht nur auf
die »natürliche Weltanschauung« zurück, in der die körperli­
chen Dinge dem Menschen primär gegeben sind, sondern auf
die »Wurzel« der menschlichen Raum- und Zeitanschauung,
die in der »organischen spontanen Bewegungsmöglichkeit und
Tunsmöglichkeit« (S. 58,2) liegen soll, die wiederum auf »trieb­
hafte Erwartungen« (S. 58,4) zurückzuführen seien – eine These,
die in der Biologie nicht gerade viele Anhänger gefunden hat.
Diese menschliche Besonderheit beruht nicht auf dem Wesen
des Geistes, sondern auf der organischen Natur des Menschen.
Wie diese mit der »Person« zusammenhängt, und deshalb auch
die Substanzkategorie mit den kinästhetischen Empfindungen
(S. 58,19), ist in einem populären Vortrag kaum angemessen zu
erklären.
Gänzlich unerwartet taucht auf einmal als das »Subjekt« der
Trieberwartungen das menschliche »Herz« auf (S. 58,5), das
Wesensunterschied von Mensch und Tier *133

sonst bei Scheler als Organ von Gefühlen und Wertempfindun­


gen und als Metapher für das menschliche Gemüt oder die Seele
des Menschen fungiert – mit sehr viel mehr Recht als bei der
Einführung des Geistbegriffs kann man sagen, dass selten mit
einem Wort so viel Unfug getrieben worden ist wie mit »Herz«;
eine Klärung wenigstens der am häufigsten auftretenden Äqui­
vokationen wäre deshalb nötig gewesen. An der gegenwärtigen
Stelle der Kosmos-Schrift wird das Herz innerhalb des Hori­
zonts der natürlichen Weltanschauung als Zentrum triebhafter
Erwartungen verstanden, nicht wie früher als Zentrum sowohl
geistiger wie auch sinnlicher Emotionen, gleichsam in einer na­
turgegebenen Ambivalenz, die Scheler andernorts durch eine
Hierarchie von verschiedenen Arten von Liebe aufzuklären
suchte (von der Geschlechtsliebe über die Formen seelischer
Liebe bis zur geistigen Liebe).132
Von einer »Leere des Herzens« hat Scheler zehn Jahre frü­
her in seinem Aufsatz über die »Soziologische Neuorientierung
und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg«
(1916) gesprochen. Es ging ihm damals um das ursprüngliche,
umfassende Grundvertrauen in das Leben, das ein Mensch als
»Geschenk einer langen Geschichte« aus der Tradition der Ge­
meinschaft, in der er lebt, empfangen habe. Doch ohne dass die
Menschen es bemerken, verliert das Herz im traditionell gere­
gelten Leben allmählich seine lebendige Kraft. Bricht ein furcht­
bares Ereignis wie der Weltkrieg in das Gemeinschaftsleben ein,
gewahrt der Mensch »voll Schreck die große und unheimliche
Leere seines Herzens [...], die er sich so lange selbst verschwieg.
Das ist ein großer, wenn auch furchtbarer Augenblick in seinem
Leben! Das ist ein Wendepunkt, der nur zwei Bahnen offen läßt:
den moralischen Tod oder die Ausfüllung dieser Leere durch ein
neues Vertrauen.«133 Das »Herz« (bezeichnenderweise gleichbe­
rechtigt neben den Geist gestellt!) ist demzufolge das Organ, von

132 Vgl. Heinz Leonardy, Liebe und Person. Max Schelers Versuch
­eines »phänomenologischen« Personalismus, Den Haag 1976.
133 GW 4, S. 413.
*134 Wolfhart Henckmann · Einleitung

dem es abhängt, ob aus der Wahrnehmung des »moralischen


Todes« einer Lebensgemeinschaft eine Wende zu einem neuen
zwischenmenschlichen Vertrauensverhältnis hervorgehen
kann. Das Herz ist nicht bloß das Organ der Moralität oder der
moralischen Gefühle, sondern der (geistige) Grund für die Auf­
rechterhaltung einer moralischen, menschenwürdigen Wert­-
ordnung, einer »ordre du coeur«, durch die der Zerfall einer Le­
bensgemeinschaft in lauter einzelne, selbstsüchtige Individuen
durch die Wiederbelebung eines neuen intersubjektiven oder
besser solidarischen Vertrauens überwunden werden kann. Mit
der Aufnahme des »Herzens« in die Wesensanlyse des Geistes
tritt unauffällig die in der Kosmos-Schrift so auffallend ver­
nachlässigte Problematik der Intersubjektivitätsdimensionen
des Geistes in die Erörterung ein.
Vieles spricht dafür, dass Scheler das Herz nicht allein als die
Stimme einer moralisch geordneten Lebensgemeinschaft ver­
standen hat, sondern als ein »Organ« oder eine Instanz, die Le­
ben und Geist in ein solidarisches Verhältnis zueinander bringt.
Das Herz übernähme dadurch eine Art von transzendentaler
Korrekturfunktion. Wollte man diese Frage klären, müsste man
weit über die Kosmos-Schrift hinaus auf Schelers Philosophie
der Liebe zurückgreifen, die freilich in der Kosmos-Schrift aus
nicht geklärten Gründen eine nur marginale Rolle spielt.
Den Höhepunkt erreicht der Wechsel der Untersuchungs­
ebenen des Wesens des Menschen von den Wurzeln der natür­
lichen Weltanschauung über die Erkenntnisse der positiven
Wissenschaften in die Metaphysik hinein dadurch, dass sich
der Mensch über die raumzeitliche Welt und alles organische
Leben hinaus zu seinem Person-Zentrum »emporschwingt«
(S. 60,18 f.), das jenseits aller möglichen Umwelten die eine, un­
begrenzte, alles umfassende Welt vor sich hat. Scheler folgert
aus dieser konstitutiven Weltüberlegenheit, dass die Person
nicht mehr als Teil der unter ihr liegenden (Um)Welt verstan­
den werden könne, sondern dass dieses Zentrum »nur im ober­
sten Seinsgrunde selbst« (S. 61,5) liegen könne. Diese mystische
Beziehung ist es wohl, die Scheler in dem Weisheitsspruch er­
Wesensunterschied von Mensch und Tier *135

kannte, der zu einem Leitspruch seines Lebens geworden ist:


»mich wundert, dass ich so fröhlich bin«.

2.3 Geist als reine Aktualität (S. 61 – 63)

Schelers Wesensontologie des Geistes geht in Metaphysik über.


Der Begriff der Person, einer der schillerndsten Begriffe der Phi­
losophie Schelers, der zu einem ihrer vier oder fünf vieldeutigen
Grundprobleme geworden ist, bildet seit dem Erscheinen des
Formalismusbuchs so etwas wie den Eckstein des gesamten Ge­
bäudes von Schelers Philosophie.
»Vergegenständlichung« als Fähigkeit des Geistes ist nicht
gleichzusetzen mit »Verdinglichung« (S. 61,18), wodurch dem
Geist ein »Realitätskern« zugesprochen würde, sondern bedeu­
tet, dass sich der Geist etwas zum Gegenstand seines Wissens
zu machen vermag, womit auch nicht-dingliche, fiktive, irreale
Gegenstände gemeint sein können. Stillschweigend hat Sche­
ler die geistigen Akte, die vergegenständlichen können, auf die
Wissensakte beschränkt; nirgendwo in der Kosmos-Schrift hat
er das Vermögen der Vergegenständlichung ausdrücklich allen
geistigen Aktarten zugesprochen oder die den verschiedenen
Aktarten spezifische Form von Vergegenständlichung heraus­
gearbeitet. Entweder ist die Fähigkeit zur Vergegenständlichung
eine Wesenseigenschaft des Geistes überhaupt, so dass sie auch
für alle anderen Aktarten gelten müsste, oder sie ist nur eine
Wesenseigenschaft des geistigen Wissens – zu dieser Alternative
hat sich Scheler nicht geäußert, so dass seine Geistphilosophie
noch einer detaillierteren Ausführung bedarf.
Dass der Geist nicht »Teil sein« könne von dieser Welt, in
der er nichtsdestoweniger zur Erscheinung kommt, schließt
ein, dass er sich selber nicht vergegenständlichen kann, weil
er sich dadurch in die Sphäre all der Gegenstandsarten dieser
Welt begeben, gleichsam aus sich herausgehen und dadurch
seine Fähigkeit zur Vergegenständlichung verlieren würde. Wie
aber kann das Personzentrum, von dem die Akte der Vergegen­
*136 Wolfhart Henckmann · Einleitung

ständlichung vollzogen werden, nicht Teil der Wirklichkeit sein,


wenn doch Scheler das Personzentrum als die endliche Erschei­
nung des Geistes in der Wirklichkeit versteht – ihn also in die­
ser Funktion nicht nur »vergegenständlicht«, sondern geradezu
verdinglicht? Zeigt nicht seine Geistlehre, dass sich sehr wohl
der Geist, seine Aktarten und möglichen Gegenständlichkeiten
»vergegenständlichen« lassen? Versteht man aber Schelers Geist­
lehre als ein Ergebnis der Vergegenständlichung des Geistes und
seiner vergegenständlichenden Aktarten, dann erübrigt sich die
Rückführung des Geistes auf den »obersten Seinsgrund« (S. 61,5),
und ebenso erübrigt sich die These, dass der Geist das einzige
Sein sei, das selbst gegenstandsunfähig und deshalb »reine und
pure Aktualität« sei (S. 61,22), also sein »Sein nur im freien Voll­
zug dieser seiner Akte« habe – als ob sich dieser Vollzug nicht
verwirklichen würde und dadurch reflexiv vergegenständlichen
ließe! Es gibt nach Scheler keinen Akt, der nicht intentional auf
etwas ausgerichtet wäre – von diesem intentional gemeinten
Etwas ausgehend lässt sich rückblickend auch die korrelative
Aktart und das den Akt vollziehende Personzentrum zum Ge­
genstand der Reflexion machen, da ja der den Geist konstituie­
rende Akt ein Akt des Wissens ist, einschließlich der sich selbst
als Aktzentrum wissenden Person – alles im Vollzug des sich
selbst reflektierenden Vollzugs geistiger Akte. Scheler müsste
die Unmöglichkeit der Vergegenständlichung des Geistes ganz
auf den sich unablässig erneuernden Ursprung des durch nichts
spezifizierten Vollziehens beschränken, also auf den je noch
unbestimmten, in diesem Sinne »freien« Akt der Selbstsetzung,
denn sobald der geistige Akt auf einen Gegenstand bezogen ist
und von sich weiß, dass er sich vollzieht, also sich in der Welt
manifestiert, hat er den Grund für die Unmöglichkeit seiner
Vergegenständlichung bereits verlassen, so dass er als derjenige
besondere Akt begriffen werden muss, der sich etwas zum Ge­
genstand macht. Auf diese Weise lassen sich überhaupt erst un­
terschiedliche Aktarten unterscheiden: vom Gegenständlichen
her auf einen vergegenständlichenden Akt, vom Wert her auf
einen wertfühlenden Akt, von einem Willensprojekt her auf ei­
Wesensunterschied von Mensch und Tier *137

nen volitiven Akt. Die Lehre von den vier (oder mehr) Aktarten
ist ein vielschichtiges Beispiel dafür, wieweit sich die Vergegen­
ständlichung des Geistes in ihn selbst hinein durchführen ließe
– was darüber hinaus an ihm nicht vergegenständlicht werden
kann, lässt sich dann kaum mehr anders denn als das unerklär­
liche Wunder bezeichnen, dass so etwas wie ein geistiger Akt
überhaupt in Erscheinung getreten ist. Doch dies gilt im Grunde
von allem Seienden: dass es ist, und nicht vielmehr nicht ist, und
dass es so ist, wie es ist, und nicht anders.
Geist- und Triebsphäre bilden bei Scheler einen metaphysi­
schen Dualismus, der auf eine mysteriöse Weise so verstanden
wird, dass die beiden nicht weiter reduzierbaren und vor allem
auch nicht aufeinander rückführbaren Prinzipien dennoch auf­
einander Einfluss nehmen können. Scheler verstand sich meta­
physisch in gewisser Weise als »Monist«, nämlich in dem Sinne,
dass Geist und Drang von allem Ursprung im Ens a se an von
beiden Seiten aus aufeinander bezogen sind: »Vergeistigung des
Lebens« und »Verlebendigung des Geistes« bezeichnet die ihnen
beiden vorausliegende, beide Momente verbindende Tendenz
zur wechselseitigen Durchdringung und Harmonisierung, der
sich der Mensch verdankt und die er selber weiterzuführen ver­
mag – die weiterzuführen die eigentliche Bestimmung des Men­
schen im Weltall ausmacht. Diese Auffassung hat Scheler be­
sonders nachdrücklich gegen Ludwig Klages vertreten (S. 111 ff.),
sie kommt aber auch in seiner Theorie der Sublimierung zum
Ausdruck (S. 88 f., 146 ff.), in der es um die Assimilation von
Triebenergie durch den Geist und damit um die »Erkräftigung«
oder »Energisierung« des Geistes geht, auf dass seine Ideen und
Wertvorstellungen in die Realität überführt werden können.
Man sollte dabei zweierlei nicht übersehen: erstens, dass die
Vereinigungslehre eine eminent metaphysische Lehre ist, die
Schelers Lehre vom Absoluten voraussetzt, und zweitens, dass
Scheler keine einheitliche und in sich gleichbleibende Konzep­
tion des Absoluten vertreten hat. Das ließe sich durch einen Ver­
gleich mit der theistisch fundierten Biologie von Hans André
genauer belegen. In Andrés Buch über Die Kirche als Keimzelle
*138 Wolfhart Henckmann · Einleitung

der Weltvergöttlichung (1920) hat Scheler die folgende Passage


angestrichen: »Das gemeinsame Schicksal von Geist und Körper
ist das natürliche Band der Entelechie, das beide umschlingt.
Die gemeinsame Auflösung dieses Bandes ist der Tod. Die ge­
meinsame ›Hoffnung‹ beider aber ist die Überführung der ente­
lechetischen Schicksalsgemeinschaft von Geist und Körper zur
ewigen Freudengemeinschaft in der Auferstehung und Verklä­
rung alles Fleisches, das dem mystischen Leib Christ durch die
Immanenz der Gnade angehörte.«134 Scheler hat den von André
als spezifisch katholisch bezeichneten Entelechiegedanken135 in
seiner mittleren Periode ebenfalls vertreten, auch den thomi­
stischen Gedanken der »Weltvergöttlichung« durch den Men­
schen. Davon ist er in den zwanziger Jahren mehr und mehr
abgekommen. Statt einer Weltvergöttlichung, die auch den in­
dividuellen Menschen umfasst, vertritt er in Anknüpfung an
die deutsche Mystik von Meister Eckhart und Jacob Böhme eine
»Selbstvergottung des Menschen«, die die Welt miterfasst und
dadurch mitwirkt an der Erlösung der an ihren inneren Wider­
sprüchen leidenden Gottheit: die »Selbstdeification« des Men­
schen wird zur Erlösung Gottes. Schelers Monismus, der hinter
und durch den Dualismus hindurch wirkt, ist ein »werdender«
Monismus, der teils vom Menschen angestrebt, teils hinter sei­
nem Rücken wirksam ist und den Menschen zum Werkzeug
des durch ihn hindurch und über ihn hinausgehenden schick­
salhaften Prozesses der Realisierung der Gottheit macht, ana­
log zu Hegels »List der Vernunft«, auf die sich Scheler in seiner
Geschichtsphilosophie mehrfach bezogen hat, sie aber nicht in
seine Metaphysik aufgenommen hat – sie verleugne das Prinzip
des Lebensdrangs.

134 Hans André, Die Kirche als Keimzelle der Weltvergöttlichung.


Ein Ordnungsbauriss im Lichte biologischer Betrachtung, Leipzig 1920,
S. 82 (Ana 315.Z.264).
135 »Der Leitgedanke katholischer Lebensordnung ist die Entelechie.
Die entelechetisch-organische Lebensform ist der Wesenszug der Kir­
che, in der schon das Urchristentum den ›Corpus mysticum Christi‹ er­
blickte.« (André a. a. O. 1920, S. 70).
Wesensunterschied von Mensch und Tier *139

So ist einerseits Schelers Trieb- und Geistlehre aus der Per­


spektive des werdenden Monismus wie andererseits erst aus der
dualistischen Trieb- und Geistlehre seine nur ansatzweise ent­
wickelte Lehre vom werdenden Monismus zu verstehen. In die­
sem Rahmen erweist sich die in der Kosmos-Schrift skizzierte
Geistlehre als ausgesprochen fragmentarisch. Nach Schelers
Auffassung muss die Geistlehre dem ersten Attribut der Gott­
heit »ebenbildlich« entsprechen, also dem Attribut der »Deitas«,
so dass sich die Geistlehre nicht allein auf die Aktart des Ideen-
Denkens beschränken lässt, auch wenn Scheler später einmal
sagt, dass der menschliche Geist durch die Ideenerkenntnis
»recht eigentlich definiert« werde (S. 68,18) – eine sehr vage
Aussage. Mindestens zwei Schritte sind erforderlich, um ihren
Sinnhorizont zu erschließen: der Schritt zu einer Lehre aller
Aktarten des Geistes und der Schritt zu dem von Scheler sog.
»transzendentalen Schluss«, wonach sich aus der vollständigen
Lehre von den möglichen Akten des menschlichen Geistes auf
die Aktarten des göttlichen Geistes schließen lässt.
Schelers Geistlehre ist allein schon dadurch Missverständ­
nissen ausgesetzt, dass er von »Akten« spricht. Im Deutschen
wird »Akt« normalerweise synonym verwendet mit »Tätigkeit«
oder »Handlung«, was Scheler aber gerade ausschließen will,
weil »Tätigkeit« immer die für sie erforderliche Energie bereits
einschließt. Scheler will »Akt« allein als phänomenologischen
Terminus verstanden wissen, wonach er nichts anderes bedeu­
ten soll als eine »reine Intention«, als die Ausrichtung des Be­
wusstseins auf ein Etwas in einer diesem Etwas korrelierenden
»Aktart«, z. B. Denkakt und Gedachtes, Fühlakt und Gefühltes.
Wenn Scheler vom »Vollzug« geistiger Akte spricht, nimmt er
nicht nur eine Zeitlichkeit in den Akt auf, sondern auch wieder
unvermeidlich eine Art von Tätigkeit, die sich von anderen un­
terscheidet. Dies lässt sich nur denken, wenn er den Geist eben
nicht als ohnmächtig denkt, sondern immer schon mit Energie
versehen, denn wie wäre eine Aktualisierung von Akten ohne
den »Dampf« möglich, »der bis in die lichtesten Höhen geisti­
ger Tätigkeiten alles treibt, auch noch den reinsten Denkakten
*140 Wolfhart Henckmann · Einleitung

und zartesten Akten lichter Güte die Tätigkeitsenergie liefert«


(S. 12,4 – 7)? »Von Hause aus«, das heißt: in einem radikalen
Sinne »ursprünglich«, dürfte dem Geist nichts weiter als eine
reine Potentialität zu Aktvollzügen zugeschrieben werden, weil
für jegliches Tätigsein bereits Energie erforderlich wäre. Ein von
aller Energie freier Geist kann nur in vollkommener Trennung
von jeglicher Form von Leben gedacht werden, was sowohl für
den Menschen als auch für Gott gilt. Doch sobald man ihn dem
Menschen oder Gott zuspricht, besteht bereits eine Verbindung
mit dem Leben; nur als »reine Wesenheit«, nicht aber in irgend­
einer Form von Existenz ist der Geist ohne alle Macht – doch als
pure Wesenheit »gibt es« den Geist gar nicht, denn nach Sche­
ler ist ein Wesen stets mit seinem Dasein verbunden. Gibt man
dies zu, dann erscheint Schelers These von der Ohnmacht des
Geistes als eine einzige rhetorische Übertreibung, vollends in­
nerhalb einer bereits seit Jahrtausenden in vielen Kulturkreisen
entwickelten Geistestradition, in der den »reinen Intentionen«
schon so viel Energie zur Verfügung stand, dass er sich auf viel­
fältige Weise »funktionalisieren« konnte zu unterschiedlichen
Aktarten, die sich nicht nur deutlich voneinander abzugrenzen
vermochten, sondern auch ohne Energieengpässe tagtäglich tä­
tig sind. In einem so differenzierten Kulturzeitalter wie dem, in
dem Schelers Leben und Denken stattfand, davon zu sprechen,
dass dem Geist »von Hause aus« keinerlei Energie zur Verfü­
gung stehe, hieße jedem möglichen Gedanken die Existenz ab­
sprechen, einschließlich der Lehre Schelers von der Ohnmacht
des Geistes. Dass Scheler mit »von Hause aus« tatsächlich ei­
nen ursprünglichen reinen Wesensgegensatz von Geist und Le­
bensdrang gemeint haben muss, ergibt sich aus seinem Versuch,
Freuds Begriff der Sublimierung aus dem psychoanalytischen
Kontext herauszulösen und zu einem ontogenetischen Grund­
gesetz zu verallgemeinern, doch dieser Versuch deutet sich in
der Kosmos-Schrift nur erst in einigen wenigen Spuren an.136

136 Dem Manuskriptheft über die Monopole des Menschen (B.I.17)


hat Scheler »anliegend Heft 17 S. 71« (unten S. 92 f.) drei lose, unpaginierte
Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes *141

3. Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes


(S. 64 – 72)

Scheler gliedert den dritten Abschnitt nach den einleitenden


Worten (S. 64 – 67) in zwei Teile: in Überlegungen zur »phäno­
menologischen Reduktion« als Technik der Widerstandsaufhe­
bung (S. 67 – 71) und zum Menschen als dem Asketen des Lebens
(S. 71 f.). Mit diesen Themenkreisen war weder in der Anthro­
pologie-Vorlesung von 1925 noch in der letzten der bekannten
Dispositionen ein eigenes Kapitel geplant, doch finden sich diese
Überlegungen speziell für das Darmstädter Publikum im Vor­
tragsmanuskript an der vorgesehenen Stelle (B.I.17, S. 39 – 48); sie
enthalten einige nachträglich eingefügte Hinweise zur Gliede­
rung der Argumentationsfolge.
In den einleitenden Bemerkungen will Scheler die Eigenart
des Geistes »im einzelnen klarer machen« (S. 64,4) – eine popu­
läre Bezeichnung, die für »analysieren« oder »interpretieren«
steht. Dabei geht es ihm, wiederum anhand von Beispielen,
diesmal anhand eines ideierenden Aktes (die Wahl des Beispiels
wird nicht erläutert), um die Abgrenzung der Geistesakte von
Erkenntnisweisen der »technischen« (S. 64,6) oder »schlussfol­
gernden« (S. 65,30) Intelligenz bzw. allgemeiner von den Erkennt­
nisformen der positiven Wissenschaften. Er stellt den durch den
Geist erkannten »essentiellen Weltbeschaffenheiten« die durch
die Intelligenz an »zufälligen, jetzt-hier-so-seienden Tatsachen«
erkannten Eigenschaften entgegen, außerdem die »essentiellen
Aufbauformen der Welt« den »induktiven Schlussfolgerungen«,
die die positiven Wissenschaften aus den Beobachtungen der
sinnlichen Erfahrung treffen. Am Ende bezeichnet er die We­
senserkenntnisse als Einsichten »a priori« (S. 66,3), was einige
Interpreten als eine Annäherung an den Kritizismus Kants,137

Blätter aus einem Notizheft beigelegt, auf denen er in 28 Punkten seine


Lehre von der Sublimierung skizziert hat (unten S. 146 – 149).
137 Friedrich Kreis, vgl. unten den Abschnitt zur ersten Rezeption der
Kosmos-Schrift.
*142 Wolfhart Henckmann · Einleitung

andere als eklatantes Missverständnis Kants,138 die Mehrzahl


der Phänomenologen aber als Schelers phänomenologische Auf­
fassung von Einsichten a priori aufgefasst haben: nämlich als
ein Wissen von »unendlicher Allgemeinheit von allen mögli­
chen Dingen, die dieses Wesens sind« (S. 65,13 f.). Die Einsichten
a priori sind prinzipiell und vollständig von allen empirischen
Eigenschaften zu unterscheiden, die wir durch unsere sinnli­
che Erfahrung gewinnen, ja sie sind so radikal von empirischen
Erfahrungen abgelöst, dass Scheler sie umstandslos einem »in­
tellectus archetypus« zuschreibt, den der Mensch »besitze«
(S. 66,16). Ob er damit nur den »Vernunft«-Teil bzw. das Ideen­
denken des menschlichen Geistes meint oder den Geist mit allen
seinen Aktarten, ist schwer zu entscheiden.
Im zweiten Absatz der einleitenden Bemerkungen nimmt
Scheler »metanthropologische« Gedanken auf, die der Skizze
von der Stellung der Anthropologie im System der Philosophie
entsprechen. Die metanthropologischen Bemerkungen beziehen
sich auf »zwei sehr verschiedene Funktionen« von Wesenser­
kenntnissen (S. 66,4). Dies bezieht sich auf die Unterscheidung
der zwei Arten von Metaphysik: Die »metaszientistische« Funk­
tion besteht darin, dass die essentiellen Wesenseinsichten »für
alle positiven Wissenschaften die obersten Axiome« bilden, »die
uns die Richtung einer fruchtbaren Beobachtung, Induktion und
Deduktion durch Intelligenz und diskursives Denken allererst
weisen« (S. 66,5 – 8) – man erkennt hieran, wie weit sich die »In­
telligenz« in die Sphäre der obersten Wissensformen erstreckt.
Die »metaphysische« Funktion bestimmter Wesens­erkenntnisse
hingegen besteht in der Einsicht, dass sie auf keinerlei empi­
rische Ursachen endlicher Art zurückgeführt werden, sondern
»nur dem einen übersingulären Geiste als Attribut des übersin­
gulären seienden Ens a se zugeschrieben« werden können. Der

138 Karl Alphéus, Kant und Scheler. Phänomenologische Untersu­


chungen zur Ethik zwecks der Entscheidung des Streites zwischen der
formalen Ethik Kants und der materialen Wertethik Schelers, Diss. Frei­
burg/Brsg 1936.
Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes *143

übersinguläre Geist, an dem der singuläre endliche Geist der


Menschen teilhat, ist das eine der beiden Attribute des Ens a se;
das andere ist der Lebensdrang. Beide sind voneinander streng
unterschieden, so dass die beiden Attribute auch im Ens a se ge­
mäß dem Axiom der »Ebenbildlichkeit« streng voneinander un­
terschieden sein müssen, auch wenn sie beide gemeinsam in der
ewigen Substanz fundiert sein sollen – aber welches Verhältnis
besteht zwischen diesen beiden Attributen des Ens a se? Diese
Frage ist in der Kosmos-Schrift als ein kaum angesprochenes,
offenes Problem liegen geblieben, auf das Scheler wohl erst in
seiner Metaphysik näher eingegangen wäre.
Aus den metanthropologischen Funktionen apriorischer Ein­
sichten leitet Scheler einen Satz ab, dem er eine im Druckbild
deutlich hervorgehobene, grundlegende Bedeutung beimisst:
»Diese Fähigkeit der Trennung von Dasein und Wesen macht
das Grundmerkmal des menschlichen Geistes aus, das alle an-
deren Merkmale erst fundiert.« (S. 67,1 – 3) Die Fähigkeit des
menschlichen Geistes führt demzufolge zu einer Fundierungs­
ordnung, die zu der bereits erwähnten »monarchischen Anord­
nung der Aktarten« auf eine nicht genauer bestimmte Weise
hinzukommt. Scheler hatte zuvor die vier Aktarten als »Merk­
male« des Geistes bezeichnet, wie auch hier die Fähigkeit der
Trennung von Dasein und Wesen als ein »Merkmal« verstanden
wird, aber nicht bloß allgemein als »ein«, sondern als das ei­
gentliche, alles fundierende »Grundmerkmal«. Es wäre also als
das fundierende Merkmal von den anderen, fundierten Merk­
malen zu unterscheiden, so dass implizit eine fünfte Aktart
eingeführt wird, durch die die anderen vier fundiert werden,
nicht nur im Verhältnis zum Grundmerkmal, sondern auch im
Verhältnis zueinander. Die Fundierung ist unter anderem so zu
verstehen, dass alle vier Aktarten, wie immer sie ihrem Wesen
nach auch agieren mögen, jedenfalls eine dem Grundmerkmal
entsprechende Trennung von Wesen und Dasein ausführen und
einhalten. Den einleitenden Worten dieses Abschnitts zufolge
wäre der Satz über das »Grundmerkmal« als Klärung der bereits
getroffenen Aussagen über den Geist zu verstehen.
*144 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Hinzukommt noch eine Erläuterung von Schelers krypti­


scher Lehre von der »Funktionalisierung« des Geistes (S. 9). Die
Fähigkeit zur Trennung zwischen Dasein und Wesen wird auf
irgendeine Weise verbunden mit der nicht analytisch gewon­
nenen, sondern synthetisch hinzugefügten »phänomenologi­
schen«, vielleicht »intuitiv« gewonnenen Einsicht, dass es eine
konstante Vernunftorganisation, wie sie Kant in seinen Kriti­
ken aufgewiesen hat, nicht gebe. Konstant sei allein die Anlage
und Fähigkeit der Vernunft, aus Wesenseinsichten »immer neue
Denk- und Anschauungsformen, Liebens- und Wertungsfor­
men zu bilden und zu gestalten« (S. 67,10 f.). Diese vier Aktarten
werden hier in zwei Gruppen geteilt: Denk- und Anschauungs­
formen bilden die Gruppe der noetischen Aktarten, Liebens-
und Wertungsformen die axiologischen Aktarten. Die noeti­
schen und die axiologischen Aktarten sollen vermutlich das
Ganze des menschlichen Geistes repräsentieren, alle fundiert
im »Grundmerkmal« der Fähigkeit zur Trennung zwischen
Dasein und Wesen. Wie es zur Bildung solcher »Aktformen«
und nicht vielmehr zu Missbildungen des Geistes kommt und
ob nicht auch der geschichtliche Wandel der Formung geistiger
Akte bestimmten »Formungen« etwa nach dem Spengler’schen
Modell einer Morphologie von Kulturen unterliegt, sind Fragen
von Schelers Geschichtsphilosophie, die, wie an diesen Ausfüh­
rungen absehbar wird, bis in die allerersten Ausdrucks- und
Erscheinungsformen des Geistes hineinreichen.
Es liegt zweifellos an der Bedeutung, die Scheler dem »Grund­
merkmal« des Geistes zuspricht, dass er glaubt, seine Auffas­
sung von der »phänomenologischen Reduktion« genauer dar­
legen und vor einer Verwechslung mit Husserls Auffassung
bewahren zu sollen.
Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes *145

3.1 Phänomenologische Reduktion und Widerstands­


aufhebung (S. 67 – 71)

Scheler ändert erneut die Richtung seiner Überlegungen: Er will


nicht mehr die Eigenart des Geistes klären, sondern »tiefer in
das Wesen des Menschen dringen« (S. 67,15 f.) – was aber ist »tie­
fer« als der Geist? Das Wesen des Menschen besteht aus einer
rätselhaften Verbindung von Geist und Lebensdrang. Da Sche­
ler aber nur den Geist als das Definiens des Menschen gelten
lässt, könnte er entweder gemeint haben, mit der phänomeno­
logischen Reduktion tiefer in das Wesen des Geistes eindrin­
gen oder aber das Verhältnis zwischen Geist und Lebensdrang
klären zu können – zwei sehr unterschiedliche Problemstel-
lungen.
Der Akt der Ideierung beruht auf der Trennung von Wesen
und Dasein. Deshalb müsste das »Gefüge der Akte«, die zum
Akt der Ideierung führen, diejenigen Akte betreffen, die diese
Trennung herbeiführen; als »Akte« müssten sie aber ebenfalls
ideierend agieren. Hat Scheler den Begriff »Akt« bisher streng
von den realen »Tätigkeiten« des Menschen unterschieden, so
scheint er nun diese Unterscheidung aufzugeben und Akte
als real vollzogene Techniken zu verstehen. Der Begriff der
»Technik« muss seinerseits plastisch genug verstanden wer­
den, da Scheler auch von einer unbewusst vollzogenen Tech­
nik (S. 67,17 f.) spricht, womit das Verhältnis zwischen Geist und
Bewusstsein angesprochen ist. Jedenfalls ist es nicht der Geist,
sondern der Mensch, der, mitten in der Wirklichkeit stehend
und von seiner Umwelt umgeben, dieser Wirklichkeit, d. h.
dem ihn umgebenden Jetzt-Hier-Sosein der ihn umgebenden
Erfahrungswelt, ein kräftiges »Nein«, eine totale Zurückwei­
sung entgegenschleudert (was für ein Bild!), wodurch (neuer­
lich) der »menschliche Geist recht eigentlich definiert« (S. 68,18)
werde – fragt sich nur, was es ist, das das Nein der Wirklichkeit
entgegenschleudert: der Geist des Menschen, der die ihm eigene
reale Technik der Reduktion ausübt, die aber, da sie »wirklich«
vollzogen wird, ebenfalls unter das Nein fallen müsste, so dass
*146 Wolfhart Henckmann · Einleitung

sich der Geist selbst negieren würde, oder ob der Mensch durch
den real empfundenen Druck und die Enge der Wirklichkeit,
also durch Angst und Leid zu einem Nein getrieben wird, das
ihm allererst die Möglichkeit zu nicht wirklichkeitsgebunde­
nen, »freien« Verhaltensweisen, also die Möglichkeit zu geisti­
gen Aktarten eröffnet? Ob die Beispiele von Buddha, Platon und
Husserl für die eine oder die andere oder für noch weitere Deu­
tungen sprechen, wäre im Zusammenhang mit Schelers Bemer­
kungen zum Wirklichkeitserlebnis weiter zu untersuchen, die er
in seiner Philosophie der Wahrnehmung139 und im Aufsatz über
»Idealismus – Realismus«140 dargestellt hat.
Aus den sehr wenigen und kurzen Ausführungen zum Wirk­
lichkeitserlebnis, die sich in der Kosmos-Schrift finden, sei die
zentrale These hervorgehoben, dass das »ursprüngliche Wirk­
lichkeitserlebnis als Erlebnis ›des Widerstandes der Welt‹«
(S. 69,4 f.) gegen den (ebenfalls der Welt angehörenden) zentra­
len Lebensdrang des Menschen zu verstehen sei, das allem Be-
wusstsein, aller Vorstellung, aller Wahrnehmung vorhergehe.
Damit meint Scheler nicht ein zeitliches Vorhergehen, so dass
der Mensch erst nach einer bestimmten Dauer seines Daseins
unter dem Zwang des Lebensdranges zu Wahrnehmungen und
Vorstellungen gelangen könne, sondern dass alle Wahrneh­
mung, Vorstellung, alles Bewusst-sein von vornherein mitbe­
dingt sei durch einen primären »Impuls unseres Lebensdranges«
(S. 70,1), wann immer der erlebt wird. Was unter dem »Mitbe­
dingtsein« zu verstehen ist, bleibt ebenfalls unausgeführt. Wich­
tig für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen ist je­
doch, die These von der Gleichursprünglichkeit von Geist und
Lebensdrang im Auge zu behalten, die sich spiegelt in der These,
dass Wesen stets mit Dasein und Dasein stets mit Wesen ver­
bunden seien.

139 M. Scheler, Zur Philosophie der Wahrnehmung (1926), GW 8,


S. 282 – 358.
140 M. Scheler, Idealismus – Realismus (1928), GW 9, S. 183 – 241, mit
den wichtigen Zusätzen S. 243 – 304.
Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes *147

Scheler wollte das »Gefüge der Akte«, zusammengefasst zum


»Akt der Reduktion« (S. 68,19) vorstellen, die zum Akt der Ideie­
rung hinführen (S. 67,16 f.) – das Gefüge der reduktiven Akte
wäre demzufolge nicht mit dem Akt der Ideierung zu identifi­
zieren, der durch die Reduktion allererst ermöglicht wird, denn
allein dadurch, dass alles Reale an etwas Gegebenem aufgeho­
ben wird, ist noch nicht sein Wesen gegeben. Später identifi­
ziert Scheler dann allerdings doch die beiden Akte: Der Akt der
Reduktion, verstanden als Entwirklichung, wird gleichgesetzt
mit dem Akt der Ideierung: »Was heißt es, die Welt entwirk­
lichen oder die Welt ›ideieren‹?« (S. 70,11 f.) Die Antwort fällt
missverständlich aus, da Scheler den Akt der Reduktion als
»versuchsweise« Aufhebung des Realitätsmomentes bestimmt
(S. 70,14), als eine Art von geistigem Experiment – von was für
einem Subjekt geht dieser Versuch aus, der auf einmal auch noch
mit einem »affektiven Korrelat« zu kämpfen hat, nämlich mit
der »Angst des Irdischen« – woher kommt auf einmal dieses
ursprüngliche Leiden an der Wirklichkeit, das keinerlei Beja­
hung der Wirklichkeit mehr zulassen soll? Von Heidegger? Wie
kann eine bloß versuchsweise, vielleicht dem Probierverhalten
der Tiere ähnliche Aufhebung des Wirklichkeitsdrucks über­
haupt zu der von Scheler behaupteten »Annihilation«, zu einer
Außerkraftsetzung des Realitätseindrucks führen, wo doch
der Lebensdrang unbeeindruckt weiterhin bestehen bleibt und
bestehen bleiben muss, da er ja kontinuierlich die für geistige
Tätigkeiten erforderliche Energie zu liefern hat? Scheler müsste
dem Geist als dem Subjekt des Annihilisationsaktes eine dem
Lebensdrang überlegene Kraft zusprechen, um seine existenzi­
elle Deutung der phänomenologischen Reduktion plausibel er­
scheinen zu lassen, und eine so exzessive Deutung des mensch­
lichen Geistes scheint er tatsächlich gemeint zu haben: »Diesen
Akt aber kann nur eben jenes Sein vollziehen, das wir ›Geist‹
nennen. Nur der Geist in seiner Form als reiner ›Wille‹ kann die
Inaktualisierung jenes Gefühlsdrangszentrums bewirken, das
wir als den Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen erkann­
ten.« (S. 71,2 – 6) Wenn Scheler hier dem »reinen Willen« (worin
*148 Wolfhart Henckmann · Einleitung

der besteht, bleibt unausgeführt; an einer späteren Stelle spricht


er von einer »reinen Intention«, die auf ein sein-sollendes Pro­
jekt gerichtet ist, also nichts mit dem Willen als Begehrungs­
vermögen zu tun hat) ein solches Vermögen zuspricht, dann
schreibt er einer der vier Aktformen des Geistes eine Funktion
zu, die ihn in Konkurrenz zu dem eben behaupteten »Grund­
merkmal« der Trennung zwischen Drang und Wesen versetzt.
Denn kommt der Geist nicht erst dadurch in die Lage, zwischen
Drang und Wesen zu unterscheiden, dass der reine Wille über
die Kraft verfügt, den Lebensdrang zu entaktualisieren? Oder
vermag der reine Wille erst dann den Lebensdrang zu entaktua­
lisieren, wenn er durch die Grundfähigkeit der Unterscheidung
überhaupt erst wissen kann, was genau er zu entaktualisieren
hat? Durch Schelers Ausführungen wird zunehmend fraglich,
was unter dem »Gefüge« der Akte zu verstehen ist, das den We­
sensaufbau des Geistes ausmachen soll, denn wodurch das Ge­
füge zusammengefügt wird und auf welche Weise es verfugt ist,
wird nicht gesagt; ebenso wenig im Übrigen, auf welche Weise
aus dem realen Jetzt-Hier-Sosein die »Idee« als ein apriorisches
Wesen gewonnen werden kann, das sich ja wohl kaum aus all
den zufälligen oder mehr oder weniger wesentlichen Eigen­
schaften zusammensetzen kann, die der Akt der Entaktualisie­
rung übrig gelassen hat.

3.2 Der Mensch als Asket des Lebens (S. 71 – 72)

Im letzten Absatz kehrt Scheler von den Ausführungen über


den Geist zur Frage nach dem Wesen des Menschen zurück –
was veranlasst ihn dazu? Soll der annihilierende Geist an das
dual zusammengesetzte Lebewesen Mensch zurückgebunden
werden, damit auch in diesem eine Tendenz zur Annihilisa­
tion von Realem aufgewiesen werden kann und damit die nihi­
listischen Tätigkeitsformen anthropologisch verständlich ge­
macht werden können? Scheler versteht den Menschen als ein
»vernunftbegabtes Lebewesen«. An der gegenwärtigen Stelle
Ideierende Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes *149

der Kosmos-Schrift erläutert er dasjenige, was er sonst als mit


»Geist« oder »Vernunft begabt« bezeichnet, durch die Fähigkeit
des menschlichen Individuums, sich zu seinem Leben »prinzi­
piell asketisch« verhalten zu können – der Akt der Ideierung
wird zu einem existenziellen Verhalten, zu einem Vorkommnis
der alltäglichen Lebenspraxis. Was Scheler zuvor pathetisch als
Entgegenschleudern eines Nein zum Leben verkündet hat, wird
durch weitere Metaphern illustriert: Asket des Lebens, ewiger
Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit, Neinsagenkönner
usw. – was philosophisch damit gesagt sein soll, kommt in den –
ebenfalls wieder metaphorischen – Aussagen über das Verhal­
ten des Menschen zu seinen Triebimpulsen zum Ausdruck. Der
Mensch, der sowohl Trieb- als auch Vernunftwesen ist, soll im
Verhalten zu sich selbst die eigenen Triebimpulse unterdrücken
und verdrängen (S. 71,9 f.) – aber in welchem Maße? Und welche
der eigenen Triebimpulse – auch den emotionalen Impuls zur
Philosophie, die Verwunderung oder das Staunen, die Scheler
in der Wissenssoziologie als spezifisch geistige Verarbeitungs­
form dem angeborenen, auch den Tieren eigenen Triebimpuls
der »Neugier« entgegengestellt hat?141 Darauf geht Scheler in der
Kosmos-Schrift nicht ein, es sei denn an der Stelle, an der er
dem Menschen die Fähigkeit zuerkennt, sein Leben frei zu been­
den (S. 53,8 f.). Scheler greift nur die Frage auf, auf welche Weise
der Mensch die Triebimpulse, die er zuvor als gleichursprüng­
lich mit dem Geist bezeichnet hat, unterdrücken und verdrän­
gen, aber offenbar nicht ausmerzen oder »annihilieren« kann.
Unterdrückung und Verdrängung erläutert Scheler durch ein
merkwürdiges Bild: den (allzu eigensinnigen, ungehorsamen)
Triebimpulsen wird die für sie gierig erstrebte, lebenswichtige
Nahrung in Form von Wahrnehmungsbildern und Vorstellun­
gen aus der Lebenswelt des Menschen vorenthalten, was in sich
schon eine seltene biochemische These darstellt, aber wer oder
was trifft die Wahl und hat die Kraft, aus den hier und jetzt
zur Verfügung stehenden Vorstellungen diejenigen den ande­

141 M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, GW 8, S. 65 f.


*150 Wolfhart Henckmann · Einleitung

ren vorzuziehen, die für die Realisierung des beabsichtigten


Askese-Projekts geeignet sind? Das Bild hält aber noch eine an­
dere, eine positive Funktion bereit: Durch den Entzug lebens­
wichtiger Nahrung verkümmert nämlich die Triebenergie nicht
und geht auch nicht verloren, sie verliert nur ihre Bindung an
die zu beseitigenden Wahrnehmungsbilder und wird dadurch
frei für eine Bindung an die erwünschten Bilder und die da­
mit verbundene Energieumwandlung in geistige Energie – der
Mensch kann (offenbar in indifferenter Haltung zu seinen bei­
den Wesensmomenten von Geist und Lebensdrang) dem »ihm
einwohnenden Geiste die in den verdrängten Trieben schlum­
mernde Energie steigend zuführen« (S. 72,11 f.), so als ob er den
Geist füttere (und dadurch dressiere? züchte?). Der Mensch,
nicht der Geist ist es, der mittels einer bestimmten Technik,
die Scheler als phänomenologische Reduktion bezeichnet, frei
über die ihm verliehene Lebensenergie verfügen und sie entwe­
der dem Triebleben überlassen oder sublimiert dem Geist zu­
leiten kann – was aber veranlasst ihn, die Triebenergie in die
eine oder in die andere Richtung zu leiten? Oder ist der Mensch
etwa überhaupt nicht frei in seiner Energieverteilung, sondern
Spielball eines in seinem Inneren hin und herwogenden, von
ihm nicht zu beherrschenden Kampfes zwischen Lebensdrang
und Geist um einen höheren Anteil an der Lebensenergie? Wie
bildet sich – platonisch gesprochen – der Wagenlenker aus, der
die beiden Rosse zum angestrebten Ziel, dem »Willensprojekt«,
leiten soll? Nach Schelers Metapher müsste das gutmütige Ross
(der Geist) das wilde Ross (den Lebensdrang) lenken, denn für
einen die Sublimierung der Lebensenergie leitenden und dem
Anliegen beider Rosse gerecht werdenden Lenker lässt seine
Metapher keinen Platz. Der Leser muss deshalb eine korrekte
Vorstellung von Schelers Phänomenologie zu entwickeln ver­
suchen, um seine Metaphern richtig, d. h. seiner Philosophie
gemäß, verstehen zu können.
Negative und klassische Theorie vom Menschen *151

4. Negative und klassische Theorie vom Menschen


(S. 73 – 93)

Scheler stellt im vierten Abschnitt erneut eine »entscheidende


Frage« – bezog sie sich zu Beginn des zweiten Abschnitts auf das
»ganze Problem« der Sonderstellung des Menschen (S. 45,2), so
bezieht sie sich jetzt auf die Teilfrage, ob in der Verdrängung
der Lebensenergie der Ursprung des Geistes liege oder ob die
Verdrängung den schon von Anfang der Weltgeschichte an als
Wesen-sein vorhandenen Geist nur mit der für seine Tätigkei­
ten erforderlichen Energie beliefere. Der vierte Abschnitt führt
also in unmittelbarem Anschluss an die letzten Worte des Ab­
schnitts III die Probleme der Ideierung und der Lehre vom Geist
fort, die zwischen einer anthropologischen, das ganze Wesen
des Menschen, und einer allein den Geist betreffenden Frage
schwankt. Die bloße Geistfrage wird nun aber zur vollständi­
gen, der gesamten Mikrokosmosnatur des Menschen entspre­
chenden anthropologischen Frage erweitert, die Scheler in drei
Teilfragen gliedert. In der ersten erörtert er die von ihm soge­
nannte »negative Theorie« des Menschen, wonach der Geist des
Menschen durch das Neinsagenkönnen allererst entstehe, in der
zweiten geht er auf die klassische Theorie des Menschen ein, in
der dem Geist eine seinskonstituierende Macht zugeschrieben
wird, und in der dritten Teilfrage entwickelt Scheler seinen ei­
genen, vermittelnden Standpunkt, wonach »zwar durch jenen
negativen Akt die Energisierung des von Hause aus ohnmäch­
tigen, nur in einer Gruppe von reinen ›Intentionen‹ bestehen­
den Geistes erfolge, nicht aber eben hierdurch der Geist allererst
›entspringe‹« (S. 75,4 – 7) – es ist eine vermittelnde Position allein
im Verhältnis zu den beiden einseitigen Theorien, aber noch
nicht im Verhältnis zur anthropologischen Grundfrage nach ei­
nem angemessenen Verhältnis zwischen Lebensdrang und Geist
überhaupt. Erst im dritten Unterabschnitt entwirft Scheler mit
einer schrittweise durchgeführten Darstellung des Verhältnis­
ses zwischen »Geist und Macht in Natur, Mensch, Geschichte
und Weltgrund« (S. 85 – 93) seine Auffassung von der Stellung
*152 Wolfhart Henckmann · Einleitung

des Menschen zu diesen vier verschiedenen Bereichen der Wirk­


lichkeit. Er gibt zu, dass er dabei »ein wenig hoch gestiegen«
sei (S. 84,3), aber er erreichte eine Höhe, von der aus sich eine
großartige Übersicht über den im Menschen zentrierten »Kos­
mos« eröffnet.
Die beiden einander entgegengesetzten Theorien bezeich­
net Scheler in rhetorisch apodiktischer Weise schlechthin als
»falsch« (S. 82,8). Er betont damit erneut, dass es ihm um eine
durchgreifende Ablösung von tradierten Ideen und um eine
radikal ansetzende Neubegründung der philosophischen An­
thropologie geht. Dies steht allerdings im Widerspruch zu
seinen Aussagen zur »Methode der philosophischen Anthro­
pologie«, wonach »alle hist[orischen] Wesensbegriffe ›bewahrt‹
und zugleich so als mögl[iche] Teilmomente verst[anden] wer­
den, daß sie aus der ges[amten] Struktur des Sein[s] des Men­
schen verständlich werden. So hat die negat[ive], klass[ische],
die natur[alistische] Lehre, die jüd[ische] und christl[iche]
relat[iv] Recht. Das Selbstbew[ußtsein] des M[enschen] ändert
sich zwangsmäß[ig] nach 1.) Const[itution] 2.) bes[onderen]
hist[orischen] Situationen.«142
Warum nimmt Scheler hier die bereits am Anfang behandelte
Frage der traditionellen Ideenkreise noch einmal auf, in denen
das Wesen des Menschen bestimmt worden ist? Die Wiederauf­
nahme unterscheidet sich von der einleitenden jedoch in minde­
stens drei Aspekten: Sie wird um neue Ideenkreise erweitert, die
methodologische Kritik der herrschenden »Vorurteile« wandelt
sich zur anthropologischen Frage nach der richtigen Auffassung
des Geistes in seinem Verhältnis zum Lebensdrang, und die in­
haltlichen Lehren der überlieferten Theorien bzw. »Ideenkreise«
werden auf zwei kategoriale Grundstrukturen zurückgeführt:
auf die Konstitution des Mensch-Seins und auf die besonde­
ren historischen Situationen, in denen sich die Theorien (wei­
ter)bilden: die anthropologisch vollständige Auffassung des
Menschen besteht aus der Wesenskonstitution und der histo­

142 B.I.2, S. 58, Nr. 11.


Negative und klassische Theorie vom Menschen *153

rischen Realität des Menschen. Die einleitenden Bemerkun­


gen des Abschnitts IV lassen deshalb erwarten, dass die bei­
den ausgewählten Theorien nach den angegebenen kategorialen
Grundstrukturen und damit nach eigener Methodik dargestellt
werden, aber das bestätigt sich nicht, die Argumentation bleibt
unvollständig; Gründe werden dafür nicht genannt. Es geht im
Grunde nicht mehr darum, die herrschenden Vorurteile zu neu­
tralisieren, sondern darum, die eigene Position in der Ausein­
andersetzung gegenüber den beiden Positionen zu präzisieren.

4.1 Zur Lehre von der Ohnmacht des Geistes

In den einleitenden Bemerkungen zum Abschnitt IV konfron­


tiert Scheler seine Leser erneut mit seiner umstrittenen These,
dass der Geist »als solcher […] in seiner ›reinen‹ Form ursprüng­
lich schlechthin ohne alle ›Macht‹, ›Kraft‹, ›Tätigkeit‹ [sei]. Um
überhaupt irgendeinen noch so kleinen Grad von Tätigkeit zu
gewinnen, muß jene Askese, jene Triebverdrängung und gleich­
zeitige Sublimierung hinzukommen, von der wir sprachen.«
(S. 73,12 – 17). Die Aussage ist insofern missverständlich, als
Scheler am Anfang vom »reinen Geist« spricht, dem keinerlei
Macht verliehen sei, dann implizit auf den im Menschen ver­
leiblichten Geist übergeht, dessen reale Tätigkeit einen mit sub­
limierter Lebensenergie bereits versehenen Geist voraussetzt,
und schließlich die These aufstellt, dass sich die Sublimierung
durch die zweiseitige Tätigkeit der Askese vollziehe, durch die
die Triebenergie einerseits verdrängt werde, andererseits eine
den Geist energisierende sublimierte Energie hervorbringe.
Scheler teilt mit der »negativen Theorie« die Auffassung, dass
der Geist »von Hause aus« ohnmächtig sei, da er nur »in einer
Gruppe von reinen ›Intentionen‹«, dem vorher sog. »Gefüge gei­
stiger Aktarten«, bestehe, und dass er einer Zufuhr von Energie
bedürfe, die durch die Sublimierung entstehe (S. 75,5). Scheler
grenzt sich von der negativen Theorie dadurch ab, dass die Sub­
limierung zwar die Energisierung, aber nicht die Entstehung des
*154 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Geistes herbeiführe. Ursprünglich soll der Geist eine Seinsart


ohne irgendeine Energie sein, was aber nur von seiner »reinen«
Form gelten kann, die noch keinerlei »Funktionalisierungen«
erfahren hat – vergleichbar etwa dem über den Wassern schwe­
benden Geiste Gottes, bevor er das erste Schöpfungswort ge­
sprochen hat.
Man hat die These von der Energisierungsbedürftigkeit des
Geistes als eine den Menschen entwürdigende Anschauung, als
eine Reduktion des Menschen auf ein bloßes Triebwesen kri­
tisiert. Dabei hat man übersehen, dass Scheler nur den Geist
als solchen, den »reinen« Geist gemeint haben kann – in die­
ser Reinheit kann er im leiblichen Vernunftwesen »Mensch«
gar nicht vorkommen, nicht einmal durch eine noch so radi­
kale Durchführung der phänomenologischen Reduktion. Der
irdische Mensch kann konstitutiv gar nicht einen gänzlich ohn­
mächtigen Geist besitzen, sondern immer nur einen, der durch
die Verleiblichung bereits über ein gewisses Maß von sublimier­
ter Lebensenergie verfügt, auch wenn dieser Geist noch gar nicht
(beim Neugeborenen) oder gar nicht mehr (bei manchen alten
Menschen) dem Menschen zur Verfügung steht – denn wo im­
mer es Menschen gibt, sind sie bereits geistbegabte Lebewesen,
auch schon im Diluvium, Delirium oder im Baby-, Pubertäts-
oder Greisenalter. Die Sublimierung ist »von Hause aus« keine
willentlich initiierte und geleitete Tätigkeit, sondern ein in der
dualen Struktur des gesamten irdischen Daseins und deshalb
auch im Mensch-Sein zur Erscheinung kommender Prozess, aus
dem das bestehende Weltall, die Lebewelt und schließlich auch
der Mensch hervorgegangen sind.

4.2 Zur negativen Theorie (S. 75 – 82)

Die »negative Theorie«, die den Menschen wesentlich als »Ne­


gierer«, Verdränger oder Überwinder des Lebensdrangs be­
greift, beruht auf einer Jahrhunderte alten Tradition, die Sche­
ler bis auf Buddha zurückführt und zu deren abendländischen
Negative und klassische Theorie vom Menschen *155

Vertretern er unter anderem Schopenhauer, Paul Alsberg und


Sigmund Freud zählt. Scheler rechnet Freud sonst meistens zu
den »naturalistischen Theoretikern«, die er nicht mit den nega­
tiven Theoretikern verwechselt wissen möchte. Er bezeichnet
den Menschentypus der negativen Theorie als »homo negans et
patiens (duldend)«,143 womit er gewisse Lehren des Buddhismus
in seine Anthropologie aufnimmt und dadurch ihren sachli­
chen Zusammenhang mit der Trieblehre Freuds sichtbar macht
(S. 78,10 ff.). Der Grundmangel aller Arten negativer Theorie
bestehe darin, dass sie unberücksichtigt lassen, »was denn im
Menschen negiert, was denn verneint den Willen zum Leben,
was verdrängt Triebe, und aus welchem verschiedenen Letzt­
grunde wird das eine Mal die verdrängte Triebenergie Neurose,
das andere Mal aber sublimiert zu kulturgestaltender Tätigkeit«
(S. 79,1 ff.). Diesen Mangel sucht er zu beheben durch seine Lehre
von der Lenkung und Leitung des Trieblebens durch den Geist.
Was er einleitend als universale creatio continua vorgestellt hat
(S. 63,6), wird plötzlich auf die Existenz des Menschen bezogen
bzw. an seinem Wesensaufbau aufgewiesen. Durch bildliche
Vorstellungen, die an Platons Vergleich der Seele mit einem
olympischen Wagenlenker erinnern, versucht Scheler eine den
konstitutiven Dualismus des menschlichen Lebewesens über­
windende Kooperation zwischen Geist und Triebleben ver­
ständlich zu machen. Bei Scheler soll wie bei Platon der Geist
der Wagenlenker sein, aber Scheler versetzt den Wagenlenker
zugleich in den Dualismus der beiden konstitutiven Merkmale
des Menschen: Der Geist erhält sowohl die Funktion des Wa­
genlenkers als auch die des gutmütigen Rosses, d. h. des reinen
Willens, der seine Projekte nach noetischen und nach axiologi­
schen Vorstellungen bestimmt. Scheler zufolge ist es der Geist,
der die »Triebverdrängung einleitet, indem der ideen- und wert­
geleitete Wille all den ideewiderstreitenden Impulsen des Trieb­
lebens die zu einer Triebhandlung notwendigen Vorstellungen
versagt und anderseits die den Ideen und Werten angemesse­

143 GW 12, S. 22, Nr. 5.


*156 Wolfhart Henckmann · Einleitung

nen Vorstellungen den lauernden Trieben wie Köder vor Augen


stellt, um die Triebimpulse auf diese Weise so zu koordinieren,
daß sie das geistgesetzte Willensprojekt ausführen. Diesen eben
geschilderten Grundvorgang wollen wir Lenkung nennen, die
in einem ›Hemmen‹ und ›Enthemmen‹ von Triebimpulsen be­
steht; und unter Leitung wollen wir verstehen die Vorhaltung
– gleichsam – der Idee und des Wertes selbst, die je durch die
Triebbewegungen sich verwirklichen.« (S. 81,1 – 12) Der Geist
leitet durch den projektorientierten Willen, der im Gegensatz
zum leibbedingten Begehren als Geistesakt zu verstehen ist, die
Triebverdrängung dadurch ein, dass er den Triebimpulsen, die
prinzipiell für die Realisierung ihrer Impulse auf Vorstellungen
angewiesen sind, anstelle der natürlichen, triebbefriedigenden
Vorstellungen und Lebenswerte geistige Ideen und Werte na­
hebringt – für die Triebimpulse scheint es völlig gleichgültig zu
sein, ob es sich dabei um leib- und bedürfnisbedingte oder aber
um geistige Vorstellungen handelt, sie schnappen automatisch
nach jedem Bild, das ihnen nahegebracht wird. Deshalb muss
man sich die Triebimpulse ähnlich ungeformt vorstellen wie
den Geist vor seiner Funktionalisierung, was aber der bereits
durch das Zusammenwirken von Geist und Lebensdrang ent­
standenen Stufenfolge des psychophysischen Lebens widersprä­
che. Das von bestimmten Bildern ablenkende Hemmen und das
auf andere Bilder hinlenkende Enthemmen von Triebenergien,
das durch einen bloßen Bildertausch eingeleitete Umlenken von
Triebenergien, d. h. die Triebregulation durch die Vorstellungs­
regulation versteht Scheler als »Lenkung«. Deren Richtung wird
durch die »Leitung« festgelegt, für die nur die ideen- und wert­
geprägten Vorstellungen erwähnt werden, aber natürlich lässt
sich das Triebleben auch durch lebensweltliche Vorstellungen
und Werte leiten, und entsprechend müsste man von Triebver­
drängung auch dann sprechen, wenn sich Triebhandlungen ge­
genseitig verdrängen. Das aber wäre der Kosmos-Schrift zufolge
nicht mehr »Sublimierung« zu nennen. Scheler hebt also nur die
höherführende Richtung der Leitung hervor, nicht die lebens­
konformen Richtungen. Außerdem ist er in der Kosmos-Schrift
Negative und klassische Theorie vom Menschen *157

weder auf die Probleme von Werttäuschungen noch auf die von
Wertkonflikten eingegangen, die in seiner mittleren Periode
eine große Rolle gespielt haben, und schließlich vollziehen sich
alle Leitungs- und Lenkungstätigkeiten im Horizont von Welt­
anschauungen, die ihren Vertretern zuerst und zumeist nur auf
dem Niveau traditioneller Überzeugungen präsent sind. Es blei­
ben also noch einige Fragen zu erörtern, was anderen überlassen
bleiben mag. Doch sei noch einmal eigens hervorgehoben, dass
Scheler für die Probleme der Leitung und Lenkung der mensch­
lichen Verhältnisse innerhalb des Universums sowohl die geisti­
gen Ideen als auch die Wertordnungen, d. h. die noetischen und
axiologischen Sphären und damit die gesamte Tiefe und Breite
des menschlichen Geistes in Anpruch nimmt. Seine Anthropo­
logie ist ihrem Wesen nach weder reiner Intellektualismus noch
geistiger Emotionalismus, sondern umfasst beides. Auf welche
Weise aber beide Geistsphären miteinander verbunden sind, auf
harmonische oder widersprüchliche Weise, um schließlich doch
»solidarisch« wirksam zu werden, bleibt unerörtert.

4.3 »Sublimierung auf alles Weltgeschehen zu formalisieren«


(S. 88,20 f.)

Scheler hat bereits am Ende des dritten Abschnitts auf die Fä­
higkeit des Menschen hingewiesen, »seine Triebenergie zu gei­
stiger Tätigkeit zu sublimieren« (S. 72,13). Hatte er anfangs be­
reits die Pflanze als den größten Chemiker unter den Lebewesen
bezeichnet (S. 15,24), so überträgt er nun den chemischen Begriff
der Sublimierung auf das Triebleben des Menschen – es ist also
nicht sicher, ob Scheler den Begriff der Sublimierung allein von
Freud entlehnt hat, wie es der Textzusammenhang nahelegt
(S. 72,6 ff.), oder ob er den Begriff nicht zuvor schon im Verlauf
seiner biochemischen Studien kennen gelernt hat. Jedenfalls
hält sich Scheler nicht an Freuds Auffassung der Sublimierung,
sondern gibt ihm einen Sinn, den er aus dem Verhältnis zwi­
schen Drang und Geist im Menschen gewinnt (»sublimiert«).
*158 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Diesen Begriff erweitert er zu einem kosmogonischen Prozess,


was ihm seine Auffassung des Menschen als Mikrokosmos er­
möglicht bzw. was diese traditionsreiche Vorstellung auf neue
Weise interpretiert. »Formalisierung« bedeutet dabei das Abse­
hen von Inhalten, die die Funktion der Sublimierung auf regio­
nale Gegebenheiten begrenzen würde. Demgegenüber soll der
Begriff der Sublimierung so weit verallgemeinert werden, dass
er den gesamten Bereich des Lebensdrangs aufnimmt, sofern
dieser sich für die Überführung von Energie in geistige Tätig­
keiten eignet. Worin der Sublimationsprozess innerhalb dieses
umfassenden Horizonts im Einzelnen besteht, was ihn auslöst
und leitet, hat Scheler nicht im Einzelnen dargelegt. Die detail­
lierte Problemübersicht zum formalisierten Sublimierungs­
begriff, die Scheler nachträglich der Kosmos-Schrift beigelegt
hat (S. 146 – 149), lässt die Komplexität des Sublimierungsprozes­
ses erkennen, jedenfalls wenn man der Sichtweise Schelers folgt,
derzufolge der magische Vorgang der Sublimierung durch die
bereits bekannten Metaphern von »Kraftaneignung«, Kraftein­
heiten und Kraftfeldern, Vorhalten oder Verbergen von Ideen
und Werten, höheren und niedrigeren Seinsebenen usw. dem
anthropologisch-ontologischen Strukturschema von Welt, Gott
und Mensch eingepasst wird. Hat der Leser erst einmal Schelers
Auffassung der Sublimierung bis ins Einzelne geklärt, wird sich
auch genauer abschätzen lassen, was er für die metaphysische
Auffassung der Stellung des Menschen im Weltall leistet.

4.4 Zur klassischen Theorie (S. 82 – 85)

An der von den Griechen entwickelten und fast vom gesamten


Abendland übernommenen klassischen Theorie vom »homo
sapiens« kritisiert Scheler vor allem die Lehre, dass dem Geist
und den Ideen eine »ursprüngliche Macht« zugesprochen wird
(S. 83,16). Scheler unterscheidet zwei Hauptformen der klassi­
schen Theorie: die eine behauptet, dass der Mensch eine un­
sterbliche, geistige Seelensubstanz besitze (S. 84,1), die andere
Negative und klassische Theorie vom Menschen *159

behauptet, dass es nur einen einzigen Geist gebe, von dem alle
endlichen Geister nur Modi oder aber individuelle Tätigkeits­
zentren darstellen. Beiden Formen begegnet Scheler mit der seit
dem Formalismusbuch, ja schon seit der Jenaer Habilitations­
schrift (1900) vertretenen These, dass das Personzentrum des
Menschen keine Substanz sei, »sondern nur eine monarchische
Anordnung von Akten, unter denen je einer die Führung und
Leitung« besitze (S. 84,12 f.). Welche Verfassung und welche Re­
gierungsform diese »Monarchien« im Laufe der Menschheits­
geschichte angenommen haben, annehmen werden oder aber
annehmen sollten, bleibt nach wie vor ungeklärt. Aus der Lehre
vom Menschen als homo sapiens folgt nach Scheler erstens, dass
die »Seinsformen nicht nur an Sinn und Wert, sondern auch an
Kraft und Macht zunehmen, je höher sie sind« (S. 84,19 f.), und
zweitens, dass sie mit dem Aufbau des Geistes ein konstantes
Ordnungssystem bilden. In der mittleren Periode hat Scheler
diese in der theistischen Weltanschauung gipfelnde Lehre sel­
ber vertreten. Man kann sie sogar noch in der von der untersten
Stufe aufsteigenden Stufenfolge des psychischen Lebens wieder­
erkennen (Abschnitt II), doch hat Scheler nach seiner Abkehr
vom Theismus die Teleologie der Stufenfolge durch seine Lehre
von der werdenden Gottheit ersetzt.

4.5 Zum Kräfteverhältnis zwischen den höheren und den


niedrigeren Seinsformen und Wertkategorien (S. 85 – 93)

An die relativ kurzen Ausführungen zur klassischen Theorie,


die Scheler in anderen Schriften detaillierter ausgeführt hat,144
schließen sich unmittelbar Skizzen der konstitutiven Problem­
stellung von zentralen Disziplinen der Realphilosophie an: der
Naturphilosophie, der Kulturphilosophie sowie der Metaphy­
sik. Bei allen geht es um das Verhältnis zwischen den höheren

144 Vgl. vor allem »Mensch und Geschichte«, GW 9, bes. S. 125 – 129,
und die Ausführungen in GW 12, S. 31 ff.
*160 Wolfhart Henckmann · Einleitung

und den niedrigeren Seinsformen und Wertkategorien, wonach


die Seinsformen nicht ohne ihren Wertrang und die Wertkate­
gorien nicht ohne ihre seinsgestaltende Funktion besprochen
werden. In den realphilosophischen Disziplinen soll sich zeigen,
dass der die reale Welt setzende Kräfte- und Wirkstrom nicht,
wie es die klassische Theorie des Geistes behauptet, von oben
nach unten, sondern umgekehrt von unten nach oben verläuft
– eine Adaption des klassischen Satzes von Karl Marx, dass das
Sein das Bewusstsein bestimme. Wenn Scheler von der Abhän­
gigkeit der höheren von den unteren Seinsstufen spricht, dann
meint er primär die Abhängigkeit von den eine Realisierung
ermöglichenden Wirkfaktoren, sekundär aber auch die Ab­
hängigkeit von den das Wesen des Seienden determinierenden
Ideen- und Wertfaktoren. »Realisierende« und das Sosein »de­
terminierende« Faktoren bewirken gemeinsam, aber auf un­
terschiedliche Weise die Abhängigkeitsstruktur zwischen den
Seinsstufen. Dadurch wird jedoch noch nicht verständlich, wie
die ihrem Wesen nach unterschiedenen Seinsebenen miteinan­
der verbunden sind oder überhaupt verbunden werden können.
In der Natur (S. 87 – 89), die die Regionen des anorganischen
und organischen Naturseins bis einschließlich des menschli­
chen Lebewesens umfasst, vollziehe sich die bereits angespro­
chene Universalisierung des Sublimierungsprozesses: Eine
Sublimierung finde in »jedem Grundvorgang statt, durch den
Kräfte einer niedrigeren Sphäre des Seins im Werdeprozeß der
Welt allmählich in den Dienst eines höher gestalteten Seins
und Werdens gestellt« werden (S. 88,22 – 25). Wer oder was aber
ordnet diesen Dienst an und wer oder was führt ihn aus? Dazu
sagt Scheler nichts. Es kommt dafür nur der Geist in Frage, der
entweder als Direktor einer biochemischen Weltfabrik die von
anderen ausgeführten Sublimierungsakte leitet oder aber selber
diese Akte übernimmt, da es außer ihm kein hinreichend aus­
gebildetes Personal gibt. Unter diesen Umständen müsste der
Geist über eine ganz außerordentliche, Seinsstufen schaffende
schöpferische Kraft verfügen, so dass die Theorie der Sublimie­
rung die Lehre von der Ohnmacht des Geistes auch an diesem
Negative und klassische Theorie vom Menschen *161

Punkte aufheben würde. Jedenfalls führt der Sublimierungspro­


zess zu einer zunehmenden Höherbildung des Seins, die vom
Anorganischen aufwärts durch die Stufen des psychophysischen
Lebens geht und schließlich in der Mensch- und Geistwerdung
ihren Höhepunkt erreicht: »Die Menschwerdung und die Geist­
werdung müßte dann als der bislang letzte Sublimierungsvor-
gang der Natur angesehen werden« (S. 89,3 – 5). Dadurch erhebt
Scheler den Sublimierungsprozess zu einem metaphysischen
Begriff, den er an die Stelle des Attributs des Lebensdrangs in
den Begriff der »werdenden Gottheit« aufnimmt.
In der Kulturgeschichte der Menschheit (S. 89 – 91), die das
Ganze des allmählich durch den Menschen objektivierten Gei­
stes umfasst, zeige sich »eine im großen und ganzen zuneh­
mende Ermächtigung der Vernunft, aber eben nur durch und
auf Grund einer zunehmenden Aneignung der Ideen und Werte
durch die großen triebhaften Gruppentendenzen und Interes­
senverzahnungen zwischen ihnen«. (S. 89,21 ff.) Mit den gro­
ßen triebhaften Gruppentendenzen sind die »Realfaktoren«
geschichtlicher Prozesse gemeint, die auf den ethnisch-geneti­
schen, politischen und ökonomischen Mächten beruhen. Dabei
geht es nicht so sehr um eine vom Geist ausgehende progressive
Explikation der potentiellen Gehalte seiner Ideen und Werte, als
vielmehr um die Evokation und Realisierung derjenigen geisti­
gen Gehalte, die von den realen Triebmächten ergriffen werden
können. Die Kulturgeschichte vollzieht sich nach Maßgabe der
zuvor bereits erläuterten Leitung und Lenkung all dieser unter­
schiedlichen Triebmächte. Im Laufe der Menschheitsgeschichte
hat die durch das Zusammenwirken von Natur und Kultur im
Menschen herbeigeführte »Menschwerdung die uns bekannte
höchste Sublimierung und zugleich die innigste Einigung aller
Wesensregionen der Natur« hervorgebracht (S. 91,12 – 14).
Scheler spricht damit indirekt bereits das Verhältnis zwi­
schen Macht und Geist im Weltgrund an (S. 91 – 93), dem »höch­
sten Sein« (S. 91,20): Eine ursprüngliche Macht komme dem
Weltgrund nicht über die »Deitas«, das geistige Sein, als dem
einen seiner beiden Attribute zu, da dieses keinerlei Kraft be­
*162 Wolfhart Henckmann · Einleitung

sitze; vielmehr komme dem Weltgrund Kraft und Macht allein


über die natura naturans in ihm zu (S. 92,4). Das dem kosmi­
schen Sublimierungsprozess immanente zweite Attribut, der
Lebensdrang, wird plötzlich durch den mittelalterlichen Begriff
der natura naturans interpretiert – Scheler greift auf Spinozas
Lehre vom Absoluten als der einzigen absoluten Substanz zu­
rück, von der wir nur etwas vermittels seiner beiden Attribute
Geist und Drang oder Deitas und natura naturans wissen. Dies
führt zu den apodiktischen, wie mit dem Hammer gemeißelten
Thesen von Schelers Metaphysik, die er seinem großen Gegner,
der theistischen Lehre von einer »Weltschöpfung aus nichts«,
entgegenstellt: »Der Grund der Dinge mußte, wenn er seine
deitas, die in ihr angelegte Ideen- und Wertfülle, verwirklichen
wollte, den weltschaffenden Drang enthemmen, um im zeithaf­
ten Ablauf des Weltprozesses sich selbst zu verwirklichen – er
mußte den Weltprozeß sozusagen in Kauf nehmen, um in und
durch diesen Prozeß sein eigenes Wesen zu verwirklichen. Und
nur in dem Maße wird das ›Sein durch sich‹ zu einem Sein, das
würdig wäre, göttliches Dasein zu heißen, als es im Drange der
Weltgeschichte im Menschen und durch den Menschen die ewige
Deitas verwirklicht. […] Die gegenseitige Durchdringung des ur­
sprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämo-
nischen, d. h. gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blin-
den Dranges durch die werdende Ideierung und Vergeistigung
der Drangsale, die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die
gleichzeitige Ermächtigung d. h. Verlebendigung des Geistes, ist
das Ziel und Ende endlichen Seins und Geschehens.« (S. 92,16 ff.)
Diese Worte sind nicht mehr rein rationale Philosophie, auch
nicht mehr nur die metaphysische Ansicht eines Philosophen,
sondern sie sind setzende Weltanschauung und persönliches
Bekenntnis, mit dem Scheler sich einsetzt für die Fortsetzung
der Realisierung des Attributs der Deitas des Ens a se in der
Geschichte des Universums.
Wenn Scheler sich für diese Art kosmischer Selbstverwirkli­
chung der Gottheit einsetzt, was sowohl die Christen als auch
die aufgeklärten Denker des 20. Jahrhunderts so kritisch aufge­
Identität von Leib und Seele *163

nommen haben, dann bedeutet das für ihn nur, teilzunehmen


an der sich unaufhaltsam realisierenden Vergottung der Welt,
die sich durch die Realisierung der jedem Menschen eigenen,
endlichen Gottebenbildlichkeit vollzieht. Durch den doppelten,
gleichzeitig universalen und personalen Selbstvergottungspro­
zess sucht sich das Ens a se von seinen sein Sein zerreißenden
Widersprüchen und Spannungen zu erlösen, wozu es der solida­
rischen Hilfe der Menschen bedarf. »Vergeistigung« und »Verle­
bendigung« bezeichnen also nicht nur die durch ein Individuum
erreichte Vollendung, sondern den über das Individuum hinaus­
gehenden, aber zugleich durch das Individuum mitbewirkten
Prozess der sich durch die wechselseitige Durchdringung der
beiden Attribute Geist und Drang verwirklichenden Gottheit.
Leopold Ziegler sprach hierbei von »Universismus«.145 Welches
Stadium dieser Prozess im Verhältnis zu seinem Anfang und zu
seinem Ende erreicht hat, entzieht sich der Berechnung durch
den Menschen. Scheler glaubte jedoch, dass wir uns bereits am
Anfang des endgültigen »Ausgleichs« aller Gegensätze befinden.
Hätte er den Aufstieg und den Niedergang des Tausendjährigen
Reiches miterlebt, dann hätte er den Beginn des Zeitalters des
Ausgleichs zweifellos weit in die Zukunft verschoben, und auch
das wiederholte »Gesamterlebnis der Menschheit« im zweiten
Weltkrieg hätte ihm kaum Hoffnung gegeben, dass die Mensch­
heit in absehbarer Zeit in die Nähe des Beginns eines Zeitalters
des Ausgleichs gelangen könne.

5. Identität von Leib und Seele (S. 94 – 115)

Nach dem Höhenflug, der am Ende des vierten Abschnitts


bis zur doppelten Wechselbeziehung der »Vergeistigung der
Drangsale« und der »Verlebendigung des Geistes« geführt hat,
wirkt es ausgesprochen ernüchternd, wenn Scheler diese Linie

145 Leopold Ziegler, Das Heilige Reich der Deutschen, Bd. 1, Darm­
stadt 1925, S. 214.
*164 Wolfhart Henckmann · Einleitung

seiner Überlegungen abbricht und »zu dem der Erfahrung nä­


herliegenden Problem der menschlichen Natur« (S. 94,4 f.) zu­
rückkehrt; theoretisch, nicht aber axiologisch sieht es wie eine
Rückkehr zum »natursystematischen Begriff« des Menschen aus
(S. 9,23). Andererseits scheint Scheler die Auseinandersetzung
mit der klassischen Theorie fortsetzen zu wollen, bei der er sich
auf das Verhältnis zwischen Leib und Seele des Menschen kon­
zentriert, also auf die traditionelle Auffassung von der Einheit
des Menschen. Dieses Verhältnis liegt diesseits der Kluft zwi­
schen Leben und Geist, die Scheler in der Wesensstruktur des
Menschen aufgewiesen hat, so dass der fünfte Abschnitt fak­
tisch an den ersten Abschnitt anknüpft. Mit rhetorisch exal­
tierten Ausdrücken kritisiert er Descartes, der ein »ganzes Heer
von Irrtümern schwerster Art« (S. 94,11) in die »widersinnigste
Übersteigerung der Sonderstellung des Menschen« (S. 94,20 f.)
eingeführt habe; bis auf seine Anerkennung der Überlegenheit
des menschlichen Geistes über alles Organische sei alles andere
»die größte Verkehrtheit«. (S. 95,6)
Scheler konnte sich in einem zeitlich begrenzten Vortrag
natürlich nicht mit den Schriften von Descartes auseinander­
setzen; abgesehen davon war dies sowieso nicht seine Arbeits­
weise. Stattdessen stellt er dem cartesischen Dualismus von res
cogitans und res extensa die neuesten Forschungsergebnisse der
medizinischen Anthropologie, Psychiatrie, Physik und Chemie
entgegen, als ob sie eine unbezweifelbare Geltung besäßen. Er
weiß selbstverständlich, dass die naturwissenschaftlichen Er­
kenntnisse einem Prozess unablässiger Überprüfung und Kor­
rektur unterliegen, wie er selbst sie gerade an Descartes durch­
zuführen versucht und wie andere Wissenschaftler sie auch an
seinen eigenen Forschungsergebnissen durchgeführt haben und
durchführen werden, so dass seine Berufung auf die Ergebnisse
der modernen Wissenschaft nur eine vorübergehende Geltung
beanspruchen konnte.
Im »äußersten Gegensatz« gegen alle in der Nachfolge Des­
cartes’ stehenden klassischen Theorien behauptet Scheler, dass
der physiologische und der psychische Lebensprozess »ontolo-
Identität von Leib und Seele *165

gisch streng identisch« seien (S. 97,20), eine Auffassung, die sich,
wie er meint, »heute in allen Wissenschaften« durchgesetzt habe
(S. 98,23). Wenn Scheler demgemäß von der »Identität« von Leib
und Seele spricht, dann heißt das nicht unbedingt, dass sich
beide in allen ihren Eigenschaften entsprechen, sondern dass
sie »ontologisch«, also von ihrem Seinsgrund (im »Leben«) aus­
gehend eine organisch funktionale Einheit bilden (S. 102,6 ff.).
Scheler führt zugunsten der organologischen Identitätsthese
die Auffassungen einiger moderner Wissenschaftler an, geht
aber nicht näher auf die damals wie heute unentschiedene Dis­
kussionslage ein – eine »letzte philosophische Vertiefung dieser
Theorie« müsse er sich hier ersparen (S. 102,6 f.); später verweist
er auf seine Abhandlung »Erkenntnis und Arbeit« (S. 104,13 f.).
Scheler fügt seiner Einheitsauffassung des psychophysischen
Lebens eine kulturkritische Betrachtung an, die von einer me­
thodologischen Forderung ausgeht: »Nach meiner Meinung ist
der Forschung heute geradezu das methodische Ziel zu stellen,
einmal im weitesten Maße zu prüfen, wieweit die gleichen Ver­
haltungsweisen des Organismus einmal durch physikalisch-
chemische Reize von außen her, ein andermal durch psychische
Reizung […] herbeigeführt und abgeändert werden können.«
(S. 101,1 ff.) Im Sinne dieser Forderung hatte Scheler bereits im
ersten Abschnitt der Kosmos-Schrift die Begrifflichkeit einer
einseitig physiologisch ausgerichteten Psychologie durch dieje­
nige moderner, verhaltensorientierter Disziplinen ersetzt.146 Er
weitet nun seine Kritik auf die gesamte abendländische Psycho­
logie und Medizin aus (S. 102,8 ff.) und ergänzt sie durch eine
Kritik an der komplementär einseitig verfahrenden indischen
Medizin (S. 102,21 f.), um erneut auch gegen die theistische See­
lenlehre zu polemisieren (S. 102,22 ff.). Mit all diesen kritischen
Bemerkungen stellt er sich aus der abendländischen Tradition
heraus, zu der er sich in der Einleitung zur Kosmos-Schrift be­
kannt hat, und nimmt eine Position auf dem Boden einer mo­
dernen, international anerkannten positiven Wissenschaft ein,

146 Vgl. oben S. 19 ff.


*166 Wolfhart Henckmann · Einleitung

die er offenbar in Einklang mit seiner Phänomenologie sieht


(S. 100,14 f.); sie unterstützt seine Lehre von der Sublimierung.

5.1 Die weltexzentrische Position des Geistes als Basis der


Kritik naturalistischer Theorien (S. 105 – 114)

Kurz darauf verlässt Scheler erneut die Linie seiner Überlegun­


gen, indem er den auf der Ebene der empirischen Erfahrung sich
aufdrängenden Leib-Seele-Gegensatz, den Scheler bereits auf
die Lehre von der Einheit der zwei Seiten des Lebensvorgangs
zurückgeführt hat, durch den tiefer liegenden Gegensatz von
Leben und Geist ersetzt. Dadurch kehrt er zur Erörterung der
metaphysischen Grundlagen seiner Anthropologie zurück, die
er in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen philosophischen
Grundauffassungen des Menschen zu rechtfertigen versucht.
Die metaphysische Basis seiner Auseinandersetzung mit na­
turalistischen Theorien leitet Scheler aus dem Vollzug der funk­
tionalen Einheit von Psychischem und Physischem ab: »Wenn
wir Psychisches und Physiologisches nur als zwei Seiten dessel­
ben Lebensvorganges nehmen, denen zwei Betrachtungsweisen
desselben Vorganges entsprechen, so muß das X, das eben diese
beiden ›Betrachtungsweisen‹ selbst vollzieht, dem Gegensatz
von Leib und Seele überlegen sein. Dieses X ist nichts anderes
als der selber nie gegenständlich werdende, alles ›vergegen­
ständlichende‹ Geist.« (S. 105,12 – 18) Doch weder aus dem Voll­
zug der beiden, sehr verschiedenen Objekten »entsprechenden«
Betrachtungsweisen noch aus dem als Vergegenständlichung
bezeichneten Vorgang folgt, dass das diese Betrachtungen
vollziehende Subjekt ontologisch einer ganz anderen Seinsart
angehören müsse, noch folgt aus der erkenntnistheoretischen
Position des Betrachters die ontologische Überlegenheit dieser
Seinsart über die beiden Seiten des Lebensprozesses. In seiner
theistischen Periode sprach Scheler selber regelmäßig von einer
den Zusammenhang voraussetzenden »Geistseele«, und auch in
seiner späteren Anthropologie schreibt er der Seele Reflexivität
Identität von Leib und Seele *167

und »Intelligenz« zu – was also erfordert und rechtfertigt die


Einführung einer ganz anderen, »überlegenen« Seinsart? Die
unzureichende Unterscheidung zwischen menschlicher Intel­
ligenz und menschlichem Geist hinterlässt auch hier unbeant­
wortete Fragen.
Scheler ergänzt seine Ausgangsposition durch einen zweiten
Aspekt: die beiden ontologisch voneinander unterschiedenen
Prinzipien von Geist und Leben sind, wie wir bereits wissen,
»im Menschen aufeinander angewiesen: Der Geist ideiert das
Leben. Das Leben allein aber vermag es, den Geist von seiner
einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir
geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu
verwirklichen.« (S. 106,10 – 14) Wie die den Geist kontinuierlich
aktivierende und realisierende Leistung des Lebens sich eigent­
lich vollzieht, hat Scheler nicht gezeigt. Setzte jemand Schelers
Reflexionsweise fort, so könnte er behaupten, dass das X, das die
Einsicht in das wechselseitige Angewiesensein der wesensver­
schiedenen Prinzipien von Leben und Geist vollzieht, ein dem
Gegensatz von Leben und Geist überlegenes Prinzip sein müsse,
und dieses Prinzip – was könnte es anderes sein als Gott selbst?
Demzufolge wäre diese Überlegung auf ein fortgeschritteneres
Stadium der von Scheler vertretenen Lehre von der »Selbstver­
gottung« zu beziehen.
Von diesem Standpunkt aus und zu dessen Verstärkung setzt
sich Scheler mit den naturalistischen Auffassungen des Men­
schen auseinander, von denen er zwei Typen aufgreift: die for­
mal-mechanische Auffassung des Verhältnisses von Geist und
Leben (S. 107 f.), für die er Beispiele von der Antike bis in das
20. Jahrhundert anführt, und die vitalistische Auffassung, für
die er ebenfalls Beispiele aus früheren Jahrhunderten der eu­
ropäischen Geschichte der Philosophie bis zur Psychoanalyse
des 20. Jahrhunderts benennt (S. 108 – 110), um schließlich mit
pathetischer Geste erneut zu verkünden: »Alle diese natura­
listischen Lehren […] müssen wir vollständig zurückweisen.«
(S. 110,16 – 18) Es kommt ihm also nicht auf eine sachliche Prü­
fung von überlieferten Theorien an, sondern darauf, die durch
*168 Wolfhart Henckmann · Einleitung

unterschiedliche Auffassungen der Grundbegriffe »Geist« und


»Leben« charakterisierten Standpunkte insgesamt zurückzu­
weisen: alle sogenannten Naturalisten haben »die Ursprüng­
lichkeit und Selbständigkeit des Geistes vollständig mißachtet«
(S. 111,16 f.; vgl. S. 106,16 f.) – mit »mißachtet« wird er möglicher­
weise »verkannt« gemeint haben, obwohl er kritische Urteile
häufig in Werturteile übergehen lässt. Jedenfalls stellt er den
naturalistischen Auffassungen seine eigene Weltanschauung
vom wechselseitigen Angewiesensein von Geist und Leben au­
toritativ entgegen.

5.2 Kritik an Ludwig Klages (S. 111 – 115)

In »Mensch und Geschichte« (1926) hatte Scheler in seinen Aus­


führungen zum fünften Ideenkreis, der »Panromantik«, die Phi­
losophie von Ludwig Klages noch nicht berücksichtigt. Wenn
er sich ihm jetzt überraschend ausführlich zuwendet, ausführ­
licher übrigens als im Vortragsmanuskript,147 wird dies mit
Rücksicht auf die »Schule der Weisheit« geschehen sein, denn
fast alle der von Scheler als »Panromantiker« verstandenen
Autoren haben in den zwanziger Jahren auf den Tagungen der
Weisheitsschule Vorträge gehalten. Da das Publikum der Weis­
heitsschule wuss­te, dass Klages ebenso wie Scheler – im Gegen­
satz zur klassischen Theorie – die Philosophie auf die beiden
Grundprinzipien »Leben« und »Geist« zurückführte, konnte es
erwarten, dass Scheler seine Auffassung der beiden Prinzipien
genauer darstellen werde. Bei aller Anerkennung, die Scheler
dem prominentesten Vordenker der »Panromantik« zollt, grenzt
er sich nur allgemein und kategorisch von ihm ab:148 Klages ver­
stehe in seinem einseitigen Rückgang auf das dionysische Prin­
zip des Lebens den Geist als ein die Seele destruierendes Prinzip,

147 Vgl. B.I.17, S. 84 f.


148 Vgl. hierzu Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänome­
nologie, Berlin 1994.
Identität von Leib und Seele *169

habe dabei aber den Geist irrtümlich auf die technische Intel­
ligenz reduziert. Scheler hätte nun genauer auf das noch unge­
klärte Verhältnis zwischen Geist und Intelligenz eingehen kön­
nen, doch er beschränkt sich darauf, gegen die Grundthese vom
Geist als destruktivem Prinzip erneut die wechselseitige Ange­
wiesenheit von Geist und Leben aufzustellen: »Geist und Leben
sind aufeinander hingeordnet, und es ist ein Grundirrtum, sie
in eine ursprüngliche Feindschaft oder einen Kampfzustand zu
bringen.« (S. 115,11 – 14) Mit dieser These bestimmt Scheler indi­
rekt auch seine Randstellung zur zeitgenössischen Lebensphi­
losophie.149 Zugleich diagnostiziert er die Panromantik als eine
Fluchtbewegung, die als Reaktion auf die in der Zivilisationsge­
schichte der Menschheit entstandene »Übersublimierung« der
Lebensenergien entstanden sei. Schelers Sublimierungsmodell
ist deshalb als ein Maßhalten zwischen Über-sublimierung, d. h.
lebenzerstörender »Vergehirnlichung« (Über-Rationalisierung),
und »Re-sublimierung« als einer geist-kritischen Rücknahme
von Sublimierung zu verstehen. Schelers Auseinandersetzung

149 Zu Schelers Stellung zur Lebensphilosophie vgl. Das Lebens­


problem im Lichte der modernen Forschung, hrsg. v. Hans Driesch,
unter Mitwirkung von Heinz Woltereck, Leipzig 1932; Philipp Lersch,
Lebensphilosophie der Gegenwart (Berlin 1932), Neuauflage in: Lersch,
Erlebnishorizonte. Schriften zur Lebensphilosophie, hrsg. u. eingel. v.
Thomas Rolf, München 2011, S. 102 – 106: Scheler gehöre nicht zu den ei­
gentlichen Vertretern der Lebensphilosophie (Bergson, Dilthey, Speng­
ler, Simmel, Klages), befinde sich aber in ihrer geistigen Nachbarschaft.
Nicolai Hartmann sah Schelers Verhältnis zur Lebensphilosophie sehr
viel enger, aber in einer anderen Dimension: »Denn bei ihm war alles
Philosophieren von Hause aus Lebensphilosophie, und zwar in anderem
Sinne als bei denen, die dieses Schlagwort prägten und in ihre Buchtitel
aufnahmen. Er brauchte das Leben nicht erst zum Gegenstande zu ma­
chen, nicht ›über‹ das Leben zu philosophieren [was Scheler aber sehr
eingehend getan hat], bei ihm strömte die Philosophie von vornherein
aus der Lebensfülle. Ihm war Leben und Philosophieren nicht zweierlei.
Aus der reichen Gegenwartsfülle kam sein Gedankenreichtum; er war
ihm Ausdruck, Prägung, Zeugnis von dem, was sein eigenes Leben und
das Leben seiner Zeit erfüllte.« (Hartmann, Kleinere Schriften, Bd. 3,
S. 352)
*170 Wolfhart Henckmann · Einleitung

mit den fünf »Ideenkreisen« ist stets zugleich Zivilisations-


und Kulturkritik auf der Grundlage weltanschaulicher Stand-
punkte.
Mit der Kritik an der Panromantik schließt Scheler den Kreis
der im ersten Abschnitt begonnenen Weltanschauungskritiken,
die er jeweils auf eine bestimmte Auffassung vom Wesen des
Menschen zurückgeführt, wie er umgekehrt die Weltanschau­
ungen als Sinnhorizont für die Bestimmung des Wesens des
Menschen verstanden hat. Stehen somit Menschenbild und
Weltanschauung in einem wechselseitigen Bestimmungsver­
hältnis, so fragt sich, wie sich dieses Verhältnis in Schelers
eigener Anthropologie darstellt. Eine erste Bestimmung lässt
sich darin sehen, dass seine Anthropologie verlangt, in Aus­
einandersetzung mit allen jemals in Erscheinung getretenen
Menschenbildern und Kulturgestaltungen ein alle diese Tradi­
tionen »vergegenständlichendes«, ihnen gegenüber als »überle­
gen« auftretendes Menschenbild entgegenzusetzen. Da Scheler
das europäische Menschenbild ihnen nicht als Vorbild vorhält,
sondern nur als eine ihnen gegenüber fortgeschrittenere Ent­
faltung der eigenen geistigen Potentiale versteht, die es offen
lässt, auf welche Weise andere Kulturen ihre eigenen Potentiale
entwickeln, kann Schelers Position nicht im normativen Sinne
als »eurozentristisch« bezeichnet werden. Ein zweites Merkmal
besteht darin, im Spiegel der verschiedenen weltanschaulichen
Traditionen zu prüfen, ob bereits vollständig zum Ausdruck ge­
kommen ist, was den Menschen seit je geradezu konstitutiv an­
treibt, einen adäquaten Ausdruck seines Wesens als Mensch zu
realisieren. Es ist dieser Drang des Menschen, sich im Ausgang
von den erfassten Menschenbildern im unbekannten Grund sei­
ner selbst über sich selbst gewiss zu werden, der Schelers philo­
sophische Anthropologie durchdringt und nicht zum Stillstand
kommen lässt, sondern ihn in die Metaphysik des Menschen
hineintreibt.
Identität von Leib und Seele *171

5.3 Einige Lücken – zum Beispiel eine vergleichende


­Anthropologie

Die Kosmos-Schrift lässt sich kaum angemessen verstehen,


wenn man sich nicht auch von den Lücken ein Bild zu machen
versucht, die sie, wie ein Vergleich mit den Dispositionen zur
Philosophischen Anthropologie zeigt, offen gelassen hat. An ih­
nen lässt sich abschätzen, worin sich die Kosmos-Schrift von der
geplanten Philosophischen und der angestrebten Großen Anthro-
pologie unterscheidet. Während sich die Lücken seiner Anthro­
pologie an den Dispositionen und an verschiedenen Äußerun­
gen in der Kosmos-Schrift festmachen lassen, man denke etwa
an die nicht mehr behandelten Monopole des Menschen, die
Scheler zu Beginn des sechsten Abschnitts aufzählt (S. 116,6 – 10),
so lassen sich die im Dunkel liegenden Themenkreise von Sche­
lers Großer Anthropologie wenn überhaupt, dann nur aus dem
erschließen, was er im sechsten Abschnitt und andernorts zur
Metaphysik des Menschen gesagt hat – all dies ergibt erst ein
umfassendes Bild von Schelers Auffassung der »Stellung des
Menschen im All überhaupt«.150 An dieser Stelle sei nur kurz
auf die im Vergleich mit den Dispositionen feststellbaren Lü­
cken der Kosmos-Schrift hingewiesen,151 und dies auch nur am
Beispiel eines Teils der Philosophischen Anthropologie, nämlich
dem Abschnitt über die »vergleichende Anthropologie«. Auf
Lücken und Grenzen der Großen Anthropologie selber kom­
men wir in den Bemerkungen zum sechsten Abschnitt kurz
zurück.
Wie wichtig eine »vergleichende Anthropologie« für Scheler
war, zeigt sich daran, dass er ihr bereits in seiner ersten Anthro­
pologie-Vorlesung (1925) einen eigenen Abschnitt gewidmet hat:
»Wesensgrundlagen der vergleichenden Anthropologie Mann-
Weib; Rasse; ›Kulturkreis‹, Charakterologie der Rassen: ›Altern
und Alter‹ der Menschheit und Tod der Menschheit (und ihre

150 GW 12, S. 21.


151 Vgl. u. a. die Disposition, S. 144 f., oder GW 12, S. 19 f.
*172 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Teile).«152 Obwohl Scheler die vergleichende Anthropologie auf


die Bestimmung der »Wesensgrundlagen« beschränkt, also auf
empirisch-historische und soziologische Untersuchungen ver­
zichtet, so hat er doch weder eine Gesamtübersicht über ihre
Wesensgrundlagen noch ihre systematische Eingliederung in
die Philosophische Anthropologie vorgenommen – hierin läge
also eine erste, für Schelers Philosophie insgesamt charakteri­
stische Differenz. Von den 1925 angesprochenen Problemkrei­
sen einer vergleichenden Anthropologie hat er sich relativ am
ausführlichsten zu den Unterschieden zwischen »Mann-Weib«
sowie zu den Unterschieden der Rassen geäußert.153 Zur Fra­
gestellung einer vergleichenden Anthropologie lassen sich aber
auch noch die »Parallelkoordinaten« zählen, die Scheler aus der
zeitgenössischen Entwicklungspsychologie übernommen hat,
z. B. Vergleiche zwischen »Aufbau und Abbau seelischer Funk­
tionen in den Altersstufen des Individuums und den Parallel­
stadien alternder Völker und alternder Zivilisationen«.154 Die
vergleichende Anthropologie bot ihm Anlass und Gelegenheit,
die anthropologische Grundfrage auf immer neue Erfahrungs­
horizonte auszuweiten und deren anthropologische Wesens­
grundlagen herauszuarbeiten – er plante, eine wahrhaft »Große
Anthropologie« zu verfassen.
In der Kosmos-Schrift selber gibt es außer dem grundlegen­
den Abschnitt über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi­
schen Pflanze, Tier und Mensch nur einige wenige, als solche
auch kaum erkennbare Ausblicke auf eine vergleichende An­
thropologie, etwa wenn Scheler mit Fechner im Weib ein Über­
wiegen des pflanzlichen und dementsprechend im Mann ein
Überwiegen des geistigen Prinzips sieht (S. 19,26). Zur verglei­
chenden Anthropologie der Kulturen könnte gerechnet werden,
dass sich die erwähnten geschlechtsspezifischen Auffassungen

152 GW 12, S. 20.


153 Auf diese beiden Problemkreise beschränkte er sich z. B. in der
Disposition (S. 145: Nr. IV).
154 GW 8, S. 62; dort finden sich weitere Parallelkoordinaten.
Identität von Leib und Seele *173

bei ausgeprägten Ackerbaustämmen und im nicht-jüdischen


Asien finden ließen, zur vergleichenden Anthropologie würde
man aber auch die Unterschiede zwischen der abendländischen
und der indischen Menschenauffassung zu zählen haben. Dies
gilt letztlich auch von den einleitenden Ausführungen zu den
Selbstauffassungen des Menschen in der jüdisch-christlichen,
griechisch-antiken und neuzeitlich-positivistischen Tradition,
doch hat Scheler sie eher zur Erkenntnistheorie und Welt­
anschauungslehre gerechnet – die Grenzen zwischen den un­
terschiedlichen anthropologischen Disziplinen sind fließend
und es würde sicherlich schwer fallen, die vielfältigen kultur­
geschichtlich und soziologisch variierenden Aussagen über die
Geschlechterdifferenzen bereits auf »Wesensgrundlagen« zu­
rückzuführen, denn auch das, was Scheler als Phänomenanalyse
versteht, hat noch nicht die von ihm geforderte strenge Ausbil­
dung erhalten. Nichtsdestoweniger ist anzuerkennen, dass Sche­
ler überhaupt auf die Aufgabe einer vergleichenden Anthropo­
logie eingegangen ist; sie bildet einen wesentlichen Bestandteil
seiner universal ausgerichteten Großen Anthropologie.

»Mann und Weib«155

Schon in seinem Aufsatz »Zur Idee des Menschen« (1913) hat


Scheler die Auffassung vertreten, dass der Gegensatz der Ge­
schlechter sehr viel tiefer reiche als in der damaligen Debatte
um die Frauenemanzipation angenommen wurde. Da es ein
Wesensmerkmal des Menschen ist, »immer entweder männlich
oder weiblich zu sein«,156 müsse die Geschlechterdifferenz letzt­
lich bis in die Gottheit zurückreichen. Dies würde bedeuten,
dass sie im Dualismus der beiden Attribute »Leben« und »Geist«
des Ens a se fundiert sein müsse, was seinerseits bedeutet, dass

155 Dies der übliche Titel in Schelers Dispositionen; ins Essentielle


abgewandelt in der Disposition (S. 145: Nr. IV).
156 1913, S. 351: GW 3, S. 195.
*174 Wolfhart Henckmann · Einleitung

das Ens a se und seine Attribute anthropomorph gedeutet wer­


den – Schelers Anthropologie hätte sich damit vom Theomor­
phismus des Menschen zum Anthropomorphismus Gottes ge­
wandelt.
Eine genauere, etwa stufenweise durch den Aufbau des psy­
chophysischen Seins vorgehende Rückführung der Geschlech­
terdifferenz bis in die Gottheit hat Scheler nicht durchgeführt.
Vielmehr scheint er sich anfangs auf eine geschlechterspezifi­
sche Ideologiekritik der Anthropologie konzentriert zu haben:
Die »Idee eines Menschen, der Mann und Weib umfassen soll,
ist nur eine männliche Idee. Ich glaube nicht, daß diese Idee in
einer von Weibern beherrschten Kultur entstanden wäre. Nur
der Mann ist so ›geistig‹, so ›dualistisch‹ und so – kindlich, die
Tiefe des Unterschiedes zuweilen zu übersehen, den man den
geschlechtlichen nennt. Gewiß, man braucht ein solches Wort:
Aber seine Bedeutung ist und kann nie eine völlig neutrale sein.
Sie ist selbst immer die männliche oder weibliche Idee von eben
dem, was sie doch umfassen sollte.«157 Die damit implizit be­
hauptete grundlegende gendertheoretische Relativierung der
philosophischen Anthropologie hat Scheler nicht mehr wei­
ter verfolgt. Gegen Ende seines Lebens scheint sich die Über­
zeugung von der Unaufhebbarkeit des Unterschieds zwischen
Mann und Weib in die Anerkennung einer »ungeheuren Plasti­
zität« des menschlichen Wesens aufgelöst zu haben, der zufolge
es im bevorstehenden Weltalter des Ausgleichs auch zu einem
»Ausgleich der Spezifitäten der männlichen und weiblichen Gei­
stesart in ihrer Herrschaft über die menschliche Gesellschaft«
kommen werde.158 Wohlgemerkt der »Geistesart«, nicht der or­
ganischen Differenzen.
Die ursprüngliche Auffassung von der Unmöglichkeit einer
geschlechtsneutralen Anthropologie, die Scheler zufolge nur
männlich-geistigen Ursprungs sein kann, würde von einem An­
thropologen verlangen, auf eine Anthropologie aus weiblichem

157 GW 3, S. 195.
158 »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs« (1927), GW 9, S. 152.
Identität von Leib und Seele *175

Selbstverständnis zu warten und deren Forschungsergebnisse


mit denen einer männlichen Anthropologie zu vergleichen (um­
gekehrt auch vom Standpunkt einer weiblichen Anthropologie
aus), was Scheler ansatzweise, aber eben zwangsläufig nur aus
männlicher Perspektive tatsächlich begonnen hat, oder aber
sich auf der Grundlage eines geschlechtsbedingten »Fremdver­
stehens« um eine doppelseitige, ausgleichende Anthropologie
zu bemühen. Scheler hat in Wesen und Formen der S­ ympathie
(1923) dem Fremdverstehen tiefgehende Untersuchungen ge­w id­
met,159 aber sie nicht mehr zu einer Erkenntnistheorie der ver­
gleichenden Anthropologie weitergebildet.
Seiner Auffassung nach muss sich die weibliche ebenso wie
die männliche Anthropologie in zwei Teile gliedern. Der eine
Teil erforscht die Sphäre des Organischen, der andere die Sphäre
des Geistes bzw. der aus dem Organischen unableitbaren gei­
stigen »Monopole« des Menschen. Die geistigen Wesensunter­
schiede können in unterschiedlichen Mischungen in Männern
und Frauen und in den gesellschaftlichen Verhältnissen zum
Ausdruck kommen – entweder in harten Gegensätzen oder
im Prozess eines fortschreitenden Ausgleichs, wohl gar in ei­
ner bereits mehr oder weniger durchgebildeten Harmonie. In
diesem Sinne hat Scheler die Zeit nach dem ersten Weltkrieg
diagnostiziert und an einzelnen Merkmalen exemplifiziert,
was er unter dem Ausgleich der Geschlechterunterschiede ver­
standen hat: »Die ausgeprägt irdische, erdhafte, dionysische
Phase unseres Weltalters hat eine deutliche Tendenz zu einer
neuen Wert- und Herrschaftssteigerung des Weibes gezeigt,
die wir alle heute so tief empfinden und die sich sicher bis in
ihre tiefsten und letzten Vorstellungen weiterhin auswirken
wird. […] solange der Urgrund des Seins nur ›reiner Geist‹ und
›Licht‹ sein soll, ihm nur ein geistiges Prinzip zuerteilt wird,
nicht aber auch das Attribut des ›Lebens‹, des ›Dranges‹, ist er
als Sein und Idee de facto ebenso einseitig viril-logisch erfaßt

159 Vgl. hierzu Matthias Schloßberger, Die Erfahrung des Anderen.


Gefühle im menschlichen Miteinander, Berlin 2005, S. 141 ff.
*176 Wolfhart Henckmann · Einleitung

und gefaßt wie die klassische Idee des Menschen als ›homo
sapiens‹.«160
Der Geschlechtergegensatz liegt demzufolge nicht im Ens a
se selber begründet, sondern beruht auf den beiden Attribu­
ten, in denen sich uns der Urgrund offenbart: »Geist« ist das
männliche, »Leben« das weibliche Prinzip, beide ursprünglich
unvermischt, aber aufeinander angewiesen, um die – wie auch
immer beschaffene Spannung zwischen ihnen – zum Ausgleich
zu bringen. Da diese beiden Attribute das gesamte Universum
durchdringen, ist alles Seiende in unabsehbarer Vielfalt und
in den unterschiedlichsten Maßverhältnissen zugleich männ­
lichen und weiblichen Wesens, also schon immer in einem be­
stimmten Maß und in einer bestimmten Art »ausgeglichen«.
Welche Eigenschaften des Geistes das Männliche, welche des
Lebens das Weibliche ausmachen und wie sie sich im Mann oder
Weib verbinden, da beide Geschlechter aus einer funktionalen
Verbindung von Geist und Leben bestehen, hat Scheler nicht
mehr im Einzelnen auseinandergelegt. Immerhin aber hat er
anhand einer Anzahl von überwiegend traditionellen Dualis­
men unterschiedlichster Art charakteristische Differenzeigen­
schaften zusammengestellt: Männliches und weibliches Wesen
unterscheiden sich wie Geist und Leben, Tag und Nacht, Han­
deln und Dulden, Sonne und Mond usw., wobei diese Unter­
schiede vermutlich eher dem männlichen als dem weiblichen
Geist plausibel erscheinen mögen, während eine weibliche An­
thropologie wohl von vornherein eine solche »antinomische«
Charakterisierung ablehnen würde.
Seine Disposition zu einer für Frankfurt 1928 geplanten Vor­
lesung über die »Soziologie der Geschlechter« gibt einen geord­
neteren Überblick über das, was er zur Geschlechterdifferenz
in Schriften wie dem posthum veröffentlichten Aufsatz »über
Scham und Schamgefühl«,161 im Aufsatz »Zum Sinn der Frauen­

160 GW 9, S. 158 f.
161 GW 10, S. 65 – 154, bes. S. 145 ff.
Identität von Leib und Seele *177

bewegung«162 und in Wesen und Formen der Sympathie163 aus­


geführt hat. Der Plan zeigt, welche psychologisch, soziologisch,
axiologisch breit gefächerten Erörterungen Scheler diesem Pro­
blem der vergleichenden Anthropologie gewidmet hat und wie
schwierig sich im Bereich einer vergleichenden Anthropologie
das methodologische Problem einer phänomenologischen Aus­
wertung empirischer Forschungen ausgestalten musste.

Die Menschenrassen (S. 145: Nr. IV)

In den Fragenkreis einer vergleichenden Anthropologie hat


Scheler auch eine Thematik aufgenommen, die in seiner Ausein­
andersetzung mit der vitalistisch-biologisch fundierten Ethik164
(mit der »biologistischen Logik« hat er sich bereits in seinem Lo-
gik-Fragment von 1906 auseinandergesetzt) eine wichtige Rolle
spielt: mit der Aufgliederung der Menschheit in verschiedene
Rassen:165 der Mensch tritt auf unserem Planeten nicht rein als
»der« Mensch auf, sondern immer als Glied einer mit dem Erb­
gut übernommenen und von äußeren Einflüssen wie Klima und
geographische Lage geprägten Rasse, ebenso wie er von Natur
aus entweder als weiblicher oder männlicher Mensch erscheint.
Scheler hatte bereits während seines Münchner Medizinstu­
diums Gelegenheit, sich mit der wissenschaftlichen Erblich­
keits- und Rassenlehre zu beschäftigen. Im Wintersemester
1894/95 hat er die Vorlesung des Physiologen Johannes Ranke

162 Vgl. GW 3, S. 197 – 211.


163 Zum Beispiel GW 7, S. 117 ff.
164 M. Scheler, Ethik. Eine kritische Übersicht der Ethik der Gegen­
wart (1914), in: GW 1, S. 371 ff., bes. S. 388 – 396.
165 Vgl. Eugen Fischer, Spezielle Anthropologie: Rassenlehre, in: An­
thropologie (Die Kultur der Gegenwart III, Abtlg. 5), hrsg. v. G. Schwalbe
u. E. Fischer, Leipzig/Berlin 1923, S. 122 – 222; Rudolf Martin, Lehrbuch
der Anthropologie in systematischer Darstellung: mit besonderer Be­
rücksichtigung der anthropologischen Methoden; für Studierende,
Ärzte und Forschungsreisende, Jena 1914.
*178 Wolfhart Henckmann · Einleitung

über Anthropologie belegt, der in seinem zweibändigen Lehr­


buch Der Mensch auf die Unterschiede zwischen den Rassen
und zwischen Mensch und Tier ausführlich eingegangen ist und
sich am Ende aber wie die Mehrheit seiner Fachkollegen für die
Einheit der Menschenrasse ausgesprochen hat, wenn auch unter
Hinweis auf die Fülle der dazu noch ungelösten Probleme.166
Scheler hielt die Rassenunterschiede in Übereinstimmung mit
der Anthropologie von Hermann Klaatsch für so groß, dass er
sich von der traditionellen christlichen Lehre distanzierte, dass
alle Menschen von einem einzigen Menschenpaar abstammen;
Klaatschs Lehre von einer polygenetischen Abstammung des
Menschen von verschiedenen höchst entwickelten Säugetieren
(bestimmten Affenarten) hielt er für überzeugender.
Vereinzelte Bemerkungen zu den Rassenunterschieden fin­
den sich schon in seinen frühen Veröffentlichungen. In seinem
Aufsatz über »Kultur und Religion« (1903) konfrontierte er die
philosophische Einheitsauffassung der Kultur der Menschheit
mit ihrer empirisch nachweisbaren Zerrissenheit, wie sie sich in
den Kämpfen zwischen Rassen und Nationen seit Jahrtausenden
manifestiert habe.167 Es ist merkwürdig, dass in der ausführli­
chen Darstellung des Stufenbaus der Lebewelt in der Kosmos-
Schrift das Problem der Rassendifferenzen keine Rolle spielt;
übrigens auch nicht in den vereinzelten Bemerkungen zur Ge­
schlechterdifferenz – dabei ist er auf beide Problemkreise schon
in seinem programmatischen Aufsatz »Zur Idee des Menschen«
(1913/15) kurz eingegangen. Liegt die Zurückhaltung der Kos­
mos-Schrift über die auf der Konstitution des Menschen beru­
henden Konfliktpotentiale an seiner – der Lehre vom Ausgleich
aller Gegensätze durchaus förderlichen – Wendung zum Pazifis­
mus, die er nach dem ersten Weltkrieg vollzogen hat? Anderer­

166 Johannes Ranke, Der Mensch. Bd. I: Entwickelung, Bau und Le­
ben des menschlichen Körpers, Leipzig 1886; Bd. II: Die heutigen und die
vorgeschichtlichen Menschenrassen, Leipzig 1887.
167 GW 1, S. 348. Im Sachregister des von Maria Scheler und M. S.
Frings herausgegebenen Bandes 1 der Gesammelten Werke findet sich
das Stichwort »Rasse« nicht.
Zur Metaphysik des Menschen *179

seits hat er wiederholt betont, dass sich die Anthropologie den


seit der Epoche des Humanismus gewonnenen Erkenntnissen
der »gewaltigen Ungleichheiten der menschlichen Rassen« und
den Einsichten der auf diesen Verschiedenheiten aufbauenden
Disziplinen der Ethnologie und Geschichtswissenschaften nicht
entziehen könne.168 Die völkische Rassenidee sowie die Ideo­
logie der Reinerhaltung der Rasse lehnte er strikt ab; er sprach
sich für eine offene, werdende, »kompatible Rasse« aus, damit
aus dem Werden und aus der Vermischung der Rassen im Zeit­
alter des Ausgleichs der »Allmensch« entstehen könne (B.I.12).
Die größte Bedeutung gewann der Rassengedanke in Schelers
geschichtsphilosophischen Überlegungen. Geschichtliche Ent­
wicklungen führte er auf ein Entwicklungsschrittgesetz zurück,
das sich aus dem Wechselverhältnis zwischen Ideal- und Real­
faktoren ergebe: »Ich selbst sehe in den Rassenmischungen von
Erbwerten nur den stärksten unter den realen Wirkfaktoren der
Geschichte, denen aber die geistigen, ›idealen‹ Faktoren nicht
nur gleich-, sondern überwertig zur Seite stehen. Religion und
Blut, Glaube und Rasse sind nach meiner Meinung die stärksten
Bewegkräfte der Geschichte«,169 also auch die stärksten Ursa­
chen der Kriege. Aufgrund der Mikrokosmos-Idee hat Scheler
die Entwicklungsschrittgesetze dann auch auf den Makrokos­
mos übertragen – der Mensch lässt sich eben aus dem kosmo­
gonischen Prozess der Welt nicht herausnehmen.

6. Zur Metaphysik des Menschen (S. 116 – 124)

Die meisten Entwürfe zur Einteilung der Philosophischen An-


thropologie enden mit einem Abschnitt über das Verhältnis des
Menschen zum Weltgrund.170 Schon im Aufsatz über das Res­
168 Vgl. das Kapitel über die »Relativität der Werte auf das Leben« im
Formalismus-Buch, GW 2, S. 280 ff.
169 M. Scheler, Bevölkerungsprobleme als Weltanschauungsfragen
(1921), GW 6, S. 293.
170 Dass dies in der Disposition (S. 144 f.) nicht der Fall ist, liegt an
*180 Wolfhart Henckmann · Einleitung

sentiment taucht diese Frage auf,171 zu einer Zeit, als Scheler


Gott noch als absolute Person gedacht hat. Die Periode seiner
theistischen Grundüberzeugung endete spätestens kurz nach
der Veröffentlichung seiner religionsphilosophischen Haupt­
schrift Vom Ewigen im Menschen (1921). Nachdem er die theis­
tische Periode als einen Irrweg erkannt hatte (S. 137,13), identi­
fizierte er den Weltgrund nicht mehr mit einem »persönlichen
Gott«, sondern sprach in systematischen Kontexten nur noch
unpersönlich von »Gott«, häufiger und religionsindifferent je­
doch vom »Weltgrund«, »Urseienden« oder vom »Ens a se«. Da­
bei hielt er an der Überzeugung fest, dass es ein einheitliches,
letztes, alles tragendes Absolutum geben müsse, im Verhältnis
zu dem alle Arten des Seins nur noch als »relativ absolut« zu
verstehen seien. Seine in sich vielfach modalisierte Lehre von
der Daseinsrelativität verführte ihn jedoch nicht zu einem kon­
turenlosen Relativismus, vielmehr führte er sie auf eine immer
wieder überprüfte ontologische »Evidenzordnung« zurück. Sie
bildet ein grundlegendes Kapitel seiner Erkenntnistheorie und
Metaphysik, gehört aber ebenfalls zu seinen unvollendeten Wer­
ken.172 Die Evidenzordnung umfasst mehrere, hierarchisch ge­
ordnete Stufen – mal bestehen sie aus zweigliedrigen Relatio­
nen, so dass sich vier Stufen ergeben, mal wird eine Stufe nur
von einer einzigen Seinsart eingenommen, so dass sich eine
mehrfache offene Stufung ergibt. Zu einer endgültigen Struk­
turierung der Evidenzordnung gelangte er nicht.
Die ontologische Stufenordnung der Seinsarten, in welcher
Ausgestaltung auch immer, liegt Schelers Darstellung des Ver­
hältnisses des Menschen zum Urseienden zugrunde. In einer
Übersicht über eine neu auszuarbeitende ontologische Katego­

äußeren Gründen – Scheler ist offenbar nicht mehr dazu gekommen, sie
so weit auszuarbeiten, wie er in der Kosmos-Schrift und schon in der
Anthropologie-Vorlesung von 1925 bereits gekommen war (vgl. GW 12,
S. 20 f.).
171 Vgl. GW 3, S. 73 u. ö.
172 Eine der letzten Darstellungen der Evidenzordnung findet sich in
»Realismus – Idealismus« (1928), GW 9, S. 187 f.
Zur Metaphysik des Menschen *181

rienlehre hat Scheler dem Urseienden drei kategoriale Seinswei­


sen zugesprochen: Drang, Geist und Ens a se (B.I.25, S. 10).173
Das Ens a se ist als absolute Substanz »erhaben« über Drang
und Geist, die in ihm »verwurzelt« sind – eine organische
Metapher, die der Kategorienlehre nur entspricht, wenn man
sie insgesamt einem universalen »Organismus« zuschreibt –
»Orga­nismus« aber wäre eine vierte, alle anderen fundierende
Kategorie. So ergibt sich als Grundfrage, wie das per se existie­
rende, das in sich »per-se-isierende« Absolute überhaupt in die
Spannung zwischen Geist und Drang geraten könne. Scheler
gibt darauf keine allgemein metaphysische, sondern »nur« eine
persönliche Antwort: »Aber ich meine, daß das ew[ige] Sein als
Werde-sein auf Spannung angelegt ist. Die Welt – ist eine sei­
ner ›Geschichten‹. Viele ›Geschichten‹ hat Gott. Eine davon ist
die unsrige, die sog. Weltgeschichte.«174 Scheler vermittelt das
per-se-isierende Absolute jedoch nicht mit dem behaupteten
Werde-Sein. Er spricht es ihm entweder deshalb zu, um es als
Geschichte denken zu können, oder aber er zieht aus der Gege­
benheit der Geschichtlichkeit der Welt die Folgerung, dass der
Weltgrund ein Werde-sein sein müsse. Wie sich hingegen das
Werde-sein zum Absolut-sein verhält, ohne dass das Absolut-
sein etwas von seinem Absolut-sein einbüßt, bleibt offen. Viel­
leicht hätte er bei passender Gelegenheit eine Überlegung aus
seiner noch der theistischen Periode angehörenden Vorlesung
über das Problem des Todes von 1923/24 angeführt, in der er
eine Art von Anthropomorphisierung von drei anderen Grund­

173 Scheler unterscheidet die folgenden Arten von Kategorien: 1.) Ka­
tegorien der natürlichen Weltanschauung, 2.) Kategorien der positiven
Wissenschaften des Anorganischen, 3.) Kategorien des Lebens (objektive
und subjektive Biologie), 4.) Kategorien der Geschichte, 5.) Kategorien
des endlichen Geistes, 6.) Kategorien des Urseienden, schließlich noch
Kategorien der formalen Ontologie (Gegenstand, Beziehung, Mannig­
faltigkeit) und Kategorien der Mathematik. Er hat seine Kategorienlehre
jedoch nur punktuell entwickelt.
174 Scheler, Gott und Geschichte, in: B.I.22, S. 36; Abschr.: CE.XXII.13,
S. 1.
*182 Wolfhart Henckmann · Einleitung

kategorien des Absoluten vornimmt. Die »neue Dreifaltigkeit«


sei nicht mehr bestimmt durch Wille, Logos, Liebe, sondern
durch eine bestimmte Ordnung dieser drei Aktarten: Das Ens
a se sei 1.) Liebe und ens aestimativum, 2.) Wille und Dasein,
3.) Logos und Sosein (Wesen). »Aber die Liebe geht Logos und
Wille voraus. Logos und Wille stehen in der Spannung, die erst
[durch] die Einheit der Liebe möglich [ge]macht [wird].«175 Das
Absolute wird in dieser Überlegung nicht dualistisch durch die
beiden Attribute Geist und Lebensdrang verstanden, sondern
als den Dualismus von Logos/Geist und Wille/Lebensdrang, der
in und durch die Liebe verbunden ist – von einem erst durch
eine unbeherrschbare Enthemmung des Lebensdrangs am Ende
der Weltgeschichte erfolgenden »Ausgleich« ist noch keine Rede;
bemerkenswert ist, dass die Liebe in der letzten Entwicklungs­
periode von Schelers Philosophie sich in die Widersprüche und
Kämpfe zwischen den Ideal- und den Realfaktoren verwandelt
oder eigentlich aufgelöst hat.
Der letzte Abschnitt der Kosmos-Schrift ist deshalb durch­
drungen von einem geschichtlich-dynamischen Grundzug,
der sich für Scheler aus der »Grundstruktur des Menschseins«
ergibt (S. 116). Es sei »eine der schönsten Früchte des sukzessi­
ven Aufbaus der menschlichen Natur« durch den Philosophen
(S. 116,15 f.), zeigen zu können, dass sie mit innerer Notwendig­
keit auf die »formalste Idee eines überweltlichen, unendlichen
und absoluten Seins« führe (S. 116,22 f.), das die Möglichkeit ei­
nes absoluten Nichts von Grund auf negiere. Mit einer Reihe
von nur allzu knapp erläuterten Thesen stellt er die metaphy­
sische Fragestellung als »Folgerung« (S. 116,12) aus den voran­
gegangenen Ausführungen dar – er vollzieht das, was er u. a.
in seinem Vortrag über »Philosophische Weltanschauung« als
»transzendentalen Schluss« bezeichnet hat: »Erst vom Wesens­
bilde des Menschen aus, das die ›philosophische Anthropolo­
gie‹ erforscht, ist – als Rückverlängerung seiner urtümlich aus
dem Zentrum des Menschen quellenden Akte des Geistes – ein

175 B.I.71, S. 12.


Zur Metaphysik des Menschen *183

Schluß zu ziehen auf die wahren Attribute des obersten Grun-


des aller Dinge.«176 Diese für seine Metaphysik charakteristi­
sche Methode hat er vor dem gemischten Darmstädter Publi­
kum natürlich nicht schulgerecht ausführen können, so dass
sie fast ganz von den beiden Sachfragen verdeckt wurde, denen
er sich nach den einleitenden Worten (S. 116 – 120) über den Ur­
sprung metaphysischer Fragen aus »weltexzentrischer« Position
(S. 119,18) zugewandt hatte: nämlich der Frage nach den Haupt­
typen der religiösen Ideen (S. 120 – 122) und nach dem Menschen
als dem eigentlichen »Ort der Gottwerdung« (S. 122 – 124).
Im zweiten Anthropologieheft ist Scheler mit Anspielung auf
den Titel seines Darmstädter Vortrags relativ ausführlich auf die
»Metaphysische Sonderstellung des Menschen« eingegangen.177
Von seinen Ausführungen hat er aber nur einige wenige Passa­
gen in die Kosmos-Schrift übernommen. Maria Scheler hätte
in ihre späteren Auflagen sehr viel mehr übernehmen können,
hat es aber unterlassen,178 so dass die Metaphysik des Menschen
so einseitig und verkürzt geblieben ist, wie sie sich 1928 in der
Kosmos-Schrift darstellt.

6.1 Haupttypen der religiösen Ideen über das Verhältnis


Mensch – Gott (S. 120 – 122)

Scheler hätte nun, nachdem er in den vorangegangenen Ab­


schnitten das Verhältnis des Menschen zur unter- und neben­
menschlichen Natur besprochen hatte, das Verhältnis des Men­
schen zum übermenschlichen Sein zu erörtern und zu zeigen
gehabt, wie aus dem absoluten Sein alles Sein stufenweise in
die Welt-Geschichte dieser unserer Welt übergegangen ist, ein­

176 GW 9, S. 82.
177 B.I.2, S. 35 – 54.
178 Der Abschnitt »Metaphysische Sonderstellung des Menschen«
ist, wenn auch nicht ganz vollständig und korrekt, von M. S. Frings in
GW 12, S. 207 – 219 veröffentlicht worden. Auf den Zusammenhang dieses
Abschnitts mit der Kosmos-Schrift hat er nicht hingewiesen.
*184 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schließlich des Seins der Menschheit in einer Welt-Geschichte,


die unausweichlich einem Ende entgegen geht.179
Das religiöse Verhältnis beruht auf dem Gefühl des Men­
schen, hilflos einer übermächtigen, furchteinflößenden, unbe­
rührbaren, für »heilig« gehaltenen Realität ausgeliefert zu sein,
von der alles Seiende und die Welt insgesamt abhängt, sie wo­
möglich erhält und nach ewigen, unabänderlichen Gesetzen be­
herrscht. Standen früher die Schöpfungsmythen mit ihren Göt­
tergestalten im Mittelpunkt seiner Überlegungen, so wandten
sie sich unter dem Einfluss von Rudolf Ottos Analyse des Heili­
gen180 als dem Tremendum und Numinosen mehr dem Erlebnis
des Göttlichen zu, das in den frühen Kulturen unterschiedliche
paradigmatische Formen angenommen hat.
Bei der Ausarbeitung des sechsten Abschnitts hat sich Scheler
für eine erhebliche Verkürzung der Problemstellung entschie­
den. Im Vortragsmanuskript stellte er das Verhältnis des Men­
schen zum Weltgrund noch als wechselseitiges Bedingungsver­
hältnis, als eine »Beziehung X – Y, M[ensch] – G[ott]« dar, »die
nur in beiden Gliedern parallel zu variieren vermag«.181 In der
gedruckten Fassung dagegen stellte er »Gott« in Abhängigkeit
von den Ideen dar, die sich die Menschen von Gott gemacht
haben. Dadurch wandelte sich die Fragestellung von einer meta­
physisch-anthropologischen in eine religionssoziologische
Frage. In seiner Wissenssoziologie (1926) hat er die neue Fra­
gestellung vorläufig skizziert,182 aber eine dem Problem gerecht
179 Mit Erörterungen über »Ursprung und Zukunft des Menschen«
beginnt das zweite Anthropologieheft (B.I.2, S. 1 – 36, insbesondere
S. 13 ff.). M. S. Frings veröffentlichte sie in GW 12, S. 89 – 97. Scheler hat
diese Ausführungen, wie M. S. Frings mit recht vermutet (GW 12, S. 97),
zum Vortrag über »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs« (1927) ver­
arbeitet (GW 9, S. 145 – 170).
180 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des
Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. Das Ex­
emplar in Schelers Handbibliothek (Ana 315.Z.951) ist unaufgeschnitten
geblieben – Scheler wird andere Exemplare benutzt haben.
181 B.I.2, S. 38; GW 12, S. 208 (ergänzt nach dem Ms.).
182 GW 8, S. 69 ff., 85 ff.
Zur Metaphysik des Menschen *185

werdende Darstellung behielt er sich für einen Aufsatz über die


»Stifterreligion« (S. 120,8) vor, in der das religiöse Verhältnis
des Menschen zum Weltgrund, von den Darstellungen seiner
geschichtlichen Ursprünge in den Mythen der Gruppen- und
Volksreligionen ausgehend, schließlich seine höchste Ausbil­
dung erreichen sollte. Auch dieses Projekt konnte Scheler nicht
mehr realisieren.
Die religionssoziologische Frage, die Scheler auf den abend­
ländisch-kleinasiatischen Monotheismus (S. 121,1 f.) beschränkt,
behandelt er nicht historisch-empirisch, sondern »idealtypisch«
am Beispiel einer Folge von Gottesvorstellungen, die sich unter
dem Einfluss der Entwicklung der sozialen Struktur der Gesell­
schaft ausgebildet haben. Im Anthropologieheft hat Scheler die
Korrelation von Mensch und Gott noch als den »tiefsten Kern
der ganzen Geistesgeschichte des Menschen« bezeichnet183 und
behauptet, dass die idealtypische Entwicklung stets auch vom
Stand der realen Geschichte abhänge – hierauf ist er nicht mehr
näher eingegangen. Stattdessen stellte er den überlieferten re­
ligiösen Auffassungen der Beziehung Mensch – Gott unmittel­
bar seine eigene Kritik entgegen: Er lehnte jegliche spezifisch
religiöse Auffassung für eine »philosophische Betrachtung«
kurzerhand ab, weil er ihre theistische Voraussetzung nicht
[mehr] teile (S. 121,19 f.). In den wenigen Monaten zwischen der
Niederschrift des Vortragsmanuskripts und der Ausarbeitung
der Druckfassung hat sich die zunächst spürbar emotionale
Ablehnung der anthropomorph-religiösen »Vater«-Vorstellung
vom christlichen Gott zur religionssoziologisch begründeten
Kritik des Theismus säkularisiert. Dieser Prozess scheint auch
jetzt noch nicht zum Abschluss gekommen zu sein, auch wenn
Scheler am Ende alle Religionen zu bloßen Vorstufen der Meta­
physik erklärt (S. 120,14 – 18) und sie einer überwundenen Stufe
der Menschheitsentwicklung überantwortet. Damit gibt er seine
lange vertretene kulturphilosophische These auf, dass die Reli­
gion ebenso wie die Philosophie auf einer gleichursprünglichen,

183 B.I.2, S. 37; GW 12, S. 208.


*186 Wolfhart Henckmann · Einleitung

unvertretbaren und unersetzbaren Aktart des Geistes beruhe –


man ist versucht zu sagen, dass Hegels Philosophie des absolu­
ten Geistes sich Schelers hierarchische Aktordnung des Geistes
unterworfen habe.

6.2 Der Mensch als metaphysischer Ort des Zusammenspiels


von Drang und Geist (S. 121 – 124)

Das zweite Anthropologieheft ist zum Teil zu einem sehr per­


sönlichen Dokument der Befreiung Schelers von jeder theisti­
schen Gottesvorstellung geworden, so dass es sich verbietet,
methodologisch oder erkenntniskritisch nach den Rechtsgrün­
den seiner Aussagen zu fragen. Es stellt sich vielmehr eine ge­
netische Frage: Während im Anthropologieheft die Bemerkun­
gen zu den Haupttypen der religiösen Vorstellungen über das
Verhältnis zwischen Mensch und Gott unmittelbar in ein tief
empfundenes, ja geradezu aus Leiden entstandenes Bekennt­
nis zu einem solidarischen Mitwirken am göttlichen Werk der
Schöpfung übergehen, setzt Scheler in der Kosmos-Schrift sei­
nen metaphysischen Standpunkt selbstsicher der theistischen
Vorstellungswelt entgegen (S. 121,17 ff.);184 die emotionalen Wo­
gen haben sich geglättet, das persönliche Bekenntnis hat sich
zum Bewusstsein einer prophetischen Pionier- und Wegweiser­
rolle (die Scheler früher stets abgelehnt hat) und eines Funktio­
närs der Weltgeschichte als eines theogonischen Weltprozesses
gewandelt. Frühere katholische Weggefährten wie Dietrich v.
Hildebrand, Peter Wust oder Johannes Hessen aus der theisti­
schen Periode sprechen empört von einem Rückfall in längst
überwundene gnostische Irrtümer.

184 Die Gliederung der inhaltlichen Ausführungen weicht von der


in der Kosmos-Schrift angedeuteten Gliederung ab; die Darstellung der
metaphysischen Position Schelers beginnt einen Absatz früher, an den
die Ausführungen zur Selbstvergottung mit »also« (S. 122,7) anknüpfen.
Zur Metaphysik des Menschen *187

Scheler äußert sich als Erstes zu dem »Grundverhältnis des


Menschen zum Weltgrund« (S. 121,21). Er interpretiert es aus
einer vom Menschen unmittelbar erfahrbaren Anschauung
(S. 128,28 f.), in der sich der Mensch als duales Wesen, als Geist-
und Lebewesen, nicht nur erfasst, sondern sich zugleich, in ein
und demselben Akt, gegründet weiß im Weltgrund selbst. Sche­
ler schließt von der dualen Natur des Menschen unmittelbar auf
eine mit dem Menschen wesensidentische Natur des Weltgrun­
des, was er hier nicht näher ausführt: Auch das Urseiende weise
die beiden »Zentren« (oder »Attribute«, S. 122,24) von Geist und
Drang (Leben) auf – Scheler vollzieht hier also paradigmatisch
einen »transzendentalen Schluss«.
Als Nächstes nimmt er kritisch Stellung zu seiner Ausgangs­
these, die er nicht als seine persönliche Auffassung versteht,
sondern als eine traditionelle Lehre, die »Spinoza, Hegel und
viele andere« vertreten haben (S. 121,26 f.): Er wirft den tradi­
tionellen philosophischen Gottesvorstellungen vor, zu »intel­
lektualistisch« (S. 121,29 f.) zu sein, sich zu sehr »virilistisch«,
wie er in unausgesprochener Anknüpfung an seine Gender­
theorie sagt, auf nur eines der beiden Attribute des Urseien­
den gestützt zu haben, auf den »Geist«, wodurch Schelers »aus­
gleichende« Stellungnahme bereits vorgeprägt ist: Das zweite
Attribut müsse ebenfalls berücksichtigt werden, und dies nicht
nur additiv, sondern als korrelatives Attribut, so dass immer
beide Attribute gemeinsam aus der Grundstruktur des Welt­
grundes abgeleitet werden. Da es sich beim zweiten Attribut
um das Leben handelt, kann das Grundverhältnis, dem Wesen
des Lebens gemäß, nur als lebendiger Akt, eher noch als kon­
tinuierlicher universaler Lebensakt begriffen werden. Dadurch
erhält der Weltgrund eine ausgesprochen dynamische Grund­
struktur, der sich auch der Geist anpassen muss, rückwirkend
auch die ursprüngliche Anschauung des Grundverhältnisses
selbst. Denn es handelt sich nicht um eine Art von kontemplati­
ver oder meditativer Anschauung, sondern um ein ekstatisches
Aussichherausgehen. Die Umgestaltung der intellektualistisch
aufgefassten Grundstruktur besteht darin, »daß dieses Sichge­
*188 Wolfhart Henckmann · Einleitung

gründetwissen erst eine Folge ist der aktiven Einsetzung unseres


Seinszentrums für die ideale Forderung der Deitas und des Ver-
suches, sie zu vollstrecken, und in dieser Vollstreckung den aus
dem Urgrunde werdenden ›Gott‹ als die steigende Durchdrin-
gung von Drang und Geist allererst mitzuerzeugen.« (S. 121,30 –
122,4)
Das Wissen des »Sichgegründetwissens« und die »ideale For­
derung der Deitas« sind zwei Momente, die nicht jederzeit von
jedermann durch einen wenn auch sinnvoll geleiteten Prozess
der ursprünglichen Anschauung vollzogen werden können.
Man muss den beiden Momenten vielmehr die gesamte religiöse
und metaphysische Entwicklungsgeschichte der religiösen An­
schauungen der Menschheit zugrunde legen, um sie heutzutage
in derjenigen intellektualistischen Ausbildung zu erfassen, die
sie in der Philosophie Spinozas, Hegels und vieler anderer er­
halten hat. Erst im gegenwärtigen Weltzeitalter lassen sich ihre
vier konstitutiven Momente erkennen: dass erstens die ideale
Forderung der »Deitas«, d. h. des Geistprinzips, darin besteht,
dass ihre idealen Gehalte (zweitens) »vollstreckt«, d. h. durch
das Lebensprinzip verlebendigt werden, dass dadurch drittens
eine steigende wechselseitige Durchdringung von Drang und
Geist erfolge, so dass viertens in jedem Akt dieser wechselsei­
tigen Durchdringung der beiden Attribute der »aus dem Ur­
grunde werdende ›Gott‹« (122,3 f.) »erlebt« werden könne, der
durch jegliche Art von Vollstreckung idealer Forderungen im
anthropologisch vollständigen Einsatz des Menschen progressiv
»miterzeugt« werde.
Auf dieser metaphysischen Grundlage kann Scheler schließ­
lich den Menschen gar nicht anders denn als »Ort« begreifen,
an und in dem sich die »Gottwerdung« vollzieht. »Ort« heißt so
viel wie Durchgangspunkt des »transzendenten Prozesses« der
Gottwerdung (S. 122,13) in den individuellen Akten des Men­
schen. Der Gottwerdungsprozess vollzieht sich auf zwei Ebe­
nen, und aus dieser Perspektive wäre die Kosmos-Schrift von
Anfang an noch einmal neu zu lesen. Auf der einen Ebene voll­
zieht sich die »kontinuierliche Kreation«, durch die in jeder Se­
Zur Metaphysik des Menschen *189

kunde alle Dinge dieser Welt »aus dem durch sich seienden Sein
hervorgehen« (S. 122,14 f.); dies betrifft sowohl die anorganische
Natur als auch die Stufenfolge des psychophysischen Seins bis
hin zur Existenz des Menschen als der höchsten Entwicklungs­
stufe der Natur. All dies ist schon als eine unendlich mannig­
faltige Durchdringung von Drang und Geist zu verstehen, wozu
die unterschiedlichsten Arten und Grade sublimierter Lebens­
energie gedient haben. Die erste Ebene erweist sich also als we­
sentlich durch die Evolution des Lebens auf dem Erdplaneten
geprägt.
Die zweite Ebene ist die des Menschen, begriffen als »das
menschliche Selbst und das menschliche Herz« (S. 122,10f.).
Mit den beiden Merkmalen »Selbst« und »Herz« sind die bei­
den Grundaktarten des Geistes gemeint: Das Selbst steht für
das Selbstbewusstsein als ein Vermögen, alle Wesenheiten der
Dinge in der Einheit eines Selbstbewusstseins zusammenzufas­
sen, und das »Herz« steht für das Vermögen, den lebendigen
inneren Wert und den Sinn des Seienden in der ewigen Wert­
ordnung alles Seienden im Universum zu fühlen. Dadurch wird
der Mensch nicht bloß ein »Ort«, sondern ein lebendiger, in­
dividueller Teilhaber und Mitwirker an dem überindividuellen
Prozess der Vergöttlichung der Welt als des Prozesses der Gott­
werdung. In einem solchen Individuum konzentriert oder par­
zelliert sich der Gottwerdungsprozess nach Maßgabe von gei­
stigen Erkenntnissen und Wertrealisierungen, die dem ewigen
Logos entsprechen. All dies vermag das Ens a se nicht durch sich
selbst, denn es »weste« am Anfang nur als ein so spannungs­
geladenes, von sich bildenden und auflösenden Widersprüchen
durchdrungenes Chaos, dass es irgendeinen Entlastung verspre­
chenden Ausweg suchen musste – ein durch und durch anthro­
pomorphes Argument. Diesen Ausweg bildet letztlich, sozusa­
gen am Ende der Sechstagewoche der Schöpfungsgeschichte,
der Mensch, der aus dem Ens a se hervorgegangen ist und mit
ihm wesensidentisch ist, dem also weder die unendlichen Ge­
staltungsmöglichkeiten der Deitas noch die Machtfülle des Le­
bensdrangs fremd sind, und ebenso wenig der unbezwingliche
*190 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Drang, die Widersprüche und Spannungen zu einem Ausgleich


zu bringen. Der Mensch betreibt mit seinem faustischen Stre­
ben nach Selbstvergottung zunächst unabsichtlich, dann aber
absichtlich nichts anderes, als dem Ens a se zu seiner Gottwer­
dung zu verhelfen – und umgekehrt: mit Hilfe des Menschen
bewirkt das Ens a se eine Art selbstloser Selbstvergottung, da
es sich der Sucht des Menschen nach Selbstvergottung anheim
gegeben hat. Vor diesem Hintergrund ist die wechselseitige An­
gewiesenheit von Mensch und Gott (S. 122,21 f.) kaum als eine
solidarische Aktion zu verstehen, wie Scheler sie vor allem in
seiner mittleren Periode aufgefasst hat, sondern als ein sehr un­
gleiches Verhältnis, das sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen
mit unterschiedlichen Kräften und Möglichkeiten verwirklicht
und zu unvorhersehbaren Ergebnissen führt, da Scheler zu­
folge ja nicht einmal die beiden Attribute des Ens a se in sich
fertig ausgebildet sind, geschweige denn im Menschen, der auf
die dazu erforderliche Entstehung welcher Art von Funktiona­
lisierungen seines Geistes auch immer angewiesen ist. Scheler
meint, dass die beiden Grundattribute im Prozess der Weltge­
schichte »wachsen« (S. 123,2), sagt aber über das Wachsen im
Ganzen und eines jeden für sich nichts weiter, und auch gar
nichts über die Gefahren, dass mit den Wachstumsprozessen
auch Verluste und Katastrophen verbunden sein können und
dass auch Miss- und Fehlentwicklungen nicht auszuschließen
sind. An diesen Punkten stößt Schelers Anthropologie an eine
unübersehbare Vielfalt von Grenzen und Gefährdungen, so dass
die Große Anthropologie nur eine Bestandsaufnahme des im ge­
genwärtigen Weltzeitalter erreichten Standes der Gottwerdung,
im besten Fall eine Bestandsaufnahme in Form eines »offenen
Systems« sein kann. Ihrer im Grunde unendlich optimistischen
Konzeption nach bleibt alles Negative des Seins, wie Krankheit,
Missbildung, Vernichtung, alles Negative der Wertdimensio­
nen, wie das Böse, der Nihilismus, im Hinblick auf den einst
zu erreichenden Ausgleich, im Hinblick auf die Erlösung schon
jetzt in einem gewissen vielversprechenden Status einer ontolo­
gischen Affirmierbarkeit.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *191

Die letzte Seite der Kosmos-Schrift (S. 123,5 – 124,11) dient


dann nur noch ihrer Verteidigung gegenüber einem Einwand,
der vermutlich in einer öffentlichen Diskussion erhoben worden
ist, dass nämlich die Idee eines unfertigen, werdenden Gottes
für die Menschen unerträglich sei. Es handelt sich um den er­
sten von fünf nummerierten und einigen weiteren, nicht num­
merierten Einwänden, auf die Scheler im zweiten Anthropolo­
gieheft eingegangen ist – er war sich der Provokation, die seine
Lehre hervorrief, sehr wohl bewusst, hat sich aber durch sie
nicht von seinem Weg abbringen lassen. Von diesen Einwänden
und Schelers Rechtfertigungen gibt die Kosmos-Schrift nur un­
zureichend Auskunft.185 Die Antwort auf den fünften Einwand
besteht übrigens in den Ausführungen zur Freiheit (S. 133 – 135),
und die daran anschließenden Worte über die »Unsterblichkeit«
(S. 135 – 139) sind als Erwiderung auf Einwände gegen seinen gno­
stischen Gottesbegriff zu verstehen. Doch damit befindet sich
der Leser bereits in der Sphäre der zwischen Zustimmung,
Kritik und Ablehnung hin und her pendelnden Rezeption von
Schelers Anthropologie.

7. Zur ersten Rezeption der »Stellung des Menschen im


Kosmos« Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift

Schelers Tod und die Veröffentlichung der Kosmos-Schrift lie­


gen zeitlich nahe beieinander. Deshalb finden sich viele der er­
sten Stellungnahmen zu seiner Anthropologie in Nach­rufen und
Gesamtwürdigungen seines Lebenswerkes, in denen – gemäß
der Selbstdeutung Schelers in der Vorrede – der Anthropologie
eine zentrale, richtungweisende Rolle zugeschrieben wird. Die­
ser Rolle konnte sie zu Schelers Lebzeiten nicht mehr gerecht
werden, da die Philosophische Anthropologie und vollends ihr

185 In GW 12, S. 213 ff. sind die Kennzeichnungen als »Einwände« ge­
strichen worden, so dass der Zusammenhang mit der Kosmos-Schrift
nicht mehr erkennbar ist.
*192 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Ideal, die Große Anthropologie, nur in Fragmenten überliefert


sind. Trotzdem gilt Scheler heute mit der Kosmos-Schrift und
den vier anderen anthropologischen Aufsätzen aus den zwanzi­
ger Jahren, die 1929 unter dem Titel Philosophische Welt­anschau­
ung veröffentlicht worden sind,186 als Inaugurator einer »neuen
philosophischen Anthropologie«, die für die gesamte Philoso­
phie eine begründende und weltanschaulich orientierende Be­
deutung in Anspruch nahm; nicht nur für Schelers Philosophie,
sondern für die Philosophie überhaupt.
Im Vorwort zur Philosophischen Weltanschauung (1929) hatte
Maria Scheler (anonym) versprochen, dass aus dem literarischen
Nachlass demnächst nacheinander Hauptstücke der Metaphysik,
Erkenntnislehre, Philosophie des Lebens und der Geschichts­
philosophie erscheinen werden – von der Philosophischen An-
thropologie war da schon nicht mehr die Rede: ein stillschwei­
gendes Eingeständnis, dass die Fertigstellung der zuletzt für
1929 in Aussicht gestellten Philosophischen Anthropologie nicht
so weit gediehen war, dass wenigstens einige weitere, noch nicht
gedruckte Hauptstücke hätten veröffentlicht werden können.
Als 1933 ein erster Band nachgelassener Schriften erschien,187
der ebenfalls nichts zur Anthropologie enthielt,188 musste das
Publikum davon ausgehen, dass nur die Kosmos-Schrift, die Ab­
handlungen des Bandes Philosophische Weltanschauung und der
programmatische Aufsatz »Zur Idee des Menschen« das anthro­
pologische Erbe von Schelers Philosophie ausmachten.

186 M. Scheler, Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929. Der


Band enthält: Philosophische Weltanschauung, S. 1 – 14; Mensch und Ge­
schichte, S. 15 – 46; Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, S. 47 – 83; Die
Formen des Wissens und die Bildung, S. 84 – 123; Spinoza, S. 124 – 139, An­
merkungen und Namenregister.
187 M. Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. I: Zur Ethik und Er­
kenntnislehre, Berlin 1933.
188 In der ersten Rezeptionsperiode spielten die nachgelassenen Auf­
sätze noch keine Rolle, die heute als unverzichtbarer Bestandteil des an­
thropologischen Gesamtcorpus Schelers gelten, insbesondere »Tod und
Fortleben«, »Über Scham und Schamgefühl« und »Ordo Amoris«.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *193

Diese Schriften bilden die maßgeblichen Quellen, auf die


sich die erste Periode der Rezeption von Schelers Anthropolo­
gie stützt. Die zweite Periode beginnt 1947 mit der Veröffentli­
chung der von Maria Scheler aus dem Nachlass erweiterten Fas­
sung der Kosmos-Schrift in einer Zeit, in der der einstige Ruhm
Schelers bereits merklich verblasst war, und die dritte Phase be­
ginnt 1987 mit der Veröffentlichung weiterer anthropologischer
Texte aus dem Nachlass durch Manfred S. Frings (GW 12). Es
ist freilich etwas anderes, Rezeptionsperioden auf Verände­
rungen und Erweiterungen des Quellenmaterials zurückzu­
führen statt auf paradigmatische Deutungen ihres Inhalts. An
der Vielfalt der Stimmen, die sich bis zum Ende der vierziger
Jahre zur Anthropologie Schelers vernehmen ließen, wird man
jedoch erkennen, dass es keine paradigmatische Deutung, son­
dern nur eine Vielfalt von unterschiedlichen Äußerungen zu
Schelers neuer Anthropologie gab. Sie mögen als Anregungen
zu eigenen anthropologischen Überlegungen, zur Kritik oder
auch zur Weiterführung von Schelers Ideen gedient haben, ins­
gesamt aber lassen sie Schelers anthropologische Schriften in ei­
ner reichen, schillernden Vieldeutigkeit erscheinen. Da hier nur
eine Auswahl dieser Stimmen angeführt werden kann, mag sich
der Leser auf eigene Faust noch nach weiteren Stimmen um-
hören.
Den Anspruch der neuen philosophischen Anthropologie,
die gesamte Philosophie auf ein neues Fundament zu stellen,
hat man ihr nicht von Anfang an zuerkannt und dann auch
in der Regel zurückgewiesen. Man ist dabei noch nicht einmal
den vielen Querverweisen nachgegangen, die Scheler als Ori­
entierung über die innere Verflochtenheit seiner divergieren­
den Schriften zu einem Ganzen verstanden wissen wollte. Von
den ersten Rezipienten, die ihn noch zu seinen Lebzeiten durch
seine Schriften, Vorträge, Vorlesungen und oft auch persönlich
kennen gelernt haben und sich mit den gleichen Problemen aus­
einandersetzten, waren nur wenige daran interessiert, der weit
verzweigten Verflochtenheit seiner Ideen durch alle seine Ver­
öffentlichungen hindurch nachzugehen. Dem stand allerdings
*194 Wolfhart Henckmann · Einleitung

auch Scheler selber im Wege, da er freimütig bis zur Leichtfer­


tigkeit seine Abwendung von früheren Überzeugungen dem Pu­
blikum mitgeteilt hatte. Es wird häufig hervorgehoben, dass von
Scheler und seinen Werken zwar eine Fülle von Anregungen
ausgingen, dass er aber so gut wie keinen eigentlichen Schüler
besaß. Scheler konnte seine Hörer und Leser anregen, sogar be­
geistern, aber nicht schulen und disziplinieren. Im Grunde gab
es nur einen Menschen, der zeitlebens an ihn und die Mission
seiner Philosophie glaubte: Maria Scheler, seine letzte Ehefrau
und die Herausgeberin seiner gesammelten Werke.

7.1 Stellungnahmen aus der Sicht zeitgenössischer


­philosophischer Standpunkte und Richtungen

Georg Meyer verschwieg im Hamburger Fremdenblatt keines­


wegs die über viele Werke verstreute und letztlich unvollendete
Verfassung von Schelers Anthropologie, kam aber am Ende zu
einem angemessenen Resümee: »Den stärksten Auftrieb hat die
moderne philosophische Anthropologie Max Scheler zu ver­
danken. In seinen verschiedenen Werken finden sich zahlrei­
che Materialien und Fingerzeige verstreut, die nur schwer in
ein System zu bringen sind. Der ganze Scheler steht aber vor uns
in dieser Schrift.«189 In der Tat wurde Schelers Anthropologie
während der gesamten ersten Rezeptionsperiode überwiegend
als das unvollendete, vielleicht nie vollendbare Werk eines ge­
nialen und dämonischen, in sich zerrissenen und nie ausgereif­
ten Geistes begriffen, der mit genialen Einsichten und Visionen
und mit einer stets anregenden Vergegenwärtigung einer kaum
überschaubaren Fülle von Ergebnissen aus den unterschiedlich­
sten Wissenszweigen die philosophische Anthropologie aus ih­
rem akademischen Dämmerzustand zu neuem Leben erweckt

189 Georg Meyer, in: Hamburger Fremdenblatt; abgedruckt auch in:


Der Weg zur Vollendung, H. 15, Darmstadt 1928, Anzeige des Reichl-
Verlags, nach S. 42.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *195

hat. Seine universal ausgreifende, wiewohl fragmentarische und


theoretisch unausgeglichene Anthropologie, die an inneren Wi­
dersprüchen, intuitiven Einsichten und Grenzen sprengenden
Perspektiven überreich war, fand in der geistig unruhigen, trotz
seiner bayerischen Herkunft heimatlosen Persönlichkeit Sche­
lers ihre leibhafte Verkörperung. Es gibt kaum einen Interpre­
ten aus der ersten Rezeptionsperiode, der der Würdigung von
Schelers Anthropologie nicht auch ein Charakterbild Schelers
zugrunde gelegt hätte. Da Scheler stets bemüht war, die geistige
Lage seiner Zeit zu deuten, sah man in seinen Standpunkt­
wechseln, in seinen Stellungnahmen zu den unterschiedlich­
sten Zeitphänomenen, die als Zeichen seiner »Weltoffenheit«
gefeiert wurden, und schließlich in der Kosmos-Schrift selbst
das Dokument einer Zeit heftiger Gärungsprozesse und Wider­
sprüche, die Scheler selber für die bislang kritischsten Jahre in
der Geschichte der Menschheit hielt. Hundert Jahre nach Hegels
Tod war es common sense geworden, dass die Philosophie den
Geist ihrer Zeit auf den Begriff zu bringen habe – dies geschah
auf eine denkwürdige Weise in Schelers Anthropologie.
1929 widmeten die damals noch von Hugo Fischer heraus­
gegebenen Blätter für Deutsche Philosophie der Anthropologie
ein Sonderheft. Theodor Haering unterscheidet im einleitenden
Artikel über »Die philosophische Bedeutung der Anthropolo­
gie« drei sich teilweise ergänzende Haupttypen der Anthropo­
logie – nicht wie Scheler, um sie zu destruieren, sondern um die
gegenwärtige Forschungslage zu beschreiben und zu beurteilen:
Er bezeichnete die Haupttypen als biologisch-kausal erklärende,
als teleologisch oder formal-entelechial erklärende und als ho­
rizontal oder vertikal ganzheitlich deutende Anthropologien –
die Beurteilung von Schelers Anthropologie erfolgt im Rahmen
einer übergreifenden Einteilung der aktuellen Forschungsrich­
tungen, in der ihr auf Grund ihrer ganzheitlichen Methode ein
bestimmter Ort zugewiesen wird. In einer ganzheitlich deuten­
den Anthropologie, sofern sie auch Wert- und Weltanschauun­
gen verkörpert, sieht Haering die Zukunftsaufgaben der An­
thropologie. »Bücher wie neuestens die von Scheler, Plessner,
*196 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Heidegger u. a. haben den Anfang schon gemacht und mar­


schieren zum Teil von sehr verschiedenen Ausgangspunkten
und mit sehr verschiedener Terminologie doch alle in derselben
Richtung.«190 Mag auch die Richtung die gleiche sein, so seien
die Unterschiede in den Ausgangspunkten, den Terminologien
und Methoden unübersehbar, so dass es noch völlig unentschie­
den sei, wer von den drei namentlich genannten Philosophen
oder auch andere, nicht genannte Autoren die weitere Entwick­
lung der Anthropologie bestimmen werden. Forschungsberichte
üben unvermeidlich eine nivellierende und relativierende Wir­
kung aus; Schelers philosophische Anthropologie nimmt im
Rahmen des ganzheitlichen Haupttypus (noch) keine dominie­
rende Stellung ein, geschweige unter allen drei Haupttypen und
im gesamten anthropologischen Forschungsfeld.
Im zweiten Artikel des Sonderheftes behandelt F. J. J. Buyten­
dijk das ganz nach Scheler klingende Thema »Zur Unterschei­
dung des Wesensunterschieds von Mensch und Tier«,191 aber
Schelers Name fällt nur einmal in Verbindung mit der These,
dass ein Kind mehr in dem Anderen als in sich selbst lebe (S. 55),
während sich Buytendijk, den Scheler in der Kosmos-Schrift als
seinen Freund bezeichnet, mit seinen Aussagen über die Intel­
ligenz, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheide, und
mit seinen Aussagen über das Ausdrucksverstehen zu der Posi­
tion bekennt, die er gemeinsam mit Plessner und damit in eine
andere Richtung als die metaphysische Richtung Schelers ent­
wickelt hat. Der Artikel von Wilhelm Burkamp, »Der Mensch
als Naturwesen und als Normen realisierender Geist« (S. 66 – 78)
steht hingegen auf dem Boden der Ganzheitspsychologie von
Felix Krueger, der einst Mitglied des Münchner Akademischen
Vereins gewesen ist, aus dem die phänomenologische Bewegung
hervorgegangen ist. So sehr Burkamp auch das Erlebnis der Na­

190 Theodor Haering, Die philosophische Bedeutung der Anthropo­


logie, in: Blätter für Deutsche Philosophie 3/1 (1929), S. 1 – 32, hier: S. 25.
191 F. J. J. Buytendijk, Zur Untersuchung des Wesensunterschieds von
Mensch und Tier, a. a. O. S. 33 – 66.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *197

tur beschwört: der Name Schelers wird nicht erwähnt. Anders


bei dem Neukantianer Gerhard Lehmann, der seinen Artikel
»Die absolute Distanz und das Problem des Zwischenmenschli­
chen« (S. 79 – 98) unter ein aus der Kosmos-Schrift stammendes
Zitat stellt: »So ist die erste ›Leere‹ gleichsam die ›Leere unseres
Herzens‹« (S. 79; 89). Darin deutet sich bereits Lehmanns Ab­
lehnung der Metaphysik des deutschen Idealismus von Schel­
ling bis Hegel und ihren Nachfolgern an, zu denen er auch die
Metaphysik Schelers als »Überbleibsel Schellingscher Metaphy­
sik« zählt (S. 80): Schelers philosophische Anthropologie beruhe
auf einer Metaphysik, die sich der absoluten Distanz zwischen
den Menschen und dem Weltgrund nicht bewusst geworden ist.
Lehmann vertritt eine erkenntnistheoretisch fundierte Meta­
physikkritik, die zu einer Abweisung von Schelers metaphysi­
scher Anthropologie führt, nachdem er sie auf ihre eigenen an­
thropologischen Voraussetzungen hin kritisch untersucht hatte
– seine auf die in der Evidenzordnung aufgestellte Priorität des
Wir vor dem Ich zurückgreifende Dekonstruktion von Schelers
Anthropologie verhallte zwar in den folgenden Jahren folgenlos,
brachte aber bereits zum Ausdruck, dass Schelers Metaphysik
die Rezeption seiner Anthropologie eher belastete als förderte.
Da Scheler schon mit dem Aufsatz über die »Idee des Men­
schen« (1913) das baldige Erscheinen einer umfassenden An­
thropologie angekündigt und seit Mitte der zwanziger Jahre
durch die Vorträge »Die Formen des Wissens und die Bildung«
(1925) und »Mensch und Geschichte« (1926) große Erwartungen
geweckt hatte, musste er damit rechnen, dass seine Anregungen
von anderen Autoren aufgegriffen und zu eigenen Ideen ausge­
arbeitet würden. Als kurz nach dem Erscheinen seines Darm­
städter Vortrags in Mensch und Erde (1927) zwei Autoren aus sei­
nem unmittelbaren Kölner Wirkungskreis umfangreiche Werke
zur philosophischen Anthropologie veröffentlichten, nämlich
Helmuth Plessner die Stufen des Organischen (1928) und Peter
Wust die Dialektik des Geistes (1928), war Scheler überzeugt,
wieder einmal Plagiatoren zum Opfer gefallen zu sein: »Hat
Plessner meine Philosophie der Natur übernommen, so P. Wust
*198 Wolfhart Henckmann · Einleitung

meine Philosophie des Geistes.«192 Von Seiten beider Autoren


stellte sich die Sachlage natürlich ganz anders dar. Plessner, der
seit seiner Übersiedlung an die Universität Köln in persönliche
Beziehungen zu Scheler getreten war, würdigte zwar im Vor­
wort die wegbahnenden anthropologischen Forschungen Sche­
lers, brachte aber zugleich selbstbewusst seine wissenschaftliche
Unabhängigkeit von Schelers Phänomenologie und Metaphy­
sik zum Ausdruck. In der Tat ist seine »Einleitung in die phi­
losophische Anthropologie«, wie der Untertitel der Stufen des
Organischen lautet, in seiner Konzentration auf die Sphäre des
Organischen konzeptionell und methodologisch einheitlicher
und konsequenter durchgeführt, so dass ein Hinweis auf die
Ähnlichkeit mit Schelers Stufentheorie an der Oberfläche blei­
ben würde.193 Die metaphysischen Implikationen von Schelers
Anthropologie lehnt Plessner rundweg ab, ebenso seine poly­
methodologische Forschungsweise. Faktisch reichen die Un­
terschiede zwischen den beiden im Grunde unvergleichbaren
Werke bis in die Details, worauf Scheler in seiner Philosophi-
schen Anthropologie noch im Einzelnen eingehen wollte;194 in
seinen Randbemerkungen hat Scheler aber auch auf sehr viele
Übereinstimmungen hingewiesen. Das Verhältnis zwischen
den beiden Konzeptionen stellt bis heute ein noch nicht hin­
reichend erschlossenes Problemfeld dar, zu dessen Erhellung in
Zukunft auch Schelers Randbemerkungen zu Plessners Werk
heranzuziehen wären.
Peter Wust bekannte sich wiederholt offen und dankbar zum
Einfluss von Schelers Philosophie, meinte damit aber nur die
Philosophie der theistischen Periode, vor allem das Buch Vom

192 Scheler an Märit, 1.4.1928.


193 Zur Konstellation Scheler – Plessner vgl. Joachim Fischer, Phi­
losophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts,
Freiburg/München 2008, bes. S. 23 ff., 61 ff., den Tagungsband: Philoso­
phische Anthropologie im Aufbruch, a. a. O., sowie H. Plessner, Erinne­
rungen an Max Scheler, in: Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der
Philosophie, hrsg. v. Paul Good, Bern/München 1975, S. 19 – 27.
194 Vgl. den Entwurf, S. 143,3 – 7.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *199

Ewigen im Menschen, von dem sich Scheler 1923 skandalträchtig


losgesagt hatte. Während sich Scheler dem Entwurf der Vor­
rede zufolge offenbar damit begnügen wollte, Wusts Philosophie
pauschal seiner Geistphilosophie zu subsummieren, fühlte sich
Wust geradezu aus Gewissensgründen verpflichtet, seine Diffe­
renz gegenüber der gnostischen Anthropologie Schelers Punkt
für Punkt nachzuweisen, getreu dem aristotelischen Spruch
»magis amica veritas«. Auf den von Scheler, aber auch von vie­
len seiner Anhänger verbreiteten Verdacht, dass seine Schriften
und seine in Vorträgen und Gesprächen geäußerten Ideen ohne
Nachweis ihrer Herkunft von vielen Autoren übernommen und
als eigenes geistiges Eigentum ausgegeben worden seien, also auf
die anonyme Wirkung seiner Anthropologie, kann hier nicht
weiter eingegangen werden. Eine Untersuchung der anonymen
Wirkung könnte allerdings wesentlich dazu beitragen, die weit­
verbreitete Anerkennung Schelers als Pionier einer neuen philo­
sophischen Anthropologie zu untermauern; am Ende aber doch
wohl zu relativieren.
Es mischten sich jedenfalls schon bald auch Vorbehalte und
prinzipielle Einwände in die Diskussion um Schelers Anthro­
pologie ein – wenn auch häufig nur durch das probate Mittel,
den Anschauungen Schelers einfach die eigenen Anschauun­
gen entgegenzustellen oder einzelne Thesen ohne Berücksich­
tigung des Ganzen, das ja auch gar nicht offen zutage lag, zu
kritisieren, so dass man N. Hartmann zustimmen muss, dass
das kritische Rezensieren manchmal gar nicht so wichtig sei
wie das getreue Referieren.195 Das Rezensionswesen bedeutet
schon per se mit dem beurteilenden Einordnen in verwandte
Bestrebungen der Zeit ein Ausklammern des eigentlichen Er­
kenntnisanspruchs einer Schrift. Wenn man etwa mit Hermann
Nohl 1938 die philosophische Anthropologie neben eine psych­

195 Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland, in: Blät­


ter für Deutsche Philosophie 15 (1941/42), S. 159 – 177; später in Hartmann,
Kleinere Schriften, Bd. 3: Vom Neukantianismus zur Ontologie, Berlin
1958, S. 378 – 393.
*200 Wolfhart Henckmann · Einleitung

iatrische (Kretschmer, Kramer, Hoffmann), psychoanalytische


(Freud, Adler, Jung), genetische und rassenkundliche (Stockard,
Günther, Clauss, Pfahler) und charakterologische Anthropolo­
gie (Klages, Prinzhorn, Utitz, Heiß, Lersch) stellt196 und ih­
nen noch die zeitgenössischen Ansätze einer pädagogischen,
sozialistisch-marxistischen, medizinischen und der sich neu
belebenden theologischen Anthropologie hinzufügt, relativiert
man eine jede zu ihrer spezifischen Einseitigkeit in einem stark
diversifizierten Problemfeld, ganz abgesehen davon, dass eine
jede von ihnen sich in mehrere voneinander abweichende An­
sätze aufteilen lässt, z. B. in der philosophischen Anthropologie
in die Ansätze von Jaspers, Heidegger, Plessner, Groethuysen,
Rothacker – von weiteren Ansätzen zu schweigen. Angesichts all
dieser Ansätze konnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass
sich »ein wesentlicher oder vielleicht sogar der entscheidende
Zug in der gegenwärtigen Bemühung der Philosophie« unter
dem Namen einer »philosophischen Anthropologie als einer
umfassenden philosophischen Lehre vom Menschen« sammele
und dass allein von einer solchen Lehre zu erwarten sei, »das
neue Bild vom Menschen philosophisch zu deuten und frucht­
bar zu machen«;197 aber ebenso gut ließe sich von einem anar­
chischen Forschungsstand sprechen, in den sich die uralte Frage
nach dem Wesen des Menschen aufgelöst hatte.
Eine erste Kritik hatte Schelers Vortrag über die Sonderstel­
lung des Menschen noch während der Darmstädter Tagung
erfahren. Keyserling warf Scheler vor, nur »denkend«, als »Er­
kenntnistheoretiker«, gleichsam nur von außen, nicht hingegen
»als selbständiger Geist« zum Geist Stellung genommen zu ha­
ben.198 Er verkannte dabei jedoch Schelers persönlichen Einsatz

196 Hermann Nohl, Charakter und Schicksal. Eine pädagogische


Menschenkunde (1938), 2. verb. Aufl. Frankfurt am Main 1940, zit. nach
der 3. verm. Aufl. 1947, S. 18 ff.
197 Otto Friedrich Bollnow, Existenzerhellung und philosophische
Anthropologie. Versuch einer Auseinandersetzung mit Karl Jaspers, in:
Blätter für Deutsche Philosophie 12 (1938/39), S. 133.
198 Hermann Graf Keyserling, Der erdbeherrschende Geist, in:
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *201

für die »werdende Gottheit«. Doch vielleicht hat Scheler darüber


in Darmstadt gar nicht mehr gesprochen, sondern erst im Vor­
trag über die »Philosophische Weltanschauung« und in der Kos­
mos-Schrift. Dass der persönliche Einsatz für die anthropologi­
sche Grundkonzeption von Scheler nicht nur gefordert, sondern
auch vollzogen wurde, ist von so unterschiedlichen Interpreten
wie etwa Julius Kraft, Sigrid Wilhelm oder Gerhard Lehmann
ausdrücklich anerkannt worden, nicht hingegen, dass sein per­
sönlicher Einsatz sich weniger aus anthropologischen als viel­
mehr aus religionsphilosophischen Überzeugungen herleitet.
Wenn Erich Rothacker in Scheler den eigentlichen Initiator
einer anthropologischen Grundlegung der Kulturwissenschaf­
ten sieht,199 deutet sich mit dieser Einordnung bzw. Einschrän­
kung in den Bereich des objektiven Geistes das Problem einer
einseitig-perspektivischen Fokussierung der Gesamtschau von
Schelers Philosophie an, die bedingt sein kann vom philosophi­
schen Standpunkt oder der Schulzugehörigkeit des Betrachters,
vom sachlichen Interesse, von der Quellenlage oder auch, was
gerade bei Scheler eine große Rolle spielt, von der Einschätzung
seines Charakters – mit der Folge, an die Stelle einer sachlichen
Auseinandersetzung eine Charakterologie anthropologischer
Ansätze zu setzen.

Mensch und Erde, hrsg. vom Grafen Hermann Keyserling (Der Leuchter,
Bd. 8), Darmstadt 1927, S. 256. Vgl. auch den umfangreichen Tagungsbe­
richt von Otto Frh. v. Traube, in: Der Weg zur Vollendung, H. 14, Darm­
stadt 1927, S. 18 – 62. Einer der Gegensätze, die auf der Tagung zur Sprache
gekommen sind, bestand darin, »dass Professor Scheler den Geist als
ohnmächtig, Graf Keyserling ihn als erdbeherrschend darstellte« (S. 48).
Keyserling hat sich im Übrigen wiederholt zur »absoluten Wertlosigkeit
jeder Gelehrtenphilosophie« geäußert (u. a. in seiner Bücherschau, in:
Der Weg zur Vollendung, H. 14, S. 78).
199 Erich Rothacker, Zur Lehre vom Menschen. Ein Sammelreferat
über Neuerscheinungen zur Philosophie des Organischen, zur philo­
sophischen Anthropologie, zur Geisteswissenschaft, Geschichtsphilo­
sophie, Kultursoziologie und Kulturphilosophie, in: Deutsche Viertel­
jahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 10 (1932),
S. 173 – 184; Bd. 11 (1933), S. 145 – 163; hier: Bd. 10, S. 174.
*202 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Dass in Schelers Vermittlung von Drang und Geist ein An­


satz zur Überwindung dieses Dualismus zu sehen ist, hat Fried­
rich Seifert neben nicht wenigen anderen mit Recht hervorge­
hoben: »Die Tendenz geht auf die Begründung einer innerlich
notwendigen Zusammengehörigkeit, eines wesensmäßigen
Aufeinanderhingeordnetseins von Trieb und Geist.«200 Auf die
weitreichenden Implikationen dieses metaphysischen Vermitt­
lungsproblems ist am ausführlichsten Sigrid Wilhelm eingegan­
gen (s. u.). Hans Prinzhorn, ein glühender Anhänger von Lud­
wig Klages, sah dagegen in der metaphysischen Antithese von
Geist und Seele den eigentlichen Gewinn von Schelers Vortrag:
»Unter den immer zahlreicher werdenden heutigen Forschern,
die den Weg dieses Dualismus gehen, steht Scheler obenan, da
er ebenfalls schon 1900 [wie L. Klages] die Notwendigkeit eines
solchen Dualismus erkannt hat, wenn er auch erst neuerdings,
und am entscheidendsten in dem Vortrage über ›Die Sonderstel­
lung des Menschen‹, diesen Gesichtspunkt allen anderen vor­
ausstellt und seine ganze philosophische Anthropologie darauf
begründet.«201
Der damals viel gelesene und einflussreiche Kulturphilosoph
Leopold Ziegler, einer der Hauptautoren des auch für Keyser­
lings »Schule der Weisheit« tätigen Reichl-Verlags, bezeichnete
einigermaßen überrascht Schelers Vortrag als eine »direkt ge­
nial zu nennende Untersuchung«, die eine knappe Zusammen­
fassung der angekündigten großen Anthropologie enthalte,
aber auch Mängel und weltanschauliche Voreingenommenhei­
ten aufweise.202 Ziegler, der im »neuen Scheler« eine Position
begrüßte, die mit seiner eigenen, im Gestaltwandel der Götter
(Darmstadt 1922) entwickelten Position verwandt sei, vermochte

200 Friedrich Seifert, Zum Verständnis der anthropologischen Wende


in der Philosophie, in: Blätter für Deutsche Philosophie 8 (1934/35),
S. 407. Vgl. auch Seiferts Besprechung der Kosmos-Schrift in: Blätter für
Deutsche Philosophie 3 (1929/30), S. 138 – 141.
201 Hans Prinzhorn, Die erdentrückbare Seele, in: Mensch und Erde,
Darmstadt 1927, S. 292.
202 Leopold Ziegler, Magna Charta einer Schule, Darmstadt 1928, S. 237.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *203

jedoch weder im Geist noch in der Vernunft das eigentlich


Menschliche zu erkennen, »weil Geist und Vernunft nachweis­
lich erst einer recht späten, ja erst eigentlich den hellenistischen
Jahrhunderten zugeordneten Phase angehören«.203 Stattdessen
liege im archetypischen Urwissen um das Heilige, »längst be­
vor es sich zur Vernunft, zum Geist abklärte, das entscheidende
Merkmal, welches den Menschen auf seinen exzentrischen Platz
gestellt hat«.204 Von Anfang an konzentrierte sich also die Dis­
kussion auf Schelers umstrittenen Geist-Begriff und dessen Ver­
hältnis zum Lebensdrang.
Da Scheler den Geist depotenziert und in Abhängigkeit
vom Lebensdrang gebracht haben soll, lag es nahe, seine späte
Philosophie der seit Dilthey, Nietzsche, Bergson aktuellen Le­
bensphilosophie zuzurechnen. Philipp Lersch wollte Schelers
Anthropologie jedoch wegen der Rolle, die Scheler dem Geist­
prinzip trotz aller »Ohnmacht« zugesprochen und in seiner
Kritik an Klages bekräftigt hatte, nur in die geistige Nachbar­
schaft der Lebensphilosophie gestellt wissen, doch immerhin
habe er wie Heidegger den »Strom der Lebensphilosophie in sich
aufgenommen«.205 Nach Hans Urs v. Balthasar habe sich Scheler
dagegen in seinem Bestreben, den Dualismus von biologistisch
verstandenem Leben und idealistisch verstandenem Geist zu
überwinden, so sehr in die Problemstellung der Lebensphiloso­
phie verstrickt, dass er ihr schließlich erlag und »in die verlas­
sene Welt von Bergson und Klages« zurückgefallen sei.206
Ernst Cassirer behauptete, dass Scheler den »Dualismus zwi­
schen ›Leben‹ und ›Geist‹ in keiner Weise zu überwinden oder

203 Ebd. S. 238.


204 Ebd. S. 239.
205 Philipp Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart (Berlin 1932),
zitiert nach: Ph. Lersch, Erlebnishorizonte. Schriften zur Lebensphilo­
sophie, hrsg. u. eingel. v. Thomas Wolf, München 2011, S. 102 – 106, hier:
S. 102.
206 Hans Urs v. Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele, Bd. 3: Die
Vergöttlichung des Todes, Salzburg/Leipzig 1939, S. 86; zweite, seitenglei­
che Auflage Freiburg/Schweiz 1998.
*204 Wolfhart Henckmann · Einleitung

zu versöhnen sucht, dass er aber nichtsdestoweniger von der Be­


deutung und dem Sinn dieses Dualismus, dieser ursprünglichen
Entzweiung des Seins in sich selbst, ein durchaus anderes Bild
als die traditionelle abendländische Metaphysik entwirft«.207
Die letzte Wurzel dieses Dualismus sieht Cassirer in Schelers
These, dass der Geist zwar einen grundsätzlich höheren Wert
als das Leben habe, dass er aber von Hause aus über keine
Macht verfüge, seine Ideen und Werte zu realisieren, sondern
alle dazu erforderliche Energie allererst dem Leben abgewin­
nen müsse. Scheler deute zwar an, dass die Möglichkeit einer
wechselseitigen Vermittlung von Geist und Leben durch den
Weltgrund vorgegeben sei. Er stellt jedoch die skeptische Frage,
»wie lässt sich die Transzendenz der Idee mit der Immanenz des
Lebens vereinen?«208 Scheler knüpfe mit seiner Metaphysik an
den durch Platon und Aristoteles geprägten und von Descartes
wieder aufgenommenen Leib-Seele-Dualismus an, wonach sich
eine Einwirkung der Geistseele auf den durch Kausalgesetze
gleichsam geschlossenen Leib nur durch einen »Zu[sammen]
fall« erklären lasse. Scheler habe den Begriff der »Macht« je­
doch nicht hinreichend analysiert. Cassirer ergänzt ihn durch
die geist-eigene Macht des »Bildens«, so dass sich Schelers Dua­
lismus als eine »Wendung und Umkehr des Lebens selbst« ver­
stehen lasse: Der seinem Wesen nach asketische Geist trete aus
dem »Kreise des bloß organischen Bildens und Gestaltens in den
Kreis der ›Form‹, der ideellen Gestaltung« ein.209 Bezeichnen­
derweise lässt Cassirer den Begriff der Sublimierung unberück­
sichtigt.
Für Martin Buber ist Schelers anfangs stark von Nietzsche,
später von Hegel beeinflusste Anthropologie, die er fortlau­
fend mit Heideggers Daseinsanalyse konfrontiert, ganz von

207 Ernst Cassirer, ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Ge­
genwart, in: Die neue Rundschau 41/1 (1930), S. 246; später in: Cassirer,
Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 17: Aufsätze und kleine
Schriften (1927 – 1931), bearb. v. Tobias Berben, Hamburg, S. 185 – 205.
208 Ebd. S. 252.
209 Ebd. S. 260.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *205

der Geist-und-Drang-Metaphysik durchdrungen.210 Sie gehe


letztlich auf die gnostische Vorstellung von zwei Urgöttern zu­
rück. Die Lehre von der Ohnmacht des Geistes sei eine Dia­
gnose des Zeitgeistes, die Scheler auf das Urseiende übertragen
habe (S. 137). Schelers von der zeitgenössischen Psychoanalyse
übernommene Lehre von der Sublimierung der Triebenergie
zusammen mit der Auffassung des asketischen Menschentypus
lässt Buber als anthropologische These allenfalls für einzelne
Philosophen, aber nicht als Grundtypus des geistigen Menschen
überhaupt gelten. Den Akt der Ideierung hält er für eine Fehl­
deutung: Der Mensch entferne sich nicht von der Wirklichkeit
z. B. des Schmerzes, um dessen Wesen zu bestimmen, sondern
er vertiefe sich in die Erfahrung des Schmerzes. Buber ver­
tritt einen ganz anderen Ansatz zu einer Wesensbestimmung
des Menschen: Nicht beim Selbstbewusstsein eines Einzelnen
müsse man ansetzen, sondern bei einer neuen Art der Zuwen­
dung zu den Dingen und zu den Menschen als »Personen, die
unabhängig von einem Bedürfnis selbständig und dauernd da
sind« (S. 157) – die Krise der Zeit bestehe nicht in der Unsicher­
heit über das Wissen vom Menschen, sondern in der Krise des
Vertrauens (S. 153).
Karl Löwith, einer der wenigen in jener Periode, die auch
die anthropologischen Aufsätze des ersten Nachlassbandes be­
rücksichtigt haben, sieht ebenfalls in der Frage nach dem We­
sen des Menschen die den inneren Zusammenhang, wenn auch
nicht eine systematische Einheit stiftende Problemstellung der
Philosophie Schelers. Noch in seinen abseitigsten Schriften sei
Scheler bewegt von der »Erkenntnis des Menschen und seinem
Verhältnis zu sich selbst, zu Gott und zur Welt«.211 Mit der da­

210 Martin Buber, Die Lehre Schelers (engl. 1946), in: Buber, Das Pro­
blem des Menschen, Heidelberg 1948, S. 127 – 157.
211 Karl Löwith, Scheler und das Problem einer philosophischen
Anthropologie, in: Theologische Rundschau, N. F. 7 (1935), S. 349 – 372;
später in: Löwith, Mensch und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropo­
logie, hrsg. v. Klaus Stichweh, Stuttgart 1981 (Sämtliche Schriften, Bd. 1),
S. 219 – 242, hier: S. 220.
*206 Wolfhart Henckmann · Einleitung

durch angesprochenen unzerreißbaren Struktur von Selbst,


Welt und Gott hebt Löwith den Totalitäts- und Systemanspruch
von Schelers Anthropologie hervor, dem er jedoch zugleich eine
»unheimliche Mittelpunktlosigkeit«, ein ständiges Unterwegs­
sein und Beeindrucktsein einer allseitig empfänglichen, ebenso
sinnlichen wie geistigen Natur entgegenstellt. Er zitiert zwar
aus Schelers Abhandlung über die Schamgefühle den Satz, dass
sich in der Scham auf merkwürdige und dunkle Weise Geist
und Fleisch, Ewigkeit und Zeitlichkeit, Wesen und Existenz
berühren,212 geht aber diesem noch der theistischen Periode an­
gehörenden Gedanken nicht weiter nach: Scheler habe erst am
Ende seines Lebens die Grundzüge seiner philosophischen An­
thropologie entworfen. Im Mittelpunkt stehe zwar die (mit je­
nem Satz kaum vereinbare) Gottebenbildlichkeit des Menschen,
aber diesen theologischen Einheitsgrund habe Scheler durch
den Dualismus von Lebensdrang und Geist alsbald wieder auf­
gegeben. Löwiths Darstellung, die sich mit ihren umfangreichen
Exzerpten vor allem als Literaturbericht versteht, lässt es ebenso
wie die bisher referierten offen, inwiefern sich an Schelers An­
thropologie weiterführende Forschungen anschließen lassen.
Der Neukantianer Friedrich Kreis, der Schelers Schrift wie
Fritz Heinemann und andere in die für die damalige Zeit cha­
rakteristische »Tendenz zu einer universalistischen Betrach­
tungsweise« einordnet, kann in den kurzen Andeutungen über
die Metaphysik des Menschen die eigene Auffassung Schelers
kaum erkennen.213 Vielmehr belege die Schrift einmal mehr
die ungewöhnliche Wandlungsfähigkeit von Schelers Philoso­
phie, speziell von der letzten Wandlung der pragmatistischen
Grundeinstellung der Wissensformen und die Gesellschaft zu
einer »ausgesprochen kritizistischen Auffassungsweise« im
Sinne des Neukantianismus: »Als ›kritisch‹ hat man Schelers
Einstellung in dieser Schrift deshalb zu bezeichnen, weil er mit

212 Vgl. GW 10, S. 69.


213 Vgl. Friedrich Kreis’ kritische Besprechung von Schelers Wissens­
soziologie in: Kant-Studien 34 (1929), S. 479 – 483.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *207

einer bei ihm ungewohnten begrifflichen Klarheit die Analyse


des Menschen auf die beiden irreduziblen Momente ›Natur‹ und
›Geist‹ zurückführt. […] Er erblickt in der Möglichkeit einer
Objektivierung der Umwelt die formalste Kategorie des Geistes,
und in der transzendentalen Apperzeption, mit der er ihrem
Sinne nach die ›phänomenologische Reduktion‹ identifiziert,
das a priori dieser Kategorie.«214
Dagegen sieht Julius Kraft, der einen empirischen Rationalis­
mus in der Tradition von Fries und Nelson vertritt, in der »We­
sensschau« der Phänomenologie nichts als einen Ausdruck und
eine Mitwirkung an der Abwendung des 20. Jahrhunderts von
Vernunft, Erkenntnis und Wahrheit zugunsten »eingebildeter
Intuitionen«.215 Er achtet in Scheler zwar einen leidenschaftlich
den Sachen selbst zugewandten philosophischen Geist, doch sei
Schelers ästhetisierende Auslegung der Wesensanschauung von
Scheinphilosophie begleitet. Eine konsequente Durchführung
der phänomenologischen Reduktion setze die »unmögliche
Verwandlung des Menschen in ein rein kontemplatives Wesen«
voraus (S. 61). Deshalb versteht er auch die Problemstellung der
philosophischen Anthropologie keineswegs als einen Neuan­
satz, sondern als eine Weiterführung der in Vom Ewigen im
Menschen vertretenen Lehre von der natürlichen Offenbarung
Gottes im Menschen. »Die philosophische Anthropologie Sche­
lers führt in den Formen der phänomenologischen Metaphysik
zu der uralten theologischen Anthropologie.« (S. 76; vgl. S. 109)
Vom Standpunkt der »Grundwissenschaft« von Johannes
Rehmke aus hat Carl Maria Fernkorn den prinzipiellen Ansatz
der Kosmos-Schrift, wie es inzwischen herrschende Meinung
geworden war, im Dualismus von Leben und Geist gesehen, den
Scheler durch eine einheitliche Idee vom Menschen zu überwin­
den suche.216 Diese eigentlich »grundwissenschaftliche« Frage
214 Friedrich Kreis, Rezension der Kosmos-Schrift, in: Kant-Studien
34 (1929), S. 227.
215 Julius Kraft, Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomeno­
logischen Philosophie (1932), 2. Aufl. Frankfurt am Main 1957, Vorw. S. 7.
216 Carl Maria Fernkorn, Mensch – Geist – Gott. Gedanken zu Sche­
*208 Wolfhart Henckmann · Einleitung

habe Scheler aber mit einem großen »Aufwand von klingen­


den Worten« und »in schillerndem Gewande einherschreiten­
den Phrasen« verdeckt und so den geforderten voraussetzungs­
freien Ansatz seiner Untersuchung verfehlt; stattdessen verfolge
er eine ungeklärte, traditionell metaphysische Frage, die er nicht
einmal konsequent durchhalte: Er habe »seine ursprüngliche
Frage nach dem Wesen des Menschen gänzlich verdreht in eine
Frage, die […] auf die Klarstellung des Verhältnisses ›Mensch –
Kosmos‹, also auf eine Beziehung abzielt, […] diese Fragestel­
lung nicht festhält, sondern bei der Beziehung ›Geist – Kosmos‹
landet«.217 Den »metaphysischen Überstiegenheiten« Schelers
stellt Fernkorn die zu gleicher Zeit wie die Kosmos-Schrift er­
schienene Schrift Der Mensch218 von Johannes Rehmke entge­
gen, die dem Leser in ganz anderer Weise, als Scheler es vermag,
die Augen öffne für das Gegebene »Mensch«, »und zwar in der
Hauptsache darum, weil Rehmke ohne jede Voreingenommen­
heit nur die Tatsachen selber sprechen lässt«. Die Missachtung
und Fehldeutung der Tatsachen wird zum Grundtenor von
Fernkorns Kritik an Schelers Anthropologie, insbesondere an
Schelers Begriff des Geistes und an dem zur Verdeutlichung her­
ausgegriffenen »Akt der Ideierung«. »Die angebliche Trennung
von Dasein und Sosein (Wesen), deren Vollzug Scheler als höch­
ste Leistung des Geistes rühmt, entpuppt sich bei schärferem
Zusehen als ein Atavismus aus der ›Inhalttheorie‹, die das dem
Einzigen zugehörige Allgemeine von ersterem lösen zu können
glaubt, eben weil es nicht dem Einzigen zugehörig, sondern nur
als mit ihm zusammengehörig, d. i. als sein ›Inhalt‹ betrach­

lers ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹, in: Grundwissenschaft 11


(1932), S. 103 – 123.
217 Ebd. S. 110.
218 Johannes Rehmke, Der Mensch, Leipzig 1928 (nach einem Vortrag
auf der Hauptversammlung der Johannes-Rehmke-Gesellschaft zu Göt­
tingen 1927). Auf den qualitativen Unterschied zwischen der Johannes-
Rehmke-Gesellschaft und Keyserlings Schule der Weisheit, der sich auf
den Aufbau und die Sprache der beiden Vorträge auswirkt, geht Fern­
korn nicht ein.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *209

tet wird.«219 Wieso der Geist überhaupt das Leben zu ideieren


und wieso nur das Leben den Geist zu verwirklichen vermag,
»wird für den auf die Tatsachen eingestellten und lediglich das
Gegebene befragenden Grundwissenschaftler ewig ein Rätsel
bleiben« (S. 116). Auch der Versuch Schelers, aus der metaphy­
sischen Auffassung des Menschen die Stellung zum Weltgrund
herzuleiten, lasse nur »den ganzen metaphysischen Irrweg er­
kennen, der zwischen Anfang und Ende« der Kosmos-Schrift
liege (S. 122). Methodologisch betrachtet stehen sich also grund­
wissenschaftliche Tatsache und phänomenologische Tatsache
unvereinbar gegenüber. Fernkorn endet seine Kritik mit dem
gelassen ausgesprochenen Satz: »Bei der Gegenüberstellung von
Schelers ›Die Stellung des Menschen im Kosmos‹ und Rehmkes
›Der Mensch‹ wird […] die nüchterne ›Sachlichkeit‹ des Grund­
wissenschaftlers Rehmke mehr zu überzeugen vermögen als die
berauschende ›Schaukraft‹ des Metaphysikers Scheler.« (S. 123)
Schelers These, dass alle Macht »von unten«, vom natürli­
chen Dasein des Menschen, vom Lebensdrang ausgehe und die
Welt des Geistes bestimme, brachte ihn in die Nähe des Ma­
terialismus. Das veranlasste zeitgenössische marxistische Den­
ker, ihre Position gegen die Anthropologie Schelers in Stellung
zu bringen. 1935 setzte sich Max Horkheimer als Direktor der
einstigen Frankfurter, nun nach Paris emigrierten Kritischen
Theorie der Gesellschaft in seinen »Bemerkungen zur philo­
sophischen Anthropologie«220 mit Schelers Lehre vom Sinn
des menschlichen Daseins in dieser Welt und von den Mög­
lichkeiten geschichtlichen Handelns auseinander; vermutlich
auch als Reaktion auf die Magdeburger Tagung der Deutschen
Philosophischen Gesellschaft, die ein halbes Jahr nach Hitlers
Machtergreifung den Themenkomplex »Zweckmäßigkeit, Sinn
und Wert« erörtert und deutlich gemacht hatte, dass das ausge­
219 Ebd. S. 114.
220 Max Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropo­
logie, in: Zeitschrift für Sozialforschung 4 (1935), H. 1, S. 1 – 25; später in:
Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931 – 1936, Frank­
furt am Main 1988, S. 249 – 276. Vgl.
*210 Wolfhart Henckmann · Einleitung

sprochen weltanschauliche Thema im Zeichen der »völkischen


Selbstbesinnung« stehe und eng mit dem Gegenwartswillen des
deutschen Menschen nach Wiedererneuerung verflochten sei.221
Wenn Scheler die Aufgabe der philosophischen Anthropologie
darin sehe, alle spezifischen Leistungen und Werke des Men­
schen aus der Grundstruktur des Menschseins verständlich zu
machen, so hält Horkheimer dies für unmöglich, da dazu eine
feste begriffliche Hierarchie erforderlich sei, was aber dem dia­
lektischen Charakter des Geschehens widerspreche. Wo Scheler
vom »Wesen« des Menschen spreche, lässt Horkheimer allen­
falls »Ähnlichkeiten« zwischen den Menschen verschiedener
Zeitalter und gesellschaftlicher Verhältnisse gelten. Diese Ähn­
lichkeiten seien nicht aus einem einheitlichen Wesen abzuleiten,
sondern gehen aus dem fortwährenden Kampf gesellschaftlich-
geschichtlich geprägter Menschen mit der Natur hervor. Nicht
aus einer Gottebenbildlichkeit, sondern aus der Not des Men­
schen, von undurchsichtigen ökonomischen Verhältnissen be­
herrscht, seine Bedürfnisse befriedigen und seiner Sehnsucht
nach Freiheit folgen zu wollen, entspringe das Selbstverständ­
nis des Menschen. Wenn Scheler in das geschichtliche Handeln
noch einen zusätzlichen dynamischen Faktor dadurch eintrage,
dass er die geschichtliche Dynamik auf das Endziel einer Ver­
gottung festlege, dann sieht Horkheimer darin nur das Produkt
einer »theologischen Phantasie«, ein Überbleibsel aus der idea­
listischen Philosophie, die für die drückenden Arbeitsverhält­
nisse und die Notlage der Menschen nur den metaphysischen
Trost der »ewigen Bestimmung des Menschen« bereithalte. Im
Rahmen der dialektischen Theorie der Gesellschaft konnte sich
demzufolge eine philosophische Anthropologie nicht mehr ent­
wickeln.
Sigrid Wilhelm macht in ihrer von Paul Luchtenberg betreu­
ten Dresdener Dissertation Das Bild des Menschen in der Phi-

221 Anonym, Bericht über die 12. Tagung der Deutschen Philoso­
phischen Gesellschaft, in: Blätter für Deutsche Philosophie 8 (1934),
S. 65 – 70.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *211

losophie Max Schelers (1937) ernst mit Schelers These, dass ihn
die Frage nach dem Wesen des Menschen von den Anfängen
seines Philosophierens an beschäftigt habe – der anthropolo­
gische Gesichtspunkt sei der Schlüssel für das Verständnis von
Schelers Philosophie.222 Von der werttheoretischen Frühphase
ausgehend verfolgt sie die Entwicklung von Schelers anthropo­
logischer Grundfrage über die Kriegsschriften, die sein Men­
schenbild erheblich erweitert und neue Wege zur Bestimmung
des Verhältnisses der nationalen Wesenheit und dem Men­
schenwesen eröffnet haben, über die soziologischen Schriften, in
denen Scheler schließlich in einem »religiösen Atheismus«, der
der Philosophie von Leopold Ziegler verwandt sei, die Basis für
sein philosophisch-anthropologisches Denken gefunden habe.
In den darauf aufbauenden Schriften seit dem wegweisenden
Aufsatz über die »Formen des Wissens und die Bildung« habe
sich Schelers Anthropologie zu einer Fundamentalanthropo­
logie als Grunddisziplin der Philosophie entwickelt, die vom
Standpunkt eines Allmenschentums die »organisierende Idee«
für die Verbindung aller Aktivitäten der Menschen entwickele.
Schelers Fundamentalontologie ende nicht in einer universalen
Seinsphilosophie, sondern frage darüber hinaus nach dem Sinn
des Seins des Menschen in der Evolution des Kosmos. In An­
knüpfung an Schelers Auffassung der Philosophie als Bildungs­
wissen bestehe das »Bild des Menschen« in der doppelseitigen
schaffenden Mitwirkung an der Verlebendigung des Geistes
und der Vergeistigung des Lebens, wonach sich der Geist in sei­
nem Eingehen auf die realen Gegebenheiten progressiv in neue
Funktionen ausdifferenziere und sich dadurch zugleich die We­
senspotentiale der Gegebenheiten entfalten. Im Verlaufe dieses
kontinuierlichen Schaffensprozesses entstehe aus dem Urseien­
den am Ende Gott. Ihre verständnisvolle, sorgfältig ausgearbei­
tete Dissertation ist in der Rezeption von Schelers Anthropolo­
gie bis heute fast ohne Echo geblieben.

222 Sigrid Wilhelm, Das Bild des Menschen in der Philosophie Max
Schelers, Dresden 1937, S. 10.
*212 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Arnold Gehlen stellt sich mit seiner philosophischen Frage


nach der Sonderstellung des Menschen nicht so sehr im Kos­
mos als vielmehr in der Natur grundsätzlich gegen alle Meta­
physik.223 Dem fällt dann auch prinzipiell Schelers Anthropo­
logie zum Opfer – die metaphysische Frage nach dem Sinn des
Menschseins stellt sich bei Gehlen nicht. Wenn Gehlen behaup­
tet, dass bis heute keine einheitliche philosophische Anthropo­
logie zustande gekommen sei, dann ist das im Unterschied zu
Scheler keine pathetische Klage, sondern eine nüchterne Fest­
stellung über den Stand der vielfältigen anthropologischen
Forschungen, die sich nicht auf ein einheitliches Paradigma
einigen konnten. Gehlens »empirische Anthropologie« nimmt
eine Zwischenstellung zwischen den beiden von Scheler unter­
schiedenen Forschungsebenen des Wesensbegriffs und des na­
tursystematischen Begriffs ein. Unter der Einheitskonzeption
des Menschen als eines wesensnotwendig »handelnden« Lebe­
wesens (eine Idee, die Gehlen der Kosmos-Schrift entnommen
hat)224 macht sich Gehlen die Forschungsergebnisse der unter­
schiedlichsten (Natur)Wissenschaften zunutze und fügt sie zur
Bestätigung seiner Einheitshypothese zusammen. Dadurch will
er den so vielfältigen, komplex verfassten und sich durch das
Verhalten und Handeln des Menschen ändernden Sachverhalten
der »großen Tatsache ›Mensch‹« gerecht werden, fasst aber die
»große Tatsache Mensch« enger auf als Scheler. Gehlens bis ins
Einzelne durchdachte und immer wieder an den Fortschritten
der Naturwissenschaften überprüfte Theorie stellt ein Wissen­
schaftsprogramm auf, das eine neue Epoche einleitet, wie Nico­
lai Hartmann in seiner großen Besprechung des Werkes unter-

223 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in
der Welt, textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes
der 1. Aufl. von 1940, 2 Teilbände, hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frank­
furt am Main 1993 (Gehlen, Gesamtausgabe, Bd. 3.1 – 2).
224 Vgl. Arnold Gehlen, Rückblick auf die Anthropologie Max Sche­
lers, in: Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie a. a. O.,
S. 179 – 188; später in: Gehlen, Gesamtausgabe Bd. 4, S. 247 – 258.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *213

strichen hat.225 Die mit den Forschungsfortschritten zusam­


mengehende Entfaltung der einheitlichen Grundauffassung
soll bezeugen, dass sich die philosophische Anthropologie an
die vorangegangenen Anthropologien nicht anzuschließen
brauche, die nur noch von historischem Interesse seien. Dies
schließt allerdings auch die Entstehungsgeschichte von Gehlens
eigener Anthropologie ein, die durch mehrere Abwandlungen
hindurchgegangen ist: durch keine Fußnote in Der Mensch
weist Gehlen darauf hin, dass es Schelers Kosmos-Schrift ge­
wesen ist, die sein Interesse an der philosophischen Anthro­
pologie geweckt hat.226 Einen Einblick in die damals anonym
gebliebene Wirkung Schelers auf Gehlen vermittelt erst Gehlens
»Rückblick« von 1975. Wie Scheler distanziert sich auch Gehlen
von den einseitig bleibenden Untersuchungen der verschiede­
nen Einzelwissenschaften, die er zu einer Gesamtanschauung
zu verbinden sucht. Diese Schau entwickelte sich aber nicht zu
einer »metaszientistischen Anthropologie«, sondern verblieb im
Rahmen seiner empirischen Konzeption, Welten von Schelers
Konzeption entfernt. Umso bemerkenswerter ist sein abschlie­
ßendes Urteil, mit dem er die hohe philosophiegeschichtliche
Bedeutung der Kosmos-Schrift würdigt: »Alle gleichzeitigen
und späteren Schriften zur philosophischen Anthropologie, die
irgendeinen Rang haben, hängen in Hauptpunkten vor ihr ab,
und so wird es bleiben.«227 Aber zu dem Zeitpunkt, als er dies

225 Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrach­


tungen zu Arnold Gehlens Werk Der Mensch, seine Natur und seine
Stellung in der Welt, in: Blätter für Deutsche Philosophie 15 (1941/42),
S.159 – 177; später in: N. Hartmann, Kleinere Schriften Bd. 3: Vom Neu­
kantianismus zur Ontologie, Berlin 1958, S. 378 – 393.
226 Vgl. das Nachwort von Karl-Siegbert Rehberg, in: Gehlen, Ge­
samtausgabe Bd. 3.2, S. 751 ff., insbesondere S. 755 ff., sowie das Nach­
wort zu Gehlen, Gesamtausgabe Bd. 4: Philosophische Anthropologie
und Handlungslehre, Frankfurt am Main 1983, S. 385 – 402. Außerdem
Lothar Samson, Gehlen und Scheler. Gehlens Anthropologie-Vorlesung
von 1936, in: Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens,
hrsg. v. Helmut Klages u. Helmut Quaritsch, Berlin 1994, S. 569 – 594.
227 A. Gehlen, Rückblick a. a. O., 1975, S. 188.
*214 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schrieb, war bereits Dietmar Kampers historische Anthropo­


logiekritik erschienen, die vom Standpunkt der Geschichtlich­
keit aus alle anthropologischen Standpunkte ablehnt, die eine
»›menschliche Natur‹ ohne Rücksicht auf ihre historische Ver­
änderbarkeit dingfest machen wollen«.228 Schelers Anthropolo­
gie spielt nicht einmal mehr als Gegenstand dieser Anthropo­
logiekritik eine Rolle; sie verschwindet hinter Plessners Ansatz.
So konnte auch nicht die universale geschichtsphilosophische
Dimension wahrgenommen werden, die in Schelers Anthropo­
logie eingegangen ist.

7.2 Zur Rezeption von Schelers Anthropologie in der


­phänomenologischen Bewegung

Scheler hatte sich in der Kosmos-Schrift trotz seiner methodo­


logisch verschiedenartigen Ansätze im Grundsätzlichen zur
Phänomenologie bekannt. Damit stieß er unter den führenden
Phänomenologen auf zum Teil heftige Kritik. Keiner von ihnen
hat Schelers aristotelischen Grundsatz berücksichtigt, dass es
von der Sache (welchen Wesens sie sei, ist unter den Phänome­
nologen allerdings umstritten) abhänge, nach welcher Methode
sie zu erforschen sei. Nicht einmal Schelers Aussagen zur Dif­
ferenz zwischen Phänomenologie und Metaphysik sind in Be­
tracht gezogen worden, wohl aber hat man, unabhängig von den
anthropologischen Sachfragen, in erkenntnistheoretischer Ab­
sicht seine Auffassung der Wesensschau und ihre Differenz zu
Husserls Konzeption der Phänomenologie untersucht.229 Sche­
lers Sonderstellung wurde in der Regel als Versuch einer reali­

228 Dietmar Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Trag­


weite gegenwärtiger Anthropologiekritik, München 1973, S. 11.
229 Vgl. etwa Wilhelm Pöll, Wesen und Wesenserkenntnis. Untersu­
chungen mit besonderer Berücksichtigung der Phänomenologie Hus­
serls und Schelers, München 1936. H. U. v. Balthasar, Apokalypse der
deutschen Seele, Bd. 3, Salzburg/Leipzig 1939, bes. S. 126 ff. Nach Taki­
yettin Temuralp, Über die Grenzen der Erkennbarkeit bei Husserl und
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *215

stischen oder metaphysischen Phänomenologie verstanden, mit


der er eine fruchtbare »Anwendung« oder »Erweiterung« von
Husserls Phänomenologie vor allem in den Gebieten der Ethik
und Religionsphilosophie vollzogen habe.
Husserl hatte zwar schon in den Vorworten zu den beiden
ersten der von ihm und den München-Göttinger Phänomeno­
logen Moritz Geiger, Alexander Pfänder, Adolf Reinach und
Max Scheler herausgegebenen Jahrbüchern für Philosophie und
phänomenologische Forschung feststellen müssen, dass die Phä­
nomenologie kein eigentliches »Schulsystem« sei, sondern eine
Forschergemeinschaft, die sich trotz ihrer gemeinschaftlichen
Überzeugung, dass nur im Rückgang auf die originären Quellen
der Anschauung die Probleme der Philosophie gelöst werden
können, über Ziele, Methoden und mancherlei Einzelfragen der
phänomenologischen Forschung merklich nüancierte, d. h. von­
einander abweichende Auffassungen gebildet habe. Von dieser
toleranten Einstellung hat sich Husserl während der Ausbildung
seiner transzendentalen Phänomenologie mehr und mehr ent­
fernt. In seinem Vortrag über »Phänomenologie und Anthropo­
logie« (1931) kritisierte er scharf die in der »phänomenologischen
Bewegung« aufgekommenen Tendenzen, »im Menschen allein,
und zwar in einer Wesenslehre seines konkret-weltlichen Da­
seins« das wahre Fundament der Philosophie aufzuweisen, als
einen Rückfall in den längst überwundenen Anthropologismus
und ein völliges Missverständnis der transzendentalen Phäno­
menologie.230 Als er 1931 erstmalig Schelers Kosmos-Schrift las,
versah er sie mit empörten Randbemerkungen.231

Scheler, Berlin 1937, sei bei Scheler und M. Geiger die Phänomenologie in
einen »metaphysischen Realismus« umgeschlagen (S. 5 u.ö.).
230 Edmund Husserl, Phänomenologie und Anthropologie (1931), in:
Vorträge und Aufsätze (1922 – 1937), mit ergänzenden Texten hrsg. v. Tho­
mas Nenon u. Hans Rainer Sepp, Dordrecht 1989, S. 164 ff. Auf Husserls
anthropologische Anschauungen ist Ludwig Landgrebe eingegangen:
Philosophie der Gegenwart, Bonn 1952, bes. S. 35 ff.
231 Hinweise auf Husserls Randbemerkungen zur Kosmos-Schrift
verdanke ich Matthias Schloßberger, auch auf ihre Transkription in:
*216 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Seine Kritik bezog sich nicht allein auf Scheler, sondern auch
auf Heidegger. Scheler hatte Sein und Zeit (1927) im Entwurf
der Vorrede als »überaus originalen Versuch« bezeichnet, »die
Onto­logie des Menschen« herauszuarbeiten (S. 142,10 – 12). Hei­
degger knüpft zwar in seinem dem Gedächtnis Max Schelers ge­
widmeten Buch (die Widmung ist in späteren Auflagen wieder
fortgefallen) Kant und das Problem der Metaphysik (1929) an die
Kosmos-Schrift an, aber nur um die Mehrdeutigkeit und innere
Begrenztheit des Begriffs »philosophische Anthropologie« her­
auszustellen und zu zeigen, dass die ihr zugeschriebene zentrale
Stellung nicht aus dem Wesen der Philosophie begründet wer­
den könne, also hinfällig sei.232 Auf all das, was Heidegger der
Philosophie Scheler verdankte, ist er nicht weiter eingegangen.233
Im Unterschied zur grundsätzlichen Kritik von Heidegger
und Husserl geht Alexander Pfänder in seinen Notizen von 1928
zu Schelers Aufsatz über die Idee des Menschen auf die Sachen
selbst ein, doch auch nicht weniger kritisch als die beiden an­
deren führenden Phänomenologen Husserl und Heidegger: Er
wendet sich gegen die radikale Trennung zwischen Drang und
Geist, der er seine Lehre vom Geist als »Grundwesen der Seele
und des Leibes« entgegensetzt; die leiblich-seelische Natur des
Menschen brauche den Geist, »um zu ihrer vollen Auszeugung
zu gelangen.«234 In seinem Spätwerk Die Seele des Menschen
(1935)235 setzt er sich zwar nicht mit der psychologischen, biolo­
gischen oder philosophischen Forschungsliteratur auseinander,
­ lrich Kaiser, Das Motiv der Hemmung in Husserls Philosophie, Mün­
U
chen 1997, S. 57 ff.
232 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929),
2. unveränd. Aufl. Frankfurt am Main 1951, S. 188 ff.
233 Vgl. hierzu Otto Pöggeler, Ausgleich und anderer Anfang. Scheler
und Heidegger, in: Studien zur Philosophie von Max Scheler, hrsg. v.
Wolfgang Ernst Orth u. Gerhard Pfafferott, Bonn 1994 (Phänomenolo­
gische Forschungen 28/29), S. 166 – 203.
234 Alexander Pfänder, Nachlass (Bayerische Staatsbibliothek Mün­
chen, Pfänderiana A,VI,10).
235 Alexander Pfänder, Die Seele des Menschen. Versuch einer verste­
henden Psychologie, München 1935.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *217

aber seine differenzierte Lehre von den menschlichen Trieben


und den seelischen Organen lässt sich als ein Gegenentwurf zu
Schelers Anthropologie lesen. Dass Pfänder sein Spätwerk der
»verstehenden Psychologie« zugeordnet hat, führte dazu, dass
es in der Entwicklung der phänomenologischen Anthropologie
so gut wie unbekannt geblieben ist.236
Für Roman Ingarden, Husserl-Schüler seit der Göttinger Zeit,
belege auch noch die letzte zu Schelers Lebzeiten veröffentlichte
Arbeit, dass sich nur vermuten lasse, »in welche Richtung sich
Schelers neue Auffassungen entwickelten, als dass sie ein klares
Bild von seinem neuen Standpunkt« vermittelte.237 Scheler habe
sich vom absolutistischen Standpunkt der Phänomenologie im­
mer weiter entfernt und dem Relativismus angenähert: »Der sich
im Laufe der Geschichte verändernde Mensch und die Welt sei­
ner Kulturgebilde rückte immer mehr in den Vordergrund von
Schelers Interessen und wurde zum zentralen Punkt aller seiner
Betrachtungen.« (S. 225) Am Ende wurde Scheler, den Ingarden
immerhin für den begabtesten Schüler Husserls hält, »schließ­
lich eine große Gefahr für die Weiterentwicklung der phänome­
nologischen Forschung«. Manchesmal habe er sogar ein Beispiel
davon gegeben, »wie man phänomenologische Analysen nicht
durchführen soll«, doch selbst von seinen falschen Theorien
lasse sich viel lernen, denn sie zeigen eine »ungeheuer reiche
Welt von Erscheinungen […], die von keinem anderen Forscher
untersucht wurden und auf die Scheler immer ein interessantes
Licht wirft«. (S. 227)
Die Einschätzung Schelers als »genialer« oder »geistreicher
Anreger« war schon seit Anfang der zwanziger Jahre verbreitet
– sie wurde mehr und mehr zum eigentlichen Kennzeichen von
Schelers Stellung in der Philosophie seiner Zeit und wirkt sich

236 Bereits Leopold Franke beschränkte sich in seiner Besprechung


allein auf die psychologische Seite der Schrift (Blätter für Deutsche Phi­
losophie 12, 1938/39, S. 117 – 119).
237 Roman Ingarden, Nachruf auf Max Scheler (1928), in: Gesam­
melte Werke, Bd. 3: Schriften zur frühen Phänomenologie, hrsg. v.
Włodzimierz Galewicz, Tübingen 1999, S. 218 f.
*218 Wolfhart Henckmann · Einleitung

bis in unsere Gegenwart aus. Scheler fühlte dadurch sein syste­


matisch geprägtes Philosophieren zwar gründlich missverstan­
den, andererseits aber lenkte es die öffentliche Aufmerksamkeit
auf sein Werk und bahnte den Weg für die weite Verbreitung
seiner Anthropologie.
Nicolai Hartmann, Schelers Kollege an der Universität Köln,
widmete am Ende seines von kühler Hochachtung geprägten
Nachrufs der Anthropologie nur einige wenige Worte, mit de­
nen er Schelers Selbstdeutung von der zentralen Stellung der
Anthropologie zwar als Einheit stiftendes Moment der Philo­
sophie Schelers bestätigte, aber auch erkennen ließ, dass er we­
der die anthropologische Wende noch die Auffassung der An­
thropologie als Grunddisziplin teile.238 In seinem wenige Jahre
später erschienenen Buch Das Problem des geistigen Seins (1933)
wird das anthropologische Problem nur kurz gestreift, »das
heute wieder namhafte Köpfe beschäftigt«,239 aber obwohl Hart­
mann mit dem Satz fortfährt, der deutlich an Schelers Aufsatz
»Zur Idee des Menschen« erinnert: »Der Mensch ist ein mannig­
faltig geschichtetes Wesen, er ist zum mindesten geistiges und
physisches Wesen ineins«, fällt Schelers Name nicht, und auch
im weiteren Verlauf der geschichtsphilosophischen und ontolo­
gischen Untersuchungen spielt Scheler keine Rolle.
Ähnlich distanziert äußert sich Moritz Geiger in seinem an­
sonsten von freundschaftlicher Verehrung zeugenden Nach­
ruf.240 Er hebt einerseits die Verwurzelung der Philosophie in
Schelers eigenem Lebensdrang hervor: »Nur wo er aus seiner
Existenz heraus philosophierte, bekam seine Philosophie die
Tiefe des Genialen«, andererseits betont er das Gegenprinzip
zum Lebensdrang, den »Geist«. In der spannungsvollen Ver­

238 Nicolai Hartmann, Max Scheler †, in: Kant-Studien 33 (1928),


S. IX–XVI; später in: Kleinere Schriften, Bd. 3, Berlin 1958, S. 350 – 357.
239 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersu­
chungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geistes­
wissenschaften, 3. unveränd. Aufl., Berlin 1962, S. 14.
240 Moritz Geiger, Zu Max Schelers Tode, in: Vossische Zeitung: Das
Unterhaltungsblatt Nr. 126, 1.6.1928.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *219

knüpfung von Leben und Geist sah Geiger, und mit ihm alle,
die Scheler gekannt haben, die Besonderheit von Schelers rast­
losem Philosophieren: »Erst am Ende der Tage steht der Aus­
gleich zwischen Geist und Drang. Hier liegt die Lösung seiner
anthropologischen Metaphysik, die zum letzten Ende zu führen
ihm nicht beschieden war.«
Fritz Heinemann bespricht in seiner kritischen Übersicht
über Neue Wege der Philosophie (1929) Max Schelers Philosophie
nicht unter den Grundbegriffen »Geist« und »Leben«, sondern
unter dem dritten der neue Wege herausfordernden Grundbe­
griffe der zeitgenössischen Philosophie, der »Existenz«. Unter
dem Titel der »Anbahnung neuer universal-philosophischer
Einstellungen« stellt Heinemann die Entwicklung der Phä­
nomenologie von Brentano bis Heidegger dar, wobei Scheler
den Denkern zugerechnet wird, die nach der Wendung zum
Akt (Brentano) wie Meinong und Husserl die Wendung vom
Phänomen zum Wesen vollzogen haben. »Auf dem Wege zur
Existenz bedeutet die Philosophie Max Schelers […] die wich­
tigste Etappe.«241 Heinemann charakterisiert die Entwicklung
von Schelers Denken durch die bereits damals allgemein an­
genommenen drei Perioden hindurch und gelangt in der drit­
ten zur Anthropologie: »Die Wendung, die Scheler jetzt durch­
führt, entspricht der Grundwendung der Zeit, der Wendung zur
Existenz als Wendung zum Konkreten. Und hier müssen wir
betonen, dass der erste großartige Versuch vorliegt, mit einem
einzigen Blick die historische und die biologisch-psychologisch-
anthropologische Welt zu umspannen. Dadurch erhält das
Schelersche Denken Größe.« (S. 362) Befreit von religiösen und
mythologischen Vorstellungen verknüpfe Scheler seine neu ge­
wonnene »soziologisch-historische Grundauffassung mit einer
neuen Auffassung des Menschen, und es entsteht gleichzeitig die
erste Anthropologie des neuen Zeitalters seit Lotze, die den Men­

241 Fritz Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist-Leben-Exi­


stenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929,
S. 348.
*220 Wolfhart Henckmann · Einleitung

schen in die Totalität der Welt einordnet. Und konkretisierte


sich das Emotionale im Soziologischen zu Blut, Macht, Wirt­
schaft, Trieb, so entfaltet es sich jetzt in einer solchen Breite,
dass es alles untermenschliche organische Geschehen in sich
aufnimmt. Dadurch entsteht eine große Zusammenschau.«
(S. 363 f.) Sie wird freilich nur auf die existenzphilosophische
Position bezogen, während Scheler den Menschen als Mikro­
kosmos, also als eingebettet in die Schichten des kosmischen
Seins, aufgefasst hat.
Schelers Kölner Schüler Paul Ludwig Landsberg bekannte,
dass in seiner Einführung in die philosophische Anthropologie
(1934) »die Gedankenwelt Schelers […] überall gegenwärtig«
sei, 242 doch auch hier war es die Phänomenologie und Welt­
anschauung der theistischen Periode, nicht der Panentheismus
der letzten Lebensjahre Schelers, die für Landsberg richtung­
weisend wurden. Er entwickelte Schelers Gedankenwelt zu ei­
ner christlichen Existenzphilosophie, in der das Erbe Kierke­
gaards nachwirkte, das bei Scheler so gut wie inexistent ist.243
Landsberg musste 1933 Deutschland verlassen und verlor noch
im gleichen Jahr seine Bonner Lehrbefugnis – die nationalsozia­
listische Weltanschauung hatte begonnen, das Geistesleben in

242 Paul Ludwig Landsberg, Einführung in die philosophische An­


thropologie (1934), 2. unveränd. Aufl. Frankfurt 1960, S. 8. Vgl. E. Zwier­
lein, Die Idee einer philosophischen Anthropologie bei Paul Lud­
wig Landsberg. Zur Frage nach dem Wesen des Menschen zwischen
Selbstauffassung und Selbstgestaltung, Würzburg 1989, und meinen Ar­
tikel: L’interpretazione dell’essenza dell’uomo in Scheler e Landsberg, in:
Da che parte dobbiamo stare. Il personalismo di Paul Ludwig Landsberg,
a cura di Michele Nicoletti, Silvano Zucal, Fabio Olivetti, Rubbettino
Editore 2007, S. 123 – 141. Eine umfassende Würdigung von Landsbergs
Philosophie findet sich bei Fabio Olivetti, Paul Ludwig Landsberg. Una
filosofia della persona tra interiorità e impegno, Edizioni plus 2007.
243 Bei der Bedeutung, die die Kierkegaard-Rezeption seit der Jahr­
hundertwende für die Wiedergewinnung der philosophischen Anthro­
pologie gewann, ist Schelers Schweigen zu Kierkegaard in hohem Maße
erklärungsbedürftig, wozu es bisher aber noch keine Erklärungsversu­
che gibt.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *221

Deutschland in Beschlag zu nehmen. Landsberg emigrierte


nach Paris und veröffentlichte in Max Horkheimers Zeitschrift
für Sozialforschung eine kritische Auseinandersetzung mit dem
zentralen Thema der neuesten Strömung in der Anthropologie:
»Rassenideologie und Rassenwissenschaft. Zur neuesten Lite­
ratur über das Rassenproblem«.244 Auf den fundamentalen Un­
terschied zwischen der politisch-ideologischen Rassenideologie
und der exakten Erblichkeitslehre und Rassenwissenschaft in
der Biologie hatte Scheler in seinen anthropologischen und psy­
chologischen Schriften und Vorlesungen der zwanziger Jahre
immer wieder hingewiesen, und Landsberg schloss sich ihm
darin an. Ansonsten ging er auf Schelers Rassentheorie und ihre
Bedeutung für seine Trieb- und Lebenslehre nicht weiter ein.
Der Politologe Erich Voegelin, der sich seit Ende der zwan­
ziger Jahre historisch und systematisch mit der biologischen
Rassentheorie auseinandergesetzt hat, sieht zwar den einzigen
großen philosophischen Versuch, dem Rassenproblem auf den
Grund zu gehen, in der Rassenlehre des katholischen Ganz­
heits- und Gesellschaftsphilosophen Othmar Spann 245 und
ordnet deshalb Scheler und Plessner nur in die Vorgeschichte
der Entwicklung einer organischen Gesamtanschauung des
Menschen ein.246 Voegelin lobt Schelers Kritik an Descartes’
»Abschnürung« der Seele vom Körper, wirft ihm dann aber vor,
»seine Analyse und Kritik dieser konstruktiven Grundrichtung
so stark mit anderen Gedankenfäden durchwoben [zu haben],

244 Paul Ludwig Landsberg, Rassenideologie und Rassenwissen­


schaft. Zur neuesten Literatur über das Rassenproblem, in: Zeitschrift
für Sozialforschung 2 (1933), S. 388 – 406. S. 394 verweist Landsberg auf
Scheler, der gezeigt habe, dass der biologische Instinkt zur Fortpflan­
zung durch die Liebe auf eine Erhöhung des Typus Mensch ziele.
245 Othmar Spann, Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch?, Jena
1920.
246 Erich Voegelin, Rasse und Staat, Tübingen 1933. Vgl. William
Petropoulos, Eric Voegelin and Max Scheler, in: ders., The Person as
»Imago Dei«, München 1997, S. 5 – 15 (Occasional Papers. Eric-Voegelin-
Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität, 4).
*222 Wolfhart Henckmann · Einleitung

daß das Grundsätzliche überdeckt wurde und er selbst eine


Konstruktion vorgeschlagen hat, die gleichfalls unter den von
ihm kritisierten Typus der Abschnürung fällt. […] Der mensch­
liche Geist tritt zur leib-seelischen untermenschlichen Natur
hinzu, um das Gesamtdasein des Menschen zu erfüllen: – aber
in dieser Addition von Teilen schnürt Scheler nun wieder den
Geist gegen Leib und Seele noch schärfer ab als Descartes die
Seele gegen den Mechanismus.« Voegelin sieht sehr wohl, dass
Scheler die Abschnürung überwinden wollte, indem er mit der
Einführung eines »geistigen Willens« einen Zusammenhang
des Geistes mit der Triebenergie aufweist. Es werde aber nicht
ganz deutlich, wie diese Annäherung des Geistes an die Vital­
sphäre zu denken sei, »weil 1. der Wille nicht in das Schema
des Weltaufbaues von anorganischer Materie, pflanzlichem Le­
bensdrang, Instinkt, assoziativem Gedächtnis, praktischer In­
telligenz und Geist als selbständiges Glied aufgenommen wird,
und weil 2. der Drang als Grundelement des Weltseins, und als
solches schon vorfindlich in der Gestaltung der Materie, nicht
deutlich geschieden wird vom Lebensdrang, der den vegetativen
Bereich auszeichnen soll«. (S. 25)

7.3 Kritik aus christlicher Sicht

Hatte Schelers philosophische Anthropologie sogar innerhalb


der phänomenologischen Bewegung nur ein zwiespältiges Echo
gefunden, so erwuchs ihr in der christlichen, insbesondere ka­
tholisch orientierten Philosophie eine entschlossene Gegner­
schaft, vor allem unter den Anhängern des Thomismus, aber
auch unter denjenigen, die in Scheler einen gläubigen Katholi­
ken gesehen hatten und sich durch seine plötzliche Abkehr von
der katholischen Kirche verlassen und verraten fühlten. Schelers
Lebensweg galt als Lehrbeispiel, dass eine christliche Anthropo­
logie scheitern müsse, wenn ihr geistig noch so reich begabter
Autor vom wahren Glauben abfalle und wie Scheler niemals in
den innersten Kern des christlichen Glaubens vorgedrungen sei.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *223

Andererseits hat sich Scheler bis zuletzt zur christlichen Lehre


von der Ebenbildlichkeit bekannt, so dass viele seiner neuen Ein­
sichten in die christliche und theologische Anthropologie beider
Konfessionen Eingang finden konnten. Nimmt man indessen
Sammelwerke wie Imago Dei (1932), 247 das der Anthropologie
gewidmete Sonderheft der Zeitschrift für Theologie und Kirche
(1933)248 oder Das Bild vom Menschen (1934)249 als Maßstab für
die Rezeption von Schelers anthropologischen Anschauungen
in der zeitgenössischen christlichen und theologischen Anthro­
pologie, so erkennt man, dass sie in dem historisch und syste­
matisch so vielfältig, aber immer noch nicht gründlich genug
durchforschten religiösen und theologischen Problemfeld nur
bei einzelnen Autoren und in einzelnen Fragestellungen wie der
Reue, Schuld, Heiligkeit, Ebenbildlichkeit, Verhältnis zwischen
Glauben und Wissen Fuß fassen konnte, oft aber auch sogleich
wieder auf kritische Stimmen stieß. Der Tübinger Moraltheo­
loge Theodor Steinbüchel, der 1948 zum Präsidenten der ersten
Max Scheler-Gesellschaft gewählt wurde, vertrat die Auffassung,
dass die gegenwärtige Situation der Anthropologie durch den
Fortschritt von der Phänomenologie über die Ontologie (Hei­
degger, N. Hartmann) zur Existenzphilosophie (Jaspers) geprägt
sei – Schelers Anthropologie hätte demzufolge bereits ihre Ak­
tualität eingebüßt!250 Auch im einleitenden Artikel des Heraus­

247 Imago Dei. Beiträge zur theologischen Anthropologie, hrsg. v.


Heinrich Bornkamm, Gießen 1932.
248 Zeitschrift für Theologie und Kirche, Neue Folge 14 (1933), hrsg.
v. Horst Stephan; vgl. den einführenden Artikel des Herausgebers: Die
aktuelle Bedeutung der Anthropologie, S. 97 – 103.
249 Das Bild vom Menschen. Beiträge zur theologischen und philo­
sophischen Anthropologie, hrsg. v. Theodor Steinbüchel und Theodor
Müncker, Düsseldorf 1934. Einige Beiträge berühren Schelers Wert- und
Sozialphilosophie; Heinrich Lützeler erweitert Schelers Frage nach dem
Wesen des Menschen auf Dichtung und Kunst: »Die Idee vom Menschen
in der heutigen Kirchenbaukunst«, S. 200 – 211.
250 Theodor Steinbüchel, Die menschliche Existenz in heutiger philo­
sophischer Sicht – Idealismus und Existenz, in: Das Bild vom Menschen,
1934, S. 145 – 159.
*224 Wolfhart Henckmann · Einleitung

gebers Horst Stephan erkennt man, dass die Diskussion schon


nicht mehr an Scheler, sondern an Heidegger,251 Jaspers und an
Grisebachs Kritische Ethik (1929)252 anknüpfte, obwohl diese »in
der Schulphilosophie einsam blieb, aber zahlreiche Anregungen
ausstreut«, indem sie »vom Du und von der ›Gegenwart‹ her die
anthropologische Frage völlig neu zu stellen« suchte (S. 101).
Dietrich von Hildebrand, der durch Scheler und Husserl in die
Phänomenologie eingeführt worden und mit Scheler einst eng
befreundet war, stellte zwischen den früheren, phänomenolo­
gisch in einer absoluten Wertrangordnung fundierten, und den
späteren, pantheistischen und relativistischen Anschauungen
Schelers eine »unerhörte Wendung« fest, die zu katastrophalen
Folgen für Schelers Philosophie geführt habe. Hildebrands Auf­
fassung fand in kirchlichen Kreisen eine weite Verbreitung: »Es
liegt ein Bruch in seiner Philosophie vor, wie er radikaler nicht
gedacht werden kann, ein Bruch, an dem nicht zu deuten ist. Zu
verstehen ist derselbe nur aus dem Menschen Scheler, aus der
ganzen Tragik seiner Natur und seines Lebensschicksals. Der­
selbe Scheler, der früher in der vitalen Sphäre nur den Unterbau
des Geistigen sah, für den der Wert des Vitalen dem des Geisti­
gen unvergleichlich untergeordnet war, stellte später den Geist
als ›Sackgasse‹ dar, als Hemmung des Vitalen, Triebhaften, in
dem er das eigentlich Wertvolle erblickte. Derselbe Scheler, der
die freie geistige Person im Menschen gegenüber den Auffas­
sungen der Assoziationspsychologie klar herauszustellen sich
bemühte, der gegenüber Kant auch die geistige Natur der emo­
tionalen Akte, wie Liebe, Mitleid, Freude u. a. herausarbeitete

251 Vgl. den Artikel von W. Schultz, Über die Aufgabe einer theolo­
gischen existentialen Anthropologie, in: Zeitschrift für Theologie und
Kirche NF 14 (1933), S. 125 – 147.
252 Eberhard Grisebach, Gegenwart: Eine kritische Ethik, Halle 1928.
Grisebach stellt sich die Aufgabe, »die Menschen auf die Gefahr ihrer
Selbstüberschätzung aufmerksam zu machen« (S. XII). Zu Grisebachs
Anthropologie vgl. Heinz Erich Eisenhuth, Die Auffassung vom Men­
schen in Grisebachs kritischer Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und
Kirche NF 14 (1933), S. 148 – 165.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *225

und sie von allen bloß vitalen Erlebnissen scharf trennte, der auf
die Unsterblichkeit der geistigen Person gegenüber dem sterb­
lichen bloßen Lebewesen wie Tier und Pflanze immer wieder
hinwies, schloss sich mehr und mehr einer Unterordnung des
Geistigen unter das triebhaft Vitale an, wie sie etwa Klages ver­
tritt, und erklärte die Bestimmung des Menschen als Vernunft­
wesen für eine Erfindung der Griechen.«253 Hildebrand führte
noch weitere »Umkippungen« an, die alle nur aus der zügellosen
Natur Schelers zu erklären seien – Schelers Anthropologie sei
nichts anderes als das Spiegelbild des problematischen, in sich
zerrissenen Menschen Scheler. Den tiefsten Grund für den gei­
stigen Zerfall von Schelers Philosophie sah Hildebrand darin,
»dass ihm der eigentliche übernatürliche Gehalt der Kirche ver­
schlossen blieb […]. Er vermochte nicht, aus der erkennenden
Einstellung zu der liebenden Hingabe an Gott und dem Leben
aus dem Glauben überzugehen« (S. 615). Hildebrand wollte seine
Auffassung von Schelers tragischer Entwicklung in einer Mono­
graphie darstellen, doch dazu ist es nicht mehr gekommen, er
musste 1933 aus Deutschland fliehen. Das Wort vom tragischen
Schicksal des Philosophen Scheler machte, wenn auch in un­
terschiedlicher Auslegung, unter den christlichen Philosophen
und Theologen seine Runde.
Der christliche Existenzphilosoph Peter Wust erwartete An­
fang der zwanziger Jahre von der ȟberragenden Gestalt Max
Schelers« eine Vermittlung zwischen dem Neukantianismus
und der Lebensphilosophie, musste aber in Schelers Vorträgen
über »Die Wissensformen und die Bildung« (1925) und »Mensch
und Geschichte« (1926) erkennen, dass Scheler zum »Totengrä­
ber seines eigenen Lebenswerkes« zu werden drohte.254 Wust
kam am Ende einer ausführlichen Analyse von Schelers Anthro­

253 Dietrich von Hildebrand, Max Schelers Stellung zur katholischen


Gedankenwelt (1928), in: Die Menschheit am Scheideweg, Regensburg
o. J. (1954), S. 608.
254 Peter Wust, Die katholische Seinsidee und die Umwälzung in der
Philosophie der Gegenwart (1927), in: P. Wust, Gesammelte Werke, Bd. 6,
Münster 1966, S. 64.
*226 Wolfhart Henckmann · Einleitung

pologie vor und nach der Wende von 1922 zu dem Ergebnis, dass
Scheler, zwischen Theismus, Pantheismus, sogar Atheismus hin
und her taumelnd, zwar das Verdienst habe, auf der Grundlage
der biblischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Men­
schen »das Problem vom Wesen des Menschen allen Ernstes
für seine Zeit noch einmal gestellt und in den Mittelpunkt der
heutigen Philosophie gerückt zu haben«, dass aber in der letzten
Phase die »ungeheure Katastrophe dieses Denkerlebens sicht­
bar geworden« sei und »Scheler seinen Nachfolgern eigentlich
nichts weiter als die Problemstellung auf einem unabsehbaren
Felde von Trümmern« hinterlassen habe. Auf diesem Trüm­
merfeld stelle sich nach wie vor die ewige Urfrage all unseres
menschlichen Denkens in einer beinahe erschreckenden Gestalt
neu, was eigentlich der Mensch sei.255
Ähnlich urteilte Hans-Eduard Hengstenberg, der als ehema­
liger Schüler Schelers 1996 zum Ehrenmitglied der zweiten, 1993
gegründeten Max-Scheler-Gesellschaft gewählt worden war,
in seinen Betrachtungen zur tragischen Denkgeschichte Max
Schelers. Schelers Gotteslehre habe sich geradezu in eine »an­
gewandte Anthropologie« verwandelt.256 Infolge einer persön­
lich bedingten Überbewertung des naturhaften Drangs sei er
zur Lehre von der Ohnmacht des Geistes sowohl im Menschen
als auch in Gott gekommen – denn die Gnade eines Ringens mit
Gott habe Scheler nie erfahren.
Der ehemalige Jesuit und katholische Theologe Hans Urs von
Balthasar sieht in Schelers Leitbild einer »totalen Anthropolo­
gie«, in der Philosophie, Wissenschaft und Kultur zusammen­
laufen, den Ausdruck eines geistigen Titanismus, der in einem
»in der deutschen Geistesgeschichte beispiellosen Ikarussturz«
endete.257 Die wichtigsten Wurzeln von Schelers Lehre sieht

255 Peter Wust, Max Schelers Lehre vom Menschen (1928/29), in: Ge­
sammelte Werke, Bd. 7, S. 286 f.
256 Hans-Eduard Hengstenberg, Die Tragik eines Philosophen. Zur
Denkgeschichte Max Schelers, in: Germania Nr. 233, Berlin 24.8.1934.
257 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele, a. a. O.
S. 85.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *227

Balthasar in Bergson, Nietzsche und Dostojewski, auf den insbe­


sondere die Solidaritätsauffassung zurückgehe, die er während
der Kriegsjahre entwickelt habe. In seinen anthropologischen
Schriften habe Scheler die Grunderkenntnisse des phänome­
nologischen Idealismus in die Lebensmetaphysik von Bergson
und Klages eingebaut, »das ganze unternommen im Zeichen
der Wirklichkeitsnähe Nietzsches und doch, dank der Grund­
einsicht Husserls, eingeordnet in eine Metaphysik des Geistes«
(S. 136). Mit der Lehre von der Ohnmacht des Geistes falle aber
sowohl die Personalität Gottes als auch die des Menschen zu­
gunsten einer werdenden Versöhnung von Geist und Trieb da­
hin, die Erlösung Gottes durch den Menschen gelte als die letzte
Weisheit (S. 173). Ähnlich urteilte auch der von Scheler sehr ge­
schätzte Jesuit Erich Przywara.258 An Schelers philosophische
Anthropologie ließ sich von dieser Seite nicht mehr anknüpfen,
man könne sich im Grunde nur von ihr abwenden und ihr an­
tithetisch die wahre christliche Anthropologie entgegensetzen.
Andere katholische Denker hingegen, die Schelers Selbstbe­
kenntnis ernst nahmen, im Grunde nie ein Katholik gewesen
zu sein, leugneten den »Bruch« in Schelers philosophischer Ent­
wicklung und sahen in der späten Anthropologie den – frag­
mentarischen – Ausdruck der inneren Kontinuität eines nicht-
christlichen Denkens. Dies hatte als erster Theodor Haecker
behauptet, 259 der Scheler niemals für einen christlichen Philo­
sophen gehalten hat, da er bei ihm nie den »Gehorsam des Glau­
bens, die bedingungslose Annahme der Offenbarung, nie […]

258 In seinem Aufsatz »Drei Richtungen der Phänomenologie« stellt


Przywara der »gesunden Periode« von Schelers Philosophie die »Auf­
lösungsperiode« mit ihrer weithin verwüsteten Wertphilosophie entge­
gen (Stimmen der Zeit 115, 1928, S. 256): »Am Anfang ein rauschendes
Sich-hineinschwingen in die Liebesseligkeit Gottes, dann aber, am Ende,
ein verzweifelt-rasendes Herunterreißen Gottes in das Elend der Welt.«
(S. 258)
259 Theodor Haecker, Geist und Leben. Zum Problem Max Scheler,
in: Hochland 23/2 (1926), S. 129 – 155; auch in Haecker, Christentum und
Kultur (1927), 2. unveränd. Aufl., München/Kempten 1946, S. 227 – 281.
*228 Wolfhart Henckmann · Einleitung

ein verborgenes, unsichtbares Leben der Gnade, nie den Hauch


eines Gebetslebens« gefunden habe.260 Scheler sei vielmehr
ein genuiner Metaphysiker, ein »naiver Fortsetzer griechisch-
europäischer Metaphysik, diesseits des christlichen Glaubens
und der Offenbarung und jenseits der konkreten natürlichen
Religionen«. 261 Scheler war ursprünglich vom apriorischen
Vorrang aller geistigen Werte überzeugt, habe dann aber den
Geist an die Natur, an das Leben verraten und behauptet, dass
der »Geist« nie ein Schöpfer sein könne, weder der menschli­
che noch der göttliche Geist, »zwischen welchen beiden nur ein
Unterschied des Grades« bestehe.262 In seinen eigenen Über­
legungen zu einer christlichen Anthropologie,263 in der er von
der absoluten Unveränderlichkeit des Menschen ausgeht, führt
Haecker Schelers Anthropologie auf drei Absurditäten zurück:
Die erste liege in der Behauptung, dass weder der menschliche
noch der göttliche Geist schöpferisch sei, womit zugleich ge­
leugnet werde, dass »zwischen Unerschaffenem und erschaf­
fenem Geist« ein absoluter Qualitätsunterschied bestehe. Die
zweite Absurdität bestehe darin, dass auch der Trieb und Drang
des Lebens im Menschen realiter nicht schöpferisch sein kön­
nen, da sie stets ein Sein voraussetzen müssen, und die dritte
Absurdität liege in der Konsequenz der beiden ersten, dass Gott
selber nichts anderes sein könne als eine Urmaterie, aus der
alles hervorgehe – Scheler müsse, wenn er logisch sein wolle,
für seine Kosmogonie »Materialist oder rohester Energetiker«
sein.
Johannes Hessen war wie einst Scheler ein überzeugter Ver­
treter eines anti-thomistischen, neuplatonisch-augustinischen
Katholizismus. In seiner Wertphilosophie würdigte er die
Kosmos-Schrift als den »weitaus bedeutendsten Versuch einer
philosophischen Anthropologie in der Gegenwart«.264 Der Wie­
260 Haecker, Christentum und Kultur 1946, S. 241.
261 Ebd. S. 274.
262 Ebd. S. 239.
263 Theodor Haecker, Was ist der Mensch?, München 1949, bes. S. 135 f.
264 Johannes Hessen, Wertphilosophie, Paderborn 1937, S. 145.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *229

dergabe ihres Gedankengangs (S. 146 – 158) fügte er abschließend


einige Einwände hinzu. Es überzeuge ihn nicht, den höchst
entwickelten Tieren eine Intelligenz zuzusprechen, die von der
menschlichen nur graduell verschieden sei. Ganz unhaltbar
seien aber vor allem zwei Thesen Schelers: die Lehre von der
Ohnmacht des Geistes, die nur zeige, dass Scheler den »Willen«
verkenne; darin schließt er sich Cassirers Kritik an. Zweitens
sei gänzlich unhaltbar Schelers Gotteslehre; sie bedeute für das
»genuin religiöse Wertbewusstsein einen Schlag ins Gesicht«
(S. 159) und bezeuge nur die Hybris eines Gnostikers. Etwas ge­
mäßigter äußerte er sich zehn Jahre später in seiner Gesamt­
darstellung von Schelers Philosophie.265 Hessens Kritik an der
These von der Ohnmacht des Geistes teilte auch der Würzburger
Philosoph Hans Pfeil.266
Nach Erik Peterson habe Scheler, der in seiner Generation
»am stärksten das religiöse Bewusstsein der Epoche geweckt«
habe, »durchaus etwas wie theologischen Instinkt« bewiesen
und eine »weit realere Beziehung zum christlichen Glauben«
gehabt als seine dem widersprechenden Äußerungen erkennen
lassen, so dass er nach seinem Bruch mit dem Christentum auf
eine gnostische Metaphysik verfallen sei und ein Häretiker, aber
kein reiner Skeptiker wurde.267
Karl Eschweiler sieht in der These vom Bruch hingegen nur
eine Meinung der Öffentlichkeit. Von einem Philosophen er­
warte man, auf die »grundsätzliche Einheitlichkeit und Kon­

265 Johannes Hessen, Max Scheler. Eine kritische Einführung in seine


Philosophie, Essen 1948, S. 100 f., 120 f.
266 Hans Pfeil, Der Mensch im Denken der Zeit, Paderborn 1938,
S. 98 f.
267 Erik Peterson, Zum Gedächtnis von Max Scheler, in: Theologische
Blätter 7 (1928), Sp. 165 – 167, hier: Sp. 166. Später in: E. Peterson, Ausge­
wählte Schriften, hrsg. v. Barbara Nichtweiß, Bd. 9/1, Würzburg 2009,
S. 559 – 561. Vgl. Giancarlo Caronello, Erik Peterson, Max Scheler und
die eschatologische Sehnsucht in der philosophischen Anthropologie
(1927 – 1929), in: Erik Peterson und die Universität Bonn, hrsg. v. Michael
Meyer-Blanck, Würzburg 2014, S. 269 – 316.
*230 Wolfhart Henckmann · Einleitung

stanz« von Schelers Philosophie aufmerksam gemacht zu werden.


In diesem Sinne konzentrierte Eschweiler sich auf den »meta­
physischen Lehrgehalt der Anthropologie Max Schelers«. 268
Ihre zentrale Stellung führt er auf einen Einfluss von Schelers
persönlichen Lehrern Eucken und Husserl zurück. Im Aufsatz
»Zur Idee des Menschen« vertrete Scheler die These von der
Undefinierbarkeit des Wesens des Menschen, die Eschweiler als
die zentrale, bis zuletzt beibehaltene anthropologische Lehre
versteht, über die Scheler nicht mehr hinausgekommen sei.
Eschweiler hält sie für zeitgeschichtlich bedingt, doch enthalte
sie zugleich einen absoluten Gehalt. Zeitgeschichtlich bedingt
sei sie dadurch, dass Scheler die Undefinierbarkeit zwischen die
beiden seit der Renaissance bekannten Fixpunkte Natur und
Geist 269 einspanne, während der absolute Gehalt darin bestehe,
dass sie ein »einziger Protest gegen das in sich abgeschlossene,
die Welt vom Ich-Selbst aus konstruierende ›freie Vernunft­
wesen‹ der Descartes, Leibniz, Wolff, Hume, Kant, Fichte« sei.
Auch von anderer Seite ist die Descartes-Kritik und damit die
Kritik an der dogmatischen Geltung des Bewusstseins-Idealis­
mus als einer der Zentralpunkte von Schelers Anthropologie
aufgefasst worden. Eschweiler deutet an, dass sich Schelers Pro­
test in einen über die herrschende Auslegung des Thomismus
hinausgehenden Katholizismus aufnehmen lasse. Damit eröff­
nete er eine Perspektive auf eine an Scheler anknüpfende über­
konfessionelle christliche Anthropologie.

268 Karl Eschweiler, Max Schelers Philosophie vom Menschen, in:


Das neue Ufer. Kulturelle Beilage der [katholischen Zeitung] Germania,
Nr. 19, 23.6.1928.
269 Wilhelm Haas sah in der Spannung zwischen Natur und Geist
nicht eine problemgeschichtlich bedingte, sondern eine wesenhafte
Spannung: »Das Werk Max Schelers umkreist ein Einziges, und dieses
Einzige müht es sich, in seinen Aspekten zu sehen, zu verstehen und zu
werten. Dieses Einzige ist der Kampf zwischen Natur und Geist, kein
Problem also, sondern ein Wesenhaftes. In den Abwandlungen dieses
Wesenhaften entfaltet sich seine Philosophie, in ihm selbst sein Leben.«
W. Haas, Zum Gedächtnis von Max Scheler, in: Das neue Ufer, Nr. 23,
28.7.1928.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *231

In der ersten Rezeptionsphase von Schelers Anthropologie


spielte die hinter der Kosmos-Schrift stehende und ihre Arti­
kulation bestimmende Große Anthropologie kaum eine Rolle,
auch wenn einige Autoren wie Heinrich Adolph meinten, dass
ihre Grundgedanken in der Kosmos-Schrift und im Sammel­
band Philosophische Weltanschauung einen »durchaus klaren
Niederschlag gefunden« haben.270 Allein bei Sigrid Wilhelm
finden sich Gedanken über die Große Anthropologie, die sie aus
Schelers Bildungsphilosophie ableitet. Im Allgemeinen aber
ließ man Schelers auf das Fragmentarische der metaphysischen
Grundzüge der Kosmos-Schrift verweisende Bemerkungen un­
berücksichtigt, da er sein parallel zur Anthropologie begonne­
nes Spätwerk zur Metaphysik ebenfalls nicht vollenden konnte.

7.4 Stellungnahmen außerhalb der Philosophie

Schelers publikumswirksam verfasste Kosmos-Schrift fand


auch außerhalb der im engeren Sinne verstandenen Philosophie
und Theologie viele Leser.
Der von der europäischen Kultur geprägte Romanist Ernst
Robert Curtius war seit 1919 mit Scheler freundschaftlich ver­
bunden. In seiner Grabrede zeichnete er 1928 ein beeindru­
ckendes Porträt von Schelers geistiger Persönlichkeit.271 Er
wies insbesondere auf Schelers Personlehre und die weltoffene
Sympathie hin, die Scheler den Menschen und der Welt entge­
genbrachte. Schelers Auffassung der Philosophie als »Bildungs­
wissen« durchdringt Curtius’ Kampfschrift Deutscher Geist
in Gefahr, in der Scheler als der größte deutsche Denker seit

270 Heinrich Adolph, Die Anthropologie Max Schelers, in: Imago


Dei. Beiträge zur theologischen Anthropologie, hrsg. v. Heinrich Born­
kamm, Gießen 1932, S. 199 f.
271 Veröffentlicht in Wilhelm Maders Dissertation: Max Scheler. Die
Geisteshaltung einer Philosophie und eines Philosophen, Innsbruck
1968. Kurze Auszüge in W. Mader, Max Scheler, Reinbek b. Hamburg
1980, S. 134 und 143.
*232 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Nietzsche gefeiert wird, dessen Werk aber »von der Zunft tot­
geschwiegen oder kleinlich bekrittelt« werde.272 Schelers Ver­
dienst liege vor allem darin, dass er in Deutschland, und nur
in Deutschland, »eine neue Erkenntnis des Menschen erarbei­
tet« habe (S. 28). Die philosophische Anthropologie müsse eine
Trieb-, Seelen- und Geistlehre enthalten, worüber es allerdings
auch bei Scheler noch keine einheitliche Anschauung gebe. In
der Geistlehre wich Curtius sogar von Scheler ab – mit Goethe
ist für ihn der Geist in seiner erhabensten Wirkform »Schöp­
fergeist« (S. 91), also gerade das Gegenteil eines ohnmächtigen
Geistes.
Der Soziologe Werner Sombart war mit Scheler seit der Vor­
kriegszeit in einem eifersüchtigen Konkurrenzverhältnis be­
freundet, so dass er es abgelehnt hat, einen Nachruf auf Sche­
ler zu schreiben. In seinem Buch Vom Menschen. Versuch einer
geistwissenschaftlichen Anthropologie (1938) wollte er das Pro­
gramm der »philosophischen Anthropologie« ausführen, 273
das Scheler am Anfang des sechsten Abschnitts der Kosmos-
Schrift umrissen hat. »Philosophisch« ersetzte er dabei durch
»geistwissenschaftlich«, was den nicht-philosophischen Stand­
punkt erkennen lässt, der sich nur für die geist-bedingte, kul­
turgeschichtliche Dimension von Schelers Konzept interessiert.
Warum er es unter dieser Einschränkung als »in der Natur der
Sache gelegenes Programm« bezeichnen konnte, wird nicht wei­
ter ausgeführt, ebenso wenig, dass er Schelers Auffassung des
Menschen als Neinsager oder Gottsucher wie alle anderen von
Platon bis N. Hartmann stammenden Wesensbestimmungen
des Menschen für »einseitig« gehalten hat (S. 4). Nach Sombarts
Meinung seien bereits in C. A. Werthers System der Pneumato-
logie (1867)274 »so ungefähr alle Gedanken enthalten […], die

272 Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 54.


273 Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geistwissen­
schaftlichen Anthropologie, Berlin-Charlottenburg 1938, S. 50.
274 C. A. Werther, Lebens-, Seelen- und Geisteskraft oder die Kräfte
der organischen Natur in ihrer Einheit und Entwicklung, Erster Theil:
Die Pflanzen und das Thier, Halle 1860; Zweiter Theil: Der Mensch als
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *233

Max Scheler und seine Schüler ein Menschenalter später neu


fanden.« (S. 106). Die von Scheler inspirierte Liste von Wesens­
definitionen des Menschen, die Sombart zu Beginn seines Bu­
ches zusammenstellt, hat Erich Rothacker noch in den fünfziger
Jahren seinen Lehrveranstaltungen zugrunde gelegt.275
Die anthropologische Interpretation des Geistbegriffs nah­
men sehr früh auch Anhänger der Anthroposophie auf.276 Seit
Rudolf Steiner in seiner Autobiographie anerkennende Worte
für die innere Toleranz gefunden hatte, die Scheler den An­
schauungen Steiners einst in einem langen Gespräch bekundet
hatte, 277 war Scheler gleichsam in die Gemeinde der Anthropo­
sophen aufgenommen. Hans Erhard Lauer geht von den fünf
Grundideen über das Wesen des Menschen aus, die Scheler in
»Mensch und Geschichte« dargestellt hat. Obwohl sich Sche­
lers Lehre mit der des postulatorischen Atheismus in man­
chen Punkten berühre, habe er wohl für sich selber eine sech­
ste Position entwickeln wollen.278 Diese Position gebühre aber
vor allem der von Scheler übergangenen »Anthropo-Sophie«.
Während alle von Scheler erwähnten fünf Grundideen von ei­
ner vorausgesetzten Weltanschauung aus auf den Menschen
zurückschließen, sei die Anthropo-Sophie die einzige, die un­
mittelbar von der Erkenntnis des Menschen selbst ausgehe. In

geistiges Individuum nach seiner Bildung und Entwicklung auf der


Grundlage der Natur, Nordhausen 1867.
275 Erich Rothacker, Philosophische Anthropologie, 2. verb. Aufl.,
Bonn 1966, S. 1.
276 Max Dessoir, mit dem Scheler befreundet war, hat sich kritisch
mit der Anthroposophie Steiners auseinandergesetzt: Vom Jenseits der
Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung (1931), 6. un­
veränd. Aufl., Stuttgart 1967, S. 414 ff.
277 Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, Stuttgart 1967, S. 314. Hertmut
Traub weist nachträglich in einer Fußnote auf einige Gemeinsamkeiten
zwischen Steiner und Scheler hin (Philosophie und Anthroposophie. Die
philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners. Grundlegung und Kri­
tik, Stuttgart 2011, S. 180).
278 Hans Erhard Lauer, Das neue Bild des Menschen, in: Österreichi­
sche Blätter für freies Geistesleben 6 (1929/30), H. 10, S. 23 – 34.
*234 Wolfhart Henckmann · Einleitung

der anthropozentrischen Erkenntnis, in der sich das Verhältnis


des Menschen zu sich selbst manifestiere, erwache der Mensch
zu sich selbst; Ähnliches geschehe im ästhetischen oder mora­
lischen Erleben: »So wird die fortschreitende Selbsterweckung
des Menschen in seinen eigentlich menschlichen Funktionen
die Methode, mit der die Anthroposophie ihr Menschenbild
erarbeitet.«279 Dabei setzt sie voraus, dass der Inhalt des Begrif­
fes Mensch so umfassend sei wie der Inhalt des Begriffes Welt.
Die Mikrokosmos-Auffassung verblasst ihr dabei nicht zu ei­
ner Universalkategorie, sondern wird an die Individualität des
Menschen zurückgebunden, so dass sich beide in gegensätzli­
cher Wechselbeziehung entwickeln, was einschließt, dass sich
in der Individualität zugleich das Wesen der Gattung Mensch
entwickele. Die Entwicklung des individuellen und kosmischen
Menschen vollziehe sich in wiederholten Verkörperungen, die
einem dreistufigen anthropologischen Entwicklungsgesetz fol­
gen, mit dem auch die Entwicklung Gottes verbunden sei: Die
leibliche Evolution gehe einher mit der Entwicklung des gött­
lichen Wesens Gott-Vater als Makro- und Mikrokosmos, die
seelische Evolution als Entwicklung der Individualität erfolge
als Einwohnung des schöpferischen Prinzips des göttlichen We­
sens als Sohnes-Gott, und die dritte Evolution stelle die Durch­
geistung durch das synthetische Prinzip Geist-Gott dar. Da die
leibliche und die seelische Evolution bereits durchlaufen seien,
gehöre die Zukunft der Menschheit der geistigen Evolution. Die
anthroposophische Konzeption weist also einige strukturelle
Ähnlichkeiten mit der anthropologischen Metaphysik Schelers
auf, bis hin zur Spekulation über das kommende Weltalter des
Ausgleichs; inhaltlich gehen sie jedoch weit auseinander.
Die Unterschiede zwischen Scheler und der Anthroposophie
machte Hermann Poppelbaum deutlich.280 Für ihn ist Schelers

279 Ebd. S. 29.


280 Hermann Poppelbaum, Max Schelers letzte Arbeit. Ein Nachruf,
in: Das Goetheanum. Internationale Wochenschrift für Anthroposophie
und Dreigliederung 7 (1928), Nr. 46, 11.11.1928, S. 364 – 366.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *235

letzte Arbeit gerade durch ihren fragmentarischen Charakter


ein Testament, das eine schicksalhafte Entscheidung zum Aus­
druck bringe. Scheler habe den Wesensaufbau des Menschen
bis zu einem Begriff des Geistes hinaufgeführt, durch den sich
eine unbegrenzte Weltoffenheit konstituiere. Anstatt mit einer
Darstellung des Lebens im Geiste fortzufahren, spreche Scheler
dem menschlichen und dem göttlichen Geist jegliche schöpfe­
rische Macht ab. Auf diesen schicksalhaften Abweg sei Scheler
durch einen Fehler seiner Anthropologie geführt worden, näm­
lich durch eine falsche Vorstellung vom Wesen des Willensvor­
ganges: Der Geist löse enthemmend nur einen Willensimpuls
aus, aber es gehe sonst nichts weiter von ihm in die Handlung
über. Dem stellt er Rudolf Steiners Lehre des Geistes und des
menschlichen Willensvorgangs entgegen. Scheler habe sich mit
seiner häretischen Auffassung des Willens von der geistigen
Atmosphäre Kölns getrennt, der »alten Hochburg kirchlicher
Weisheit«, und sich nach Frankfurt begeben. Dadurch wurde
die Kosmos-Schrift zu seinem Testament: »Man fasst den Sinn
von Schelers letzter Arbeit; sie war ein endgültiges Sich-Entrin­
gen, ein Weg ins Freie.«
Nicht wenige Rezensenten konnten indessen in Schelers
Durchstoß zur Anthropologie nur einen weiteren Standpunkt­
wechsel erkennen und bezweifelten deshalb, dass auch die­
ser von Dauer gewesen wäre. Scheler galt vielen als philoso­
phisches »Chamäleon«, 281 man sprach von seinem ruhelosen
»Ahasverismus«282 und von seiner nie befriedigten geistigen
Gier nach neuen Impulsen, von denen aus er hastig neue Theo­
rien entwarf, stets bemüht, die Wendungen und Wallungen des
Zeitgeistes zu deuten und selber up to date zu sein. Zu den eil­
fertigen Zeitgeist-Diagnosen zählte man schließlich auch seine
These, »daß die Probleme einer philosophischen Anthropolo­
gie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen

281 Heinrich Berl, Gespräche mit berühmten Zeitgenossen, Baden-


Baden 1946, S. 55 – 59.
282 So z. B. Erich Przywara, Stimmen der Zeit 115, 1928, S. 258.
*236 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Problematik in Deutschland getreten sind« (S. 4,25 ff.), während


schon mit den Werken von Heidegger und Jaspers mitten aus
der Selbstproblematisierung des Menschen heraus die Exi­
stenzphilosophie begonnen hatte, die zum dernier cri erklärte
philosophische Anthropologie zu überholen oder aber sie sich
einzuverleiben.283

7.5 Schelers Anthropologie in der zeitgenössischen


­Historiographie der Philosophie

Die Historiographie der Philosophie fragte in Schriften zur da­


maligen »Philosophie der Gegenwart« über die Charakterisie­
rung und geschichtliche Einordnung der philosophischen Lehr­
meinungen hinaus nach ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung,
woraus in den dreißiger Jahren zunehmend die Frage nach der
Verwurzelung in der nationalen, deutschen Wesensart wurde.
Erich Rothacker284 verwies auf Meister Eckhart, Böhme, Baa­
der, aber auch auf die Diskussionen über den »nationalen Geist«,
an denen sich Scheler in Erwiderung auf analoge Ideen, die in
den am ersten Weltkrieg beteiligten Nationen propagiert wur­
den, beteiligt hatte.285 In den dreißiger Jahren konzentrierte sich
vor allem Hermann Schwarz auf die Geschichte der »arteigenen
deutschen Philosophie«286 – nicht so sehr in diesen arteigenen
Ideen, sondern in der Metaphysik von Hermann Schwarz sah
283 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Existenzerhellung und philosophi­
sche Anthropologie, a. a. O. (Fn. 195). Bollnow geht auf Schelers Anthro­
pologie, die vielfach bereits als Existenzphilosophie verstanden wurde,
nicht weiter ein.
284 Erich Rothacker, Das Problem einer Geschichte der deutschen
Philosophie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte 16 (1938), S. 161 – 183.
285 M. Scheler, Über die Nationalideen der großen Nationen (1916),
in: GW 6, S. 121 – 130; Das Nationale in der Philosophie Frankreichs (1915),
überarbeitet in: GW 6, S. 131 – 157 und 351 f.
286 Hermann Schwarz, Grundzüge einer Geschichte der artdeutschen
Philosophie, Berlin 1937.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *237

Scheler eine Wesensverwandtschaft mit seiner eigenen Meta­


physik (S. 139,30). Das primäre Anliegen der philosophischen
Historiographie bestand aber nach wie vor darin, die philoso­
phischen Standpunkte der »Philosophie der Gegenwart« zu be­
schreiben und ihren Beitrag zum Fortschritt der Philosophie
zu beurteilen.
Fritz Heinemann begrüßte 1929, am Anfang der ersten Re­
zeptionsperiode, Schelers Kosmos-Schrift als die »erste Anthro-
pologie des neuen Zeitalters seit Lotze, die den Menschen in die
Totalität der Welt einordnet«.287 Da Heinemann die Krise der
Philosophie der Gegenwart aus dem Gesamtprozess der euro­
päischen Geschichte, konzentriert auf die Neuzeit, zu verstehen
sucht, sieht er in der Philosophie Schelers ein Symptom für die
Krise des bürgerlichen Zeitalters, die aus der Grundspannung
zwischen Leben und Geist entstanden sei: »Die Pole des Scheler-
schen Denkens sind nun das konkrete, bluterfüllte zeitliche Leben
selbst und der diesem Leben gegenüberstehende ewige Geist. Es
ist das die Polarität eines sich auflösenden Gehäuses: im Geist­
prinzip erhält sich das organisierende Prinzip der absterbenden
Welt, im Lebensprinzip dringen die neuen Lebensschichten, die
in diesem Zeitalter empordrängen, die Schichten der Triebe, der
Arbeiter, der Unterwelt in die Höhe, und das Lebenswerk dieses
Mannes erhält dadurch eine geradezu exemplarische Bedeutung,
weil sich in ihm die Phase der Selbstauflösung des Bürgertums
in ihrer inneren Dialektik enthüllt.«288 Heinemann verfolgt die
Hauptlinien von Schelers Philosophie durch die üblichen drei
Phasen. Bereits in der ersten Phase tauche das Grundproblem
auf: die Korrelation von emotionalem Leben und Wertsphäre,
wodurch Scheler den traditionellen Rationalismus durchbreche.
Von Anfang an sei die Sphäre der Emotionalität eingeordnet in
die von Eucken übernommene Unterscheidung zwischen Leben
und Geist. In der dritten Phase habe sich die Unterscheidung in
das erkenntnistheoretisch-metaphysische Problem gewandelt,

287 Fritz Heinemann, S. 363 f.


288 Ebd., S. 351.
*238 Wolfhart Henckmann · Einleitung

den auf die Wesenswelt festgelegten Geist im Leben zu fundie­


ren.289 Die erneut aufgenommene Auseinandersetzung mit dem
Pragmatismus habe zur Klärung der Frage herausgefordert, ob
der Mensch vielleicht doch nur ein homo faber sei. Scheler habe
aber diese Position durch seine Theorie von der Geschichte als
einer gesetzlichen Wechselwirkung zwischen Real- und Ide­
alfaktoren überwunden, die er mit einer neuen, erweiterten
Auffassung des Menschen verbunden habe. Abgesehen davon,
dass die Stufenlehre des organischen Lebens viele Fragen offen
lasse, wie eine von blindem Drang getriebene und von einem
machtlosen Geist geleitete Welt je zu einer Ordnung und Har­
monie gelangen könne, liege in der Kosmos-Schrift »die erste
sachliche Zusammenschau der beiden großen Sphären der Ge­
schichte und der Natur vor«. Doch zugleich werde sichtbar: »Die
Not der Zeit ist die Not dieses Denkers, das von Stufe zu Stufe
Getriebenwerden des Menschen der Krisis zeigt sich nirgends
deutlicher als hier.«290 Es zeigt sich aber auch, dass Heinemann
Schelers Philosophie vom Standpunkt der Existenzphilosophie
aus beurteilt.
In Jaspers’ Darstellung der Geistigen Situation der Zeit (Ber­
lin/Leipzig 1931), in der die Krise des Mensch-Seins nur als eine
von mehreren Krisensphären der Gegenwart verstanden wird,
werden unter den »Wissenschaften vom Menschen« exempla­
risch nur Soziologie (Marxismus), Psychologie (Psychoanalyse)
und Anthropologie (Rassenkunde) besprochen. Jaspers wirft
allen dreien vor, den Menschen nur als Objekt zu sehen, wäh­
rend die Existenzphilosophie als das »alle Sachkunde nutzende
aber überschreitende Denken« verstanden wird, »durch das der
Mensch er selbst werden möchte« (S. 145) – hier hätte Jaspers
auch Schelers Philosophie nennen können, aber sein Name
kommt in der Schrift nicht vor – Jaspers hielt nicht viel von der
wissenschaftlichen Strenge der Philosophie Schelers und auch
nichts von dem Projekt einer neuen »philosophischen Anthro­

289 Heinemann, S. 361.


290 F. Heinemann, Neue Wege, a. a. O. (Fn. 117), S. 369.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *239

pologie« – das eigentlich gemeinte Projekt sei die »Existenzer­


hellung«. Die in Jaspers’ Existenzerhellung eingegangene An­
thropologie hat Robert Winkler darzustellen versucht.291
Ernst von Aster zählt Max Scheler zusammen mit Alexander
Pfänder, Moritz Geiger und Nicolai Hartmann zur »objektivi­
stisch-realistischen Richtung« in der Phänomenologie.292 Er be­
schränkt sich darauf, Schelers von mehreren »Umkippungen«
heimgesuchte Geisteshaltung zu charakterisieren, ohne auf
die Werke selbst, also auch nicht auf die Kosmos-Schrift ein­
zugehen. »Sein Denken war stets in besonderem Maße aktuell
und modern, begabt mit einem gewissen Spürsinn für das, was
nicht nur heute die Geister ergriff, sondern sie morgen ergreifen
würde.« (S. 85) Seine Schriftstellerei habe ihn gelegentlich bis an
die Grenze zur philosophischen Journalistik geführt. Er gehöre
zu denjenigen, die die Grundgedanken der Phänomenologie in
Verbindung setzten »mit dem erwachenden metaphysischen
Interesse, der geisteswissenschaftlich orientierten Geschichte,
dem Hinstreben zu einer sachlichkonkreten anstatt einer ab­
strakt-logischen Erkenntnis der Welt und des Menschen« (S. 87).
Der bereits erwähnte Kantianer Gerhard Lehmann will in
seiner kritischen Darstellung der Deutschen Philosophie der
Gegenwart bewusst die »weltanschauliche Revolution der Ge­
genwart zur Geltung« bringen.293 Dabei will er die »Wendung
der Gegenwartsphilosophie zum völkisch-politischen Realis­
mus […] in ihrer für mich grundsätzlichen Bedeutung« unter­
streichen (S. XI). Dies stellt er im Vorwort klar, wie er dann
auch wiederholt unter Bezug auf Alfred Rosenbergs Mythus des
20. Jahrhunderts (München 1930) die Rassenzugehörigkeit und
die Ideen von Vorbild, Zucht und Führerschaft hervorhebt. Die
Phänomenologie versteht er nicht als einen Neuansatz, sondern

291 Robert Winkler, Philosophische oder theologische Anthropolo­


gie? Versuch eines Gesprächs mit der Philosophie von Jaspers, in: Zeit­
schrift für Theologie und Kirche NF 14(1933), S. 103 – 125.
292 Ernst v. Aster, Die Philosophie der Gegenwart, Leiden 1935, S. 83 ff.
293 Gerhard Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart,
Stuttgart 1943, Vorw. S. VIII.
*240 Wolfhart Henckmann · Einleitung

als die letzte Frucht der Bewusstseinsphilosophie des 19. Jahr­


hunderts. Statt von einem konkreten Standort aus und in per­
sönlicher Entscheidung wie die Existenzphilosophie die Wirk­
lichkeit zu deuten, ziehe sie sich von der Wirklichkeit zurück,
klammere sie ein (S. 24). Trotz seiner Kritik an der Phänome­
nologie lässt sich Lehmann relativ ausführlich auf die Person
und die philosophischen Bestrebungen Schelers ein, an dessen
Person und Werk er die allem Kritizismus, Realismus und aller
Reflexionsphilosophie abgeneigte »phänomenologische Meta­
physik« als eine der wichtigsten »Übergangserscheinungen des
Gegenwartsdenkens« verdeutlichen will.294 Scheler sei eine »ge­
waltsame, leidenschaftliche, uneinheitliche, zweideutige Natur,
Asket und Genussmensch, Erotiker und Politiker, Christ, Halb­
jude und mehrfacher Konvertit, eher ein Instinkt- als ein Denk­
phänomen«, dessen »üppig wuchernde kognitive Phantasie von
vitalen Triebkräften gespeist und in immerwährender Aufre­
gung gehalten wird«, so dass seine Werke nicht ausreifen konn­
ten, obwohl er ein Arbeitsphänomen sei – »sein Denken, For­
schen ist stets mehrgleisig, und manches gemahnt an die großen
Leistungen der Wissenssynthetiker.« (S. 308) Das eigentliche Pa­
radoxon von Schelers Wesen bestehe darin, dass er »immer auf
Endgültiges, Ewiges, Absolutes, auf letztgültige Wert-, Seins-,
Erkenntnis-, Herzensordnungen« ausgerichtet sei. »Dieser Un­
bedingtheitsrausch ist die Hypertrophie der Phänomenologie«,
die aber weder zu einer phänomenologischen Metaphysik, noch
zu einer realistischen Ontologie oder, wie Scheler beabsichtigt
hatte, zu einem voluntativen Realismus geführt habe (S. 312),
sondern zu einer Philosophie der gegenstandsunfähigen Per­
son als einem Problem metaphysischer und religiöser Ordnung.
In der gottähnlichen Person als der einzigen Aktsubstanz koin­
zidieren letztlich alle Fragestellungen der Philosophie Schelers
– bis zuletzt sei das »Personproblem das eigentlich zentrale in
Schelers Philosophieren«, aber selbst noch in der Anthropologie
habe er mit der spiritualistischen Auffassung der Person nicht

294 Gerhard Lehmann, S. 300 – 316.


Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *241

grundsätzlich gebrochen: »Auch in ihr bleibt der Geist, was er


bei Eucken war: ein von außen in das ›Leben‹ einbrechendes und
es ›erhöhendes‹ Prinzip.« (S. 315). So gelangt Lehmann zu einem
Urteil, das dem von Peter Wust formell ähnelt: Schelers Philoso­
phie habe »niemand konservieren können. Die Formeln, die er
gab, sind verblasst. Aber die Unruhe seines Forschens, Fragens,
Suchens, Behauptens und Bestreitens – von ihr ist noch etwas
geblieben.« (S. 307)

7.6 Schelers zwanzigster Todestag 1948

Nach dem zweiten Weltkrieg wandte sich die Historiographie


der Philosophie auffallend häufig einer ihrer kritischsten Auf­
gaben zu, nämlich der Frage nach dem, was von den geistigen
Großtaten der Vergangenheit noch lebendig oder schon tot sei.
Im Falle Schelers stellte sich diese Frage mit besonderem Nach­
druck zu seinem zwanzigsten Todestag im Jahr 1948.
Katharina Kanthack glaubte nach dem zweiten Weltkrieg den
Beginn einer Scheler-Renaissance feststellen zu können: Neuer­
scheinungen seiner Schriften seien in Aussicht, die seinem Werk
zu verjüngter Entfaltung verhelfen würden.295 Sie konnte noch
nicht wissen, dass im Frühjahr 1948 in Tübingen eine Scheler-
Gesellschaft gegründet worden war, die sich im Sommer mit
einer Gedenkfeier zu Schelers 20. Todestag der Öffentlichkeit
präsentieren wollte, doch die Gedenkfeier kam nicht zustande.
In der gleichen Zeit schrieben die Gründer der späteren »Wis­
senschaftlichen Buchgesellschaft« eine Gesamtausgabe von
Schelers Werken zur Subskription aus, doch es fanden sich
nicht genügend Subskribenten – keine guten Aussichten für eine
Scheler-Renaissance.
Um die Erinnerung an Scheler zu beleben, veröffentlichte
Maria Scheler Ende der vierziger Jahre einige Neuausgaben von

295 Katharina Kanthack, Max Scheler und wir, in: Berliner Hefte für
geistiges Leben 3 (1948), S.160 – 170, hier: S. 160.
*242 Wolfhart Henckmann · Einleitung

kleineren Schriften: Außer der erweiterten Neuauflage der Kos­


mos-Schrift (München 1947, 2. Auflage 1949) eine gekürzte Aus­
gabe von Wesen und Formen der Sympathie (Frankfurt 1948),
eine gekürzte Auflage von Die Formen des Wissens und die Bil-
dung unter dem Titel Bildung und Wissen (Frankfurt 1947) so­
wie Auszüge aus verschiedenen Schriften Schelers und seinem
unveröffentlichten Nachlass, 296 die in verschiedenen Periodika
erschienen sind – ein bedeutsamer Teil des Quellenmaterials
zur philosophischen Anthropologie lag somit in neuen Ausga­
ben vor.
1950 gab Johannes Wagner in der Reihe von »Westermanns
Philosophischen Quellentexten (H. 2)« eine Sammlung von Tex­
ten der abendländischen Tradition heraus, die den Gymnasial­
schülern die Frage »Was ist der Mensch?« nahebringen sollte.
Den Anfang der Sammlung bilden Schelers einleitende Worte
zur Kosmos-Schrift (1947), gefolgt von längeren Auszügen aus
Bruno Snells Entdeckung des Geistes (1946), einem Auszug aus
Kleists Aufsatz über das Marionettentheater und Heinemanns
Darstellung der Anthropologie Schelers (Neue Wege der Philo-
sophie, 1929). In das grundlegende Problem des Verhältnisses
von Geist und Leben führt die Gegenüberstellung von Auszügen
aus der Kosmos-Schrift und aus Cassirers Kritik (S. 41 – 78) ein,
und den Abschluss der Sammlung bilden Auszüge aus Simmels
Lebensanschauung (1918) und aus Schillers Ästhetischen Brie­
fen – Maria Scheler hat beratend an dieser Sammlung mitge-
wirkt.
Die Kosmos-Schrift stellt für Katharina Kanthack die »letzte
Vision« Schelers dar, die sich deutlich von der Existenzphiloso­
phie unterscheide. Es komme Scheler nicht nur auf eine Sinn­
deutung der menschlichen Existenz an, sondern ebenso auf die
Einordnung des Menschen in die Ganzheit des Seins: »Das Mi­
krokosmos-Makrokosmos-Schema der Renaissance und Leib­
nizens gibt ihm dabei die Möglichkeit, ebensowohl eine Kos­

296 Darunter redaktionell stark bearbeitet: Metaphysik und Kunst, in:


Deutsche Beiträge 1 (1946/47), S. 103 – 120.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *243

mologisierung des Menschen wie eine Anthropologisierung


des Weltalls durchzuführen.«297 Sie sieht in Schelers gesamtem
Lebenswerk einen Ausweg aus der herrschenden, alle edleren
Kräfte des Menschen unterwühlenden Krisis der Ehrfurcht. Zu
ihrer Überwindung will sie die »Gestalt des Kulturreformators
Scheler« zur Geltung bringen (Vorw.). Im Zentrum seiner Philo­
sophie stehe der Wertobjektivismus, in dem sie das Vorzeichen
einer neuen ethischen Haltung und eines neuen Mensch-Seins
erkennt.298 In der Kosmos-Schrift gelangen alle philosophi­
schen Bestrebungen Schelers zu einer Synthese (S. 192 ff.). Das
sie durchdringende metaphysische Grundschema sei jedoch nur
in den Grundzügen entworfen, eine Ausführung habe es erst
durch Nicolai Hartmann erhalten (S. 197).
Schelers ehemaliger Kölner Schüler, der Kunsthistoriker
Heinrich Lützeler, der sich nachdrücklich für eine Gesamtaus­
gabe von Schelers Schriften aussprach, damit die Verbindung
der Gegenwart mit einem »bedeutenden ursprünglichen Geist«
nicht abreiße, 299 sieht in der Frage nach dem Menschen den
eigentlichen Kern von Schelers Denken, das ihn mit der Exi­
stenzphilosophie verbinde (S. 23): »Schelers Philosophie gipfelt
in der Lehre von der geistigen Person des Menschen, ist wesen­
haft personalistische Philosophie.« (S. 26) Mit diesen Worten
spielt Lützeler jedoch weniger auf Schelers Anthropologie als
vielmehr auf das Formalismusbuch an, das Scheler im Untertitel
als »neuen Versuch der Grundlegung eines ethischen Persona­
lismus« bezeichnet hatte.
Johannes Hessen veröffentlichte zum Gedenken an Schelers
20. Todestag einen einführenden Überblick über Schelers Bei­
träge zu den zentralen Disziplinen der Philosophie, die insge­
samt seinen Kampf gegen den (existenzphilosophischen) Nihi­

297 Katharina Kanthack, Max Schelers letzte Vision, in: Berliner


Hefte für geistiges Leben 3 (1948), S. 575.
298 Katharina Kanthack, Max Scheler. Zur Krisis der Ehrfurcht, Ber­
lin/Hannover 1948, S. 25.
299 Heinrich Lützeler, Der Philosoph Max Scheler. Eine Einführung,
Bonn 1947, S. 6.
*244 Wolfhart Henckmann · Einleitung

lismus bezeugen.300 Schelers Philosophie sei zwar letzten Endes


eine Existenzphilosophie, aber Hessen wollte sie darauf nicht
beschränken: »Seine Philosophie war wie alle große Philosophie
universal gerichtet, der Totalität des Seins zugewandt.« (Vorw.)
Einiges daraus halte indessen der Kritik nicht stand. Deshalb
konzentriert sich Hessen auf die »Herausarbeitung ihres blei­
benden Gehaltes« – Scheler sei trotz seines Rückfalls in gno­
stische Irrtümer der größte Gottsucher seit Nietzsche (S. 128).
Heinrich Fries teilt die seit Schelers Selbstdeutung herr­
schende Auffassung, dass die Frage nach dem Menschen im
Mittelpunkt von Schelers Philosophie, insbesondere auch sei­
ner Religionsphilosophie stehe.301 Wie Dietrich v. Hildebrand
ist er überzeugt, dass um 1922/23 ein radikaler Bruch in Sche­
lers geistiger Entwicklung eingetreten sei. Der Dualismus von
Geist und Drang zersetze die Hierarchie der Wertordnung, der
Trieb erhalte den Vorrang vor einem ohnmächtigen Geist, Gott
werde zu einem Geschöpf des Menschen herabgewürdigt – »der
Theomorphismus des Menschen wandelt sich in den Anthro­
pomorphismus Gottes«. (S. 128) Dieser Bruch bedeute das Ende
von Schelers Religionsphilosophie.
1948 konnte Franz Josef Brecht seine einst von Karl Jaspers
unterstützte Heidelberger Habilitationsschrift von 1932 veröf­
fentlichen: Bewusstsein und Existenz. Wesen und Weg der Phä-
nomenologie (Bremen 1948). Er wandte sich dem phänomeno­
logischen Grundproblem der Intentionalität zu, dem er in einer
philosophiegeschichtlich-systematischen Untersuchung in den
Lehren von Brentano, Husserl, Scheler und Heidegger nach­
geht. Schelers Philosophie bilde die »wichtigste Station auf dem
Wege zur Existenzialphilosophie« (S. 75), doch bleibe sie »in
ihrer personalistisch-augustinischen wie ihrer spinozistisch-
metaphysischen Phase bei der Erhellung des Wesens Mensch
300 Johannes Hessen, Max Scheler. Eine kritische Einführung in seine
Philosophie, Essen 1948.
301 Heinrich Fries, Die katholische Religionsphilosophie der Gegen­
wart. Der Einfluss Max Schelers auf ihre Formen und Gestalten. Eine
problemgeschichtliche Studie, Heidelberg 1949.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *245

im Wesentlichen an die metaphysische Konstruktion des Stand­


orts des Menschen im Kosmos gebunden; sie vermochte nicht
vorzudringen zu einer Interpretation, die nicht nach dem hier­
archischen Wo, sondern dem fundamentalen Wie des Seins
des menschlichen Daseins fragt.« (S. 162) Begreift man Sche­
lers Philosophie als eine Station auf diesem Wege, dann kann
ihre Wiederaufnahme nicht aus der Logik der Entwicklung
des Intentionalitätsproblems begreiflich gemacht werden. Die
von Brecht verfolgte Entwicklungslinie zielt deshalb auch gar
nicht auf Schelers Anthropologie ab, was mit anderen Worten
besagt, dass der Auffassung Brechts zufolge Schelers Anthro­
pologie nicht in einer Fortentwicklung der Phänomenologie zu
sehen ist.
Theodor Litt versuchte in seinem 1939 vollendeten, aber
ebenfalls erst 1948 erschienenen Buch Mensch und Welt (1948)
phänomenologisches und dialektisches Denken zu verbinden.
Sein anthropologisches Hauptwerk wird ergänzt durch sein
im gleichen Jahre erschienenes Buch Denken und Sein, das auf
die Frage nach »Wesen, Verhältnis und Leistung der Wissen­
schaften« eingeht, die sich um die »Erkenntnis des Menschen«
bemühen302 – eine an die Kosmos-Schrift erinnernde Frage­
stellung. Wenn Litt schreibt: »›Anthropologie‹ heißt das philo­
sophische Thema des Tages« (Vorw.), dann deutet sich bereits
seine Distanz zur philosophischen Tagesschriftstellerei an. Un­
ter der Vielzahl von gedanklichen Bemühungen, das Wesen des
Menschen zu begreifen, befinde sich auch die »philosophische
Anthropologie«, die frei von den Einseitigkeiten früherer Zei­
ten die Ganzheit des menschlichen Wesens zu erkennen suche
(S. 14). Aber weder sie noch andere, verwandte Bemühungen
hätten das erlösende Wort gefunden – damit ist für Litt implizit
auch die Zeit einer lebendigen Nachwirkung von Schelers An­
thropologie vorüber. Deshalb spielen Schelers Kosmos-Schrift
und seine anderen anthropologischen Schriften in Litts anthro­

302 Theodor Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie


des Geistes, München 1948, Vorw.
*246 Wolfhart Henckmann · Einleitung

pologischem Hauptwerk auch keine Rolle mehr. Das liegt aber


vor allem daran, dass Litt im Christentum die eigentliche Her­
ausforderung des Wissens vom Wesen des Menschen sieht, und
dass er die »Wesensschau« für kein zuverlässiges Mittel einer be­
grifflichen Durchdringung des menschlichen Wesens hält. Die
von der Anthropologie behauptete »Ganzheit« des Menschen
gebe es nicht, die Ganzheitsthese verdecke geradezu die »Zwei­
deutigkeit« des Menschen, auf der die Freiheit des Menschen
beruhe. Letztlich lehnt er das gesamte Projekt der »philosophi­
schen Anthropologie« ab, da sie von nicht genügend analysier­
ten Annahmen ausgehe.303
Der zweite Philosophenkongress nach Kriegsende, der 1948
in Mainz stattfand, widmete sich der erneut für aktuell erklär­
ten Frage nach dem Wesen des Menschen. Der Göttinger Phi­
losoph Hermann Wein, Vertreter einer von Hegel ausgehenden
dialektischen Anthropologie, sprach von einer »prädominan­
ten Aktualität der Anthropologie«,304 und der damals in Basel
lehrende Michael Landmann verwies bestätigend auf den inter­
nationalen Kongress in Amsterdam, auch um die herrschende
Existenzphilosophie in den Horizont der Anthropologie ein­
zubinden.305 Der Präsident der Mainzer Tagung, Fritz-Joachim
v. Rintelen, wünschte vom Standpunkt des Problemverständ­
nisses der zwanziger Jahre aus, dass die Extreme eines reinen
Intellektualismus und eines reinen Vitalismus aus der »Mitte
des Menschen« überwunden werden sollten, »aus dem Raum
innerer Begegnung von Körper, Seele und Geist, die uns Max

303 In seinem kurzen Aufsatz »Das Problem einer philosophischen


Anthropologie« (in: Forschungen und Fortschritte 7, 1931, S. 128 f.) schien
er noch den – nicht genannten – Ansatz Schelers zu teilen: Die philo­
sophische Anthropologie müsse vom Menschen als demjenigen Wesen
ausgehen, »das um sich selbst wissen kann«. Eine philosophische An­
thropologie sei aber nur möglich, wenn sich der Mensch über sich selbst
emporzuschwingen vermöge. »Das Thema der Anthropologie transcen­
diert die Fragestellung, von der es ausgeht.« (S. 129)
304 Hermann Wein, Diskussionsbeitrag S. 151.
305 Michael Landmann, Diskussionsbeitrag S. 104.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *247

Scheler so eindrucksvoll aufgezeigt hat«.306 Der Ehrenpräsident


des Kongresses, Theodor Litt, sprach anschließend über »Die
Weltbedeutung des Menschen« und griff damit doch noch die
anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen und
seiner Stellung in der Welt auf. Diese Frage hatte einst ja auch
Schelers Anthropologie bewegt, und ähnlich wie Scheler betonte
Litt die wechselseitige Angewiesenheit von Welt und Mensch,
doch Schelers Namen hielt er offenbar nicht mehr für erwäh­
nenswert.307 Plessner stimmte der These Litts von der Offen­
barheit der Welt für den Menschen zu: »Wir können nicht von
der Welt sprechen, ohne die Menschlichkeit des Menschen vor­
auszusetzen und nicht vom Menschen, ohne die Weltlichkeit
der Welt vorauszusetzen. Darin liegt das eigentümliche Pro­
blem der Anthropologie« (S. 24). Dem hätte Scheler sicherlich
zugestimmt, wenn die Forderung von Johannes Lotz S. J. erfüllt
würde: »Die Ausführungen von Litt müssten also metaphysisch
zu Ende gedacht werden.« (S. 25)
Drei der Mainzer Vorträge befassten sich ausdrücklich mit
der Philosophie Schelers308 und bezeugten dadurch ihre Gegen­
wärtigkeit. Gerhard Kränzlin aus Zürich, dessen Dissertation
über die Systematik der Philosophie Schelers 1934 erschienen

306 Philosophische Vorträge und Diskussionen. Bericht über den


Mainzer Philosophen-Kongress 1948, hrsg. v. Georgi Schischkoff, Wur­
zach 1948, S. 15.
307 Theodor Litt, Die Weltbedeutung des Menschen, a. a. O. S. 19 – 24,
vollständig in: Zeitschrift für philosophische Forschung 4 (1949), S. 184 –
203; sehr viel breiter ausgeführt in: Mensch und Welt a. a. O.
308 Der von Husserls Phänomenologie ausgehende Ethiker Hans Rei­
ner setzte sich in seinem Vortrag »Scheler und das Prinzip des Guten«
(S. 112 – 115) mit Schelers Ethik nicht historisch, sondern ethisch-systema­
tisch auseinander, ohne auf anthropologische Fragen einzugehen. Die
erweiterte Fassung des Vortrags erschien unter dem Titel Das Prinzip
von gut und böse, Freiburg 1949. – Johannes Hessen berief sich in seinem
Vortrag: Die Wende in der Religionsphilosophie (S. 157 – 159) auf Schelers
Analyse des religiösen Grunderlebnisses, ebenfalls ohne expliziten Be­
zug auf die Anthropologie.
*248 Wolfhart Henckmann · Einleitung

war, 309 sprach über die »Grundlagen der phänomenologischen


Philosophie Schelers« (S. 106 – 108). Scheler sei nicht nur der Phi­
losoph der phänomenologischen Wertphilosophie, wie Kränz­
lin früher behauptet habe, sondern auch ein »phänomenolo­
gischer Trieb-, Drang- und Geistphilosoph«. In seinen letzten
Lebensjahren habe Scheler eine panentheistische Theologie ge­
lehrt: »Gott verkörpert das Wesen des Menschen, der Mensch
stellt den eigentlichen Treffpunkt des Göttlichen dar. Mensch
und Gottwerdung ist von vornherein aufeinander angewiesen.
Der Mensch wird Mitkämpfer und Mitverwirklicher der Gott­
heit.« (S. 107) Schelers Lehre, dass die Welt, die Zukunft und
unser Schicksal weitgehend in unserer Hand liegen, sei Sche­
lers bleibendes Vermächtnis. Johannes Lotz S. J. stimmte in­
sofern zu, als die abendländische Meta-physik bei Scheler zu
einer »Meta-anthropik« geworden sei. So wertvoll und wichtig
Schelers Anthropologie sei, »weil vom Menschen her die Stra­
ßen sich öffnen über den Menschen hinaus«, so müsse sie doch
von der Lehre vom werdenden Gott getrennt werden (S. 108).
Auch Michael Landmann warnte vor unklaren Vermischungen
der Philosophie mit der Theologie, was nur zu Scheinlösungen
führen könne.
Alois Dempf betonte in kulturgeschichtlicher Perspektive in
seinem Vortrag »Philosophiegeschichte als Wissenssoziologie«
(S. 168 – 172), dass Scheler längst die Kategorien geschaffen habe,
die Abhängigkeit der verschiedenen Perioden der Philosophie

309 Gerhard Kränzlin, Max Schelers phänomenologische Systematik.


Mit einer monographischen Bibliographie Max Scheler, Leipzig 1934.
Kränzlin behauptet, dass Scheler in allen seinen Wandlungen die »letz­
ten Prinzipien seiner phänomenologischen Grundauffassung durchge­
halten« habe, nämlich »den Wert als das Sein, als die Realität, und die
Liebe als das Grundgesetz dieser phänomenalen Wirklichkeit« (S. XI).
Allerdings fehle einem kritischen modernen Menschen der Glaube an
die phänomenologische Methode. »Wir können die phänomenologische
Philosophie Schelers nur als eine glanzvolle Dichtung betrachten, die aus
dem geistreichen Erleben eines existentiell besonderen Menschen in ver­
meintlich ursprünglich-ästhetischer Schau hervorgegangen ist. Schelers
Philosophie ist eine bezaubernde Weltanschauung.« (S. XIII)
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *249

vom Geist der betreffenden Kulturen aus zu erklären (S. 170 f.),
womit er implizit die These von der Historizität einer jeden An­
thropologie vertritt. Im SS 1954 hielt er an der Universität Mün­
chen eine Vorlesung über das damals aktuelle »Studium Gene­
rale«, die in wesentlichen Teilen auf der Anthropologie Schelers
beruhte. Mit seinen beiden epochemachenden Entdeckungen,
der Rangordnung der Werte und der Rangordnung der Wissens­
formen, habe Scheler dem Studium Generale »einen großen, ja
entscheidenden Dienst geleistet. Er hat die Bedeutung der phi­
losophischen Anthropologie erkannt. Mit der Objektivität der
Menschenwelt, mit der überzeitlichen Gültigkeit der Wertewelt,
mit der Rangordnung der Werte, Wissensformen und Berufe
hat er mit anderen Namen schon die horizontale Synthese vor­
bereitet, die wir als dringlichste Forderung jedes Versuchs, eine
einheitliche Philosophie und die Einheit der Wissenschaften zu
schaffen, erkannt haben.«310 Schelers Anthropologie als Grund­
legung eines Studium Generale – diese Vision hat jedoch keine
weiteren Anhänger mehr gefunden.
Am nachdrücklichsten, aber letztlich merkwürdig un­
entschieden setzte sich Erich Rothacker mit seinem Vortrag
»Schelers Durchbruch in die Wirklichkeit«311 für Schelers An­
thropologie ein. In Anerkennung von Schelers unorthodoxer
Wesensanalyse warb er dafür, die philosophische Anthropolo­
gie als Einzelwissenschaft auszubauen: »Im Grunde erweist sich
das Festhalten einer anschaulichen Haltung, d. h. der entschlos­
sene Verzicht auf jedes deduktive konstruierende Verfahren, die
Methode, auch transzendentale Notwendigkeiten in Gestalt von
Fundierungszusammenhängen aufzuweisen, als die fruchtbar­
ste Voraussetzung jeder Weiterentwicklung zur Weltoffenheit.
Wenn es eine indirekte Rechtfertigung philosophischer Me­
thoden aus ihrer Fruchtbarkeit gibt, dann ist die Schelersche

310 Alois Dempf, Die Einheit der Wissenschaft, Stuttgart 1955 (Urban
Taschenbücher, 18), 21962, S. 64.
311 S. 102 – 104; vollständig erschienen in: Schelers Durchbruch in die
Wirklichkeit, Bonn 1948 (Akademische Vorträge und Abhandlungen, 13)
*250 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Anthropologie eine Rechtfertigung des phänomenologischen


Ansatzes.« Einschränkend fügte er hinzu: »Sollte die Scheler­
sche Anthropologie gar eine Einzelwissenschaft sein, so sei sie
es. Da auch diese Wissenschaft in der zufälligen historischen
Situation der Erkenntnisgeschichte nur von einem Philosophen
geliefert werden kann, so erhebt sich hier die Pflicht, diese Wis­
senschaft zu schaffen. Mag ihre Erfüllung immerhin erkauft
werden mit dem Mangel des Ruhms, dabei im strengsten Sinne
zu philosophieren.«312 Rothacker schloss sich neben der Kultur­
philosophie vor allem an Schelers Schichtenlehre der Person an,
die er aber auf die am Menschen beobachtbaren »Tiefenschich­
ten« einschränkte, also nicht die das Universum konstituieren­
den Seinsschichten mikrokosmisch am Menschen aufwies, son­
dern die tieferliegenden Erfahrungsschichten des menschlichen
Verhaltens herausstellte. 313 Hermann Wein pflichtete Roth­
ackers Distanzierung von der Metaphysik bei: Unbeschadet
seiner zweifelhaften Metaphysik habe Scheler eine »moderne,
kritisch restringierte Theorie von der Sonderstellung des Men­
schen« entwickelt und sich »dabei auch an die beginnende mo­
derne Ontologie« angeschlossen, womit jedoch nicht Schelers,
sondern N. Hartmanns Ontologie gemeint war. »Der Mensch
steht im Stufenreich des Organischen, in der Einheit dieses ge­
stuften Reiches, die durch das Hindurchgehen des Dranges be­
gründet wird und hat doch seine restringierte Sonderstellung
darin. Dies alles ist bei Scheler nebeneinander möglich, da er
ein zugleich vorbildlich und unheimlich ›synthetischer Mensch‹
war. Er verfügte einerseits wie keiner nach ihm über die notwen­
digen Hilfswissenschaften zur Anthropologie: Biologie, Psy­
chologie, Soziologie, Ethik, Erkenntnistheorie, Religionsphilo­
sophie. Und andererseits wusste er, dass alle diese modernen
Wissenszweige, die sich irgendwie mit dem Menschen befassen,
uns in gewisser Weise heute weniger denn je die Philosophie

312 Erich Rothacker, ebd., S. 23, 25.


313 Erich Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit (1938), 5.,
durchges. u. mit einem Register ausgestattete Auflage, Bonn 1952.
Zur ersten Rezeption der Kosmos-Schrift *251

des Menschen geben. Und das blieb bei ihm nicht methodolo­
gische Erwägung. Sondern es befähigte ihn – um nur ein Bei­
spiel zu nennen – etwa an ein Problem wie das des Todes her­
anzugehen als an ein biologisches, psychologisches, ethisches,
metaphysisches und als an ein Glied der ›Meta-Anthropologie‹,
in die sein ganzes Philosophieren zusammenströmen sollte.«
(S. 104)
Im Anschluss an den Vortrag von Wilhelm Keller: Der posi­
tive Begriff der Existenz und die Psychologie (S. 147 – 151) drückte
Hermann Wein seine Verwunderung aus, »wie wenig der Reich­
tum der sachlich oft nahe beieinander liegenden anthropologi­
schen Ergebnisse in den letzten Jahrzehnten ineinander verar­
beitet worden ist«. Das ist ganz im Sinne von Schelers Bemühung
um eine Einheit unseres Wissens vom Wesen des Menschen
gedacht. Wein schöpfte daraus die Hoffnung, der auch andere
zustimmten: »Das Anderssein von psychologischer, anthropo­
logischer und existenzphilosophischer Frageweise kann sehr
scharf gesehen, aber auch der Aspekt einer notwendigen und
vielleicht gar nicht mehr so fernen Konvergenz dieser Fragewei­
sen, wenn wir die verschiedenen Ansätze dieses Kongresses be­
denken, kann in den Blick gefasst werden.« (S. 151) Darin sprach
er, offenbar ohne sich dessen bewusst zu sein, das Anliegen
von Schelers Großer Anthropologie aus, die sich auf diese Weise
in der Tat als aktuell erwies, wenn auch anonym und uner-
kannt.
Von einer Scheler-Renaissance konnte, im Ganzen betrachtet,
trotzdem keine Rede sein, allenfalls von einer an unterschied­
lichen Ecken und Enden aufkeimenden Hoffnung auf eine Re­
naissance, die aber nur auf ihre Weise bezeugte, dass Schelers
Anthropologie zu fragmentarisch geblieben ist, um als einheit­
liche, Orientierung stiftende Konzeption wahrgenommen wer­
den zu können. Ein Aktualitätsanspruch würde voraussetzen,
dass die metaphysische Dimension als unveräußerliches We­
sensmoment seiner philosophischen Anthropologie anerkannt
würde. Es hatte sich damals aber noch nicht einmal die Nobili­
tierung der historischen Betrachtung von Schelers Anthropolo­
*252 Wolfhart Henckmann · Einleitung

gie als das Werk eines der drei »Klassiker der philosophischen
Anthropologie« der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert.
Sollte indessen heutzutage ein Leser der Kosmos-Schrift, der
auch noch durch die abwechslungsreiche Landschaft ihrer er­
sten Rezeptionsphase gewandert ist, sich noch an den sechsten
Abschnitt erinnern, in dem Scheler die Metaphysik des Men­
schen mit der erstaunten Frage beginnt, wo denn er selber, der
philosophische Anthropologe, in all den Daseinsrelativitäten
stehe, die den Menschen mit Gott und der Welt vieldeutig und
wesentlich verbinden, dann wäre er bei einer Einstellung ange­
langt, die Scheler sich wohl für die Beschäftigung mit der Kos­
mos-Schrift gewünscht hätte: seine fragmentarisch gebliebene
Anthropologie als einen umfassenden Entwurf zu lesen, den er
an sein eigenes Selbstverständnis hält, um zu prüfen, ob er sich
nicht auf das Wagnis einlassen solle, an der Ausarbeitung und
Realisierung eines Entwurfs wie demjenigen Schelers mitzu­
wirken, um nicht als ein namenloses, zufälliges Sandkorn über
die Wüste dieser Welt dahingeweht zu werden, sondern sich im
Sinne der Kosmos-Schrift als ein unersetzbares, notwendiges
Lebenselement im Aufbau und in der Erhaltung dieses unend­
lich erstaunlichen, einzigartigen Ganzen von Mensch und Uni­
versum zu verstehen und zu erweisen. Schelers Kosmos-Schrift
erwartet, würde Scheler sagen, einen hochgemuten, einsatzbe­
reiten Leser, der die Gefahr nicht scheut, von den Vielen, die
ebenfalls einmal »kritisch« durch die Schrift hindurchgeblättert
haben, für einen aus den Aktualitäten der Gegenwart herausge­
fallenen Don Quichote gehalten zu werden.
Zur Textgenese *253

8. Zur Textgenese

Der Text von Schelers Stellung des Menschen im Kosmos (Darm­


stadt 1928) hat eine Vor- und eine Nachgeschichte314 – er stellt
ein bestimmtes Stadium innerhalb einer über ihn hinausgehen­
den Textgenese dar, die sich in vier Phasen einteilen lässt:
1. die Ausarbeitung eines Manuskripts für den Darmstädter
Vortrag (1925 – 1927);
2. die Herstellung der Druckfassung des Vortrags »Die Sonder­
stellung des Menschen« für den Tagungsband Mensch und
Erde, Darmstadt 1927, S. 161 – 254 (Mai-September 1927);
3. die Herstellung des Sonderdrucks Die Stellung des Menschen
im Kosmos, Darmstadt 1928 und in einer weiteren Auflage
1930 (Sept. 1927 – 1930);
4. die Herstellung der vier Sonderausgaben, die Maria Scheler
nach dem zweiten Weltkrieg herausgegeben hat (41947, 51949,
61962, 7 1966).

In allen vier Phasen bis einschließlich zur 6. Auflage von 1962


(die 7. Auflage von 1966 ist ein unveränderter Nachdruck der
6. Auflage) hat der Text Veränderungen erfahren, die teils auf
Scheler, teils auf Maria Scheler zurückgehen. Maria Scheler hat
nach dem Tod des Philosophen (19. 5. 1928) die Betreuung seines
Lebenswerkes übernommen und nach dem zweiten Weltkrieg
die Ausgabe seiner Gesammelten Werke begonnen, die sie etwa
bis zur Hälfte realisieren konnte. Nach ihrem Tod (9. 12. 1969) hat
Max G. Scheler (1928 – 2003), der einzige Sohn von Max und Ma­
ria Scheler, die Fortführung der Ausgabe dem deutsch-amerika­
nischen Scheler-Forscher Manfred S. Frings (1925 – 2008) anver­
traut, der sie 1997 mit dem Band 15 zum Abschluss brachte. Der
Edition der Kosmos-Schrift in den Gesammelten Werken (Bd. 9,

314 Guido Cusinato hat als erster die Textgenese untersucht, sich da­
bei aber auf die dritte und vierte Phase beschränkt (Scheler, La posizione
dell’uomo nel cosmo, a cura di Guido Cusinato, Milano 2000, § 10: Storia
dell’edizione di La posizione dell’uomo nell cosmo, S. 62 – 67).
*254 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Bern/München 1976, S. 9 – 71) hat er die sechste Auflage der Kos­


mos-Schrift zugrunde gelegt, in der Folgezeit aber noch ein­
zelne Textänderungen vorgenommen, die in der vorliegenden,
auf die ursprüngliche, von Max und Maria Scheler erstellte Fas­
sung zurückgehenden Ausgabe unberücksichtigt geblieben sind.

Erste Phase: Ausarbeitung des Darmstädter Vortrags


(1925 – 1927).

Mitte November 1925 hat Hermann Keyserling während der


Eröffnungstagung des neu gegründeten China-Instituts in
Frankfurt Scheler für einen Vortrag auf der achten Tagung der
»Schule der Weisheit« gewonnen, die Keyserling unter das Thema
»Mensch und Erde« gestellt hat. Scheler, der schon 1919 an ei­
ner Tagung der Schule der Weisheit teilgenommen hatte, sollte
über »Die Sonderstellung des Menschen« sprechen. Da Keyser­
ling seine Tagungen sorgfältig durchzukomponieren pflegte,315
hat er Scheler ziemlich genau vorgegeben, was er von seinem
Vortrag erwartete; in einem Brief hat er ihn noch einmal daran
erinnert, sich »mathematisch genau« an die Vorgaben zu halten.
Für Scheler kam die Einladung sehr gelegen, weil er sie zur
Ausarbeitung seiner Philosophischen Anthropologie nutzen
konnte, ebenso wie die im WS 1926/27 gehaltene Vorlesung über
»Das Wesen der Lebenserscheinungen« (vgl. S. 4,20), die einen
wesentlichen Problemkreis des Darmstädter Vortrags abdeckt.
In dieser Zeit hat er mehrfach über das Thema »Pflanze, Tier,
Mensch« Vorträge gehalten, so dass er auf umfangreiche aktuelle
Vorarbeiten zurückgreifen konnte und keine neuen Problemfel­
der zu erschließen brauchte. Eintragungen in seinen Notizhef­
ten, die zum Teil wörtlich mit Formulierungen des Darmstädter
315 Eine Übersicht über die Vortragsfolge der Tagung »Mensch und
Erde« erschien im Heft 12 der Wege zur Vollendung (Darmstadt 1926,
S. 18). Von den zehn geplanten Vorträgen waren im Oktober 1925 bereits
sieben vergeben, für den sechsten Vortrag über »Die Sonderstellung des
Menschen« gewann Keyserling Scheler.
Zur Textgenese *255

Vortrags übereinstimmen (vor allem aus den Notizheften B.II.56


bis 58) zeigen, dass ihn das Thema fortwährend beschäftigt hat.
Deshalb begann Scheler erst im Frühjahr 1927 während eines
Erholungsurlaubs in Ascona mit der Niederschrift seines Vor­
trags – in B.I.17 bezieht sich Scheler einmal ausdrücklich auf den
Veranstalter der Darmstädter Tagung (B.I.17, S. 44). Warum er
die Niederschrift nicht unter den von Keyserling vorgegebenen
Titel »Die Sonderstellung des Menschen«, sondern unter »Die
Monopole des Menschen in der Lebewelt« gestellt hat, ist nicht
bekannt. Er mochte die »Monopole des Menschen in der Lebe­
welt« als eine Interpretation des Titels der »Sonderstellung des
Menschen« verstanden haben, denn die Sonderstellung wird ge­
rade durch die (geistigen bzw. kulturellen) Monopole bestimmt,
durch die sich der Mensch von der Tier- und Pflanzen-, also
insgesamt von der »Lebewelt« unterscheidet. Mit der Lebewelt
ist die irdische Welt des organischen Lebens gemeint, gewis­
sermaßen die »ungeistige« (S. 127,19 f.) Basis der menschlichen
»geistigen« Welt, die aber noch keineswegs die gesamte Struktur
der »Stellung des Menschen im Kosmos« ausmacht. Erst auf der
Grundlage der vollständigen Struktur des Mensch-Seins ließe
sich ein ganzheitliches anthropologisches Konzept entwickeln,
das die »Monopole des Menschen« mit ihren mitmenschlichen
Dimensionen sowie die gesamte Natursphäre umfasst, an der
der Mensch mit seinem Leib teilhat, um dieses Ganze mit dem
Weltgrund zu vermitteln und endlich die gesuchte »einheitliche
Idee vom Menschen« zu gewinnen.
In der Disposition zur Anthropologie-Vorlesung von 1925 bil­
det die Frage der Monopole nur einen Abschnitt in der Frage
nach der Wesensontologie des Menschen: Im dritten Grund­
problem behandelt Scheler die »Frage des Unterschiedes von
›Mensch und Tier‹ aufgrund eines systematischen Vergleiches
und die Herkunft der Monopole des Menschen (Sprache, Kunst,
Religion …)«.316 In der Disposition hingegen stellt die Frage
nach der Sonderstellung eine eigenständige Problematik auf

316 GW 12, S. 19.


*256 Wolfhart Henckmann · Einleitung

der Grundlage der Konstitution des Menschen dar (S. 145,4.16).


Der systematische Ort der Sonderstellung war offenbar noch
nicht festgelegt. Der Vortrag konnte also dazu dienen, die in­
nere Systematik der philosophischen Anthropologie genauer
zu bestimmen, doch dann hätten sich zwischen 1925 und 1927
auch Schelers anthropologischen Anschauungen entsprechend
gewandelt. Ob dies zutrifft, ließe sich durch einen Vergleich zwi­
schen dem Vorlesungsskriptum von 1925 und den Ausführun­
gen des Vortragsheftes B.I.17 überprüfen, aber außer der »Ein­
leitung« (B.I.1, veröffentlicht in GW 12, S. 5 – 21) lassen sich keine
Skripten oder Nachschriften der Vorlesung von 1925 zweifels­
frei identifizieren. Für eine sich weiterentwickelnde Konzeption
spräche, dass ihn die Arbeit an seinem Vortragsmanuskript im
Frühjahr 1927 förmlich in einen Rauschzustand versetzt hatte.
Nach der Tagung schrieb er Märit, seiner zweiten, 1923 von ihm
geschiedenen Ehefrau, mit der er nach wie vor viele seiner phi­
losophischen Projekte besprach: »Ich arbeitete in Ascona fie­
berhaft, schrieb eine ganze Skizze meiner Anthropologie, war
davon völlig benommen. […] Die Tage in Ascona waren frucht­
bar für mich. Nicht nur erreichte ich in der Arbeit viel; ich er­
holte mich zusehends. […] Mein Vortrag – fast frei – machte
einen sehr starken Eindruck und ich gab auch meine Seele
hinein.«317
Es war Scheler faktisch auch nichts anderes übrig geblieben,
als seinen Vortrag fast frei zu halten, denn sein Manuskript
war viel zu umfangreich geworden, um vorgetragen werden
zu können. Das Heft B.I.17, eine »Kladde«, von Maria Sche­
ler jedoch nur teilweise berechtigt als »Vortragsmanuskript«
bezeichnet, 318 umfasst hundert eng und ohne Rand beschrie­
bene Seiten, durchsetzt von vielen unvollständigen Sätzen, un­
ausgeführten Fußnoten, Korrekturen, Streichungen, Ergänzun­
gen zwischen den Zeilen, an den Rändern und auf beigelegten
Seiten. Geht man von der 1927 im Leuchter und 1928 als Son­

317 Brief vom 2.5.1927, Ana 385, E.I.1, S. 312.


318 In ihrer Vorbemerkung zur 4. Auflage 1947, S. [5].
Zur Textgenese *257

derdruck veröffentlichten Fassung aus, ist Scheler in seinem


Vortrag auf die letzten fünfzehn Seiten der Manuskriptkladde,
auf denen er nur noch kurz, schließlich nur noch stichwort­
artig einiges zu den »Monopolen« notiert hat, überhaupt nicht
mehr eingegangen. Doch entgegen seiner Versicherung in der
»Darmstädter Einleitung«, die zentrale metaphysische Frage
nach der Beziehung des Menschen zum Weltgrund gänzlich
auszuklammern (S. 127,11 – 23), muss er, wie aus Zeitungsberich­
ten hervorgeht, dann doch noch auf diese entscheidende Di­
mension des Mensch-Seins eingegangen sein, ohne die seiner
Auffassung nach die Sonderstellung des Menschen nicht zu be­
greifen ist. Für diese Dimension musste er auf die andere Kladde
zurückgreifen, auf B.I.2 (beide Kladden haben fast das gleiche,
in Deutschland unübliche Format, gekauft in Ascona), die für
die »Metaphysik des Menschen« vorgesehen war. Es gibt also
nicht ein, sondern zwei Manuskript»hefte«, außerdem noch die
dem Vortragsmanuskript beigelegte »Darmstädter Einleitung«
– diese Dokumente bilden das Material, aus dem Scheler »fast
frei« vor dem Publikum seinen (im Vergleich mit den Manu­
skripten) stark gekürzten, nichtsdestoweniger überlangen Vor­
trag zusammengesetzt hat.
Der genaue Wortlaut seines Vortrags ist allerdings nicht
überliefert, so dass sich nicht mehr feststellen lässt, in welchem
Maße der gehaltene Vortrag den Manuskriptheften entspro­
chen hat oder von ihm abgewichen ist. Die drei Textzeugnisse
weisen die unterschiedlichsten Bearbeitungsspuren auf, die
nicht datiert werden können, es ist nicht einmal sicher, ob sie
vor oder nach dem Vortrag entstanden sind. Das einzige, was
etwas von der Anpassung der Vortragsmanuskripte an die Be­
dingungen der Tagung erkennen lässt, sind zwei Dokumente:
die »Darmstädter Einleitung«, die Scheler auf herausgerissenen
Seiten eines nicht erhaltenen Heftes kleineren Formats nieder­
geschrieben hat (B.I.17, S. 1*-7*; unten S. 127 – 132); sie gehen or­
ganisch in den Text von B.I.17 über (ab S. 12,1), und das Blatt
zur Gliederung des Vortrags, aus einem Heft wiederum anderen
Formats herausgerissen (unten S. 126, dem Heft B.I.17 beigelegt).
*258 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Wir haben es also mit einer komplexen Manuskriptlage zu tun:


Vom wirklich gehaltenen Vortrag existiert kein Dokument; wie
viel Scheler von der »Darmstädter Einleitung« vorgetragen hat,
ist unbekannt, ebenso, was er, wörtlich oder umformuliert, aus
dem Manuskriptheft B.I.17 vorgetragen und was er ausgelassen
hat, und ungewiss ist ebenfalls, ob er das »metaphysische Wer­
deproblem des Menschen« tatsächlich nur gelegentlich berührt
hat oder doch ausführlicher darauf eingegangen ist, was einige
Zeitungsberichte vermuten lassen (S. 128,4 – 8), denn in der Glie­
derung (S. 126) schreibt er diesem Problemkreis immerhin eine
halbe Stunde zu.
Mit den drei Dokumenten von B.I.17, B.I.2 und der »Darm­
städter Einleitung« plus Gliederung ist das Textproblem der
ersten textgenetischen Phase noch nicht ganz abgeschlossen.
In der Disposition zur Philosophischen Anthropologie spricht
Scheler von »fünf Ideen«, die gegenwärtig die Selbstauffassung
des Menschen bestimmen (S. 144,11: Abschnitt I.5). Er verweist
auf seinen in der Neuen Rundschau (1926) erschienenen Aufsatz
»Mensch und Geschichte«, der in engem Zusammenhang mit
der Anthropologie-Vorlesung von 1925 entstanden ist und den
Keyserling zur vorherigen Lektüre den Teilnehmern der Tagung
dringend empfohlen hatte. In der »Darmstädter Einleitung«
(S. 129,13 ff.) und in der Kosmos-Schrift geht er jedoch nur auf
die drei ersten Ideen ein (S. 7 – 8). Darin muss man nicht unbe­
dingt eine Abwendung von seiner 5-Ideen-Lehre, sondern man
kann darin auch eine Beschränkung auf diejenigen Ideen sehen,
die zur Allgemeinbildung eines Europäers gehören, während er
die noch nicht über die akademischen Fachkreise hinausgelang­
ten, noch dazu wesentlich auf Deutschland begrenzten beiden
anderen Ideen (GW 9, S. 139) an eine spätere Stelle zu einer ge­
naueren Erörterung verschoben haben könnte – streng genom­
men allerdings nur eine der beiden Ideen, nämlich die Lehre von
Ludwig Klages (S. 111,18 ff.). Scheler hatte sie zwar schon in B.I.17
angesprochen, aber nur mit wenigen Worten (S. 84 f.). Da er kurz
zuvor den »Schluss« des Vortrags markiert hatte (B.I.17, S. 83),
dies aber noch ein weiteres Mal nach der Auseinandersetzung
Zur Textgenese *259

mit Klages (S. 85), ist es ungewiss, ob er sich in seinem Vortrag


wirklich mit Klages auseinandergesetzt hat, und in welchem
Umfang. Die Frage ist also, wieweit der Vortrag »Mensch und
Geschichte«, in dem Scheler alle fünf Menschen-Ideen entwi­
ckelt, zum Dokumentenmaterial zu rechnen ist, aus dem Scheler
seinen Vortrag zusammengekürzt hat. Wenn man »Mensch und
Geschichte« hinzu rechnet, stellt sich die Frage, warum Sche­
ler die fünfte Menschen-Idee, die des postulatorischen Athe­
ismus von Nicolai Hartmann, Dietrich Kerler und anderen,
übergangen hat. Wie auch immer die Antwort ausfallen mag:
trotz des quantitativen Übergewichts von B.I.17 haben wir es
nicht mit einem einzigen, zusammenhängenden Vortragsma­
nuskript zu tun, sondern mit einer improvisierten Zusammen­
setzung mehrerer Text-Bausteine – deren spontane Verbindung
zu einem eindrucksvollen Vortrag unwiederbringlich verlo-
ren ist.
B.I.17 besteht aus einem Heft, dessen Seiten von 1 bis 91 jeweils
auf den ungeraden Seiten rechts oben paginiert sind, von S. 92
bis S. 94 auf jeder Seite, unpaginiert die folgende Seite (S. 95),
der sodann S. 97 folgt, die Rückseite wiederum unpaginiert,
danach jede Seite paginiert: 98, 99, 100; Seite 100 ist ein loses
Blatt. Von S. 86 an ist jede Seite mit Maria Schelers Notiz »abg.«
(=  abgeschrieben) versehen, ebenso Seite 1, der Rest nicht – das
bedeutet, dass es vom Vortragsmanuskript keine vollständige
Abschrift gibt, wie sie Maria Scheler von einem Großteil von
Schelers Manuskripten angefertigt hat. Stattdessen gibt es ein
sich eng an B.I.17 anschließendes, von Maria Scheler angefer­
tigtes Typoskript der Kosmos-Schrift, das der vierten Auflage
von 1947 zugrunde liegt (Signatur: Ana 315, D.IX.7c). Es besteht
aus dem maschinenschriftlichen Original und einem Durch­
schlag, die beide ineinandergelegt sind; die Durchschlagseite
unterscheidet sich vom Original durch die schwächere Schrift;
einzelne Seiten des Durchschlags sind nicht mehr vorhanden.
Fast auf jeder Seite des Originals (Ts 1) und des Durchschlags
(Ts 2) befinden sich handschriftliche Eintragungen von Maria
Scheler (Streichungen, Ergänzungen, Unterstreichungen; auf
*260 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Ts 1 gelegentliche Notizen für den Setzer, auf Ts 2, das das Ar­


beitsexemplar gewesen zu sein scheint, Verweise auf die Seiten
von B.I.17). Dass es von B.I.17 keine vollständige Abschrift gibt,
weist darauf hin, dass Maria Scheler die Abschrift durch die
Herstellung der Druckvorlage für die Neuauflage ersetzt hat.
Die Parallelität zwischen dem Typoskript und B.I.17 umfasst
B.I.17, S. 1 bis 85, doch wurden umfangreiche Teile von B.I.17
ausgelassen und einzelne neue Texte hinzugefügt.
B.I.17 trägt, wie gesagt, auf S. 1 die Überschrift »Monopole
des Menschen im Ganzen der Lebewelt«. Mit diesem Titel hat
Scheler in mehreren Gliederungsentwürfen ein bestimmtes Ka­
pitel seiner Anthropologie überschrieben. B.I.17 lässt sich dem­
zufolge reibungslos in den Kontext der Gesamtdarstellung der
Anthropologie einordnen, wie Scheler sie der Anthropologie-
Vorlesung von 1925 vorgetragen hat. Auf die »Monopole« selbst,
wie Sprache, Kunst, Recht usw. (vgl. die Aufzählung S. 116,6 ff.),
geht Scheler erst ab S. 85 des Vortragsmanuskripts und nur skiz­
zenhaft ein – dieser Teil ist also, wie allerdings die Gesamtdar­
stellung der Anthropologie auch, Fragment geblieben. Aus dem
thematischen Rahmen der »Monopole« fallen die Bemerkungen
zu den »Antinomien der Anthropologie« (B.I.17, S. 94; Abschrift:
CE.XVII.7) sowie zu »Mensch und Ens a se« (B.I.17, S. 96 – 97;
Abschrift CE.XVII.8) heraus. All dies belegt, dass B.I.17 nicht in
dem Sinne als »Vortragsmanuskript« gedient hat, dass es kon­
tinuierlich – ausgenommen die herausgekürzten Teile – hätte
vorgetragen werden können.
Die ersten 15 Zeilen von B.I.17 haben in der Kosmos-Schrift
keine Entsprechung. Die vielfach unterbrochene und abgewan­
delte Parallelität zwischen B.I.17 und der Kosmos-Schrift be­
ginnt erst im Abschnitt I (S. 12,2 ff.) mit »Die unterste Stufe des
Psychischen …«. B.I.17 weist nachträgliche Textergänzungen
zwischen den Zeilen, am oberen und unteren Seitenrand auf, die
meist mit Bleistift, gelegentlich auch mit Tinte und Rotstift, also
zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben sind. Wenn sie sich in
den für das Typoskript ausgewählten Textpassagen befanden,
sind sie in der Regel in die Druckfassung übernommen worden.
Zur Textgenese *261

Zweite Phase: Erstellung der Druckfassung


(Mai – August 1927)

Wie bei den vorangegangenen Tagungen der Schule der Weisheit


lag Keyserling viel daran, die Vorträge auch der achten Darm­
städter Tagung möglichst zeitnah zu veröffentlichen. Er stellte
es jedem Redner frei, seinen Vortrag für die Veröffentlichung
zu überarbeiten, dabei aber den inhaltlichen und den äußeren
Rahmen zu wahren und womöglich die sinnvoll aufeinander ab­
gestimmten Vorträge der anderen Redner und die informellen
Gespräche während der Tagung (eine »Diskussion« vertrug sich
nicht mit der Philosophie der Schule der Weisheit) zu berück­
sichtigen. In welchem Maße Scheler von diesem Recht Gebrauch
gemacht hat, lässt sich nicht beurteilen, weil ja der Wortlaut sei­
nes Vortrags nicht überliefert ist. Es steht jedoch fest, dass er die
Druckvorlage seines Vortrags vollständig neu verfasst hat.
Als Keyserling Scheler im Juni 1927 aufforderte, möglichst
umgehend ein druckfertiges Manuskript seines Vortrags ein­
zureichen, weil er seine eigenen Vorträge auf Schelers Vortrag
abstimmen und dies noch vor seiner fest geplanten Urlaubsreise
zum Abschluss bringen wollte, antwortete Maria Scheler in
Schelers Namen der Gräfin Keyserling: »Bis 1. Juli wird das Ma­
nuscript kaum fertig sein – es kamen noch einige dringliche Ar­
beiten dazwischen, wir haben in der letzten Zeit sehr viel diktiert
und gearbeitet. Ich fange morgen mit Ihrer Sache an, die aber
doch nicht so einfach liegt, wie Sie annehmen, liebe Gräfin. Die
Vorlage ist zwar ausgearbeitet, aber viel zu sehr; und das Aus­
sondern wird Schwierigkeiten machen. Dazu kommt, daß sich
bereits der Neue-Geist Verlag gemeldet hat und davor warnte,
der Anthropologie durch die Veröffentlichung des Vortrags in
D[armstadt] etwas vorwegzunehmen – und da der Vortrag wirk­
lich einen intens[iven] Extract brachte, hat der Verlag nicht so
ganz Unrecht, wenn er fürchtet, daß die Spannung auf das neue
Buch dadurch vorzeitig gebrochen wird. Mein Mann wird sich
bemühen, alle zufrieden zu stellen – wie, das muß sich noch er­
weisen. – Wie gesagt, ich sehe morgen das M[anu]skr[ipt] durch
*262 Wolfhart Henckmann · Einleitung

und werde dann mit Max beratschlagen. Daß der Vortrag nicht
so, wie er gesprochen wurde, veröffentlicht werden kann, aber
steht doch wohl fest; er würde auch viel zu umfangreich für den
›Leuchter‹ werden. Jedenfalls dürfen Ihr Mann und Sie sicher
sein, daß mein Mann – und auch ich auf meine Weise – alles
dazu tun werden, das M[anu]S[kript] Ihnen gut und bald aus­
händigen zu können.«319 Am 8.7.1927 meldete Scheler sich dann
ebenfalls noch: »Andererseits ist das Excerpt, das ich aus mei­
nem großen Manuskript für die Veröffentlichung im Leuchter
vorzunehmen habe, von niemand anders zu machen wie von
mir selbst; weder meine Frau noch mein Assistent können das
machen. Es ist wirklich schon eine rechte Misere, das[s] s[einer]
Z[eit] in Darmstadt mein Vortrag nicht gleich mit stenogra­
phiert wurde, so dass ich jetzt die schwere Arbeit habe.
So sehr unangenehm es mir ist, Ihre Reisedispositionen und
Ihre Ruhe auf der Reise ein wenig zu belasten, so muss ich Sie
– will ich Ihnen nicht Undurchführbares versprechen – und
Reichl doch bitten, sich bis zum 8. August mit der Zusendung
des Manuskripts zu gedulden. Es ist das ein Maximumtermin;
wahrscheinlich kann ich das Manuskript Ihnen schon in den
ersten Tagen des August einsenden. Nach dem, was Ihre ver­
ehrte Frau schreibt, muss ich Ihnen also anheim geben, entwe­
der Ihre zwei Aufsätze unabhängig von meinem Manuskript zu
schreiben oder sie erst in der Schweiz zu verfassen. Auf keinen
Fall braucht doch der Termin Ihrer Abreise durch diesen lei­
digen Umstand verschoben zu werden. Meine Anthropologie
wird unter dem Titel ›Das Wesen des Menschen. Neuer Versuch
einer Philosophischen Anthropologie‹ voraussichtlich Anfang
des nächsten Jahres im Verlag neuer Geist erscheinen.« Sche­
ler war gesundheitlich seit langem sehr angegriffen und befand
sich nach einem anstrengenden Semester Anfang August 1927 in
einem stark geschwächten Zustand, so dass er ein Sanatorium

319 Die Briefe befinden sich im Keyserling-Archiv der Hessischen


Landesbibliothek in Darmstadt; den Hinweis auf die Briefe verdanke ich
Ute Gahlings.
Zur Textgenese *263

in Neuenahr aufsuchen musste. Zur gleichen Zeit hatte er auch


noch den Aufsatz über »Idealismus – Realismus« fertigzustel­
len, der 1927 in Plessners Zeitschrift Philosophischer Anzeiger
und bald darauf erweitert als Monographie mit dem Titel Das
Problem der Realität veröffentlicht werden sollte (S. 18,25 f.). Die
Druckfassungen der »Sonderstellung« und von »Idealismus –
Realismus« sind parallel zueinander entstanden. Am Freitag,
den 5.8.1927, konnte Maria der Gräfin Keyserling mitteilen, dass
die Rohfassung des Typoskripts zur »Sonderstellung des Men­
schen« abgeschlossen sei. Sie habe es bereits auf Fehler und miss­
verständliche Formulierungen durchgesehen, habe es ein wenig
ausgefeilt, »und nun geht es gleich nach Neuenahr zur letzten
Durchsicht durch meinen Mann. Ich brauche dann Sonntag die
Correkturen nur noch auf das zweite Schreibmaschinenduplikat
zu übertragen, das mein Mann gerne für sich haben möchte bis
zur Drucklegung. […] Sie können nun also bestimmt bis Diens­
tag [= 9.8.] darauf rechnen, es zu erhalten, ich schicke es Ex­
press.« Doch die Durchsicht des Manuskripts ließ sich nicht so
schnell durchführen. Am 10.8.1927 schickte Maria »eine Anzahl
Seiten« ab, damit der Graf eine Orientierung für die Ausarbei­
tung seiner beiden Vorträge erhalte, den Rest wollte sie noch am
gleichen Tage folgen lassen – »im ganzen 72 Seiten. Ich muß die
Correkturen sehr ordentlich machen und auf unser Exemplar
übertragen – und das ist sehr zeitraubend.« Mitte August wird
das Typoskript vollständig in Keyserlings Händen gewesen sein.
Scheler scheint sich in einem Begleitbrief, der nicht überlie­
fert ist, sehr kategorisch über eine angemessene Honorierung
seines Beitrags ausgesprochen zu haben, was Keyserling erzürnt
hat, weil er dadurch sein »Lebenswerk«, die Schule der Weisheit,
gefährdet sah. Maria Scheler hielt Schelers Ansprüche für be­
rechtigt, »denn die Arbeit für den Vortrag hat ihn – ganz abge­
sehen von jahrelangen Studien, deren Extract er bildet – 6 Wo­
chen! zur Ausarbeitung gekostet – abgesehen von unser beider
Bemühungen um die Druckfertig-machung.« Da Reichl nicht zu
bewegen war, ein höheres Honorar zu zahlen, schlug die Gräfin
vor, den Aufsatz Schelers als Broschüre erscheinen zu lassen.
*264 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Reichl akzeptierte Ende August den Vorschlag, so dass Maria


der Gräfin am 28.8.1927 mitteilen konnte, dass sie nun auf die
Korrekturfahnen warteten. Nach Rücksprache mit dem Neue
Geist-Verlag stimmte auch Scheler Ende August dem Kompro­
miss zu, zusätzlich zum Bogenhonorar von Mensch und Erde
den Aufsatz als Broschüre erscheinen zu lassen. Anfang Sep­
tember sah er die Korrekturfahnen durch.
Da das Typoskript der Druckfassung nicht überliefert ist,
lässt sich nicht beurteilen, wie weit Maria Schelers Mitwirkung
an der Druckvorlage reicht und ob nicht Scheler, wie es seine
Gewohnheit war, Änderungen auch noch an den Korrekturfah­
nen vorgenommen hat. Der Vortrag über die »Sonderstellung«
sollte unbedingt vor Plessners Stufen des Organischen erschei­
nen. Wie sehr Scheler seine Priorität in Sachen der philosophi­
schen Anthropologie durch Plessner gefährdet sah, lässt sich
dem Entwurf der Vorrede entnehmen (S. 142 f.). Wir können mit
einiger Sicherheit annehmen, dass auf die sechswöchige Aus­
arbeitung der Druckfassung außer dem Konflikt mit Plessner
auch die parallel entstehenden Arbeiten über »Idealismus – Rea­
lismus« und über Nietzsches Anthropologie, über die Scheler
Mitte Oktober 1927 in Weimar einen Vortrag halten sollte, nicht
ohne Einfluss geblieben sind.
Auf eine grundsätzlichere Korrektur des Darmstädter Vor­
trags hat Keyserling in der Vorrede zu Mensch und Erde auf­
merksam gemacht: Schelers »gedruckter Tagungsvortrag, der
die Quintessenz seines Hauptwerkes Das Wesen des Menschen.
Neuer Versuch einer philosophischen Anthropologie, welches
1928 erscheinen soll, enthält, ist mit dem seinerzeit gehaltenen
nicht durchaus identisch. In der Ausarbeitung hat er, gewiss
nicht ohne Anregung durch die Gedanken, die auf der Tagung
seitens der auf Scheler folgenden Redner verlautbart wurden,
von seiner schroffen Einseitigkeit viel verloren. Dementspre­
chend habe ich meinen dritten und vierten Vortrag320 meiner­

320 Der dritte Vortrag: »Der erdbeherrschende Geist«, S. 255 – 276, der
vierte Vortrag: »Der Mensch aus kosmischer Schau«, S. 325 – 344.
Zur Textgenese *265

seits umarbeiten müssen.«321 Keyserling macht natürlich nicht


auf rein stilistische Änderungen zwischen einem teilweise allzu
emphatischen mündlichem Vortrag und der gedruckten Fas­
sung aufmerksam, sondern auf eine inhaltliche Selbstkorrek­
tur Schelers, die die »schroffen Einseitigkeiten« der Lehre von
der Ohnmacht des Geistes betraf. Diesen öffentlichen Hinweis
konnte Scheler nicht unkommentiert lassen, umso weniger, als
Keyserling sich selber das Verdienst zusprach, die Abschwä­
chung der schroffen Einseitigkeiten veranlasst zu haben. Sche­
ler weist im Entwurf der Vorrede jegliche, durch Keyserling,
den »Literaten«, wie Scheler ihn einige Jahre zuvor bezeichnet
hatte, veranlasste Modifikation irgendwelcher Schroffheiten
zurück: Das Manuskript habe »einschließlich der Erweiterung
in diesem Sonderdruck vor der Tagung genau so vor[gelegen],
als es hier abgedruckt ist« (S. 140,9 – 15). Da diese Passage des
Entwurfs in der veröffentlichten Fassung der Vorrede nicht mit
abgedruckt wurde, blieb Keyserlings Kritik in der Öffentlichkeit
unwidersprochen.
Durch die Veröffentlichung der Sonderausgabe wurde Key­
serlings Kritik von Schelers Vortrag abgetrennt und geriet bei
seinen Lesern in Vergessenheit. Sie bedeutet indessen nicht we­
niger als eine Infragestellung der Authentizität von Schelers
Kosmos-Schrift hinsichtlich ihrer nicht bloß buchstäblichen
Übereinstimmung mit dem am 28.4.1927 gehaltenen Vortrag.
Scheler gibt zwar zu, dass er sein Manuskript während des Vor­
trags erheblich kürzen musste, wodurch sich aber am eigentli­
chen Inhalt nichts geändert haben soll. Im Grunde aber umgeht
er Keyserlings Kritik. Während diese sich auf die Differenz zwi­
schen den Formulierungen des Vortrags, an die sich Keyserling
genau erinnert haben wollte, und dem für die Veröffentlichung
ausgearbeiteten Manuskript bezieht, bezieht sich Scheler allein
auf die genaue Übereinstimmung zwischen dem »dem Vortrag
zugrundeliegenden Manuskript« (S. 140,9 f.), das aber in Wirk­

321 Keyserling, Vorbemerkung des Herausgebers, in: Mensch und


Erde, Darmstadt 1927, S. 1.
*266 Wolfhart Henckmann · Einleitung

lichkeit mehrere unterschiedliche, erst im Vortrag unwieder­


holbar miteinander verbundene Dokumente umfasst, und der
im August 1927 neu erarbeiteten Druckfassung; er überspringt
also die von Keyserling angesprochene, nicht dokumentierte,
in Darmstadt vorgetragene Fassung. Schelers Behauptung einer
genauen Übereinstimmung der Druckfassung mit »dem Ma­
nuskript« kann aber auch aus Schelers persönlicher Sicht nicht
stimmen, da er ja wusste, dass und auf welche Weise ihm Ma­
ria Scheler bei der Herstellung der Druckfassung geholfen hat.
Strenggenommen hat Scheler seinen Darmstädter Vortrag, den
er nicht mehr reproduzieren konnte oder wollte, nicht nur re­
lativiert, sondern für überholt erklärt, während er die neu er­
arbeitete Fassung der »Sonderstellung« uneingeschränkt auto­
risiert hat, gleichviel wie sie sich zu den Manuskripten verhält
oder welchen Anteil Maria Scheler an ihr gehabt haben mag. Es
ging Scheler mit der neuen Fassung weder um eine buchstäb­
lich genaue Wiedergabe der zugrundeliegenden Manuskripte
noch um eine korrekte Wiedergabe seines tatsächlich gehalte­
nen Vortrags, sondern nur um die im achten Band des Leuchter
und kurz darauf als Sonderdruck veröffentlichte neue Fassung,
in der er, innerhalb der Grenzen, die eine Veröffentlichung im
Leuchter vorgab, letztlich eine partiell genaue Übereinstim­
mung mit der Idee sah, die er sich inzwischen von seiner Großen
Anthropologie gebildet hatte.
Im Einzelnen kann man bis in buchstäbliche Übereinstim­
mungen hinein erkennen, dass Scheler a) den Anfang der
Druckfassung auf der Grundlage der Darmstädter Einleitung
und des Aufsatzes »Mensch und Geschichte«, b) den sechsten
Hauptabschnitt auf der Grundlage von B.I.2 ausgearbeitet hat,
während c) der dazwischen liegende größte Teil auf der Grund­
lage von B.I.17, S. 1 – 85 verfasst worden ist. Abgesehen von er­
heblichen Kürzungen führte die Bearbeitung zu einer strafferen
und klareren Gliederung des Textes. In B.I.17 hat er die durch
römische Ziffern markierte Hauptgliederung seiner Gedan­
kenfolge auf den Aufbau der psychischen Welt beschränkt, also
auf I. Gefühlsdrang (S. 1), II. Instinkt (S. 8), III. Assoziation,
Zur Textgenese *267

bedingten Reflex, Dressierbarkeit (S. 15), IV. Intelligenz (S. 20)


und V. Geist (S. 30), was in der gedruckten Fassung die beiden
ersten Abschnitte ausmacht, während er im Manuskript ab
S. 44 nur noch durch nachträglich zwischen die Zeilen einge­
fügte Stichworte der Reihe nach unterschiedliche Problemkreise
hervorhebt: die »Phänomenologische Reduktion, Technik der
Wesenserf[assung]« (S. 44 f.), »Realitätsbewußtsein« (S. 45 ff.),
»Negative Theorien« des Menschen (S. 53 ff.) und ihre »Kri­
tik« (S. 58 ff.), »klassische Theorie« (S. 62 ff.), »Macht und Wert«
(S. 69 ff.), »Descartes« (S. 72 ff., mit nicht weniger als neun Unter­
abschnitten), um schließlich mit der Frage nach der »Physiologi­
schen Sonderstellung« des Menschen (S. 81 f.) seinen Vortrag zu
beenden (»Schluß«, S. 83), vielleicht aber auch noch auf Klages
einzugehen (S. 84 f.), bevor nach einem zweiten »Schluß« (S. 85)
die nur noch aus Skizzen und Stichworten bestehenden Aus­
führungen zu den »Monopolen« beginnen (S. 85 ff.). Diese The­
menkreise wurden in der Druckfassung in die im Inhaltsver­
zeichnis angegebenen Hauptabschnitte III bis VI eingeordnet,
entsprechend bearbeitet und so gut es ging aufeinander abge­
stimmt, wodurch zwar innerhalb der Hauptabschnitte bzw. der
Unterabschnitte ein größerer gedanklicher Zusammenhang,
aber keine durchgehende gedankliche Folge erreicht wurde:
Der Gedankengang überquert springend das anthropologische
Problemfeld, und Scheler macht selber zum Beispiel auf die
in der Gedankenfolge nicht begründete Rückkehr von einem
theoretischen Höhenkamm auf die Erfahrungsbasis aufmerk­
sam (S. 94,3 ff.). Darüber hinaus ist noch auf zwei größere Er­
gänzungen hinzuweisen, für die es in B.I.17 keine Vorgabe gibt,
die also entweder aus anderen Heften übernommen oder neu
verfasst worden sind (S. 89,12 – 91,17, und 108,7 – 111,17); auch die
Auseinandersetzung mit Ludwig Klages geht erheblich über die
wenigen Zeilen in B.I.17, 84 f. hinaus, so dass sie im August 1927
wohl ebenfalls neu verfasst worden ist – es kann also keine Rede
davon sein, dass die gedruckte Fassung der »Sonderstellung«
genau »dem Manuskript« entsprach, das dem in Darmstadt ge­
haltenen Vortrag zugrunde lag.
*268 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Dritte Phase: Herstellung des Sonderdrucks (1927 – 1930)

Wie erwähnt, geht die Veröffentlichung des Vortrags als Son­


derdruck auf einen Vorschlag der Gräfin Keyserling zurück und
wurde Ende August oder Anfang September 1927 nach Rück­
sprache mit dem Neue Geist-Verlag von Scheler akzeptiert, wo­
bei auch die an ihn herangetragenen Wünsche einiger Hörer
nach einem Sonderdruck eine Rolle gespielt haben dürften. In
früheren Fällen hat er bei einer Wiederveröffentlichung die
Erstveröffentlichung in der Regel erweitert, überarbeitet, mit
Fußnoten ergänzt. Auch im Fall der »Sonderstellung« hat Sche­
ler eine Erweiterung geplant, wie aus dem Entwurf hervorgeht:
eine Erweiterung um das metaphysische Problem des Menschen
besonders durch die Fragen der Unsterblichkeit und der Freiheit
(S. 140,6 – 9). Dass der Sonderdruck aber eine kaum veränderte
Neuauflage der »Sonderstellung« geworden ist, liegt aller Wahr­
scheinlichkeit nach daran, dass Scheler starb, bevor er sich der
Erweiterung des Sonderdrucks annehmen konnte.322
Nach seinem plötzlichen Tod musste Maria Scheler die Her­
stellung des Sonderdrucks übernehmen. Das einzige, was dafür
vorlag, war die Veröffentlichung im Leuchter und Schelers Ent-
wurf (140 – 143). Über ihre erste eigenverantwortliche editorische
Arbeit berichtet Maria Scheler in einem nachgelassenen Heft
lakonisch: »Sommer nach Max Tod. ›Stellung des Menschen im
Kosmos‹ für Reichl-Verlag druckfertig gemacht. Korrekturen
gelesen.«323 Das »Druckfertig-machen« bestand hauptsächlich
darin, anhand eines Exemplars der Veröffentlichung im Leuch-

322 Man kann also nicht sagen, dass Scheler ȟber der Fertigstellung
der ›Philosophischen Anthropologie‹« gestorben sei, wie es Frings wie­
derholt behauptet hat (GW 9, S. 346; GW 12, S. 345; GW 13, S. 273). Ma­
ria Scheler hat 1947 in einem Brief an O. Reichl dieses Gerücht als »ge­
schmacklos« bezeichnet, Reichl schrieb es Keyserling zu. Es lebt wieder
auf bei Thomas Seng, Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der
Otto Reichl Verlag 1909 – 1954, St. Goar 1994, S. 500.
323 Maria Scheler, »Meine Arbeit seit 1928«, Ana 315, F.III.4, Heft 3, 2.
Abschnitt.
Zur Textgenese *269

ter einige redaktionelle Textänderungen vorzunehmen:324 ein­


geklammerte Satzteile zu »entklammern« und stattdessen zwi­
schen Kommas zu setzen, Interpunktionen zu überprüfen und
ggf. zu korrigieren, Hervorhebungen aufzuheben und neue Her­
vorhebungen einzufügen, gelegentlich die Absatzeinteilung zu
ändern, Druckfehler zu korrigieren, einzelne stilistische Ver­
besserungen vorzunehmen (z. B. »ist hierdurch erfolgt« in: »war
die Folge«, S. 94,22), die Wortstellung in einzelnen Sätzen zu än­
dern, komplexe Satzgefüge zu vereinfachen, Fremdwörter durch
deutsche Wörter zu ersetzen (»Psychizität« durch »Beseeltheit«,
S. 55,5 f.), einzelne Sätze in die Fußnoten zu versetzen (56,15 f.)
– im Ganzen also eine eher zurückhaltende Änderung des im
Leuchter veröffentlichten Textes.
Wichtiger ist ihre Verdeutlichung der Gliederung des Textes.
Ursprünglich bestand sie nur darin, dass einzelne Absätze mit
Initialen begannen und an bestimmten Stellen eine Leerzeile
eingefügt wurde, die den Beginn eines neuen Hauptabschnitts
markierte. In diese Leerzeilen setzte sie nun römische Ziffern,
und zur Übersicht der Gliederung in Haupt- und Unterab­
schnitte stellte sie dem gesamten Text ein Inhaltsverzeichnis
voran, für das sie, da es dazu nur einige vorläufige Angaben
in Schelers Manuskripten gab, eigene textnahe Formulierun­
gen einsetzte. Dabei wird ihr die Zusammenarbeit mit Scheler
im August 1927 geholfen haben. Da der Verlag den Drucksatz
der Leuchter-Ausgabe nicht übernehmen konnte, musste er ei­
nen Neusatz vornehmen, wodurch sich mehrere Druckfehler
eingeschlichen haben.325 Schließlich erweiterte sich durch eine
geringfügige Änderung des Satzspiegels der Umfang der »Son­
derstellung« von 93 auf 100 Seiten.326

324 Vgl. das ausschließlich von Maria Scheler bearbeitete Exemplar


D.IX.7a.
325 Z. B.: 29,26: dassselbe; 30,4: Intellegenz; 40,3: Sachverhlat; 53,3:
­Beseelheit; 120,23: Grundstein der Diege.
326 Vgl. im einzelnen unten den Abschnitt »Zur vorliegenden Aus­
gabe«.
*270 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Dem Börsenblatt des deutschen Buchhandels zufolge er­


schien der Sonderdruck in einer Auflage von 3000 Exemplaren
und wurde im August 1928 ausgeliefert; die zweite Auflage von
1930 umfasste das 4. bis 6. Tausend. Maria Scheler gab wieder­
holt an, dass 1929 eine zweite Auflage erschienen sei, 327 doch
dafür gibt es keine Belege; vermutlich war die zweite Auflage
bereits für 1929 geplant, verzögerte sich aber bis 1930. Um nicht
unnötig die übliche Auflagenzählung zu ändern, zählen wir die
Veröffentlichung der »Sonderstellung« im Leuchter wegen der
weitgehenden Übereinstimmung der Texte als die erste Auflage
der Kosmos-Schrift.

Vierte Phase: Maria Schelers Nachkriegsausgaben

Mit dem Sonderdruck von 1928 und der von diesem nur wenig
abweichenden zweiten Auflage von 1930 scheint die Kosmos-
Schrift diejenige Fassung erhalten zu haben, die den auf das
Thema der Sonderstellung begrenzten Intentionen Schelers ein
Jahr vor dem geplanten Erscheinen seiner Philosophischen An-
thropologie noch am ehesten entsprochen haben mochte. Dieser
Auffassung widerspricht allerdings die im Entwurf geäußerte
Erweiterungsabsicht. Eine auch noch darüber hinausgehende
Erweiterung hätte bedeutet, die Kosmos-Schrift zu einer Teil­
ausgabe der Philosophischen Anthropologie anwachsen zu las­
sen, was in niemandes Interesse lag. Man könnte sich allerdings
leicht eine Bearbeitung etwa wie beim Vortrag über Die Formen
des Wissens und die Bildung (1925) vorstellen, der einen relativ
umfangreichen Abschnitt neu hinzugefügter Anmerkungen er­
halten hat. In der Regel benutzte Scheler solche Anmerkungen,
um zu zeitgenössischen Theorien Stellung zu nehmen oder um
auf ausführlichere oder »streng wissenschaftliche« Ausführun­
gen in demnächst erscheinenden eigenen Werken hinzuweisen.

327 Ebenso noch Thomas Seng, Weltanschauung als verlegerische


Aufgabe, a. a. O., S. 414.
Zur Textgenese *271

Im Fall der Kosmos-Schrift hätte es sich dann um Ausführun­


gen zu dem Verhältnis zwischen dem Sonderdruck und der
Philosophischen Anthropologie handeln können oder auch um
Stellungnahmen zur Anthropologie etwa von Plessner und Hei­
degger, eventuell auch zur Anthropologie von Peter Wust, wie es
im Entwurf der Vorrede angedeutet wird. Doch von solchen, in
Schelers bisheriger Arbeitspraxis und in seinen philosophischen
Intentionen vorgebildeten Erweiterungen enthält der Sonder­
druck von 1928/30 nichts.
Nach Schelers Tod wurde die Edition und Verbreitung von
Schelers Lebenswerk zum eigentlichen Lebensinhalt von Ma­
ria Scheler. Sie begann spätestens 1929 mit Vorarbeiten zu ei­
ner Ausgabe von Schelers Nachlass, wobei sie sich von einigen
Freunden und Schülern Schelers beraten ließ.328 Dass sie sich
nicht sogleich den nachgelassenen Fragmenten der Philosophi-
schen Anthropologie zuwandte, lag zunächst an dem chaoti­
schen Zustand von Schelers nachgelassenen Schriften, 329 nach
einer genaueren Durchsicht aber auch an der Einsicht, dass es
keine weiteren, hinreichend ausgearbeiteten Manuskriptteile
zur Philosophischen Anthropologie gab. Das Editorengremium
empfahl deshalb, anstelle einer (vor)eiligen Edition von un­
zulänglich ausgearbeiteten Teilen der großen Spätwerke, also
der Metaphysik, Anthropologie und Geschichtsphilosophie,
eine Rekonstruktion der Entwicklung von Schelers Philosophie
seit dem Beginn seiner phänomenologischen Periode vorzube­
reiten. Daraus ging die Veröffentlichung des ersten Nachlass-
Bandes hervor (1933), der unveröffentlichte Schriften zur Ethik
und Erkenntnistheorie hauptsächlich aus den Jahren 1911 – 1914

328 Es bildete sich ein beratendes Editoren-Gremium, das anfangs


vom Direktor der Frankfurter Universitätsbibliothek, Richard Oehler,
geleitet wurde, später von Heidegger. Zu diesem Gremium gehörten au­
ßer Oehler Martin Heidegger, Adhémar Gelb, Walter F. Otto, Paul Lud­
wig Landsberg, später auch F. J. J. Buytendijk und Alexandre Koyré.
329 Vgl. hierzu meinen Bericht: Geist und Buchstabe. Zur Edition von
Schelers Nachlass in der Ausgabe der Gesammelten Werke, Nordhausen
2017.
*272 Wolfhart Henckmann · Einleitung

enthält. Nach dem Erscheinen dieses Bandes stellte das Edi­


toren-Gremium aus unterschiedlichen persönlichen und zeit­
bedingten Gründen seine Arbeit ein, nur Maria Scheler setzte
ihre Arbeiten zur Ordnung, Transkription und Datierung des
Nachlasses fort, soweit es die schwierigen Zeitverhältnisse er­
laubten; sie war die Witwe eines »Mischlings ersten Grades«, die
sich um das Wohl ihres kränkelnden Kindes kümmern muss­te.
In den Jahren 1935 bis 1938 wandte sie sich trotzdem wieder
den Arbeiten zur Anthropologie und Metaphysik zu, 330 doch
alle ihre Ausarbeitungen wurden 1942 Opfer eines Bomben-
angriffs.
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs nahm sie ihre frü­
heren Arbeiten erneut auf und bereitete einen Neudruck der
Kosmos-Schrift vor: Sie erschien 1947 als erste Veröffentlichung
einer Schrift Schelers »nach Jahren der Unterdrückung« in der
Münchener Nymphenburger Verlagshandlung. Mit dieser Aus­
gabe wollte Maria Scheler die offenbar doch vorhandene Ab­
sicht Schelers erfüllen, den Text der »Sonderstellung« »nach
verschiedenen Seiten zu ergänzen« (1947, Vorbemerkung). Dies
tat sie nach Maßgabe des »Vortragsmanuskripts«, worunter
sie anfangs nur das Heft B.I.17 verstand. Sie interpretierte also
Schelers Erweiterungsabsicht nicht im Sinne seiner bisherigen
Arbeitspraxis, sondern allein nach dem Inhalt des Vortragsma­
nuskripts, und dies auch nicht als eine annähernd vollständige
Wiedergabe des Vortragsmanuskripts (über dessen Umfang und
Teile sie sich keine Rechenschaft gab), sondern als Ergänzung
der »Sonderstellung« durch ausgewählte Abschnitte aus B.I.17
und B.I.2. Dadurch blieb sie hinter den Erweiterungsabsichten
des Entwurfs der Vorrede zurück. Andererseits lassen einige Er­
gänzungen, die in den beiden Manuskriptheften keine Vorlage
haben, vermuten, dass Maria Scheler auch noch andere Doku­
mente aus dem Nachlass oder aus Veröffentlichungen Schelers
benutzt, aber nicht nachgewiesen hat. Diejenigen Abweichungen
der vierten Auflage von den Manuskriptheften, die sich bereits

330 Vgl. das Heft 3, letzte beschriebene Seite, in: F.III.4.


Zur Textgenese *273

in der Veröffentlichung der »Sonderstellung« von 1927 befinden,


gehen möglicherweise auf die Herstellung der Druckfassung im
August 1927 zurück, an der Maria Scheler ja mitgewirkt hat. Alle
übrigen Abweichungen – teils von der Sonderausgabe von 1928,
teils von den Manuskriptheften und schließlich von den beiden
Typoskripten – gehen allein auf Maria Scheler zurück. Sie hätte
noch weitere Ausführungen aus den beiden Manuskriptheften
auswählen können, ganz abgesehen davon, dass sie ihre Ergän­
zungen auch an den Dispositionen zur Anthropologie hätte ori­
entieren können, aber all dies hat sie nicht getan; leider hat sie
sich über die Auswahlkriterien für die Erweiterung ihrer Aus­
gaben nicht weiter geäußert.
Anfangs schien sie sich darauf beschränken zu wollen, in
ein Exemplar der dritten Auflage von 1930 handschriftlich ihre
Ergänzungen und Korrekturen einzutragen, 331 doch da dies zu
unübersichtlich und missverständlich ausfiel, diktierte sie eine
Typoskriptfassung des gesamten erweiterten Textes, die in zwei
Exemplaren vorliegt, dem Original und einem Durchschlag; das
Original war die Druckvorlage für den Verlag (Ts 1), der Durch­
schlag war Maria Schelers Arbeitsexemplar (Ts 2).
Das Typoskript hält sich weitgehend an den Verlauf des Son­
derdrucks von 1930 und der Vortragsmanuskripte B.I.17 und
B.I.2, auf deren Seitenzahlen sie in ihrem Arbeitsexemplar
mehrfach hinweist. Im Vergleich mit der Leuchterfassung von
1927 hat sie neue Absatzeinteilungen vorgenommen, außerdem
Text- und Wortumstellungen, stilistische Veränderungen, Kor­
rekturen der Interpunktion, Änderungen der Hervorhebungen,
und sie hat auch nachträglich noch in das Typoskript weitere
Ergänzungen handschriftlich eingetragen, die sie aber nicht
immer vollständig und genau in beide Exemplare eintrug, so
dass in Einzelfällen zweifelhaft bleibt, welche Fassung sie für
die maßgebliche gehalten hat: Mal erscheinen die Ergänzungen
aus dem Verlags-, mal die aus ihrem Arbeitsexemplar im veröf­
fentlichten Text von 1947.

331 Das bearbeitete Exemplar trägt die Signatur D.IX.7f.


*274 Wolfhart Henckmann · Einleitung

Der Auflage von 1947 hat sie außer kurzen Vorbemerkungen


zur Edition noch eine gekürzte Fassung der Vorrede von 1928/30
beigegeben, am Ende des Textes (zum Teil irrtümliche) Korrek­
turen einzelner Angaben der Vorrede, außerdem die Fußnoten
des Sonderdrucks von 1930 mit einigen Ergänzungen und Strei­
chungen. Da Maria Scheler nicht die editorische Verantwortung
für die faktisch von ihr allein hergestellte Neuausgabe überneh­
men und überhaupt ungenannt bleiben wollte, gewann der Ver­
lag den Schriftsteller und Publizisten Gustav René Hocke, der
Anfang der dreißiger Jahre bei Ernst Robert Curtius promoviert
worden war, als Herausgeber, der auch ein Nachwort beisteuerte
(1947, S. 91 – 98). Maria Scheler war mit dem Nachwort jedoch
so wenig einverstanden, dass der Autor und Herausgeber nicht
genannt werden durfte, das Nachwort als »Nachwort des Ver­
lags« deklariert und aus der fünften Auflage von 1949 wieder
ausgeschieden wurde. Mit der sechsten Auflage wechselte sie
zum Francke-Verlag über, bei dem seit 1954 die Ausgabe von
Schelers Gesammelten Werken erschien.
Jede der von ihr nach dem Weltkrieg herausgegebenen Auf­
lagen (von der vierten bis zur sechsten) weist gegenüber den
vorangegangenen Ausgaben Änderungen auf, durch die Maria
Scheler den Intentionen Schelers immer besser gerecht zu wer­
den suchte – was sie im Bereich der von Scheler stark vernach­
lässigten Textgestaltung anstrebte, erfolgte komplementär zu
Schelers unablässigem Bemühen um eine adäquate Darstellung
seiner Philosophie, denn an so gut wie jeder zu seinen Lebzeiten
erschienenen Neuauflage einer seiner Schriften hat Scheler wei­
tergearbeitet. Während diese Seite der allmählichen Ausgestal­
tung seiner Philosophischen Anthropologie mit seinem Tod ab­
brach, setzten sich die Modifikationen der sprachlichen Fassung
seiner Ideen durch Maria Scheler über seinen Tod hinaus fort,
bis sie 1976 durch die Übernahme der noch einmal modifizier­
ten sechsten Auflage in die Ausgabe von Schelers Gesammelten
Werken (GW 9, S. 7 – 71) auf eine editorische Ebene überging, auf
die naturgemäß Max und Maria Scheler keinen Einfluss mehr
ausüben konnten.
Zur vorliegenden Ausgabe *275

Zur vorliegenden Ausgabe

Der gegenwärtigen Ausgabe der Kosmos-Schrift liegt die durch


Scheler für 1927 und durch die Vorrede auch für den erweiter­
ten Sonderdruck autorisierte Fassung der »Sonderstellung« zu­
grunde, wie sie in der von Maria Scheler druckfertig gemachten
Fassung von 1928 überliefert ist. Die Textänderungen und Text­
erweiterungen, die Maria Scheler in ihren späteren Ausgaben
von 1947 an vorgenommen hat und die zum großen Teil aus
Schelers Vortragsmanuskripten stammen, sind in die Fußnoten
versetzt worden, zusammen mit den betreffenden Seitenanga­
ben der Typoskripte Ts 1 und Ts 2, da die vorliegende Ausgabe
so gut es geht von den Eingriffen und Veränderungen Maria
Schelers abgelöst werden sollte. Da Maria Scheler einige ihrer
Textänderungen später wieder rückgängig gemacht hat, wur­
den die Änderungen mit dem Erscheinungsjahr der jeweiligen
Ausgabe angegeben. Folgt den Angaben zur vierten Auflage von
1947 keine Angabe zu einer späteren Auflage, so gilt die An­
gabe von 1947 als die endgültige Version Maria Schelers, resp.
der Auflagen von 1949 oder 1962. Die letzte, zu Lebzeiten Maria
Schelers erschienene siebente Auflage von 1966 ist gegenüber
der sechsten Auflage unverändert geblieben, sogar bis in ein­
zelne, nicht mehr korrigierte Druckfehler hinein. 332 Ortho­
graphie und Zeichensetzung der Druckvorlage von 1928 sind
beibehalten worden; an einzelnen Stellen, an denen es für das
Textverständnis erforderlich erschien, sind Punkt und Komma
in eckigen Klammern hinzugefügt worden.
Zahlen von 1 bis 12 wurden in Abweichung von Schelers Pra­
xis ausgeschrieben. Im Manuskript durchgestrichene Wörter
werden durch einen horizontalen Strich gekennzeichnet.
Der Text des Sonderdrucks von 1928 enthält gegenüber der
Erstveröffentlichung von 1927 einige Änderungen und Zusätze:

332 Zum Beispiel 108,16: Denkgesetz statt Denkgesetze; 116,16: unter­


geordnete statt untergeordneten.
*276 Wolfhart Henckmann · Einleitung

a) das Inhaltsverzeichnis (1928, S. [7 – 8]),


b) die Vorrede (1928, S. 9 – 12),
c) das Namenregister (1928, S. 114 f.),
d) eine dem Inhaltsverzeichnis entsprechende Gliederung des
Textes.

a) Zum Inhaltsverzeichnis. Das Inhaltsverzeichnis des Son­


derdrucks von 1928 ist damals nicht in den laufenden Text über­
tragen worden. In der vorliegenden Ausgabe sind die Titel des
Inhaltsverzeichnisses in den ursprünglich nur durch römische
Ziffern, Leerzeilen und Initialen gekennzeichneten Stellen in
den Text eingefügt worden. Von der vierten Auflage 1947 an hat
Maria Scheler das ursprüngliche Inhaltsverzeichnis abgeändert,
was die Annahme bestärkt, dass auch das erste Inhaltsverzeich­
nis von ihr stammt. Wo 1928 im Inhaltsverzeichnis keine Über­
schriften, aber im Text Leerzeilen oder Initialen vorkommen,
sind textnahe Formulierungen in eckigen Klammern […] ein­
gefügt worden. In einer Anzeige des Reichl-Verlags von 1928
wird die Hauptgliederung der Schrift folgendermaßen ange-
geben:

»Einleitung. Das Problem in der Idee des ›Menschen‹ I. Stu­


fenfolge des Psychophysischen Seins II. Wesensunterschied
von ›Mensch und Tier‹ III. Ideierende Wesenserkenntnis als
Grundakt des Geistes IV. ›Negative‹ und ›klassische‹ Theorie
vom Menschen V. Identität von ›Leib und Seele‹ VI. Zur Me­
taphysik des Menschen, ›Metaphysik‹ und ›Religion‹.«

Dadurch wird zwar die inhaltliche Gliederung der Ausgabe von


1928 nicht vollständig geklärt, insbesondere nicht hinsichtlich
der Untertitel, aber der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit der
Formulierung des Inhaltsverzeichnisses wird dadurch behoben,
dass der Verlag die Hauptgliederung übernommen hat.
b) Zur Vorrede. Die Vorrede wurde »Ende April 1928« un­
terzeichnet, drei Wochen vor Schelers Tod. Dass er die Vorrede
noch selber in der veröffentlichten Form verfasst und durch die
Zur vorliegenden Ausgabe *277

Unterschrift autorisiert hat, ist kaum anzunehmen, aber auch


nicht auszuschließen. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass
sie einschließlich der Datierung von Maria Scheler stammt, da
die Kosmos-Schrift erst nach dem Tode Schelers druckfertig ge­
macht worden ist; es handelt sich also strenggenommen um eine
posthume Ausgabe. Dieser Eindruck sollte offenbar vermieden
werden, so dass die Datierung der Vorrede noch in die Lebens­
zeit Schelers verlegt wurde. Das Buch erschien Anfang August
1928 – Zeit genug, um Schelers Entwurf (S. 140 – 143) nach seinem
Tod noch in eine gemäßigtere Fassung zu bringen.
Scheler befand sich Ende April 1928 in einem gesundheitlich
stark angegriffenen Zustand, mitten beim Umzug von Köln
nach Frankfurt und mit der Vorbereitung seiner ersten Frank­
furter Vorlesungen beschäftigt, die er Anfang Mai zu beginnen
hatte. Vergleicht man den handschriftlichen Entwurf mit der
veröffentlichten Fassung der Vorrede, fallen zwei Besonderhei­
ten auf: Erstens ist von der heftigen Kritik an Plessner nichts
mehr übrig geblieben, ebenso wenig von Schelers Stellungnah­
men zu anderen Autoren, wie Keyserling, Wust oder Heidegger.
Zweitens gibt es bio-bibliographische Irrtümer in den Angaben
zur Entwicklung von Schelers anthropologischen Anschauun­
gen. Scheler legte zwar nie Wert auf die Korrektheit solcher
Angaben, selbst dann nicht, wenn es um die Begründung von
Prioritätsansprüchen ging. Aber nie hätte er auf kritische Äuße­
rungen zur Forschungslage verzichtet, wie die Vorreden zu sei­
nen sonstigen Schriften belegen. Da der Entwurf nicht in seiner
lückenhaften, unausgewogenen Form gedruckt werden konnte,
musste er überarbeitet werden. Dafür kamen außer Maria Sche­
ler auch Freunde oder Schüler Schelers, natürlich auch der Ver­
lag in Frage, aber am Ende übernahm die Aufgabe wohl Maria
Scheler selber, trotz der kritischen psychischen Verfassung, in
die sie durch den plötzlichen Tod Schelers geraten war. Sie hatte
nicht nur im August 1927 an der Druckfassung der »Sonderstel­
lung« mitgewirkt, sondern auch schon frühere Publikationen
Schelers korrekturgelesen, Textgliederungen vorgenommen,
Personen- und Literaturverzeichnisse angelegt. Dass die Vor­
*278 Wolfhart Henckmann · Einleitung

rede dann doch noch eine Anzahl von Irrtümern enthielt, muss
man der Eile zugute halten, in der der Sonderdruck nach dem
Erscheinen von Plessners Stufen des Organischen auf den Markt
gebracht werden sollte. Warum aber kein einziger dieser Fehler
in der Auflage von 1930 korrigiert worden ist und nicht einmal
das inzwischen erfolgte Erscheinen von Mensch und Geschichte
(1929) als Einzelbroschüre angegeben und ebenso wenig die An­
gabe korrigiert wurde, dass das »umfassende Werk«, d. h. die
Philosophische Anthropologie, in Jahresfrist erscheinen werde,
obwohl Maria Scheler bereits begonnen hatte, sich um eine
mehrbändige Ausgabe von Schelers Nachlass zu kümmern und
der Verlag an anderen Stellen des Textes Druckfehler behoben
hatte, lässt sich kaum anders denn aus einem sehr gelockerten
Verhältnis zwischen Verlag und Herausgeberin erklären.
c) Das Namenregister. Vermutlich auf Wunsch des Verlags,
aber auch im Einklang mit Registern, die für andere Werke
Schelers angelegt worden sind, ist auch für den schmalen Band
der Kosmos-Schrift ein Namenregister erstellt worden. Im Na­
menregister von 1928 sind den Namen noch nicht in allen Fäl­
len die Initialen der Vornamen hinzugefügt worden, wie zuneh­
mend in den späteren Auflagen, und einzelne Namen sind falsch
geschrieben, wie »Yennings« oder »Pierce« – auch dies spricht
für einen noch nicht genügend mit der Fachliteratur vertrauten
Verfasser, wie es Maria Scheler gewesen ist. In das Namenregi­
ster der vorliegenden Ausgabe sind auch die von Scheler in den
Fußnoten angeführten Autoren mit ihren Initialen aufgenom­
men worden.
d) Die dem Inhaltsverzeichnis entsprechende Gliederung
des Textes umfasst die Einfügung von römischen Ziffern in
die Leerzeilen, mit denen 1927 ein Hauptabschnitt begann, mit
Ausnahme des vierten (S. 73,3); zur Kennzeichnung des Beginns
von Unterabschnitten wurden wie 1927 die ersten Buchstaben
durch eine Initiale wiedergegeben, in einem Fall aber versetzt:
von S. 56,3 nach S. 52,14; gelegentlich wurden 1928 neue Absätze
gemacht (S. 12,19; 45,10).
Zum Anhang *279

Zum Anhang

Im Anhang sind als Erstes die Manuskripte wiedergegeben, die


von Scheler selber oder von Maria Scheler dem Heft B.I.17 beige­
legt worden sind; sodann folgen Texte aus dem zweiten Anthro­
pologieheft B.I.2 und aus den »Losen Blättern« des Nachlasses.

1. S. 126: Gliederung des Vortrags

Bei der »Gliederung« handelt es sich um eine handschriftlich


mit Bleistift niedergeschriebene Übersicht von sechs Problem­
kreisen, denen Scheler mit Rotstift Zeitangaben hinzugefügt
hat, die er für den gesamten Vortrag (2 Std.) und die einzelnen
Problemkreise vorgesehen hatte. Die Gliederung ist auf eine
Heftseite geschrieben, deren Format von dem des Manuskript­
heftes abweicht, also aus einem anderen Heft stammt. Inhaltlich
weicht die Gliederung erheblich von der veröffentlichten Fas­
sung des Vortrags ab – der Abschnitt 3 über den Geist hat im Un­
terschied zur veröffentlichten Fassung einen deutlich größeren
Umfang als der Abschnitt 2 über den Aufbau der psychischen
Welt. Der Abschnitt 5 über das Leib-Seele-Problem nimmt eine
größere Eigenständigkeit an als in der veröffentlichten Fassung.
Von besonderem Interesse ist der Punkt: »6) Metaphysik des
M[enschen]«. Offenbar wollte Scheler, entgegen seinen Worten
in der Einleitung, von vornherein auch auf die Metaphysik des
Menschen eingehen.

2. S. 127 – 132: Darmstädter Einleitung

Die »Einleitung« zum Darmstädter Vortrag zeigt, dass sich


Scheler in das »Orchestrierungs«konzept Keyserlings einord­
nen wollte und dass er einen Übergang in das unter einem ganz
anderen Titel stehende Manuskriptheft herzustellen suchte. Das
lässt darauf schließen, dass er das Manuskriptheft ursprüng­
*280 Wolfhart Henckmann · Einleitung

lich gar nicht für den Zweck des Darmstädter Vortrags ausge­
arbeitet hat, sondern dass es einen Teil eines anderen Projekts
bildet, etwa der Philosophischen Anthropologie, so dass Scheler
sein Manuskript erst während des Vortrags spontan dem von
Keyserling vorgegebenen Thema anzupassen suchte. Deshalb
blieben auch die Partien, die er den »Monopolen« gewidmet
hatte, in Darmstadt unberücksichtigt. Mit dem Abschnitt über
»Mensch und Gott« wich Scheler deutlich von Keyserlings Vor­
gaben ab. Es scheint, dass Scheler der Tagung nicht ein so großes
Gewicht beigemessen hat, dass er es für nötig gehalten hat, für
das vereinbarte Thema ein besonderes Manuskript auszuarbei­
ten, vielmehr scheint er vorgezogen zu haben, an seiner Philo-
sophischen Anthropologie weiterzuarbeiten und aus diesen Ma­
nuskripten etwas Passendes für die Tagung auszuwählen. Dazu
gehören für den letzten Teil des Vortrags auch Ausführungen
aus dem zweiten Manuskriptheft (B.I.2), was die sprunghafte
Anordnung der einzelnen Abschnitte seines Vortrags erklärt.
Andererseits spricht er im Vortragsmanuskript auch einmal den
Veranstalter persönlich an, so dass das Manuskript doch für die
Darmstädter Tagung gedacht war. Die Abweichung der beiden
Titel bleibt also ungeklärt.

3. S. 146 – 149: Sublimirung

Die Notizen zur »Sublimirung«, vermutlich nach dem Darm­


städter Vortrag in enger Bindung an den geplanten Nietzsche-
Vortrag entstanden, hat Scheler als eine relativ ausführliche
Ergänzung dem Manuskriptheft B.I.17 beigelegt. Sie stellen
ein charakteristisches Beispiel für seinen kreativen Umgang
mit überlieferten oder aktuellen Theorien, hier mit der Theorie
Freuds dar, die Scheler so modifiziert, dass sie einen weiterfüh­
renden Ausbau seiner eigenen Anschauungen bilden. Durch die
Sublimierungslehre hat er nachträglich die gesamte Aufbauord­
nung der Lebewelt umgedeutet, die Scheler im ersten Abschnitt
dargestellt hat.
Zum Anhang *281

Texte aus dem zweiten Anthropologieheft B.I.2

4. S. 133 – 135: Freiheit


5. S. 135 – 139: Unsterblichkeit

Die Notizen zu Freiheit und Unsterblichkeit stammen aus dem


zweiten Anthropologieheft, in dem es um die metaphysische
Sonderstellung des Menschen geht. Sie sind weniger als Noti­
zen zu einer eigenständigen Behandlung der beiden klassischen
Themen der speziellen Metaphysik zu lesen denn als Andeutung
ihrer Auffassung im Rahmen der philosophischen Anthropolo­
gie. Dadurch stellen sie zugleich Stellungnahmen zu Auffassun­
gen dar, die Scheler in seiner theistischen Periode vertreten hat
– teils in den Untersuchungen »Zur Phänomenologie und Me­
taphysik der Freiheit« aus den Jahren 1912/14 (GW 10, S. 155 – 173),
teils in den zur gleichen Zeit entstandenen Ausführungen über
»Tod und Fortleben« sowie in Skripten aus einer Vorlesung über
die Unsterblichkeit aus dem SS 1921. Die beiden Abschnitte bil­
den den Abschluss der Argumente, mit denen Scheler im zwei­
ten Anthropologieheft seine Lehre vom »unfertigen Gott«, der
durch den Menschen erlöst werden soll, verteidigen wollte.

6. S. 144 – 145: Disposition

Die Disposition stammt ebenfalls aus dem zweiten Manuskript­


heft B.I.2 und kann als der letzte Entwurf zu einer Gesamtglie­
derung von Schelers Philosophischer Anthropologie angesehen
werden. Zusammen mit anderen Dispositionen belegen und
variieren sie, was Scheler im Vorwort zur Ethik gesagt hat: Ih­
nen allen fehlt in größerem oder geringerem Maße »jene klare
Durchsichtigkeit […], die in kontinuierlicher Folge geschriebene
Werke zu besitzen pflegen« (GW 2, S. 10). Auch die Anthropolo­
gie hat Scheler nicht kontinuierlich ausarbeiten können. Diese
Arbeiten verliefen, immer wieder unterbrochen, parallel zu Ar­
beiten an anderen Projekten, vor allem an der Metaphysik, mit
*282 Wolfhart Henckmann · Einleitung

der sie sich vielfach überschneiden. Die im Anhang abgedruckte


Disposition gibt noch nicht einmal einen vollständigen Über­
blick über den Aufbau von Schelers Philosophischer Anthropolo-
gie, wie er ihn sich zuletzt vorgestellt hat, sondern ist realiter wie
idealiter ein Fragment geblieben, das Bruchstück eines Einblicks
in die Struktur der Großen Anthropologie.

Aus den »Losen Blättern« des Nachlasses

7. S. 140 – 143: Schelers Entwurf der Vorrede

Der Entwurf der Vorrede ist irgendwann in dem halben Jahr


zwischen dem Erscheinen der »Sonderstellung« und dem Tod
Schelers am 19. Mai 1928 entstanden, mit einiger Sicherheit vor
dem 7.3.1928, dem Datum seiner Rundfunkrede über die »Phi­
losophische Weltanschauung«.
Der Entwurf zeigt, dass Scheler vorhatte, im Abschnitt über
die Metaphysik des Menschen die klassischen Fragen von Frei­
heit und Unsterblichkeit aufzugreifen, die beide in der veröf­
fentlichten Fassung der Vorrede nicht mehr vorkommen. Maria
Scheler hat auf einer ihrer Abschriften notiert: »ev. später erst«
(CA.XI.17, S. 18). Die beiden Abschnitte »Freiheit« und »Unsterb­
lichkeit« (die Titel hat Scheler nachträglich am Rand des Heftes
mit Rotstift eingetragen) gehören zu den Ausführungen über die
»Metaphysische Sonderstellung des Menschen« (B.I.2, S. 35 – 55),
deren Abschluss sie bilden. Da Scheler für die Sonderausgabe
keine Bearbeitung der Ausführungen zu Freiheit und Unsterb­
lichkeit hinterlassen hat, hat Maria Scheler kurzerhand auf die
Erwähnung dieser beiden metaphysischen Themen verzichtet.
Sie gehören aber zu Schelers Konzept der Sonderausgabe und
dokumentieren das erreichte Stadium der Textgenese wie auch
den Versuch Maria Schelers, die Kosmos-Schrift als einen Ab­
schluss und nicht wie Scheler nur als eine Stufe auf dem Weg zu
seiner Großen Anthropologie aufzufassen.
Zum Anhang *283

8. Textergänzungen Maria Schelers

Die von Maria Scheler den nach dem zweiten Weltkrieg erschie­
nenen Auflagen hinzugefügten Ergänzungen, die sie zum gro­
ßen Teil den beiden Anthropologieheften entnommen hat, sind
in den Textfassungen der Typoskripte Ts 1 und Ts 2 wiederge­
geben. Sie dienen der Vervollständigung des Gesamtbildes, das
sich Maria Scheler von der Stellung des Menschen im Kosmos
gemacht hat.
Verzeichnis der Abkürzungen

Fn. Fußnote
gestr. gestrichen
GW Gesammelte Werke
hs. handschriftlich
korr. korrigiert
Ms. Manuskript
resp. respektive
Ts Typoskript
Ts 1 Typoskript für die vierte Aufl. der Kosmos-Schrift, Ver­
lagsexemplar
Ts 2 Durchschlag von Ts 1, Exemplar der Herausgeberin
Ts 1/2 beide Typoskripte
u. a. unter anderem
u. ö. und öfter
v verso, Rückseite
v. von
Z. Zeile
+ plus (im Ms. statt »und«)
[…] Einfügung durch den Herausgeber oder ausgelassene Teile
eines Zitats
Text im Ms. durchgestrichenes Wort
Literaturverzeichnis

Schelers Gesammelte Werke

GW 1 – 15: Max Scheler, Gesammelte Werke, hrsg. von Maria ­Scheler


(1954 – 1969) und Manfred S. Frings (1970 – 1997), Bern/München/
Bonn:

GW 1 (1971) Frühe Schriften.


GW 2 (1954, Der Formalismus in der Ethik und die materiale
korr. 1966) Wertethik. Neuer Versuch der Grund­legung
eines ethischen Personalismus.
GW 3 (1955) Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und
Aufsätze.
GW 4 (1982) Politisch-pädagogische Schriften.
GW 5 (1954) Vom Ewigen im Menschen.
GW 6 (1963) Schriften zur Soziologie und Weltanschauungs-
lehre.
GW 7 (1973) Wesen und Formen der Sympathie;
Deutsche Philosophie der Gegenwart.
GW 8 (1960) Die Wissensformen und die Gesellschaft.
GW 9 (1976) Späte Schriften.
GW 10 (1957) Schriften aus dem Nachlass,
Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre.
GW 11 (1979) Schriften aus dem Nachlass,
Bd. 2: Erkenntnislehre und Metaphysik.
GW 12 (1987) Schriften aus dem Nachlass,
Bd. 3: Philosophische Anthropologie.
GW 13 (1990) Schriften aus dem Nachlass,
Bd. 4: Philosophie und Geschichte.
GW 14 (1993) Schriften aus dem Nachlass, Bd. 5: Varia I.
GW 15 (1997) Schriften aus dem Nachlass, Bd. 6: Varia II.
*286 Literaturverzeichnis

Der Nachlass Schelers (Ana 315) in der Bayerischen Staatsbibliothek


München wird mit den Manuskriptsignaturen des Verzeichnisses
von Eberhard Avé-Lallemant zitiert: Die Nachlässe der Münchener
Phänomenologen in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden
1975, S. 41 – 124.
Bücher und Schriften der Privatbibliothek Schelers werden mit der
Signatur: Ana 315.Z.[Nr. des Werkes] angegeben.
Schelers Briefe an Märit werden nur mit dem Datum nachgewiesen;
sie finden sich chronologisch geordnet unter der Signatur Ana 385,
E.I.1.

Ausgaben der Kosmos-Schrift

1927 Erste Veröffentlichung unter dem Titel »Die Sonderstellung


des Menschen« in: Mensch und Erde, hrsg. v. Hermann Graf
Keyserling, Darmstadt: Otto Reichl 1927 (Der Leuchter, Bd. 8),
S. 161 – 254.
1928 Zweite, erweiterte Veröffentlichung unter dem Titel Die Stel-
lung des Menschen im Kosmos, Darmstadt: Otto Reichl 1928,
115 S. (1.-3. Tsd.).
1930 Dritte Auflage der Stellung des Menschen im Kosmos, Darm­
stadt: Otto Reichl 1930, 115 S. (4.-6. Tsd.)
1947 Vierte, erweiterte Auflage, bearbeitet von Maria Scheler, Mün­
chen: Nymphenburger Verlagshandlung 1947, 99 S. (1.-10. Tsd.)
– »Ein Neudruck, der nach dem Vortragsmanuskript ergänzt
worden ist.« [Aus dem Vorwort von Maria Scheler, S. 5; im An­
hang S. 91 – 98 das »Nachwort des Verlags« stammt von Gustav
René Hocke, der als Verfasser auf Wunsch Maria Schelers nicht
genannt wurde.]
1949 Fünfte Auflage, München: Nymphenburger Verlagshandlung
1949, 95 S. (ohne das »Nachwort des Verlages« von Gustav René
Hocke) (11.-15. Tsd.)
1962 Sechste Auflage, hrsg. v. Maria Scheler, Bern/München:
Francke 1962, 99 S. – »Die Schrift ›Die Stellung des Menschen
Ausgaben der Kosmos-Schrift *287

im Kosmos‹ erscheint in ihrer 6. Auflage nunmehr im Francke


Verlag, in welchem auch die Gesammelten Werke Max Schelers
veröffentlicht werden. Der Text der in den – für Herausgabe
wie Drucklegung schwierigen – ersten Nachkriegsjahren er­
schienenen 4. und 5. Auflage ist durchgesehen, und seinerzeit
unterlaufende Unstimmigkeiten sind ausgemerzt worden. –
Die (nicht überlieferte) ›Inhalts‹angabe ist für diesen Neudruck
neu formuliert worden.« [Nachwort von Maria Scheler, S. 94;
die »Anmerkungen« der Herausgeberin sind neu verfasst und
vermehrt worden, Schelers Vorrede zur ersten Auflage 1928
vollständig abgedruckt, einschließlich der meisten der bio-
bibliographischen Irrtümer, die Personen im Personenver­
zeichnis nun mit ihren Initialen.]
1966 Siebente Auflage, unverändert, 99 S.
1975 Achte Auflage, unverändert, 99 S.
1976 Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften. Mit einem Anhang
hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern/München: Francke 1976,
S. 7 – 71. – »Der Text wurde für die von ihr [Maria Scheler]
weiter besorgten Auflagen aufgrund der Manuskriptvorlage
erweitert und in der siebten Auflage von 1966 (bzw. im Neu­
druck von 1975) mit einer Anzahl von Verweisen auf andere
Werke des Verfassers versehen, die im vorliegenden Text teil­
weise verwertet wurden. Eine Anzahl anderer Verweise sind
neu hinzugetreten.
  Der geschilderte Sachverhalt lässt den Schluss zu, dass das
gesprochene Wort des Vortrages über die Manuskriptvor­
lage (wie gewöhnlich bei den Vorträgen des Verfassers) hin­
ausgegangen ist (die Vortragsdauer wird bis zu vier Stunden
angegeben). Um den Fluss des gesprochenen Wortes so weit
wie möglich zu erhalten, ist im vorliegenden Abdruck in den
›Gesammelten Werken‹ darauf verzichtet worden, eine der drei
verschiedenen Inhaltsangaben einzubeziehen, die sich in der
Sonderveröffentlichung von 1928, der vierten und fünften bzw.
sechsten bis achten Auflage befinden.« [Aus dem Nachw. des
Herausgebers, GW 9, S. 346.]
1978 Neunte Auflage, unverändert, 99 S.
*288 Literaturverzeichnis

1983 Zehnte Auflage, unverändert, 99 S.


1983 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: Chre-
stomathie zur Geschichte der neuesten und gegenwärtigen bür-
gerlichen Philosophie in 2 Bänden (Von 1840 bis zur Gegen­
wart), hrsg. v. Hans-Martin Gerlach und Sabine Mocek […]
im Auftrag des Beirats für Philosophie beim Ministerium für
Hoch- und Fachschulwesen, Bd. II/1, Zwickau [1983], S. 5 – 62.
[Text nach der 4. Aufl. 1947, S. 9 – 86, ohne die Anmerkungen
zur Vorrede und zum Text.]
1988 Elfte Auflage, unverändert, Bonn: Bouvier Verlag, 99 S.
1991 Zwölfte Auflage, unverändert, 99 S.
1994 Max Scheler, Der Mensch als mikrokosmischer Repräsentant
des Ganzen, in: Scheler, Schriften zur Anthropologie, hrsg. v.
Martin Arndt, Stuttgart 1994 (reclam 9337), S. 126 – 217. [Text
nach GW 9, S. 9 – 71.]
1995 13., verbesserte Auflage, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bonn:
Bouvier 1995, 99 S. – »Die vorliegende 13. Auflage weist Ver­
änderungen aller seit 1962 und früherer Auflagen des Textes
auf. Einige orthographische Fehler wurden verbessert. Die
Anmerkungen auf den Seiten 95 und 96 wurden neu herausge­
geben und dem gegenwärtigen Stand der Gesammelten Werke
Max Schelers, Bouvier Verlag Bonn, angeglichen. […] Dem
vorliegenden Text liegt das Manuskript B.I.17 des Nachlasses-
Max-Scheler, München und Albuquerque, New Mexico, USA
zugrunde.« [Aus dem Nachwort von M. S. Frings, S. 94.]
1998 14. Auflage, unverändert, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bonn:
Bouvier 1998, 99 S.
2002 15. Auflage, unverändert, 98 S.
2005 16., durchgesehene Auflage, hrsg. v. M. S. Frings, 112 S.
2007 17. Auflage, unverändert, 112 S. (Bouviers Bibliothek, 11), Copy­
right 1986!
2010 18. Auflage, Reprint von GW 9, S. 7 – 71, 67 S.
Übersetzungen *289

Übersetzungen

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Die Sonderstellung des Menschen, übers. v. Yataka Oshima, Tokyo
1928.

1936 Spanisch
El puesto del hombre en el cosmos, trad. di José Gaos, Madrid: Revista
de Occidente 1929; sec. edizione ampliata 1936.
El puesto del hombre en el cosmos, pref. di Francisco Romero, trad. di
José Gaos, Buenos Aires: Losada1938; ristampe 1943, 1957.
El puesto del hombre en el cosmos. La idea de la paz perpetua y el
pacifismo. Introducción de Wolfhart Henckmann, traducción de
Vicente Gómez, Barcelona: Alba Editorial 2000.

1951 Französisch
La situation de l’homme dans le monde, trad. et préf. par M. Dupuy,
Paris: Aubier 1951.

1961 Englisch
Man’s Place in Nature, trad. and introd. by H. Mayerhoff, Boston:
Beacon Press 1961.
The Human Place in the Cosmos. Transl. from the German by Man­
fred S. Frings, Introduction by Eugene Kelly, Northwestern Univ.
Press, Evanston, Illinois 2009, 79 S. (Northwestern University Stu­
dies in Phenomenology and Existential Philosophy).

1968 Tschechisch
Místo človeka v kosmu, Praha: Academia 1968. Vorwort von Jan
Patočka: M. Scheler. Versuch einer Gesamtcharakteristik, S. 5 – 41.
Auch in J. Patočka, Texte, Dokumente, Bibliographie, hrsg. v. L.
Hagedorn und H. R. Sepp, Freiburg/München 1999, S. 338 – 382.

1970 Italienisch
La posizione dell’uomo nel cosmo e altri saggi, a cura di R. Padellaro,
Milano: Fratelli Fabbri Editori 1970.
La Posizione dell’Uomo nel Cosmo. Traduzione dall’edizione originale
del 1928 a cura di Guido Cusinato, Milano: FrancoAngeli 2000.
*290 Literaturverzeichnis

1988 Russisch
Maks Scheler. Polozhenije cheloveka v kosmose, übers. von A. F. Fi­
lippov. ‑ In: Problema cheloveka v zapadnoj filosofii. Hg. von P. S.
Gurevich und Ju. N. Popov, Moskva, Progress Verlag, 1988.
Max Scheler. Die Stellung des Menschen im Kosmos / Maks Scheler.
Polozhenije cheloveka v kosmose. Zweisprachige Deutsch‑Russi­
sche Ausgabe. Übers. und Kommentar von A. V. Denezhkin und
A. N. Malinkin. Hrsg. von A. V. Denezhkin. – In: Maks Scheler.
Izbrannyje proizvedenija, Moskva, Gnosis Verlag, 1994.

1989 Chinesisch
Die Stellung des Menschen im Kosmos, übers. v. Li Bojie, Guizhou.

2001 Rumänisch
Pozitia omului in cosmos, traducere de Vasile Musca; Conceptia fi­
lozifica destre lume, traducere de Alexandru Boboc, Postata de
Alexandru Boboc, Bukarest: Editura Paralela 2001.

2005 Kroatisch
Čovjekov položaj u kosmosu, übers. v. Marinko Miškovil, eingel. v.
Milan Galovič, Zagreb.

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Zu Schelers Anthropologie (Auswahl) *293

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200 f. Später in: Peter Wust, Gesammelte Werke, Bd. VII, Münster,
243 – 287.
MA X SCHELER

Die Stellung des Menschen im Kosmos


9 | 10 3

Vorrede

D ie Arbeit stellt eine kurze, sehr gedrängte Zusammen­


fassung meiner Anschauungen über einige Hauptpunkte
der »Philosophischen Anthropologie« dar, die ich seit Jahren
5 unter der Feder habe und die zu Anfang des Jahres 1929 erschei­
nen wird. Die Fragen : »Was ist der Mensch, und was ist seine
Stellung im Sein ?« haben mich seit dem ersten Erwachen mei­
nes philosophischen Bewußtseins wesentlicher und zentraler
beschäftigt als jede andere philosophische Frage. Die langjäh­
10 rigen Bemühungen, in denen ich von allen möglichen Seiten
her das Problem umringte, haben sich seit dem Jahre 1922 in
der Ausarbeitung eines größeren dieser Frage gewidmeten Wer­
kes zusammengefaßt, und ich hatte das zunehmende Glück, zu
sehen, daß der Großteil aller Probleme der Philosophie, die ich
15 schon behandelt, in dieser Frage mehr und mehr koinzidierten.
Von vielen Seiten wurde mir der Wunsch ausgesprochen, daß
mein im April 1927 in Darmstadt gelegentlich der Tagung der
Schule der Weisheit gehaltener Vortrag : »Die Sonderstellung des
Menschen« (siehe auch Der Leuchter VIII 1927) als Sonderdruck
20 erscheine. Diesem Wunsche wird hiermit entsprochen. Will der
Leser die Stufen der Entwicklung meiner Ansichten über den
großen Gegenstand kennenlernen, so empfehle ich ihm nach­
einander zu lesen : 1. Die Abhandlung »Zur Idee des Menschen«,
zuerst erschienen in der Zeitschrift »Summa« 1918, später aufge­
25 nommen in meine gesammelten Aufsätze und Abhand | lungen :
»Vom Umsturz der Werte«, Band 1, 3. Auflage 1927, Leipzig, Ver­
lag »Neuer Geist«. Ferner meine Abhandlung : »Das Ressenti­
ment im Aufbau der Moralen« (daselbst). – 2. Die entsprechen­
den Abschnitte in meinem Werke : »Formalismus in der Ethik
30 und die materiale Wertethik«, (1913) 3. Aufl., Niemeyer, Halle,

8 und zentraler ] 1962, 5 : gestr. 10 möglichen ] 1962, 5 : gestr. 19 auch ]


1962, 5 : gestr. 24 später ] 1962, 5 : gestr.
4 Vorrede 10 | 11

Seite 927.* Ferner die entsprechenden Abschnitte über die Spe­


zifität des menschlichen Gefühlslebens in meinem Buche :
»Wesen und Formen der Sympathie«, 3. Auflage, Cohen, Bonn.
– 3. Über das Verhältnis des Menschen zur Geschichts- und
Gesellschaftslehre wäre heranzuziehen mein Aufsatz »Mensch 5
und Geschichte« in »Neue Rundschau«, November 1926, Herbst
1928 voraussichtlich im Verlag der Neuen Schweizer Rundschau,
Zürich, als Einzelbroschüre erscheinend; und mein Werk : »Die
Wissensformen und die Gesellschaft«, Verlag »Neuer Geist«
1926. Über das Verhältnis von Mensch, Wissen und Bildung ver­ 10
gleiche : »Die Formen des Wissens und die Bildung«, Cohen,
Bonn, 1925. – 4. Über Entwicklungsmöglichkeiten des Men­
schen äußerte ich mich in meinem Vortrag : »Der Mensch im
kommenden Zeitalter des Ausgleiches«, abgedruckt in dem
demnächst erscheinenden Sammelband : »Ausgleich als | Auf­ 15
gabe und Schicksal«, herausgegeben von der Hochschule für
Politik in der Reihe »Politische Wissenschaft«, Berlin, Verlag W.
Rothschild, 1928.
In meinen an der Universität Köln zwischen 1922 – 1928
gehaltenen Vorlesungen über die »Grundlagen der Biologie«, 20
über »Philosophische Anthropologie«, »Erkenntnistheorie«
und »Metaphysik« habe ich – weit hinaus über das hier gege­
bene Fundament – meine Forschungsergebnisse mehrfach ein­
gehend vorgelegt.
Ich darf mit einiger Befriedigung feststellen, daß die Pro­ 25
bleme einer philosophischen Anthropologie heute geradezu in
den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutsch­

*Zu beachten sind hier u. a. die Abschnitte über die Realitätserfah­


rungs- und Wahrnehmungslehre S. 109 ff.; über die Ablehnung der natu­
ralistischen Theorien vom Menschen S. 278 ff.; über die Schichtung des 30
emotionalen Lebens, S. 340 ff., und über die Person, S. 384 ff. Vgl. auch
nach dem eingehenden Sachregister zur 3. Aufl. die Hinweise unter dem
Stichwort »Mensch«, »physisch«, »psychisch« usw. usw.

24 vorgelegt ] 1962,6 : dargelegt 25 einiger ] 1962,6 : gestr. 32 einge-


henden ] 1962,6 : ausführlichen
11 | 12 Vorrede 5

land getreten sind und daß auch weit hinaus über die philo­
sophischen Fachkreise Biologen, Mediziner, Psychologen und
Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Men­
schen arbeiten.
5 Aber dessenungeachtet hat die Selbstproblematik des Men­
schen in der Gegenwart ein Maximum in aller uns bekannten
Geschichte erreicht. In dem Augenblick, da der Mensch sich ein­
gestanden hat, daß er weniger als je ein strenges Wissen habe
von dem, was er sei, und ihn keine Möglichkeit der Antwort auf
10 diese Frage mehr schreckt, scheint auch der neue Mut der Wahr-
haftigkeit in ihn eingekehrt zu sein, diese Wesensfrage ohne die
bisher übliche ganz-, halb- oder viertelsbewußte Bin­dung an
eine theologische, philosophische und naturwissenschaftliche
Tradition in neuer Weise aufzuwerfen und – gleichzeitig auf der
15 Grundlage der gewaltigen Schätze des Einzel | wissens, welche
die verschiedenen Wissenschaften vom Menschen erarbeitet
haben – eine neue Form seines Selbstbewußtseins und seiner
Selbstanschauung zu entwickeln.

Frankfurt am Main, Ende April 1928. MAX SCHELER |

19 Frankfurt … SCHELER ] 1947, 8: gestr.; 1962,7: wieder eingefügt


13 | 14 7

Einleitung : Das Problem in der


Idee des »Menschen«

5
F ragt man einen gebildeten Europäer, was er sich bei dem
Worte Mensch denke, so beginnen fast immer drei unter
sich ganz unvereinbare Ideenkreise in seinem Kopfe miteinan­
der in Spannung zu treten. Es ist einmal der Gedankenkreis der
jüdisch-christlichen Tradition von Adam und Eva, von Schöp­
fung, Paradies und Fall. Es ist zweitens der griechisch-antike
Gedankenkreis, in dem sich zum erstenmal in der Welt das
10 Selbstbewußtsein des Menschen zu einem Begriff seiner Sonder­
stellung erhob, und zwar in der These, der Mensch sei Mensch
durch Besitz der »Vernunft«, logos, phronesis, ratio, mens usw. –
logos bedeutet hier ebensowohl Rede wie Fähigkeit, das »Was«
aller Dinge zu erfassen. Eng verbindet sich mit dieser Anschau­
15 ung die Lehre, es liege eine übermenschliche »Vernunft« auch
dem ganzen All zugrunde, an der der Mensch, und von allen
Wesen er allein, teilhabe. Der dritte Gedankenkreis ist der ja
auch längst traditional gewordene Gedankenkreis der moder­
nen Naturwissenschaft und der genetischen Psychologie, es sei
20 der Mensch ein sehr spätes Endergebnis der Entwicklung des
Erdplaneten, ein Wesen, das sich von seinen Vorformen in der
Tierwelt nur in dem Komplikationsgrade der Mischungen von
Energien und Fähigkeiten unterscheide, die an sich auch in
der untermenschlichen Natur bereits vorkommen. Diesen drei
25 Ideen­k reisen fehlt jede Einheit untereinander. So besitzen wir
denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine
theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander küm­
mern. Eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen | wir
nicht. Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften,

11 und zwar ] Ts 1/2,1 u. 1947,9 : gestr. 12 usw. ] Ts 1/2,1 u. 1947,9 : gestr.


17 ja ] Ts 1/2,1 u. 1947,9 : gestr. 23 auch ] Ts 1/2,1 u. 1947,9 : gestr.
27 nicht ] 1927,162 folgt : das mindeste
8 Einleitung 14 | 15

die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdecken, so wertvoll


sie sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen,
als daß sie es erleuchten. Bedenkt man ferner, daß die genann­
ten drei Ideenkreise der Tradition heute weithin erschüttert
sind, völlig erschüttert ganz besonders auch die darwinistische 5
Lösung des Problems vom Ursprung des Menschen, so kann
man sagen, daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so
problematisch geworden ist wie in der Gegenwart. Darum habe
ich es unternommen, auf breitester Grundlage einen neuen Ver­
such einer philosophischen Anthropologie zu geben.* Im folgen­ 10
den möchte ich nur einige Punkte, die das Wesen des Menschen
im Verhältnis zu Tier und Pflanze, ferner die metaphysische Son-
derstellung des Menschen betreffen, erörtern und einen kleinen
Teil der Resultate andeuten, zu denen ich gekommen bin. –
¶ Schon das Wort und der Begriff Mensch enthält eine tücki­ 15
sche Zweideutigkeit, ohne deren Durchschauung man die Frage
der Sonderstellung des Menschen gar nicht angreifen kann.
Das Wort soll einmal die Sondermerkmale angeben, die der
Mensch morphologisch, als eine Untergruppe der Wirbel- und
Säugetierart, besitzt. Es ist selbstverständlich, daß, wie immer 20
das Ergebnis dieser Begriffsbildung aussieht, das als Mensch
bezeichnete Lebewesen nicht nur dem Begriff des Tieres unter-
geordnet bleibt, | sondern auch eine verhältnismäßig sehr kleine
Ecke des Tierreiches ausmacht. Das bleibt auch dann noch der
Fall, wenn man den Menschen mit Linné sozusagen die »Spitze 25
der Wirbel-Säugetierreihe« nennt – was übrigens sachlich und
begrifflich sehr bestreitbar ist –, da ja auch diese Spitze wie jede
Spitze einer Sache noch zu der Sache gehört, deren Spitze sie ist.
Aber völlig unabhängig von einem solchen Begriff, der aufrech­

* Das umfassende Werk wird in Jahresfrist erscheinen. 30

1 verdecken ] 1962,9 : verdeckt 2 sie ] 1962,9 : diese 3 erleuchten ]


1962,9 : erleuchtet 5 auch ] Ts 1/2,1 u. 1947,10 : gestr. 11 möchte ich ]
Ts 1/2,1 u. 1947,10 : seien (jeweils mit entspr. geändertem Satz­ bau)
25 sozusagen ] Ts 1/2, 2 u. 1947,10 : gestr. 28 Sache ] 1927,163 folgt : wohl
28 sie ] 1927,163 folgt : eben 30 1947,10 : Fußnote gestr.
16 Das Problem in der Idee des »Menschen« 9

ten Gang, Umgestaltung der Wirbelsäule, Äquilibrierung des


Schädels, die mächtige Gehirnentwicklung des Menschen und
die Organumgestaltungen, die der aufrechte Gang zur Folge
hatte (wie Greifhand mit opponierbarem Daumen, Rückgang
5 des Kiefers und der Zähne usw.), zur Einheit des Menschen
zusammenfaßt, bezeichnet dasselbe Wort »Mensch« in der
Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern, etwas
so total anderes, daß man kaum ein zweites Wort der mensch­
lichen Sprache finden wird, bei dem eine analoge Doppeldeu­
10 tigkeit vorliegt. Das Wort Mensch soll nämlich auch bezeich­
nen einen Inbegriff von Dingen, den man dem Begriff des
»Tieres überhaupt« aufs schärfste entgegensetzt, also auch allen
Säuge- und Wirbeltieren; und diesen im selben Sinne wie etwa
dem Infusorium Stentor, obgleich doch wohl kaum bestreitbar
15 ist, daß das Mensch genannte Lebewesen einem Schimpansen
morphologisch, physiologisch und psychologisch unvergleich­
lich viel ähnlicher ist als Mensch und Schimpanse einem Infu­
sorium. Es ist klar, daß dieser zweite Begriff Mensch einen völ­
lig anderen Sinn, einen ganz anderen Ursprung haben muß als
20 der erste, | der ja nur eine sehr kleine Ecke des Wirbeltierstam­
mes b ­ ezeichnet.* Ich will diesen zweiten Begriff den Wesens-
begriff des Menschen nennen, im Gegensatz zu jenem ersten
natursystematischen Begriff. Ob dieser zweite Begriff, der dem
Menschen als solchem eine Sonderstellung gibt, die mit jeder

25 Vgl. hierzu meine Abhandlung »Zur Idee des Menschen« in dem


*

Buche »Der Umsturz der Werte«, Bd. II. Hier ist nachgewiesen, daß der
traditionelle Begriff des Menschen durch die Ebenbildlichkeit mit Gott
konstituiert ist, daß er also die Idee Gottes als Bezugszentrum bereits
voraussetzt.

5 usw.] Ts 1/2, 2 u. 1947,10 : gestr. 8 so] Ts 1/2, 2 u. 1947,10 : gestr. 10 Das


Wort Mensch] Ts 1/2, 2 u. 1947,11 : Es 10 nämlich ] Ts 1/2, 2 u. 1947,11 :
gestr. 13 diesen im selben Sinne ] Ts 1/2, 2 u. 1947,11 : dies im selben
Maße; 1962 ,11 : diesen im selben Maße 13 etwa ] Ts 1/2, 2 u. 1947,11
folgt : auch 21 der ja … bezeichnet ] 1947,11 : gestr. 22 jenem ] Ts 1/2, 3
u. 1947,11 : dem 25 Menschen« ] 1962,11 : Menschen« (1914) 26 Bd. II ]
1962,11 : gestr. 28 ist ] 1962,11 : wird 28 bereits ] 1962,11 : gestr.
10 Einleitung 16

anderen Sonderstellung einer lebendigen Spezies unvergleich­


bar ist, überhaupt ein Recht habe – das ist das Thema unseres
Vortrags.

2 ein Recht habe ] Ts 1/2, 3 u. 1947,11 : zu Recht bestehe 3 das ist … Vor-
trags. ] Ts 1/2, 3 u. 1947,11 : das ist unser Thema.
16 | 17 11

I. Stufenfolge des psychophysischen Seins

D ie Sonderstellung des Menschen kann uns erst deut­


lich werden, wenn wir den gesamten Aufbau der biopsy­
chischen Welt in Augenschein nehmen. Ich gehe dabei aus von
5 einer Stufenfolge der psychischen Kräfte und Fähigkeiten, wie
sie die Wissenschaft langsam herausgestellt hat. Was die Grenze
des Psychischen betrifft, so fällt sie mit der Grenze des Lebendi­
gen überhaupt zusammen.* Neben den objektiven wesensphä­
nomenalen Eigenschaften der Dinge, die wir lebendig nennen
10 (auf die ich hier nicht genauer eingehen kann, z. B. Selbstbewe­
gung, Selbst | formung, Selbstdifferenzierung, Selbstbegrenzung
in räumlicher und zeitlicher Hinsicht), ist die Tatsache, daß
Lebewesen nicht nur Gegenstände für äußere Beobachter sind,
sondern noch ein Fürsich- und Innesein besitzen, in dem sie sich
15 selber inne werden, ein für sie wesentliches Merkmal. Es ist ein
Merkmal, von dem man zeigen kann, daß es mit jenen objekti­
ven Phänomenen des Lebens an Struktur und Ablaufsform die
innigste Seinsgemeinschaft besitzt. –

Die Lehre, das Psychische beginne erst mit dem »assoziativen Ge­
*

20 dächtnis«, oder erst im Tiere – oder gar erst im Menschen (Desc­a rtes),
hat sich als irrig erwiesen. Willkürlich aber ist es, dem Anorganischen
Psychisches zuzuschreiben.

10 auf die … kann ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,11: auf die hier nicht eingegangen
werden soll 11 Selbstformung ] 1949,14: Selbstforschung; 1962 ,11:
Selbstformung 14 noch ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,11: auch 16 jenen ] Ts 1/2 ,3
u. 1947,11: den 18 besitzt. ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,12 folgt: Es ist die psychische
Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt
– das psychische Urphänomen des Lebens. 19 Ts 1, 3 : Fn. in den Text
versetzt; Ts 2, 3 : im Text durchgestr. und auf Seite 3v als Fn. gekennzeich-
net, dann aber wieder durchgestr.; 1962,11 : als Fn.
12 Stufenfolge des psychophysischen Seins 17 | 18

Gefühlsdrang (Pflanze)

¶ Die unterste Stufe des Psychischen, das sich also objektiv


(nach außen) als »Lebewesen«, subjektiv (nach innen) als »Seele«
darstellt – zugleich der Dampf, der bis in die lichtesten Höhen
geistiger Tätigkeiten alles treibt, auch noch den reinsten Denk­ 5
akten und zartesten Akten lichter Güte die Tätigkeitsenergie
liefert –, bildet der bewußtlose, empfindungs- und vorstellungs­
lose »Gefühlsdrang«. Wie schon das Wort »Drang« besagt, ist
in ihm »Gefühl« und »Trieb«, der als solcher stets eine spezifi­
sche Richtungs- und Zielhaftigkeit »nach« etwas, z. B. Nahrung, 10
Sexualbefriedigung usw., hat, noch nicht geschieden; ein bloßes
»Hinzu«, z. B. zum Licht, und »Vonweg«, eine objektlose Lust
und ein objektloses Leiden, sind seine zwei einzigen Zuständ­
lichkeiten. Von den Kraftzentren und -feldern, die den trans­
bewußten Bildern zugrunde liegen, die wir anorganische Kör­ 15
per nennen, ist der Gefühlsdrang aber bereits scharf geschie­
den; diesen kann ein Innesein in keinem Sinne zugesprochen
werden.
Diese erste Stufe des seelischen Werdeseins, wie sie sich im
Gefühlsdrang darstellt, müssen und dürfen wir schon den | 20
Pflanzen zuweisen.* Keineswegs aber geht es an, wie dies Fechner
getan hat, den Pflanzen auch bereits Empfindung und Bewußt­
sein zuzueignen. Wer wie Fechner »Empfindung« und »Bewußt­

Der Eindruck, der Pflanze mangele ein Innenzustand, rührt nur


*

von der Langsamkeit ihrer Lebensvorgänge her. Vor der Zeitlupe ver­ 25
schwindet dieser Eindruck vollkommen.

4 das sich … darstellt ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,12: gestr. 5 Tätigkeiten ] Ts 1/2 ,3


u. 1947,12: Tätigkeit 8 »Gefühlsdrang« ] Ts 1/2 ,3: korr. aus »Emp­
findungsdrang« 8 Wie schon … besagt, ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,12: gestr.
9 stets ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,12 folgt: bereits 10 Richtungs- ] 1947,12: Rich­
tung 10 z. B. ] Ts 1,5 u. 1947,12 folgt: nach; Ts 2 ,3 u. 1949,14 u. 1962 ,12:
z. B. 11 usw., ] Ts 1/2 ,3 u. 1947,12: gestr. 21 den Pflanzen ] 1947,12: der
Pflanze [entsprechend im Folg.] 24 1947,12 u. 1962,12: Fn. in den Text
versetzt
18 | 19 Gefühlsdrang (Pflanze) 13

sein« als die elementarsten Grundbestandteile des Psychischen


ansieht – es geschieht das mit Unrecht –, der müßte den Pflan­
zen die Beseeltheit absprechen. Zwar ist der Gefühlsdrang der
Pflanze bereits auf ihr Medium, auf ein Hineinwachsen in ihr
5 Medium nach den Endrichtungen »oben« und »unten«, dem
Lichte und der Erde zu, hingeordnet, aber doch nur auf das
unspezifizierte Ganze dieser medialen Richtungen – auf mög­
liche Widerstände und Wirklichkeiten (wichtig für das Leben
des Organismus) in ihnen, nicht aber auf bestimmte Umwelt­
10 bestandteile und Reize, denen besondere Sinnesqualitäten und
Bildelemente entsprächen. Die Pflanze reagiert z. B. spezifisch
auf die Intensität der Lichtstrahlen, nicht aber different auf Far­
ben und Strahlrichtungen. Nach eingehenden neueren Unter­
suchungen des holländischen Botanikers Blaauw kann man
15 den Pflanzen keine spezifischen Tropismen, keine Empfindung,
und auch nicht die kleinsten Anfänge eines Reflex­bogens,
keine Assoziationen und bedingten Reflexe zuschreiben, und
eben darum auch keinerlei »Sinnesorgane«, wie sie Haberlandt
in einer eingehenden Untersuchung zu umgrenzen suchte. Die
20 durch Reize ausgelösten Bewegungserscheinungen, die man
früher | auf solche Dinge bezog, erwiesen sich als Bestandteile
der allgemeinen Wachstumsbewegungen der Pflanze.
Fragen wir, was der allgemeinste Begriff der Empfindung ist –
bei höheren Tieren dürften die durch die Blutdrüsen auf das
25 Gehirn ausgeübten Reize die primitivsten »Empfindungen«
darstellen und sowohl den Organempfindungen als den von
Außenvorgängen zugehenden Empfindungen zugrunde liegen –,

5 ihr Medium ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,12: es 5 Endrichtungen ] Ts 1/2 ,4 u.


1947,12: Grundrichtungen 9 des ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,12 folgt: pflanz­
lichen 10 Reize ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,12: -Reize 15 den Pflanzen ] Ts 1/2 ,4
u. 1947,13: der Pflanze 16 und ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,13: gestr. 19 in …
Untersuchung ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,13: gestr. 19 suchte ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,13:
gesucht hat 20 durch ] 1927,166 folgt: die 21 erwiesen ] Ts 1/2 ,4 u.
1947,13: haben sich … erwiesen 22 der ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,13: jener
22 Wachstumsbewegungen ] Ts 1/2 ,4 u. 1947,13: Wachstumserscheinun­
gen; 1962 ,13: Wachstumsbewegungen
14 Stufenfolge des psychophysischen Seins 19 | 20

so ist es der Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augen­


blicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens
an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten
Zeitmoment folgenden Bewegungen kraft dieser Rückmeldung.
Im Sinne dieser Begriffsbestimmung besitzt die Pflanze keine 5
Empfindung, auch kein über die Abhängigkeit ihrer Lebens­
zustände vom Ganzen ihrer Vorgeschichte hinausgehendes
spezifisches »Gedächtnis« und keine eigentliche Lernfähigkeit,
wie solche auch die einfachsten Infusorien bereits an den Tag
legen. Untersuchungen, die vermeintlich bei Pflanzen bedingte 10
Reflexe und eine gewisse Dressierbarkeit feststellten, dürften in
die Irre gegangen sein. Von dem, was wir bei Tieren Triebleben
nennen, ist in der Pflanze nur der allgemeine Drang zu Wachs­
tum und Fortpflanzung in den »Gefühlsdrang« eingeschlossen.
Daß Leben nicht wesentlich Wille zur Macht ist (Nietzsche), 15
beweist daher die Pflanze am klarsten, da sie keinerlei spontane
Nahrungssuche und auch bei der Fortpflanzung keinerlei aktive
Wahl des Partners besitzt. Weder wählt sie spontan ihre Nah­
rung, noch ver | hält sie sich in der Befruchtung aktiv. Sie wird
durch Wind, Vögel und Insekten passiv befruchtet, und da sie 20
die Nahrung, die sie bedarf, im allgemeinen aus anorganischem
Material selbst bereitet, das überall in gewissem Maße vorhan­
den ist, so hat sie es nicht nötig, sich wie das Tier an bestimmte
Orte zu begeben, um Nahrung zu finden. Daß die Pflanze also
nicht den Spielraum der spontanen Ortsbewegung des Tieres 25
hat, daß sie keine spezifische Empfindung, keinen spezifischen
Trieb, keine Assoziation, keinen bedingten Reflex und kein
eigentliches Macht- und Nervensystem besitzt, ist ein Ganzes
von Mängeln, das aus ihrer Seins-Struktur heraus vollständig
klar und eindeutig zu begreifen ist. Man kann zeigen : Hätte die

6 auch ] 1947,13: gestr. 9 bereits ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,13: gestr. 15 ist, ]


Ts 1/2 ,5 u. 1947,13 folgt: sondern der Drang zu Fortpflanzung und
Tod der Urdrang alles Lebens, 15 (Nietzsche) ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,13:
gestr. 18 da sie … besitzt. ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,13: gestr. 21 die ] Ts 1/2 ,5
u. 1947,13: deren 23 so hat sie es ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,13: hat sie es ja auch
24 also ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,13: gestr. 27 und ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,14: gestr.
20 | 21 Gefühlsdrang (Pflanze) 15

Pflanze nur eines von diesen Dingen, müßte sie auch das andere,
und alle anderen haben. Da es keine Empfindung ohne Trieb­
impuls und ohne Mitanfang einer motorischen Aktion gibt,
muß da, wo das Machtsystem fehlt (aktiver Beutefang, spon­
5 tane Geschlechtswahl), auch ein System von Empfindungen feh­
len. Die Mannigfaltigkeit der Sinnesqualitäten, die ein tierischer
Organismus besitzt, ist nie größer als die Mannigfaltigkeit sei­
ner spontanen Beweglichkeit – und eine Funktion der letzteren.
Die wesenhafte Richtung des Lebens, die das Wort »pflanz-
10 lich«, »vegetativ« bezeichnet – daß wir es hier nicht mit empi­
rischen Begriffen zu tun haben, beweisen die mannigfachen
Übergangserscheinungen zwischen Pflanze und Tier, die schon
Aristoteles kannte –, ist ein ganz nach außen gerichteter Drang.
Ich spreche bei der Pflanze daher | von »ekstatischem« Gefühls-
15 drang, um dieses totale Fehlen einer dem tierischen Leben
eigenen Rückmeldung von Organzuständen an ein Zentrum,
dieses völlige Fehlen einer Rückwendung des Lebens in sich
selbst, einer noch so primitiven re-flexio eines noch so schwach
»bewußten« Innenzustandes zu bezeichnen. Denn Bewußt­
20 sein wird erst in der primitiven re-flexio der Empfindung, und
zwar stets gelegentlich auftretender Widerstände gegenüber
der ursprünglichen spontanen Bewegung.* Empfindungen zu
entbehren aber vermag die Pflanze nur darum, weil sie – der
größte Chemiker unter den Lebewesen – aus den anorganischen
25 Substanzen selber ihr organisches Aufbaumaterial bereitet. So

Alles Bewußtsein gründet in Leiden, und alle höheren Stufen des


*

Bewußtseins in steigendem Leiden.

1 müßte ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,14: so müßte 3 ohne Mitanfang ] Ts 1/2 ,5


u. 1947,14: Mitanheben 5 (aktiver Beutefang, spontane Geschlechts-
wahl) ] Ts 1/2 ,5 u. 1947,14: gestr. 6 Die ] Ts 1,5: Auch die; 1947,14: Die
8 und ] Ts 1,5 folgt: genetisch; 1947,14: und 23 Pflanze ] Ts 1/2 ,6 u.
1947,14 folgt: wie gesagt; nicht mehr in 1962 ,15 26 1947,14: Fn. in den
Text versetzt; Ts 1/2,6 folgt im Text nach Bewegung.: Mit dem Bewußt­
sein, der Empfindung fehlt der Pflanze auch alle Lebens›wachheit‹, die
ja aus der Wächterfunktion erst herauswächst.
16 Stufenfolge des psychophysischen Seins 21 | 22

geht in Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung und Tod (ohne


artspezifizierte Lebensdauer) ihr Dasein auf. Doch findet sich
bereits im pflanzlichen Dasein das Urphänomen des Ausdrucks,
eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände matt, kraftvoll,
üppig, arm usw. Der »Ausdruck« ist eben ein Urphänomen des 5
Lebens, und keineswegs, wie Darwin meinte, ein Inbegriff ata­
vistischer Zweckhandlungen. Was dagegen der Pflanze wie­
derum ganz fehlt, das sind die Kundgabefunktionen, die wir
bei allen Tieren finden, die allen Verkehr der Tiere miteinan­
der bestimmen, und die bereits das Tier weitgehend unabhängig 10
machen von der unmittelbaren Anwesenheit der Dinge, die für
es lebenswichtig sind. Erst beim Menschen aber baut sich auf
Ausdrucks- und | Kundgabefunktionen, wie wir sehen werden,
auch noch die Darstellungs- und Nennfunktion der Zeichen auf.
Mit dem Bewußtsein der Empfindung fehlt der Pflanze ferner 15
auch alle Lebens»wachheit«, die ja aus der Wächterfunktion der
Empfindung herauswächst. Ferner ist ihre Individualisierung,
das Maß ihrer räumlichen und zeit­lichen Geschlossenheit, weit
geringer als beim Tiere. Man darf sagen, daß die Pflanze für
die Einheit des Lebens im metaphysischen Sinne und für den 20
allmählichen Werdecharakter aller Arten von Formbildungen

1 Ernährung ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,14 folgt: und 4 Innenzustände, ] Ts 1,6


u. 1947,14 folgt: der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des In­
nenseins ihres Lebens, wie 5 usw. ] Ts 1,6 u. 1947,14: gestr.; Ts 2 ,6:
etc. 6 und ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,14: gestr. 8 wiederum ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15:
gestr. 12 aber ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: gestr. 14 wie wir sehen werden,
auch noch ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: gestr. 14 auf. ] Ts 1,6 u. 1947,15 folgt: Das
für alle Tiere, die in Gruppen leben, wesentliche Doppelprinzip von Pio­
nier und Gefolgschaft, Vormachen und Nachmachen, finden wir in der
pflanzlichen Welt nicht. 19 Ferner … beim Tiere. ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15:
gestr.; 1962 ,16: wieder eingefügt 19 Man darf sagen, daß ] Ts 1/2 ,6: Da
die Pflanze keiner aktiven Anpassung an die tote und lebendige Um­
welt fähig ist, darf man bei den gleichwohl bestehenden teleoklinen
Beziehungen, die sie zur anorganischen Zusammensetzung ihres Mi­
lieus, ferner zu Insekten, Vögeln etc. hat, sagen, daß [Passage wurde erst
an etwas späterer Stelle in 1947,15 übernommen.] 20 die ] Ts 1/2 ,6 u.
1947,15 folgt: hinter allen morphologischen Bilderscheinungen stehende
22 | 23 Gefühlsdrang (Pflanze) 17

des Lebens an geschlossenen Stoff- und Energiekomplexen in


höherem Maße bürge als das Tier. Ganz und gar versagt sowohl
für ihre Formen wie für ihre Verhaltungsweisen das von den
Darwinisten wie den Theisten so maßlos überschätzte Nützlich­
5 keitsprinzip; ganz und gar auch der Lamarckianismus. Die For­
men ihrer blätterigen Teile weisen noch eindringlicher als die
Formen- und Farbenfülle der Tiere auf ein phantasievoll spie­
lendes und nur ästhetisch regelndes Prinzip in der unbekann­
ten Wurzel des Lebens hin. Das für alle Tiere, die in Gruppen
10 leben, wesent­liche Doppelprinzip von Pionier und Gefolgschaft,
Vormachen und Nachmachen, finden wir hier nicht. Auf Grund
der mangelnden Zentralisierung des pflanzlichen Lebens, ganz
besonders des Fehlens eines Nervensystems, ist die Abhängig­
keit der Organe und Organfunktionen gerade bei der Pflanze
15 von Hause aus inniger als bei den Tieren. Jeder Reiz ändert auf
Grund ihres reizleitenden Gewebesystems in höherem Maße
den ganzen Lebenszustand, als es beim Tiere der | Fall ist. Einer
mechanischen Lebenserklärung ist die Pflanze daher schwerer,
nicht leichter zugänglich als das Tier (im allgemeinen). Denn
20 erst mit der Zunahme der Zentralisierung des Nervensystems
in der Tierreihe wächst auch jene Zunahme der Unabhängig-
keit seiner Teilreaktionen – und damit eine gewisse annähernde
Maschinenstruktur des tierischen Körpers. –

2 sowohl ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: gestr. 5 Nützlichkeitsprinzip, ] Ts 1/2 ,6 u.


1947,15 folgt: – als sei in einem objektiv-teleologischen Sinne die Pflanze
›für‹ das Tier, das Tier ›für‹ den Menschen da – als sei ein zweckhaftes
Streben in der Natur auf den Menschen hin – 6 Die Formen ihrer
blättrigen Teile weisen ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: Die überaus reichen For­
men ihrer blättrigen Teile weisen in ihrer Fülle 8 regelndes ] Ts 1/2 ,6
u. 1947,16: geregeltes; 1962 ,16: regelndes 11 hier ] 1949,17 u. 1962 ,15:
in der pflanzlichen Welt 12 ganz ] 1947,15 u. 1962 ,15: gestr. 14 ge-
rade ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: gestr. 15 den Tieren ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,17: dem
Tiere 16 ihres ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: des 16 Gewebesystems ] Ts 1/2 ,6
u. 1947,15 folgt: der Pflanze 21 in der Tierreihe ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: im
Tiere 21 jene Zunahme der ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: die 23 annähernde
Maschinenstruktur des tierischen Körpers ] Ts 1/2 ,6 u. 1947,15: Annähe­
rung des tierischen Körpers an die Maschinenstruktur
18 Stufenfolge des psychophysischen Seins 23 | 24

Diese erste Stufe der Innenseite des Lebens, der Gefühls­


drang, ist auch im Menschen noch vorhanden. Der Mensch –
wir werden es sehen – faßt ja alle Wesensstufen des Daseins
überhaupt, und insbesondere auch des Lebens, in sich zusam­
men, und, wenigstens den Wesensregionen nach, kommt in 5
ihm die ganze Natur zur konzentriertesten Einheit ihres Seins.
Es gibt keine Empfindung, keine noch so einfache Wahrneh­
mung, keine Vorstellung, hinter der nicht der dunkle Drang
stünde, die er mit seinem Schlaf- und Wachzeiten kontinuier­
lich durchschneidenden Feuer nicht unterhielte. Selbst die ein­ 10
fachste Empfindung ist immer auch Funktion einer triebhaf-
ten Aufmerksamkeit, nie bloß Folge des Reizes. Gleichzeitig
stellt der Drang die Einheit aller reich gegliederten Triebe und
Affekte des Menschen dar. Nach neueren Forschern dürfte er
im Gehirnstamm des Menschen, der wahrscheinlich auch Zen­ 15
tralstelle ist für die die leiblichen und seelischen Vorgänge ver­
mittelnden endokrinen Drüsenfunktionen, lokalisiert sein. Fer­
ner ist es der Gefühlsdrang, der auch im Menschen das Subjekt
ist jenes primären Widerstandserlebnisses, von dem ich einge­
hend andernorts gezeigt habe, daß es die Wurzel alles | Habens 20
von »Realität« und »Wirklichkeit« ist, und insbesondere auch
der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorangän­
gigen Eindrucks der Wirklichkeit.* Vorstellungen und mittel­

Vgl. meine Abhandlungen »Arbeit und Erkenntnis« in »Die Wis­


*

sensformen und die Gesellschaft«, Leipzig 1926, und »Das Problem der 25
Realität«, Cohen, Bonn 1928.

2 ist ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16 folgt: nicht nur in allen Tieren, sondern 3 wir
werden es sehen ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16: gestr.; 1962 ,17: wieder eingefügt
4 auch ] 1947,16: gestr. 6 Der Mensch … ihres Seins. ] Dieser Satz
wurde in 1949,18 an eine spätere Stelle versetzt (vgl. unten S. 90, Lemma
zu Z. 14); 1962 ,16: in Klammern gesetzt 7 noch so einfache ] Ts 1,7 u.
1947,16: gestr. 9 seinem ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16 folgt: die 18 Ferner ist
es der Gefühlsdrang ] Ts 1/2 ,7: Der Gefühlsdrang ist ferner; 1947,16 u.
1962 ,17: Der Gefühlsdrang ist auch 20 von dem … daß es ] Ts 1,7 u.
1947,16: das 21 und ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16: gestr. 23 Vorstellungen ]
Ts 1/2 ,7 u. 1947,16: Vorstellen
24 | 25 Instinkt (Tier) 19

bares ­Denken ­können uns nie etwas anderes als das Sosein und
Anderssein dieser Wirklichkeit indizieren; sie selbst als »Wirk­
lichsein« des Wirklichen aber ist uns in einem mit Angst ver­
bundenen allgemeinen Widerstande, beziehungsweise einem
5 Erlebnis des Widerstandes gegeben. Organologisch stellt das
vor allem die Nahrungsverteilung regelnde »vegetative« Ner­
vensystem, wie schon sein Name sagt, im Menschen die noch
in ihm vorhandene Pflanzlichkeit dar. Eine periodische Ener­
gieentziehung am animalischen, das äußere Machtverhalten
10 regelnden Systeme zugunsten des vegetativen, ist wahrschein­
lich die Grundbedingung der Rhythmik der Schlaf- und Wach­
zustände; insofern ist der Schlaf ein relativ pflanz­licher Zustand
des Menschen. –

Instinkt (Tier)

15 ¶ Als die zweite seelische Wesensform, die dem ekstatischen


Gefühlsdrang in der objektiven Stufenordnung des Lebens folgt,
ist der Instinkt zu bezeichnen, ein seiner Deutung und seinem
Sinne nach sehr umstrittenes, dunkles Wort. Wir entgehen die­
ser Dunkelheit dadurch, daß wir uns aller Definition mit psy­
20 chologischen Begriffen zunächst enthalten und den Instinkt

1 Denken ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16 folgt: (Schließen) 3 aber ist uns ] Ts 1/2 ,7


u. 1947,16: ist uns nur 5 gegeben. ] 1947,88 folgt als Anm.: Vgl. die
[1962 ,17: meine] Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹ in dem Buche
›Die Wissensformen und die Gesellschaft‹, und ›Idealismus – Realis-
mus‹ im ›Philosophischen Anzeiger‹, 2. Jahrgang, Heft 3, Bonn 1927.
13 Menschen. ] Ts 1/2 ,7 u. 1947,16 folgt: Im Weibe, bei ausgeprägten
Ackerbaustämmen (im Gegensatz zu Tierzüchtern und Nomaden), in
dem ganzen (nicht-jüdischen) Asien scheint das pflanzliche Prinzip
(wie schon Fechner bemerkte) auch [1947,16: auch gestr.] im Menschen
zu überwiegen. 15 dem ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,16 folgt: undifferenzierten
16 des ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17 folgt: seelischen 17 ist der Instinkt zu be-
zeichnen, ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: haben wir das anzusehen, was wir als
›Instinkt‹ bezeichnen 20 Instinkt ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17 folgt: (wie auch
die folgenden Wesensstufen)
20 Stufenfolge des psychophysischen Seins 25

ausschließlich vom sogenannten »Verhalten« des Lebewesens


aus definieren. | Das Verhalten eines Lebewesens ist einmal
Gegenstand äußerer Beobachtung und möglicher Beschreibung.
Dies Verhalten bei wechselnden Umgebungsbestandteilen ist
aber unabhängig von den physiologischen Bewegungseinheiten 5
feststellbar, die das Verhalten tragen, und es ist auch feststellbar,
ohne daß physikalische oder chemische Reizbegriffe bei seiner
Charakteristik eingeführt werden. Wir vermögen unabhängig
und vor aller kausalen Erklärung Einheiten und Veränderun­
gen des Verhaltens bei veränderlichen Umgebungsbestandteilen 10
festzustellen und gewinnen damit gesetzliche Beziehungen, die
insofern bereits sinnerfüllt sind, als sie ganzheitlichen und teleo­
klinen Charakter tragen. Es ist ein Irrtum der »Behaviouristen«,
wenn sie in den Begriff des Verhaltens bereits den physiologi­
schen Hergang seines Zustandekommens aufnehmen. Wertvoll 15
an dem Begriff des Verhaltens ist gerade dies, daß er ein psy­
chophysisch indifferenter Begriff ist. D. h. : Jedes Verhalten ist
also immer auch Ausdruck von Innenzuständen. Es kann und
muß daher immer doppelt erklärt werden, physiologisch und
psychologisch zugleich; es ist gleich falsch, die psychologische 20
Erklärung der physiologischen oder die letztere der ersteren vor­
zuziehen. In diesem Sinne nennen wir instinktiv ein Verhalten,

2 einmal ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: immer 5 Dies Verhalten … ist aber ]


Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: Es ist 6 es ist auch ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: ebenso
9 aller ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17 folgt: sei es physiologischen, sei es psycho­
logischen 10 Verhaltens ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17 folgt: eines Lebewesens
12 und ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: gestr. 16 des Verhaltens ] Ts 1/2 ,8 u.
1947,17: gestr. 16 er ] 1947,17 u. 1962 ,18: es 18 also ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17:
gestr. 18 Innenzuständen. ] 1949,20 u. 1962 ,18 folgt: denn es gibt kein
Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar
›ausdrückt‹.; Ts 1/2 ,8: an andere Stelle versetzt, vgl. übernächste Anm.
21 oder ] 1949,20 u. 1962 ,18: wie 22 vorzuziehen ] Ts 1/2 ,8 folgt: Das
›Verhalten‹ ist also das deskriptiv ›mittlere‹ Beobachtungsfeld, von
dem wir sowohl für die physiologische wie psychologische Erklärung
auszugehen haben. Denn es gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im
Verhalten unmittelbar oder mittelbar ›ausdrückt‹; in 1947,17 gekürzt:
Das ›Verhalten‹ ist das deskriptiv mittlere Beobachtungsfeld, von dem
25 | 26 Instinkt (Tier) 21

das folgende Merkmale besitzt : Es muß erstens sinngemäß sein,


sei es positiv sinnvoll, oder fehlerhaft, oder dumm; d. h. es muß
so sein, daß es für das Ganze des Lebensträgers oder das Ganze
anderer Lebensträger teleoklin ist (entweder eigendienlich oder
5 fremddienlich). Und es muß zweitens nach einem Rhythmus |
ablaufen. Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich
gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung,
Gewöhnung – nach dem Prinzip, das Jennings das Prinzip von
»Versuch und Irrtum« genannt hat – erworbenen, gleichfalls
10 sinnvollen Bewegungen nicht. Eine Rückführung instinktiver
Verhaltungsweisen auf kombinierte Einzel- und Kettenreflexe
und auf Tropismen hat sich als unmöglich erwiesen (Jennings,
Alverdes usw.). Die Sinnbeziehung braucht nicht auf gegenwär­
tige Situationen zu gehen, sondern kann auch auf zeitlich und
15 räumlich weit entfernte abzielen. Ein Tier bereitet z. B. für den
Winter oder für die Eiablage etwas sinnvoll vor, obgleich man
nachweisen kann, daß es als Individuum ähnliche Situationen
noch nie erlebte und daß auch Kundgabe, T ­ radition, Nach-

wir auszugehen haben. 1 sinngemäß ] 1962 ,18: sinnmäßig 2 sei es …


dumm; ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: gestr. 2 es muß ] 1962 ,18: gestr. 3 Le-
bensträgers ] Ts 1/2 ,8 folgt: selbst, seine Ernährung, Fortpflanzung,;
Umstellungen in 1947,17 5 (entweder eigendienlich oder fremddien-
lich) ] 1949,20: gestr.; 1962 ,18: (d. h. eigendienlich oder fremddienlich)
vor teleoklin 5 zweitens ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17: gestr.; 1962 ,18: zweitens
5 einem ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,17 folgt: festen unveränderlichen 6 ablaufen. ]
Ts 1/2 ,8v u. 1947,17f. folgt: Auf den festen Rhythmus kommt es an; nicht
etwa auf die Organe, die zu diesem Verhalten benutzt werden und die
bei Wegnahme dieses oder jenes Organs wechseln können; auch nicht
auf die Kombination einzelner Bewegungen, die je nach der Ausgangs­
lage des tierischen Körpers bei gleicher Aufgabe und Leistung wechseln
können. Die amechanische Natur des Instinktes, die Unmöglichkeit,
ihn auf kombinierte Einzel- oder Kettenreflexe (wie Loeb auf ›Tropis­
men‹) zurückzuführen, ist dadurch gesichert. 8 Prinzip ] Ts 1/2 ,8 u.
1947,18: gestr. 13 Eine Rückführung … usw.). ] Ts 1/2 ,8 u. 1947,18: gestr.
13 Sinnbeziehung ] Ts 2 ,8 u. 1947,18: Sinnbewegung; Ts 1,8 u. 1962 ,19:
Sinnbeziehung 13 braucht nicht ] Ts 1,8: braucht ferner nicht; Ts 2 ,8:
braucht dabei nicht; 1947,18: braucht nicht
22 Stufenfolge des psychophysischen Seins 26 | 27

a­ hmung und Kopierung seitens anderer Artgenossen dabei aus­


geschaltet ist – es verhält sich so, wie sich nach der Quantentheo­
rie schon die Elektronen verhalten, »als ob« es einen künftigen
Zustand vorhersähe. Ein weiteres drittes Merkmal des instink­
tiven Verhaltens ist es, daß es nur auf solche typisch wiederkeh­ 5
rende Situationen anspricht, die für das Artleben als solches,
nicht aber für die Sondererfahrung des Individuums bedeutsam
sind. Der Instinkt ist stets artdienlich, sei es der eigenen, sei es
der fremden Art, oder einer solchen, mit denen die eigene Art
in einer wichtigen Lebensbeziehung steht (Ameisen und Gäste; 10
Gallenbildungen der Pflanzen; Insekten und Vögel, die Pflan­
zen befruchten usw.). Dieses Merkmal scheidet das instinktive
Verhalten scharf erstens von »Selbstdressur« durch Versuch
und Irrtum und | allem »Lernen«, zweitens vom Verstandesge­
brauch, die beide primär individualdienlich und nicht artdien­ 15
lich sind. Das instinktive Verhalten ist daher niemals eine Reak­
tion auf die von Individuum zu Individuum wechselnden spezi-
ellen Inhalte der Umwelt, sondern je nur auf eine ganz besondere
Struktur, eine art-typische Anordnung der möglichen Umwelt­
teile. Während die speziellen Inhalte weitgehendst ausgewech­ 20
selt werden können, ohne daß der Instinkt beirrt wird und zu
Fehlhandlungen führt, wird die kleinste Änderung der Struktur
Beirrungen zur Folge haben. In seinem gewaltigen Werke »Sou­
venirs Entomologiques« hat Fabre eine überwältigende Man­

1 und Kopierung ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18: gestr. 1 seitens anderer ] Ts 1/2 ,9


u. 1947,18: von 3 die Elektronen verhalten ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18: das
Elektron verhält 4 drittes ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18: gestr. 5 auf ] 1949,21:
gestr.; 1962 ,19: wieder eingefügt 7 aber ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18: gestr.
9 oder einer solchen, ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18: gestr. 9 denen ] Ts 1/2 ,9 u.
1947,18: der 11 die ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18 folgt: die 12 usw. ] Ts 1/2,9 u.
1947,18: gestr. 13 Verhalten ] Ts 2 ,9 folgt: wie wir noch näher sehen wer­
den; 1947,18 stattdessen aus Ts 1,9 eine Zeile später hinter beide,: wie wir
sehen werden, 13 erstens ] Ts 1/2 ,9: gestr.; 1947,18: erstens 14 vom ]
Ts 1/2 ,9 u. 1947,18: von allem 23 haben. ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,18 f. folgt: Das
ist es, was man [Ts 2 ,9: auch] als ›Starrheit‹ des Instinktes bezeichnet,
im Unterschied zu den überaus plastischen Verhaltungsweisen, die auf
Dressur, Selbstdressur und auf Intelligenz beruhen.
27 | 28 Instinkt (Tier) 23

nigfaltigkeit solchen Verhaltens mit größter Präzision gegeben.


Dieser Artdienlichkeit entspricht es ferner (viertens) auch, daß
der Instinkt in seinen Grundzügen angeboren und erblich ist,
und zwar als spezifiziertes Verhaltungsvermögen selbst, nicht
5 nur als allgemeines Erwerbungsvermögen von Verhaltungswei­
sen, wie es natürlich auch Gewöhnbarkeit, Dressierbarkeit und
Verständigkeit ist. Die Angeborenheit besagt hierbei nicht, daß
das instinktiv zu nennende Verhalten sich sogleich nach der
Geburt abspielen müßte, sondern bedeutet nur, daß es bestimm­
10 ten Wachstums- und Reifeperioden, eventuell sogar verschie­
denen Formen der Tiere (bei Polymorphismus) zugeordnet ist.
Sehr wichtig als Merkmal des Instinktes ist endlich, daß er ein
Verhalten darstellt, das von der Zahl der Versuche, die ein Tier
macht, um einer Situation zu begegnen, unabhängig ist; in die­
15 sem Sinne kann er als von vornherein »fertig« bezeichnet wer­
den. | So wenig wie die eigentliche Organisation der Tiere durch
kleine differentielle Variationsschritte entstanden gedacht wer­
den kann, ebensowenig der »Instinkt« durch Addition erfolg­
reicher Teilbewegungen. Wohl ist der Instinkt durch Erfahrung
20 und Lernen spezialisierbar, wie man z. B. an den Instinkten der
Jagdtiere sieht, denen zwar das Jagen auf ein bestimmtes Wild,
nicht aber die Kunst, es erfolgreich auszuüben, fertig angeboren
ist. Das, was Übung und Erfahrung hier leistet, entspricht aber
immer nur den Variationen einer Melodie, nicht der Erwerbung
25 einer neuen. Was ein Tier vorstellen und empfinden kann, ist im

1 solchen ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,19: solch instinktiven 2 entspricht … auch ]


Ts 1/2 ,9: entspricht es ferner; 1947,19: entspricht es 7 ist ] 1947,19: sind
7 hierbei ] Ts 1/2 ,9 u. 1947,19: indessen 11 Polymorphismus ] Ts 2 ,9
folgt: (Raupe, Puppe, Schmetterling); Ts 1: hs. wieder gestr., in 1947,19
daher unberücksichtigt geblieben 15 der Tiere ] Ts 1/2,10 u. 1947,19: des
Tieres; nach einem Komma folgt: sein Bauplan 19 Teilbewegungen ]
Ts 1,10 folgt: (Selektion); in Ts 2 wieder gestr.; nicht in 1947,19 übernom-
men 22 fertig ] Ts 1/2,10 u. 1947,19: gestr. 24 nur ] Ts 1/2,10 u. 1947,19
folgt: gleichsam 25 neuen. ] Ts 1/2 ,10 u. 1947,19f. folgt: Der Instinkt
ist also schon der Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert
und im engsten Zusammenhang mit den gestaltenden physiologischen
24 Stufenfolge des psychophysischen Seins 28

allgemeinen durch den Bezug seiner Instinkte zur Umweltstruk-


tur a priori beherrscht und bestimmt. Dasselbe gilt von seinen
Gedächtnisreproduktionen; sie erfolgen stets im Sinne und im
Rahmen seiner vorherrschenden »Instinktaufgaben«, und erst in
sekundärer Weise ist die Häufigkeit der assoziativen Verknüp­ 5
fungen, der bedingten Reflexe und der Übungen von Bedeu­
tung. Alle afferenten Nervenbahnen haben sich auch entwick­
lungsgeschichtlich erst nach der Anlage von efferenten Nerven­
bahnen und Erfolgsorganen gebildet.

Funktionen tätig, welche die Strukturformen des Tierkörpers allererst


bilden. Sehr wichtig ist das Verhältnis des Instinktes zu den Empfin­
dungen, der [1947,19: zur] Tätigkeit der Sinnesfunktionen und -organe,
auch zum Gedächtnis. Daß Instinkte erst durch äußere Sinneserfahrun­
gen entstehen (Sensualismus), ist ausgeschlossen. Der Empfindungsreiz
löst den rhythmisch festen Ablauf der instinktiven Tätigkeit nur aus,
ohne seinen So-Ablauf zu determinieren. Geruchsempfindungsreize,
optische Empfindungsreize können dabei dieselbe Tätigkeit auslösen –
es müssen also nicht einmal Empfindungen derselben Modalität, ge­
schweige denn derselben Qualität sein, die diese Auslösung besorgen.
Wohl aber gilt der umgekehrte Satz: 1 im allgemeinen ] Ts 1/2,10 u.
1947,20: gestr. 1 seiner ] Ts 1/2,10 u. 1947,20 folgt: angeborenen 4 »In-
stinktaufgaben«, ] Ts 1/2,10 u. 1947,20 folgt: ihrer Oberdetermination
6 Verknüpfungen, ] Ts 1/2,10 u. 1947,20: Komma gestr. 7 Bedeutung. ]
Ts 1/2,10 u. 1947,20 folgt: Das Tier, das sehen und hören kann, sieht und
hört nur das, was für sein instinktives Verhalten bedeutsam ist – auch
bei gleichen Reiz-[1949,23: Reizen] und sensorischen Bedingungen der
Empfindung. 7 Nervenbahnen ] Ts 1/2,10 u. 1947,20 folgt: und Rezep­
tionsorgane für Reize 9 gebildet. ] Ts 1/2 ,10 f. u. 1947, 20 f. folgt: Noch
im Menschen liegt dem Sehen der Trieb zum Sehen und diesem der
allgemeine Wachtrieb zugrunde; der Schlaftrieb sperrt Sinnesorgane
und -funktionen zu. So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom In­
stinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sogenannten
›Trieb‹handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil
der Instinkthandlung, daß sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos
sein können (z. B. die Sucht nach Rauschgift). [Absatz] Jede Ableitung
instinktiver Verhaltungsweisen aus mechanisch gedachten Tropismen
und Taxen (Loeb), die selbst vielmehr einfachste Instinkte sind (die es
nach neueren Forschungen überhaupt nicht gibt – nicht einmal der Pa­
tellarreflex oder der Augenlidschluß ist ein solcher rein mechanischer
28 | 29 Instinkt (Tier) 25

Der Instinkt ist ohne Zweifel eine primitivere Form des psy­
chischen Seins und Geschehens als die durch Assoziationen
bestimmten seelischen Komplexbildungen. Er ist also nicht –
wie Spencer meinte – auf Vererbung von Verhaltungswei­
5 sen zurückzuführen, die auf Gewohnheit und Selbstdressur
beruhen. Wir sind in der Lage zu zeigen, daß die psychischen
Abläufe, die der assoziativen Gesetzmäßig | keit folgen, auch im
Nervensystem erheblich höher lokalisiert sind als die instinkti­
ven Verhaltungsweisen. Die Großhirnrinde scheint wesentlich
10 ein Dissoziationsorgan zu sein gegenüber den biologisch ein­
heitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen, nicht
also ein Assoziationsorgan. Ebensowenig aber kann das instink­
tive Verhalten auf eine Automatisierung verständigen Verhal­
tens zurückgeführt werden. Wir dürfen vielmehr sagen, daß das

Reflex), jede Rückführung auf kombinierte Einzelreflexe motorischer


Bahnen und [1949,23 folgt: auf] Kettenreflexe hat sich als unmöglich
erwiesen (Jennings – Alverdes). Ebensowenig aber ist es möglich, den
Instinkt auf Vererbung von Verhaltungsweisen zurückzuführen, die
auf ›Gewohnheit‹ und ›Selbstdressur‹ beruhen (Spencer), d. h. in letzter
Linie auf assoziative Gesetzlichkeit und bedingten Reflex, oder ihn als
nachträgliche Automatisierung verständigen, ›intelligenten‹ Verhaltens
anzusehen (Wundt). Das Werden des Instinktes einer Art ist durchaus
ein Teilprodukt der Artbildung selbst; ›in reinen Linien‹ ist der Instinkt
ganz unveränderlich. Teilschritte, wie es solche der Gewöhnung und
Übung sind, können ihn nicht verändern, so wenig wie den ›Bauplan‹
eines Tieres. 2 psychischen ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21: gestr. 7 assoziati-
ven ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21 folgt: (gewohnheitsmäßigen) 7 auch ] Ts 1/2 ,11
u. 1947,21: gestr. 8 lokalisiert ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21 folgt: (also genetisch
später) 11 Verhaltungsweisen. ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21 folgt: Gerade die
sinneinheitlichen Verhaltungsweisen (Greifen nach einem Ding, Singen
einer Melodie) können in pathologischen Ausfallserscheinungen noch
stattfinden, wo weniger Sinngegliedertes (Einzelbewegungen wie das
Bewegen eines einzelnen Fingers; oder das Singen der Tonleiter) nicht
mehr hervorzubringen ist. Diese festgegliederten Sinneinheitlichkei­
ten des Verhaltens sind wesentlich subcortical bedingt. 10 scheint
… zu sein ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21: ist 12 also ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21: gestr.
14 Ebensowenig … zurückgeführt werden. ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21: gestr.
14 vielmehr ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21: gestr.; 1962 ,22: wieder eingefügt
26 Stufenfolge des psychophysischen Seins 29 | 30

Heraustreten relativer Einzelempfindungen und Einzelvorstel­


lungen aus diffusen Komplexen (und die assoziative Verknüp­
fung zwischen diesen Einzelgebilden), desgleichen das Her­
austreten eines bestimmten, nach Befriedigung verlangenden
Triebes aus einem instinktiven Sinnverband des Verhaltens, wie 5
anderseits die Anfänge der Intelligenz, die den nun erst sinnent­
leerten Automatismus wieder »künstlich« sinnvoll zu machen
sucht, beiderseits, genetisch gesehen, gleichursprüngliche Ent­
wicklungsprodukte des instinktiven Verhaltens sind. Sie gehen
im allgemeinen streng gleichen Schritt, sowohl miteinander wie 10
mit der Individuierung der Lebewesen, dem Herausfallen des
Einzelwesens aus der Artgebundenheit, halten ferner gleichen
Schritt mit der Mannigfaltigkeit der individuellen Sondersi­
tuationen, in die das Lebe­wesen gelangen kann. Schöpferische
Dissoziation, nicht Assoziation oder Synthese einzelner Stücke, 15
ist der Grundvorgang der Lebensentwicklung. Und dasselbe
gilt physiologisch. Der Organismus gleicht auch physiologisch
einem Mechanismus um so weniger, je einfacher er organisiert
ist, | bringt aber bis zum Eintritt des Todes und der Zytomor­
phose der Organe ein – phänomenal – immer mehr mechanis­ 20
menartiges Gebilde selbst hervor. Es dürfte wohl auch nachweis­
bar sein, daß die Intelligenz keineswegs erst auf einer höheren
Stufe des Lebens, wie z. B. Karl Bühler meint, zum assoziativen
Seelen­leben hinzutritt. Sie bildet sich vielmehr streng gleich­
mäßig und parallel zum assoziativen Seelenleben aus und ist, 25

5 einem ] Ts 1/2 ,11 u. 1947,21: dem 9 Entwicklungsprodukte ] Ts


1/2 ,11 u. 1947,21 folgt: (Zerfallsprodukte – nicht im Wertsinne)
11 In­di­­viduierung ] 1949,24: Individualisierung, 1962 ,23: Individuierung
15 Synthese ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,21 folgt: (Wundt) 16 ist ] Ts 1/2 ,12
u. 1947,21 folgt: also 16 Lebensentwicklung ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,21:
psychischen Entwicklung 17 gilt ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,21 folgt: auch
17 physiologisch ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,21: physisch; 1962 ,23: physiologisch
21 ein … Gebilde ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,22: immer mehr phänomenal me­
chanismenartige Gebilde und Verhaltungsweisen 21 auch ] Ts 1/2 ,12
u. 1947,22 gestr.; 1962 ,23: wieder eingefügt 24 Seelenleben ] Ts 1/2 ,12 u.
1947,22 folgt: (und seinem physiologischen Analogon, dem bedingten
Reflex,) 25 und ] Ts 2 ,12 u. 1947,22 folgt: sie
30 | 31 Instinkt (Tier) 27

wie jüngst Alverdes und Buytendijk gezeigt haben, keineswegs


erst bei den höchsten Säugetieren, sondern schon im Infusorium
vorhanden. Es ist also so, als ob das, was im Instinkt starr und
artgebunden ist, in der Intelligenz beweglich und individual
5 bezogen würde, das aber, was im Instinkt automatisch ist, in der
Assoziation und dem bedingten Reflex mechanisch, also relativ
sinnfrei erst würde – gleichzeitig aber auch viel mannigfaltiger
kombinierbar. Das läßt auch verstehen, daß die Gliedertiere,
welche auch morphologisch eine ganz andere und viel starrere
10 Grundlage ihrer Organisation besitzen, die Instinkte am voll­
kommensten besitzen, kaum aber Zeichen eines verständigen
Verhaltens von sich geben, dagegen der Mensch als plastischer
Säugetiertypus, bei dem die Intelligenz am höchsten entwickelt
ist und nicht minder das assoziative Gedächtnis, stark zurück-
15 gebildete Instinkte besitzt. Versucht man das instinktive Ver­
halten psychisch zu deuten, so stellt es eine untrennbare Einheit
von Vor-Wissen und Handlung dar, sodaß niemals mehr Wissen
gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzei­
tig eingeht. Ferner scheint das Wissen, das im Instinkte | liegt,
20 nicht sowohl ein Wissen durch Vorstellungen und Bilder oder
gar durch Gedanken zu sein, sondern nur ein Fühlen wertbeton­

3 also so ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,22: gestr. 3 Instinkt ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,22


folgt: sinnvoll, aber 5 individual bezogen ] Ts 1/2,12 u. 1947, 22: indi­
viduell-bezogen; 1962, 23: individuell bezogen 7 viel ] 1947,22: gestr.
8 kombinierbar. ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,22 folgt: Daß also die Instinkte keine
automatisch gewordenen Verstandes- und Willkürhandlungen sind,
10 besitzen ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,22 folgt: als die höheren Tiere,
12 verständigen ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,22 folgt: (intelligenten) 15 besitzt. ]
Ts 1/2 ,12 u. 1947,22 folgt: Auf alle Fälle ist die seelische Grundform
[1947,22 folgt: des Instinktes] an die tierische und in atavistischen Re­
sten an die menschliche Form des Lebens geknüpft. 17 Handlung ]
1927,177: Handlungen 19 eingeht. ] Ts 1/2 ,12v u. 1947,22 folgt, in Ts 1
jedoch einige Zeilen später hinter Widerstände eingefügt: Zwar liegt be­
reits [Ts 2: schon] der Anfang der Trennung von Sensation und Reaktion
vor (Reflexbogen), aber es besteht noch der innigste [1949,25 u. 1962 ,24:
engste] Zusammenhang beider in der Funktion. 21 scheint … zu sein ]
Ts 1/2 ,12 u. 1947,22: ist 21 nur ] Ts 2 ,12 u. 1947,22: gestr., Ts 1,12: mehr
28 Stufenfolge des psychophysischen Seins 31

ter und nach Werteindrücken differenzierter, anziehender und


abstoßender Widerstände. Im Verhältnis zum Gefühlsdrang ist
der Instinkt bereits zwar auf artmäßig häufig wiederkehrende,
aber doch spezifische Bestandteile der Umwelt gerichtet. Er stellt
eine zunehmende Spezialisierung des Gefühlsdrangs und seiner 5
Qualitäten dar. Von »angeborenen Vorstellungen« bei Instink­
ten zu reden, wie es Reimarus getan hat, hat also keinen Sinn. –

2 Widerstände. ] Ts 1,12v folgt: Das gilt zunächst für die relative ›Einzel­
empfindung‹. Das Tier hat wahrscheinlich noch keine Flächenfarben,
nur Oberflächenfarben. Beim Menschen stellen sich nach bestimmten
pathologischen Ausfallserscheinungen bilaterale, symmetrische Emp­
findungen ein (Schilder). Es bedarf bestimmter Hemmungen, damit
es zu annähernd einzelnen Empfindungen kommt. Auch nimmt die
Reizproportionalität der Empfindung, ferner die Isolierbarkeit einer
Sensation von anderen, die ›Figur vom Hintergrund‹, die Isolierbarkeit
und Neukombinierbarkeit einer Vorstellung aus einem Vorstellungs­
ganzen, (z. B. des jeweiligen Umweltsganzen, auch des menschlichen)
ebensowohl mit der Reifung des Organismus und seinem Altern als
mit der organisatorischen Höhe der Tiere, als auch in der Entwicklung
vom Primitiven zum Civilisierten mit Sicherheit zu. [Absatz] Dasselbe
gilt auch für den soz[ialen] Trieb. Die sogenannten Triebhandlungen
des Menschen sind ja darin das absolute Gegenteil der Instinkthand­
lungen, daß sie ganz sinnlos sein können (Rauschgift, Paralytiker).
Die Befreiung des Triebes aus der sinneinheitl[ichen] Artgebunden­
heit des Instinktes, z. B. das schon beim höheren Tiere, erst recht beim
Menschen eintretende Herausfallen der Sexualbefr[iedigung] aus der
Fortpflanzungs- und Brunstperiodik bedeutet den ›Gang nach oben‹.
(Die Verwillkürlichung überhaupt hat wahrscheinl[ich] sogar bei den
Sexualtrieb[en] angefangen).; nicht in 1947,23 4 spezifische ] Ts 1/2 ,12
u. 1947,23 (dort ohne Klammern) folgt: (inhaltlich verschiedene, daher
nicht ohne Wahrnehmung gegebene) 4 stellt ] Ts 1/2 ,12 u. 1947,23 folgt:
als solcher 6 stellt … dar ] 1927,178: ist 6 angeborenen ] Ts 1/2 ,12 u.
1947,23: eingeborenen
31 | 32 Assoziatives Gedächtnis 29

Assoziatives Gedächtnis

¶ Unter den zwei Verhaltungsweisen, die nun beide ur­-


sprünglich aus der instinktiven hervorgehen, nämlich das
»gewohnheits«mäßige und das »intelligente« Verhalten, stellt
5 die gewohnheitsmäßige – die dritte psychische Form also, die
wir unterscheiden – jene Fähigkeit dar, die wir als assoziatives
Gedächtnis (Mneme) bezeichnen. Diese Fähigkeit kommt kei­
neswegs, wie Hering und Semon meinten, allen Lebewesen zu.
Sie fehlt den Pflanzen, wie schon Aristoteles richtig gesehen hat.
10 Zusprechen müssen wir sie jedem Lebewesen, dessen Verhalten
sich auf Grund früheren Verhaltens gleicher Art in einer lebens­
dienlichen, also sinnvollen Weise langsam und stetig abändert,
also so, daß das jeweilige Maß, in dem sein Verhalten sinnvoller
wird, in strenger Abhängigkeit steht von der Zahl der Versuche
15 oder der sogenannten Probierbewegungen. Daß ein Tier über­
haupt spontan Probierbewegungen macht (auch die spontanen
Spielbewegungen lassen sich dazu rechnen), daß | es ferner die
Bewegungen zu wiederholen tendiert, gleichgültig ob sie Lust
oder Unlust im Gefolge haben, beruht nicht auf dem Gedächtnis,
20 sondern ist aller Reproduktion Voraussetzung – ein selbst ein­
geborener Trieb (Wiederholungstrieb). Daß es aber diejenigen
Bewegungen, die hierbei Erfolg hatten für irgendeine positive
Trieb­befriedigung, später häufiger zu wiederholen sucht, sodaß
sie sich in ihm »fixieren«, als diejenigen, die Mißerfolg hatten,
25 ist eben die Grundtatsache, die wir mit dem Prinzip von »Erfolg
und Irrtum« bezeichnen. Wo wir solche Tatsachen finden, spre­

1 nun ] Ts 1,13 u. 1947,23: wie wir sahen, 2 der instinktiven ] Ts 1/2 ,13
folgt: Verhalten[sweise]; 1947,23: dem instinktiven Verhalten 2 näm-
lich ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 5 die ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: das
5 also ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 6 unterscheiden ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23
folgt: den Inbegriff der Tatsachen der Assoziation, Reproduktion, des
bedingten Reflexes, d. h. 8 wie … meinten, ] Ts 1,13 u. 1947,23: gestr.
9 richtig ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 13 also ] 1947,23: d. h. 17 Spiel­
bewegungen ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23 folgt: z. B. der jungen Hunde und
Pferde
30 Stufenfolge des psychophysischen Seins 32 | 33

chen wir jenachdem von Übung, wo es sich nur um das Quan­


titative handelt, jenachdem von Erwerbung von Gewohnheiten,
jenachdem von Selbstdressur oder, wenn der Mensch eingreift,
von Fremddressur. Das gesamte pflanzliche Leben besitzt, wie
wir zeigten, keine dieser Tatsachen und kann es auch gar nicht, 5
da es ja jene Rückmeldung von Organzuständen an ein Zen­
trum = Empfindung nicht hat. Die Grundlage alles Gedächt­
nisses ist der von Pawlow so genannte »bedingte Reflex«. Z. B.
sondert ein Hund nicht nur bestimmte Magensäfte ab, wenn das
Fressen in seinen Magen gelangt, sondern auch schon, wenn er 10
das Fressen sieht – oder die Schritte des Mannes hört, der ihm
das Fressen zu bringen pflegt. Der Mensch sondert die Verdau­
ungssäfte sogar schon dann ab, wenn ihm im Schlaf suggeriert
wird, daß er die betreffende Nahrung einnehme. Läßt man bei
einem Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst wird, gleich­ 15
zeitig mehrmals ein Signal erklingen, so kann auch ohne den |
adäquaten Reiz bei Eintreten des Signals das betreffende Verhal­

1 jenachdem ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,23: gestr. 2 jenachdem ] Ts 1/2 ,13: oder;


1947,23: gestr. 2 Gewohnheiten ] Ts 1,13 u. 1947,24 folgt: in qualitativer
Hinsicht 4 Fremddressur. ] Ts 1/2 ,13v u. 1947,24 folgt: Diese psychische
und physiologische Fähigkeit allem organischen Leben zuzusprechen
(wie Hering und Semon wollten) wäre richtig nur, wenn man damit
sagen will, daß das Verhalten alles Lebendigen niemals nur von dem
zeitlich unmittelbar vorhergehenden Zustand des Organismus, sondern
von seiner ganzen Vorgeschichte abhängig ist, daß Lebendiges – im Un­
terschied vom (phänomenal) Toten – keine streng soseinsidentischen
Zustände besitzt, daß also gleiche Ursachen und gleiche Wirkungen hier
nicht vorkämen. Es ist aber falsch, wenn man damit meint, daß spezi­
elle sensomotorische Verhaltungsweisen bei allem Lebendigen einen
bestimmenden Einfluß auf den jeweilig leichteren Ablauf ähnlicher
Verhaltungsweisen besitzen. Denn in diesem Sinne besitzt das gesamte
pflanzliche Leben … 5 wie … dieser ] Ts 2 ,13 u. 1947,24: keine obiger
6 auch … ja ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,24: auch nicht, da es, ganz nach außen
ergossen, 6 von ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,24 folgt: jeweiligen 7 Empfin-
dung ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,24 folgt: und ein Motorium 7 alles ] Ts 1/2 ,13 u.
1947,24: des assoziativen 11 oder ] Ts 2 ,13 u. 1947,24 folgt: sogar, wenn
er nur 15 einem ] Ts 1/2 ,13 u. 1947,24 folgt: solchen 17 Eintreten ]
Ts 1/2 ,14 u. 1947,24: Auslösen
33 Assoziatives Gedächtnis 31

ten eintreten. Solche Tatsachen nennt man »bedingten Reflex«.


Nur die psychische Analogie zu ihm ist die sogenannte asso-
ziative Gesetzlichkeit, nach der ein Gesamtkomplex von Vor­
stellungen sich wiederherzustellen und seine fehlenden Glieder
5 zu ergänzen strebt, wenn ein Teil dieses Komplexes sensorisch
oder motorisch wiedererlebt wird. Vollständig strenge Assozia­
tionen von Einzelvorstellungen, die nur dieser Gesetzmäßigkeit
von Berührung und Ähnlichkeit, d. h. partieller Identität der
Ausgangsvorstellungen mit früheren Komplexen, unterliegen,
10 dürften niemals vorkommen, sowenig wie ein völlig isolierter,
immer gleicher Reflex eines örtlich bestimmten Organs; sowe­
nig auch wie eine streng reiz-proportionale Empfindung, unab­
hängig von allen wechselnden Triebeinstellungen und allem
Gedächtnismaterial. Es handelt sich daher wahrscheinlich bei
15 allen Assoziationsgesetzen genau so wie bei den Naturgesetzen
der Physik, die Gesamtvorgänge betreffen, nur um statistische

1 Solche ] Ts 1,14 u. 1947,24 folgt: und ähnliche 2 zu ihm ] Ts 1/2 ,14 u.


1947,24: dazu 3 ein ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,24 folgt: erlebter 5 Komplexes ]
Ts 1/2 ,14 u. 1947,24 folgt: z. B. ein Teil der Umwelt 6 wird. ] Ts 1,14 u.
1947,24 f. folgt: Zerfällt ein Komplex in mehrere Teilstücke, so können
sich auch diese Einzelvorstellungen wieder verbinden nach dem Gesetz
von ›Berührung und Ähnlichkeit‹. Die sog. Assoziationsgesetze für
die Reproduktion von Vorstellungen resultieren hieraus. So sicher hier
eine eigentümliche Gesetzlichkeit des psychischen Lebens vorliegt, die
bei einigen höheren Tierarten, besonders den Wirbel- und Säugetieren
eine sehr große Rolle spielt, so hat doch die Forschung gewiß gemacht:
11 eines ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25 folgt: einzelnen 12 reiz-proportionale ]
Ts 1,14 u. 1947,25 folgt: ›reine‹ 13 wechselnden ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25
folgt: determinierenden 14 Gedächtnismaterial ] Ts 1/2 ,14v u. 1947,25
folgt: (Jede Empfindung ist immer eine Funktion des Reizes und der
triebhaften Aufmerksamkeit.) So wenig es [Ts 1,14v folgt: also] eine
›reine‹ isolierte streng reizproportionale Empfindung gibt, so wenig eine
›reine‹ Assoziation. Alles assoziative Gedächtnis steht unter der deter­
minierenden Kraft von Trieben, Bedürfnissen und deren Aufgaben, die
diese selbst (oder der Zwang des Dresseurs) [Ts 2 ,14v folgt: dem Orga­
nismus] setzen. 14 daher wahrscheinlich ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25: gestr.
32 Stufenfolge des psychophysischen Seins 33 | 34

Regel­mäßigkeiten. Alle diese Begriffe (Empfindung, assoziati­


ver Reflex) haben daher den Charakter von Grenzbegriffen, die
nur die Richtung einer gewissen Art von psychischen respektive
physiologischen Veränderungen andeuten. Annähernd reine
Assoziationen finden sich wohl nur bei ganz bestimmten Aus­ 5
fallserscheinungen gedanklicher Oberdeterminanten, z. B. bei
äußeren Klangassoziationen der Sprachworte im Zustande der
Ideenflucht. Ferner kann gezeigt werden, daß im Altern der see­
lische Vorstellungsverlauf sich dem Asso | ziationsmodell mehr
und mehr annähert, wie die Veränderungen der Schrift, des 10
Zeichnens, der Malerei, der Sprache im hohen Alter zu bezeu­
gen scheinen; sie erhalten alle einen zunehmend additiven,
nicht-ganzheitlichen Charakter. Analog nähert sich im Altern
die Empfindung der Reizproportionalität. Geradeso wie der
leibliche Organismus im Laufe des Lebens immer mehr einen 15
relativen Mechanismus hervorbringt – bis er im Tode ganz in
einen solchen versinkt –, bringt auch unser psychisches Leben
immer mehr rein gewohnheitsmäßige Verbindungen von Vor­
stellungen und Verhaltungsweisen hervor : der Mensch wird im
Altern immer mehr der Sklave der Gewohnheit. Ferner folgen 20
die Assoziationen von Einzelvorstellungen genetisch den Kom­

1 Regelmäßigkeiten ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25 folgt: nicht um Elemen­


targesetze des Seelenlebens (wie Locke, Hume, Mill, die gesamte
Assozia­t ionspsychologie meinten). 1 diese ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25: gestr.
2 (Empfindung, assoziativer Reflex) ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25: wie ›reine‹
Empfindung, assoziativer Reflex [1962 ,27 folgt: etc.] 4 physiolo-
gischen ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25: physischen; 1962 ,27: physiologischen
9 Ferner … Vorstellungsverlauf ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25: So wenig ist diese
Verknüpfungsweise genetisch elementar, daß erst im Alter [1962 ,27: Al-
tern] der seelische Vorstellungsverlauf (als Folge der Stärkeminderung
und der Differenzierungsabnahme des Trieblebens) 12 zu bezeugen
scheinen ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,25: bezeugen 13 Charakter. ] Ts 1/2 ,14 u.
1947,26 folgt: (d. h. die Assoziationsgesetze gelten angenähert für den
senilen Schwachsinn.); 1962 ,27: (d. h. die Assoziationsgesetzlichkeit gilt
… Schwachsinn.) 14 Reizproportionalität ] Ts 1/2 ,14 u. 1947,26 folgt
nach einem Komma: der ›reinen‹ Empfindung. 17 bringt ] Ts 1/2 ,14 u.
1947,26: so bringt
34 | 35 Assoziatives Gedächtnis 33

plexassoziationen, die ihrerseits dem instinktiven Ablauf etwas


näherstehen. Genau wie die nüchterne Wahrnehmung von
Tatbeständen ohne Phantasieüberschuß respektive mythische
Verarbeitung ein Spätphänomen der seelischen Entwicklung
5 ist für den Einzelnen respektive für ganze Völker, so ist auch
die assoziative Verbindung ein solches Spätphänomen.* Es hat
sich ferner gezeigt, daß es fast keine Assoziation gibt, die ganz
ohne intellektuellen Einfluß ist. Niemals findet sich der Fall, daß
der Übergang von assoziativer Zufallsreaktion zu sinnmäßiger
10 Reaktion streng stetig mit der Zahl der Versuche wächst. Die
Kurven zeigen fast immer Unstetig | keiten, und zwar in dem
Sinne, daß die Wendung von Zufall zu Sinn schon etwas früher
eintritt, als es das reine Prinzip von Versuch und Irrtum nach
den Wahrscheinlichkeitsregeln erwarten läßt. –

15 * Vgl. hierzu meine Abhandlungen »Soziologie des Wissens« und


»Arbeit und Erkenntnis« in »Die Wissensformen und die Gesellschaft«
(Leipzig 1926).

1 etwas ] 1962 ,28: noch 2 Ferner … näherstehen. ] Ts 1,15 u. 1947,26 u.


1949,29: gestr.; 1962 ,28: wieder eingefügt 2 Genau ] Ts 1/2,15 u. 1947, 28
folgt: so 3 respektive ] 1927,181: und; Ts 1/2 ,15 u. 1947,26: bzw. ohne
5 Völker ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26 folgt: – das ganze Leben der Völker in ih­
rer mythologischen Jugendperiode, nicht minder das seelische Leben
des Kindes ist dagegen [dagegen hs. eingefügt, in 1947,26 wieder gestr. ]
überwuchert und zugedeckt von der spontanen ursprünglichen Trieb-
und Wunschphantasie – 6 die ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26 folgt: (gehirnphy­
siologisch sehr hoch lokalisierte) 8 Es hat sich … Einfluß ist. ] Ts 1/2 ,15
u. 1947,26: Sie ist [Ts 2 ,15 folgt: also; in Ts 1 durchgestr.] nichts weniger
als [1947,26 gestr.: (genetisch)] ein Elementarphänomen, zu dem später
synthetisierende Bindungen durch ein sogenanntes ›beziehendes Den­
ken‹ oder eine ›Oberseele‹ träten. Das assoziative Gedächtnis ist auch
darin nie ›rein‹, daß es, wie sich gezeigt hat, fast keine Assoziation gibt,
die ganz ohne intellektuellen Einschlag ist. 9 sinnmäßiger ] 1949,29:
sinngemäßer; 1962 ,28: sinnmäßiger 11 Unstetigkeiten ] Ts 1/2, 15
u. 1947, 26: Unstetigkeit 13 es ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26: gestr. 14 läßt ]
Ts 1/2 ,15: folgt: – so, als sei durch die Zahl der Versuche [Ts 2,15 folgt: an
einer bestimmten Stelle] so etwas wie ›Einsicht‹ geweckt worden.; ohne
Ergänzung übernommen in 1947,26 15 In Ts 2,15 drei Zeilen später ein-
34 Stufenfolge des psychophysischen Seins 35 | 36

Das Prinzip des Gedächtnisses ist in irgendeinem Grade


bereits bei allen Tieren tätig und stellt sich als unmittelbare
Folge des Auftretens des Reflexbogens, einer Scheidung des sen­
sorischen vom motorischen Systeme dar. In der Verbreitung gibt
es nun aber gewaltige Unterschiede. Die typischen Instinkttiere 5
mit kettenartig geschlossenem Bau zeigen es am wenigsten; die
Tiere von plastischer, wenig starrer Organisation, mit großer
breiter Kombinierbarkeit immer neuer Bewegungen aus Teil­
bewegungen, zeigen es am schärfsten (Säuge- und Wirbeltiere).
Eng verbindet sich das Prinzip vom ersten Augenblick seines 10
Auftretens an mit der Handlungs- und Bewegungsnachahmung
auf Grund des Affektausdruckes und der Signale der Artgenos­
sen. »Nachahmung« und »Kopieren« sind nur Spezialisierungen
jenes Wiederholungstriebes, der zunächst eigenen Verhaltungs­
weisen und Erlebnissen gegenüber tätig ist und sozusagen den 15
Dampf alles reproduktiven Gedächtnisses darstellt. Durch die
Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wich­
tige Tatsache der »Tradition«, die zur biologischen Vererbung
eine ganz neue Dimension der Bestimmung des tierischen Ver­
haltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenos­ 20
sen hinzubringt, die jedoch anderseits von aller freibewußten
Erinne­r ung an Vergangenes (Anamnesis) und von aller Über­
lieferung auf Grund | von Zeichen, Quellen, Dokumenten aufs

gefügt; 1947, 88: leicht gekürzt im Anhang abgedruckt, so auch in 1949,94;


1962, 28: als stark gekürzte Fn.: Vgl. hierzu meine Abhandlung ›Erkennt­
nis und Arbeit‹, Abschn. V. 1 des ] Ts 1,15 u. 1947,26 folgt: assoziativen
1 Gedächtnisses ] Ts 2 ,15 folgt: Mneme; in Ts 1 durchgestr.; fehlt in
1947,26 3 einer ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26: der 4 der ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26
folgt: Größe seiner 5 nun ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26: gestr. 5 Instinkt-
tiere ] Ts 1/2 ,15 u. 1947,26 folgt: (Gliedertiere) 9 Wirbeltiere). ] Ts 1/2 ,15
u. 1947,27 folgt: Im Menschen nimmt das Prinzip der Assoziation,
­Reproduktion die größte Ausdehnung an. 12 Signale ] Ts 2 ,15: Kund­
gabe; Ts 1,15 u. 1947,27: Signale 14 Wiederholungstriebes, ] Ts 1/2 ,15
u. 1947,27 folgt: angewandt auf fremdes Verhalten und Erleben,
21 die jedoch anderseits ] 1927,182: und die; Ts 1/2 ,16 u. 1947,27: je­
doch 23 Dokumenten ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,27 folgt: (allem Geschichts­
wissen)
36 | 37 Assoziatives Gedächtnis 35

allerschärfste geschieden werden muß. Während jene letzteren


Formen von Überlieferung nur dem Menschen eigentümlich
sind, tritt die Tradition schon in den Horden, Rudeln und son­
stigen Gesellschaftsformen der Tiere auf. Auch hier »lernt« die
5 Herde, was die Pioniere vormachen, und vermag es kommen­
den Generationen zu überliefern. Ein gewisser »Fortschritt«
ist schon durch die Tradition möglich. Doch beruht alle echte
menschliche Entwicklung wesentlich auf einem zunehmen­
den Abbau der Tradi­tion. Bewußte »Erinnerung« an indivi­
10 duelle, einmalig erlebte Geschehnisse und stetige Identifika­
tion einer Mehrheit von Erinnerungsakten untereinander auf
ein und dasselbe Vergangene hin, die wahrscheinlich nur dem
Menschen eigen ist, stellt stets die Auflösung, ja die eigentliche
Tötung der lebendigen Tradition dar. Die tradierten Inhalte sind
15 uns ja gleichwohl stets als »gegenwärtig« gegeben, sind zeitlich
undatiert, und erweisen sich wohl als wirksam auf unser gegen­
wärtiges Tun, ohne aber selbst dabei in einer bestimmten Zeit­
distanz gegenständlich zu werden. Die Vergangenheit sugge-
riert uns mehr in der »Tradition«, als daß wir um sie wissen.
20 Die Suggestion, ja nach P. Schilder wahrscheinlich auch die
Hypnose, ist eine schon in der Tierwelt weitverbreitete Erschei­
nung. Letztere dürfte als Hilfsfunktion der Begattung entstan­
den sein und diente wohl zuerst dem Ziele, das Weibchen in
einen Zustand der Lethargie zu versetzen. Die Suggestion ist
25 eine primäre Erscheinung gegenüber der »Mitteilung« z. B. eines
Urteils, dessen Sach | verhalt selbst im »Verstehen« erfaßt wird.
Dieses letztere »Verstehen« von gemeinten Sachverhalten, die in
einem sprachlichen Satz geurteilt werden, findet sich nur beim

1 jene ] 1962 ,29: diese 2 von Überlieferung ] 1927,182: von aller Überlie­
ferung; Ts 1/2 ,16 u. 1947,27: gestr. 7 ist ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,27 folgt: daher
7 Tradition ] 1927,182 folgt: selbst 13 die wahrscheinlich … eigen ist, ]
Ts 1/2 ,16 u. 1947,27: ist nur dem Menschen eigen; sie 15 sind ] Ts 1/2 ,16
u. 1947,27: als; 1962 ,29: sind 16 und erweisen sich wohl ] Ts 1/2 ,16 u.
1947,27: sie erweisen sich 24 einen ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,28: den 26 Sach-
verhalt ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,28: Sach-Sinnverhalt 28 geurteilt ] Ts 1/2 ,16 u.
1947,28 u. 1962 ,30: beurteilt
36 Stufenfolge des psychophysischen Seins 37 | 38

Menschen. Die Abtragung der Traditions­gewalt schreitet in der


menschlichen Geschichte zunehmend fort. Sie ist eine Leistung
der ratio, die stets in ein und demselben Akte einen tradierten
Inhalt objektiviert und dadurch in die Vergangenheit, in die er
gehört, gleichsam zurückwirft – damit den Boden freimachend 5
für je neue Erfindungen und Entdeckungen. In der Geschichte
nimmt der Druck, den die Tradition auf unser Verhalten vor-
bewußt ausübt, analog durch die fortschreitende Geschichts­
wissenschaft zunehmend ab. Die Wirksamkeit des assoziativen
Prinzips bedeutet im Aufbau der psychischen Welt zugleich den 10
Verfall des Instinktes und seiner Art von »Sinn«, wie Fortschritt
der Zentralisierung und der gleichzeitigen Mechanisierung des
organischen Lebens. Sie bedeutet ferner die zunehmende Her-
auslösung des organischen Individuums aus der Artgebunden­
heit und aus der anpassungslosen Starrheit des Instinktes. Denn 15
erst durch den Fortschritt dieses Prinzips vermag das Indivi­
duum sich je neuen, d. h. nicht-arttypischen Situationen anzu­
passen; es hört damit auf, nichts weiter zu sein als ein Durch­
gangspunkt von Fortpflanzungsprozessen.
Ist das Prinzip der Assoziation im Verhältnis zur technischen 20
Intelligenz also ein relatives Prinzip der Starrheit und Gewohn­
heit – ein »konservatives« Prinzip –, so ist es im Verhältnis zum
Instinkt jedoch bereits ein mächtiges | Werkzeug der Befreiung.

1 Die Suggestion, ja … beim Menschen. ] Ts 1,16 u. 1947,28: als Fn.


4 dadurch ] Ts 1/2 ,16 u. 1947,28: gestr. 6 Entdeckungen. ] Ts 1/2 ,17
folgt: Die sehr langsame Abtragung der Wirksamkeit all dieser Mächte,
welche die ›Gewohnheit zur Amme des Menschen‹ machen, ist ein we­
sentlicher Teil der [Ts 1,17: aller] Geschichte.; wie in Ts 1 auch in 1947,28
8 analog ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28: gestr. (Satz wurde umstrukturiert)
11 den Verfall ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28: Zerfall 11 wie ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28:
und 12 der ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28: gestr. 14 Herauslösung ] Ts 2 ,17 folgt:
Erlösung; nicht in 1947,28 übernommen 15 aus ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28:
gestr. 16 dieses ] Ts 2 ,17 folgt: instinktüberlegenen; nicht in 1947,28
übernommen. 20 technischen ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28: praktischen
21 also ] Ts 1/2 ,17 (hs.) u. 1947,28: – wie wir sehen werden – noch
23 jedoch ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28: also
38 Assoziatives Gedächtnis 37

Es schafft eine ganz neue Dimension von Möglichkeiten des Rei­


cherwerdens des Lebens. Das gilt auch für die Triebe. Der vom
Instinkt entbundene Trieb erscheint relativ schon bei den höhe­
ren Tieren und damit freilich der Horizont der Maßlosigkeit –
5 er wird schon hier mögliche Lustquelle, unabhängig vom Gan­
zen der Lebenserfordernisse. Nur solange z. B. der Sexualimpuls
eingebettet ist in die tiefe Rhythmik der mit dem Wandel der
Natur einhergehenden Brunstzeiten, ist er ein unbestechlicher
Diener des Lebens. Aus der instinktiven Rhythmik herausge­
10 löst, wird er mehr und mehr selbständige Quelle der Lust und
kann schon bei höheren Tieren, insbesondere bei gezähmten,
den biologischen Sinn seines Daseins weit überwuchern (z. B.
Onanie bei Affen, Hunden usw.). Wird das Triebleben, das
ursprünglich durchaus auf Verhaltungsweisen und Güter und
15 keineswegs auf die Lust als Gefühl gerichtet ist, prinzipiell als
Lustquelle benutzt, wie in allem Hedonismus, so haben wir es
mit einer späten Dekadenzerscheinung des Lebens zu tun. Die
rein auf die Lust gerichtete Lebenshaltung stellt eine ausge­
sprochene Alters­erscheinung des individuellen wie des Völker-
20 Lebens dar, wie etwa der alte Trinker, der »den Tropfen kostet«,
und analoge Erscheinungen im Erotischen bezeugen. Ebenso ist
die Trennung der höheren und niederen seelischen Funktions­
freuden von der Zustandslust der Triebbefriedigung und das
Über­w uchern der Zustandslust über die vitalen und geistigen
25 Funk­tionsfreuden eine Alterserscheinung. Erst im Menschen

1 von Möglichkeiten ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,28: gestr. 2 Triebe ] Ts 1/2 ,17


u. 1947,28 folgt: Gefühle, Affekte. 4 und damit freilich ] Ts 1/2 ,17
u. 1947,28: damit freilich auch 13 usw. ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,29: gestr.
15 ist, ] Ts 1,17 u. 1947,29 folgt: vom Menschen; Ts 2 ,17: beim Menschen
17 des ] Ts 1,17 u. 1947,29 folgt: menschlichen 17 zu tun. ] 1947,88 Fn.:
Vgl. zur Kritik des Hedonismus – Eudämonismus ›Der Formalismus
in der Ethik und die materiale Wertethik‹.; 1962 ,31: gestr. 25 Alters­
erscheinung. ] Ts 1/2 ,17 folgt: Das ›Lustprinzip‹ ist also nichts Ursprüng­
liches, wie der Hedonismus, der [Ts 1,17: ein] Bruder des Sensualismus,
meint, sondern eine [Ts 1: eine weggelassen] Folge erst gesteigerter as­
soziativer Intelligenz.; ohne die Abweichungen in Ts 1 übernommen in
38 Stufenfolge des psychophysischen Seins 38 | 39

aber nimmt diese | Isolierbarkeit des Triebes aus dem instink­


tiven Verhalten und jene Trennbarkeit von Funktions- und
Zustandslust die ungeheuerlichsten Formen an, sodaß man mit
Recht gesagt hat, der Mensch könne immer nur mehr oder weni­
ger als ein Tier sein, niemals aber – ein Tier. – 5

Praktische Intelligenz (Höhere Tiere)

¶ Wo immer die Natur diese neue psychische Form des asso­


ziativen Gedächtnisses aus sich hervorgehen ließ, hat sie, wie
ich schon oben andeutete, immer auch zugleich das Korrektiv
für ihre Gefahren schon in die ersten Anlagen dieser Fähigkeit 10
mithineingelegt. Und dieses Korrektiv ist nichts anderes als
die vierte Wesensform des psychischen Lebens – die prinzi­piell
noch organisch gebundene praktische Intelligenz, wie wir sie
nennen wollen. Eng mit ihr einher geht die Wahlfähigkeit und
Wahlhandlung, ferner die Vorzugsfähigkeit für die Güter oder 15
für die Artgenossen im Prozeß der Fortpflanzung (Anfänge des
Eros).

1947,29; 1962 ,96 Fn.: Vgl. zu ›Fühlen‹ (als Funktion) und ›Gefühl‹ (als
Zustand) in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
Abschnitt V 2; s[iehe] Sachregister der 4. Auflage 1954, Ges. W. Bd. 2.
1 aber ] Ts 1/2 ,17 u. 1947,29: gestr. 2 jene ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,29:
die 4 nur ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,29: gestr. 9 oben ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,29:
gestr. 9 immer auch ] 1947,29: gestr. 10 Fähigkeit ] 1949,33: Fähig­
keiten; 1962 ,32: Fähigkeit 11 mithineingelegt ] 1927,185: hineinge­
legt 11 Und ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,29: gestr. 12 die vierte … Lebens ]
Ts 1,18: von fremder Hand eingeklammert; 1947,29: ohne Klammern
übernommen 13 praktische ] In Ts 1/2 ,18 u. 1947,29 hinzugefügt
14 die ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,29 folgt: ebenso noch organisch gebundene
16 ferner die Vorzugsfähigkeit für die Güter oder für die ] Ts 1/2 ,18 u.
1947,29 f.: die Vorzugsfähigkeit zwischen Gütern und die über den blo­
ßen Geschlechtstrieb hinausgehende Vorzugsfähigkeit zwischen den
17 (Anfänge des Eros). ] 1947,88 Fn.: Vgl. über Geschlechtstrieb und
Geschlechtsliebe in ›Wesen und Formen der Sympathie‹; ferner in der
Abhandlung ›Über Scham und Schamgefühl‹, Nachlaßband I 1933.;
39 | 40 Praktische Intelligenz (Höhere Tiere) 39

Auch das intelligente Verhalten können wir zunächst definie­


ren ohne Hinblick auf die psychischen Vorgänge. Ein Lebewesen
»verhält« sich intelligent, wenn es ohne Probierversuche, oder
je neu hinzutretende Probierversuche, ein sinngemäßes – sei
5 es »kluges«, sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merk­
bar anstrebendes, also »törichtes« – Verhalten neuen, weder
art- noch individualtypischen Situationen gegenüber vollzieht,
und zwar plötzlich, und vor allem unabhängig von der Anzahl
der vorher gemachten Versuche, eine triebhaft bestimmte Auf­
10 gabe zu lösen. Wir sprechen von organisch gebundener Intel­
ligenz | so lange, als das innere und äußere Verfahren, das das
Lebewesen einschlägt, im Dienste einer Triebregung und einer
Bedürfnisstillung steht. Wir nennen ferner diese Intelligenz
auch praktisch, da ihr Endsinn immer ein Handeln ist, durch
15 das der Organismus sein Trieb-Ziel entweder erreicht oder ver­
fehlt.* Gehen wir aber auf die psychische Seite hinüber, so kön­
nen wir Intelligenz definieren als die plötzlich aufspringende
Einsicht in einen zusammenhängenden Sachverhalt und Wert­
verhalt innerhalb der Umwelt, der weder direkt wahrnehmbar
20 gegeben ist noch auch je wahrgenommen wurde, d. h. reproduk­
tiv verfügbar wäre. Positiv ausgedrückt : als Einsicht in einen

* Dieselbe Intelligenz kann beim Menschen auch in den Dienst spezi­


fisch geistiger Ziele gestellt werden; erst dann erhebt sie sich über Schlau-
heit und List.

1962 ,96 ergänzt: Vgl. über ›Geschlechtstrieb‹ und ›Geschlechtsliebe‹


in Wesen und Formen der Sympathie (s[iehe] Sachregister); ferner die
nachgelassene Abhandlung ›Von Scham und Schamgefühl‹, erstmalig
veröffentlicht in Schriften aus dem Nachlaß, Berlin 1933, 2. Auflage
1957 im Francke Verlag in Schriften aus dem Nachlaß Bd I ›Zur Ethik
und Erkenntnislehre‹; s[iehe ] Gesammelte Werke Bd. 10. 6 »törich-
tes« ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,30 folgt: (töricht kann nur sein, wer intelligent ist)
12 und ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,30: oder 13 ferner ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,30: gestr.
16 entweder erreicht oder verfehlt. ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,30: erreicht (bzw.
verfehlt). 16 aber ] Ts 1/2,18 u. 1947,30: gestr. 20 je ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,30
folgt: vorher 22 Ts 1/2,18 u. 1947, 30: Fn. in den Text versetzt
40 Stufenfolge des psychophysischen Seins 40 | 41

Sachverhalt auf Grund eines Beziehungsgefüges, dessen Fun­


damente zu einem Teil in der Erfahrung gegeben sind, zum
anderen Teile antizipatorisch in der Vorstellung, z. B. auf einer
bestimmten Stufe optischer Anschauung, hinzu ergänzt werden.
Für dieses nicht reproduktive, sondern produktive Denken ist 5
also kennzeichnend immer die Antizipation, das Vorherhaben
eines neuen, nie erlebten Tatbestandes (prudentia, providentia,
Schlauheit, List). Der Unterschied gegenüber dem assoziativen
Gedächtnis liegt hier klar zutage : Die zu erfassende Situation,
der im Verhalten praktisch Rechnung zu tragen ist, ist nicht nur 10
artneu und atypisch, sondern vor allem auch dem Individuum
»neu«. Ein solches objektiv sinnvolles Verhalten erfolgt außer­
dem | plötzlich und zeitlich vor neuen Probierversuchen und
unabhängig von der Zahl der vorhergehenden Versuche. Auch
im Ausdruck, insbesondere des Auges, drückt sich diese Plötz­ 15
lichkeit aus, z. B. im Aufleuchten des Auges, das W. Köhler sehr
plastisch als Ausdruck eines »Aha«erlebnisses deutet. Ferner :
Nicht Verbindungen von Erlebnissen, die mir gleichzeitig gege­
ben waren, rufen die neue Vorstellung hervor, die eine Lösung
der Aufgabe enthält; auch nicht feste, typische, wiederkehrende 20
Gestaltsstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhal­
ten aus – vielmehr sind es vom Triebziel gleichsam ausgewählte
Sachbeziehungen der Umweltteile zueinander, welche die neue

1 Sachverhalt ] Ts 1/2 ,18 u. 1947,30 folgt: (seinem Dasein und zufäl­


ligen Sosein nach) 7 prudentia, providentia ] Ts 1/2 ,19 folgt: Klug­
heit,; 1947,30: pro-videntia, prudentia, Klugheit; 1962, 33: pro-videntia,
Klugheit 8 Unterschied ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,30 folgt: der Intelligenz
9 hier ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,30: gestr. 13 außerdem ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31:
gestr. 14 Auch ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: Schon 15 insbesondere des
Auges, ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr. 16 Auges ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt:
des Tieres 19 waren ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: oder in ihren Teilen
partiell identisch, d. h. ähnlich sind, 19 rufen ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt:
hier 20 feste, typische, wiederkehrende ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: feste ty­
pisch wiederkehrende 22 Triebziel ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: determi­
nierte 23 der ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: wahrgenommenen einzelnen
23 die neue ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: die das Aufspringen der neuen
41 | 42 Praktische Intelligenz (Höhere Tiere) 41

Vorstellung zufolge haben : Beziehungen wie gleich, ähnlich,


analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache
von etwas, usw.
Ob die Tiere, insbesondere die höchsten Menschenaffen,
5 die Schimpansen, die hier geschilderte Stufe des psychischen
Lebens erreicht haben oder nicht, darüber herrscht heute ein
verwickelter und unerledigter wissenschaftlicher Streit, den
ich hier nur oberflächlich berühren kann. Seit Wolfgang Köh­
ler seine auf der deutschen Versuchsstation in Teneriffa mit
10 erstaunlicher Geduld und Ingeniosität vorgenommenen lang­
jährigen Versuche mit Schimpansen in den Abhandlungen der
preußischen Akademie der Wissenschaft veröffentlicht hat, ist
der Streit nicht verstummt, an dem sich fast alle Psycho­logen
beteiligt haben. Köhler spricht meines Erachtens mit vollem
15 Recht seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlun­
gen zu. Andere Forscher bestreiten sie – | fast jeder sucht mit
anderen Gründen die alte Lehre zu stützen, es komme den Tie­
ren nichts weiter zu als Gedächtnis und Instinkt und es sei die
Intelligenz auch schon als primitive Schlußfolgerung (ohne Zei­
20 chen) ein, ja das Monopol des Menschen. Die Köhlerschen Ver­
suche bestanden darin, daß zwischen dem Triebziel (z. B. eine
Frucht, etwa eine Banane) und dem Tiere steigend verwickel­
tere Umwege oder Hindernisse oder als mögliche »Werkzeuge«

1 zufolge ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: zur Folge 3 usw. ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31:
gestr. 4 die Tiere ] 1947,31: das Tier 4 höchsten ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31:
höchstorganisierten 7 wissenschaftlicher ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr.
8 den … berühren ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: der hier nur oberflächlich be­
rührt werden 10 Geduld ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: Genauigkeit 12 in
den … Wissenschaft ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr.; 1962 ,34: als Fn. wieder
eingefügt 13 der ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: dieser 14 haben. ] 1947,88 Fn.:
Vgl. Wolfgang Köhler, Abhandlungen der Preußischen Akademie der
Wissenschaften.; 1962 ,34: Fn. geändert in: In den Abhandl. d. Preuss.
Akad. der Wissenschaften, Berlin 1917/18. 16 Intelligenzhandlungen ]
Ts 1/2 ,19 u. 1947,31 folgt: im oben definierten Sinne 18 als ] Ts 1/2 ,19 u.
1947,31 folgt: assoziatives 21 dem ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr. 22 etwa
eine Banane ] Ts 1/2 ,19 u. 1947,31: gestr.
42 Stufenfolge des psychophysischen Seins 42 | 43

dienende Gegenstände (Kisten, Stöcke, Seile, mehrere inein­


ander schiebbare Stöcke, Stöcke, die erst herbeizuschaffen oder
zu solchen zu präparieren waren) eingeschoben wurden, und
dann zu beobachten, ob, wie und mit welchen vermutlichen psy­
chischen Funktionen das Tier nun sein Triebziel zu erreichen 5
weiß und wo hier die bestimmten Grenzen seiner Leistungs­
fähigkeiten liegen. Die Versuche erwiesen meines Erachtens
klar, daß die Leistungen der Tiere nicht alle aus Instinkten und
dazutretenden assoziativen Vorgängen abgeleitet werden kön­
nen, sondern daß in einigen Fällen echte Intelligenzhandlun­ 10
gen vorliegen. Was an solch praktisch-organisch gebundener
Intelligenz vorzuliegen scheint, sei kurz skizziert : Indem das
Triebziel, z. B. eine Frucht, dem Tiere optisch aufleuchtet und
sich gegenüber dem optischen Umwelt-Felde scharf abhebt und
verselbständigt, bilden sich alle Gegebenheiten, die die Umwelt 15
des Tieres enthält, insbesondere das ganze optische Feld zwi­
schen Tier und Umwelt, eigenartig um. Es strukturiert sich in
seinen Sachbezügen so, erhält ein derartiges relativ »abstrak­
tes« Relief, daß Dinge, die, für sich wahr | genommen, ent­weder
gleichgültig erscheinen oder als etwas »zum Beißen«, etwas 20
»zum Spielen«, etwas »zum Schlafen« (z. B. eine Decke, die das
Tier aus seinem Schlafraum holt, um eine direkt nicht erreich­
bare, außerhalb des Käfigs liegende Frucht heranzuziehen), den
dynamischen Bezugscharakter »Ding zum Fruchtholen« erhal­
ten; nicht also nur wirkliche Stöcke, die den Ästen ähnlich sind, 25
an denen im normalen Baumleben des Tieres Früchte hängen –
das könnte noch als Instinkt gedeutet werden –, sondern auch

3 zu solchen ] Ts 1, 20 u. 1947, 31: als solche 4 zu beobachten ] Ts 1/2,20


u. 1947,32: beobachtet wurde 6 die bestimmten ] Ts 1,20 u. 1947,32: die
genau bestimmbaren 7 Leistungsfähigkeiten ] Ts 1/2,20 u. 1947,32:
Leistungsfähigkeit 7 erwiesen meines Erachtens ] Ts 1/2, 20 u. 1947, 32:
erweisen [Ts: erwiesen] nach meiner Ansicht 9 Vorgängen ] Ts 1/2,20 u.
1947,32 folgt: (Gedächtniskomponenten vorhandener Vorstellungsverbin­
dungen) 10 sondern daß ] Ts 1/2,20 u. 1947,32: daß vielmehr 17 Um­-
welt ] Ts 1/2,20 u. 1947,32: Frucht 19 entweder ] Ts 1/2,20 u. 1947,32: dem
Tier entweder 23 den ] Ts 1/2,20 u. 1947,32 folgt: abstrakten
43 | 44 Praktische Intelligenz (Höhere Tiere) 43

ein Stück Draht, eine Strohhutkrempe, Strohhalme, eine Decke,


kurz alles, was die abstrakte Vorstellung erfüllt, »beweglich und
langgestreckt« zu sein. Die Trieb­dynamik im Tiere selbst ist es,
die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestand­
5 teile hinein zu erweitern beginnt. Der Gegenstand, den das Tier
gebraucht, erhält den allerdings nur okkasionellen dynamischen
Funktionswert eines »Etwas zur Annäherung der Frucht«. Das
Seil, der Stock selbst scheint sich dem Tiere auf das optisch gege­
bene Ziel hin zu »richten«, wenn nicht hin zu bewegen. Das Kau-
10 sal- oder Wirkphänomen, das keineswegs in ein regelmäßiges
Nacheinander der Erscheinungen aufgeht, dürften wir hier in
seinem ersten Ursprung belauschen. »Wirken« ist also ein Phä­
nomen, das in der Vergegenständlichung der erlebten Trieb­
handlungskausalität des Lebewesens auf die Dinge der Umwelt
15 beruht, und fällt hier mit »Mittel«-sein noch vollständig zusam­
men. Gewiß findet die beschriebene Umstrukturierung hier
nicht durch bewußte reflexive Tätigkeit statt, sondern durch
eine Art anschaulich sach | licher »Umstellung« der Umwelt­
gegebenheiten selbst. Der große Unterschied der Begabung

5 Der ] Ts 1/2 ,20 u. 1947,32 folgt: betreffende 7 eines ] Ts 1/2 ,20 u.


1947,32 folgt: ›Werkzeugs‹, eines 7 Frucht«. ] Ts 1/2 ,20 u. 1947,32 folgt:
Er erhält den Charakter der sinnmäßigen Gerichtetheit auf das op­
tisch gegebene stark aufleuchtende Ziel hin: 9 bewegen. ] Ts 1/2 ,20v u.
1947,33 folgt: Bei der viel größeren Nachgiebigkeit des tierischen (auch
des kindlichen und primitiv-menschlichen) optischen Komplexes für
Begierden, Triebe, Wunschziele ist es nicht ausgeschlossen, daß diese
Verlagerung gleichsam des Triebimpulses in die Umweltdinge hinein (als
›wollten diese selber alle zur Frucht hin‹, nicht nur das Tier) auch opti­
sche Bewegungserscheinungen des Stockes in die Richtung der Frucht
auftreten läßt (eine Erscheinung, die E. R. Jaensch für die optischen An­
schauungsbilder bei Kindern nachwies). 10 Wirkphänomen, ] Ts 1/2 ,20
u. 1947,33 folgt: ein dynamisches Phänomen, 11 aufgeht, ] Ts 1/2 ,20 u.
1947,33 folgt: – wie Hume vermeinte – , 12 »Wirken« ist also ] Ts 1/2 ,20
u. 1947,33: als 14 des Lebewesens ] 1947,33: gestr. 16 hier ] Ts 1,21 u.
1947,33: beim Tiere 18 anschaulich sachlicher ] 1962 ,35: anschaulicher
19 selbst. ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,33 folgt: Aber es ist doch echte Intelligenz,
Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit.
44 Stufenfolge des psychophysischen Seins 44

der Tiere zu solchem Verhalten bestätigt übrigens den intelli­


genten Charakter dieser Handlungen. Ähnliches gilt für Wahl
und Wahlhandlung. Es ist irrig, dem Tiere die Wahlhandlung
abzusprechen, zu meinen, daß immer nur der je »stärkere« Ein­
zeltrieb es bewege. Das Tier ist kein Triebmechanismus. Nicht 5
nur sind seine Triebimpulse nach führenden Obertrieben und
ausführenden Untertrieben und Hilfstrieben, ferner nach Trie­
ben zu allgemeineren und spezielleren Leistungen bereits scharf
gegliedert; es vermag darüber hinaus auch von seinem Triebzen-
trum her spontan in seine Triebkonstellation einzugreifen und 10
bis zu einer gewissen Grenze nahewinkende Vorteile zu meiden,
um zeitlich entferntere und nur auf Umwegen zu gewinnende,
aber größere zu erreichen. Das, was das Tier sicher nicht hat, ist
erst jenes Vorziehen zwischen Werten selbst – z. B. das Nütz­
liche vor dem Angenehmen – unabhängig von den einzelnen 15
konkreten Güterdingen. In allem Affektiven steht das Tier dem
Menschen sogar noch viel näher als in bezug auf Intelligenz;
Geschenk, Versöhnung, Freundschaft und ähnliches kann man
bereits bei Tieren finden.

2 intelligenten ] Ts 1,21 u. 1947,33 folgt: (nicht instinktiven) 5 es ]


Ts 1/2 ,21 u. 1947,33 folgt: (nach dem Resultantenprinzip) 5 Trieb­
mechanismus ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,33 folgt: – so wenig als es ein Instinkt­
automatismus und Assoziations- und Reflexmechanismus ist. 9 dar-
über hinaus ] 1927,190: vielmehr 10 her ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,33 folgt: das es
(im Gegensatz zur Pflanze) entsprechend dem Maß der Einheitsstruktur
seines Nervensystems hat, 13 größere ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,33 folgt: Vor­
teile 15 z. B. das Nützliche … Angenehmen ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,33 f.: z. B.
das Vorziehen des Nützlichen als Wert vor dem Angenehmen als Wert
16 Güterdingen ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,34 folgt: und die eng dazugehörige ›Ge­
sinnung‹; 1947,88 Fn.: Vgl. über den Unterschied von ›Wert‹ und ›Gut‹
in ›Der Formalismus in der Ethik etc.‹; 1962 ,69 Fn.: Vgl. zu ›Wert‹ und
›Güter‹, bzw. ›Gesinnung‹, in Der Formalismus und die materiale Werte-
thik, a. a. O.; s[iehe] Sachregister. 18 Geschenk, ] Ts 1,21 u. 1947,34 folgt:
Hilfsbereitschaft, 18 Freundschaft ] Ts 1/2 ,21 u. 1947,34: gestr.
44 | 45 45

II. Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier«

H ier erhebt sich nun die für unser ganzes Problem ent-
scheidende Frage : Besteht, wenn dem Tiere Intelligenz
zukommt, überhaupt noch mehr als ein nur gradueller Unter-
5 schied zwischen Mensch und | Tier ? Besteht dann noch ein
Wesensunterschied ? Oder aber gibt es über die bisher behan­
delten Wesensstufen hinaus noch etwas ganz Anderes im Men­
schen, ihm spezifisch Zukommendes, was durch Wahl und Intel-
ligenz überhaupt nicht getroffen und erschöpft ist ?
10 Hier scheiden sich die Wege am schärfsten. Die Einen wollen
dem Menschen Intelligenz und Wahl vorbehalten und sie dem
Tiere absprechen. Sie behaupten also zwar einen Wesensunter­
schied, behaupten ihn aber eben da, wo nach meiner Ansicht
kein Wesensunterschied vorliegt. Die Anderen, insbesondere
15 alle Evolutionisten der Darwin- und Lamarckschule, lehnen
mit Darwin, Schwalbe und auch W. Köhler einen letzten Unter­
schied zwischen Mensch und Tier ab, eben weil das Tier auch
bereits Intelligenz besitze. Sie hängen eben damit in irgendeiner
Form der großen Einheitslehre vom Menschen an, die als Theo­
20 rie des »homo faber« bezeichnet wird – und kennen selbstver­
ständlich dann auch keinerlei metaphysisches Sein und keine

2 Hier ] Ts 1,22 u. 1947,34 folgt: aber 2 Besteht, wenn dem Tiere ]


Ts 2 ,22: Besteht denn, wenn bereits dem Tiere; 1947,34: Besteht dann,
wenn dem Tiere bereits 6 die ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: diese; 1962 ,36: die
7 Wesensstufen ] Ts 1/2 ,22 folgt: des psychischen Seins; nicht in 1947,34
übernommen 9 überhaupt ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34 folgt: noch; 1962 ,36:
wieder gestr. 13 Sie behaupten … Wesensunterschied ] Ts 1/2 ,22 u.
1947,34: sie erkennen zwar einen überquanti[ta]tiven Unterschied, einen
Wesensunterschied an 13 eben ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: gestr. 16 auch ]
Ts 1,22 u. 1947,34 folgt: mit 18 eben ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: gestr. 20 die
… bezeichnet wird ] Ts 1,22 u. 1947,34: die ich als Theorie des ›homo
faber‹ bezeichne, 21 und ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: gestr.
46 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 45 | 46

Metaphysik des Menschen, d. h. kein auszeichnendes Verhältnis,


das der Mensch als solcher zum Weltgrunde besäße.
Was mich betrifft, so muß ich diese beiden Lehren auf das
entschiedenste zurückweisen. Ich behaupte : Das Wesen des
Menschen und das, was man seine Sonderstellung nennen kann, 5
steht hoch über dem, was man Intelligenz und Wahl­f ähigkeit
nennt, und würde auch nicht erreicht, wenn man sich diese
Intelligenz und Wahlfähigkeit quan | titativ beliebig, ja bis ins
Endlose gesteigert vorstellte.* Aber auch das wäre verfehlt, wenn
man sich das Neue, das den Menschen zum Menschen macht, 10
nur dächte als eine zu den bisherigen psychischen Stufen,
Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz
und Wahl, noch hinzukommende neue Wesensstufe psychi­
scher und der Vitalsphäre angehöriger Funktionen und Fähig­
keiten, die zu erkennen also noch in der Kompetenz der Psycho- 15
logie läge. Das neue Prinzip, das den Menschen zum Menschen
macht, steht außerhalb alles dessen, was wir Leben, von innen-
psychisch oder von außen-vital, im weitesten Sinne nennen
können. Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist ein
allem Leben überhaupt entgegengesetztes Prinzip, das man als 20

Zwischen einem klugen Schimpansen und Edison, dieser nur als


*

Techniker genommen, besteht nur ein – allerdings sehr großer – Grad-


unterschied.

1 auszeichnendes ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: ausgezeichnetes 4 so muß …


zurückweisen. ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: so weise ich beide Lehren zurück.
9 Endlose ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,34: Unendliche 11 bisherigen ] Ts 1/2 ,22
u. 1947,35: gestr. 14 und ] 1947,35: gestr.; 1962 ,37: wieder eingefügt
15 noch ] 1962 ,37: gestr. 16 Psychologie ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,35 folgt:
und Biologie 17 das den Menschen zum Menschen macht, ] Ts 1/2 ,22
u. 1947,35: gestr. 18 von innen … vital, ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,35: gestr.
19 Men­schen ] Ts 1/2 ,22 u. 1947,35 folgt: allein 19 macht, ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,35 folgt: ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst recht nicht
nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der ›Psy­
che‹ – , sondern es 20 ein allem Leben überhaupt ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35:
ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen
23 Gradunterschied ] Ts 1, 22: gradueller Unterschied; 1947, 34: graduel-
ler Unterschied
46 | 47 Praktische Intelligenz (Höhere Tiere) 47

solches überhaupt nicht auf die »natürliche Lebensevolution«


zurückführen kann, sondern das, wenn auf etwas, nur auf den
obersten Grund der Dinge selbst zurückfällt – auf denselben
Grund also, dessen Teil-Manifestation auch das »Leben« ist.
5 Schon die Griechen behaupteten ein solches Prinzip und nann­
ten es »Vernunft«*. Wir wollen lieber ein umfassenderes Wort für
jenes X gebrauchen, ein Wort, das wohl den Begriff der Vernunft
mit­umfaßt, aber neben dem Ideendenken auch eine bestimmte
Art der Anschauung, die | Anschauung von Ur­phänomenen
10 oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse noch zu
charakterisierender emotionaler und volitiver Akte, z. B. Güte,
Liebe, Reue, Ehrfurcht usw., mitumfaßt : – das Wort Geist. Das
Aktzentrum aber, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphä­
ren erscheint, wollen wir als Person bezeichnen, in scharfem
15 Unterschied zu allen funktionellen »Lebens«-zentren, die nach
innen hin betrachtet auch »seelische« Zentren heißen.

*Vgl. dazu den Aufsatz »Der Ursprung des Geistbegriffes bei den
Griechen« von Julius Stenzel in der Zeitschrift »Die Antike«.

1 das man als solches ] Ts 1/2 ,23: eine echte neue Wesenstatsache,
die man als solche; in 1947,35 übernommen, aber man gestr. 2 zu-
rückführen ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: zurückgeführt werden 2 das ]
Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 3 obersten ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35 folgt: einen
4 also ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 4 Teil-Manifestation auch ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,35: eine große Manifestation 7 der Vernunft ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,35: ›Vernunft‹ 9 Anschauung ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr.
11 noch zu charakterisierender ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 11 z. B. ]
Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: wie 12 Ehrfurcht ] Ts 1,23 u. 1947,35 folgt: geistige
Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung
12 usw. ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr. 14 wollen … bezeichnen ] Ts 1,23 u.
1947,35: bezeichnen wir als ›Person‹ 16 hin ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr.
18 Ts 1/2, 23: gestr.; 1947, 88 u. 1962, 38: leicht gekürzt als Fn.: Vgl. Julius
Stenzel ›Der Ursprung des Geistbegriffes bei den Griechen‹ in der Zeit­
schrift ›Die Antike‹.
48 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 47

Wesen des »Geistes« – Freiheit, Gegenstands-Sein,


­Selbstbewußtsein

¶ Was aber ist nun jener »Geist«, jenes neue und so entschei­
dende Prinzip ? Selten ist mit einem Worte so viel Unfug getrie­
ben worden – einem Worte, bei dem sich nur wenige etwas 5
Bestimmtes denken. Stellen wir an die Spitze des Geistbegriffes
eine besondere Wissensfunktion, eine Art Wissen, die nur er
geben kann, dann ist die Grundbestimmung eines »geistigen«
Wesens seine existentielle Entbundenheit, Freiheit, Ablösbar-
keit – oder doch die seines Daseinszentrums – vom Banne, vom 10
Drucke, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom »Leben«
und von allem, was zum »Leben« gehört, also auch von seiner
eigenen triebhaften Intelligenz. Ein solches »geistiges« Wesen
ist nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern »umwelt­
frei« und, wie wir es nennen wollen, weltoffen. Ein solches 15
Wesen hat »Welt«. Es vermag die ursprünglich auch ihm gege­
benen »Widerstands-« und Reaktionszentren seiner Umwelt, in
die das Tier ekstatisch aufgeht, zu »Gegenständen« zu erheben,
vermag das Sosein dieser »Gegenstände« prinzipiell selbst zu

3 aber ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35: gestr.; 1962 ,38: aber 6 wir ] Ts 1,23 u.
1947,35 folgt: hier 6 Geistbegriffes ] Ts 1/2 ,23 folgt: (seiner logischen
Seite nach); nicht in 1947,35 übernommen 7 eine ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,35:
seine 7 eine ] 1962 ,38: die 9 Wesens ] Ts 1/2 ,23 u. 1962 ,38 folgt: wie
immer es psychophysisch beschaffen sei; 1947,36: wie immer es psycho­
logisch beschaffen sei 9 Entbundenheit ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36 folgt: vom
Organischen, seine 10 vom ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: von dem [so auch vor
Drucke] 11 vom Organischen, ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: gestr.; 1962 ,38: wie-
der eingefügt 12 von ] Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: gestr. 12 seiner ] Ts 1/2 ,23
u. 1947,36: der; 1962 ,38: seiner 13 solches ] Ts 1,23 u. 1947,36: gestr.
14 ist ] Ts 2 ,23 folgt: also; in Ts 1 durchgestr.; in 1947,36 übernommen
16 Es vermag ] Ts 1,23: Es heißt ferner: ein solches Wesen; 1947,36: Ein
solches Wesen vermag ferner 18 in die das Tier ekstatisch aufgeht, ]
Ts 1/2 ,23 u. 1947,36: die das Tier allein hat und in die es ekstatisch auf­
geht, 19 vermag ] Ts 1/2 ,23: und es vermag; 1947,36: und 19 selbst ]
1949,40: gestr.; 1962 ,39: wieder eingefügt
47 | 48 Wesen des »Geistes« 49

erfassen, ohne die Be | schränkung, die diese Gegenstandswelt


oder ihre Gegebenheit durch das vitale Triebsystem und die ihm
vorgelagerten Sinnesfunktionen und Sinnesorgane erfährt.
Geist ist daher Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein
5 von Sachen selbst. Und ein solches Wesen ist »Träger« des Gei­
stes, dessen prinzipieller Verkehr mit der Wirklichkeit außer­
halb seiner sich im Verhältnis zum Tiere dynamisch geradezu
umgekehrt hat.
Beim Tiere – ob es hoch oder niedrig organisiert ist – geht
10 jede Handlung, jede Reaktion, die es vollzieht, auch die »intel­
ligente«, aus von einer physiologischen Zuständlichkeit seines
Nervensystems, der auf der psychischen Seite Trieb­impulse und
sinnliche Wahrnehmung zugeordnet sind. Was für diese Triebe
nicht interessant ist, ist auch nicht gegeben, und was gegeben
15 ist, ist gegeben nur als Widerstandszentrum für sein Verlan­
gen und sein Verabscheuen. Der Ausgang also von der physio­
logisch-psychischen Zuständlichkeit ist immer der erste Akt
des Dramas eines tierischen Verhaltens zu seiner Umwelt. Die
Umweltstruktur ist seiner physiologischen und indirekt seiner
20 morphologischen Eigenart, ist ferner seiner Trieb- und Sinnes­
struktur, die eine strenge funktionelle Einheit bilden, genau und

5 selbst. ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: Geist ›hat‹ nur ein zu vollendeter
Sachlichkeit fähiges Lebewesen. Schärfer gesagt: 5 Und ] Ts 1/2 ,24 u.
1947,36: Nur 7 seiner ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: wie mit sich selber
7 Tiere ] Ts 1/2 ,24 folgt: (mit Einschluß seiner Intelligenz); ohne Klam-
mern übernommen in 1947,36 8 hat. ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: Was ist
diese ›Umkehrung‹? 9 ob es hoch … ist ] Ts 1/2 ,24: ob hoch oder nied­
rig organisiert; 1947,36: ob hoch oder niedriger organisiert 12 Seite ]
Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: Instinkte, 13 Wahrnehmung ] Ts 1/2 ,24 u.
1947,36: Wahrnehmungen 13 diese ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36: die Instinkte
und 15 ist ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: dem Tier 16 Verabscheuen ]
Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 folgt: d. h. für das Tier als biologisches Zentrum.
17 physiologisch-psychischen ] 1947,36: physiologisch-psychologischen;
1962 ,36: physiologisch-psychischen 19 seiner ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36:
dabei der 20 seiner morphologischen Eigenart ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36:
der morphologischen Eigenart des Tieres, 20 ist ferner ] Ts 1,24 u.
1947,36: gestr.; 1962 ,39: ist
50 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 48 | 49

vollständig geschlossen angemessen. Alles, was das Tier fas­


sen und merken kann von seiner Umwelt, liegt in den sicheren
Zäunen und Grenzen seiner Umweltstruktur. Der zweite Akt des
Dramas des tierischen Verhaltens ist irgendeine Setzung realer
Veränderung seiner Umwelt durch seine Reaktion in Richtung 5
auf sein leiten | des Triebziel. Der dritte Akt ist die dadurch mit­
veränderte physiologisch-psychische Zuständlichkeit. Der Ver­
lauf eines solchen Verhaltens hat also stets die Form :
 U.
T. 
Ein Wesen aber, das Geist hat, ist eines Verhaltens fähig, das 10
eine genau entgegengesetzte Verlaufsform besitzt. Der erste Akt
dieses neuen Dramas, des menschlichen Dramas ist : das Ver­
halten wird zuerst vom puren Sosein eines zum Gegenstand
erhobenen Anschauungskomplexes motiviert, und dies prinzi­
piell unabhängig von der physiologischen Zuständlichkeit des 15
menschlichen Organismus, unabhängig von seinen Triebimpul­
sen und der gerade in ihnen aufleuchtenden, stets modal, also
optisch oder akustisch usw., bestimmten sinnlichen Außenseite
der Umwelt. Der zweite Akt des Dramas ist freie, vom Person-
zentrum ausgehende Hemmung oder Enthemmung eines zuerst 20
zurückgehaltenen Triebimpulses. Und der dritte Akt ist eine

1 geschlossen ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,36 f.: ›geschlossen‹ 3 Grenzen ] Ts 1/2 ,24


u. 1947,37 folgt: dieser; 1962 ,39: dieser gestr. 5 seiner Umwelt durch
seine Reaktion ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,37: der Umwelt durch eine Reaktion
des Tieres 8 eines solchen ] Ts 1/2 ,24 u. 1947,37: des tierischen 8 also ]
Ts 1,24 u. 1947,37: gestr. 10 Ein Wesen aber ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: Ganz
anders ein Wesen 10 hat, ist ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: Ein solches ist –
wenn und soweit es sich seines Geistes sozusagen auch bedient – 13 zu­-
erst ] 1947,37: gestr. 14 Anschauungskomplexes motiviert ] Ts 1,25:
Anschauungs- oder Vorstellungskomplexes motiviert; Ts 2 u. 1947,37:
»motiviert« in Anführungszeichen 15 physiologischen ] Ts 1/2 ,25 u.
1947,37 folgt: und psychischen 17 also ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr.
19 vom ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: d. h. vom 21 Hemmung … Triebimpul-
ses. ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: Hemmung eines Triebimpulses, bzw. Enthem­
mung eines zuerst zurückgehaltenen Triebimpulses (und einer entspre­
chenden Reaktion). 21 Und ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr.
49 | 50 Wesen des »Geistes« 51

als selbstwertig und endgültig erlebte Veränderung der Gegen­


ständlichkeit einer Sache. Diese »Weltoffenheit« hat also fol­
gende Form :
M.   W.  …
5 Dies Verhalten ist, wo es einmal vorhanden ist, seiner Natur
nach unbegrenzt erweiterungsfähig – soweit eben als die »Welt«
vorhandener Sachen reicht. Der Mensch ist also das X, das sich in
unbegrenztem Maße »weltoffen« verhalten kann. Das Tier aber
hat keine »Gegenstände«; es lebt nur in seine Umwelt ekstatisch
10 hinein, die es, gleichsam wie eine Schnecke ihr Haus, als Struk­
tur überall hinträgt, wohin es geht. Die eigenartige Fernstellung
und Sub | stantivierung einer »Umwelt« zur »Welt« vermag das
Tier also nicht zu vollziehen, ebensowenig die Umwandlung der
affekt- und triebumgrenzten »Widerstands«zentren zu »Gegen-
15 ständen«. Ich möchte sagen, das Tier hängt wesentlich an und
in der seinen organischen Zuständen entsprechenden Lebens­
wirklichkeit drin, ohne sie je »gegenständlich« zu fassen. Gegen-
stand-Sein ist also die formalste Kategorie der logischen Seite des
»Geistes«. Wohl lebt das Tier nicht mehr absolut ekstatisch wie

2 Diese ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: Die Form eines solchen Verhaltens ist
die der 2 »Weltoffenheit« ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37 folgt: der prinzi­
piellen Abschüttelung des Umweltbannes; Ts 2: Maria Scheler er-
gänzt: der Umwelthypnose gleichsam [nicht in 1947,37 übernommen]
3 hat also folgende Form: ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr. 5 einmal ]
Ts 1/2 ,25 u. 1947,37 folgt: konstitutionell 7 reicht. ] Ts 1/2 ,25 folgt:
Menschwerdung ist also Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes;
ohne also auch in 1947,37 7 also ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr. 8 kann. ]
Ts 1/2 ,25 folgt: (1. Wesensdefinition.); nicht in 1947,37 übernommen
8 aber ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr. 9 nur ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,37: gestr.
11 geht. ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38 folgt: – es vermag diese Umwelt nicht
zum Gegenstande zu machen. 11 Die ] Ts 1/2 ,25: Diese; 1947,38: Die
12 und Substantivierung einer ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38: diese Distanzie­
rung der 12 »Welt« ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38 folgt: (resp. zu einem Symbol
der Welt), deren der Mensch fähig ist, 13 also ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38
gestr. 13 ebensowenig ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38: nicht 17 ohne ] Ts 1/2 ,25
irrtümlich: um; so auch in 1947,38 u. 1962 ,41 19 ekstatisch ] Ts 1/2 ,25 u.
1947,38 folgt: in seine Umwelt hinein,
52 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 50 | 51

der empfindungs-, vorstellungs- und bewußtlose Gefühlsdrang


der Pflanze in sein Medium hinein, ohne alle Rückmeldung der
Eigenzustände des Organismus nach innen. Das Tier, das sahen
wir, ist durch die Trennung von Empfindung und Motorium
und durch die stete Rückmeldung seines Leibschemas und sei­ 5
ner sensuellen Inhalte sich selbst gleichsam zurückgegeben. Es
besitzt ein Leib-schema; der Umwelt gegenüber aber verhält das
Tier sich immer noch ekstatisch, auch da noch, wo es sich »intel­
ligent« verhält.
Der geistige Akt, wie ihn der Mensch vollziehen kann, ist 10
dagegen im Gegensatz zu dieser einfachen Rückmeldung des
tierischen Leibschemas und seiner Inhalte wesensgebunden an
eine zweite Dimension und Stufe des Re-flexaktes. Wir wollen
diesen Akt und sein Ziel zusammennehmen und das Ziel die­
ses »Sichsammelns« Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von 15
sich selbst oder »Selbstbewußtsein« nennen. Das Tier also hat
wohl Bewußtsein, im Unterschied von der Pflanze, aber es hat
kein Selbstbewußtsein, wie schon Leibniz gesehen hat. Es be | sitzt
sich nicht, ist seiner nicht mächtig – und deshalb auch seiner
nicht bewußt. Sammlung, Selbstbewußtsein und Gegenstands­ 20
fähigkeit und -möglichkeit des ursprünglichen Triebwiderstan­
des bilden also eine einzige unzerreißbare Struktur, die als solche
erst dem Menschen eigen ist. Mit diesem Selbstbewußtwerden,
mit dieser neuen Zurückbeugung und Z ­ entrierung seiner Exi­

2 sein ] Ts 1/2 ,25 u. 1947,38: ihr 4 Das Tier … wir, ] Ts 1,26 u. 1947,38: es
4 Empfindung ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: Sensorium 6 seines Leibschemas
und seiner ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: seiner jeweiligen 9 verhält ] Ts 1/2 ,26
folgt: und seine Intelligenz bleibt organisch-triebhaft-praktisch gebun­
den. Wie aber vermag ein geistiges Wesen jene Vergegenständlichung
zu vollziehen?; ohne den gestr. Satz in 1947,38 übernommen 11 da-
gegen ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: gestr. 14 Akt ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38 folgt:
»Sammlung« nennen 15 und sein Ziel … »Sichsammelns« ] Ts 1/2 ,26:
und ihn und sein Ziel, das Ziel dieses ›Sichsammelns‹, zusammenneh­
mend,; 1947,38 u. 1962 ,41: und sein Ziel … zusammenfassend 17 also
hat wohl ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: hat 21 und -möglichkeit ] 1947, 38: gestr.
22 also ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,38: gestr.
51 | 52 Wesen des »Geistes« 53

stenz, die der Geist möglich macht, ist auch gleich das zweite
Wesensmerkmal des Menschen gegeben : Der Mensch vermag
nicht nur die »Umwelt« in die Dimension des »Welt«-seins zu
erweitern und »Wider«stände »gegen«ständlich zu machen,
5 sondern er vermag auch, und das ist das Merkwürdigste, seine
eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes
einzelne psychische Erlebnis selbst wieder gegenständlich zu
halten. Nur darum vermag er auch sein Leben frei von sich zu
werfen. Das Tier hört und sieht – aber ohne zu wissen, daß es
10 hört und sieht; wir müssen an sehr seltene ekstatische Zustände
des Menschen denken – wir finden sie bei abebbender Hypnose,
bei Einnahme bestimmter Rauschgifte, ferner unter Vorausset­
zung gewisser den Geist inaktivierender Techniken, z. B. orgia­
stischer Kulte aller Art –, um uns einigermaßen in den Normal­
15 zustand des Tieres hineinzuversetzen. Auch seine Triebimpulse
erlebt das Tier nicht als seine Triebe, sondern als dynamische
Züge und Abstoßungen, die von den Umweltdingen selbst aus­
gehen. Sogar der primitive Mensch, der in gewissen Zügen dem
Tiere noch nahe steht, sagt nicht, »ich« verabscheue dieses Ding,
20 sondern | das Ding »ist tabu«. Einen die Triebimpulse und ihren

1 auch gleich ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: gestr. 2 gegeben: ] Ts 1/2 ,26 folgt:
seine Selbstgegebenheit!; nicht in 1947,39 übernommen 2 Der Mensch
vermag ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: Kraft seines Geistes vermag das Wesen,
das wir ›Mensch‹ nennen, 7 Erlebnis ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39 folgt: jede
einzelne seiner vitalen Funktionen 8 halten ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: ma­
chen 8 er ] Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: dieses Wesen 10 sieht ] Ts 1/2 ,26 u.
1947,39 folgt: Die Psyche des Tieres funktioniert [1947, 39: folgt Komma]
lebt – aber das Tier ist kein möglicher Psychologe und Physiologe!
11 wir finden sie ] Ts 1/2, 26 u. 1947, 39: gestr. 13 ferner … Geist ]
Ts 1/2 ,26 u. 1947,39: bei gewissen den Geist bewußt (d. h. schon mit
Hilfe des Geistes) 14 Kulte ] Ts 2 ,26 folgt: (wir wollen sie dionysische
und resublimierende Techniken nennen); Maria Scheler ergänzt: nicht
drucken 17 Umweltdingen selbst ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: Dingen der Um-
welt selber 18 Zügen ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: seelischen Eigenschaften
19 sagt ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39 folgt: noch 19 »ich« verabscheue dieses
Ding ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: ›ich verabscheue dieses Ding‹ 20 das Ding
»ist tabu«. ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: ›das Ding ist tabu‹; es folgt: Für das
54 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 52

Wechsel überdauernden »Willen«, der Kontinuität im Wandel


seiner psychophysischen Zustände bewahren kann, hat das Tier
nicht. Ein Tier kommt immer sozusagen wo anders an, als es
ursprünglich »will«. Es ist tief und richtig, wenn Nietzsche sagt,
»Der Mensch ist das Tier, das versprechen kann«. – 5
Aus dem Gesagten geht hervor, daß es vier Wesensstufen sind,
in denen uns alles Seiende in bezug auf sein Inne- und Selbstsein
erscheint. Anorganische Gebilde haben ein solches Inne- und
Selbstsein überhaupt nicht; sie haben daher auch kein Zentrum,
das zu ihnen ontisch gehörte. Was wir in dieser Gegenstands­ 10
welt als Einheit bezeichnen bis zu Molekülen, Atomen und Elek­
tronen, ist ausschließlich abhängig von unserer Macht, die Kör­
per realiter oder doch gedanklich zu zerteilen. Jede Körperein­
heit ist es nur relativ auf eine bestimmte Gesetzlichkeit ihres
Wirkens auf andere Körper. Dagegen ist ein Lebewesen stets ein 15
ontisches Zentrum und bildet stets selbst »seine« raumzeitliche
Einheit und Individualität; sie stammt nicht von Gnaden unse-
rer selbst biologisch bedingten Zusammenfassung : Es ist ein X,
das sich selbst begrenzt. Die unräumlichen, die Erscheinung der
Ausdehnung in der Zeit setzenden Kraftzentren aber, die wir 20
den Körperbildern zugrunde zu legen haben, sind Zentren der
gegenseitig aufeinander wirkenden Kräfte-Punkte, in denen die

tierische Bewußtsein gibt es nur diese von den Umweltgebilden ausge­


henden Lockungen und Abstoßungen. Der Affe, der plötzlich hierhin,
dann dorthin springt, lebt sozusagen in lauter punktuellen Ekstasen
(Pathologische Ideenflucht des Menschen). 6 Aus … daß ] Ts 1/2 ,27
u. 1947,39: gestr. 7 uns ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: gestr. 9 daher auch ]
Ts 1/2 ,27 u. 1947,39: gestr. 10 gehörte ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,39 folgt: daher
auch kein Medium, keine Umwelt 13 zerteilen ] Ts 1,27 folgt: – in der
natürlichen Weltanschauung abhängig von der Willkür unserer bio­
logisch bedingten Zusammenfassung.; in B.I.17, 34 nicht gestr., trotz-
dem nicht in 1947,40 übernommen 13 Jede ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt:
anorganische 16 selbst ] 1947,40 gestr.; 1962 ,43: wieder eingefügt 17
nicht ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt: wie beim anorganischen Gebilde 19
begrenzt. ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt: Es hat Individualität: Es zerteilen,
heißt es vernichten, sein Wesen und Dasein aufheben. 21 Körperbil-
dern ] Ts 1/2, 27 u. 1947,40 folgt: metaphysisch
52 | 53 Wesen des »Geistes« 55

Kraftlinien eines Feldes zusammenlaufen. Dem Gefühlsdrang


der Pflanze ist ein Zentrum zu eigen und ein Medium, in das, |
relativ in seinem Wachstum ungeschlossen, das Lebe­wesen
hineingesetzt ist, ohne Rückmeldung seiner verschiedenen
5 Zustände. Aber ein »Innesein« überhaupt und damit Beseelt­
heit besitzt die Pflanze. Im Tiere ist Empfindung und Bewußt­
sein und damit eine zentrale Rückmeldestelle der Zustände sei­
nes Organismus vorhanden; es ist sich also schon ein zweites
Mal gegeben. Der Mensch aber ist es noch ein drittes Mal im
10 Selbstbewußtsein und in der Gegenstandsfähigkeit aller seiner
psychischen Vorgänge. Die Person im Menschen muß daher als
ein Zentrum gedacht werden, das über den Gegensatz von Orga­
nismus und Umwelt erhaben ist.
Sieht das alles nicht so aus, als gäbe es eine Stufenleiter, auf
15 der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr
auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und
in immer neuen Dimensionen sich seiner selbst inne zu werden,
um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu
erfassen ?

3 das ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt: pflanzliche 4 hineingesetzt ist ] Ts 1,27:


hineinwächst; nicht in 1947,40 übernommen 5 Zustände ] Ts 1/2 ,27
u. 1947,40 folgt: an sein Zentrum 6 Beseeltheit ] 1927,198: Psychizität
6 Pflanze. ] Ts 1,27 folgt in fremder Hs.: nicht; nicht in 1947,40 u. 1962 ,43
übernommen 6 Tiere ] 1947,40 folgt: jedoch 7 damit ] Ts 1/2 ,27 u.
1947,40 folgt: verbunden 7 der ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt: wechseln­
den 8 Organismus ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt: und eine Modifizier­
barkeit seines Zentrums durch diese Rückmeldung 8 also ] Ts 1/2 ,27
u. 1947,40: gestr. 9 es ] Ts 1/2 ,27 u. 1947,40 folgt: kraft seines Geistes
10 Gegenstandsfähigkeit aller ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,40: Vergegenständli­
chung 11 Vorgänge ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,40 folgt: und seines sensomoto­
rischen Apparates.; Ts 1,28 folgt nach Vorgänge: (Intellig[enz ], Gedächt­
nis, etc.); nicht in 1947,40 übernommen 11 daher ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,40:
dabei 12 ein ] Ts 1/2, 28: gestr.; 1947,40: das 14 Sieht … aus ] Ts 1/2 ,28
u. 1947,40: Ist das nicht 17 selbst ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,40: gestr. 19 er-
fassen? ] Ts 2 ,28 folgt: Der Mensch ist das X, in dem das Urseiende sich
selbst erfaßt.; nicht in 1947,40 u. 1962 ,43 übernommen
56 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 53 | 54

Beispiele »geistiger« Kategorien : Substanz;


Raum und Zeit als »Leer«formen

¶ Aus dieser Seinsstruktur des Menschen – seiner Selbstgege­


benheit – lassen sich eine Reihe menschlicher Besonderheiten ver­
ständlich machen, von denen ich einige kurz anführe. Nur der 5
Mensch hat erstens die voll ausgeprägte konkrete Ding- und Sub-
stanzkategorie. Auch die höchsten Tiere scheinen sie nicht voll­
ständig zu haben. Ein Affe, dem man eine Banane halb geschält
in die Hand gibt, flieht vor ihr, während er sie ganz geschält
frißt, ungeschält aber selber schält und dann frißt. Das Ding hat 10
sich nicht für das Tier »verändert«, es hat sich in ein anderes |
verwandelt.* Es fehlt dem Tiere hier offenbar ein Zentrum, von
dem aus es die psycho-physischen Funktionen seines Sehens,
Hörens, Riechens und die sich in ihnen ­darstellenden Greif-,

* Siehe auch H. Volkelts Spinnenversuch. Tatsachen, die Analoges 15


beweisen, wird man in großer Anzahl in meiner Anthropologie finden.

4 Selbstgegebenheit ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,40 folgt: seiner Fähigkeit, seine


Umwelt und sein ganzes psychophysisches [1947,40: psychisches und
physisches] Sein und beider Kausalrelation sich zum Gegenstande zu
machen – 6 erstens ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41: gestr. 7 Substanzkategorie. ]
Ts 1/2 ,28v u. 1947,41 folgt: Das Tier besitzt sie nicht: Eine Spinne, die
lauernd in ihrem Netze in dessen Knotenpunkt sitzt, stürzt sich sofort
auf die Mücke, die sich entfernt von ihr in das Netz verfängt und deren
Anwesenheit sich ihr wahrscheinlich an einem leisen Zug durch den
Tastsinn verrät. Bringt man aber die Mücke in eine Entfernung, die
innerhalb der Grenzen [1947,41: des Reiches] ihrer Sehweite liegt, so
ergreift die Spinne sofort die Flucht. (Volkelts Spinnenversuch): es ist
ein anderes Wesen für sie, was sie sieht – und was sie tastet; sie vermag
Sehraum und Tast-Handlungsraum (kinästhetischer Raum) ebensowe­
nig zu identifizieren wie die darin befindlichen Dinge.; geringfügig ab-
gewandelt in 1962 ,44 8 scheinen … zu haben ] Ts 1,28 u. 1947,41: haben
10 Ding ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41 folgt: ›Banane‹ 14 Riechens ] Ts 1/2 ,28 u.
1947,41 folgt: Greifens, Tastens, 14 Greif- ] Ts 1/2, 28 u. 1947,41: gestr.
15 1927,199: Fn. steht eingeklammert im Text. 1947,41: Fn. gekürzt in den
Text versetzt: (Volkelts Spinnenversuch); 1962,44: (H. Volkelts Spinnen­
versuch)
54 | 55 Beispiele »geistiger« Kategorien 57

Seh-, Tast-, Hör-, Schmeck- und Geruchsdinge auf ein und


dasselbe konkrete Ding, auf einen identischen Realitätskern
zu beziehen vermöchte. – Der Mensch hat zweitens auch von
vornherein einen einigen Raum. Was z. B. der operierte Blind­
5 geborene lernt, ist nicht eine Zusammensetzung ursprünglich
geschiedener »Räume«, z. B. kinästhetischer Räume, Tasträume,
Sehräume, Hörräume usw. zu einer Raumanschauung, son­
dern nur die Identifizierung seiner Sinnesdaten als Symbole
für das an einem Ort seiende Ding. Dem Tiere fehlt diese zen­
10 trale Funktion, die dem einigen Raum eine feste Form vor den
einzelnen Dingen und ihrer Wahrnehmung gibt; vor allem : es
fehlt jene Art von Selbstzentriertheit, die alle Sinnesdaten mit
ihren zugehörigen Triebimpulsen zusammenfaßt und sie auf
eine substanzartig geordnete »Welt« bezieht. Dem Tiere fehlt
15 eben, wie ich eingehend anderen Orts nachgewiesen habe, ein
eigent­licher Weltraum, der unabhängig von des Tieres eigenen
Ortsbewegungen als stabiler Hintergrund verharrte. Es fehlen
ihm ebenso die Leerformen von Raum und Zeit, in die hinein­
gesetzt der Mensch die Dinge und Ereignisse primär auffaßt –
20 und die nur bei einem Wesen möglich sind, dessen Triebun­
befriedigung | stets überschüssig ist über seine Befriedigung.
Die Wurzel der menschlichen Raum- und Zeitanschauung,

2 Ding ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41: Gegenstands-Ding 3 Der Mensch ] Der


Text der folgenden zwei Seiten wurde stilistisch vielfach umstrukturiert
(Auflösung von Neben- in Hauptsätze, Umstellung von Satzteilen oder
Sätzen), was hier nicht entwirrt werden soll. 3 zweitens auch ] Ts 1/2 ,28
u. 1947,41: ferner 7 z. B. … usw. ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41: wie Tastraum,
Sehraum, Hörraum, kinästhetischer Raum 8 Symbole ] Ts 1/2 ,28
u. 1947,41 folgt: und Eigenschaften 9 seiende ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41
folgt: eine 9 fehlt diese ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41: aber fehlt wiederum die
10 dem einigen Raum ] Ts 1/2 ,28 u. 1947,41: einen einigen Raum als
11 allem ] Ts 1,28 u. 1947,41 folgt: aber 12 jene ] Ts 1,28 u. 1947,41: eben
jene besondere; Ts 2 ,28: aber: es fehlt gestr.; 1962 ,45: jene besondere
14 bezieht. ] Ts 2 ,28 Fn.: Eingehend nachgewiesen in meinem Aufsatz
›Idealismus – Realismus‹ im Philosophischen Anzeiger von 1927.; Fn.
in Ts 1 weggeschnitten; fehlt in 1947,41; vgl. unten S. 60, Lemma zu Z. 17
20 einem ] Ts 1/2 ,29 u. 1947,42 folgt: (geistigen)
58 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 55 | 56

die allen äußeren Sensationen vorhergeht, liegt in der organi­


schen spontanen Bewegungsmöglichkeit und Tunsmöglichkeit
in einer bestimmten Ordnung. »Leer« nennen wir ursprünglich
das Unerfülltbleiben unserer triebhaften Erwartungen. So ist
die erste »Leere« gleichsam die Leere unseres Herzens. Die selt­ 5
same Tatsache, daß dem Menschen in der natürlichen Weltan­
schauung Raum und Zeit als Leerformen erscheinen, die allen
Dingen vorhergehen, ist nur aus diesem Überschuß der Trieb­
unbefriedigung über die Triebbefriedigung verständlich. Auch
die Tatsache, daß, wie man an bestimmten Ausfallserscheinun­ 10
gen nachweisen konnte, der Tastraum dem optischen Raum
nicht direkt zugeordnet ist, sondern die Zuordnung nur durch
die Vermittlung der kinästhetischen Empfindungen erfolgt,
weist darauf hin, daß die Leerform des Raumes wenigstens als
noch ungeformte »Räumlichkeit« schon vor dem Bewußtwerden 15
irgendwelcher Sensationen erlebt wird, auf Grund der erlebten
Bewegungsantriebe und des Könnenserlebnisses, sie hervorzu­
bringen. Denn es sind ja jene Bewegungsantriebe, die an erster
Stelle die kinästhetischen Empfindungen zur Folge haben. Die­
ser primitive Bewegungsraum, das »Herumbewußtsein«, bleibt 20
auch noch bestehen, wenn der optische Raum, in dem allein
die stetige gleichzeitige Mannigfaltigkeit der »Ausdehnung«
gegeben ist, vollständig abgebaut wird. Im Übergang von Tier
zu Mensch finden wir also eine vollständige Umkehrung von
»Leer« | und »Voll«, sowohl der Zeit wie dem Raume nach. 25

5 unseres ] 1927,200 : des 6 seltsame ] Ts 1/2 ,29 u. 1947,42: gestr.


15 »Räumlichkeit« ] Ts 1/2 ,29 u. 1947,42 folgt: im Menschen 22 der ]
Ts 1/2 ,29 u. 1947,42: gestr. 24 von Tier zu Mensch ] Ts 1/2 ,29 u. 1947,42:
vom Tier zum Menschen 25 nach. ] Ts 1/2 ,29 folgt: Obgleich die hö­
heren Tiere raumartige Mannigfaltigkeiten besitzen (die primitivsten
haben wohl nur zeitlich geordnete Eindrücke), sind diese doch nicht
homogen, d. h. so, daß die Orte als vorgegebenes Stellensystem in der
optischen Sphäre fix bleiben und sich von den sie erfüllenden Qua­
litäten und Bewegungen der Umweltgebilde scharf loslösen. Nur die
höchste Optik des Menschen (aufrechter Gang!) besitzt dies System, er
kann es aber in pathologischen Fällen verlieren, so daß nur der sozusa­
gen ›Urraum‹, der Raum als Erlebnismannigfaltigkeit von Bewegungs­
56 | 57 Beispiele »geistiger« Kategorien 59

Das Tier vermag die Leerform des Raumes und der Zeit so wenig
von bestimmten Inhaltlichkeiten der Umweltdinge loszulösen
wie die »Zahl« von einer als größer oder kleiner in den Dingen
selbst liegenden »Anzahl«. Es lebt ganz in die konkrete Wirk-
5 lichkeit seiner jeweiligen Gegenwart hinein. Erst wenn die in
Bewegungsimpulse sich umsetzenden Trieb­erwartungen das
Übergewicht erhalten vor all dem, was faktische Trieberfüllung
in einer Wahrnehmung oder Empfindung ist, findet – im Men­
schen – das überaus seltsame Phänomen statt, daß die räum­liche
10 Leere, und analog die zeitliche, allen möglichen Inhalten der
Wahrnehmung und der gesamten Dingwelt als vorhergehend,
als »zugrunde liegend« erscheint. So blickt der Mensch, ohne es
zu ahnen, seine eigene Herzensleere als eine »unendliche Leere«
des Raumes und der Zeit an, als ob diese auch bestünde, wenn es
15 gar keine Dinge gäbe ! Erst sehr spät korrigiert die Wissenschaft
diese ungeheure Täuschung der natürlichen Weltanschauung,
indem sie lehrt, daß Raum und Zeit nur Ordnungen, nur Lage-
und Sukzessionsmöglichkeiten der Dinge sind, und außer und
unabhängig von ihnen keinen Bestand haben. – Auch den Welt-
20 raum, sagte ich, hat das Tier nicht. Ein Hund mag jahrelang in
einem Garten leben und an jeder Stelle des Gartens schon häu­
fig gewesen sein – er wird sich niemals ein Gesamtbild des Gar­
tens und der von seiner Körperlage unabhängigen Anordnung
seiner Bäume, Sträucher usw. machen können, wie klein und
25 groß der Garten auch sei. Er hat nur mit | seinen Bewegungen
wechselnde Umwelträume, die er nicht auf den ganzen, von sei­
ner Körperstellung unabhängigen Gartenraum zu koordinieren
vermag. Der Grund ist, daß er seinen eigenen Leib und dessen

möglichkeiten, d. h. das ›Herumerlebnis‹ übrig bleibt.; mit geringfügigen


Änderungen in 1947,42 1 Leerform ] Ts 1/2 ,29 u. 1947,42: Leerformen
7 er­halten vor all dem ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43: haben über all das
11 Wahrnehmung ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43: Wahrnehmungen 14 be-
stünde ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43: bestünden 19 ihnen ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43:
diesen 20 Tier ] Ts 1,30 u. 1947,43 folgt: konstitutiv 24 seiner ]
Ts 1/2 ,30 u. 1947,43: der 28 ist ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43 folgt: eben der
28 er ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43: das Tier
60 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 57

Bewegungen nicht zum Gegenstande zu machen imstande ist,


so daß er seine eigene Körperlage als veränderliches Moment
in seine Raumanschauung einbeziehen könnte und mit dem
Zufalle seiner Stellung gleichsam instinktiv so rechnen lernte,
wie es der Mensch auch ohne Wissenschaft vermag. Diese Lei­ 5
stung des Menschen ist nur der Anfang dessen, was er in der
Wissenschaft fortsetzt. Denn das ist das Große der mensch­
lichen Wissenschaft, daß der Mensch in ihr mit sich selbst und
seinem ganzen physischen und psychischen Apparat gleich wie
mit einem fremden Dinge, das in strengen Kausalverknüpfun­ 10
gen zu anderen Dingen steht, immer umfassender zu rechnen
lernt und damit ein Bild der Welt selbst zu gewinnen weiß,
dessen Gegenstände von seiner psycho-physischen Organisa­
tion, seinen Sinnen und deren Schwellen, seinen Bedürfnissen
und deren Interessen an den Dingen, ganz und gar unabhängig 15
sind, die also im Wechsel all seiner Stellungen, Zustände und
Sinneserlebnisse konstant bleiben. Der Mensch allein – sofern
er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – empor
zu schwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der
raumzeitlichen Welt aus Alles, und darunter auch sich selbst, 20
zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen.

8 ihr ] Ts 1,30 u. 1947,43 folgt: mit seiner Zufallsstellung im Univer­


sum [Ts 2 folgt: (Erde)] 12 damit ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,43 folgt: langsam
13 dessen Gegenstände ] Ts 1/2 ,30 u. 1947,44: das und dessen Ge­
genstände und deren Gesetze 14 seinen ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44 folgt:
menschlichen 16 Stellungen ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44 folgt: im Universum,
seiner 16 Zustände ] Ts 1/2 ,31 folgt: Artorganisation; 1947,44: Artor­
ganisationen 17 bleiben. ] Ts 1,31 folgt: Er stellt sich wahrhaft über
sich – als Lebewesen – , er wird sich selbst ein Punkt auf dem kl[einen]
Planeten Erde.; in Ts 2 gestr.; nicht in 1947,44 übernommen; 1947,88 folgt
als Anm.: Eingehender nachgewiesen in der Abhandlung ›Idealismus –
Realismus‹ a. a. O.; 1962 ,96: Fn. an frühere Textstelle versetzt [vgl. S. 57,
L14] u. ergänzt: Vgl. zum folgenden die Abhandlung ›Idealismus – Realis-
mus‹ im ›Philosophischen Anzeiger‹, Bonn 1927, 2. Jahrg., H. 3.
57 | 58 Geist als pure Aktualität 61

Dieses Zentrum aber, von dem aus der Mensch die Akte voll­
zieht, durch die er die Welt, seinen Leib und | seine Psyche ver­
gegenständlicht, kann nicht selbst ein »Teil« eben dieser Welt
sein, kann also auch kein bestimmtes Irgendwo oder Irgend­
5 wann besitzen – es kann nur im obersten Seinsgrunde selbst
gelegen sein. So ist der Mensch das sich selbst und der Welt über-
legene Wesen. Als solches Wesen ist er auch der Ironie und des
Humors fähig, die stets eine Erhebung über das eigene Dasein
einschließen. Schon I. Kant hat in seiner tiefen Lehre von der
10 transzendentalen Apperzeption jene neue Einheit des cogitare,
die »Bedingung ist aller möglichen Erfahrung und darum auch
aller Gegenstände der Erfahrung« – nicht nur der äußeren, son­
dern auch jener inneren Erfahrung, durch die uns unser eige­
nes Innenleben zugänglich wird –, im wesentlichen klarge­
15 stellt. Er hat damit zuerst den »Geist« über die »Psyche« erhoben
und ausdrücklich geleugnet, daß er nur eine Funk­tions­gruppe
einer sogenannten Seelensubstanz sei, die nur unberechtigter
Verdinglichung der aktualen Einheit des Geistes ihre fiktive
Annahme verdanke.

20 [ Geist als pure Aktualität ]

Damit haben wir bereits eine dritte wichtige Bestimmung des


Geistes gekennzeichnet : Der Geist ist das einzige Sein, das selbst
gegenstandsunfähig ist – er ist reine und pure Aktualität, hat
sein Sein nur im freien Vollzug dieser seiner Akte. Das Zen­
25 trum des Geistes, die Person, ist also weder gegenständliches

1 Dieses ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: Das 2 Welt ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44 folgt: in
ihrer räumlichen und zeitlichen Fülle 2 seinen ] 1927,202 folgt: eigenen
6 Mensch ] Ts 1/2, 31 u. 1947,44 folgt: als Geistwesen 6 selbst ] Ts 1/2 ,31
u. 1947,44: (als Lebewesen) 7 Wesen ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: gestr.
16 er ] Ts 1/2 ,31: dieser; 1947,44: der Geist 21 bereits ] 1947,44: gestr.
22 gekennzeichnet ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: bezeichnet 23 und ] Ts 1/2 ,31
u. 1947,44: gestr. 24 dieser ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: gestr. 25 also ]
Ts 1/2 ,31 u. 1947,44: gestr.; 1962 ,48: wieder eingefügt
62 Wesensunterschied von »Mensch« und »Tier« 58 | 59

noch dingliches Sein, sondern nur ein in sich selbst stetig selbst
sich vollziehendes (wesenhaft bestimmtes) Ordnungsgefüge von
Akten. Seelisches vollzieht »sich selbst« nicht; es ist eine Ereig­
nisreihe | »in« der Zeit, der wir, eben aus dem Zentrum unse­
res Geistes heraus, noch prinzipiell zuzuschauen vermögen und 5
die wir in der inneren Wahrnehmung und Beobachtung noch
gegenständlich machen können. Zum Sein unserer Person aber
können wir uns nur selbst sammeln, zu ihm hin uns konzen­
trieren, nicht aber es objektivieren. Auch fremde Personen sind
als Personen nicht gegenstandsfähig. Nur dadurch können wir 10
an ihnen Teil gewinnen, daß wir ihre freien Akte nach- und mit-
vollziehen, uns mit dem Wollen, der Liebe usw. einer Person und
dadurch mit ihr selbst, wie wir zu sagen pflegen, »identifizieren«.
Auch an den Akten jenes einen übersingulären Geistes – den wir
auf Grund des unverbrüchlichen Wesenzusammenhangs von 15
Idee und Akt anzunehmen haben, wenn wir überhaupt eine in
dieser Welt sich realisierende Ideenordnung unabhängig vom

1 in sich selbst ] Ts 1/2 ,31 u. 1947,44 f.: gestr. 3 Akten. ] Ts 1/2 ,31 f. u.
1947,45 folgt: Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie.; 1962 ,96
als Anm.: Vgl. zu ›Person‹ in Der Formalismus in der Ethik und die
materiale Wertethik, Abschnitt VI A 3. 5 und ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45:
gestr. 7 können. ] Ts 2 ,32 folgt: zum mindesten in der unmittelbaren
Erinnerung; in Ts 1 durchgestr.; nicht in 1947,45 übernommen; Ts 1/2 ,32
u. 1947,45 folgt: Alles Seelische ist gegenstandsfähig, nicht aber der
Geistesakt, die Intentio, das die seelischen Vorgänge in ihrem Abfluß
selbst noch Schauende.; Ts 1 u. 1947,45: in ihrem Abfluß weggelassen
7 aber ] in Ts 1,32 nachträglich eingefügt, dann gestr.; nicht in 1947,45
übernommen 8 selbst ] 1947,45 u. 1962 ,48: gestr. 10 gegenstandsfähig ]
Ts 1/2 ,32 u. 1947,45 folgt: (In diesem Sinne sagt Goethe von Lili, er habe
›sie zu sehr geliebt, als daß er sie hätte beobachten können.‹) 11 Teil ]
Ts 1/2 ,32 u. 1947,45: wissenden Anteil 12 mit-vollziehen ] Ts 1/2 ,32 u.
1947,45 folgt: durch das, was ein armes Wort ›Gefolgschaft‹ nennt, oder
durch jenes nur durch die Haltung der geistigen Liebe mögliche ›Verste­
hen‹, das äußerstes Gegenteil aller Vergegenständlichung ist, d. h. da­
durch, daß wir 14 usw. ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45: gestr. 13 identifizieren ]
1962 ,96 Fn.: Vgl. zu Fremdperson – Verstehen ›Wesen und Formen der
Sympathie‹, Teil C. Vom fremden Ich. 14 einen ] 1947,45 gestr.; 1962 ,48:
wieder eingefügt
59 | 60 Geist als pure Aktualität 63

menschlichen Bewußtsein annehmen und dem Urseienden


selbst als eines seiner Attribute zuschreiben – können wir nur
durch Mitvollzug teilgewinnen. Die ältere seit Augustinus herr­
schende Ideenphilosophie hatte »ideae ante res« angenommen,
5 eine »Vorsehung« und einen Plan der Weltschöpfung schon vor
dem Wirklichsein der Welt. Aber die Ideen sind nicht vor, nicht
in und nicht nach den Dingen, sondern mit ihnen, und werden
nur im Akte der stetigen Weltrealisierung (creatio continua) im
ewigen Geiste erzeugt. Darum ist auch unser Mitvollzug die­
10 ser Akte, sofern wir »Ideen« denken, nicht ein bloßes Auffin­
den oder Entdecken eines schon von uns unabhängig Seien­
den und Wesenden, sondern ein wahres Mithervorbrin | gen, ein
Mit­erzeugen der Ideen und der der ewigen Liebe zugeordneten
Werte aus dem Ursprung der Dinge selbst heraus. –

3 teilgewinnen ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45 folgt: an einer Wesensordnung,


soweit es sich um den erkennenden Geist handelt, an einer objektiven
Wertordnung, soweit es sich um den liebenden Geist, an einer Ziel­
ordnung des Weltprozesses, soweit es sich um den Geist als ›wollen­
den‹ handelt. 10 sofern wir Ideen denken ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45: gestr.
11 schon ] Ts 1/2 ,32 u. 1947,45: gestr. 14 der Ideen … heraus. ] Ts 1/2 ,32
u. 1947,46: dem ewigen Logos und der ewigen Liebe und dem ewigen
Willen zugeordneten Wesenheiten, Ideen, Werte und Ziele aus dem
Zentrum und Ursprung der Dinge selbst heraus.
64 60 | 61

III. Ideierende Wesenserkenntnis als


Grundakt des Geistes

W ollen wir uns die Besonderheit, die Eigenartigkeit des­


sen, was wir »Geist« nennen, noch im einzelnen klarer
machen, so knüpfen wir am besten an einen spezifisch geistigen 5
Akt an, den Akt der Ideierung. Er ist ein von aller technischen
Intelligenz völlig verschiedener Akt. Ein Problem der Intelli­
genz wäre etwa folgendes : Ich habe jetzt hier Schmerz im Arm;
wie ist er entstanden, wie kann er beseitigt werden ? Das fest­
zustellen, wäre entsprechend eine Aufgabe der posi­tiven Wis­ 10
senschaft. Ich kann aber denselben Schmerz auch als Beispiel
fassen für den höchst seltsamen und höchst verwunderlichen
Wesensverhalt, daß diese Welt überhaupt schmerz-, übel- und
leidbefleckt ist. Dann werde ich anders fragen : Was ist denn
eigentlich der Schmerz selbst, abgesehen davon, daß ich ihn 15
jetzt hier habe – und wie muß der Grund der Dinge beschaf­
fen sein, daß so etwas wie »Schmerz überhaupt« möglich ist ?
Ein groß­a rtiges Beispiel für solch einen ideierenden Akt gibt
die bekannte Bekehrungsgeschichte Buddhas. Der Prinz sieht
einen Armen, einen Kranken, einen Toten, nachdem er im 20
Pa­laste des Vaters jahrelang allen negativen Eindrücken fern­
gehalten ward; er erfaßt aber jene drei zufälligen, »jetzt-hier-so
seienden« Tat­sachen sofort als bloße Beispiele für eine an ihnen
erfaßbare essentielle Welt | beschaffenheit. Desc­artes suchte sich

4 noch ] Ts 1,33 u. 1947,46: gestr.; 1962 ,49: wieder eingefügt 7 Intel-


ligenz ] Ts 1,33 u. 1947,46 folgt: allem mittelbaren schlußfolgernden
›Denken‹ (dessen erste Anfänge wir schon dem Tiere zuweisen [1947,46:
zuwiesen]), 8 etwa ] Ts 1,33: beispielsweise [nachträglich gestr.]; den-
noch in 1947,46 übernommen 10 entsprechend ] Ts 1,33 u. 1947,46: gestr.
11 Wissenschaft ] Ts 1,33 u. 1947,46 folgt: der Physiologie, der Psycho­
logie, der Medizin. 11 Schmerz. ] Ts 1,33 u. 1947,46 folgt: – in einer
distanteren, besinnlichen, kontemplativen Haltung zu diesem selben
Erlebnis –
61 Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes 65

die essentia des Körpers und seinen Wesensaufbau an einem


Stück Wachs klarzumachen. Das sind Fragen, wie sie der Geist
als solcher stellt. Eindringlichste Beispiele für Fragen solcher
Art bietet die gesamte Mathematik. Der Mensch vermag die
5 Dreiheit als »Anzahl« von drei Dingen von diesen Dingen los­
zulösen und mit der »Zahl« 3 als einem selbständigen Gegen­
stand nach dem inneren Erzeugungs­gesetz der Reihe solcher
Gegenstände zu operieren. Das Tier vermag nichts dergleichen.
Ideierung heißt also, unabhängig von der Zahl der Beobachtun-
10 gen, die wir machen, und von induktiven Schlußfolgerungen
die essentiellen Aufbauformen der Welt an je einem Beispiel der
betreffenden Wesensregion miterfassen. Das Wissen, das wir
so gewinnen, gilt dann in unendlicher Allgemeinheit von allen
möglichen Dingen, die dieses Wesens sind, und ganz unabhän­
15 gig von unseren Zufallssinnen und der Art und dem Maße ihrer

2 klarzumachen. ] Ts 1,33 u. 1947,46 folgt: Das ist eine andere Frage,


als wenn z. B. ein Chemiker einen bestimmten Körper auf seine Be­
standteile hin untersucht. 3 stellt ] 1947,47 u. 1962 ,50 folgt: nicht die
schlußfolgernde Intelligenz, die nur Mittel geben kann, sie zu lösen.
[Ergänzter Satz ans Absatzende versetzt] 3 Eindringlichste ] Ts 1,33
u. 1947,46: Eindringliche 3 solcher ] Ts 1,33 u. 1947,46: essentieller
4 Mathematik. ] Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: Das Tier hat vage Mengenvor­
stellungen, die aber ganz an den wahrgenommenen Dingen, ihrer Ge­
stalt, Gruppierung etc. haften bleiben. 4 Mensch ] 1947,47 folgt: erst
8 operieren. ] Ts 1,33v u. 1947,47 folgt: Was so die Mathematik findet an
Sätzen über die Beziehungen der unsinnlichen Mannigfaltigkeiten, die
sie untersucht, das ist – wenn heute nicht, so morgen – seltsamer Weise
der strengsten Anwendung fähig auf alle realen Dinge, die in der (in
Axiomen definierten) Mannigfaltigkeit stehen. Das alles sind Fragen,
wie sie der Geist als solcher stellt, nicht die schlußfolgernde Intelligenz,
die nur Mittel geben kann, sie zu lösen. 9 Ideierung ] 1947,47: Ideie­
ren 9 der ] Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: Größe und 10 Schlußfolgerungen ]
Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: wie sie die Intelligenz anstellt, 11 essentiellen ]
Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: Beschaffenheiten und 11 Beispiel ] Ts 1,33 folgt:
– einem Schmerz, einem Kreis –; in 1947,47 gestr. 12 Wissen ] Ts 1,33
u. 1947,47 folgt: aber 13 dann ] Ts 1,33 u. 1947,47: obschon an einem
Beispiel gewonnen, 15 unseren ] Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: menschlichen
66 Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes 61 | 62

Erregbarkeit.* Einsichten, die wir so gewinnen, gelten hinaus


über die Grenze unserer sinnlichen Erfahrung. Wir nennen sie
in der Schulsprache »a priori«.
Zwei sehr verschiedene Funktionen erfüllen diese Wesens­
erkenntnisse : Einmal geben sie für alle positiven Wissenschaf­ 5
ten die obersten Axiome, die uns die Richtung einer fruchtbaren
Beobachtung, Induktion und Deduktion durch Intelligenz und
diskursives Denken allererst weisen. | Für die philosophische
Metaphysik aber, deren Endziel die Erkenntnis des absolut sei­
enden Seins ist, bilden sie, wie Hegel treffend sagte, die »Fenster 10
ins Absolute«. Denn jedes echte Wesen, das die Vernunft in der
Welt findet, kann weder selbst, noch kann das Dasein von
»etwas« solchen Wesens auf empirische Ursachen endlicher Art
zurückgeführt werden. Es kann nur dem einen übersingulären
Geiste als Attribut des übersingulären seienden Ens a se zuge­ 15

* Der Mensch besitzt also sehr wohl jenen »intellectus archetypus«,


den Kant, der ihn nur als »Grenzbegriff« anerkannte, ihm bestritt –
­Goethe aber ihm ausdrücklich zubilligte.

1 Erregbarkeit ] Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: für alle möglichen geistigen


Subjekte, die über dasselbe Material denken. 1 gelten ] 1947,47 folgt:
also 2 Grenze ] Ts 1,33 u. 1947,47: Grenzen 2 Erfahrung ] 1947,47: Er­
fahrungen; Ts 1,33 u. 1947,47 folgt: sie gelten nicht nur für diese wirklich
daseiende Welt, sondern für alle möglichen Welten. 4 sehr ] Ts 1,33
u. 1947,47: gestr.; 1962 ,51: wieder eingefügt 4 diese ] Ts 1,33 u. 1947,47:
solche 6 Einmal … Wissenschaften ] Ts 1,33 u. 1947,47: Für die posi­
tiven Wissenschaften, deren Feld durch die Prüfbarkeit ihrer deduzier­
ten [1947,47: reduzierten] Sätze vermittels Beobachtung und Messung
streng umgrenzt ist, bilden die Wesenserkenntnisse [1947,47: sie] die
obersten Voraussetzungen, 6 obersten ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,47: gestr.
6 die ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,47 folgt: in den Grenzen der allgemeinsten Ge­
genstandslogik für alle Gebiete je besondere Gruppen ausmachen und
die 10 sie ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48: die Wesenserkenntnisse 10 treffend ]
Ts 1/2 ,34 u. 1947,48 folgt: und bildhaft 14 nur ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48 folgt:
soweit es Wesen ist 15 als ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48 folgt: dem 16 1947,47:
Fn. gestr.; 1962, 51: wieder eingefügt
62 Die »phänomenologische Reduktion« 67

schrieben werden. Diese Fähigkeit der Trennung von Dasein und


Wesen macht das Grundmerkmal des menschlichen Geistes aus,
das alle anderen Merkmale erst fundiert. Nicht, daß er Wissen
hat, ist dem Menschen wesentlich, wie schon Leibniz sagte, son­
5 dern daß er apriori-Wesen hat oder daß er es zu erwerben fähig
ist. Eine »konstante« Vernunftorganisation, wie sie Kant ange­
nommen hat, gibt es dabei keineswegs; sie unterliegt vielmehr
prinzipiell dem geschichtlichen Wandel. Nur die Vernunft selbst
als Anlage und Fähigkeit, durch die Funktionalisierung solcher
10 Wesenseinsichten immer neue Denk- und Anschauungsformen,
Liebens- und Wertungsformen zu bilden und zu gestalten, ist
konstant.

Die »phänomenologische Reduktion« als Technik der


­Widerstandsaufhebung (Realität, Widerstand, Bewußtsein)

15 Wollen wir von hier aus tiefer in das Wesen des Menschen drin­
gen, so haben wir uns das Gefüge der Akte vorzustellen, die zum
Akt der Ideierung führen. Bewußt oder unbewußt vollzieht der
Mensch eine Technik, die man als versuchsweise Auf­h ebung des
Wirklichkeitscharakters bezeichnen kann. Das Tier lebt ganz im

1 werden ] Ts 1/2,34 u. 1947,48 folgt: und alles Dasein eines solchen


Wesens überhaupt als eine Setzung des ewigen Dranges als seines
zweiten Attributs aufgefaßt werden. 5 apriori-Wesen ] Ts 1/2,34 hs.
korr. aus: apriori-Wissen; so in 1947,48 u. 1949,52 übernommen; 1962 ,52:
Apriori-Wissen [so auch in B.I.17, 43] 5 daß er ] Ts 1/2,34 u. 1947,48:
gestr. 9 die ] Ts 1/2,34 u. 1947,48: gestr. 9 solcher ] Ts 1/2,34 u. 1947,48:
neuer 10 Wesenseinsichten ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48 folgt: – welche füh­
rende Pioniere der Menschheit an den erfahrbaren Tatsachen finden und
von der Menge nach- und mitvollzogen werden – auch 18 Mensch ]
Ts 1/2,34 u. 1947,48 folgt: dabei 18 versuchsweise ] Ts 1/2,34 u. 1947,48:
(versuchsweise) 19 Wirklichkeitscharakters ] Ts 1/2,34 u. 1947,48 folgt:
der Dinge, der Welt 19 kann ] Ts 1/2 ,34v u. 1947,48 folgt: In diesem Ver­
such, in dieser Technik der Wesenserfassung, schält sich der Logos der
Wesenheiten aus der konkreten sinnfälligen Dingwelt – sofern sie schon
›Gegenstand‹ geworden – heraus. 19 Tier ] Ts 1/2 ,34 folgt: wir sagten
68 Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes 62 | 63

Konkreten und in der Wirklichkeit. Mit aller Wirklichkeit ist


nun je | nachdem eine Stelle im Raum und eine Stelle in der Zeit,
ein Jetzt und Hier, und zweitens ein zufälliges Sosein verbun­
den, wie es die sinnliche Wahrnehmung je von einem »Aspekt«
aus gibt. Mensch sein heißt, dieser Art Wirklichkeit ein kräfti­ 5
ges »Nein« entgegenschleudern. Das hat Buddha gewußt, wenn
er sagt, herrlich sei es, jedes Ding zu schauen, furchtbar es zu
sein. Das hat Platon gewußt, wenn er die Ideenschau an eine
Abwendung der Seele von dem sinnlichen Gehalt der Dinge
knüpft und an eine Einkehr der Seele in sich selbst, um die 10
»Ursprünge« der Dinge zu finden. Und nichts anderes meint
auch E. Husserl, wenn er die Ideenerkenntnis an eine »phäno-
menologische Reduktion«, d. h. eine »Durchstreichung« oder
»Einklammerung« des (zufälligen) Daseinskoeffizienten der
Weltdinge knüpft, um ihre »essentia« zu gewinnen. Freilich 15
kann ich der Theorie dieser Reduktion bei Husserl im Einzelnen
nicht zustimmen, wohl aber zugeben, daß in ihr der Akt gemeint
ist, der den menschlichen Geist recht eigentlich definiert.
Will man wissen, wie dieser Akt der Reduktion erfolgt, so
muß man wissen, worin unser Wirklichkeitserlebnis eigent­ 20
lich besteht. Es gibt für den Wirklichkeitseindruck nicht eine
besondere angebbare Sensation (blau, hart usw.). Die Wahr­
nehmung, die Erinnerung, das Denken und alle möglichen
perzeptiven Akte vermögen uns diesen Eindruck nicht zu ver­
schaffen; was sie geben, ist immer nur das Sosein der Dinge, 25
niemals ihr Dasein. Was uns das Dasein gibt, das ist vielmehr

es; 1947,48: wir sahen es 2 nun ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48: gestr. 3 und
zweitens ] Ts 1/2 ,34 u. 1947,48: ferner 8 sein ] Ts 1,34 u. 1947,49: als
Zitat gekennzeichnet, es folgt: und eine Technik der Entwirklichung der
Welt und des Selbst entwickelte. 10 um ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: hier
13 d. h. ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49: gestr.; 1962 ,53: wieder eingefügt 17 wohl
aber zugeben, daß ] 1927,208: Daß aber 18 definiert ] 1927,208 folgt:
das sei kurz angedeutet 20 man ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: zunächst
22 blau, hart usw. ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49: hart, fest etc. 22 Die ] Ts 1/2 ,35
u. 1947,49: Auch die 25 das ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: (zufällige)
26 Dasein ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: (= Wirklichsein)
63 | 64 Die »phänomenologische Reduktion« 69

das Erlebnis des Widerstandes | der schon erschlossenen Welt­


sphäre – und Widerstand gibt es eben nur für unser strebendes,
für unser triebhaftes Leben, für unseren zentralen Lebensdrang.
Das ursprüngliche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis »des
5 Widerstandes der Welt« geht allem Be-wußtsein, geht aller Vor-
stellung, aller Wahr-nehmung vorher. Auch die aufdringlichste
sinnliche Wahrnehmung ist niemals bloß bedingt durch den
Reiz und den normalen Vorgang im Nervensystem. Eine trieb-
hafte Zuwendung, sei es Verlangen oder Abscheu, muß gleich­
10 falls vorhanden sein, wenn es auch nur zur einfachsten Empfin-

2 und ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 folgt: diesen 2 eben ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49:
gestr. 3 Lebensdrang. ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,49 f. folgt: Nicht ein Schluß
führt z. B. zur Realsetzung der Außenwelt (die als Sphäre z. B. auch im
Traume, in der Fantasie besteht), nicht der anschauliche Gehalt der
Wahrnehmung (wie die ›Formen‹, ›Gestalten‹ [Ts 2 folgt: Düfte etc.])
gibt uns das Realitätserlebnis, nicht die Gegenständlichkeit (die ja auch
Phantasiertes hat), nicht die fixe Stelle im Raume in der Bewegung der
Aufmerksamkeit usw. –, sondern der erlebte Widerstandseindruck
gegen die unterste, primitivste, wie wir sahen, selbst der Pflanze noch
zukommende Stufe des seelischen Lebens, den ›Gefühlsdrang‹, gegen
unser nach allen Richtungen ausgreifendes, immer, auch im Schlafe und
in den letzten Stufen der Bewußtlosigkeit noch tätiges Triebzentrum.
In der streng geregelten Ordnung seiner Bestandteile (Farbe, Gestalt,
Ausdehnung etc.), in der sich, sowohl objektiv wie bei seiner Wahrneh­
mung für uns, irgend­ein körperliches Ding aufbaut – eine Ordnung, die
wir z. B. beim pathologischen Abbau der Wahrnehmungsfähigkeit [Ts 2
folgt: genau] studieren können –, ist keiner [1947,50: keines] ursprüng­
licher als die Realität, resp. das erlebte Realitätsmoment. Lasset für ein
Bewußtsein alle Farben und sinnlichen Materien verbleichen, alle Ge­
stalten und Beziehungen zergehen, alle dinglichen Einheitsformen ver­
schweben – das, was schließlich gleichsam nackt und vor jeder Art der
Beschaffenheit frei und ledig noch bleiben wird, das ist der machtvolle
Eindruck der Realität, der Wirklichkeitseindruck der Welt.; 1947,88 Fn.
zu Lebensdrang: Vgl. ›Erkenntnis und Arbeit‹ und ›Idealismus – Realis­
mus‹ a. a. O.; 1962 ,96 Fn.: Vgl. zum folgenden ›Erkenntnis und Arbeit‹
a. a. O. Abschnitt V. 5 geht ] Ts 1/2 ,35 u. 1947,50 folgt: also 7 den ]
Ts 1/2 ,35 folgt: (äußeren); nicht in 1947,50 übernommen 10 gleichfalls ]
Ts 1/2 ,35 u. 1947,50: gestr.; 1962 ,54: wieder eingefügt
70 Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes 64 | 65

dung kommen soll. Da also ein Impuls unseres Lebensdranges


die unumgängliche Mitbedingung ist für alle mögliche Wahr­
nehmung, können die Widerstände, welche die den Körperbil­
dern der Umwelt zugrunde liegenden Kraftzentren und -fel­
der – die »Sinnesbilder« selbst sind ja gänzlich unwirksam – auf 5
unseren Lebensdrang ausüben, bereits schon an einer Stelle des
zeitlichen Prozesses einer werdenden möglichen Wahrnehmung
erlebt werden, wo es zu einer bewußten Bildwahrnehmung noch
nicht gekommen ist. Das Realitätserlebnis ist daher aller unse­
rer »Vorstellung« der Welt nicht nach-, sondern vorgegeben. Was 10
heißt also dann dieses kräftige »Nein«, von dem ich sprach ? Was
heißt es, die Welt entwirklichen oder die Welt »ideieren« ? Es
heißt nicht, wie Husserl meint, das Existenzurteil zurückhal­
ten; es heißt vielmehr, das Realitätsmoment selbst versuchsweise
aufheben, annihilieren, jenen ganzen, ungeteilten, machtvol­ 15
len Realitäts­eindruck mit seinem affektiven | Korrelat – heißt,
jene »Angst des Irdischen« beseitigen, die wie Schiller tief sagt :
»dahin« nur ist »in jenen Regionen, wo die reinen Formen woh­
nen«. Dieser im Grunde asketische Akt der Entwirk­lichung
kann, wenn Dasein »Widerstand« ist, nur in der Auf­hebung, 20
in der Außerkraftsetzung eben jenes Lebensdranges bestehen,
im Verhältnis zu dem die Welt vor allem »als W ­ iderstand«

1 unseres ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: des; 1962 ,54: unseres 2 die ] Ts 1/2 ,36 u.
1947,50: gestr.; 1962 ,54: wieder eingefügt 3 mögliche Wahrnehmung ]
Ts 1,36 u. 1947,50: möglichen Empfindungen und Wahrnehmungen
6 schon ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: gestr. 9 daher ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: also
11 also ] 1947,50: aber; 1962 ,54: also 11 kräftige ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50:
gestr. 13 das ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50 folgt: (schon in jeder natürlichen
Wahrnehmung liegende) 14 zurückhalten; ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50 folgt:
das Urteil: ›A ist real‹ fordert ja in seinem Prädikat selbst eine Erlebnis­
füllung, wenn ›real‹ nicht ein leeres Wort sein soll. 14 versuchsweise ]
Ts 1/2 ,36 u. 1947,50 folgt: (für uns) 17 tief ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,50: gestr.
19 wohnen.« ] Ts 1/2 ,36v u. 1947,51 folgt: Denn alle Wirklichkeit, schon
weil sie Wirklichkeit ist und ganz gleichgültig, was sie ist, ist für jedes
lebendige Wesen zunächst ein hemmender, beengender Druck und die
›reine‹ Angst (d. h. ohne jedes Objekt) ihr Korrelat.
65 Der Mensch als »Asket des Lebens« 71

erscheint und der zugleich die Bedingung ist aller sinnlichen


Wahrnehmung des zufälligen Jetzt-Hier-So. Diesen Akt aber
kann nur eben jenes Sein vollziehen, das wir »Geist« nennen.
Nur der Geist in seiner Form als reiner »Wille« kann die In-
5 aktualisierung jenes Gefühlsdrangszentrums bewirken, das wir
als den Zugang zum Wirklichsein des Wirklichen erkannten.

Der Mensch als »Asket des Lebens«

Der Mensch ist also das Lebewesen, das sich zu seinem Leben,
das heftig es durchschauert, prinzipiell asketisch – die eigenen
10 Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, ihnen Nah­
rung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versa-
gend – verhalten kann ! Mit dem Tiere verglichen, das immer
»ja« sagt zum Wirklichsein, auch da noch, wo es verabscheut
und flieht, ist der Mensch der »Neinsagenkönner«, der »Asket
15 des Lebens«, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.

2 Jetzt-Hier-So. ] Ts 1/2 ,36v sollte als Fn folgen: Darum, weil Triebe


und Sinne zusammengehören, meint Platon, es sei Philosophieren ein
›ewiges Ersterben‹ – und darum ist jeder ausgeprägte Rationalismus
letzten Endes auf das ›asketische Ideal‹ gegründet.; 1947,51: Fn. in den
Text versetzt 2 Akt ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,51 folgt: der Entwirklichung
4 kann ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,51 folgt: durch einen Willensakt – und das
heißt Hemmungsakt – 8 also ] Ts 1/2 ,36 u. 1947,51: gestr. 8 das ]
Ts 1/2 ,36 u. 1947,51 folgt: kraft seines Geistes 10 verdrängend, ]
Ts 1/2 ,36 u. 1947,51 folgt: d. h. 15 Wirklichkeit. ] Ts 1/2 ,36 f. u. 1947,51 f.:
folgt: Das ist ganz unabhängig von Weltanschauungs- und Wertfra­
gen, ob man (etwa im Sinne Buddhas, der auf alle Fälle diese Frage wie
kaum ein Anderer tief beantwortet hat) diesen Aufschwung des Geistes
zur unwirklichen Sphäre der Essenzen als Endgültigkeitsziel sucht,
weil man Realität selbst schon als Übel wertet (›omne ens est malum‹),
oder ob man aus der Sphäre der Essenzen – wie ich es für recht halte –
immer wieder zurück zur Wirklichkeit und ihrem Jetzt-Hier-so-Sein
zu kehren sucht, um sie besser zu machen (Dasein zunächst indifferent
nehmend gegenüber gut und schlecht), und in dieser ewigen Rhythmik
zwischen Idee – Realität, Geist – Drang – in dem Ausgleich ihrer immer
72 Wesenserkenntnis als Grundakt des Geistes 65 | 66

Er ist zugleich im Verhältnis zum Tiere, dessen Dasein das ver­


körperte Philisterium ist, der ewige »Faust«, die bestia cupidis-
sima rerum novarum, nie sich beruhigend mit der ihn umrin­
genden Wirklichkeit, immer begierig, die Schranken seines
Jetzt­hiersoseins und seiner »Umwelt« | zu durchbrechen, dar­ 5
unter auch seine eigene jeweilige Selbstwirklichkeit. In diesem
Sinne sieht auch S. Freud in seinem »Jenseits des Lustprinzips«
im Menschen den »Triebverdränger«. Und nur weil er das ist,
kann der Mensch seine Wahrnehmungswelt durch ein ideelles
Gedankenreich überbauen, anderseits aber eben hierdurch sei­ 10
nem ihm einwohnenden Geiste die in den verdrängten Trieben
schlummernde Energie steigend zuführen. D. h. : der Mensch
kann seine Triebenergie zu geistiger Tätigkeit sublimieren.

währenden Spannung – das wahre Leben und die wahre Bestimmung


des Menschen sieht. 1 Er ist zugleich ] Ts 1/2 ,37 u. 1947,52: Auf alle
Fälle ist der Mensch 5 und seiner »Umwelt« ] Ts 1/2 ,37 u. 1947,52: gestr.
5 durchbrechen, ] Ts 1/2 ,37 u. 1947,52 folgt: immer strebend, die Wirk­
lichkeit, die ihn umgibt, zu transzendieren – 7 in seinem »Jenseits des
Lustprinzips« ] Ts 1/2 ,37: gestr.; 1947,88 Fn.: Vgl. S. Freud ›Jenseits des
Lustprinzips‹. 8 ist, ] Ts 1/2 ,37 u. 1947,52 folgt: durch dieses nicht ge­
legentliche, sondern konstitutionelle ›Nein‹ zum Triebe, 9 Wahrneh-
mungswelt ] 1949,56: Wahrnehmungen; 1962, 56: Wahrnehmungswelt
10 anderseits aber ] Ts 1/2 ,37 u. 1947,52: und; 1962 ,56: andererseits
13 kann ] 1927,210 folgt: zugleich
66 | 67 73

IV. »Negative« und »klassische«


Theorie vom Menschen

5
H ier aber erhebt sich nun die entscheidende Frage : Ent-
springt durch die Askese, Verdrängung, Sublimierung
erst der Geist, oder erhält er durch sie nur seine Energie ? Nach
meiner Überzeugung ist durch jene negative Tätigkeit, jenes
»Nein« zur Wirklichkeit, keineswegs das Sein des Geistes, son­
dern nur gleichsam seine Belieferung mit Energie, und damit
seine Manifestationsfähigkeit bedingt. Der Geist selbst ist, wie
10 wir sagten, in letzter Linie ein Attribut des Seienden selbst, das
im Menschen manifest wird, in der Konzentrationseinheit der
sich zu sich »sammelnden« Person. Aber – als solcher ist der
Geist in seiner »reinen« Form ursprünglich schlechthin ohne
alle »Macht«, »Kraft«, »Tätigkeit«. Um überhaupt irgendeinen
15 noch so kleinen Grad von Tätigkeit zu gewinnen, muß jene
Askese, jene Triebverdrängung und gleichzeitige Sublimierung
hinzukommen, von der wir sprachen. |
3 nun die entscheidende ] Ts 2 ,38: die entscheidendste; Ts 1,38 u. 1947,52:
wiederum eine entscheidende 4 die Askese, Verdrängung, Sublimie-
rung ] Ts 2 ,38: diese Askese, Verdrängung, Sublimierung, durch dieses
nicht gelegentliche, sondern konstitutionelle Nein; nicht in 1947,52
übernommen 5 Energie? ] 1927,210 folgt: In der Beantwortung dieser
Frage scheiden sich die Wege in einem entscheidenden Sinne.; Ts 1,38
u. 1947,52 folgt: Ist diese innere Technik – wenngleich durch das ›non
fiat‹ des triebhemmenden Wollens selbst schon bedingt – nur eine
Dispositionsschaffung für die Manifestation des Geistes im Menschen,
oder aber entspringt der Geist seinem Wesen, seinen Prinzipien und
seinen Gesetzen nach erst durch diese [1947,52 folgt: Art] Verdrängung,
Sublimierung? 7 Wirklichkeit, ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,52 folgt: jene Abstel­
lung, Inaktivierung der Wirklichkeit und Bild gebenden Triebzentren
9 selbst ] Ts 2 ,38 u. 1947,52: gestr. 10 wir ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,52 folgt: be­
reits 13 »reinen« ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: reinen 14 überhaupt ] Ts 1/2 ,38
u. 1947,53: gestr. 15 von ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: Kraft und 17 von
der wir sprachen. ] Ts 1,38 u. 1947,53: gestr.
74 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 67

Von hier aus gewinnen wir nun Einsicht in zwei erste Mög-
lichkeiten der Auffassung des Geistes, die in der Geschichte der
Menschidee eine fundamentale Rolle spielen. Die erste dieser
Theorien, die die Griechen ausgebildet haben, spricht dem Gei­
ste selbst nicht nur Kraft und Tätigkeit, sondern das Höchstmaß 5
der Macht und Kraft zu – wir nennen sie die »klassische« Theorie
vom Menschen. Sie ist Bestandteil einer Gesamtweltanschau­
ung, die behauptet, daß das von vornherein bestehende und
durch den Werdeprozeß der Geschichte unveränderliche Sein
der »Welt« (Kosmos) so gebaut sei, daß die höheren Formen des 10
Seins von der Gottheit bis zur materia bruta auch die je mächti-
geren, kraftvolleren, also die kausierenden Seinsweisen sind. Der
Höhepunkt einer solchen Welt ist dann natürlich der geistige
und allmächtige Gott, der Gott also, der eben durch seinen Geist
auch allmächtig ist. Die zweite entgegengesetzte Auffassung, die 15
wir die »negative Theorie« des Menschen nennen wollen, vertritt
die umgekehrte Meinung, daß der Geist selbst – soweit dieser
Begriff dann überhaupt zugelassen wird –, daß zum minde­
sten alle »Kultur erzeugenden« Tätigkeiten des Menschen, also

1 nun ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 1 erste ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr.
5 nur ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: eine eigentümliche Wesenheit und Au­
tonomie, sondern auch 5 Tätigkeit ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: (νοῦς
ποιητικóς) 5 sondern ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: ja 6 der Macht und
Kraft ] Ts 1/2 ,38 u. 1962 ,57: von Macht und Kraft; 1947,53: von Macht des
Geistes 6 sie ] 1927,211: diese Theorie 7 – wir nennen … vom Men-
schen ] 1947,53: gestr.; 1962 ,57: wieder eingefügt; Ts 1,38: – wir nennen
… des Geistes; nicht in 1947,53 übernommen 7 ist ] 1927,211 folgt: der
10 (Kosmos) ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 gestr.; 1962 ,57: wieder eingefügt
10 die ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53 folgt: je 12 also ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr.;
1962 ,57: wieder eingefügt 13 dann natürlich ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53:
gestr. 14 Gott, der Gott also, ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 15 allmäch-
tig ist ] 1947,53 u. 1962 ,57: allmächtige Gott 15 Auffassung ] Ts 1/2 ,38
u. 1947,53: Lehre 16 des Menschen ] Ts 1,38 u. 1947,53: des Geistes;
1962 ,57: des Menschen 16 wollen ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 17 die
umgekehrte ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: umgekehrt die 17 selbst ] Ts 1/2 ,38 u.
1947,53: gestr.; 1962 ,57: wieder eingefügt
67 | 68 Negative Theorie und Kritik 75

auch alle moralischen, logischen, ästhetisch schauenden und


künstlerisch bildenden Akte ausschließlich durch jenes »Nein«
erst erstehen. – Ich weise beide Theorien zurück. Ich behaupte,
daß zwar durch jenen negativen Akt die Energisierung des
5 von Hause aus ohnmächtigen, nur in einer Gruppe von reinen
»Intentionen« bestehenden | Geistes erfolge, nicht aber eben
hierdurch der Geist allererst »entspringe«.

Negative Theorie und Kritik

¶ Für die negative Theorie des Menschen nenne ich einige


10 in sich allerdings recht verschiedenartige Beispiele : Buddhas
Er­lösungslehre, Schopenhauers Lehre von der »Selbstnegation
des Willens zum Leben«, das beachtenswerte Buch von Alsberg
»Das Menschheitsrätsel«, endlich auch die Spätlehre S. Freuds,
besonders in »Jenseits des Lustprinzips«. Ich kann auf diese
15 Lehren nicht im einzelnen eingehen, ihnen nur einige Worte
widmen. Für Buddha endet der Sinn des menschlichen Daseins
in der Erlöschung seiner als Begierdesubjekt, respektive Erwir­
kung einer nur noch geschauten Wesenswelt, d. h. der Nichtsheit
oder des Nirwana. Eine positive Idee des Geistes besitzt Buddha
20 nicht, weder im Menschen noch im Weltgrunde. Nur die kau­

1 also auch ] Ts 1/2 ,38 u. 1947,53: gestr. 4 daß zwar durch jenen nega-
tiven Akt ] Ts 1/2 ,38 u. 1947, 53: daß der Geist zwar eigenes Wesen und
Gesetzlichkeit hat, aber keinerlei ursprüngliche Eigenenergie; daß zwar
durch jenen negativen Akt des (selbst schon geistigen) triebhemmenden
Wollens 6 eben ] Ts 1/2, 38 u. 1947, 53: gestr. 12 das ] Ts 1,39 u. 1947,53:
ferner das 16 Ich kann … widmen. ] Ts 1,39 u. 1947,54: gestr. 16 Bud-
dha ] Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: der mit unvergleichlicher Tiefe erkannte,
daß Wirklichkeitsgegebenheit Leiden am Widerstande ist, 17 re-
spektive ] Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: in der; 1962 ,58: bzw. in der 19 oder ]
Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: mythologisch ausgedrückt: 20 Nur ] Ts 1,39 u.
1947,54 folgt: seine Technik der Erkenntnis und des leidenüberwinden­
den ›heiligen Wissens‹ und
76 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 68 | 69

sale Ordnung, in der bei der Technik der Entwirklichung durch


innere Aufhebung der Begier und dessen, was er den »Durst«
nennt, die sinnlichen Qualitäten, die Gestalten, die Relationen,
Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Seins, Stück für Stück weg­
fallen, hat er tiefsinnig erkannt. Schopenhauer sieht das Wesens­ 5
merkmal der Verschiedenheit von Tier und Mensch ausschließ­
lich darin, daß das Tier jene »erlösende« Negation des Willens
zum Leben nicht zu vollziehen vermag, die der Mensch in sei­
nen höchsten Exemplaren vollziehen kann – jene Negation, die
Schopenhauer wie seinem Lehrer Bouterweck der Quell ist aller 10
»höheren Formen« des Bewußtseins und Wissens in Metaphy­
sik, Kunst, Mitleidsethos usw. | Alsberg, ein Schüler Schopen­
hauers, erkennt sehr richtig, daß weder ein morphologisches,
noch ein physiologisches, noch ein empirisch-psychologisches
Merkmal die allgemeine Überzeugung der Kulturwelt von 15
einem Wesensunterschied von Mensch und Tier rechtfertigen
kann. Er hat Schopenhauers Lehre erweitert zu der These, das
»Prinzip der Menschlichkeit« liege ausschließlich darin, daß
der Mensch seine Organe aus dem Lebenskampf der Indivi­
dual- und Arterhaltung auszuschalten gewußt habe zugunsten 20
des Werkzeugs, der Sprache, der Begriffsbildung, welch letztere
er auf die Ausschaltung der Sinnesorgane und –funktionen und
auf das Machsche Prinzip einer möglichsten »Ersparnis« mit
sinnlichen Inhalten zurückführt. Ausdrücklich weist Alsberg
es ab, den Menschen durch Geist und Vernunft erst zu definie- 25
ren. Die Vernunft, die er – fälschlich, wie sein Lehrer Schopen­
hauer – nur als diskursives Denken, insbesondere als Begriffs­

1 der ] Ts 1,39 folgt: Ausübung seiner; 1947,54: Ausübung der 2 und ]


Ts 1,39 u. 1947,54: gestr. 3 nennt, ] Ts 1,39 u. 1947,54 folgt: die sinnliche
Wirklichkeitswelt und die Leib- und Seelenvorgänge dahinschwinden –
5 erkannt. ] 1962 ,96 Fn.: Vgl. den Aufsatz ›Vom Sinn des Leides‹ (1915,
erweitert 1922), aufgenommen in Schriften zur Soziologie und Welt-
anschauungslehre, 1923, 2. Auflage 1962 im Francke Verlag; s[iehe]
Gesammelte Werke Bd. 6. 12 usw. ] Ts 1,39 u. 1947,54: gestr. 24 mit
sinnlichen Inhalten ] Ts 1,39 u. 1947,54: sinnlicher Inhalte
69 | 70 Negative Theorie und Kritik 77

bildung kennt, ist ihm eine Folge der Sprache, nicht ihre Wurzel;
die Sprache selbst sieht er als »immaterielles Werkzeug« zwecks
Ausschaltung der Arbeit der Sinnesorgane an. Als Grund für die
Entstehung dieses »Prinzips der Menschlichkeit« oder die Ten­
5 denz des Lebens, seine Organe auszuschalten und »Werkzeuge«
und »Zeichen« an die Stelle der lebendigen ­Organfunktion zu
setzen, und damit auch als Grund der steigenden »Vergehirn­
lichung« des Menschen im morphologischen und physiologi­
schen Sinne, sieht Alsberg die besonders mangelhafte Organan­
10 passung des Menschen an seine Umwelt an (Mangel an Greif­
fuß, Kletter | fuß, Klauen, Eckzähnen, Haarkleid usw.), d. h. den
Mangel an jenen spezifischen Organanpassungen, die seine
nächsten Anverwandten, die Menschenaffen, besitzen. Das,
was man »Geist« nennt, ist also für Alsberg ein spät entstande­
15 nes Surrogat für mangelnde Organanpassung – man könnte im
Sinne Alfred Adlers sagen : eine Überkompensation von konsti-
tutioneller Organ-Minderwertigkeit der Menschenart. – Auch
die Spätlehre S. Freuds gehört in den Kreis der negativen Theo­
rien des Menschen. Die Worte Trieb- und Affekt»verdrängung«
20 hatte sogar schon Schopenhauer ausdrücklich gebraucht, um,
wie er sich ausdrückt, bestimmte »Wahnformen« zu erklären.
Es ist bekannt, wie großartig Freud diesen Gedanken für die
Entstehung der Neurose ausbaute. Aber nach Freud sollen diese
selben Triebverdrängungen, die nach der einen Richtung die
25 Neurose erklären sollen, für den Fall, daß die verdrängte Ener­
gie der Triebe »sublimiert« wird, andererseits nichts weniger

4 oder die ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: , diese 6 Organfunktion ] 1947, 55:


Organfunktionen 7 und ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: gestr. 14 Alsberg ]
Ts 1/2 ,40 u. 1947,55 folgt: nur 16 Adlers ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55 folgt:
der auf diese Weise gewisse Hochbegabungen des Menschen erklärt,
16 von ] Ts 1/2,40 u. 1947, 55: gestr. 18 gehört ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55 folgt:
wie ich sagte, 19 Theorien ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: Theorie 21 erklären ]
1949,60: klären; 1962 ,59: erklären 23 ausbaute ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55:
ausgebaut hat 24 Triebverdrängungen ] 1947, 55 u. 1962,60: Triebver­
änderungen 26 andererseits ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: gestr. 26 nichts ]
1947,55: nicht; 1962 ,60: nichts
78 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 70 | 71

hervorbringen als die Fähigkeit zu jeder Art höherer Kultur­


gestaltung, ja, wie Freud ausdrücklich sagt, die Spezifität der
menschlichen Konstitution selbst. So heißt es ausdrücklich im
»Jenseits des Lustprinzips« : »Die bisherige Entwicklung des
Menschen scheint mir keiner anderen Erklärung zu bedür­ 5
fen als die der Tiere, und was man an einer Minderzahl von
menschlichen Individuen als rastlosen Drang zu weiterer Ver­
vollkommnung beobachtet, läßt sich ungezwungen als Folge der
Triebverdrängung verstehen, auf welcher das Wertvollste an der
menschlichen Kultur aufgebaut ist« usw. (S. 40). Man hat noch 10
wenig | darauf geachtet, daß der späte Freud, seit Aufstellung
seiner dualistischen Grundlehre von den zwei Grundtrieben
Libido und Todestrieb, nicht nur mit Schopenhauer, sondern
selbst direkt mit Buddhas Lehre einen seltsamen Zusammen­
hang gewinnt. Nach beider Lehre sind im Grunde alle Formen 15
des Geistes vom materiellen Ding an über Pflanze, Tier, Mensch
bis zu dem das »heilige Wissen« besitzenden Weisen gleichsam
Gruppen eines erstarrten Festzugs in die stille Nichtsheit, in den
ewigen Tod. Ist doch nach Freud, der fälschlich, wie ich glaube,
dem Organismus überhaupt eine Tendenz schlechthinniger 20
Soseinserhaltung, eine Tendenz zur Ruhelage, zu Reizschutz
und »Reizverweigerung« beilegt, schon das Macht­system, das
beim Tiere zu den Ernährungs-, Wachstums- und Fortpflan­
zungssystemen hinzutritt und sich zwischen sie und die Umwelt
einschaltet (im Gegensatz zur Pflanze), eine relative Leistung 25
des im Grunde sadistischen, zerstörenden Todestriebes als der
Ursehnsucht des Lebens »ins Anorganische zurück«.

4 in »Jenseits des Lustprinzips« ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: gestr.; 1962 ,60 Fn.:
Vgl. ›Jenseits des Lustprinzips‹ (1918), S. 40. 10 usw. (S. 40) ] Ts 1/2 ,40
u. 1947,55: gestr.; vgl. vorangegangene Anm. 10 noch ] Ts 1/2 ,40 u.
1947,55 folgt: viel zu 12 Grundlehre ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,55: Lehre
14 seltsamen, ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,56 folgt: zuweilen zu klarer Bewußtheit
gelangenden 16 Geistes vom materiellen Ding ] Ts 1/2 ,40 u. 1947,56:
Daseins, von materiellen Dingen 17 Weisen ] 1927,215: Menschen
26 zerstörenden ] Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: zerstörerischen
71 | 72 Negative Theorie und Kritik 79

Der Grundmangel jeder Art dieser negativen Theorie des


Menschen ist die Tatsache, daß sie keine Spur Antwort auf fol­
gende Fragen gibt : Was denn im Menschen negiert, was denn
verneint den Willen zum Leben, was verdrängt Triebe, und aus
5 welchem verschiedenen Letztgrunde wird das eine Mal die ver­
drängte Triebenergie Neurose, das andere Mal aber sublimiert
zu kulturgestaltender Tätigkeit ? Wohin wird sublimiert, und
wieso stimmen die Prinzipien des Geistes zum mindesten par­
tiell mit den Seins | prinzipien zusammen ? Endlich : wozu wird
10 verdrängt, sublimiert, der Lebenswille negiert – um welcher
Endwerte und Endziele willen ? Auch Alsberg muß man fragen :
Was leistet denn die Organausschaltung, was erfindet denn
die materiellen und immateriellen Werkzeuge ? Das »Bedürf­
nis«, das schon Lamarck für Organneubildung so maßlos über-

1 Der ] Am Beginn dieses Absatzes heißt es in Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: Auch


nicht einer dieser Thesen der ›negativen Theorie‹ des Geistes [Ts 2 ,41:
vom Menschen] kann ich meine Zustimmung geben. Es sind lauter
Thesen einseitiger, nur auf Lebenswerte bezogener ›Psychiker‹ – wenn
ich den alten Unterschied von Psychiker und Pneumatiker hier anwen­
den darf. Selbst Buddha war ein ausgeprägter Psychiker. Ich bin sogar
der Meinung, daß die gesamte indische Kultur die spezifisch griechi­
sche und abendländische Kategorie des ›Geistes‹ nicht besaß. Alle indi­
schen Systeme sind entweder positiver oder negativer Biologismus, und
dies sowohl der Eigenart des Anorganischen gegenüber, wie der Eigen­
art des Geistigen. Doch dies nebenbei. Der 1 dieser negativen ]
Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: von negativer 2 Menschen ] 1947, 56: Geistes
3 folgende ] Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: die fundamentalen 4 und ] 1947,56:
gestr.; 1962 ,61: wieder eingefügt 6 aber ] 1947,56: gestr. 7 sublimiert. ]
1962 ,96 Fn.: Vgl. das Kapitel ›Zu Freuds Ontogenie‹ in Wesen und For-
men der Sympathie (bereits in der Erstauflage von 1913 ›Zur Phänome­
nologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß‹).
9 zusammen ] Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: überein 12 Was leistet denn die
Organausschaltung ] Ts 1/2 ,41 u. 1947,56: Was ist es denn, was die Or­-
gan­ausschaltung leistet 13 Werkzeuge? ] Ts 1/2 ,41 u. 1947,56 f. folgt:
Und werden die Organe denn wirklich ›ausgeschaltet‹ – und nur um
derselben Werte und Ziele willen, die auch dem Tiere eigen sind: zur
Individual- und Arterhaltung auf dieser Erdrinde? 14 für ] Ts 1/2 ,41 u.
1947,57 folgt: die
80 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 72

schätzte, wenn er es selbst als letzte »Ursache seiner eige­


nen Befriedigung« ansieht, allein genügt keineswegs. Warum
starb denn die so schlecht angepaßte Art nicht aus, wie hun­
dert andere Arten ausstarben ? Wie war es möglich, daß sich
dieses schon fast zum Tode verurteilte Wesen, dieses kranke, 5
zurückgebliebene, leidende Tier, mit der Grundhaltung ängst­
licher Selbstumhüllung, Selbstschutzes seiner schlecht angepaß­
ten, überverletz­lichen Organe, in das »Prinzip der Menschlich­
keit« und damit in die Zivilisation und Kultur rettete ? Man hat
gesagt, der Mensch habe einen Trieb­überschuß als ursprüng­ 10
liches Artmerkmal (A. Seydel), und daher habe er verdrän­
gen müssen. Aber – dieser Triebüberschuß dürfte doch wohl
gerade umgekehrt erst die Folge der bereits vollzogenen Trieb­
verdrängung sein und keineswegs ihre Ursache. Die negative
Theorie des Menschen setzt das, was durch sie erklärt werden 15
soll, immer schon voraus : die Vernunft, den Geist, eine eigene
selbständige Gesetzlichkeit des Geistes und die teilweise Identi­
tät seiner Prinzipien mit denen des Seins. Eben der Geist ist es,

1 selbst ] Ts 1/2,41 u. 1947,57: gestr.; 1962,61: wieder eingefügt 1 Ursache ]


Ts 1/2 ,41 u. 1947,57 folgt: auch 2 allein genügt keineswegs. ] Ts 1/2 ,42 u.
1947,57: genügt keineswegs als Erklärung. 3 die ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57:
diese organisch 3 Art ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: die ›Mensch‹ heißt,
4 hundert andere Arten ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: Hunderte anderer Arten
auch 7 Selbstschutzes ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: des Selbstschutzes 9 ret-
tete? ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: – und das heißt doch: in das Prinzip eines
objektiven Fortschritts und Wachstums der Sinngebilde des objektiven
Geistes? Wie rettete es sich aus dieser ›Sackgasse‹ (die ich als solche
rein biologisch zugebe) einer Lebensrichtung? Sicher doch nicht durch
Vernunft, durch Geist, der ja erst durch Askese, Verdrängung, Organ­
ausschaltung entsprungen sein soll! 11 (A. Seydel) ] 1962 ,96 Fn.: Vgl.
die (von H. Prinzhorn herausgegebene) nachgelassene Schrift des jun­
gen Alfred Seidel ›Bewusstsein als Verhängnis‹, Bonn 1927. 12 doch
wohl ] Ts 1/2,42 gestr.; 1947,57 u. 1962,62: wieder eingefügt 14 Triebver-
drängung ] 1962,62: Triebveränderung 15 des Menschen ] Ts 1/2 ,42 u.
1947,57: gestr. 15 setzt ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: eben in jeder Form, in
der sie auftritt, 17 teilweise ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: gestr.; 1962 ,62: wieder
eingefügt 18 Seins ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: selbst
72 | 73 Negative Theorie und Kritik 81

der bereits die Triebverdrängung einleitet, indem der ideen- und


wertgeleitete Wille all den ideewiderstreitenden Impulsen | des
Trieblebens die zu einer Triebhandlung notwendigen Vorstel­
lungen versagt und anderseits die den Ideen und Werten ange­
5 messenen Vorstellungen den lauernden Trieben wie Köder vor
Augen stellt, um die Triebimpulse auf diese Weise so zu koor­
dinieren, daß sie das geistgesetzte Willensprojekt ausführen.
Diesen eben geschilderten Grundvorgang wollen wir Lenkung
nennen, die in einem »Hemmen« und »Enthemmen« von Trieb­
10 impulsen besteht; und unter Leitung wollen wir verstehen die
Vorhaltung – gleichsam – der Idee und des Wertes selbst, die
je durch die Triebbewegungen sich verwirklichen. Was aber der
Geist nicht vermag, ist dies : selbst irgendwelche ­Triebenergie
erzeugen oder aufheben. Aber nicht nur diese Verdrängung
15 vom Geiste aus, auch das Endziel ist wieder etwas Positives :
1 ideen- ] 1947,57 u. 1962 ,62: idee-  2 wertgeleitete ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57
folgt: geistige 2 all ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: gestr. 2 ideewiderstreiten-
den ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: idee-wertwiderstreitenden 4 und ] Ts 1/2 ,42
u. 1947,57: gestr. 5 die den … Trieben ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: den lau­
ernden Trieben idee- und wertangemessene Vorstellungen gleichsam
6 auf diese Weise ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: gestr. 7 ausführen. ] Ts 1/2 ,42
u. 1947,57 folgt: , in Wirklichkeit überführen. 8 eben geschilder-
ten ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57: gestr. 9 wollen wir … nennen ] Ts 1/2 ,42 u.
1947,57: nennen wir 9 »Hemmen« ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: (non fiat)
9 »Ent­hemmen« ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: (non non fiat) 10 Trieb­
impulsen ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,57 folgt: durch den geistigen Willen
10 wollen wir verstehen ] Ts 1/2 ,42 u. 1947,58: gestr. 12 je ] Ts 1/2 ,42 u.
1947,58: dann je erst 12 verwirklichen. ] Ts 2 ,42 folgt: (Ursprüngliche
Lenkdetermination hat das, was wir zentrales geistiges ›Wollen‹ nen­
nen, also nicht auf die Triebe selbst, sondern nur auf die Abwandlung
der Vorstellungen.); Ts 1: durchgestr.; nicht in 1947,58 übernommen
14 aufheben ] Ts 1/2 ,42 folgt: vergrößern oder verkleinern. Er vermag
nur je verschiedene Triebgestalten hervorzurufen, die eben das den Or­
ganismus handelnd vollziehen lassen, was er – der Geist ›will‹. (Depres-
sion: Unansprechbarkeit der Triebe); bis auf den Zusatz in Klammern so
auch in 1947,58 15 diese Verdrängung vom Geiste aus ] Ts 1/2,43: diese,
durch die Vorstellungsregulation vermittelte Triebregulation geht vom
Geiste aus; 1947,58 u. 1962 ,62: diese durch die Vorstellungsregulation
vermittelte, vom Geiste ausgehende Triebregulation
82 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 73 | 74

das innere Frei- und Selbständigwerden und die Macht- und


Tätigkeitsgewinnung – sagen wir kurz : die Verlebendigung des
Geistes. Das allein verdient rechtmäßig Sublimierung des Lebens
zum Geiste genannt zu werden – nicht aber ein mystischer Vor­
gang, der neue geistige Qualitäten schaffen soll. 5

Klassische Theorie und Kritik

¶ Damit kommen wir zur sogenannten »klassischen Theorie«


zurück. Sie ist, wie ich bereits sagte, ebenso falsch wie die nega­
tive Theorie. Da aber diese klassische Theorie fast die gesamte
Philosophie des Abendlandes beherrscht, ist ihr Irrtum für 10
uns ein viel gefährlicherer. Diese Theorie mit ihrem Ursprung
im griechischen Geist- und Ideenbegriff ist die Lehre von der
»Selbstmacht der Idee«, ihrer ursprünglichen Kraft und Tätig­
keit, | ihrer Wirkfähigkeit, die die Griechen zuerst konzipierten
und die durch sie hindurch zu einer Grundauffassung des größ­ 15
ten Teiles des abendländischen Bürgertums geworden ist.* Ob

Soziologisch ist die klassische Theorie zugleich eine Klassenideo­


*

logie, die Ideologie einer Oberklasse, des Bürgertums. Vgl. meine »Sozio­
logie des Wissens« in »Wissen und Gesellschaft« (S. 202 ff.).

1 Frei- und Selbständigwerden ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: Freier- und Selbst­


ständigerwerden 2 Tätigkeitsgewinnung ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58 folgt: des
Geistes 4 des Lebens zum Geiste ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: gestr.; 1962 ,63:
wieder eingefügt 5 der ] Ts 1/2 ,43 folgt: den Ursprung des Geistes aus
der Triebverdrängung entspringen lassen und; korr. Text in 1947,58
übernommen 7 sogenannten ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: gestr. 7 Theorie« ]
Ts 2 ,43 u. 1947,58 folgt: des Geistes 9 Theorie ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,63:
gestr.; 1962 ,63: wieder eingefügt 9 aber … Theorie ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58:
sie aber 11 für uns ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: gestr. 13 ursprünglichen ]
1927,217: inneren 17 ist ] 1962,63 folgt: also 17 zugleich ] 1962,63:
gestr. 17 eine ] Ts 1,43 folgt: einseitige 18 meine »] 1947, 89 folgt:
Probleme einer 19 Wissens« ] in Druckvorl. für 1962, 58 folgt: a. a. O.
Abschn. II A. 19 (S. 202 ff.) ] 1947, 89 folgt: und den Aufsatz ›Der
­
Mensch im Weltalter des Ausgleichs‹ in ›Philosophische Weltanschau­
ung‹, Bonn 1929, S. 74.
74  Klassische Theorie und Kritik 83

diese klassische Theorie des Geistes auftritt bei Plato und Aristo­
teles, wo die Ideen und die Formen zuerst als gestaltende Kräfte
auftreten, die aus einem » μὴ ὄν« respektive dem »Möglichsein«
der prima materia die Weltdinge formen; ob sie in der theisti­
5 schen Form jüdisch-christlicher Religiosität erscheint, die Gott
nur reinen Geist sein läßt und ihm als solchem nicht nur Lei­
tung und Lenkung (Hemmen und Enthemmen), sondern einen
positiven, schöpferischen, ja sogar allmächtigen Willen beilegt;
ob sie in mehr pantheistischer Form auftritt wie bei J. G. Fichte
10 oder in Hegels Panlogismus, nach dem die Weltgeschichte auf
der Selbstexplikation der göttlichen Idee nach einem Gesetz der
Dialektik beruhen soll, der Mensch aber in seinem Kerne nur
das werdende Selbstbewußtsein ist, das die ewige geistige Gott­
heit von sich selbst »in ihm« gewinnt – die klassische Theorie
15 krankt überall und immer an demselben Irrtum, es besitze Geist
und Idee eine ursprüngliche Macht. Diese klassische Menschen­
lehre tritt vor allem in zwei Hauptformen auf : in der Lehre von

2 und ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: respektive; 1962, 63: bzw. 2 zuerst ]


Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: zugleich 7 (Hemmen und Enthemmen) ] Ts 1/2 ,43
u. 1947,58: gestr.; 1962 ,63: (Hemmen und Guthemmen) [!] 12 aber ]
Ts 1/2 ,43 u. 1947,58: gestr. 13 Selbstbewußtsein ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,58
folgt: das werdende Bewußtsein der Freiheit 14 ihm« ] Ts 1/2 ,43 u.
1947,58 folgt: in seiner Geschichte, 15 Irrtum, ] Ts 1/2 ,43 u. 1947,59
folgt: den abzutun der Menschheit die schwersten Erfahrungen kostet:
16 Macht ] Ts 1/2 ,43: Selbstmacht; es folgt [Ts 1,43] mit Maria Schelers
Hinweis auf die »sehr gekürzten« Seiten von B.I.17, 63/64: – er sei auch
ohne den Lebensdrang [Ts 1: Drang] ein mächtiges, ja im Theismus ein
allmächtiges Prinzip. Hier beginnt das relative Recht der großen Geg­
ner der klassischen Lehre, der Triebnaturalisten, von Epicur, Hobbes,
Machiavell, Lammetrie bis zu Schopenhauer, Marx und Freud, die aber
in ihrer reaktiven Opposition gegen die klassische Lehre ihrerseits ge­
rade die Wahrheit preisgaben, die in dieser Lehre liegt: die Autonomie
des Geistes in seiner Essentia und seinen Gesetzen. Damit aber haben
sie [Ts 1: diese] ihre eigene Theorie – wie jede Theorie überhaupt – ent­
wertet. Denn die Autonomie des Geistes ist die oberste Voraussetzung
für die Idee der ›Wahrheit‹ und ihre mögliche Erkennbarkeit.; mit ge-
ringfügigen Abweichungen in 1947,59 übernommen 17 Diese klassische
Menschenlehre ] Ts 1,44 u. 1947,59: Die klassische Lehre
84 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 74 | 75

der geistigen Seelensubstanz des Menschen und jenen Lehren,


nach denen nur ein einziger Geist existiert, im Verhältnis zu
dem alle einzelnen Geister nur Modi oder | Tätigkeitszentren
dieses Geistes sind (Averroes, Spinoza, Hegel). Die Substanz-
lehre der Seele beruht ihrerseits auf einer völlig unberechtigten 5
Anwendung der äußeren Ding-kategorie oder – in ihrer älteren
Form – der organismenhaften Scheidung und Anwendung der
Kategorien von »Stoff« und »Form« auf das Verhältnis von Leib
und Seele (Thomas von Aquino). Beide Anwendungen kosmo­
logischer Kategorien auf das zentrale Sein des Menschen ver­ 10
fehlen ihr Ziel. Die Person des Menschen ist keine »Substanz«,
sondern nur eine monarchische Anordnung von Akten, unter
denen je einer die Führung und Leitung besitzt. Aber sehen
wir ab von der Kritik der Einzelgestaltung dieser Lehren. Der
Grundirrtum, aus dem die »klassische« Theorie des Menschen 15
stammt, ist ein tiefer, grundsätzlicher, mit dem ganzen Welt­
bild zusammenhängender : anzunehmen, daß diese Welt, in der
wir leben, von Hause aus und konstant so geordnet sei, daß die
Seinsformen nicht nur an Sinn und Wert, sondern auch an Kraft
und Macht zunehmen, je höher sie sind. 20
Für uns also ist es ein ebenso großer Irrtum, einerseits die je
höhere Seinsform – z. B. das Leben gegenüber dem Anorgani­
schen, das Bewußtsein gegenüber dem Leben, den Geist im Ver­

1 des Menschen und ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59: im Menschen und in


4 Hegel ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59 zusätzlich erwähnt: Kant, Fichte, Schelling,
v. Hartmann 5 ihrerseits auf einer völlig ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59: auf der
11 Ziel. ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59 folgt: Das geistige Aktzentrum, 12 nur ]
Ts 1/2 ,44 u. 1947,59: gestr. 13 besitzt ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59 folgt: und
auf denjenigen Wert und die Idee ausgerichtet [1947,59: gerichtet] ist,
mit denen der Mensch sich je ›identifiziert‹. 14 Einzelgestaltung
dieser Lehren ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59: Einzelgestaltungen dieser Lehre
15 des Menschen ] Ts 1/2 ,44 folgt: in ihrer Gesamtheit; 1947,59 u. 1962,65:
des Menschen gestr. 17 zusammenhängender ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59
folgt: Irrtum 18 die ] Ts 1,44 u. 1947,59 folgt: höheren 19 sondern ]
Ts 1/2 ,44 u. 1947,59 folgt: – hier beginnt der Irrtum – 21 also ] Ts 1/2 ,44
u. 1947,59: gestr. 21 einerseits ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,59: gestr. 23 dem ]
Ts 1/2 ,44 u. 1947,60 folgt: unbewußten
75 | 76 Verhältnis von Geist und Macht 85

hältnis zu den untermenschlichen Bewußtseinsformen im Men­


schen und außerhalb des Menschen – genetisch entsprungen
zu denken aus Prozessen, die zu den niedrigeren Seinsformen
gehören (Materialismus und Naturalismus) – wie umgekehrt
5 anzunehmen, die höheren Seinsformen seien Ursache der nied­
rigeren, es | gebe z. B. je eine Lebenskraft, eine Bewußtseinstä-
tigkeit, einen von Hause aus mächtigen tätigen Geist (Vitalismus
und Idealismus). Führt die negative Theorie zu falscher mecha­
nistischer Allerklärung, so führt die klassische zu dem haltlo­
10 sen Unsinn einer sogenannten »teleologischen« Weltanschau­
ung, wie sie die gesamte theistische Philosophie des Abendlan­
des beherrscht. Sehr treffend drückte den gleichen Gedanken,
den ich schon in meiner »Ethik« vertreten hatte, jüngst Nicolai
Hartmann aus : »Die höheren Seins- und Wertkategorien sind
15 von Hause aus die schwächeren.«

Verhältnis von Geist und Macht in Natur, Mensch,


Geschichte und Weltgrund

¶ Der Kräfte- und Wirkstrom, der allein Dasein und zufälli­


ges Sosein zu setzen vermag, läuft in der Welt, die wir bewohnen,
20 nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben ! In
stolzester Unabhängigkeit steht die anorganische Welt in ihrer
Eigengesetzlichkeit da – an ganz wenigen Punkten so etwas
wie »Lebendiges« enthaltend. In stolzer Unabhängigkeit steht
Pflanze und Tier dem Menschen gegenüber, wobei das Tier weit
25 mehr vom Dasein der Pflanze abhängig ist als umgekehrt. Die
tierische Lebensrichtung bedeutet eben nicht nur einen Gewinn,
sondern auch einen Verlust gegenüber der pflanz­lichen Richtung,
da sie den direkten Verkehr mit dem Anorganischen nicht mehr

2 Menschen ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,60 folgt: selbst 6 je ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,60:


gestr. 9 klassische ] Ts 1/2 ,44 u. 1947,60 folgt: Lehre 13 hatte, jüngst ]
Ts 1/2 ,44 u. 1947,60: habe, 26 eben ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: gestr.
86 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 76 | 77

besitzt, den die Pflanze durch ihre Art von Ernährung hat. In
gleicher Unabhängigkeit steht analog die Masse als solche in
der Geschichte da in der Eigengesetzlichkeit ihrer Bewegungen
gegenüber den höheren Formen des menschlichen Daseins. Kurz
und selten | sind die Blüteperioden der Kultur in der mensch­ 5
lichen Geschichte. Kurz und selten ist das Schöne in seiner Zart-
heit und Verletzlichkeit. – Die ursprüngliche Anordnung der
Beziehungen, die zwischen den höheren respektive den nie­
deren Seinsformen und Wertkategorien und den Kräften und
Mächten bestehen, in denen sich diese Formen verwirk­lichen, 10
ist gekennzeichnet mit dem Satze : »Mächtig ist ursprünglich das
Niedrige, ohnmächtig das Höchste.« Jede höhere Seinsform ist im
Verhältnis zu der niedrigeren relativ kraftlos, und sie verwirk-
licht sich nicht durch ihre eigenen Kräfte, sondern durch die
Kräfte der niedrigeren. Der Lebensprozeß ist an sich ein gestal­ 15
teter Vorgang in der Zeit von eigener Struktur : verwirklicht wird
er aber ausschließlich durch die Stoffe und Kräfte der anorgani-
schen Welt. Ganz analog aber steht der Geist zum Leben. Wohl

1 von ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: der 2 gleicher ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: analo­
ger 2 analog ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60: gestr. 3 Geschichte ] Ts 1/2 ,45 u.
1947,60 folgt: des Menschen 3 ihrer ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60 folgt: histo­
risch trägen 4 Daseins. ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,60 f. folgt: Fast nur wie ein
glückhafter [1962,66: glücklicher,] gnadenreicher Zufall erscheint es
zunächst unseren endlichen Augen, wenn die Erde oder irgendein ferner
Stern ›lebensreif‹ wird, reif, Leben zu tragen, oder wenn der eigengesetz­
liche Zug menschlicher Massenbewegungen in eine Richtung gerät, in
der die Masse den Genius auch nur zu dulden vermag – geschweige denn
darüber hinaus ihre Interessen und Leidenschaften seine Ideen und
Werte aufzunehmen vermögen, um sich durch sie befruchten zu lassen!
Welch seltener Glücksfall, wenn in dieser Welt der sittlich Gutwillige
und gut Gesinnte auch Erfolg hat – das erreicht, was wir ›historische
Größe‹ nennen, d. h. erhebliche Wirkmacht auf die Geschichte. 6 ist ]
Ts 1/2 ,45 u. 1947,61: gestr.; 1962 ,66: wieder eingefügt 7 Verletzlichkeit. ]
Ts 2 ,45 u. 1947,61 folgt: »Nein! Das ursprünglich aller Macht, aller Wirk­
samkeit Bare ist gerade der Geist, je reiner er Geist ist. 7 Die ] Ts 1/2 ,45
u. 1947,61 folgt: wahre, 8 respektive den ] Ts 1/2 ,45: resp. den; 1947,61:
respektive; 1962 ,66: bzw. 17 aber ] Ts 1/2 ,45 u. 1947,61: gestr. 18 aber ]
Ts 1/2 ,45 u. 1947,61: gestr.
77 | 78 Verhältnis von Geist und Macht 87

kann der Geist durch den Prozeß der Sublimierung Macht


gewinnen. Die Lebenstriebe können in seine Gesetzlichkeit und
in die Ideen- und Sinnstruktur, die er leitend ihnen vorenthält,
eingehen (oder nicht eingehen), und im Verlaufe dieses Einge­
5 hens und Durchdringens im Individuum wie in der Geschichte
können sie dem Geiste Kraft ver-leihen – aber von Hause aus
und ursprünglich hat der Geist keine eigene Energie. Die höhere
Seinsform »determiniert« wohl sozusagen das Wesen und die
Wesensregionen der Weltgestaltung, verwirklicht wird sie aber
10 durch ein anderes, ein zweites Prinzip, das ebenso ursprüng-
lich dem Urseienden eigen ist : dem Realität schaffenden und |
zufällige Bilder bestimmenden Prinzip, das wir »Drang« nen­
nen, respektive bild­erschaffende Drangphantasie.
Das Mächtigste, was es in der Welt gibt, sind also die ideen-,
15 formen- und gestalt»blinden« Kraftzentren der anorganischen
Welt als unterste Wirkpunkte jenes »Dranges«. Nach einer
immer stärker sich verbreitenden Auffassung unserer heu­
tigen theoretischen Physik unterliegen diese Zentren wahr­
scheinlich überhaupt keiner ontischen Gesetzlichkeit in ihrem
20 Zu- und Gegeneinander, sondern nur einer Zufallsgesetzlich­
keit statistischer Art. Erst das Lebewesen bringt dadurch, daß
seine Sin­nesorgane und seine Sinnesfunktionen mehr die regel­
mäßigen als die unregelmäßigen Vorgänge der Welt indizieren,

3 vorenthält ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: vorhält 4 (oder nicht eingehen) ]


Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: gestr.; 1962 ,66: wieder eingefügt 5 im Individuum
wie in der Geschichte ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: in Individuum und Ge­
schichte 6 aber ] 1947,61: gestr.; 1962 ,66: wieder eingefügt 9 wird ]
Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: werden; 1962 ,67: wird 10 ein zweites, ] Ts 1/2 ,46
u. 1947,61: gestr. 11 ursprünglich ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61 folgt: wie das
geistige 11 dem ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: durch das 12 zufällige Bilder
bestimmenden ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: die zufälligen Bilder bestim­
mende 13 respektive ] 1947,61: gestr. 14 also ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61:
gestr. 16 jenes ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,61: dieses 21 das ] Ts 1/2 ,46: der
Mensch qua; 1947,62: der Mensch als; so auch in 1962 ,67 21 bringt ]
Ts 1/2 ,46 u. 1947,62 folgt: – nicht aus rationaler, sondern biologischer
Notwendigkeit, d. h. um handeln zu können –
88 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 78 | 79

jene »Naturgesetzlichkeit« in die Welt hinein, die der Verstand


nachher abliest. Nicht das Gesetz ist es, das hinter dem Chaos
von Zufall und Willkür im ontologischen Sinne liegt, sondern
das Chaos ist es, das hinter dem Gesetz formalmechanischer Art
gelegen ist. Würde sich die Lehre, daß alle Naturgesetzlichkei­ 5
ten formalmechanischer Struktur im letzten Grunde nur sta­
tistische Bedeutung haben und daß alle Naturvorgänge (auch
in der Mikrosphäre) schon Vorgänge sind, die aus der Wech­
selwirkung willkürlicher Krafteinheiten resultieren, durchset­
zen, so würde unser gesamtes Naturbild eine ungeheure Wand­ 10
lung erfahren. Als die wahren ontischen Gesetze erwiesen sich
dann die sogenannten Gestaltgesetze, d. h. Gesetze, die eine
gewisse Zeitrhythmik des Geschehens und, von ihr abhängig
wieder, gewisse statische Gestalten des körperlichen Daseins
vor | schreiben.* Da innerhalb der Lebenssphäre, sowohl der phy­ 15
siologischen wie der psychischen, sicher nur Gesetze von der
Art der Gestaltgesetze (obzwar nicht notwendig nur die mate­
rialen Gesetze der Physik) gelten, so würde die Gesetzlichkeit
der Natur durch diese Auffassung wieder eine streng einheit­
liche. Es wäre dann nicht ausgeschlossen, den Begriff der Subli- 20
mierung auf alles Weltgeschehen zu formalisieren. Sublimie­rung
fände dann in jedem Grundvorgang statt, durch den Kräfte
einer niedrigeren Sphäre des Seins im Werdeprozeß der Welt
allmählich in den Dienst eines höher gestalteten Seins und Wer­
dens gestellt würden – wie z. B. die zwischen den Elektronen 25

Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Abhandlung ›Arbeit und


*

Erkenntnis‹ in ›Die Wissensformen und die Gesellschaft‹.

5 das … gelegen ist. ] Ts 1,46 u. 1947,62: das sich hinter dem Gesetz
formalmechanischer Art türmt. 6 formalmechanischer Struktur ]
Ts 1/2 ,46 u. 1947,62: gestr. 8 Vorgänge ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,62: Ge­
samtvorgänge 15 Da ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,62: Und da 16 physiologi-
schen ] Ts 1,46: physischen; so auch in 1947,62; 1962 ,67: physiologischen
20 dann ] Ts 1/2 ,46 u. 1947,62 folgt: aber 26 1947, 89: Vgl. die Abhand­
lung ›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O.; 1962,67: Vgl. meine Ausführungen
in der Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹, Abschn. V.
79 | 80 [ Verhältnis von Geist und Macht in der Geschichte ] 89

sich abspielenden Kräfte in den Dienst der Atomgestalt, oder die


innerhalb der anorganischen Welt tätigen Kräfte in den Dienst
der Lebensstruktur. Die Menschwerdung und die Geistwer­
dung müßte dann als der bislang letzte Sublimierungsvorgang
5 der Natur angesehen werden, – gleichzeitig sich äußernd in der
immer größeren Zuwendung der vom Organismus aufgenom­
menen äußeren Energien in die kompliziertesten Prozesse, die
wir kennen, in die Erregungsprozesse der Gehirnrinde, und in
dem analogen psychischen Vorgang der Triebsublimierung als
10 Umsetzung der Triebenergie in »geistige« Tätigkeit.

[ Verhältnis von Geist und Macht in der Geschichte ]

In anderer Form treffen wir denselben Vorgang der Ausein-


andersetzung von Geist und Leben wieder | in der Menschen-
geschichte an. Sicher gilt auch für sie nicht die These Hegels,
15 daß sie auf einer Explikation bloßer Ideen auseinander beruhe,
vielmehr, wie ich eingehend in meiner »Wissenssoziologie«
gezeigt habe, durchaus der Satz von Karl Marx, daß Ideen, die
keine Interessen und Leidenschaft hinter sich hätten – und das
heißt Mächte, die aus der Vital- und Triebsphäre des Menschen
20 stammen –, sich in der Weltgeschichte unweigerlich »zu blamie­
ren« pflegen. Trotzdem aber zeigt die Geschichte eine im gro­
ßen und ganzen zunehmende Ermächtigung der Vernunft, aber
eben nur durch und auf Grund einer zunehmenden Aneignung

4 Sublimierungsvorgang ] 1949,68 folgt: in; 1962 ,68: wieder gestr. 7 in ]


1947,62: an 8 in ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,62: gestr. 12 In anderer Form ]
Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: gestr.; 1962 ,68: wieder eingefügt 12 denselben ]
Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: den gleichen 13 wieder ] Ts 1/2 ,47: gestr.; 1962 ,63:
wieder eingefügt 14 auch ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: gestr. 15 auseinan-
der ] 1949,68: aufeinander; 1962 ,68: auseinander 17 wie ich … gezeigt
habe, ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: gestr.; 1962 ,68: gekürzt als Fn. zum Marx-
Zitat gesetzt 18 Leidenschaft ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: Leidenschaften
18 hätten ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: haben 21 pflegen. ] Ts 2 folgt Fn.-
Ziffer, in Ts 1 wieder gestr. und auch in 1947,63 nicht ausgeführt. 1962 ,68
90 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 80 | 81

der Ideen und Werte durch die großen triebhaften Gruppen­


tendenzen und Interessenverzahnungen zwischen ihnen. Auch
hier müssen wir uns eine weit bescheidenere Auffassung von
der Bedeutung des menschlichen Geistes und Willens auf den
Gang geschichtlicher Dinge zu eigen machen. Menschengeist 5
und Menschenwollen kann – ich sagte es – nie mehr bedeuten
als Leitung und Lenkung. Und das bedeutet immer nur, daß der
Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält und das Wol­
len den Triebimpulsen, die schon vorhanden sein müssen, solche
Vorstellungen zuwendet oder entzieht, die die Verwirklichung 10
dieser Ideen konkretisieren können. Ein direkter Kampf des rei-
nen Willens gegen die Triebmächte aber ist eine Unmöglichkeit;
wo er intentioniert wird, regt er im Gegenteil die Triebmächte
noch weit mehr in ihrer einseitigen Richtung auf. Das war schon
die Er | fahrung des Paulus, als er sagte, das Gesetz ginge wie ein 15
brüllender Löwe herum, um die Menschen mit Sünde anzufal­
len. In jüngster Zeit hat u. a. William James über diesen Punkt
tiefe Bemerkungen gemacht. Das Wollen erwirkt das Gegenteil
von dem, was es will, wenn es sich, anstatt einen höheren Wert
zu intendieren, dessen Verwirklichung das Schlechte vergessen 20

Fn.: Ich habe dies eingehend in meinen ›Problemen einer Wissensso­


ziologie‹ gezeigt; s[iehe] Teil I 2 und ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63 folgt: die
6 Menschengeist und Menschenwollen ] Ts 1,47 u. 1947,63: Geist und
Wollen des Menschen 6 – ich sagte es – ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: gestr.;
1962 ,69: wieder eingefügt 7 Leitung und Lenkung ] 1962 ,96 Fn.: Vgl. die
oben zu S. 6 zitierte Schrift ›Die Formen des Wissens und die Bildung‹
(1925), vor allem auch die Anmerkungen des Verfassers. 11 können. ]
Ts 1/2 ,47 u. 1947,63 folgt: Ursprüngliche determinierende Lenkdetermi­
nation hat also das zentrale geistige Wollen nicht auf die Triebe selbst,
sondern auf die Abwandlung der Vorstellungen. 12 Triebmächte ]
Ts 1/2 ,47 u. 1947,63 folgt: d. h. ohne solche Vorhaltung von Ideen bzw.
Zuwendung oder Entziehung von Vorstellungen 12 aber ] Ts 1/2 ,47
u. 1947,63: gestr. 13 intentioniert ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: intendiert
14 Triebmächte noch ] Ts 1/2 ,47 u. 1947,63: Triebe 14 war ] Ts 1,47:
ist … gewesen; so auch in 1947,63 15 als er sagte ] Ts 1/2 ,48 u. 1947,63:
wenn er sagt 16 ginge … herum ] Ts 1/2 ,48: ginge umher; 1947,63: gehe
umher 18 erwirkt ] Ts 1/2 ,48 u. 1947,63 folgt: immer
81 | 82 [ Verhältnis von Geist und Macht im Weltgrund ] 91

läßt und der die Energie des Menschen anzieht, auf die bloße
Bekämpfung, Negierung eines Triebes richtet, dessen Ziel als
»schlecht« vor dem Gewissen steht. So muß der Mensch auch
sich selber dulden lernen, auch diejenigen Neigungen, die er als
5 schlecht und verderblich in sich erkennt. Er darf sie nicht durch
direkten Kampf angreifen, sondern muß sie indirekt überwin­
den lernen durch Einsatz seiner Energie für wertvolle Auf­gaben,
die sein Gewissen als gut und trefflich erkennt und die ihm
zugänglich sind. In der Lehre vom »Nichtwiderstand« gegen
10 das Böse schlummert, wie schon Spinoza in seiner Ethik tief­
sinnig ausgeführt hat, eine große Wahrheit. Unter diesen Begriff
der Sublimierung gebracht, stellt die Menschwerdung die uns
bekannte höchste Sublimierung und zugleich die innigste Eini-
gung aller Wesensregionen der Natur dar. Vor einem Weltbild,
15 wie es hier angedeutet ist, zergeht der Gegensatz, der so viele
Jahrhunderte beherrscht hat : der Gegensatz einer »teleologi­
schen« und »mechanischen« Erklärung der Welt­w irklichkeit.* |

[ Verhältnis von Geist und Macht im Weltgrund ]

¶ Selbstverständlich kann dieser Gedankengang auch


20 vor dem höchsten Sein – dem Weltgrunde nicht stillehalten.
Auch das Sein, das nur »durch sich selbst« ist und von dem alles

* Vgl. dazu meine Abhandlung »Arbeit und Erkenntnis« in dem


­Buche »Die Wissensformen und die Gesellschaft«.

1 der ] Ts 1/2 ,48 u. 1947,63: gestr. 10 Ethik ] 1927,224 folgt: so; erst in
1962 ,69 wieder eingefügt 12 Menschwerdung ] Ts 1/2 ,48 u. 1947,64 folgt:
wie ich schon sagte, 14 dar. ] Ts 1,48 u. 1947,64 folgt: Denn der Mensch
faßt alle Wesensstufen des Daseins überhaupt, insbesondere des Lebens
in sich zusammen, wenigstens den Wesensregionen nach, nicht deren
zufälliger Ausgestaltung und noch weniger quantitativer Verteilung
nach. 19 Selbstverständlich ] Ts 1,48 u. 1947,64: gestr. 22 1947, 89:
Vgl. ›Probleme einer Soziologie des Wissens‹ a. a. O.; 1962,68: Vgl. dazu
meine Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O.
92 »Negative« und »klassische« Theorie vom Menschen 82 | 83

andere abhängt, kann, sofern ihm das Attribut des Geistes zuge­
sprochen wird, als geistiges Sein keinerlei ursprüngliche Macht
oder Kraft besitzen. Es ist vielmehr jenes andere zweite Attribut,
von dem ich sprach – es ist die »natura naturans« im höchsten
Sein, der allmächtige, mit unendlichen Bildern geladene Drang, 5
der die Wirklichkeit und das durch Wesensgesetze und Ideen
niemals eindeutig bestimmte zufällige Sosein dieser Wirklich-
keit zu verantworten hat. Nennen wir das rein geistige Attribut
im obersten Grunde alles endlichen Seins »deitas«, so kommt
ihr, kommt dem, was wir den Geist und die Gott-heit in diesem 10
Grund nennen, keinerlei positive schöpferische Macht zu. Der
Gedanke einer »Weltschöpfung aus nichts« zerfällt vor dieser
Folgerung. Wenn in dem Sein »durch sich selbst« diese Urspan-
nung von Geist und Drang gelegen ist, dann muß das Verhältnis
dieses Seins zur Welt ein anderes sein. Wir drücken dies Verhält­ 15
nis aus, wenn wir sagen : Der Grund der Dinge mußte, wenn er
seine deitas, die in ihr angelegte Ideen- und Wertfülle, verwirk-
lichen wollte, den weltschaffenden Drang enthemmen, um im
zeithaften Ablauf des Weltprozesses sich selbst zu verwirk­lichen
– er mußte den Weltprozeß sozusagen in Kauf nehmen, um in 20
und durch diesen Prozeß sein eigenes Wesen zu ­verwirklichen.
Und nur in dem Maße wird das »Sein durch sich« zu einem
Sein, das würdig wäre, | göttliches Dasein zu heißen, als es im
Drange der Weltgeschichte im Menschen und durch den Men­
schen die ewige Deitas verwirklicht. Und nur im selben Maße 25
kann dieser an sich zeitlose, aber sich für endliches Erleben zeit­
haft darstellende Prozeß seinem Ziele, der Selbstverwirklichung
der Gottheit, näher rücken, als auch die Welt selbst der vollkom­

3 vielmehr jenes andere zweite ] Ts 1,48 u. 1947,64: jenes andere; 1962 ,70:
vielmehr jenes andere 4 von dem … es ist ] Ts 1,48 u. 1947,64: gestr.
16 Verhältnis ] 1947,64 f. u. 1962 ,70: gestr. 19 um im zeithaften … ver-
wirklichen ] 1947,65: gestr.; 1962 ,70: wieder eingefügt 21 diesen Prozeß
sein eigenes ] Ts 1,49: diesen Prozeß sein; 1947,65 u. 1962 ,70: den zeit­
haften Ablauf dieses Prozesses sein 26 aber ] Ts 1,49 u. 1947,65: gestr.;
1962 ,71: wieder eingefügt
83 | 84 [ Verhältnis von Geist und Macht im Weltgrund ] 93

mene Leib des ewigen Geistes und Dranges geworden sein wird.
Erst in der Bewegung dieses gewaltigen Wettersturmes, der die
»Welt« ist, kann eine Angleichung der Ordnung der Seinsfor­
men und der Werte an die tatsächlich wirksamen Mächte, und
5 umgekehrt dieser an jene erfolgen. Ja, im Verlauf dieser Ent­
wicklung kann eine allmähliche Umkehrung des ursprünglichen
Verhältnisses eintreten, nach welchem die höheren Seinsformen
die schwächeren, die niedrigeren aber die stärkeren sind. Anders
ausgedrückt : Die gegenseitige Durchdringung des ursprünglich
10 ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämonischen, d. h.
gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blinden Dranges
durch die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale,
die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die gleichzeitige
Ermächtigung[,] d. h. Verlebendigung des Geistes, ist das Ziel
15 und Ende endlichen Seins und Geschehens. Der Theismus stellt
es fälschlicherweise an seinen Ausgangspunkt. |

1 als auch die Welt selbst der vollkommene Leib des ewigen Geistes
und Dranges ] Ts 1,49 u. 1947,65: als das, was wir die ›Welt‹ nennen, der
vollkommene Leib der ewigen Substanz 8 aber ] Ts 1,49 u. 1947,65:
gestr. 12 Dranges durch ] 1962 ,65: Dranges:
94 84

V. Identität von Leib und Seele –


Kritik Desc­a rtes

W ir sind ein wenig hoch gestiegen. Kehren wir zurück


zu dem der Erfahrung näherliegenden Problem der
menschlichen Natur. Für die Neuzeit hat die klassische Theorie 5
des Menschen ihre wirksamste Form gefunden in der Lehre des
Desc­artes, einer Lehre, die wir eigentlich erst in jüngster Zeit
vollständig und restlos abzuschütteln begriffen sind. Dadurch,
daß er alle Substanzen in »denkende« oder »ausgedehnte« ein­
teilte, hat Desc­a rtes in das abendländische Bewußtsein ein 10
ganzes Heer von Irrtümern schwerster Art über die mensch­
liche Natur eingeführt. Mußte er doch selbst auf Grund dieser
Einteilung der gesamten Umwelt den Unsinn in Kauf nehmen,
allen Pflanzen und Tieren die psychische Natur abzusprechen,
und den »Schein« der Beseelung von Tier und Pflanze, den die 15
ganze Zeit vor ihm für Wirklichkeit genommen hatte, durch
anthropopathische »Einfühlung« unserer Lebensgefühle in
die äußeren Bilder der organischen Natur erklären, anderseits
alles, was nicht menschliches Bewußtsein und Denken ist, rein
»mechanisch« erklären. Nicht nur die widersinnigste Überstei­ 20
gerung der Sonderstellung des Menschen und seine Herausrei­
ßung aus den Mutterarmen der Natur war die Folge, sondern es
wurde dadurch auch die Grundkategorie des Lebens und sei­
ner Urphänomene mit einem Federstrich einfach aus der Welt

7 einer Lehre ] Ts 1/2 ,49 u. 1947,65: gestr. 8 vollständig und restlos ]


Ts 1,49 u. 1947,66: gestr. 8 begriffen ] 1962 ,71: im Begriff 10 einteilte ]
Ts 1,49 u. 1947,66 folgt: und lehrte, daß der Mensch allein von allen
Wesen aus diesen beiden in Wechselwirkung stehenden Substanzen
bestehe, 13 Einteilung ] Ts 1, 50 u. 1947,66 folgt: selbst 13 der gesam-
ten Umwelt ] Ts 1,50 u. 1947,66: gestr. 18 anderseits ] Ts 1,50 u. 1947,66:
und 21 und ] Ts 1,50 u. 1947,66: gestr. 22 war die Folge ] 1927, 227: ist
hierdurch erfolgt 23 sondern es wurde dadurch ] Ts 1,50 u. 1947,66:
gestr. 24 Urphänomene ] Ts 1,50 u. 1947,66 folgt: wurde dadurch
84 | 85 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 95

heraus­geworfen. Die Welt besteht für Desc­artes aus nichts als


aus denkenden Punkten und einem gewaltigen geometrisch zu
erforschenden Mechanismus. Wertvoll an dieser Lehre ist nur
eins : | die neue Autonomie und Souveränität des Geistes und die
5 Erkenntnis dieser seiner Überlegenheit über alles Organische
und nur Lebendige. Alles andere ist größte Verkehrtheit.
Wir dürfen heute sagen, daß das Problem von Leib und Seele,
das so viele Jahrhunderte in Atem gehalten hat, für uns seinen
metaphysischen Rang verloren hat. Die Philosophen, Medizi­
10 ner, Naturforscher, die sich mit dieser Frage beschäftigen, kon­
vergieren immer mehr zur Einheit einer Grundanschauung.
Daß es eine örtlich bestimmte Seelensubstanz – wie sie Des­
c­artes annimmt – nicht gibt, ist deshalb schon selbstverständ­
lich, weil es weder im Gehirn noch sonstwo im menschlichen
15 Leibe eine Zentralstelle gibt, in der alle sensiblen Nervenfasern
zusammenlaufen und sich alle nervösen Prozesse treffen. Aber
auch das ist grundfalsch an der Desc­artesschen Lehre, daß das
Psychische nur in »Bewußtsein« bestehe und ausschließlich an
die Großhirnrinde gebunden sei. Eingehende Forschungen der
20 Psychiater haben uns gezeigt, daß die für die Grundlage des
menschlichen »Charakters« ausschlaggebenden psychischen
Funktionen, insbesondere alles, was zum Triebleben und zur
Affektivität gehört, die wir ja als Grund- und Urform des Psy­
chischen erkannt haben, seine physiologischen Parallelpro­

2 geometrisch ] Ts 1,50 u. 1947,66: mathematisch 3 dieser Lehre ]


Ts 1,50 u. 1947,66: der Lehre Descartes 4 Geistes ] Ts 1,50 u. 1947,66
folgt: (allerdings bei ihm auf Ratio reduziert und diese mit Intelligenz
vermischt), 5 dieser seiner Überlegenheit ] Ts 1,50 u. 1947,66: der
Überlegenheit des Geistes 6 Lebendige ] Ts 1,50 u. 1947,66 folgt: die
er bei der mittelalterlichen Identifizierung der forma corporeitatis mit
der Geistseele nicht besaß. 11 Wir dürfen heute … Grundanschau-
ung. ] Die beiden Sätze versetzt nach 1928,95 an das Ende des Abschnitts
13 annimmt ] Ts 1,50 u. 1947,66 folgt: (Zirbeldrüse) 13 deshalb schon ]
Ts 1,50 u. 1947,66: schon aus dem Grunde 14 weil ] Ts 1,50 u. 1947,66:
daß 16 Aber ] Ts 1,50 u. 1947,66: gestr. 20 Eingehende … uns ] Ts 1,50
u. 1947,66: Eingehende psychiatrische Forschungen haben
96 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 85 | 86

zesse überhaupt nicht im Großhirn hat, sondern in der Hirn­


stammgegend, teils im zentralen Höhlengrau des dritten Ven­
trikels, teils im Thalamus, der als zentrale Schaltung zwischen
den Sensationen und dem Triebleben vermittelt. Ferner hat sich
das System der Blutdrüsen ohne | Ausgang (Schilddrüse, Keim­ 5
drüse, Hypophyse, Nebenniere usw.), deren Funk­t ions­a rt das
menschliche Triebleben und die Affektivität, ferner Höhen- und
Breitenwuchs, Riesen- und Zwergwuchs, wahrscheinlich auch
die Rassencharaktere determiniert, als die eigentliche Vermitt-
lungsstelle erwiesen zwischen dem ganzen Organismus samt 10
seiner Gestaltungsform und jenem kleinen anhangenden Teil
des Seelenlebens, den wir Wachbewußtsein nennen. Es ist der
ganze Körper, der heute wieder das physiologische Parallelfeld
der seelischen Geschehnisse geworden ist, keineswegs nur das
Gehirn. Von einer so äußeren Zusammenbindung einer Seelen­ 15
substanz mit einer Körpersubstanz, wie sie Desc­artes annahm,
kann also gar nicht mehr ernstlich die Rede sein. Ein und das-
selbe Leben ist es, das in seinem »Innesein« psychische, in sei­
nem Sein für Andere leibliche Formgestaltung besitzt. Man
führe nicht dagegen an, daß das »Ich« doch einfach und eins 20
sei, der Körper aber ein verwickelter »Zellenstaat«. Die heutige
Physiologie hat die Zellenstaatvorstellung vollständig abgebaut,
wie sie auch mit der Grundanschauung gebrochen hat, daß die
Funktionen des Nerven­systems nur summativ, also nicht ganz­
heitlich, zusammenträfen und jeweilig streng örtlich und mor­ 25
phologisch in ihrem Ausgangspunkte bestimmt seien. Hält man
freilich wie Desc­artes den physischen Organismus für eine Art
Maschine, und zwar in dem starren Sinne der alten, heute schon
von der theoretischen Physik und Chemie selbst überwunde­

6 usw. ] Ts 1,50 u. 1947,67: gestr. 15 äußeren ] Ts 2 ,51 u. 1947,67: äußer­


lichen 17 also ] Ts 2 ,51 u. 1947,67: gestr. 17 sein. ] Ts 2 ,51 u. 1947,67
folgt: Die Philosophen, Mediziner, Naturforscher, die sich heute mit
dem Problem von Leib und Seele beschäftigen, konvergieren immer
mehr zur Einheit einer Grundanschauung. 20 nicht dagegen ] Ts 2 ,51
u. 1947,67: gegen diese Einheit nicht als Argument 20 doch ] Ts 2 ,51 u.
1947,67: gestr.; 1962 ,73: wieder eingefügt
86 | 87 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 97

nen und zum alten Eisen geworfenen mechanischen Natur­


lehre des Galilei-Newton-Zeitalters; über | sieht man anderseits
wie Des­c­artes und alle, die ihm folgten, die Selbständigkeit und
sicher nachgewiesene Priorität des gesamten Trieb- und Affekt­
5 lebens vor allen »bewußten« Vorstellungsbildern; schränkt man
alles Seelenleben auf das Wachbewußtsein ein, die gewaltigen
Abspaltungen ganzer zusammenhängender Funktionsgruppen
des seelischen Geschehens vom Bewußtseins-Ich übersehend;
leugnet man ferner die Affektverdrängungen, und übersieht
10 man die für ganze Lebensphasen möglichen Anamnesien wie
die bekannten Spaltungserscheinungen des Bewußtseins-Ich
selber – dann kommt man allerdings auf den falschen Gegen-
satz : hier Einheit und Einfachheit ursprünglicher Art, dort nur
Vielheit erst sekundär verbundener Körperteile und in ihnen
15 erst fundierter Prozesse. Dieses Seelenbild ist genau so irrig wie
das Bild des physiologischen Geschehens, das sich die ältere
Physiologie gemacht hat.
Im äußersten Gegensatz zu all diesen Theorien dürfen wir
nun sagen : Der physiologische und der psychische Lebenspro-
20 zeß sind ontologisch streng identisch, wie es schon Kant vermu­
tet hatte. Sie sind nur phänomenal verschieden, aber auch phä-
nomenal streng identisch in den Strukturgesetzen und in der
Rhythmik ihres Ablaufs : Beide Prozesse sind amechanisch, die
physiologischen so gut wie die psychischen; beide sind teleoklin
25 und auf Ganzheit eingestellt. Die physiologischen Prozesse sind
es um so mehr, je niedriger (nicht also je höher) die Segmente

3 folgten, ] Ts 2 ,51 u. 1947,67 folgt: auf der psychischen Seite 8 Be-


wußtseins-Ich ] Ts 2 ,51 u. 1947,68 folgt: vom einheitlichen Ichganzen
9 Affektverdrängungen ] Ts 2 ,51 u. 1947,68: Affektverdrängung
10 Anamnesien ] 1947,68: Amnesien 15 Prozesse ] Ts 2 ,51 u. 1947,68
folgt: hier eine Seelensubstanz – dort unendlich viele körperliche Ein­
zelsubstanzen. 15 Dieses ] Ts 1,52 u. 1947,68 folgt: überzentralistische
16 das ] Ts 1,52 u. 1947,68 folgt: übermechanistische 18 äußersten ]
1949,73: äußeren; 1962 ,74: äußersten 19 nun ] Ts 1,52 u. 1947,68: gestr.
19 der ] 1947,68: gestr.; 1962 ,74: wieder eingefügt 24 so gut ] Ts 1,52 u.
1947,68: sowohl
98 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 87 – 89

des Nervensystems sind, in denen sie ablaufen; die psychischen


Prozesse sind gleichfalls um so ganzheit | licher und zielhafter,
je primitiver sie sind. Beide Prozesse sind nur zwei Seiten des
nach seiner Gestaltung und nach dem Zusammenspiel seiner
Funktionen einen übermechanischen Lebensvorgangs. Was wir 5
also »physiologisch« und »psychisch« nennen, sind nur zwei Sei-
ten der Betrachtung eines und desselben Lebensvorgangs. Es gibt
eine »Biologie von innen« und eine »Biologie von außen«. Die
Biologie von außen schreitet zwar in der Erkenntnis von der
Formstruktur des Organismus zu den eigentlichen Lebenspro- 10
zessen fort, darf aber nie vergessen, daß jede lebendige Form
von den letzt unterscheidbaren Zellelementen an über Zellen,
Gewebe, Organe bis zum ganzen Organismus hinauf in jedem
Augenblick dynamisch getragen und neu geformt ist durch die­
sen Lebensprozeß, und daß in der Entwicklung die von den 15
Betriebsfunktionen der Organe scharf zu scheidenden »gestal­
tenden Funktionen« es sind, welche die statischen Formen des
organischen Stoffes erst unter Mitwirkung der chemisch-phy­
sikalischen »Situation« hervorbringen. Der verstorbene Heidel­
berger Anatom Braus und von der Physiologie her A. v. Tscher­ 20
mak haben diesen Gedanken mit Recht in den Mittelpunkt ihrer
gesamten Forschung gestellt. Man darf sagen, daß sich dieselbe
Auffassung heute in allen Wissenschaften durchsetzt, die es mit
dem berühmten Problem zu tun haben. Der alte »psychomecha­
nische Parallelismus« gehört heute genau so zum alten Eisen 25
wie die durch Lotze aufgefrischte »Wechselwirkungslehre«
oder die scholastische Lehre von der Seele als »forma corporei-
tatis«. |

6 »psychisch« ] Ts 1,52 u. 1947,68: psychologisch 9 zwar ] 1947,68: gestr.


14 diesen ] Ts 1,52 u. 1947,68: den 17 statischen ] Ts 1,52 u. 1947,69 folgt:
(anatomischen) 19 verstorbene ] Ts 1,52 u. 1947,69: gestr. 22 gesam-
ten Forschung ] Ts 1,52 u. 1947,69: Forschungen 22 dieselbe ] Ts 1,52 u.
1947,69: diese 23 heute ] Ts 1,52 u. 1947,69: gestr.; 1962 ,75: wieder ein-
gefügt 24 Parallelismus« ] Ts 1,52 u. 1947,69 folgt: von ›Leib und Seele‹
89 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 99

Die Kluft, die Desc­a rtes zwischen Körper und Seele auf­
richtete, hat sich heute fast bis zur Greifbarkeit der Einheit des
Lebens geschlossen. Wenn ein Hund ein Stück Fleisch sieht und
derweil bestimmte Magensäfte sich in seinem Magen bilden, so
5 ist das für Desc­artes, der aus der »Seele« das gesamte Trieb- und
Affektleben herauswarf und gleichzeitig eine rein chemisch-
physikalische Erklärung der Lebenserscheinungen auch nach
ihren Strukturgesetzen forderte, natürlich ein absolutes Wunder.
Warum ? Weil er auf der einen Seite den Trieb­impuls des Appetites
10 ausgeschaltet hat, der im selben Sinne eine Bedingung ist für das
Zustandekommen der optischen Wahrnehmung des Fressens,
wie es der äußere Reiz ist – der überdies niemals, wie Desc­artes
glaubt, Bedingung des Inhalts der Wahrnehmung, sondern nur
der Jetzthier-Wahrnehmung dieses Inhalts ist, der als Teil des
15 »Bildes« von allem »Bewußtsein« ganz unabhängig besteht –,
und weil er auf der anderen Seite die Magensaftbildung, die
dem Appetit entspricht, nicht für einen echten Lebensvorgang
hält, verwurzelt in der physiologischen Funk­t ions­einheit und
ihrer Struktur, sondern für einen Vorgang, der ganz unabhän­
20 gig vom zentralen Nervensystem rein chemisch-physikalisch
im Magen abläuft. Was würde aber Desc­artes dazu sagen, wenn
man ihm Heyers Feststellung vor Augen führte, daß sogar die
bloße Suggestion des Essens einer Speise die gleiche Wirkung
nach sich ziehen kann wie das wirkliche Essen ? Man sieht den

1 Descartes ] Ts 1,52 u. 1947,69 folgt: durch seinen Dualismus von


Ausdehnung und Bewußtsein als Substanzen 2 aufrichtete ] Ts 1,52
u. 1947,69: aufgerichtet hatte 8 natürlich ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,69: gestr.
9 einen ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,69: seelischen 10 ausgeschaltet hat ] Ts 1/2 ,53
u. 1947,69: ausschaltet 11 Fressens ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,69 folgt: durch
das Tier ist 12 es ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,69 folgt: auch 14 des ] Ts 1/2 ,53
u. 1947,69 folgt: Körper-  15 besteht ] 1962 ,97 als Anm.: Vgl. ›Erkennt­
nis und Arbeit‹ a. a. O.; s[iehe] Sachregister. 16 anderen ] Ts 1/2 ,53 u.
1947,69 folgt: physiologischen 20 chemisch-physikalisch ] Ts 1/2 ,53 u.
1947,69: chemikalisch 21 abläuft ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,69 folgt: sobald nur
die Speise in den Magen gelangt sei [1947,69: ist]. 22 Heyders ] 1949,75:
Heyers; 1962 ,76: Heyders
100 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 89 | 90

Fehler – Desc­a rtes’ Grundfehler –, das Trieb­system der Men­


schen und Tiere völlig | zu übersehen, das eben die Vermittlung
bildet und die Einheit ausmacht zwischen jeder echten Lebens­
bewegung und den Inhalten des Bewußtseins. Die physiologi­
sche »Funktion« ist ihrem Grundbegriff nach eine selbständige 5
rhythmisierte Ablaufsgestalt, eine dynamische Zeitgestalt, die
keineswegs von Hause aus örtlich starr gebunden ist, die sich
vielmehr weitgehend an den vorhandenen Zellsubstraten ihr
Funktionsfeld erst aussondern, ja allererst gestalten kann. Eine
summative Organreaktion bestimmter und starrer Art besteht 10
auch bei denjenigen physiologischen Funktionen nicht, die kei-
nerlei Bewußtseinskorrelat besitzen; ja sie bestehen, wie man
neuerdings gezeigt hat, nicht einmal für so ein­fache Reflexe wie
den Patellarreflex. Phänomenologisch ist ferner das physiologi­
sche Verfahren des Organismus genau so »sinngemäß« wie die 15
bewußten Abläufe, und diese ebenso oft genau so »dumm« wie
die organischen Abläufe.

2 der Menschen und Tiere ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70: in Mensch und Tier«;
es folgt: (trotz seiner Schrift über die ›Passiones‹) 4 Bewußtseins. ]
Ts 1/2 ,53 u. 1947,70 folgt: Er und alle ältere Physiologie hält die physio­
logische Funktionseinheit für ein Punkt für Punkt im Sinne eines for­
mal-mechanischen Nahewirkungsprinzips von irgendwelchen morpho­
logisch schon vollständig bestimmten starren Teilen des organischen
Körpers je ausgehendes und so viel [1947,70: so gut] wie völlig mecha­
nisch determiniertes Geschehen. Das aber ist sie eben nicht. 9 erst ]
Ts 1/2 ,53 u. 1947,70: gestr. 12 bestehen ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70: besteht
14 Patellarreflex ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70 folgt: (Kniescheibenreflex). Auch
physiologisch kann der Organismus dieselben Ziele erreichen bei weit­
gehender Auswechslung der körperlichen Strukturen und Substrate,
mit denen er arbeitet, auch bei Ablenkung durch eine neue Ursache.
14 ferner ] Ts 1/2 ,53 u. 1947,70 : gestr.; 1962 ,76: wieder eingefügt
15 des Organismus ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,70: gestr. 15 wie ] Ts 1/2 ,54 u.
1947,70 folgt: das psychische bzw. 16 ebenso ] Ts 1,54 u. 1947,70: gestr.
17 Abläufe. ] Ts 1,54v u. 1947,70 folgt: Wenn z. B. bei Regenerationsvor­
gängen [Ts 2: Regenerationserscheinungen] des Organismus an der
Wundstelle zwei Köpfe anstatt einem [1947,70: eines; 1962 ,76: des einen]
entstehen, so finden wir dasselbe in Fällen der Wiederherstellung eines
psychischen Komplexes, nach Gegebenheit eines Teiles, in dem blinden
90 | 91 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 101

Nach meiner Meinung ist der Forschung heute geradezu das


methodische Ziel zu stellen, einmal im weitesten Maße zu prü­
fen, wieweit die gleichen Verhaltungsweisen des Organismus
einmal durch physikalisch-chemische Reize von außen her, ein
5 andermal durch psychische Reizung – Suggestion, Hypnose,
alle Art von Psychotherapie, Veränderungen der gesellschaft­
lichen Umgebung, von der viel mehr Krankheiten abhängen,
als man ahnt – herbeigeführt und abgeändert werden können.
Hüten wir uns also gar sehr vor einer falschen Übersteigerung
10 ausschließlich »psy | chologischer« Erklärungen. Es kann ein
Magengeschwür nach unserer Erfahrung ebensowohl psychisch
bedingt sein wie durch einen gewissen chemisch-physikalischen
Prozeß; und nicht nur Nervenkrankheiten, sondern auch orga-
nische Erkrankungen haben je ganz bestimmte psychische Kor­
15 relate. Auch quantitativ können wir beide Arten unseres Einflus­
ses auf den eigentlichen einheit­lichen Lebensprozeß, nämlich
durch den Korridor des Bewußtseins und durch den Korridor
der äußeren Körperreizung, so abwägen, daß wir mit der einen
Reizung im selben Maße sparen, als wir die andere mehr ver­
20 wenden. Selbst der fundamentale Lebensvorgang, der Tod heißt,
kann durch einen plötzlichen Affektchock ebensowohl herbei­
geführt werden wie durch einen Pistolenschuß; sexuelle Erre­
gung kann durch Einnahme gewisser Mittel ebensowohl her­
beigeführt werden wie durch unzüchtige Bilder und Lektüre.
25 Das alles sind nur verschiedene Zugangsweisen, die wir in unse-
rer Erfahrung und Lenkung zu ein und demselben ontisch ein­
heitlichen Lebensprozeß haben. Auch die höchsten psychischen
Funktionen, wie das sogenannte »beziehende Denken«, entzie­
hen sich einer strengen physiologischen Parallelisierung nicht.

Wiederholungstrieb, z. B. analoge Scenen immer wieder herzustellen


(der stets ›Betrogene‹, das ewige ›Opfer‹ usw.) 2 einmal ] 1947,70: gestr.
5 psychische ] Ts 1/2 ,54: korr. aus: physische in 1928,90 6 Veränderun-
gen ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,70: Veränderung 10 »psychologischer« ] 1947,71
u. 1962,77: »physiologischer« 11 unserer ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,71 folgt:
heutigen 16 nämlich ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,71: den 17 und ] 1947,71 folgt:
den 18 Körperreizung ] Ts 1,54 u. 1947,71: Reizung (P. Schilder)
102 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 91 | 92

Und endlich müssen auch nach unserer Lehre die geistigen Akte,
da sie ja ihre ganze Tätigkeitsenergie aus der lebendigen Trieb­
sphäre beziehen und ohne irgendeine »Energie« sich für unsere
Erfahrungen, auch für die eigene, nicht manifestieren können,
stets ein physiologisches und psychisches Parallelglied besitzen. 5
Das psycho-physische Leben also ist | eins. Letzte philosophische
Vertiefung dieser Theorie muß ich mir hier ersparen. –
Diese Einheit der physischen und psychischen Funktionen ist
eine Tatsache, die für alle Lebewesen, also auch für den Men­
schen unbedingt gilt. Daß sich die abendländische Wissenschaft 10
vom Menschen als Naturwissenschaft und Medizin vor allem
mit seiner Körperseite beschäftigt hat und die Lebensvorgänge
besonders durch den Korridor von außen her zu beeinflussen
suchte, ist eine Teilerscheinung des überaus einseitigen Interes­
ses, das der abendländischen Technik überhaupt eigen ist. Wenn 15
uns die Lebensvorgänge von außen her um soviel zugänglicher
erscheinen als über den Korridor des Bewußtseins, so braucht
das aber eben gar nicht auf dem tatsächlichen Verhältnis zwi­
schen Seele und Physis zu beruhen, sondern es kann auch in
einem jahrhundertelang einseitig eingestellten Interesse begrün­ 20
det sein. Die indische Medizin etwa zeigt die entgegengesetzte
psychische, nicht minder einseitige Einstellung. Den Menschen
seinem Seelenleben nach mehr als gradweise vom Tier zu tren­
nen, seiner Leib-Seele etwa eine besondere Art von Herkunft
und zukünftigem Schicksal zuzuschreiben, wie es der the­ 25

1 Und ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,71: gestr. 2 da ] Ts 1/2 ,54 u. 1947,71 folgt: und
sofern 4 Erfahrungen ] 1947,71: Erfahrung 7 Letzte … ersparen. ]
Ts 1,54 u. 1947,71: gestr.; 1962 ,78: als Fn., ersparen durch versagen ersetzt
8 der physischen und psychischen Funktionen ] Ts 1/2 ,54: gestr.
10 gilt. ] Ts 2 ,54 folgt: sie ist im Menschen nicht im mindesten unter­
brochen.; Zusatz nicht in 1947,71 12 seiner Körperseite ] Ts 1/2 ,55 u.
1947,71: der Körperseite des Menschen 13 besonders ] Ts 1/2 ,55 u.
1947,71: in erster Linie 14 suchte ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,71: gesucht hat
18 aber eben gar nicht ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,71: eben nicht 19 Seele ]
Ts 1/2 ,55 u. 1947,71: Psyche 19 es kann auch ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72:
kann 24 etwa ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72: gestr. 25 zukünftigem ] 1947,72:
künftigem
92 | 93 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 103

istische »Kreatianismus« und die herkömmliche Lehre von


der »Unsterblichkeit« es tun, dazu besteht nicht der mindeste
Grund. Die Mendelschen Gesetze bestehen für den Aufbau des
psychischen Charakters im selben Maße wie für irgendwel­
5 che körperlichen Merkmale. Die vorhandenen Verschieden­
heiten zwischen Mensch und Tier im Ablauf der psychischen
Funk | tionen sind allerdings sehr erheblich; aber – sehr erheb­
lich, und zwar weit erheb­licher als die morphologischen Unter­
schiede zwischen Tier und Mensch, sind auch die physiologi-
10 schen Unterschiede. Es wird beim Menschen im Verhältnis zum
Tier ein unverhältnismäßig großer Mehrteil des gesamten Assi­
milationsmaterials zur Bildung nervöser Substanz verbraucht.
Die Ausbeute aber dieses Materials für Form- und Strukturbil­
dung anatomisch sichtbarer Einheiten ist dabei auffällig gering.
15 Ein im Verhältnis zum Tier viel größerer Teil dieses Materi­
als wandelt sich in rein funktionelle Gehirnenergie um. Dieser
Vorgang aber stellt nur das physiologische Korrelat dar für eben
denselben Vorgang, den wir in psychologischer Sprache »Ver-
drängung« und »Sublimierung« nennen. Während der mensch­
20 liche Organismus in seinen sensomotorischen Funktionen dem
Tiere nicht wesentlich überlegen ist, ist die Energieverteilung
zwischen seinem Großhirn und allen sonstigen Organsyste­
men eine vollständig andere. Das menschliche Gehirn genießt
den unbedingten Vorzug in der Ernährung in einem viel ausge­
25 prägteren Maße als das tierische – genießt ihn, da es die inten­
sivsten und vielseitigsten Energiegefälle besitzt und eine Ver­
laufsform seiner Erregungen, die rein örtlich viel weniger starr
umgrenzt ist. Bei allgemeiner Assimilationshemmung wird das
Gehirn zuletzt gehemmt und, verglichen mit anderen Organen,
30 am wenigsten. Die Rinde des menschlichen Großhirns bewahrt

1 Kreatianismus ] Ts 1,55: Kreationismus; 1947,72: Kreatianismus;


1962 ,78: Kreationismus 2 es tun ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72: tut 15 viel
größerer ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72: sehr großer 18 denselben Vorgang ]
Ts 1/2 ,55 u. 1947,72: den Vorgang im Menschen 25 ausgeprägteren ]
Ts 1/2 ,55 u. 1947,72: ausgedehnteren 25 tierische ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72
folgt: Gehirn 28 ist. ] Ts 1/2 ,55 u. 1947,72 folgt: (Goldstein)
104 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 93 | 94

und konzentriert die ganze Lebensgeschichte des Organismus


und seiner Vorgeschichte. Da jeder Sonder | ablauf der Erregun­
gen im Gehirn je die ganze Erregungsstruktur wandelt, kann
nie »derselbe« Verlauf physiologisch wiederkehren – ein Tat­
bestand, der genau dem Grundgesetz psychischer Kausalität 5
entspricht, daß nur die ganze Erlebniskette in der Vergangen­
heit, niemals aber nur der zeitlich vorangehende Einzelvorgang
das folgende psychische Geschehen erklärt. Da die Erregun­
gen in der Rinde nie aufhören, auch nicht im Schlafe, und die
Strukturelemente in jedem Augenblick neu auferbaut werden, 10
so ist ein mächtiger Phantasieüberschuß – der auch ohne äußere
Reize weiterströmt und der bei Abbau des Wachbewußtseins
und seiner Zensur (Freud) sofort hervortritt, der ferner, wie ich
andernorts zeigte,* als durchaus ursprünglich anzusehen ist und
durch die Sinneswahrnehmung nur zunehmend eingeschränkt, 15
nicht aber hervorgebracht wird, – auch physiologisch zu erwar­
ten. Der seelische Strom läuft ferner ebenso kontinuierlich wie
die physiologische Erregungskette durch den Rhythmus von
Schlaf- und Wachzuständen hindurch. Das Gehirn scheint beim
Menschen auch im höheren Maße als beim Tiere das eigent­ 20
liche Todesorgan zu sein, wie es bei der viel stärkeren Zentrali­
sierung und Gebundenheit aller seiner Lebensvorgänge an die
Gehirntätigkeit ja auch zu erwarten ist. Wissen wir doch durch
eine Reihe von Untersuchungen, daß der künstlich großhirnlose
Hund oder das großhirnlose Pferd noch eine Fülle von Leistun­ 25

* Vgl. meine Abhandlung ›Arbeit und Erkenntnis‹.

2 seiner ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73: seine 7 aber ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73:


gestr. 10 auferbaut ] 1949,78: aufgebaut; 1962 ,79: auferbaut 12 und
der ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73: gestr. 14 der ferner … zeigte ] Ts 1/2 ,56 u.
1947,73: und; durch die Streichung entfiel auch die Fn. 16 physio-
logisch ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73: psychologisch 17 ferner ] Ts 1/2 ,56 u.
1947,73: gestr. 17 kontinuierlich ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73 folgt: (nicht un­
terbrochen wie das Wachbewußtsein) 23 ja ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73: gestr.
26 1962,79 ursprüngl. Fassung wiederhergestellt und Fn. ergänzt: Vgl.
›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O., Abschnitt V B.
94 | 95 [ Gegensatz von Leben und Geist ] 105

gen vollziehen kann, die beim Menschen in diesem Zustande


ausfallen. Nicht also Leib und Seele oder Körper und Seele | oder
Gehirn und Seele im Menschen sind es, die irgend­einen onti­
schen Gegensatz bilden.

5 [ Gegensatz von Leben und Geist ]

¶ Der Gegensatz, den wir im Menschen antreffen und der


auch subjektiv als solcher erlebt wird, ist von viel höherer und
tiefgreifenderer Ordnung – es ist der Gegensatz von Leben und
Geist. Dieser Gegensatz dürfte auch viel tiefer in den Grund aller
10 Dinge hineinreichen als der Gegensatz von Leben und Anorga­
nischem, den in neuerer Zeit besonders H. Driesch in falscher
Weise übersteigert hat. Wenn wir Psychisches und Physiologi­
sches nur als zwei Seiten desselben Lebensvorganges nehmen,
denen zwei Betrachtungsweisen desselben Vorganges entspre­
15 chen, so muß das X, das eben diese beiden »Betrachtungswei­
sen« selbst vollzieht, dem Gegensatz von Leib und Seele über-
legen sein. Dieses X ist nichts anderes als der selber nie gegen­
ständlich werdende, alles »vergegenständ­lichende« Geist. Ist
schon das Leben unräumliches Sein – »der Organismus ist
20 ein Vorgang«, bemerkt Jennings treffend, und alle scheinbar

2 ausfallen. ] Ts 1/2 ,56 u. 1947,73 folgt: Diese und ähnliche Tatsachen


sind voll genügend erklärt durch die gesteigerte Einheit des menschli­
chen Seelenlebens gegenüber dem tierischen, ohne daß man dafür eine
besondere Seelensubstanz beim Menschen anzunehmen hätte. 4 bil-
den. ] Ts 1/2 ,56: Maria Scheler fügt den Satz ein, der einige Seiten vorher
(1928,85) den Absatz eingeleitet hatte: Wir dürfen heute sagen, daß das
Problem von Leib und Seele, das so viele Jahrhunderte in Atem gehalten
hat, für uns seinen metaphysischen Rang verloren hat.; 1962 ,80: als Fn.
gesetzt 12 Dieser Gegensatz … übersteigert hat. ] 1947,74: als Fn. ge-
setzt; 1962 ,80: wieder in den Text versetzt 13 Physiologisches ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,74: Physisches; 1962 ,80: Physiologisches 13 desselben ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,74: ein und desselben 15 so ] 1947,74 u. 1962, 80: dann 17 der ]
Ts 1/2 ,57 u. 1947,74 folgt: wie wir sahen,
106 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 95 | 96

ruhende Form ist von diesem Lebensvorgang in jedem Augen­


blick getragen und unterhalten –, wohl aber zeitliches Sein, so
ist das, was wir Geist nennen, nicht nur überräumlich, sondern
auch überzeitlich. Die Intentionen des Geistes schneiden sozu­
sagen den Zeitablauf des Lebens. Nur indirekt ist auch der gei­ 5
stige Akt, sofern er Tätigkeit beansprucht, auch abhängig von
einem zeitlichen Lebensvorgang und gleichsam in ihn einge­
bettet. Aber so wesensverschieden »Leben« und »Geist« sind,
so sind nach unserer dargelegten Auffassung | doch beide Prin­
zipien im Menschen aufeinander angewiesen : Der Geist ideiert 10
das Leben. Das Leben allein aber vermag es, den Geist von seiner
einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines Werkes, dem wir
geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und zu
verwirklichen. –
Dieses Verhältnis von Geist und Leben, wie wir es so­eben 15
umschrieben, ist nun von einer ganzen Gruppe philosophi­
scher Grundauffassungen des Menschen verfehlt und mißach­
tet worden. Hier seien zunächst alle jene Theorien des Menschen
andeutungsmäßig charakterisiert, die man als »naturalistisch«
bezeichnen kann. Innerhalb dieser Theorien lassen sich zwei 20
Grundarten unterscheiden : eine einseitig formal-mechanische
Auffassung des menschlichen Verhaltens und eine einseitig
vitalistische.

1 Form ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74 folgt: des Körpers 5 auch ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,74: gestr. 8 Aber ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr. 8 wesensver-
schieden ] Ts 1/2, 57 folgt: aber auch; 1947,71: auch; 1962, 81: aber auch
9 nach … Auffassung ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr. 15 Dieses ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,74: Das; Maria Scheler wollte nach verwirklichen eine Leerzeile
einfügen, in die sie eintrug: Der Lahme (Geist) und der Blinde (Leben);
nicht in 1947,74 übernommen 15 soeben ] 1962 ,81: hier 16 umschrie-
ben ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74 folgt: haben 16 nun ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr.
19 »naturalistisch« ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: »naturalistische« Theorien
20 Theorien ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,74: gestr.
96 | 97 Kritik der »naturalistischen« Auffassungen 107

Kritik der »naturalistischen« Auffassungen :


ihres formal-mechanischen Typus

¶ Die formal-mechanischen Auffassungen des Verhältnis­


ses von Geist und Leben, die an erster Stelle die Eigenart der
5 Lebenskategorie übersehen und daher auch den Geist mißver­
stehen müssen, treten in der abendländischen Geschichte wie­
derum in zwei Formen auf. Die eine kommt aus dem Alter­
tum, aus den Lehren eines Demokrit, Epikur und Lucretius
Carus, und hat ihre vollkommenste Darstellung wohl in dem
10 Buche Lamettries gefunden »L’homme machine«. Hier wird ver­
sucht, wie schon der Name des Buches sagt, die psychischen
Erscheinungen, ohne sie vom Geistigen zu scheiden, auf Begleit­
erscheinungen der im Organismus waltenden physikalisch-­
chemischen Gesetzlichkeit zurückzuführen. Die andere Form |
15 der formal-mechanischen Auffassung ist im englischen Sensua-
lismus am schärfsten ausgebildet; der »Traktat über die mensch­
liche Natur« von David Hume stellt ihre vollkommenste Aus­
prägung dar. In neuester Zeit ist Ernst Mach einer solchen Auf­
fassung des Menschen am nächsten gekommen, wenn er das Ich
20 als einen Knotenpunkt darstellt, in dem die sensualen Weltele­
mente in besonderer Dichtigkeit zusammenhängen. In beiden
Lehren, hier wie dort, wird das formal-mechanische Prinzip
bis auf die äußerste Spitze getrieben, nur mit dem Unterschied,
daß das eine Mal die Empfindungsvorgänge aus Vorgängen
25 verstanden werden sollen, die nach den Prinzipien der physi­
kalischen Mechanik verlaufen, während das andere Mal die
Grundbegriffe der anorganischen Naturwissenschaft aus den
als letzte Gegebenheiten geltenden Empfindungsdaten und aus

6 die … müssen ] Ts 1/2 ,57 u. 1947,75 Auflösung des Relativsatzes:


übersehen … und müssen … mißverstehen. 7 wiederum ] Ts 1/2 ,57
u. 1947,75: gestr. 10 dem Buche ] Ts 1/2, 58 u. 1947,75: gestr. 11 Hier
wird versucht, ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: Umwandlung in Relativsatz: in dem
versucht wird, 15 der formal-mechanischen Auffassung ] Ts 1/2 ,58 u.
1947,75: gestr. 20 darstellt ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: auffaßt 21 Dichtig-
keit ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: Dichte
108 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 97 | 98

den Gesetzen der Vorstellungsassoziation (mit Einschluß aller


Substanz- und Kausalbegriffe) allererst hergeleitet werden. Der
Fehler beider Typen der mechanischen Theorie aber ist es, das
Wesen des Lebens in seiner Eigenart und Eigengesetzlichkeit zu
übersehen. – 5

[ Kritik ] ihres vitalistischen Typus in seinen drei Unterarten

¶ Die zweite Abart der naturalistischen Theorie, die vitali-


stische, macht im Gegenteil hierzu die Kategorie des »Lebens«
zur Urkategorie der Gesamtauffassung des Menschen und somit
auch des Geistes – sie überschätzt die Tragweite des Lebensprin­ 10
zips. Der menschliche Geist soll sich nach ihr in letzter Linie
aus dem menschlichen Triebleben als dessen spätes »Entwick­
lungsprodukt« vollständig verstehen lassen. So etwas will | der
englisch-amerikanische Pragmatismus, erst Peirce, dann Wil­
liam James, F. C. Schiller und Dewey, die Denkformen und die 15
Denkgesetze aus den jeweiligen Arbeitsformen des Menschen
ableiten (homo faber). So will anderseits Nietzsche in seinem
»Willen zur Macht« die Denkformen als notwendige lebens­
wichtige Funktionen aus dem Machttrieb des Lebens verständ­
lich machen; in etwas veränderter Weise ist ihm hierin neuer­ 20
dings Hans Vaihinger gefolgt.* Überblickt man die Gesamtheit
*Vgl. hierzu meine Abhandlung »Arbeit und Erkenntnis« in »Die
Wissensformen und die Gesellschaft«.

3 mechanischen ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: mechanistischen; 1949,81: mecha­


nischen; 1962 ,82: mechanistischen 3 aber ] Ts 1/2 ,58: gestr.; in 1947,75
beibehalten 8 Gegenteil hierzu ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: Gegensatz zum
formal-mechanischen Typus 11 sie … Lebensprinzips ] Ts 1/2 ,58 u.
1947,75: die Tragweite des Lebensprinzips weit überschätzend 11 nach
ihr ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: gestr. 13 etwas ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,75: gestr.
17 (homo faber) ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,76: gestr.; 1962 ,82: wieder eingefügt
17 anderseits ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,76: gestr. 22 Ts 2, 58 u. 1947, 89: Vgl. die
Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O.; 1962, 82: Vgl. zu Obigem
meine Abhandlung ›Erkenntnis und Arbeit‹ a. a. O.
98 | 99 [ Kritik ] ihres vitalistischen Typus 109

aller hierhergehörigen Auffassungen, so findet man wieder drei


Untertypen dieser naturalistisch-vitalistischen Menschenidee,
jenachdem die Forscher das System der Nahrungstriebe oder das
System der Fortpflanzungs- und Geschlechtstriebe oder endlich
5 das System der Machttriebe für das ursprüngliche und leitende
Triebsystem des menschlichen Trieblebens überhaupt halten.
»Der Mensch ist, was er ißt«, hat Vogt grob erklärt. Unver­
gleichlich vertieft und in die Hegelsche Geschichtslehre hin­
eingearbeitet, hat insbesondere Karl Marx die analoge Auffas­
10 sung vertreten, daß der Mensch nicht sowohl die Geschichte
mache, sondern die Geschichte den Menschen jeweilig verschie­
den gestalte, und zwar an erster Stelle die Wirtschaftsgeschichte,
die Geschichte der »materiellen Produktionsverhältnisse«. Eine
innere Eigen-Logik und Kontinuität kommt nach dieser Auf­
15 fassung der Geschichte der geistigen Hervorbringungen in der
Kunst, der Wissenschaft, der Philosophie, dem | Recht usw.
überhaupt nicht zu. Diese Kontinuität und eigentliche Kausa­
lität ist ganz und gar verlegt in den Ablauf der Wirtschaftsfor­
men, von denen nach Marx jede ausgeprägte historische Form
20 eine eigentümliche geistige Welt als den bekannten »Überbau«
zur Folge hat.* Die Auffassung des Menschen als eines primär
vom Machttrieb und vom Geltungstrieb beherrschten Wesens
ist geschichtlich besonders von Machiavelli, Thomas Hobbes

* Vgl. meine Kritik des historischen Materialismus in meiner »Sozio­


logie des Wissens« in »Die Wissensformen und die Gesellschaft«.

1 aller ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,76: der 1 wieder ] Ts 1/2 ,58 u. 1947,76: gestr.
3 die Forscher ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: gestr. 4 oder das System ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: das 5 endlich das System ] Ts 1/2 ,59: das System; 1947,76:
das 6 Triebsystem ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: System 6 halten ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: gehalten wird 11 sondern ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: als vielmehr
16 der Kunst … Recht ] 1947,76: alle Artikel gestr. 22 vom ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: gestr. 24 Ts 2, 59: »Vgl. meine Kritik des historischen Ma­
terialismus in ›Soziologie des Wissens‹.; 1947, 89: Vgl. ›Probleme einer
Soziologie des Wissens‹ a. a. O.; 1962, 83 ähnlich wie in 1928: Vgl. meine
Kritik des historischen Materialismus in ›Probleme einer Soziologie des
Wissens‹ a. a. O.
110 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 99 | 100

und den großen Politikern des absoluten Staates ausgegangen


und hat in der Gegenwart ihre Fortsetzung in den Machtlehren
Friedrich Nietzsches und, mehr nach der medizinischen Seite
hin, in Alfred Adlers Lehre vom Primat des Geltungstriebes
gefunden. Die dritte mögliche Auffassung ist diejenige, die das 5
geistige Leben als Form sublimierter Libido auffaßt, als deren
Symbolik und luftigen Überbau, und damit auch die ganze
mensch­liche Kultur und ihre Erzeugnisse als Produkt verdräng­
ter und sublimierter Libido ansieht. Hatte schon Schopenhauer
die Geschlechtsliebe als den »Brennpunkt des Willens zum 10
Leben« bezeichnet, ohne indes dem Naturalismus vollständig zu
verfallen – daran hinderte ihn seine negative Theorie des Men­
schen –, so hat der frühe Freud, der noch keinen selbständigen
Todes­trieb annahm, diese Auffassung des Menschen bis in die
äußersten Konsequenzen ausgebaut.* | 15
Alle diese naturalistischen Lehren, seien sie nun des mecha­
nischen oder des vitalistischen Typus, müssen wir vollständig
zurückweisen. Zwar kommt dem »vitalistischen« Typus der
naturalistischen Menschenauffassung das hohe Verdienst zu,
zur Einsicht gebracht zu haben, daß das, was im Menschen im 20
eigentlichen Sinne schöpferisch und mächtig ist, nicht das ist,
was wir Geist (und die höheren Bewußtseinsformen) nennen,
sondern die dunklen unterbewußten Triebmächte der Seele,
und daß die menschliche Schicksalsbildung des Einzelwesens

*Vgl. meine Kritik der Freudschen Liebestheorie in meinem Buche 25


»Wesen und Formen der Sympathie«. III. Aufl.

2 der Gegenwart ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: Neuzeit und Gegenwart


3 medizinischen ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76: medizinisch-psychologischen
5 mögliche ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,76 folgt: naturalistische 7 auch ] Ts 1/2 ,59
u. 1947,76: gestr.; 1962 ,83: wieder eingefügt 14 diese ] 1949,82: die;
1962 ,83: diese 16 nun ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,77: gestr. 19 der naturali-
stischen Menschenauffassung ] Ts 1/2 ,59 u. 1947,77: gestr. 21 und ]
Ts 1/2 ,59 u. 1947,77: gestr. 25 1947, 89: Fn. gekürzt, in 1962, 83 wieder
der ursprüngl. Fassung angenähert: Vgl. meine Kritik der Freudschen
Liebestheorie in meinem Buche ›Wesen und Formen der Sympathie‹.
100 | 101   Kritik der anthropologischen Theorie von L. Klages 111

wie der Gruppe vor allem abhängt von der Kontinuität dieser
Vorgänge und ihrer symbolischen Bildkorrelate – wie auch der
dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als
vielmehr er den Gang der Geschichte der Völker weitgehend
5 bestimmt. Alle diese Theorien jedoch haben darin geirrt, daß
sie nicht nur die Tätigkeit, die Kraftgewinnung des Geistes und
seiner Ideen und Werte, sondern auch diese Ideen selbst nach
ihrem inhaltlichen Sinnbestande, ferner die Gesetze des Geistes
und sein inneres Wachstum, aus diesen Triebmächten herleiten
10 wollten. Wenn der Irrtum des abendländischen Idealismus der
»klassischen« Theorie mit seiner mächtigen Überschätzung des
Geistes die tiefe Wahrheit Spinozas übersah, daß die Vernunft
unfähig ist, die Leidenschaften zu regeln, es sei denn, daß sie –
kraft Sublimierung, wie wir es heute nennen würden – selbst zu
15 einer Leidenschaft werde, so haben die sogenannten Naturalisten
ihrerseits die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit des Geistes
vollständig mißachtet. – |

Kritik der anthropologischen Theorie von L. Klages

¶ Im Gegensatz zu all diesen Theorien hat ein neuerer Schrift­


20 steller, der eigenwillig, aber nicht ohne Tiefe ist, den Menschen
(ähnlich wie wir selbst*) vor allem unter den beiden irreduziblen
Grundkategorien von »Leben und Geist« zu verstehen gesucht –

Die Scheidung von »Geist« und »Leben« liegt schon meiner Erst­
*

lingsschrift »Transzendentale und psychologische Methode«, ferner mei­


25 ner »Ethik« zugrunde. Mit den Begriffen von Klages deckt sie sich nicht,
da Klages »Geist« = »Intelligenz«, »Ich« und »Wollen« setzt.

1 wie ] Ts 1,60 u. 1947,77 folgt: die 4 der Völker ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,77:
gestr. 7 sondern ] Ts 2 ,60 folgt: – hier beginnt der Irrtum –; in Ts 1
durchgestr. u. nicht in 1947,77 übernommen 16 haben die … ihrer-
seits ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,77: hat der sogenannte Naturalismus seinerseits
21 vor allem ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,77: gestr. 24 Methode« ] 1962, 84 folgt:
(1899)
112 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 101 | 102

ich meine Ludwig Klages. Er ist es vor allem, der in Deutschland


jene panromantische Denkart über das Wesen des Menschen
philosophisch fundiert hat, die wir heute bei so vielen Forschern
verschiedenster Wissenschaften antreffen, z. B. bei Dacqué, Fro­
benius, Jung, Prinzhorn, Th. Lessing *, in einer gewissen Rich­ 5
tung auch bei O. Spengler. Die Eigenart dieser Auffassung, auf
die ich hier nicht näher eingehe, besteht vor allem in zwei Punk­
ten : Der Geist wird zwar als ursprünglich angenommen, aber
durchaus wie bei den Positivisten und Pragmatisten mit Intel-
ligenz und Wahlfähigkeit gleichgesetzt. Daß der Geist primär 10
nicht nur vergegen | ständlicht, sondern auch Schau von Ideen
und Wesenheiten auf Grund von Entwirklichung ist, wird von
Klages nicht anerkannt. Der so seines eigentlichen Wesens und
Kernes beraubte Geist wird sodann völlig bei ihm entwertet.
Er befindet sich nach Klages mit allem Leben und was zu ihm 15
gehört, mit allem Seelenleben schlichten automatischen Aus­
drucks, in einem ursprünglichen Kampfzustand, nicht aber in

* Theodor Lessing bringt in der 4. Auflage seines Buches: »Geschichte


als Sinngebung des Sinnlosen« S. 28, den Grundgedanken der Theorie
auf den Ausdruck: »So verfestigte sich immer mehr mein Grundge­ 20
danke, daß die Welt des Geistes und seiner Norm nur die unentbehr­
liche Ersatzwelt eines am Menschen erkrankten Lebens sei, nur das Mittel
zur Errettung einer in sich fragwürdig gewordenen, nach kurzem Wach­
bewußtsein spurlos wieder versinkenden Gattung durch Wissenschaft
größenwahnsinnig gewordener Raubaffen.« 25

5 Dacqué … Prinzhorn ] Ts 1/2 ,60 u. 1947,78 einige Vornamen hinzuge-


fügt: Edgar Dacqué, Leo Frobenius, bei Jung und Prinzhorn jedoch erst
in 1962 ,85: C. G. Jung, Hans Prinzhorn 6 O. Spengler ] Ts 1/2 ,60 u.
1947,78: Oswald Spengler 7 auf die … eingehe ] Ts 1,60 u. 1947,78: auf
die hier nicht näher eingegangen werden kann 8 aber ] Ts 2 ,60 folgt:
erstens; in Ts 1,60 durchgestr. u. nicht in 1947,78 übernommen 17 ur-
sprünglichen ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,78 folgt: und grundsätzlichen 17 aber ]
Ts 1/2 ,61 u. 1947,78: gestr. 18 in der 4. Auflage seines Buches ] 1947,78
u. Ts 1,60: ersetzt durch: im Buche; 1962, 85: in seinem Buche; S. 28 gestr.;
1962, 85 folgt am Ende: (vgl. 4. Aufl. Leipzig 1927, S. 28). 24 Wach­
bewußtsein ] 1962, 85: kurzer Wachbewußtheit
102 | 103   Kritik der anthropologischen Theorie von L. Klages 113

einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung. In diesem Kampf­


zustande aber erscheint der Geist als das Leben und Seele im
Ablauf der menschlichen Geschichte immer tiefer zerstörende
Prinzip, so daß schließlich die menschliche Geschichte als eine
5 Décadence, ja als eine fortschreitende Erkrankungserscheinung
des im Menschen sich darstellenden Lebens erscheint. Wäre Kla­
ges ganz konsequent – was er nicht ist, da er seltsamerweise den
Geist erst nach der Menschwerdung an einer bestimmten Stelle
der Geschichte »hereinbrechen« läßt, so daß der Geschichte des
10 homo sapiens also schon eine gewaltige Vorgeschichte vorher­
geht, die mit Bachofenschen Augen gesehen wird –, so müßte
er den Beginn dieser »Tragödie des Lebens«, die nach ihm der
Mensch ist, schon in die Menschwerdung selbst hineinverlegen.
Einen solchen dynamischen und feindlichen Gegensatz zwi­
15 schen Leben und Geist anzunehmen, verbietet uns nach unse­
rer oben dargelegten Auffassung dieses Verhältnisses schon die
eine Tatsache, daß dem Geist als solchem überhaupt keinerlei
»Kraft und Macht«, keine ursprüngliche | Tätigkeits­energie
zukommt, durch die er diese »Zerstörung« vollziehen könnte.
20 Was Klages in seinen an feinen Beobachtungen reichen Schrif­
ten an wirklich beklagenswerten Erscheinungen geschichtlicher
Spätkultur anführt, ist nicht dem »Geiste« zur Last zu legen,
sondern in Wirklichkeit auf einen Vorgang zurückzuführen,
den ich »Übersublimierung« nenne – einen Zustand so über­
25 mäßiger Vergehirnlichung, daß auf Grund ihrer und als Reak­

2 aber ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,78: gestr. 4 schließlich ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,78:


gestr. 10 also ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,78: gestr. 13 hineinverlegen ] Ts 1/2 ,61
u. 1947,78: hineinlegen 16 nach unserer … Verhältnisses ] Ts 1/2 ,61
u. 1947,78: gestr. 19 »Zerstörung« ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79 folgt: allererst
24 nenne ] 1947,89 Anm.: Vgl. zu den Problemen der Resublimierung
und Übersublimierung ›Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs‹
a. a. O.; präziser in 1962 ,97: Vgl. zu ›Übersublimierung‹ (und ›Resub­
limierung‹) den oben zu S. 6 [in der Vorrede ] zitierten Aufsatz ›Der
Mensch im Zeitalter des Ausgleichs‹ (1927) a. a. O. 24 einen ] Ts 1/2 ,61
u. 1947,79: auf einen 25 Vergehirnlichung ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79 folgt:
des Menschen 25 ihrer ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: seiner
114 Identität von Leib und Seele – Kritik Desc­a rtes 103 | 104

tion auf sie jeweilig die bewußt romantische Flucht in einen


meist vermeintlich in der Geschichte gefundenen Zustand ein­
setzt, in dem diese Übersublimierung, insbesondere das Über­
maß der diskursiven intellektuellen Tätigkeit, noch nicht vor­
liegt. Eine solche Fluchtbewegung war schon die dionysische 5
Bewegung in Griechenland, war ferner die hellenistische Dog­
matik, die das klassische Griechentum mit ähnlichen Augen
sah, wie die deutsche Romantik das Mittelalter gesehen hat.
Daß solche Geschichtsbilder weitgehendst nur auf einer durch
die eigene Überintellektualisierung geborenen Sehnsucht nach 10
»Jugend und Primitivität« beruhen, mit der geschichtlichen
Wirklichkeit aber nie übereinstimmen, das scheint mir Klages
nicht genug zu würdigen. Eine andere Gruppe von Erscheinun­
gen, die Klages als Folgen der zerstör­lichen Macht des Geistes
ansieht, besteht darin, daß überall, wo geistige Tätigkeiten ein­ 15
gesetzt werden gegenüber gemeinhin automatisch ablaufenden
Tätigkeiten der Vitalseele, diese letzteren in der Tat weitgehend
gestört werden. Einfache Grundsym | ptome sind z. B. die Stö­
rung des Herzschlags, des Atems und anderer ganz oder halb
automatischer Tätigkeiten durch die Aufmerksamkeit; ferner 20
Störungen, die entstehen, wenn sich der Wille direkt gegen die
Triebimpulse selbst richtet, anstatt sich je neuen wertbetonten
Inhalten zuzuwenden. Das aber, was Klages hier Geist nennt,
ist in Wirklichkeit nur eine komplizierte technische Intelligenz
im Sinne unserer vorhergehenden Ausführungen. Gerade er, 25
der schärfste Gegner aller positivistischen Menschenauffas­

1 sie jeweilig die ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: ihn jeweilig eine; 1962 ,86: ihn
jeweilig die 9 weitgehendst nur ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: weitestgehend
11 mit ] Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: daß sie mit; 1962 ,86: mit 12 aber ]
Ts 1/2 ,61 u. 1947,79: gestr.; 1962 ,86: wieder eingefügt 14 zerstörlichen ]
Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: zerstörerischen 17 Vitalseele ] Ts 1/2 ,62 folgt: (Aus­
drucksbewegungen), nicht in 1947,79 übernommen 17 diese letzteren ]
Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: erstere 18 Grundsymptome ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,79
folgt: solcher Art 22 selbst ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: gestr. 24 ist in Wirk-
lichkeit nur eine ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80: das ist in Wirklichkeit nicht der
Geist, sondern nur die
104 | 105   Kritik der anthropologischen Theorie von L. Klages 115

sung, aller Auffassung des Menschen als »homo faber«, wird


in diesem fundamentalen Punkte ein unkritischer Schüler der
Grundanschauung, die er so scharf bekämpft. Auch verkennt
Klages, daß überall da, wo das Dionysische und die dionysi­
5 sche Form des menschlichen Daseins ursprünglich und naiv ist –
und das ist sie vollständig niemals, da die ausdrückliche Trieb-
enthemmung ebensowohl vom Geiste aus eingeleitet ist wie die
rationale Triebaskese; das Tier kennt einen solch enthemmten
Zustand nicht –, der dionysische Zustand selbst auf einer kom­
10 plizierten bewußten Willenstechnik beruht, also mit demsel­
ben »Geiste« arbeitet, der ausgeschaltet werden soll. Geist und
Leben sind aufeinander hingeordnet, und es ist ein Grundirr­
tum, sie in eine ursprüngliche Feindschaft oder einen Kampf­
zustand zu bringen. »Wer das Tiefste gedacht, liebt das Leben-
15 digste« (­Hölderlin). |

3 er ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80 folgt: im übrigen 6 da ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,79


folgt: wir sahen es, 7 ebensowohl ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,79: ebensosehr
7 eingeleitet ] 1949,85: geleitet; 1962 ,86: eingeleitet 10 also ] Ts 1/2 ,62
u. 1947,79: d. h. 12 und ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80: gestr. 13 oder einen ]
Ts 1/2 ,62 u. 1947,80: in einen ursprünglichen 15 (Hölderlin) ] Ts 1/2 ,62
u. 1947,80: gestr.
116 105

VI. Zur Metaphysik des Menschen –


»Metaphysik« und »Religion«

E s ist die Aufgabe einer philosophischen Anthropologie, genau


zu zeigen, wie aus der Grundstruktur des Menschseins, wie
sie in diesen unseren obigen Ausführungen kurz umschrie­ 5
ben wurde, alle spezifischen Monopole, Leistungen und Werke
des Menschen hervorgehen : so Sprache, Gewissen, Werkzeug,
Waffe, Ideen von Recht und Unrecht, Staat, Führung, die dar­
stellenden Funktionen der Künste, Mythos, Religion, Wissen­
schaft, Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit. Darauf kann 10
hier nicht eingegangen werden. Wohl aber soll zum Abschluß
noch der Blick gelenkt sein auf die Folgerungen, die sich aus
dem Gesagten für das metaphysische Verhältnis des Menschen
zum Grunde der Dinge ergeben.
Es ist eine der schönsten Früchte des sukzessiven Aufbaus 15
der menschlichen Natur aus den ihr untergeordneten Daseins­
stufen, wie ich ihn soeben zu geben versuchte, daß man zeigen
kann, mit welcher inneren Notwendigkeit der Mensch in dem­
selben Augenblick, in dem er durch Welt- und Selbstbewußt­
sein und durch Vergegenständlichung auch seiner eigenen psy­ 20
cho-physischen Natur – den spezifischen Kundmerkmalen des
Geistes – Mensch geworden ist, er auch die formalste Idee eines
überweltlichen, unendlichen und absoluten Seins erfassen muß.
Hat sich der Mensch – und das gehört ja zu seinem Wesen, ist
der Akt der Menschwerdung selbst – einmal aus der gesamten 25
Natur herausgestellt und sie zu seinem ­»Gegenstande« gemacht,

3 die ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80: gestr. 5 diesen unseren obigen Ausführun-


gen ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80: diesen unseren Ausführungen nur; 1962 ,87:
unseren Ausführungen nur 11 zum Abschluß ] Ts 1/2 ,62 u. 1947,80:
gestr. 13 metaphysische ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,80: gestr. 17 wie ich …
versuchte ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,80: wie er hier zu geben versucht wurde
21 Kundmerkmalen ] 1947,80 u. 1962 ,88: Grundmerkmalen 22 er ] Ts
1/2,63 u. 1947, 80: gestr. 24 und ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,80: gestr. 26 seinem ]
1949,86: einem; 1962 ,88: seinem
105 | 106   Sphäre eines absoluten Seins 117

so wendet er sich gleichsam erschau | ernd um und fragt : »Wo


stehe ich denn selbst ? Was ist denn mein Standort ?« Er kann
nicht eigentlich mehr sagen : »Ich bin ein Teil der Welt, bin von
ihr umschlossen«, denn das aktuale Sein seines Geistes und
5 seiner Person ist sogar den Formen des Seins dieser »Welt« in
Raum und Zeit überlegen. Und so schaut er gleichsam bei die­
ser Umwendung hinein ins Nichts. Er entdeckt in diesem Blicke
gleichsam die Möglichkeit des »absoluten Nichts« – und dies
treibt ihn weiter zu der Frage : »Warum ist überhaupt eine Welt,
10 warum und wieso bin ›ich‹ überhaupt ?« Man erfasse die strenge
Wesensnotwendigkeit dieses Zusammenhangs, der zwischen
dem Welt-, dem Selbst- und dem formalen Gottesbewußtsein
des Menschen besteht, wobei Gott hier nur als ein mit dem Prä­
dikat »heilig« versehenes »Sein durch sich selbst« erfaßt wird,
15 das natürlich tausendfältige bunteste Ausfüllungen annehmen
kann. Diese Sphäre aber eines absoluten Seins überhaupt, gleich­
gültig ob sie dem Erleben oder Erkennen zugänglich ist oder
nicht, gehört ebenso konstitutiv zum Wesen des Menschen wie
sein Selbstbewußtsein und Welt­bewußtsein. Was W. von Hum­
20 boldt von der Sprache gesagt hat, daß der Mensch sie darum
nicht habe »erfinden« können, da der Mensch nur durch die
Sprache Mensch ist, das gilt mit genau derselben Strenge für die
formale Seinssphäre eines alle endlichen Erfahrungsinhalte und
das zentrale Sein des Menschen selbst überragenden, schlecht­

1 so … fragt ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,81: so muß er sich gleichsam erschau­


ernd umwenden und fragen 6 Und ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,81: gestr.
10 überhaupt? ] 1947,89 Anm.: Vgl. hierzu in dem Bande ›Vom Ewigen
im Menschen‹ [1962 ,89 folgt: (1. Aufl. 1921; 4. Aufl. 1954, Ges. W. Bd. 5)]
aus der Abhandlung ›Vom Wesen der Philosophie‹ [1962 folgt: (1917)]
das Kapitel ›Vom Gegenstand der Philosophie und die philosophische
Erkenntnishaltung‹ [1962 folgt:] und in der Abhandlung ›Probleme
der Religion‹ (s. Sachregister) 15 natürlich ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,81: gestr.
15 Ausfüllungen ] 1949,87: Ausführungen; 1962 ,88: Ausfüllungen
16 Diese ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,81: Die 17 oder ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,81 folgt:
dem; 1962 ,88: gestr. 18 oder nicht ] Ts 1/2 ,63 u. 1947,81: gestr. 19 und ]
Ts 1/2 ,63 u. 1947,81 folgt: sein
118 Zur Metaphysik des Menschen 106 | 107

hin in sich selbständigen Seins von Ehrfurcht gebietender Hei­


ligkeit. Versteht man unter den Worten »Ursprung der Religion
und Metaphysik« | nicht nur die Erfüllung dieser Sphäre mit
bestimmten Annahmen und Glaubensgedanken, sondern einen
Ursprung dieser Sphäre selbst, so fiele also dieser ihr Ursprung 5
mit der Menschwerdung selbst vollständig in eins zusammen.
Der Mensch muß den eigenartigen Zufall, die Kontingenz der
Tatsache, daß »überhaupt Welt ist und nicht vielmehr nicht
ist«, und daß »er selbst ist, und nicht vielmehr nicht ist«, mit
anschaulicher Notwendigkeit in demselben Augenblicke entdec- 10
ken, wo er sich überhaupt der »Welt« und seiner selbst bewußt
geworden ist. Daher ist es ein vollständiger Irrtum, das »Ich
bin« (wie Desc­artes) oder das »Die Welt ist« (wie Thomas von
Aquin) dem allgemeinen Satz, »Es gibt absolutes Sein« vorher­
gehen zu lassen und diese Sphäre des Absoluten allererst durch 15
Schlußfolgerung aus jenen ersteren Seinsarten erreichen zu
wollen.
Welt-, Selbst- und Gottesbewußtsein bilden eine unzerreißbare
Struktureinheit – genau so, wie Transzendenz des Gegenstandes
und Selbstbewußtsein in genau demselben Akte, der »dritten 20
Reflexio«, entspringen. Im selben Augenblicke, als jenes »Nein,
nein« zur konkreten Wirklichkeit der Umwelt eintrat, in dem
sich das geistige aktuale Sein und seine ideellen Gegenstände

3 »Ursprung der Religion und Metaphysik« ] Ts 1/2 ,63 f. u. 1947,81:


›Ursprung der Religion‹ und ›Ursprung der Metaphysik‹ 4 einen ]
Ts 1/2 ,64 u. 1947,81: den 9 nicht ist« ] 1947,89 Anm.: Vgl. hierzu in
dem Bande ›Vom Ewigen im Menschen‹ aus der Abhandlung ›Vom
Wesen der Philosophie‹, das Kapitel ›Vom Gegenstand der Philosophie
und die philosophische Erkenntnishaltung‹.; 1962 ,97: zu 1928,106 f. zu-
sammenfassend die Anm.: Vgl. in Vom Ewigen im Menschen, (1. Aufl.
1921; 4. Aufl. 1954, Ges. W. Bd. 5) in der Abhandlung ›Vom Wesen
der Philosophie‹ (1917) das Kapitel ›Der Gegenstand der Philosophie‹,
und in der Abhandlung ›Probleme der Religion‹ (s[iehe] Sachregister)
13 wie ] Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: gestr. 13 wie ] Ts 1/2,64 u. 1947, 82: gestr.
15 diese ] Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: die 16 ersteren ] Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: gestr.
20 genau ] 1947,82: eben 21 als ] Ts 1,64 u. 1947,82: da
107 | 108   Ursprung der Metaphysik 119

konstituierte; genau im selben Augenblicke, als das weltoffene


Verhalten und die nie ruhende Sucht entstand, grenzenlos in
die entdeckte »Welt«sphäre vorzudringen und sich bei keiner
Gegebenheit zu beruhigen; genau im selben Augenblicke, als
5 der werdende Mensch die Methoden alles ihm vorhergehenden
tierischen Lebens, der Umwelt angepaßt zu wer | den oder ihr
sich anzupassen, zerbrach und die umgekehrte Richtung ein­
schlug, die Anpassung der entdeckten »Welt« an sich und sein
organisch stabil gewordenes Leben; in genau demselben Augen­
10 blicke, da sich der Mensch aus der Natur heraus stellte, um sie
zum Gegenstand seiner Herrschaft und des neuen Kunst- und
Zeichenprinzips zu machen, – in eben demselben Augenblicke
mußte der Mensch auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und
jenseits der Welt verankern. Konnte er sich doch nun nicht mehr
15 als einfaches »Glied« oder als einfachen »Teil« der Welt erfassen,
über die er sich so kühn gestellt hatte !
Nach dieser Entdeckung der Weltkontingenz und des selt­
samen Zufalls seines nun weltexzentrisch gewordenen Seinsker­
nes aber war dem Menschen noch ein doppeltes Verhalten mög­
20 lich. Er konnte sich einmal darüber verwundern (θαυμάζειν) und
seinen erkennenden Geist in Bewegung setzen, das Absolute zu
erfassen und sich in es einzugliedern – das ist der Ursprung der
Metaphysik jeder Art. Sehr spät erst in der Geschichte ist sie auf­
getreten und nur bei wenigen Völkern. Der Mensch konnte aber
25 auch aus dem unbezwinglichen Drang nach Bergung, nicht nur
seines Einzel-Seins, sondern zuvörderst seiner ganzen Gruppe,
auf Grund und mit Hilfe des ungeheuren Phantasieüberschus-
ses, der von vornherein im Gegensatz zum Tier in ihm ange­
legt ist, diese Seinssphäre mit beliebigen Gestalten bevölkern,
30 um sich in deren Macht durch Kult und Ritus hineinzubergen,

1 konstituierte ] Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: konstituierten 1 im ] Ts 1,64 u.


1947,82: in dem 1 als ] 1947,82: da 4 als ] 1947,82: da 12 heraus stellte,
um … zu machen ] Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: herausstellte und … machte
14 nun ] Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: gestr. 19 aber ] 1947,82: gestr. 20 einmal ]
Ts 1/2 ,64 u. 1947,82: gestr. 24 Der Mensch ] Ts 1/2 ,65 u. 1947,82: Er
120 Zur Metaphysik des Menschen 108 | 109

um etwas von Schutz und Hilfe »hinter sich« zu bekommen,


da er im Grundakt | seiner Naturentfremdung und Naturver­
gegenständlichung – und dem gleichzeitigen Werden seines
Selbstseins und Selbstbewußtseins – ja ins pure Nichts zu fallen
schien. Die Überwindung dieses Nihilismus in der Form solcher 5
Bergungen, Stützungen ist das, was wir »Religion« nennen. Sie
ist primär Gruppen- und »Volks­religion« und wird erst später,
gemeinsam mit dem Ursprung des Staates, »Stifterreligion«. So
sicher aber, wie die Welt zunächst uns als Widerstand für unser
praktisches Dasein im Leben gegeben ist, früher denn als Gegen- 10
stand der Erkenntnis, ebenso sicher mußten auch solche Gedan­
ken- und Vorstellungsgebilde über jene neuentdeckte Sphäre,
die dem Menschen Kraft leihen, sich in der Welt zu behaup-
ten – solche Hilfe leistete der Menschheit primär der Mythos,
später die sich aus ihm herausschälende Religion –, allen vor­ 15
nehmlich auf Wahrheit ausgerichteten Erkenntnissen oder Ver­
suchen zu solchen von der Art der »Metaphysik« geschichtlich
vorher­gehen.

[ Haupttypen der religiösen Ideen über das


Verhältnis Mensch – Gott ] 20

¶ Nehmen wir nun noch ein paar Haupttypen der Verhält­


nisideen, die sich der Mensch zwischen sich und einem ober­
sten Grundsein der Dinge gebildet hat, und beschränken wir

3 Naturvergegenständlichung ] Ts 1/2,65: Vergegenständlichung; 1947,83:


-Vergegenständlichung 4 ja ] Ts 1,65 u. 1947,83: gestr. 7 und wird ]
Ts 1/2 ,65: wird; 1947,83 u. 1962 ,90: nach Volksreligion neuer Satz: Sie
ward 8 »Stifterreligion« ] 1962 ,97 Anm.: Vgl. ›Probleme einer Soziolo­
gie des Wissens‹, s[iehe] Sachregister. 9 aber ] Ts 1/2,65 u. 1947,83: gestr.
9 zunächst uns ] Ts 1/2,65 u. 1947,83: primär 11 solche ] Ts 1,65 u.
1947,83: alle diese 12 jene ] Ts 1/2,65 u. 1947,83: die 14 leistete ] 1947,83:
leistet 21 nun noch ] Ts 1/2,65 u. 1947,83: gestr. 22 Verhältnisideen ]
Ts 1,65 u. 1947,83: religiösen Ideen 22 Mensch ] Ts 1,65 u. 1947,83 folgt:
von dem Verhältnis 23 Grundsein ] Ts 1/2 ,65 u. 1947,83: Grund-Sein
109 – 111 Haupttypen der religiösen Ideen 121

uns dabei nur auf die Stufe des abendländisch-klein­asiatischen


Monotheismus. Da finden wir Vorstellungen wie die, daß der
Mensch einen »Bund« mit Gott schloß, nachdem Gott ein Volk
bestimmter Art zu dem seinigen erkoren hatte (Älteres Juden­
5 tum). Oder : Der Mensch erscheint je nach der sozia­len Struktur
der Gesellschaft als »Sklave Gottes«, der mit List und nied | riger
Prostration sich vor ihm niederwirft, ihn durch Bitten und Dro­
hungen oder mit magischen Mitteln zu bewegen suchend. In
etwas höherer Form erscheint er sich als der »getreue Knecht«
10 des obersten souveränen »Herrn«. Die höchste und reinste Vor­
stellung, die in den Grenzen des Monotheismus möglich ist,
erreicht die Idee der Kindschaft aller Menschen im Verhältnis
zu Gott-Vater, vermittelt durch den wesensgleichen »Sohn«, der
den Menschen Gott in seinem inneren Wesen verkündigte und
15 selber mit göttlicher Autorität ihnen gewisse Glaubensmeinun­
gen und Gebote vorschreibt.
Alle Ideen solcher Art müssen wir für unsere philosophi­
sche Betrachtung dieses Verhältnisses zurückweisen, müssen
es schon darum, weil wir die theistische Voraussetzung leug­
20 nen : »einen geistigen, in seiner Geistigkeit allmächtigen persön­
lichen Gott«. Für uns liegt das Grundverhältnis des Menschen
zum Weltgrund darin, daß dieser Grund sich im Menschen,
der als solcher sowohl als Geist- wie als Lebewesen nur je ein
Teilzentrum des Geistes und Dranges des »durch sich Seienden«
25 ist – ich sage, sich im Menschen selbst unmittelbar erfaßt und
verwirklicht. Es ist der alte Gedanke Spinozas, Hegels und vie­
ler anderer : das Urseiende wird sich im Menschen seiner selbst
inne, im selben Akte, in dem der Mensch sich in ihm gegründet
schaut. Wir müssen nur diesen bisher viel zu einseitig intellek-
30 tualistisch vertretenen Gedanken dahin umgestalten, daß die­
ses Sichgegründetwissen erst eine Folge ist der aktiven Ein | set-

1 nur ] Ts 1/2 ,65 u. 1947,83: gestr. 5 sozialen ] Ts 1/2 ,65 u. 1947,83:


gestr. 14 verkündigte ] Ts 1/2 ,65 u. 1947,83: verkündigt 18 dieses Ver-
hältnisses ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: des Verhältnisses des Menschen zum
obersten Grunde
122 Zur Metaphysik des Menschen 111 | 112

zung unseres Seinszentrums für die ideale Forderung der Deitas


und des Versuches, sie zu vollstrecken, und in dieser Vollstrec­
kung den aus dem Urgrunde werdenden »Gott« als die steigende
Durchdringung von Drang und Geist allererst mitzuerzeugen.

[ Der Mensch als metaphysischer Ort des 5


Zusammenspiels von Drang und Geist ]

¶ Der Ort also dieser Selbstverwirklichung, sagen wir gleich­


sam jener Selbstvergottung, die das durch sich seiende Sein sucht
und um deren Werden willen es die Welt als eine »Geschichte«
in Kauf nahm – das eben ist der Mensch, das menschliche Selbst 10
und das menschliche Herz. Sie sind der einzige Ort der Gott­
werdung, der uns zugänglich ist – aber ein wahrer Teil dieses
transzendenten Prozesses selbst. Denn obzwar alle Dinge im
Sinne einer kontinuierlichen Kreation in jeder Sekunde aus dem
durch sich seienden Sein hervorgehen, und zwar aus der funk­ 15
tionellen Einheit des Zusammenspiels von Drang und Geist, so
sind doch erst im Menschen und seinem Selbst die beiden – uns
erkennbaren – Attribute des Ens per se lebendig aufeinander
bezogen. Der Mensch ist ihr Treffpunkt. In ihm wird der Logos,
»nach« dem die Welt gebildet ist, mitvollziehbarer Akt. Von 20
vornherein also ist nach unserer Anschauung die Mensch- und
die Gott­werdung gegenseitig aufeinander angewiesen. So wenig
der Mensch zu seiner Bestimmung gelangen kann, ohne sich
als Glied jener beiden Attribute des obersten Seins und dieses
Sein sich selbst einwohnend zu wissen, so wenig das Ens a se 25
ohne Mitwirkung des Menschen. Geist und Drang, jene beiden
Attribute des Seins, sie sind, ab | gesehen von ihrer erst werden-

7 also ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: gestr. 15 und zwar ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84:
gestr. 17 die ] Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: diese 19 Treffpunkt. In ] Ts 1/2 ,66
u. 1947,84: Treffpunkt, und in 22 die Mensch- und die Gottwerdung ]
Ts 1/2 ,66 u. 1947,84: Mensch- und Gottwerdung 25 Sein ] 1947, 85: Seins
26 jene ] 1947,85: die
112 | 113 Der Mensch als metaphysischer Ort 123

den gegenseitigen Durchdringung – als Ziel –, auch in sich nicht


fertig : sie wachsen an sich selbst eben in diesen ihren Mani­
festationen in der Geschichte des menschlichen Geistes und in
der Evolution des Lebens der Welt. –
5 Man wird mir sagen und man hat mir in der Tat gesagt, es
sei dem Menschen nicht möglich, einen unfertigen Gott, einen
werdenden Gott, zu ertragen ! Meine Antwort darauf ist, daß
Metaphysik keine Versicherungsanstalt ist für schwache, stüt­
zungsbedürftige Menschen. Sie setzt bereits einen kräftigen,
10 hochgemuten Sinn im Menschen voraus. Darum ist es auch
wohlverständlich, daß der Mensch erst im Laufe seiner Ent­
wicklung und seiner wachsenden Selbsterkenntnis zu jenem
Bewußtsein seines Mitkämpfertums, seines Miterwirkens der
»Gottheit« kommt. Das Bedürfnis der Bergung und der Stüt-
15 zung in eine außermenschliche und außerweltliche Allmacht,
die mit Güte und Weisheit identisch gesetzt wird, ist zu groß, als
daß es in Zeiten der Unmündigkeit nicht alle Dämme des Sin­
nes und der Besinnung durchbrochen hätte. Wir aber setzen an
die Stelle jener halb kindlich, halb schwächlich distanzierenden
20 Beziehung des Menschen zur Gottheit, wie sie in den objekti­
vierenden und darum ausweichenden Beziehungen der Kontem­
plation, der Anbetung, des Bittgebetes gegeben sind – den ele­
mentaren Akt des persönlichen Einsatzes des Menschen für die
Gottheit, die Selbstidentifizierung mit ihrer geistigen Aktrich­
25 tung in jedem Sinne. Das letzte »wirkliche« Sein des durch
sich | Seienden ist eben nicht gegenstands­f ähig – so wenig wie
das einer Fremdperson. Man kann an seinem Leben und seiner
geistigen Aktualität teilhaben nur durch Mitvollzug, nur durch
den Akt des Einsatzes und der tätigen Identifizierung. Zur Stüt­
30 zung des Menschen und als bloße Ergänzung seiner Schwächen

1 auch ] Ts 1,66 u. 1947,85: aber auch; 1962 ,92: auch 3 in diesen ihren
Manifestationen ] Ts 1,66 f.: gestr.; 1947,85 u. 1962 ,92 wieder eingefügt
18 aber ] Ts 1,67 u. 1947,85: gestr. 25 »wirkliche« Sein ] Ts 1,67 u. 1947,85:
wirkliche ›Sein‹ 26 eben ] Ts 1,67 u. 1947,85: gestr. 27 das ] Ts 1,67
u. 1947,85 folgt: Sein 30 und als bloße ] Ts 1,67: als bloße; 1947,85 u.
1962 ,93: zur bloßen
124 Zur Metaphysik des Menschen 113

und Bedürfnisse, die es immer wieder zu einem Gegenstande


machen wollen, ist das absolute Sein nicht da. Wohl gibt es auch
für uns eine »Stützung« –  : es ist die Stützung auf das gesamte
Werk der Wertverwirklichung der bisherigen Weltgeschichte,
so weit es das Werden der »Gottheit« zu einem »Gotte« bereits 5
gefördert hat. Nur suche man in letzter Linie nie theoretische
Gewißheiten, die diesem Selbsteinsatz vorhergehen sollten. Erst
im Einsatz der Person ist die Möglichkeit eröffnet, um das Sein
des durch sich Seienden auch zu »wissen«. –
Es ist nicht Sache dieses Vortrags, den Kern dieser metaphy­ 10
sischen Grundvorstellung näher auszuführen.

2 Wohl ] Ts 1,67 u. 1947,86 folgt: aber 7 sollten ] Ts 1,67 u. 1947,86: sol­


len 8 Person ] Ts 1,67 u. 1947,86 folgt: selbst 11 Es ist … auszuführen. ]
Ts 1,67 u. 1947,86 u. 1962 ,93: gestr.
Anhang
126

Gliederung des Darmstädter Vortrags

½ St[unde] 1.) Einleit[ung]


2.) Aufbau der psych[ischen] Welt und Homo faber.
1 St[unde] 3.) Der Geist
1.) Gegenstand, Selbstbew[ußtsein], Weltoffenheit, 5
2.) Negation. Asket des Lebens. Sublim[ierung]
3.) Krit[ik] der neg[ativen] Th[eorie] d[es] M[enschen]
4.) Klass[ische] Theorie
Desc[artes]
½ St[unde] 5.) Leib – Seele 10

Physiologischer Ursprung 6.) Geist – Leben


6.) Metaphysik des M[enschen] Zu Klages.

1 Schmale Heftseite 15,8 × 21,7 cm, unpaginiert, dem Heft B.I.17 beige-
legt, keine Abschrift vorhanden. 11 6.) ] mit Rotstift nachträglich neben
Nr. 5 u. 6 gesetzt, als ob sie diese ersetzen sollte. Mit Rotstift sind sonst
nur die beiden ersten Zeitangaben eingefügt und die Titel von 2.) u. 3, 2.)
unterstrichen worden.
1 a | 2 a 127

Darmstädter Einleitung

Im Bewußtsein meiner Aufgabe in diesem Kreise, nur ein Motiv


zu sein in einer Symphonie [ folgen zweieinhalb unleserlich durch-
gestr. Zeilen], muß ich darauf verzichten, den Grundgedanken
5 der philosophischen Anthropologie hier auch nur anzudeuten,
an der ich seit Jahren arbeite. Versuchte ich dies – der Versuch
müßte außerdem im Rahmen eines Vortrags mißglücken – so
hieße dies ja soviel wie, daß der Gedanke, den ich hier geben
will, selbst jenes Ganze der Symphonie zu sein beanspruchte,
10 als dessen [ folgt unleserlich durchgestr. Wort] Glied ich mich
vielmehr einfügen soll und einfügen will. Ich schalte daher die
centrale Frage der Beziehung des Menschen zum Grunde aller
Dinge (Metaphysik des Menschen), die Frage nach dem letzten
Sinn und die Bedeutung seines Daseins und Wesens, die Frage
15 nach seinem ersten Ursprung und seiner Bestimmung in die­
sem Vortrag ganz aus. Ich will mich begnügen – mich streng
an das Thema haltend – die Sonderstellung des Menschen im
Ganzen des erfahrbaren Alls, – die »Monopole des homo sapi-
ens«, wie das Problem Jemand treffend umschrieb – 1.) nur nach
20 unten hin, also zur untermenschlichen Natur, 2.) nur soweit zu
umschreiben, als uns | strenge Wissenschaft dies heute schon
gestattet – mit Ausschluß aller höheren philosophischen Deu­
tungen, erst recht natürlich aller religiösen Glaubens­ideen. Auch
noch zwei andere Beschränkungen muß ich meiner Behand­
25 lung des Themas auferlegen. Erstens werde ich mich im wesent­
lichen an die psychischen und geistigen Monopole jenes selt­
samen, uns von allen Dingen noch am meisten unbekannten

1 Schmale Heftseiten 16,3 × 20,9 cm, paginiert 1a – 7a, von Maria Scheler
verstreut im Nachlass gefunden und dem Heft B.I.17 beigelegt. Abschrif-
ten: CA.I.3 und CE.XVII.13; weichen gelegentlich vom Original ab. Es
wurde darauf verzichtet, die Abweichungen dieser Abschriften kenntlich
zu machen.
128 Darmstädter Einleitung 2a|3a

Wesens halten und seine leiblichen Bestimmtheiten nur soweit


heranziehen[,] als es bei der tiefen Einheit von Seele und Leib
unbedingt notwendig ist. Zweitens werde ich nicht nur das
metaphysische Werdeproblem des Menschen, sondern auch
das physische Werdeproblem (Schöpfung oder Descendenz, 5
Palaeontologie, Art der Descendenz, Ursachen der Entstehung
neuer Arten überhaupt und des Menschen besonders) hier nicht
in extenso behandeln – nur gelegentlich berühren – ein Fra­
gegebiet, das gegenwärtig sich nach der zwiefachen Ausschal­
tung des Alt- und Neo-Darwinismus und des alten und neuen 10
Lamarquismus aus den wissenschaftlich ernsthaften Hypothe­
sen über Artentstehung, das ferner nach den neuen Hypothesen,
die Klaatsch, Rancke, Kollmann, Naef, Bolk, Westenhöfer und
Dacqué der älteren Darwinschen, noch von Schwalbe und Frie­
denthal zuletzt eingehend vertheidigten Affenhypothese über 15
die Entstehung des M[enschen] ganz neu hinzugefügt haben,
sich in einem denkbar kritischen Zustande befindet und weni­
ger wie je ein abschließendes Urtheil gestattet; auf alle Fälle aber
nur im Rahmen des ganzen Descendenz | problems überhaupt,
einst eine tiefere und gesichertere Lösung finden kann. Da man 20
– will man die Entstehung einer Sache erklären – aber auf alle
Fälle schon wissen muß, was diese Sache ist und aus welchen
Wesensteilen sie besteht, so ist jedenfalls das Ergebnis einer
Untersuchung, wie wir sie anstellen[,] auch logisch die Grund­
lage für diese Forschungsrichtung. – 25

19 Descendenzproblems ] Auf der Rückseite von S. 2a folgende Notizen:


1.) Wort Mensch = Thema. Neue Fremdheit – Urparadox. 2.) Wesen oder
quant[itative] Steig[erung]. 3.) Wenn Wesen – höchste Ex[emplare], wenn
nicht niederste. 4.) These 5.) Pflanze – Tier – Mensch. 6.) Altes Das[ein]
und Wesen nur app[roximativ] zu erkl[ären]. 7.) Verhaltenssubj[ect].
8.) Tierps[ychologie] und [-]phys[iologie] und Noet[?isch] hist[orische]
Betr[achtung]. [Absatz] Gerade[?] die mod[erne] Erk[enntnis]th[eorie]
führt zu relat[iver] Rechtf[ertigung] des primit[iven] Weltbildes – oder
doch der Princip[ien] und Gesetze, die es leiteten. (Comte). 1.) Race­
physiologie 2.) Zufallsges[etze] und dyn[amische ] Erkl[ärung] jedes
Bildes. 3.) Soziolog[ische] Bed[ingungen] v[on] Wissen.
3a|4a Methodisches 129

Methodisches

Man kann an die Lösung der Frage nach der Sonderstell[ung]


des M[enschen] nicht einmal ernstlich herangehen, ohne zuerst
ein ganzes[,] vor unserem geistigen Auge liegendes Spinnenge­
5 webe von traditionellen Vorurtheilen energisch wegzuscheu­
chen, die wir zu dieser Frage mitbringen – und ebensowenig,
ohne sich über einige methodische Vorfragen Klarheit ver­
schafft zu haben, über die bislang wenig Klarheit besteht.
Zunächst müssen wir alle bestimmten inhaltlichen Ideen
10 über den Menschen, die aufgrund einer höchst zusammenge­
setzten abendländischen Geistestradition in unserem Kopfe
herumspuken[,] einmal gänzlich beiseite legen.
Fragen sie irgend einen gebildeten Europaeer, was er sich
bei dem Worte Mensch denke, so beginnen fast immer drei
15 unter sich gänzlich uncompatible, ja sich völlig widerspre­
chende Gedankenkreise in seinem Kopfe zu concurrieren : der
Gedankenkreis der jüdisch-christlichen Tradition von Adam
und Eva, Schöpfung, Fall usw.; der antike Gedankenkreis, in
dem zum ersten mal in der Welt das menschliche Selbstbe­
20 wußtsein sich zu einem wesenhaften und metaphysischen
Begriff von einer Sonderstellung des Menschen sich erhob | –
sich ausdrückend in der These, der Mensch sei Mensch durch
seine Vernunft (ratio, phronesis, Logos, mens usw.) und eine
seiner Vernunft gleichartige oder doch analoge Vernunft liege
25 dem ganzen All zugrunde – und drittens der ja auch längst tra­
ditional nachgesprochene Gedankenkreis moderner Natur­
wissenschaft und genetischer Psychologie, der Mensch sei ein
spätes Endergebnis der Entwicklung der Welt und des Lebens
ausschließlich auf dem Erdplanet, der sich von seinen Vorfor­
30 men in der Tierwelt nur quantitativ und in dem Complica­
tions­g rad der Energieen und ihrer gesetzlichen Aneinander­

13 sie ] Hier beginnen mit Fragt man […] die Ausführungen von B.I.17,
die beiden Typoskripte von D.IX.7c (Ts 1 u. Ts 2) sowie die Druckfassun-
gen 1927,161 und 1928,13.
130 Darmstädter Einleitung 4a|5a

bindungen unterscheide, die auch in der untermenschlichen


Natur vorkommen. Daß der sog. Mensch etwa keines dieser
drei Dinge sein könnte, daß diese drei Ideen in der Geschichte
dieses Wesens nur flüchtige und verzeichnete Spiegelbilder sein
könnten, die dieses Wesen sich von sich selbst gemacht hat – 5
schon das wird als Möglichkeit gar nicht zugelassen. Natür­
lich fehlt aufgrund des Durcheinandergehens dieser drei Ideen
»Adam«, »Vernunftwesen« und »hochentw[ickeltes] Tier« auch
jede Einheit einer Anthropologie. Wir fordern : Einh[eit]. Wir
besitzen eine naturwiss[enschaftliche], eine philos[ophische] 10
und eine theolog[ische] Anthropologie[,] die sich meist nicht
das Mindeste umeinander kümmern[.] Und da sich alle drei
Anthrop[ologien] in einer früher nie gesehenen Krisis befinden
(auch die Lehre Darwins ist ja heute von Naturf[orschern] wie
Klaatsch, Rancke, Kollmann, Westenhöfer, [ folgt leergelassene 15
Stelle], Dacqué u. A. bestritten)[,] so wissen wir heute weniger[,]
was wir eigentl[ich] sind[,] als wir es je zu wissen meinten. |
Schon das Wort und der Begriff Mensch enthält eine gera­
dezu tückische Zweideutigkeit, ohne deren Durchschauung wir
die Sonderst[ellung] d[es] M[enschen] gar nicht angreifen kön­ 20
nen. Der Begriff soll einmal die Sondermerkmale angeben, die
morpholog[isch] den Menschen als eine Untergruppe der Wir-
bel- und Säugetierreihe sondern von anderen höheren Wirbel-
und Säugetieren. Es ist selbstverständlich, daß – wie immer
diese Begriffsbildung ausfällt, – der sog. Mensch nicht nur dem 25
Begriff des Tieres überhaupt untergeordnet, sondern einer ver­
hältnismäßig sehr kleinen Ecke des Tierreiches, eben den höhe­
ren Wirbeltierstämmen, die zugl[eich] Säuger sind, eingeord­
net wird. Und das geschieht auch dann noch, wenn man ihn
mit Linné die sog. Spitze des Wirbel-säugetierreiches nennen 30
zu dürfen glaubt (es ist das sehr bestreitbar), da auch die Spitze
eines Turmes z. B. doch wohl ein Teil des Turmes ist. (Aufrechter
Gang, Eigenart des Gehirns und viele and[ere] Merkmale). Aber
völlig unabhängig von diesem Begriff, bezeichnet dass[elbe]
Wort »Mensch« in der Sprache des Alltags und zwar bei allen 35
Völkern etwas so total Anderes, daß man kaum ein anderes
5a|6a Methodisches 131

Wort finden wird, bei dem eine analoge Doppeldeutigkeit (und


zwar ohne jedes Bewußtsein derselben) vorliegt wie hier. Das
Ding Wort soll nämlich auch bezeichnen, d. h. einen Begriff von
Dingen, den man dem Begriff des Tieres überhaupt aufs schärf­
5 ste entgegensetzt[,] und zwar dem umfassenden Begriff, allen
Säuge- und Wirbeltieren nicht weniger als dem vom Infuso­
rium Stentor, | obgleich doch nicht wohl bestreitbar ist, daß das
Mensch Genannte, unvergleichlich ähnlicher ist einem Schim­
pansen (morpholog[isch], physiolog[isch], psychologisch) als
10 etwa einem Infusor[ium]. Es ist klar, daß dieser zweite Begriff
Mensch einen völlig anderen Sinn haben muß, einen anderen
Ursprung und ein anderes Ziel möglicher Anwendung, als der
erste, da ja nur der Mensch im ersten Sinne nur eine sehr kleine
Ecke des Säugetierstammes besetzt. Welches der richtige Sinn ist,
15 – ja ob es solchen gibt – ist Sache unsres Vortrags. Hier möchte
ich nur geistesgeschichtlich bemerken, daß dieser zweite Begriff
metaphysischer, religiöser, theolog[ischer] Herkunft ist, heiße er
nun animal rationale oder Adam oder sonstwie. Er bezeichnet
nicht eine Tatsache, sondern ein Problem und eben das Pro­
20 blem dieses Vortrags. Ich will ihn »Wesens­begriff« nennen im
Gegensatz zum natursyst[ematischen] Begriff 1. (Der einzige,
rein empirische Versuch Alsbergs, dieses Kriterium zu finden
in der Organausschaltung[,] betrachte ich als mißlungen[sic]).
(Eine zweite Vorfrage ist : Mensch ist ein Werden. Ist das
25 Wesen des M[enschen] zu suchen (und s[eine] Sonderstell[ung])
in den höchsten Exemplaren, z. B. im Genie, das nicht erblich
ist wie das Talent und das einen bes[onderen] Überschwang des
Geistes ü[ber] das Leben und den vital gebundenen Geist zeigt
(wie Schopenhauer, Hegel u. A.), ferner im M[enschen] höch­
30 ster Kulturzeitalter oder im Primitiven – dem »Geradenoch­
menschen« ? Gibt es einen Wesensuntersch[ied] von M[ensch]
und Tier und damit ein Recht auf den Begriff II, so würde
man sagen müssen, daß dieses Wesen in den prägnantest[en]
Exemplaren am reinsten erscheint – alles Andere nur, z. B. die
35 Mental[ität] der Primitiven dieses Wesen zwar besitzt, aber ver­
hüllt und noch ganz eingesenkt in das Leben. Gibt es aber kei­
132 Darmstädter Einleitung 6a|7a

nen [Wesensunterschied] – so würde es uns umgek[ehrt] in Irr­


tum führen, von hohen Exemplaren auszugehen, da sie die lang­
same quantit[ative] | Steigerung des Tieres zum Menschen zu
verhüllen geeignet wäre. Soll die gewählte Methode nicht schon
das Resultat heimlich antizipieren, so müssen beide Meth[oden] 5
angewandt werden[,] und nur wenn sie zu gemeinsamen Resul­
taten führen, kommt der Theorie Bedeutung zu. (Verhalten).
Vom Wesen, nicht vom Ursprung ist auszugehen.)
Dies vorausgeschickt, will ich nun das Problem der Sonder­
stellung nach drei Richtungen hin betrachten : 1.) Wie verhält sich 10
der Mensch zu Tier und Pflanze, also zur untermenschl[ichen]
Natur hin. Hat er hier eine wesenh[afte] Sonderstellung oder
nicht und welche ist sie. Wesensfrage vor Urspr[ung] und Con­
stit[ution] (Leben usw.). 2.) Wie weit kommt ihm ein Sonder­
ursprung zu und eine vor allen Lebewesen ausgezeichnete 15
Zukunft ? 3.) Besitzt er eine Sonderstellung zum Grunde aller
Dinge und was ist sein ausgezeichnetes Verh[ältnis] zur »Gott­
heit«. (Metaphysik des Menschen, einschließ[end] die Fragen
nach Freiheit, Unsterblichkeit etc.[)]
49 | 50 Freiheit 133

Freiheit

V.) Gehört zur met[aphysischen] Sonderstellung des Menschen


so Etwas wie Freiheit und Unsterblichkeit ? |
Freiheit ! Das ganze All ist – wenn wir das Wort Freiheit
5 zunächst rein im obj[ectiven] Sinne gebrauchen (obj[ective]
Möglichk[eit]), in dem es Physiker gebrauchen, wenn sie etwa
von den »Freiheitsgraden eines Systems reden« – ist von unten
nach oben, dem Electron bis zum Menschen hin betrachtet und
bis zum »Grunde« gleichzeitig eine sprunghafte Zunahme von
10 1.) Gestaltgesetzlichkeit, 2.) Individualität und 3.) Freiheit in die-
sem Sinne. Eben das, was wir steigende Freiheit im Sinne der
Indetermination des Daseins nennen, ist aber zugleich steigende
Notwendigkeit des »Wesens«. Die theoret[ische] Physik erwägt
heute den durch die Quantentheorie und Quantenmath[ematik]
15 nahegelegten Gedanken, ob nicht sogar in den letzten Mikro­
vorgängen ontologisch der Zufall und nur für die statistische
Betrachtungsform das Gesetz herrscht. Freytag[,] Weyl : Kau­
salitätskrisis. Würde sich dieser Gedanke, dem manche Phy­
siker (Franck, Reichenbach) nahe stehen (Einstein und Planck
20 bestreiten ihn noch) durchringen, so wäre das Problem gewal­
tig vereinfacht. Franck, Reichenbach. Der bisherige Begriff des
»Naturgesetzes« wäre auch von dieser Seite her vital-relativ
geworden. Kein Kausalmonismus. Nur noch den Gestaltgeset­
zen käme dann ontologisch Notwendigkeit zu, denjenigen
25 Gesetzestypen, die die positive Wissenschaft seit Desc­artes als
Seins-Gesetze bestritt. Der Mensch wäre als Geistwesen frei,
sofern und soweit er aus der Wesensnotwendigkeit seiner indi-
viduellen Person will und handelte; und da die Person ein Act­
centrum ist des Geistes der ewigen Substanz, soweit er in der

1 Aus dem Heft B.I. 2, das fast das gleiche Format wie B.I.17 hat, S. 49–
51; Abschrift: CA. XI.17, 18–21, mit Abweichungen veröffentl.in GW 12,
215 – 217. Freiheit mit Rotstift nachträglich am oberen Seitenende ein-
getragen. 2 V.) ] Am äußeren Rand von S. 49 zusätzl. mit Bleistift ein-
getragen: 5.) 13 Notwendigkeit des »Wesens« ] Am Heft-Innenrand:
s[iehe ] Blatt.
134 Freiheit 50 | 51

Richtung der Ideen und Werte (Deitas) des göttl[ichen] Geistes


innerh[alb] s[einer] ind[ividuellen] Best[immung] will und han­
delt. Seine Freiheit fiele mit Wesens- und Gottgeistgebundenheit
zusammen.
Für den emp[irischen] Menschen ist Freiheit in diesem Sinne 5
nur eine Möglichkeit. Diese Möglichkeit wäre seine Sonderstel­
lung : die nicht eindeutige Determination durch den Inbegriff
aller endliche[n] Tatsachen und Dinge. Da der Wille nur negativ
ist in bezug auf Handlung (non fiat oder non non fiat)[,] wäre in
diesem Sinne auch seine Freiheit mehr die einer Unterlassung als 10
eines Tuns. Der Handelnde [ist] immer gewissenlos. Dazu tritt
aber, daß der Grad, | in dem ein Mensch sich tats[ächlich] frei
verhält, abhängig ist von seiner Sublimationshöhe. Der Mensch
ist essentiell frei = undeterminiert durch endl[iche] Caus[alität].
Faktisch frei (und posit[iv]) nur soweit, als er sich befreit. Der 15
essent[iell] freie Mensch kann sich de facto frei machen. Es war
ein Irrtum bisheriger Fragestellung betr[effs] des Freiheitspro­
blems, die Menschen unterschiedslos und in gleichem Sinn als
willensfrei oder willensunfrei anzusehen (als gleichsterblich
oder unsterblich im Sinne sempiterner Dauer.) Das geistige 20
Princip, die Vernunft[,] gibt dem Menschen wohl die essentielle
Möglichkeit, »frei« zu werden im negativen Sinne (frei wovon),
nicht aber irgend einen Grad tats[ächlicher] Freiheit und Freiheit
im positiven Sinne (»frei wozu«). Erst durch die Energiezuleitung
nach außen hin gestauter Triebenergie an Geist und Vernunft 25
entsteht eine faktische und posit[ive] Freiheit – die Freiheit, sein
indiv[iduelles] geistiges pers[önliches] Wesen am Material des
psychophys[ischen] Organismus zu verwirklichen; sein Leben zu
vergeistigen und s[einen] Geist zu verleiben und zu verwirk­
lichen. Freiheit im pos[itiven] Sinne, Determiniertheit durch 30
das eigene ind[ividuelle] pers[önliche] Wesen und Selbstsamm­
lung im Geiste des Urgrundes und hierdurch partielle Teilhabe
an der ewigen Freiheit und Sichselbstsetzung des Ens a se fallen
dann zusammen. Frei ist gut. Eine Freiheit »gegenüber Gott«
gibt es nicht. Ebenso wenig eine Freiheit gegenüber einer vollen 35
adaequaten Werteinsicht (oder daß ein Wert höher sei wie ein
51 | 52 Unsterblichkeit 135

Anderer) oder gar der eigenen indiv[iduellen] Wesensbestim­


mung gegenüber gibt es nicht. (Hartmann : Ethik). Auf dem
Höhepunkt des möglichen geistigen Lebens verschwindet daher
die Wahlfreiheit, die in Kleinem das Tier schon besitzt[,] und
5 tritt die Haltung ein : »Hier stehe ich, ich kann nicht Anders.«)
Prinz[ipiell] richtig Hegel : Fortschritt in posit[iver] Freiheit.
(Soz[ial] pol[itische] Fr[eiheit].)

Unsterbl[ichkeit]

1.) Unst[erblichkeit] des Lebens. Einzellige altern. 2.) des Gei­


10 stes.
Eine indiv[iduelle] pers[önliche] Unsterblichkeit der Seele im
Sinne des theist[ischen] Systems haben wir abzulehnen, schon
da die Seele und die Seele und Person keine »Substanzen« sind.
Eineiige Zwillinge. Mendelsche Gesetze. Der psychoph[ysische]
15 Organismus ist nur ein geordnetes Bündel der Functionen des
einen univ[ersellen] Lebens; eine Durchgangsstelle seiner rhyth­
mischen und in diesen Rhythmen an Functions[regungen ?]
wachsenden Action und Bewegung. Aber da eben dieses Alle-
ben wächst und solidarisch | wächst in allen Lebensindividuen,
20 Arten, Gattungen, Stämmen, Ordn[ungen], Reichen, so ist auch
keine einzige Anstrengung des Lebens, kein spontaner Lebens­
aktus von der Pflanze bis zum Menschen als Lebewesen ohne
eine metaphysische Folge für das Urseiende selbst. Eine dynami­
sche Folgewirkung metaphysischer Art hat also auch der abge­
25 schlossene Lebensprocess jeder Pflanze, jedes Tieres – nicht nur
empirische Wirkungen in der Veränderung der Erdrinde. Geist :
1.) Ewiges Leben in der Zeit. 2.) Unsterbl[ichkeit] im zeith[aften]
Sinn. Aber auch der Mensch, in dem zum »Leben« der Geist

8 Unmittelbar an den Abschnitt über Freiheit anschl.: B.I.2, 51–55; Ab-


schriften: CA.XI.17, 21–26, mit Abweichungen veröffentl. in GW 12, 217–
219. Unsterbl[ichkeit] mit Rotstift nachträgl. zw. die Zeilen geschrieben.
10 1.) … Geistes. ] Eintrag am inneren Rand des Heftes B.I.2, 51.
136 Unsterblichkeit 52 | 53

und zwar in Form individueller Actcentren geordneter Acte des


ewigen Geistes hinzutritt, – ist zwar als Person nicht »sempi-
tern« unsterblich, wohl aber in dem Maße des Lebensprocesses
des Ind[ividuums] überdauernd – überdauernd als individuiertes
(wenn auch keineswegs substantielles) »Actcentrum in Gott«, 5
d. h. in dem Attribut des göttlichen Geistes –, als die Person
Lebensenergie in sich aufnahm, das Leben also sich zu geistiger
»Energie« sublimierte. Goethe. Der Mensch als solcher besitzt
nur die ess[entielle] Möglichkeit zu dieser ind[ividuellen] geisti­
gen Nachdauer, deren Verwirklichung ganz abh[ängig] ist vom 10
Maße seiner erworbenen Freiheit, also auch seiner Action. Goe­
the (Gespr[äche] m[it] E[ckermann]) sah tief und richtig, daß
die Nachdauer abhängig ist von der Macht der »geistigen Entele-
chie« (wie er [in den] Gespr[ächen] mit Eckermann sagt) : »Aber
es muß auch die rechte sein«, [da] auch die[se] Unsterblichkeit 15
nicht sempitern ist, und nicht Allen in gleicher Weise zugeteilt.
Daß das transcendente Schicksal des Menschen nicht [(] Po­-
sit[ivismus][)] abhängen kann von einem »Tropfen heißen Öls«,
das seinen Organismus von außen zerstört (Pascal), das ist
sicher und gewiss ! Die Linien unseres Schicksals[,] uns[erer] 20
geistigen Activität und Taten haben eine Bedeutsamkeit hin­
aus über die Geschichte dieser Erde und die empirische Kultur
und unsere armen zurückbleib[enden] Werke, die so leicht von
Motten und Würmern zernagt werden; zwar nicht ihrem Sinn[-]
(und Wertgehalt nach, wohl aber in den materiellen Trägern, 25
welche Träger sie für emp[irische] Menschen der Zuk[unft]
kenntlich machen.)
7.) Die Überdauer der geist[igen] Kulturwerke über Men­
schen und Völker hinaus ist kein sog. Ersatz der pers[önlichen]
Fortwirkung in der Gottheit. Wiss[ens] Soz[iologie] In dieser 30
Negat[ion] haben die posit[iven] Religionen recht. Aber ebenso
wenig besteht ein Anlaß, eine sempit[erne], selbst[ändige,] | d. h.
vom Sein des Weltgrundes unabh[ängige] subst[anzielle] Fort­
existenz der Person anzunehmen, die für alle Menschen die-
selbe wäre – ob sie tierähnlich oder gottähnlich gelebt haben. 35
Tropfen im Meer s[einer] Identität. Der ewige Geist mag seine
53 Unsterblichkeit 137

individ[uellen] Selbstconzentrationen wieder lösen (sie sind ja


nur eine Act-ordnung), wenn sie ihre Bestimmung erfüllt und zur
Selbstverwirklichung Gottes ihren Beitrag geleistet haben. Gott
ist nicht »in« irgend einem Himmel : Sondern da, wo der ewige
5 Geist ist[,] d. h. in der Spannweite der Wirksamkeit seiner Güte,
Weisheit – da eben ist »Himmel« – sei’s auf Erden oder sonst wo.
Die Person aber ist, webt und wirkt in unendl[ichen] Formen
in den Attributen der ewigen Substanz – wie das Leben. (Kann
und Soll, Goethe und Kant.). Postulat bei Kant. Verb[indung]
10 Actmet[aphysik] und trans[cendentaler] Schluß.
Wofür man lebt !
3.) Erst seit ich nach zeitweiser Befangenheit im theist[ischen]
System – heute ist mir diese Zeit meines Lebens eine Irrfahrt –
zu der hier kurz gegebenen Überzeugung über das Wesen vom
15 M[enschen] und das, was man gemeinh[in] Gott nennt – kam,
weiß ich[,] wofür ich als Mensch lebe. Nicht für das allein, was
ich um mich sehe, höre oder erschließe. Hillel : Wenn ich nicht
f[ür] m[ich] b[in], – wer ist d[ann] f[ür] m[ich]. Wahrlich aber
auch nicht für immer so wenig bekannte Dinge wie für die
20 »Zukunft meines Volkes« oder der irdischen oder der »kos­
mischen Menschheit«. Auch das Leben der irdischen Mensch­
heit als Gattung ist kurz bemessen, – kurz auch das Leben und
Dasein unseres Planeten im Werden und Verschwinden der
Sternenwelten; auch dieses nur der Secunde eines Menschen­
25 lebens oder weniger noch vergleichbar. Der Positivismus, der
nichts weiter weiß : »Für die humanité« ! Er läßt meine Vernunft
so unbefriedigt wie mein Herz.
Das theist[ische] System selbst ist tiefer. (Aber meine Ver­
nunft und mein Herz vermag es ebenso wenig zu befriedigen.
30 Es ist von der Erf[ahrung] der Weltgeschichte aus überholt. Ein
Gott, der eine Welt und das Leben bis zum M[enschen] schuf –

11 Wofür man lebt! ] Ein Kreuz in der Mitte der Seite lässt vermuten,
dass Scheler diesen Satz als Überschrift der folg. Ausführungen verstan-
den hat. 12 Absatz am Innenrand des Heftes mit einem roten Strich
markiert.
138 Unsterblichkeit 53 | 54

ohne innere Notwendigkeit – der dem Menschen Vernunft und


Freiheit gab und unzerstörb[are] Seelen, schon vorwissend[,]
wie sie sich betragen werden, sie dann bestraft, belohnt – je nach
dem sie sich betragen, erscheint mir unannehmbar, er scheint
mir mehr der Gott einer Kinderschule oder eines moral[ischen] 5
Gymnasiums zu sein, als der Gott dieses Wetter | sturmes, den
wir die Welt nennen.) Nein[,] die Welt und der Mensch und
s[eine] Geschichte muß mehr sein wie das »Schauspiel« und die
Gerichtsdomäne für einen ewigen abs[oluten] vollkommenen
Gott. Sie muß für das Schicksal der ewigen Substanz irgend­etwas 10
bedeuten !) Aber wenn ich innerh[alb] dieses Systems frage :
»Wofür lebe ich«, so ist seine einzige immer wiederkehrende
Endantwort : Für Dich, für Dich, für Dich ! für deine sog. »ewige
Seligkeit« und um sie als Preis zu finden dafür, daß ich Gott
wohlgefiel. (Aber ein Gott, der Nichts will, als daß ich ihm wohl­ 15
gefalle : Er gefällt mir nicht wohl !) Ich vermag nur für Etwas zu
sein und zu leben, das mehr ist wie ich selbst und das hinaus
geht über mich ! Aber ich muß doch »für« dieses Sein leben kön­
nen und das vermag ich nicht gegenüber einem Sein, das ewig
schlechthin vollkommen, gut, weise und allmächtig ist ! Seine 20
Idee wirft mich immer wieder zurück auf mich selbst ! »Für« Gott
leben[,] das kann nur heißen, mit ihm, in ihm kämpfen und sie-
gen, – was an mir ist – für seine Selbstverwirklichung und »für«
seine volle werdende Selbstverleibung im Processe der Welt. (Die
Welt »eine« – eine der unendl[ich] vielen Geschichten der Gott­ 25
heit, ein minimaler Ausschnitt seiner Bio[-] und Idiographie !)
Der Mensch als das Wesen, in dem und durch das der Ur­-
grund sich erfaßt und als Gottheit sich verwirklicht : Das gibt
allen Menschen – wer sie auch seien und wo sie auch wohnen im
Kosmos – ein und dasselbe Ziel, für das zu sein wert ist und wert 30
zu leben. (Ich vermisse die Einheit, den Ernst und die Würde
dieses Ziels im Theismus wie in allen Formen des Naturalismus
und Positivismus.)

27 Absatz am äußeren Heftrand von S. 54 durch einen roten Strich mar-


kiert.
54 | 55 Unsterblichkeit 139

(Denke nur ich so : Nein ! Es ist viel zu wenig bekannt, daß


wenigstens in der gleichen Richtung Alle oder fast Alle in
unserem Weltall denken und gedacht haben, die überhaupt
unabh[ängig] von Traditionen sich selbständige Gedanken |
5 meta­ph[ysischer] Art gemacht haben. Lege ich folgende drei
sehr allgemeine oberste metaph[ysische] Principien fest, in
deren noch ungeheuer weiten Maschen noch die verschieden­
sten metaph[ysischen] Sonderlehren Platz haben :
1.) Der Weltgrund ist werdend (nicht notw[endig] in der
10 Zeit)[,] nicht abs[olut] vollk[ommen];
2.) Das Werden des Weltgrundes steht in gegens[eitig] soli­
darischer Abh[ängigkeit] vom Weltgeschehen und seines
Mikrokosmos Geschichte, der Weltgeschichte des Menschen.
3.) Er kann als purer Geist nicht allmächtig sein, sondern
15 muß ein lichtes und dunkles, ein geistiges und nicht-geisti­
ges Princip in sich tragen, auf deren Entspannung der Welt­
proceß beruht,

so will ich wenigstens ein paar der Namen von M[enschen] nen­
nen, die im Rahmen dieser Denkart heute lebten und dachten.
20 Wahrlich nicht, um mich zu decken durch diese Namen. Das
habe ich nicht nötig – und Einer könnte recht haben in diesen
Dingen und Alle Anderen unrecht : Stimmenzahl und Demo­
cratie bedeuten hier Nichts und Alles die Wahrheit. Sondern
um an Beispielen zu zeigen : Wie sehr Menschen, deren Bedeu­
25 tung ohne Frage ist, in die Richtung derselben Idee vom Grund
der Dinge und vom Verh[ältnis] des Menschen zu ihm denken.
Da darf ich – ich spreche nicht von lange Toten wie Meister
Eckehart, Boehme, Spinoza, Fichte, Hegel, Schelling, E. von
Hartmann und Anderen –  : In Deutschland die Philos[ophen]
30 Stumpf, E. Becher, H. Schwarz, L. Ziegler, W. Rathenau, in
Frankr[eich] Bergson.
[In] Engl[and] Wells.

32 Wells. ] Nachträglicher Bleistifteintrag von Maria Scheler.


140 Entwurf der Vorrede  | 4 v

Entwurf der Vorrede

Von vielen Seiten wurde mir der Wunsch ausgesprochen, daß


mein in Darmstadt gelegentlich der Tagung der Schule der Weis­
heit gehaltener Vortrag »Die Sonderst[ellung] d[es] Menschen«
als Sonderdruck erscheine. Diesem Wunsche wird in diesem 5
etwas erweiterten Abdruck entsprochen. Die Erweiterung
bezieht sich auf das am Schlusse angedeutete metaphysische
Problem des Menschen und zw[ar] auf die Begriffe »Freiheit«
und »Unsterblichkeit«. (Daß das dem Vortrag zugrundeliegende
Manuskript, dessen Vorlesung im Vortrag selbst stark gekürzt 10
werden mußte, eine durch die Tagung der Schule der Weisheit
veranlaßte Modification erfahren habe, beruht auf einem Irr­
tume des H[errn] Grafen Keyserling. Es lag (einschließlich der
Erweiterung in diesem Sonderdruck vor der Tagung genau so
vor, als es hier abgedruckt ist.) 15
Die Arbeit stellt eine kurze und sehr gedrängte Zusammen­
fassung meiner Anschauungen über einige | Hauptpunkte der
»Philosophischen Anthropologie« dar, die ich seit Jahren unter
der Feder habe und die im Winter 1928 erscheinen wird. Die
Frage »Was ist der Mensch« hat mich seit dem ersten Erwa­ 20
chen meines philos[ophischen] Bewußtseins währ[end] mei­
ner Münchner Gymnasialz[eit] wesentlicher und centraler
beschäftigt als jede andere philos[ophische] Frage, – so lange,
bis schließlich seit etwa dem J[ahre] 1922 der Großteil fast aller
»meiner« philos[ophischen] Probleme in ihr coincidierten. 25
Will der Leser die Entwicklung meiner Anschauungen über
Philos[ophische] Anthropologie kennen lernen, so empfehle ich
ihm nacheinander zu lesen :

1 Zwei lose Blätter (linierte Heftseiten 16,3 × 20,6 cm) in B.III.31h, auf der
Vorderseite paginiert mit rotem Stift als Blatt 4 und 5. Text bis auf einige
mit Bleistift geschr. Zeilen auf der Rückseite von Bl. 5 mit Tinte geschrie-
ben. 4 Menschen« ] Die von Scheler angeführte Fn. enthält nur: S[iehe];
folgen sollte vermutlich die bibliogr. Angabe des Bandes »Der Leuchter«
(Bd. 8, 1927) mit den Seitenangaben von Schelers Vortrag.
4v|5 Entwurf der Vorrede 141

1.) Die Idee d[es] M[enschen] (zuerst erschienen in der Z[ei]t-­


schr[ift] »Summa« 1916), 2.) Zur Ideengeschichte auch »Res­
sentiment im Aufbau d[er] M[oralen]«, 3.) Formalismus in der
Eth[ik] und d[ie] m[ateriale] W[ert]E[thik], S. [leere Stelle für
5 Ergänzung] 4.) Vom E[wigen] i[m] M[enschen] : S. [leere Stelle
für Ergänzung] 5.) Wesen und F[ormen] d[er] S[ympathie] S.
[leere Stelle für Ergänzung] 6.) Soziologie d[es] W[issens] und
Arb[eit] und E[rkenntnis] in »Die Wiss[ens]f[ormen] und die
Gesellschaft«, S. [leere Stelle für Ergänzung] 7.) Mensch und
10 Geschichte (N[eue] R[undschau] [leere Stelle für Ergänzung], jetzt
auch [leere Stelle für Ergänzung]) 8.) Die Wissensf[ormen] und
die Bildung. 9.) Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs. Von
einer neuen Seiten [sic] habe ich ferner die Frage anzupacken
und zu fördern gesucht in meinen in Köln gehaltenen Vorlesun­
15 gen über Philos[ophische] Pr[obleme] d[er] Biologie (2 mal [leere
Stelle für Ergänzung]), Philos[ophische] Anthropologie (2 mal),
Unsterblichkeit ([leere Stelle]), Tod und Altern; Philos[ophie]
und Psychoanalyse; ferner in meinen »Seminaren« über »Leib
und Seele und Entwicklungspsychologie«. Meine langj[ährigen]
20 Forschungen über die descendenztheor[etische] Problematik
d[es] M[enschen] habe ich in Vorles[ungen] eing[ehend] vorge­
legt, jedoch noch nicht in Druckschr[iften] veröffentlicht. Auch
diese Schrift berührt diese Frage nicht.
Zu meiner tiefen Befriedigung und Freude sehe ich heute, daß
25 die Frage »Was ist d[er] M[ensch]« heute geradezu in den Mit-
telpunkt aller philos[ophischen] Problematik in Deutschl[and]
getreten ist und daß die philos[ophischen] Grundfr[agen] der
Medizin, der Psychologie, | der Wertwiss[enschaften], der Bio­
logie, der Geschichtslehre, der Soziologie (der Metaphysik und
30 Religionsphilos[ophie]) sich immer mehr auf sie hinwenden.
Die Selbstproblematik des Menschen hat in der Gegenwart ihr
Maximum aller bisherigen Geschichte erreicht.

23 nicht ] auf dem unteren Rand von Bl. 5 in Fortsetzung der nachträgl.
Text­ergänzung.
142 Entwurf der Vorrede 5|5v

Es ist mir als hätten wir erst heute den vollen Ernst der Wahr-
haftigkeit erreicht, sie ohne alle bisher übliche halb- und vier­
telsbewußte Traditionsbindung aufzuwerfen, andererseits aber
auch die posit[iv]wiss[enschaftlichen] Grundlagen, um es allsei­
tiger und gründlicher zu tun, als es je geschah. – 5

Max Scheler

Von gedruckten Arbeiten, die nach diesem Vortrag in deutscher


Sprache zum Problem der philos[ophischen] A[nthropologie]
erschienen sind, nenne ich vier :
1.) M[artin] Heidegger : »Zeit und Sein«, ein überaus origina­ 10
ler Versuch, die Ontologie des Menschen (d. h. seine Weise,
zu »sein«), herauszuarbeiten.
2.) H[elmuth] Plessner :
3.) Peter Wust : Die Dialektik d[es] Geistes :
4.) C[arl] Fries : Pflanze und Tier ([unausgeführte Klammer][)] 15
Die erste und vierte dieser Arbeiten sind vom Verfasser unab­
hängig. Wie weit die 3te Arbeit von Peter Wust vom Verf[asser]
abhängt, ist durch | den Leser selbst leicht festzustellen, wenn er
das Buch »Die Dial[ektik] d[es] G[eistes]« und die oben genann­
ten älteren Arbeiten des Verf[assers] nebeneinander liest. Viel 20
schwieriger und Im Großen G[anze]n ist sichtbar, aber undurch­
sichtiger im Einzelnen ist[sic] die Art der Abhängigkeit des
Plessnerschen Buches : »Die Stufen des Org[anischen] und der
Mensch« 1928 von meiner anthrop[ologischen] Gedankenwelt.
Des Verfassers Der Verfasser selbst berührt die Frage im Vor­ 25
wort s[eines] Buches in einer Art und Form, die mir wenig genü­
gend erscheint, das wahre Maß der Abhängigkeit festzustellen.
Das gilt insbes[ondere] f[ür] 3. und 4. seiner Aufgabe, Methode
und alle wesentlichen Resultate seiner »Theorie der organischen
Wesensmerkmale« (s[iehe] bes[onders] 3. und 4. Kap[itel]) sind 30
in einem Maße nachweisbar gleichartig mit den in meinen Vor­
lesungen in Köln geäußerten Gedanken und Sätzen, daß ich

31 nachweisbar ] nicht ausgeführte Fn.


5v Entwurf der Vorrede 143

unter Voraussetzung der Wahrhaftigk[eit] des Verfassers ihm


das klare Bewußtsein vom Maße s[einer] Abhängigkeit von mei-
nem Gedankenkreis absprechen muß. Das viele Neue, Bedeut­
same und Förderliche s[eines] Buches für die Philos[ophische]
5 Anthropologie, auf das ich in meiner »Grundlegung« noch
öfters zu sprechen kommen muß, werde dadurch nicht ver­
ringert.
144 [ Disposition Anthropologie ]

[ Disposition Anthropologie ]

I. 1.) E
 inleitung : Fragwürdigkeit des Menschen. Anarchie
der Lehren; Geschichtsauff[assungen]; Trad[itionelle]
philos[ophische] Anthropologie.
2.) Probleme und Methoden. Kritik des Begriffes »Mensch« 5
3.) Gesch[ichte] des Selbsterlebens des Menschen.
(Ethnol[ogie], große Kulturen)
4.) Gesch[ichte] der Ideen – bes[onders] im Abendlande.
Stenzel, Dilthey.
5.) Die gegenw[ärtigen] V Ideen. Kritik (mit »Nietzsche«, 10
­K lages, Gesetz usw., N[eue] Rundschau), E. v. Hartmann
II. A. Die Constitution des Menschen
1.) D  ie Seinsweisen des Menschen und ihre Einheit.
»Wesen des Wesens«, »Imago Dei.« (Krit[ik] falscher
Lehren, Kritik Heidegger) 15
2.) P  hänom[enologie] des Lebens und »Wesen des
Anorg[ani­schen]«. Axiomata.
3.) Die Pflanze, das Tier, der Mensch in wesens­ph[äno­
menologischer] Betr[achtung]
4.) Altern und Tod. Geburt. S[iehe] dort[ ?]. 20
5.) »Körper«, »Leib«, »Seele«, »Geist« ­(Bewußtsein[,] Un-
Unter- Neben-Vorbew[ußtsein]), Person. Die Grund­
formen des seel[ischen] L[ebens- ?]Zusammen[hangs ?]
6.) D  as psychophys[ische] Problem und das des Menschen
insbes[ondere] 25
7.) D
 as noetisch[ ?]-biolog[ische] Problem α) Trieblehre
β) Geistlehre. [(]Sublimirung)

1 B.I.2, 56; Abschriften: CE.II.4 a–c; Maria Scheler in CE.II.4b, Rand­


notiz: Ist keine ›Disposition‹ sondern je unter den Hauptpunkten lose
Aufreihung der ›Probleme‹; CE.II.4 a und c hat sie jedoch von »Dispo-
sition« gesprochen und auf eine »ältere Disposition« in Heft 1 verwie-
sen: gemeint ist die Anthropologievorlesung von 1925 (GW 12, S. 16–23)
11 Rundschau ] Scheler verweist auf seinen Aufsatz »Mensch und Ge-
schichte«.
[ Disposition Anthropologie ]  145

8.) D  as charakterolog[ische] Problem und der Lebenslauf.


B. Die Monopole.
9.) D  ie monopolen Leistungen des Menschen : S[iehe; folgt
leer gelassene Stelle].
5 Die monopolen Verhaltungsweisen : Spielen
 Die Acte und Functionen (R[aum] Z[eit], Wahrn[eh­
mung], Intellekt, Geist, Gefühlsleben, Wille, Wal,
­Ausdruck, Handl[ung] usw.)
 Das Constitutionsproblem : die »geist-vital-anorg[ani­
10 sche] Einheit«. Centrenlehre.
10.) Der Mensch als morpholog[ische] Einheit
11.) Der Mensch als physiolog[ische] Einheit
12.) Der Mensch als energet[ische] Einheit.
13.) Der Mensch im Ganzen des Kosmos.
15 III. Das Problem vom »Ursprung des Menschen«.
A. Antinomik der Anthropologie.
B. 1. Christl[ich]-Jüd[ische] Lehre; Tierischer Ursprung,
2. Allg[emeines] zur Evolutionslehre
3. die heutigen Lehren (Schwalbe – Dacqué) II. Wärme­s[atz].
20 Astron[omischer] M[ensch]
IV. Das Weibliche und Männliche. Die Menschenracen.
V.    Der Mensch im Horizont der Geschichte : Der Mensch als
geschichtl[iches] und soziales Wesen (Verbind[ung] d[er]
­Geister) [Das] And[ere] Ich.
25 1. Urgeschichte und Ethnologie
2. Der Mythos.
3. Entwicklungsschrittgesetze (Entwicklungspsychologie).
4. Hist[orische] Kausalordnung und Altern d[er] Kulturen
5. Struktur der Weltgeschichte
30 6. E
 inseitige Geschichtslehren : Fortschritt, Wachst[um];
Décadence und der Gewinn.
(Vgl. mit 5 Ideen)

32 Ideen) ] Scheler verweist auf seinen Aufsatz »Mensch und Geschichte«.   


146 1|2

Sublimirung

1.) Die »höheren« Weisen des Seins – denen je höhere Werte


entsprechen – sind allesamt von niedrigeren »fundirt«, lassen
sich aber aus diesen nicht herleiten. Sie haben je ihre Ein-gesetz­
lichkeit. Gleichwol sind sie die urspr[ünglich] »schwächeren«. 5
2.) Sublimirung ist Kraftaneignung des höheren Seins (Sein
höh[eren] Seins) aus den Kräften des niedrigeren Seins. Der
Geist ist das schlechthin urspr[ünglich] energielose, der
Drang als Inbegriff der Kraftzentren[,] der »Electronen«[,] das
ursprünglichste Kraftreservoir alles Seienden. 10
3.) Erste Sublimirung ist die Aneignung der anorg[anischen]
Energie durch die Lebensfunctionsbündel.
4.) So ist der Begriff [der Sublimierung] zu verallgemeinern.
5.) Die niedersten Zentren sind reine »willkürliche« Kraftein­
heiten, deren Felddur[ch]dringung die reine »homog[ene] con­ 15
t[inuierliche] Ausdehnung« erzeugt.
6.) Vorgang der Sublimirung und Vorgang der Ideirung fal­
len zusamen.
7.) Die Einleitung der Sublim[ierung] geschieht durch woll­
endes Vor-Zeigen und Verbergen von Bildern. Der Drang, dem 20
nichts gezeigt oder verborgen wird, bleibt gestaut, ist potentiell. |
Anderseits suchen die Dränge nach Trieben, die Triebe nach Bil­
dern, die Bilder nach Ideen.
8.) Der Sublimirungsvorg[ang] (als Vitalvorgang) im Men­
schen ist teils subj[ectiv], teils objectiv (»Vergehirnlichung«); 25
aber dieser Proceß ist ein Teilproceß des Weltprocesses selbst,
der stete Sublimirung urspr[ünglich] »blinder« Kräfte ist und
zugleich Realisirung von Ideen.
1 Aus einem Notizheft wie B.II.64 herausgelöste Seiten 11,9 x 19,2 cm,
liniert, unpaginiert, beidseitig mit Tinte beschrieben, mit einzelnen nach-
träglichen Ergänzungen und Unterstreichungen mit Bleistift. Am oberen
Rand von S. 1 eine Notiz Maria Schelers: »Anliegend Heft 17 S. 71«. Ab­
schrift: CE.XVII.11.
2 | 3  Sublimirung 147

9.) In der posit[iven] Forschung ist »Kraft« nur Hülfsbegriff.


Er kann zugunsten des Gesetzes ausgeschaltet werden.
10.) Der Übergang zu Pflanze, von Pflanze zu Tier ist bereits
Sublimirung. (Ver-innerung des Seins).
5 11.) Alle Sublimirung beruht auf Hemung und Enthemung
von je weniger gestaltges[etzlich] geregelten Kräften in der vor­
schwebenden Richtung auf eine »Gestalt«, die niemals ableitbar
ist aus der Gestaltges[etzlichkeit] der niedrigen Kräfte.
12.) Aus geistidee[-] und geistwertblindem Drang (indiff[e­
10 rent]) sehenden, differenten [Drang] zu machen, ist alle Subli­
mirung gerichtet.
Er ist [ein] steter Versuch, Conflikte zu lösen, – eine Tendenz
zu »Harmonie«. (S[iehe] Leop. Ziegler). Homo ist harmoni­
sir[endes] Sein: Univ[ersum] oppositorum.
15 X 13.) Sublimirung in der Geschichte: Ideen werden mit den
ihnen adaequaten Interessen verkoppelt und werden damit
Kraftideen – ein historischer Bewegungszug nach … |
14.) Die »Drangsale« suchen ihre Erlöser. Die Ideen suchen
ihre vollstreckenden Kräfte.
20 15.) Phantasie ist so urspr[ünglich] wie der Drang selbst und
die Qualitäten sind ihre Bausteine. Die Qualit[äten] sind so
antagonistisch wie die Triebe [(]Farbencontrast[)] Die Werte
der Qualitäten sind das Ausdrucksalphabet des Dranges. Der
Körper als Bild ist nicht »Wirkung« des Kraftzentrums (Punkt
25 des Zusammenlaufens der Linien)[,] sondern dessen Aus-
druck.
16.) Perceptio findet statt zw[ischen] zwei Drangsubj[ecten]
im Maße, als sich der äußere und innere Drang »einen«. (S[iehe]
Phil[osophie] d[er] Wahrn[ehmung]) An der Subj[ectivität] der
30 Sinnesqualit[äten] ist trotz der Identit[ät] von Qual[ität] und
E[mpfindungs]inhalt festzuhalten. Gegen Koffka.
17.) An der praestabilirten Harmonie ist der Irrtum: 1.) Die
Statik. Die Welt ist ein Teil des göttl[ichen] Harmonirungsvor­
gangs 2.) Der Idealismus und Spiritualismus, der den Ernst, das
35 Leiden, die Tragik nimt 3.) Der Pluralismus, der [einen] Wider­
streit in der Einheit des Dranges nicht denken kann.
148 Sublimirung 3–5

18.) Sein (in Weltrichtung gesehen)[,] das unterste[,] klimt


langsam, stetig, unter Leiden und Schmerzen, die sich häufen[,]
aber den Vorgang der Sublim[irung] steigern[,] in Gottrichtung
vor. Welt und Gott sind Richtungen dess[elben] Werdens. |
19.) Die Verdräng[ung] ist nicht Ursache der Sublim[irung], 5
sondern die Einleit[ung] der Sublim[irung] zum geschauten
Ideal ist Urs[ache] der Verdrängung.
20.) Aber der Wille hemt nicht die Triebimpulse direkt – eben­
sowenig enthemt er sie. Seine einzige Kraft ist das Vorzeigen und
Verbergen. Geht er direkt auf den Trieb – so entfacht er des­ 10
sen Intensität. Das ist die Wahrheit von Baudouin (Gesetz des
[ frei gelassene Stelle ]). Dann ist Suggestion, Selbstsuggestion,
»Glaube daß« soviel stärker wie »Wollen«. (James: Wille zum
Glauben).
X 21.) Alles Menschenwollen im Untersch[ied] vom tier[ischen] 15
Walakt – ist ideen[-] und wertgemäße Lenkung der Vorstellun-
gen und Projecte – keineswegs Wirken auf das Triebleben selbst.
Der Kampf geg[en] die eigenen Triebe – entfacht sie nur. Das
ist die Erf[ahrung] des Paulus, des Luther, des James, des Bau-
douin. Das Erste ist: Sein »Es« »dulden« lernen – Sichdulden – 20
und dann ihm langsam durch die fortschreitende Erfüllung des
eig[enen] Charakters ihm »zeigen«, was es vermag.
22.) Die »List der Idee« Hegels gibt der Idee eine Macht, die
»Leidenschaften« in ihrem Sinne zu combiniren und zu trenen. |
Diese Macht besitzt Geist und Idee nicht. 25
23.) Schopenh[auer] wiederum und Freud (neg[ative] Theorie)
lassen den Geist überh[aupt] nicht eingreifen bei Verdrängung;
sie halten den Vorgang für automatisch und den Urspr[ung] des
höh[eren] Bew[ußtseins] für seine Folge. Wie soll der Lebens­
w[ille] sich verneinen – ohne daß es etwas gibt[,] das: 30
1.) Verneint
2.) Um Anderes zu bejahen.
X 24.) Jetzt erst versteht sich der Grundirrt[um] der Teleologie
und des Mechanismus zugleich. S[iehe] dazu: Hartmann (Kate­
gorienproblem, Ethik). Der Mechanistiker und Positivist sucht 35
5 | 6  Sublimirung 149

das Sein der höheren Seinsart (und Wertart) abzuleiten aus dem
Seienden der niederen Seinsform: [Er] Verkennt a) Eigenwesen
b) Eigengesetzlichkeit. Der Teleologe macht umgekehrt aus dem
Sein der höheren Seinsf[ormen] eine Urs[ache] und Kraft – bis
5 [zum] ens a se. Beides ist falsch ! Die höhere Seinsart tritt in
Erscheinung, »offenbart« sich – wenn ihre fundirenden Seinsbe­
dingungen geg[eben] sind. Aber sie sublimirt dann die in ihren
Seinsbed[ingungen] steckende »Energie«. |
X 25.) Die Menschwerdung ist der letzte Actus der Subli­
10 mirung des Weltprocesses, den wir bisher kenen. Triebaskese
und Vergehirnlichung sind nur zwei Erscheinungen dess[elben]
Processes.
26.) Begriffe von Über-sublimirung und Resublimirung.
27.) Sublimirung des Dranges und Realisirung des Wesens
15 und Wertes ist im Ens a se und der Hinordn[ung] von Drang und
Geist aufeinander selbst angelegt. Die Welt ist eine Geschichte,
die strebt – das Realsein und das Ideasein zu einigen und zu har­
monisiren. Die Harmonie an den Anfang zu setzen (Theismus
des allm[ächtigen] Geistes) ist so irrtümlich, als die Tendenz zur
20 H[armonie] zu leugnen.
28.) Zu untersuchen bleibt: der Sublimirungsvorg[ang] zw[i­
schen] den Arten der Energie und ihren materiellen Erschei­
nungsformen im Bereich des Anorg[anischen]: Electron, Atom,
Molekül, Krystallisation, flüssige Krystalle, Bio-gen (physio­
25 l[ogische] Einheit der Function); die Richtung des Energiewan­
dels ist I.) die Richt[ung] von der leb[endigen] Kraft – zum Licht
(strahlender Energie). II.) Von Materie-bild[ender] Energie zu
imat[erieller] Energie. Vgl. E. v. Hartm[ann], Nernst, W. Stern
(Wärmetod und Messung der Energie am techn[ischen] Prin­
30 cip). Licht als Bedingung der Erfahrbarkeit der Welt für Lebe­
wesen überind[?ividueller Natur].
Anmerkungen zu Text und Fußnoten

3,1 Die Vorrede wurde 1947, S. 7 – 8 und 1949, S. 9 – 10 nur in ge­


kürzter Fassung abgedruckt; vollständig erst wieder 1962, S. 5 – 7.
3,19 Max Scheler: Die Sonderstellung des Menschen, in: Mensch
und Erde, hrsg. vom Grafen Hermann Keyserling, Schule der Weis­
heit, Darmstadt 1927 (Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensge­
staltung, 8. Buch), S. 161 – 254.
3,23 – 27 Max Scheler: Zur Idee des Menschen, in: Der lose Vogel,
hrsg. v. Franz Blei, Leipzig 1913, Heft 10 – 12, S. 338 – 351; H. 1 – 12 in ei­
nem Band, Leipzig 1914. Überarbeitet und erweitert in Scheler: Ab-
handlungen und Aufsätze, Leipzig 1915, Bd.  1, S. 317 – 367; zweite Auf­
lage unter dem Titel: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen
und Aufsätze zweite durchges. Auflage, 2 Bde., Leipzig 1919, Bd.  1,
S. 271 – 312; jetzt GW  3, S. 171 – 195.
3,27 f. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in:
Vom Umsturz der Werte, Bd.  1, S. 43 – 236, jetzt GW  3, S. 32 – 147. Der
Aufsatz erschien ursprünglich unter dem Titel: Über Ressentiment
und moralisches Werturteil. Ein Beitrag zur Pathopsychologie der
Kultur, in: Zeitschrift für Pathopsychologie 1 (1912), H. 2/3, S. 268 – 368,
umgearbeitet und erweitert unter dem Titel: Das Ressentiment im
Aufbau der Moralen, in: Abhandlungen und Aufsätze, Leipzig 1915,
Bd.  1, S. 39 – 274.
3,28 – 4,1 Von Schelers Hauptwerk: Der Formalismus in der Ethik
und die materiale Wertethik erschien der erste, kürzere Teil (Abschn.
I – III) 1913, der zweite Teil (Abschn. IV – VI) 1916, der erste Teil in
Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. v.
Edmund Husserl, Bd.  1, S. 405 – 565, der zweite Teil in Bd.  2, S. 21 – 478,
beide Teile zusammen als Monographie, Halle 1916; die 2. Aufl. der
Monographie erschien 1921, die 3. Aufl. 1927, jetzt GW  2. Eine kriti­
sche Neuausgabe, hrsg. v. Christian Bermes unter Mitarbeit von An­
nika Hand, erschien in Hamburg 2015 (PhB 657).
Die Seitenangabe 927 ist ein Druckfehler, die 3. Aufl. umfasst nur
648 S. Die Seiten 109 ff. beziehen sich auf den Abschnitt III: Materiale
Ethik und Erfolgsethik, GW  2, S. 127 ff.; S. 278 ff.: Abschnitt V,4: Rela­
tivität der Werte auf den Menschen, GW  2, S. 275 ff.; S. 340 ff.: Abschn.
152 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

V,8: Zur Schichtung des emotionalen Lebens, GW  2, S. 331 ff.; S. 384 ff.:
Abschn. VI: Formalismus und Person, GW  2, S. 370 ff.
Das Sachregister zur 3. Auflage wurde auf Grund des allzu um­
fangreichen Sachregisters, das Herbert Leyendecker für die zweite
Auflage (1921) ausgearbeitet hatte, in einer gekürzten Fassung von
Schelers Assistent Herbert Rüssel erstellt (31927, S. 621 – 646).
4,1 – 3 Die erste Auflage des Buches Wesen und Formen der Sym-
pathie erschien unter dem Titel: Zur Phänomenologie und Theorie der
Sympathiegefühle und von Liebe und Hass, Halle 1913. In der zweiten,
erheblich erweiterten Auflage erhielt es den neuen Titel, die 3. Aufl.
erschien 1926 in Bonn, jetzt in GW  7, S. 7 – 258.
4,5 – 8 Der Vortrag »Mensch und Geschichte« erschien in: Die
Neue Rundschau 37 (1926), Bd.  2, S. 449 – 476, als Broschüre mit dem
gleichen Titel im Verlag der Neuen Schweizer Rundschau 1929, jetzt
GW  9, S. 120 – 144.
4,8 – 10 Das Buch: Die Wissensformen und die Gesellschaft er­
schien 1926 im Neue Geist Verlag, Leipzig, jetzt in GW  8.
4,10 – 12 Max Scheler: Die Formen des Wissens und die Bildung,
Bonn 1925, jetzt in GW  9, S. 85 – 119.
4,13 – 18 Max Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs,
in: H. Lichtenberger, J. Shotwell, M. Scheler †: Ausgleich als Aufgabe
und Schicksal, mit einem Vorwort von E. Jäckh (Politische Wissen­
schaft, H. 8), Berlin-Grunewald 1929, S. 31 – 63, jetzt in GW  9, S. 145 –
170.
In einer Anmerkung zu »Verlag W. Rothschild, 1928« führt Maria
Scheler in der 6. Auflage der Kosmos-Schrift 1962, S. 95 die neuen
Auflagen der von Scheler genannten Schriften an: »Die kleineren in
der Vorrede des Verfassers zitierten Arbeiten ›Mensch und Ge­
schichte‹, ›Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs‹ (vom Verfasser
geänderter Titel) und ›Die Formen des Wissens und die Bildung‹ (vgl.
dort die eingehenden Anmerkungen, in denen der Verfasser auf­
schlussreiche Hinweise auf die geplanten Werke ›Philosophische An­
thropologie‹ und ›Metaphysik‹ gibt) sind nach dem Tode des Verfas­
sers in Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, veröffentlicht
worden; unter dem gleichen Titel in den Dalp-Taschenbüchern
Bd.  301, Francke Verlag. Die Aufsätze werden in Bd.  9 der Gesammel-
ten Werke aufgenommen werden«, der erst nach ihrem Tode (1969)
erschienen ist.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 153

4,20 Über die »Grundlagen der Biologie« hat Scheler nicht in


Köln, sondern im WS 1908/09 an der Universität München gelesen
(vgl. das Vorlesungsskriptum, veröffentlicht in GW  14, S. 257 – 361). In
Köln hat Scheler hingegen gelesen über »Das Problem von Leib und
Seele« (Zwischensemester 1919 und SS 1926), »Allgemeine Psychologie
(mit Einschluss des Leib-Seele-Problems)« im SS 1922, über die »Ent­
wicklungsstufen der Seele in der Natur« im SS 1924 und über »Das
Wesen der Lebenserscheinungen« im WS 1926/27. Vgl. die Anm. zu
S. 141,14 – 23.
4,21 Über »Grundzüge der Philosophischen Anthropologie« hat
Scheler in Köln im SS 1925 und über »Philosophische Anthropologie«
im WS 1927/28 gelesen. Aufzeichnungen zur Vorlesung von 1925 in
GW  12, S. 5 ff.
4,21 f. Über die »Grundfragen der Erkenntnislehre« hat Scheler in
Köln gelesen im SS 1920, über die »Einleitung in die Philosophie (zu­
gleich Einführung in die Erkenntnistheorie der Gegenwart)« im WS
1921/22, über die »Grundzüge der Erkenntnistheorie (mit bes. Be­
rücksichtigung der Erkenntnistheorie der Metaphysik)« im SS 1926
und über die »Theorie der Erkenntnis (mit bes. Berücksichtigung der
Probleme und Wege der Metaphysik)« hat Scheler an der Universität
Frankfurt im SS 1928 zu lesen begonnen.
Über die »Probleme der Metaphysik« las Scheler in Köln im WS
1921/22, über »Metaphysik (Erster Teil)« im WS 1923/24, über »Meta­
physik (Zweiter Teil)« im SS 1924. Vgl. Schelers Aufzeichnungen dazu
in GW  11, S. 11 – 71.
4,28 – 33 Die Fußnote wurde in der 4. Auflage 1947, S. 10 gestri­
chen. Für die Seitenverweise vgl. oben Anm. zu 3,28 – 4,1.
7,6 – 8 Zum Gedankenkreis der jüdisch-christlichen Tradition vgl.
ausführlicher: »Mensch und Geschichte«, in GW  9, S. 124 f. und
GW  12, S. 36 – 44.
7,8 Mit dem »Fall« ist der Sündenfall des Menschen gemeint.
7,8 – 17 Zum griechisch-antiken Gedankenkreis vgl. ausführlicher:
»Mensch und Geschichte«, in GW  9, S. 125 – 129 und GW  12, S. 31 – 35.
7,17 – 24 Zum naturwissenschaftlich-positivistischen Gedanken­
kreis vgl. ausführlicher: »Mensch und Geschichte«, in GW  9,
S. 129 – 134; vgl. auch GW  12, S. 45 ff.
8,25 Carl von Linné (1707 – 1778), schwedischer Naturforscher:
Vollständiges Natursystem, 9 Bde., Nürnberg 1773 – 1776. Linné war
154 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

der erste, der den Menschen in das zoologische System aufnahm, aber
nur vom morphologischen Gesichtspunkt aus, so dass die traditio­
nelle Auffassung der Sonderstellung des Menschen im Aufbau der
Natur unangetastet blieb.
8,30 Die Fußnote wurde von der 4. Auflage 1947 an gestrichen.
9,25 Zum Aufsatz »Zur Idee des Menschen« vgl. die Anm. zu
3,23 – 27. Der Aufsatz ist in Umsturz der Werte nicht in Bd.  2, sondern
in Bd.  1, S. 271 – 312 wieder abgedruckt worden.
9,26 Da sich Scheler von allen traditionellen, »unter sich ganz un­
vereinbaren« Bestimmungen des Wesens des Menschen losgesagt hat
(S. 7,3 f.), ist es fraglich, ob er wirklich noch an dem Nachweis von des
Menschen »Ebenbildlichkeit mit Gott« aus seinem Aufsatz von
1913 festgehalten hat – sein Gottesbegriff hat sich stark gewandelt.
11,21 – 22 Scheler spielt an auf Gustav Theodor Fechner: Nanna
oder über das Seelenleben der Pflanzen, Leipzig 1848, vierte Aufl. mit
einer Einleitung von Kurd Laßwitz, Hamburg/Leipzig 1908. Unter der
Voraussetzung eines zugleich allgegenwärtigen, allwissenden und
allwaltenden Gottes erstreckt sich Fechner zufolge die Beseelung über
die gesamte Natur, »und es wird nichts in der Welt aus dieser Besee­
lung herausfallen, weder Stein, noch Welle, noch Pflanze«. (S. 1) Ähn­
lich äußert sich Fechner in: Die Tagesansicht gegenüber der Nachtan-
sicht, Leipzig 1879, S. 87 ff. Wenn Scheler in seiner Fußnote es für
willkürlich hält, dem Anorganischen Psychisches zuzuschreiben,
widerspricht er seiner eigenen Metaphysik, in der er die Welt als Leib
Gottes auffasst; ein Leib ist stets ein beseelter Leib. In seiner Schrift:
Über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die un-
sichtbare zu finden (1861, 2. Aufl. besorgt von Eduard Spranger, mit
einem Geleitwort von Friedrich Paulsen, Hamburg/Leipzig 1907) ver­
teidigt Fechner seine »Ausdehnung des Seelenreiches über die Men­
schen- und Tierwelt hinaus« (S. 23 ff.), insbesondere auch auf die Kri­
stalle und Gestirne. Scheler hat bedauert, dass Fechners Philosophie
»auf die gegenwärtige Philosophie eine nur geringe Wirkung ausge­
übt« habe; seine »eigentliche Metaphysik der ›Tagesansicht‹ und der
Allbeseelung hat leider lange nicht die Anregungskraft ausgeübt, die
ihr meines Erachtens innewohnt«. (Die deutsche Philosophie der Ge­
genwart, 1922, GW  7, S. 275)
12,14 – 16 Zu Schelers Auffassung der anorganischen Körper vgl.
bereits die Biologievorlesung von 1908 (GW  14), in der allerdings noch
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 155

nicht die anorganischen Körper als »transbewusste Bilder« aufgefasst


werden. In seiner Wahrnehmungslehre in »Erkenntnis und Arbeit«
schreibt Scheler: »Gewiss ist alles und jedes, was an einem Körper
überhaupt wahrgenommen, vorgestellt werden kann, nur ›Bild‹ und
Bildbestimmtheit. Das gilt für Ausdehnung, räumliche und zeitliche
Eigenschaften, Gestalt, Farbe, Härte usw. in völlig gleicher Weise;
auch Bewegung ist als Ortsveränderung oder Ortswechsel eines iden­
tischen Soseins nur Bild, und nichts als Bild.
Wir reden von ›Bild‹ oder ›objektiver Erscheinung‹ in einem dop­
pelten Gegensatz: Erstens im Gegensatz zu den allein realen – also
nicht erscheinungsmäßigen und nicht bildhaften – ›Kräften‹, deren
Manifestationen die ›Bilder‹ (und die metrischen raumzeitlichen Ver­
hältnisse derselben, ferner Ausdehnung und Gestalt) sind; ›Bilder‹
sind also hiernach bewusstseinstranszendent und völlig irreal zu­
gleich; zweitens im Gegensatz zu den Wahrnehmungsinhalten, deren
bewusstseinstranszendente Gegenstände die ›Bilder‹ sind – welche also
niemals in solchen Inhalten aufgehen.« (GW  8, S. 287) Vgl. auch die
Anm. zu 54,21.
12,21 – 13,2 Gustav Theodor Fechner: Nanna (1908), bes. Ab­
schnitt XIV: Näheres über die Constitution der Pflanzenseele. Fech­
ner spricht den Pflanzen zwar »Sinnlichkeit« zu, also sinnliche Emp­
findungen, Triebe (S. 235 f., 243, 246, 250 ff.) und sogar instinktartige
Lebensäußerungen (S. 101 ff., 245, 288), spricht ihnen aber alle »hö­
hern Seelenfunktionen« ab (S. 251; vgl. S. 233 ff.). »Die Pflanzen anlan­
gend, so meine ich selbst nicht, dass sie ein höheres, ein reflektives,
Bewusstsein irgendwelcher Art haben« (Fechner: Die Tagesansicht
gegenüber der Nachtansicht, 2. Aufl. Leipzig 1904, S. 88).
12,24 – 26 Hinter diesen Worten steht ein persönliches Erlebnis
Schelers. Im März 1926 hat er in Berlin zusammen mit dem Gestalt­
psychologen Max Wertheimer einen Zeitlupenfilm über das Wachs­
tum von Pflanzen angesehen: »Wunderbar war ein Pflanzenfilm, in
dem je 24 St. Pflanzenleben auf eine Stunde zusammengezogen ist
(war mit Wertheimer dort); man sieht die Pflanzen atmen, wachsen
und – sterben. Der natürliche Eindruck, die Pflanze sei unbeseelt,
verschwindet vollständig. Man schaut die ganze Dramatik des Le­
bens – die unerhörten Anstrengungen. Am schönsten waren Ranken,
die sich an vier nebeneinander gestellten Stangen aufreihen. Das stür­
mische ›Suchen‹ nach Halt, die ›Befriedigung‹, wenn sie die Stange
156 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

gefunden, die vergeblichen Versuche (oft sucht die Ranke an einer


anderen Ranke Halt, die ebenso haltlos ist, so dass beide zusammen­
brechen) und vor allem: die Erscheinung, dass – wenn die Ranke die
viertletzte Stange im Wachsen erreicht hat – sie ›verzweifelt‹ ins Leere
greift, sucht und sucht – bis (unerhört!) sie sich nach Misserfolgen
umwendet und zur vierten Stange zurückkehrt. Das erschütterte
mich so, dass ich mit Mühe die Tränen zurück hielt. O wie ist das
›Leben‹ überall gleich süß, zuckend – und schmerzhaft, Liebe, – und
wie ist alles, alles Leben Eins.« (an Märit 3.3.1926)
13,14 Anton Hendrik Blaauw (1882 – 1942), holländischer Botani­
ker: Die Perzeption des Lichtes, Nijmegen 1909.
13,18 Gottlieb Haberlandt (1854 – 1945), österreichischer Botani­
ker: Die Sinnesorgane der Pflanzen, Leipzig 1909 (Sonderdruck; Ana
315.Z.681). Haberlandt schreibt: »In der Anatomie und Physiologie der
Tiere werden solche Perzeptionsorgane für äußere Reize von alters
her ›Sinnesorgane‹ genannt, und zwar auch dann, wenn es, wie bei
den niederen Tieren, ganz ungewiss ist, ob diese Organe auch Aus­
löser von Empfindungen im psychologischen Sinne des Wortes sind.
Es ist nur konsequent, wenn man auch in der physiologischen Pflan­
zenanatomie die analogen Perzeptionsorgane als Sinnesorgane be­
zeichnet, zumal dieselben mit den betreffenden tierischen Sinnesor­
ganen oft eine weitgehende Ähnlichkeit der Bauprinzipien erkennen
lassen.« (S. 521)
14,15 In B.I.17, S. 4 formuliert Scheler als »allgemeine Lehre«:
»Nicht im Drang zur ›Macht‹, sondern Drang zu Fortpflanzung und
Tod ist die Tendenz des Lebens. (Freud – Adler, Nietzsche).« ›Der
Wille zur Macht‹ ist der Titel eines unvollendeten, späten Werkpro­
jekts von Friedrich Nietzsche, das von seiner Schwester, Elisabeth
Förster-Nietzsche, aus nachgelassenen Fragmenten kompiliert, als
sein philosophisches Vermächtnis ausgegeben wurde. In Schelers
Handbibliothek befindet sich die Ausgabe: Der Wille zur Macht. Eine
Auslegung alles Geschehens, neu ausgewählt und geordnet von Max
Brahn, Stuttgart 1921 (Ana 315.Z.1564), mit Besitzvermerk »Maria
Scheu« (= Maria Scheler), ohne Lesespuren – Scheler wird eine andere
Ausgabe benutzt haben.
15,13 Vgl. Aristoteles: Historia animalium, Buch V, 539a ff.
15,19 – 22 Zur Entstehung des reflexiven Bewusstseins im Unter­
schied zum ekstatischen Wissen vgl. Schelers gleichzeitig mit der
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 157

Kosmos-Schrift verfasste Abhandlung über »Idealismus – Realis­


mus«. Dort schreibt Scheler: »Bewusstsein wird Wissen aus seiner
ursprünglich ekstatischen Form des einfachen Habens von Dingen,
ohne Wissen des Habens und dessen, wodurch und worin gehabt
wird, erst, wenn sich der (wahrscheinlich erst dem Menschen mögli­
che) an ausgezeichneten Widerständen, Widerstreiten, Widersprü­
chen, auf alle Fälle aber an einem ausgeprägten Leiden erwachsende
Akt des Zurückgeworfenseins auf das Ich, wenn sich der ›actus re-
flexivus‹ einstellt, in dem zum Wissen um die Dinge ein Wissen um
das Wissen der Dinge, ferner ein Wissen um die Art des Wissens (z. B.
Erinnerung, Vorstellung, Wahrnehmung) und schließlich darüber
hinaus noch ein Wissen um den Ichbezug des vollzogenen Aktes – auf
den Wissenden – hinzutritt.« (GW  9, S. 189).
15,23 – 25 Scheler stimmt hierin mit dem Pharmazeuten und Bo­
taniker Alexander Tschirch (1856 – 1939) überein, der in seinem Vor­
trag Die Beziehungen zwischen Pflanze und Tier im Lichte der Chemie
(Stuttgart 1924; Ana 315.Z.187) die chemischen Talente von Tier und
Pflanze gegeneinander abwägt und zu dem Ergebnis kommt, »dass
die Pflanze nicht nur der in jeder Hinsicht originellere und gewieg­
tere Chemiker ist, sondern dass das Tier ohne pflanzliche Hilfe […]
überhaupt nicht zu existieren vermag«. (Vorwort) »Denn die Assimi­
lation des Kohlenstoffes und Stickstoffes ist vom Standpunkte des
Chemikers aus betrachtet eine so große, eine so bewunderungswür­
dige, aufbauende Leistung, dass sie mit nichts im Gebiete chemischer
Arbeit der Tiere auch nur annähernd verglichen werden kann.«
(S. 8 f.) Vgl. ebenso Hans André: Der Wesensunterschied von Pflanze,
Tier und Mensch, Habelschwerdt 1925, S. 31.
16,6 Charles Darwin (1809 – 1882), englischer Naturforscher: Der
Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier. Nach der Übersetzung
von Theodor Bergfeldt neu hrsg., ausgewählt und kommentiert von
Ulrich Beer, Düsseldorf 1964. Darwin gibt entgegen Schelers Darstel­
lung drei Prinzipien an, die ihm »für die meisten Ausdrucksformen
und Gebärden bestimmend zu sein scheinen, welche unter dem Ein­
fluss verschiedener Erregungen und Empfindungen beim Menschen
und den niedriger stehenden Tieren unfreiwillig zur Erscheinung
kommen« (S. 25):
1. Das Prinzip zweckdienlicher assoziierter Gewohnheiten, 2. Das
Prinzip des Gegensatzes, 3. Das Prinzip, dass Tätigkeiten der Verfas­
158 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

sung des Nervensystems entstammen, von Anfang an unabhängig


vom Willen und bis zu einem gewissen Grade unabhängig von der
Gewohnheit sind. Anschließend differenziert er seine Prinzipien an­
hand einer Fülle empirischen Materials aus dem Tier- und Men­
schenleben.
16,15 Zu »Bewußtsein der Empfindung« vgl. die Fußnote zu
15,26 f.: »Bewußtsein, der Empfindung«, so dass hier mit »Bewußt­
sein« und »Empfindung« zwei verschiedene Erkenntnisvermögen
gemeint sind.
17,9 – 11 Vgl. die Textanmerkung zu 16,14. Auf das bereits bei Tie­
ren, die in Gruppen leben, aber noch nicht bei Pflanzen zu beobach­
tende Doppelprinzip von Pionier und Gefolgschaft hat Scheler schon
früh hingewiesen, u. a. in seinen nachgelassenen Ausführungen zu
»Vorbilder und Führer«, GW  10, S. 260 f. In GW  8, S. 21, Fn. 2 beruft er
sich auf Gabriel Tarde, der in Les lois de l’imitation (1890, deutsch: Die
Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a. M. 2009) das Gesetz der weni­
gen Pioniere und der vielen Nachahmenden zuerst klargestellt habe.
17,22 Im Vortragsmanuskript B.I.17, S. 4 statt »Teilreaktionen«:
»Teilfunctionen«
18,20 »Andernorts« – Scheler verweist in Ts 2, S. 7 auf den Auf­
satz: Das Problem der Realität, in: Philosophischer Anzeiger, Bonn
1928. Er plante, den Aufsatz »Idealismus – Realismus«, der nicht 1927,
sondern erst Anfang 1928 in Heft 3 von Plessners Zeitschrift Philoso-
phischer Anzeiger 2, 1928, S. 255 – 324 (jetzt in GW  9, S. 183 – 241) er­
schienen ist, zu einer Monographie unter dem Titel: Das Problem der
Realität auszuarbeiten, die ebenfalls im Verlag Cohen erscheinen
sollte, wozu es aber nicht mehr gekommen ist. Die Abhandlung sollte
fünf Abschnitte umfassen, von denen die Abschnitte 2 und 3 im Phi-
losophischen Anzeiger a. a. O. veröffentlicht worden sind. Wichtige
ergänzende Zusätze aus nachgelassenen Manuskripten hat Manfred
S. Frings in GW  9, S. 243 – 304 veröffentlicht.
18,24 – 26 Die Abhandlung »Arbeit und Erkenntnis« (richtiger
Titel: ›Erkenntnis und Arbeit‹) ist in Scheler: Die Wissensformen und
die Gesellschaft (1926), GW  8, S. 191 – 382 erschienen. Zu »Das Problem
der Realität« vgl. oben die Anm. zu 18,20.
19,22 – 25 Vgl. Anm. zu 18,24 – 26.
19,26 – 30 Über die Analogie Weib/Pflanze und Mann/Tier äußert
sich Fechner in Nanna (1908), S. 261 f., »doch kommt es, wie in allen
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 159

solchen Fällen, nur auf die rechte Deutung an« (S. 263). Dies gilt na­
türlich auch für den Kulturvergleich Europa – Asien.
20,12 f. »Teleoklin«: Ein von Oskar Kohnstamm (1871 – 1917) einge­
führter Terminus für ziel- oder zweckgerichtetes Verhalten eines Or­
ganismus und vom Aufbau der Lebewelt überhaupt.
20,13 Zu den ersten Behavioristen unter den Psychologen, die
statt vom »Erlebnis« oder von der »Introspektion« von der Beobach­
tung des Verhaltens (»behavior«) der Lebewesen ausgehen, zählt
Scheler Conwy Lloyd Morgan (1852 – 1884), englischer Psychologe und
Zoologe, Edward Lee Thorndike (1874 – 1949), amerikanischer Psy­
chologe, sowie den amerikanischen Zoologen Herbert Spencer Jen­
nings; vgl. die Anm. zu 21,8 f.
20,18 »Ausdruck« ist ein Grundbegriff von Schelers Philosophie
des Lebens, also keineswegs auf den Ausdruck menschlicher seeli­
scher Innenzustände beschränkt. Auf dieser weiten Auffassung des
Ausdrucks beruht seine Lehre von der universalen Grammatik aller
Ausdrucksphänomene. Im Sympathiebuch heißt es: »Die Zusam­
menhänge zwischen Erlebnis und Ausdruck haben elementare Zu­
sammenhangsgrundlagen, die von unseren spezifisch menschlichen
Ausdrucksbewegungen unabhängig sind. Es gibt hier gleichsam eine
universale Grammatik, die für alle Sprachen des Ausdrucks gilt und
oberste Verständnisgrundlage für alle Arten von Mimik und Panto­
mimik des Lebendigen ist.« (GW  7, S. 22)
21,8 f. Herbert Spencer Jennings (1868 – 1947), amerikanischer
Zoologe, Anhänger des Pragmatismus von William James und John
Dewey: Das Verhalten der niederen Organismen unter natürlichen
und experimentellen Bedingungen (1906), Leipzig/Berlin 1910; vgl.
S. 383 ff. – Zu Jennings’ Kritik der Tropismentheorie vgl. Jennings
a. a. O., Kap. XIV. – Dazu Karl Bühler: »Der bedeutendste Fortschritt,
den die Psychologie der niederen Tiere im letzten Menschenalter ma­
chen konnte, war wohl die endgültige Überwindung der Tropismen-
theorie. Ich denke, niemand wird das Buch von Jennings aus der Hand
legen, ohne die Überzeugung gewonnen zu haben, dass hier der Be­
weis von der Unzulänglichkeit der Tropismentheorie Loebs und an­
derer bündig geworden sei.« Karl Bühler: Die Krise der Psychologie,
Jena 1927, S. 35 (Ana 315.Z.837); zu Bühler vgl. auch die Anm. zu 26,23.
Zum Prinzip von Versuch und Irrtum (»trial and error«) schreibt
Jennings S. 390, dass die »fundamentale und allgemeine Bedeutung«
160 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

der Probier- und Irrtumsmethode bereits früher erwiesen worden sei


von Edward Lee Thorndike: Animal intelligence. An experimental
study of the associative process in animals (Psychological Review, Mo­
nograph, Suppl. II, 1898), und von C. Lloyd Morgan: Animal behavior,
London 1900.
21,13 Friedrich Alverdes (1889 – 1952), deutscher Zoologe und Psy­
chologe: Neue Bahnen in der Lehre vom Verhalten der niederen Orga-
nismen, Berlin 1923 (Ana 315.Z.1200); Rassen- und Artbildung, Berlin
1921; Tiersoziologie, Leipzig 1925.
21,32 f. Jacques Loeb (1859 – 1924), deutsch-amerikanischer Bio­
loge: Comparative Physiology of the Brain and Comparative Psycho-
logy, New York 1900.
22,2 – 4 Auf die Verbindung, die zwischen der metaphysischen
Substanzenlehre und der modernen theoretischen Physik (Relativi­
tätstheorie, Quantentheorie) hergestellt worden ist, geht Scheler kurz
in »Probleme einer Soziologie des Wissens« ein (GW  8, S. 146 ff.);
zu seiner durch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik be­
gründeten dynamischen Theorie der Materie vgl. die Anm. zu 54,21.
22,10 – 12 Scheler bezieht sich in B.I.17, S. 9 auf Erich Becher: Die
fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen und die Hypothese
eines überindividuellen Seelischen, Leipzig 1917 (Ana 315.Z.375). Zu
Becher vgl. die Anm. zu 139,30.
22,23 – 23,1 Jean-Henri Fabre (1823 – 1915), französischer Entomo­
loge: Souvenirs Entomologiques, 10 Bde., Paris 1912. Auf dieses Werk
hat Scheler bereits hingewiesen in seinem Aufsatz »Zur Idee des Men­
schen« (1913): »Man versenke sich in die Natur des Instinktes, wie sie
z. B. J.-H. Fabre in seinen ›Souvenirs entomologiques‹ so präzis er­
forscht hat. Man wird finden: Instinkt ist der genau der Organisation
und den Organtätigkeiten und ihrer festen Folgeordnung entspre­
chende und sie gleichsam durchdringende Geist.« (GW  3, S. 184)
24,37 Zu Loeb vgl. die Anm. zu 21,32. Bei den »neueren Forschun­
gen« verweist Scheler in B.I.17, S. 11 auf Goldstein, Gurewitz, Weiz­
säcker. Gemeint sein könnten die Schriften: Berka Gurewitsch: Die
Entwickelung der menschlichen Bedürfnisse und die soziale Gliede-
rung der Gesellschaft, Berlin 1901. – Viktor v. Weizsäcker: Seelenbe-
handlung und Seelenführung nach ihren biologischen und metaphysi-
schen Grundlagen betrachtet, Gütersloh 1926. Zu Goldstein vgl. die
Anm. zu 103,23 – 28.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 161

24,37 ff.   Zur neueren Forschung, die die Existenz einfachster


Instinkte leugnet, vgl. Karl Bühlers Sammelreferat: Die Instinkte des
Menschen, in: Bericht über den IX. Kongress für experimentelle Psy-
chologie, hrsg. v. Karl Bühler, Jena 1926, bes. über den Behaviorismus,
S. 9 ff., und sein Buch: Die Krise der Psychologie, Jena 1927, S. 18 ff. Vgl.
auch die Anm. zu 26,23.
25,4 Herbert Spencer (1820 – 1903), englischer Philosoph, Auto­
didakt, mit dessen Hauptwerk A System of Synthetic Philosophy (dt.
Übers.: System der synthetischen Philosophie, 10 Bde., 1860 – 1882) sich
Scheler besonders vor dem ersten Weltkrieg intensiv auseinanderge­
setzt hat (vgl. die umfangreichen Materialien zu einem Vortrag über
Spencers Lebensbegriff im Nachlass, B.I.221). In den Principien der
Psychologie (Bd.  4 – 5 des Systems), autorisierte dt. Ausgabe, nach der
3. engl. Ausgabe übers. von B. Vetter, Bd.  1, Stuttgart 1882, Teil IV,
Kap. 5: Instinct, S. 451 – 463.
25,17 Vgl. Jennings 1910, Kap. XV: Ob das Verhalten der niederen
Organismen aus Reflexen besteht (S. 433 ff.); zu Friedrich Alverdes
vgl. die Anm. zu 21,13.
25,19 Zu Herbert Spencer vgl. die Anm. zu 25,4; in seiner Vorle­
sung: Philosophie des 19. Jahrhunderts (1920) ist Scheler nur sehr kurz
auf Spencers Philosophie eingegangen (GW  15, S. 120 – 122).
25,22 Wilhelm Wundt (1832 – 1920), deutscher Philosoph und Psy­
chologe, hält das Kapitel vom Instinkt für »eines der meist umstrit­
tenen in der Psychologie« (S. 423). Deshalb äußert er sich dazu auch
sehr viel vorsichtiger, als Scheler angibt. »So bleiben uns schließlich
nur noch zwei Annahmen als wirklich diskutierbare übrig: die eine,
nach der die Instinkthandlungen mechanisierte ganz oder teilweise
in Reflexe übergegangene sogenannte Intelligenzhandlungen sind,
und die andere, nach der sie vererbte, unter dem Einfluss der na­
türlichen Lebensbedingungen durch viele Generationen allmählich
­erworbene und veränderte Gewohnheiten sind. Beide Hypothesen
stehen offenbar nicht notwendig mit einander im Widerspruch.«
W. Wundt: Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele (1863),
2. um­gearb. Aufl. Hamburg/Leipzig 1892, S. 428 f. (Ana 315.Z.332).
Scheler besaß auch die 7./8., mit der 6. übereinstimmende Auflage
(Leipzig 1922, Ana 315.Z.932), die aber, zum Teil unaufgeschnitten,
nur wenige Lesespuren aufweist (in der 24. Vorlesung).
Scheler würdigte Wundt in der »Deutschen Philosophie der Ge­
162 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

genwart« (1922) als »letzten großen Systematiker der deutschen Phi­


losophie«, der aber wegen der Vagheit seiner Philosophie nur eine
relativ geringe Wirkung ausgeübt habe (GW  7, S. 273).
26,8 f. In B.I.17, S. 12 f. spricht Scheler statt von »Entwicklungspro­
dukten« von »Dissoziationsprodukten« und von »Zerfallsprodukten«
(»nicht im Wertsinne«) des tierischen Verhaltens.
26,23 Karl Bühler (1879 – 1963), Philosoph und Psychologe: Die
Gestaltwahrnehmungen, 1913 (Ana 315.Z.690); Die geistige Entwick-
lung des Kindes, Jena 1918; Die Krise der Psychologie, Jena 1927 (Ana
315.Z.837). K. Bühler sieht in Instinkt, Dressur und Intellekt die drei
Dimensionen sinnvollen Verhaltens von Tier und Mensch (1927, S. 21).
Vgl. K. Bühler: Die Instinkte des Menschen, in: Bericht über den IX.
Kongress für Experimentelle Psychologie, Jena 1926, S. 3 – 23.
Scheler bezieht sich auf das Sammelreferat von Charlotte Büh­
ler (1893 – 1974), (Entwicklungs-)Psychologin: Sozialpsychologie, in:
Bericht über den X. Kongress für experimentelle Psychologie, hrsg. v.
Erich Becher, Jena 1928, S. 3 – 23.
27,1 Zu Friedrich Alverdes vgl. die Anm. zu 21,13.
27,1 Frederik Jacobus Johannes Buytendijk (1887 – 1974), holländi­
scher Physiologe und Psychologe, mit Scheler befreundet: Psychologie
der dieren, 1920; Over het Verstaan der Levensverschynselen, Gronin­
gen 1925 (Ana 315.Z.297); Leerbock der algemene physiologie, 1927.
27,3 f. Statt »starr und artgebunden« schreibt Scheler in B.I.17,
S. 14: »sinnvoll aber starr«.
28,7 Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768), Anhänger Chris­
tian Wolffs: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere,
hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntnis des Zusam­
menhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst, Hamburg 1760.
– Mit einem Geleitwort von Ernst Mayr und einem einleitenden Essay
des Herausgebers unter Mitarbeit von Stefan Lorenz und Winfried
Schröder hrsg. v. Jürgen von Kempski, Göttingen 1982. In seinem ein­
leitenden Essay über »H. S. Reimarus als Ethologe« schreibt Jürgen v.
Kempski: »Aber die erstaunliche Modernität der ›Betrachtungen‹ des
Reimarus wird deutlich, wenn man sie mit der neuen Verhaltensfor­
schung seit Konrad Lorenz und Nicolas Tinbergen konfrontiert. Her­
mann Samuel Reimarus darf mit Fug und Recht als der erste Ethologe
gelten.« (S. 55)
28,12 Vgl. Paul Schilder: Medizinische Psychologie für Ärzte und
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 163

Psychologen, Berlin 1924 (Ana 315.Z.752), bes. Kap. II: Die Lehre von
der Wahrnehmung, S. 16 ff. – Paul Schilder, O. Kauders: Lehrbuch der
Hypnose, Wien/Berlin 1926, S. 30. – Vgl. auch P. Schilder: Über das
Wesen der Hypnose, Berlin 1922, S. 23 f.
29,8 Ewald Hering (1834 – 1918), deutscher Physiologe: Über das
Gedächtnis als eine allgemeine Function der organischen Materie
(1870), 2. Aufl. 1876 (Ana 315.Z.684). – Richard Semon (1859 – 1918),
deutscher Zoologe: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel
des organischen Geschehens, Leipzig 1904. – R. Semon ersetzte die
für seine allgemeine biologische Fragestellung zu engen Worte »Ge­
dächtnis« und »Erinnerungsbild« durch den Terminus »Mneme«,
worunter er »die Summe der Engramme« versteht, »die ein Organis­
mus ererbt oder während seines individuellen Lebens erworben hat«
(S. 20). Als »Engramm« bezeichnet er die »bewirkte Veränderung der
organischen Substanz«, die ein Reiz hervorgerufen hat. Schelers Kri­
tik trifft also Semons grundsätzlicheren Ansatz nicht genau.
29,9 Aristoteles: Über Gedächtnis und Erinnerung, in: Aristote­
les: Werke in deutscher Übersetzung, Bd.  14, Teil II: De memoria et re-
miniscentia, übers. und erläutert von R. A. H. King, Darmstadt 2004.
30,8 Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 – 1936), russischer Mediziner,
Physiologe, Nobelpreis für Medizin 1904: Die Arbeit der Verdauungs-
drüsen. Vorlesungen. Autoris. Übers. aus d. Russ. v. A. Walther. Mit
e. Vorw. und Zusätzen des Verf., Wiesbaden 1898. – Auf einer frühen,
undatierten Heftseite bezeichnet Scheler Pawlow als den Begründer
der Biophysik, durch die die Biologie als Wissenschaft von den Le­
bensprozessen mit der Physik als Wissenschaft von der toten Natur
verbunden werde (B.III.35, Bl. 40).
31,22 Zum Assoziationsgesetz von Berührung und Ähnlichkeit
vgl. das Formalismusbuch, Abschn. VI, A 3,g: Apriorisch materiale
Prinzipien der erklärenden Psychologie (GW  2 , S. 421 ff.); auf das
Ähnlichkeitsprinzip geht Scheler S. 439 ff. ein.
32,8 – 20 Diese Zeilen wiederholen Aussagen, die Scheler in seiner
Vorlesung über die Philosophie des Todes (1923/24) über das Altern
des psychischen Organismus vorgetragen hat: »Das Altern und Ster­
ben des psychischen Organismus nähert sich also dem Seelenbilde
an, das die Assoziationspsychologie vom Seelischen gibt.« (B.I.73, S. 5)
Beim Altern des leiblichen Organismus nähert dieser sich dem Bild,
»das die mechanische Physiologie vom Leben gibt«. (ebd.)
164 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

32,14 Zum Verhältnis zwischen »Empfindung« und »Reiz« im


Alter vgl. u. a. M. Scheler: Erkenntnis und Arbeit, in: GW  8, S. 323 ff.
33,15 – 17 M. Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens
(1926), jetzt in GW  8, S. 9 – 190. »Erkenntnis und Arbeit«, GW  8,
S. 191 – 382; Abschnitt V: Zur Philosophie der Wahrnehmung, S. 282 –
358.
33,29 f. Zu »beziehendes Denken« und »Oberseele« vgl. Otto Selz
(1881 – 1943), deutscher Psychologe und Philosoph: Über die Gesetze
des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersuchung,
Stuttgart 1913 (Ana 315.Z.22); ders.: Über die Gesetze des geordneten
Denkverlaufs, Teil II: Zur Psychologie des produktiven Denkens und
des Irrtums, Bonn 1922 (Ana 315.Z.667); ders.: Die Gesetze der pro-
duktiven und reproduktiven Geistestätigkeit. Kurzgefasste Darstellung,
Bonn 1924 (Ana 315.Z.1900).
34,25 f. Vgl. die Anm. zu 33,15 – 17.
35,20 – 36,1 Diese Passage wurde in GW  9, S. 26 als Fn. gesetzt.
– Paul Schilder/O. Kauders: Lehrbuch der Hypnose, Wien/Berlin
1926, S. 30. Vgl. zur psychoanalytischen Theorie der Hypnose auch
Paul Schilder: Über das Wesen der Hypnose, Berlin 1922, S. 23 f. und
ders.: Medizinische Psychologie für Ärzte und Psychologen, Berlin 1924
(Ana 315.Z.752), S. 214 – 223. Im Sympathiebuch bezeichnet Scheler
P. Schilders Buch Über das Wesen der Hypnose (1922) als eine »be­
achtenswerte Arbeit«, in der neue Forschungsergebnisse »auch in
anatomisch-physiologischer Hinsicht« zusammengetragen werden
(GW  7, S. 31, Fn. 3).
36,27 Scheler spielt an auf Friedrich Schiller: Wallensteins Tod,
Erster Aufzug, vierter Auftritt: »Denn aus Gemeinem ist der Mensch
gemacht, Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.«
37,31 f. Zur Kritik des Hedonismus vgl. Schelers Formalismus­
buch, Abschnitt V: Materiale Wertethik und Eudaimonismus, GW  2,
S. 246 ff.
38,4 f. Vgl. Franz Xaver von Baader (1765 – 1841), deutscher Phi­
losoph und Mystiker: »Der Mensch kann leider nur über oder unter
dem Tiere stehen, und selbst, nachdem er unter das Tier gefallen,
strebt er denn doch, dasselbe von unten herauf nach seiner Art und
zu seinem Zwecke zu beherrschen, wie er es eigentlich von oben herab
hätte sollen, und es zu missbrauchen.« (Über die Behauptung: dass
kein übler Gebrauch der Vernunft sein könne (1807), in: F. v. Baader,
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 165

Sämtliche Werke, hrsg. v. Franz Hoffmann, Bd.  1, Leipzig 1851, S. 36).


Vgl. hierzu Scheler, B.II.56, S. 44.
Schelling hat in seiner Freiheitsschrift der Auffassung Baaders
ausdrücklich zugestimmt (Werke I, Bd. VII, S. 373). Aus dieser Per­
spektive ist es missverständlich, was Scheler im Formalismusbuch
mit dem »bloß Menschlichen« gemeint hat: »Die sittlichen Werte
sind entweder weniger oder sie sind mehr als ein bloß ›Menschliches‹.
Ein spezifisch Menschliches können sie – auf alle Fälle – nicht sein.«
(GW  2, S. 280)
38,20 Der Abschnitt V. 2 des Formalismusbuchs behandelt »Füh­
len und Gefühle«, GW  2, S. 259 – 270. Maria Scheler verwies bei der
Vorbereitung der 6. Aufl. der Kosmos-Schrift noch auf das Sachregis­
ter zur 4. Aufl., die sie 1966 durch die 5., korrigierte Aufl. ersetzt hat.
38,32 – 34 Vgl. die Anm. zu 39,25 – 30.
39,25 – 30 Über Geschlechtstrieb und Geschlechtsliebe vgl. Sche­
ler: Wesen und Formen der Sympathie (1913/23), GW  7, S. 122 ff. – Die
Fragment gebliebene Abhandlung über ›Scham und Schamgefühl‹
wurde zuerst veröffentlicht in Scheler: Schriften aus dem Nachlass,
Bd.  1, Berlin 1933, S. 53 – 148; danach in GW  10, S. 65 – 147, mit Zusätzen
aus dem Nachlass, S. 148 – 154.
40,16 f. Wolfgang Köhler (1887 – 1967), deutscher Psychologe und
Gestalttheoretiker, von 1914 – 1920 Leiter der Anthropoidenstation der
Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa: Intelligenz­
prüfungen an Anthropoiden. I, in: Abhandlungen der Kgl. Preuss.
Akademie der Wissenschaften, Jg. 1917, Physikalisch-Mathematische
Klasse, Berlin 1917, S. 1 – 213. Zum Aha-Erlebnis vgl. Wolfgang Köhler:
Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, unveränd. Nachdruck der
zweiten, durchges. Aufl., Berlin 1963, S. 186. – In Schelers Handbiblio­
thek befindet sich von W. Köhler nur: Optische Untersuchungen am
Schimpansen und am Haushuhn, in: Abh. d. Kgl. Preuss. Akademie
der Wissenschaften, Jg. 1915, Phys.-math. Klasse, Nr. 3 (Ana 315.Z.551;
ohne Lesespuren).
Karl Bühler sieht im »Aha-Erlebnis« der Schimpansen noch kein
Zeichen ihrer Intelligenz: »Ich selbst habe vor etwa 10 Jahren erwach­
senen Menschen kurze, aber einigermaßen schwere, manchmal rät­
selartige Denkaufgaben gestellt, indem ich ihnen fremdartige Apho­
rismen und Sprichwörter zum Verstehen und Beurteilen vorlegte. Da
trat dann nicht selten diese Plötzlichkeit der Aufgabelösung ebenso
166 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

hervor. Die Versuchspersonen wussten das nicht besser zu beschrei­


ben, als dass sie sagten, mit einem inneren Aha! sei ihnen auf ein­
mal die Lösung aufgegangen, und ich habe jenen Ruck darum das
Aha-Erlebnis genannt [d. h. 1907]. Köhlers Schimpansen werden wohl
dieses Aha-Erlebnis oder ein Analogon dazu gehabt haben. Aber Ein­
sicht dürfen wir ihnen bloß darum noch nicht zuschreiben.« Karl
Bühler: Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1918, S. 280.
41,3 In B.I.17, S. 22 verweist Scheler auf Otto Selz: Gesetze des pro-
duktiven Denkverlaufs, womit gemeint sein kann Otto Selz: Die Ge-
setze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit, Bonn 1924
(Ana 315.Z.1900, keine Lesespuren), oder ders.: Über die Gesetze des
geordneten Denkverlaufs, Stuttgart 1913 (viele Lesespuren, vgl. Anm.
zu 33,29 – 30); und auf [Karl] Bühler, K.psych., d. h. auf Karl Bühler: Die
geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1918.
41,7 ff.   Zum Streit um Köhlers Experimente führt Scheler in
B.I.17, S. 23 folgende Autoren an: Kurt Koffka: Die Grundlagen der
psychischen Entwicklung. Eine Einführung in die Kinderpsychologie,
Osterwieck am Harz 1921 (Ana 315.Z.442); Otto Selz: Die Gesetze des
produktiven Denkverlaufs (vgl. Anm. zu 41,3); Erich Rudolf Jaensch:
Die Psychologie in Deutschland und die inneren Richtlinien ihrer
Forschungsarbeit, in: Jahrbücher der Philosophie 3 (1927), S. 93 – 168,
Lit. S. 334 – 340 (Ana 315.Z.687; vgl. Anm. zu 43,30 – 31); Bühler (vgl.
Anm. zu 41,3), Johannes Lindworsky (S.J.): Theoretische Psychologie
im Umriss, Leipzig 1926 (Ana 315.Z.791); David Katz: Der Aufbau der
Tastwelt, Leipzig 1925 (Ana 315.Z.282).
43,30 f. Erich Rudolf Jaensch (1883 – 1940), Psychologe und Phi­
losoph, mit Scheler seit Jenaer Studienzeiten befreundet: Die Eidetik
und die typologische Forschungsmethode, Leipzig 1925 (Ana 315.Z.697).
Vgl. auch die Anm. zu 41,7 f.f.
45,16 Charles Darwin (vgl. Anm. zu 16,6) lehnt einen Wesensun­
terschied zwischen Mensch und Tier ab: Die Abstammung des Men-
schen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871), übersetzt und heraus­
gegeben von Carl W. Neumann, Leipzig o. J. (1921).
45,16 Gustav Schwalbe (1844 – 1917), Morphologe und Anatom:
Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane, Erlangen 1887. Er gab ge­
meinsam mit Eugen Fischer das Handbuch Anthropologie (Die Kultur
der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele, hrsg. v. P. Hinneberg,
3. Teil, 5. Abtlg., Leipzig/Berlin 1923) heraus (Ana 315.Z.79).
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 167

45,20 Zu Schelers stark von Henri Bergson beeinflusster »homo-


faber«-Theorie vgl. Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft
(1926). Der homo-faber-Theorie zufolge ist der Mensch das Wesen,
»das Werkzeuge bildet und ein System von beweglichen und frei
kombinierbaren Zeichen erfindet, um vermittels dieser seine Umwelt
zu bearbeiten, resp. sich mit seinesgleichen über diese Bearbeitung zu
verständigen«. (GW  8, S. 448) In dieser Lehre kulminiere »die Bewe­
gung und der Geist des Pragmatismus« (ibid.).
46,21 Thomas Alva Edison (1847 – 1932), amerikanischer Erfinder,
u.a. einer verbesserten Kohlenfadenlampe, des Mikrophons, der An­
wendung der Dampfkraft zur Erlektrizitätserzeugung. Mit der posi­
tivistischen These, dass zwischen Tier und Mensch kein Wesensun­
terschied, sondern nur ein gradueller Unterschied bestehe, hat sich
Scheler bereits in seinem Aufsatz über die »Idee des Menschen« (1913)
auseinandergesetzt.
47,17 f. Julius Stenzel (1883 – 1935), Philosoph: Zur Entwicklung
des Geistbegriffs in der griechischen Philosophie, in: Die Antike.
Zeitschrift für Kunst und Kultur des klassischen Altertums 1 (1925),
S. 244 – 272. Stenzel hat seinem Aufsatz als Motto vorangestellt die
mit Schelers dualistischer Auffassung nicht in Einklang stehenden
Verse Goethes: »Denn das Leben ist die Liebe / Und des Lebens Leben
Geist.« J. Stenzel hat seine Untersuchung fortgesetzt in: Der Begriff
der Erleuchtung bei Platon, in: Die Antike 2 (1926), S. 235 – 257.
49,7 f. Schelers These von der durch den Geist im Menschen er­
folgten »Umkehrung« der Stellung des Tiers zur Natur stimmt struk­
turell mit der Lehre seines Doktorvaters Rudolf Eucken (1846 – 1926)
überein, auch wenn Eucken nicht Schelers radikale Trennung zwi­
schen Leben und Geist mitmacht. Eucken schreibt in Der Sinn und
Wert des Lebens (3., umgearb. u. erw. Aufl., Leipzig 1913): Das geistige
Leben des Menschen, aus dem der Aufbau einer ganzen Welt hervor­
geht, könne »unmöglich ein Erzeugnis der untermenschlichen Natur
sein. Erwies sich uns doch deutlich genug, dass jene Wendung [in das
Innere des Menschen] nicht ein bloßes Mehr, sondern dass sie etwas
völlig Neues, ja direkt Entgegengesetztes bringt, dass sie eine Um­
kehrung enthält; das aber bis in die Grundformen des Lebens, bis in
sein innerstes Gewebe hinein; eine solche Umkehrung kann nun und
nimmer aus allmählicher Steigerung hervorgehen« (S. 67). Vgl. auch
R. Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grund-
168 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

legung einer Weltanschauung (1896), 2., neugestaltete Aufl., Leipzig


1907, S. 113: »Es erfolgt eine große Wendung dadurch, dass beim Men­
schen ein Selbstleben innerhalb des Weltprozesses erwacht, dass hier
ein ursprüngliches Leben und Schaffen durchbricht, eine sich selbst
angehörige Wirklichkeit aufsteigt. […] Das aber verwandelt die Lage
von Grund aus und stellt gänzlich neue Aufgaben.« Zur Kritik dieser
»anthropistischen Richtung« vgl. Paul Alsberg: Das Menschheitsrät-
sel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden 1922 (Ana 315.Z.342),
S. 71 – 87.
51,9 – 11 Verdecktes Zitat, denn im Vortragsmanuskript schreibt
Scheler: »Treffend sagt mein Freund Buytendijk, ein ausgezeichneter
holländischer Physiologe und Tierpsychologe: das Tier lebt in seine
Umwelt hinein, die es wie eine Schnecke ihr Haus auf dem Rücken
trägt – aber es vermag diese Umwelt nicht zum Gegenstande zu ma­
chen.« (B.I.17, S. 32 f.)
52,5 Mit der Lehre vom Leibschema beruft sich Scheler vor al­
lem auf Paul Schilder: Das Körperschema. Ein Beitrag zur Lehre vom
Bewusstsein des eigenen Körpers, Berlin 1923 (Ana 315.Z.809): »Als
Körperschema bezeichne ich das Raumbild, das jeder von sich selber
hat. Man darf annehmen, dass dieses Schema in sich enthalte die ein­
zelnen Teile des Körpers und ihre gegenseitige räumliche Beziehung
zueinander.« (S. 2)
52,18 Das Tier habe keine »Reflexion«, schreibt Gottfried Wil­
helm Leibniz (1646 – 1716) in seinen Nouveaux Essais (Neue Versuche
über den menschlichen Verstand, 1704 verfasst, 1765 posthum er­
schienen), Teil II, Kap. IX: Die Tiere haben zwar Perzeption, dass
sie »aber nicht notwendigerweise denken, also Reflexion und das,
was deren Gegenstand sein kann, besitzen« (Philosophische Schrif-
ten Bd.  3, hrsg. u. übers. v. Wolf v. Engelhardt u. Hans Heinz Holz,
Darmstadt 1959, S. 155). In seiner Theodizee von der Güte Gottes, der
Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels (1710) schreibt
Leibniz im Vorwort, dass man im Instinkt und in den wunderbaren
Verrichtungen der Tiere Vernunft erkenne, »aber nicht in den Tieren,
sondern in dem, der diese geschaffen hat« (Philosophische Schriften
Bd.  2/1, hrsg. u. übers. v. Herbert Herring, Darmstadt 1985, S. 51). Vgl.
hierzu auch die Monadologie (1714), §§ 28 – 30. Die Nouveaux Essais
bildeten den Gegenstand eines der letzten Seminare von Scheler
(WS 1926/27).
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 169

54,4 f. Friedrich Nietzsche führt in der zweiten Abhandlung der


Genealogie der Moral (1885) die Jahrhunderte lange Entwicklung
der Moralbegriffe des Menschen auf das Problem zurück, ein »Tier
heranzüchten, das versprechen darf« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hrsg. v. G. Colli u. M.
Mon­tinari, Bd.  5, München 1980, S. 291 ff.).
54,21 Zu Schelers Lehre von den »Körperbildern« vgl. »Erkennt­
nis und Arbeit«. In GW  8, S. 293 heißt es: »Ein Körperbild ist eine in
den Schranken wesensgesetzlicher Regelung liegende je besondere
und einmalige Aufbauordnung von Soseinsbestimmtheiten (Gestalten,
Qualitäten usw.), die sicher nicht in der Organisation des Subjekts,
sondern in letzter Linie in einer bestimmten Konstellation dyna-
mischer Faktoren verwurzelt ist. Das Körperbild ist als solche Auf­
bauordnung weder eine bloße ›Summe‹ noch ist es gar – wie Hume,
Mach gemeint haben – eine Summe von Empfindungen.« Dazu S. 287:
»Die Körperbilder sind aber in ihrer Soseinsfülle dem menschlichen
›Bewusstsein von etwas‹ durchaus transzendent; sie können nur, in­
adäquat und teilweise, auch ›in mente‹ als Objekt sein. Gewiss ist
alles und jedes, was an einem Körper überhaupt wahrgenommen,
vorgestellt werden kann, nur ›Bild‹ und Bildbestimmtheit. Das gilt für
Ausdehnung, räumliche und zeitliche Eigenschaften, Gestalt, Farbe,
Härte usw. in völlig gleicher Weise; auch Bewegung ist als Ortsver­
änderung oder Ortswechsel eines identischen Soseins nur Bild, und
nichts als Bild.« Vgl. zusammenfassend S. 295 ff. – Vgl. die Anm. zu
12,14 – 16.
56,15 f. Hans Volkelt (1886 – 1964), Psychologe der Leipziger Schule
von Felix Krueger (»Ganzheitspsychologie«): Über die Vorstellungen
der Tiere, Leipzig 1914.
57,3 ff.   Zu Schelers langjährigen Überlegungen zu Raum und
Zeit vgl. zuletzt die Abhandlung »Idealismus – Realismus«: »Realität
im Verhältnis zu Raum und Zeit«, GW  9, S. 216 – 236.
57,14 – 17 Zu Schelers »anderen Orts« nachgewiesener These, dass
dem Tiere ein eigentlicher Weltraum fehle, vgl. u. a. »Erkenntnis und
Arbeit«, GW  8, S. 302 f.
58,3 – 9 In »Idealismus – Realismus« schreibt Scheler: »Dieses
Phänomen der Leere verdient das höchste Interesse. Es entspringt,
wie mir scheint, in letzter Linie aus dem Erlebnis der Unbefriedigung
und Unerfülltheit eines Triebhungers nach spontaner Bewegung. Da
170 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

aber dieser Triebhunger in letzter Linie alle Perzeptionen und ihr


mögliches Werden, also ebenso sehr die möglichen Wahrnehmun­
gen als die Vorstellungen und die spontanen (von der Wahrnehmung
unabhängigen) Phantasiebilder bedingt, so muss auch dieses Leer­
phänomen, das mit der Selbstbewegungsmacht verbunden ist (sofern
sie selbst mit dem ungestillten Triebhunger verknüpft ist), gleichsam
als der stabile Hintergrund allen wechselnden Perzeptionen, also auch
den materialen Phantasiebildern vorgegeben sein.« (GW  9, S. 219)
58,5 »Herz« steht bei Scheler meist für »Gemüt« oder auch »Seele«,
für das Organ des Fühlens, vor allem des Wertfühlens; populär in
der Verbindung von »Kopf (bzw. Vernunft) und Herz« verwendet; so
übrigens auch bei Alsberg (vgl. Anm. zu 75,12 – 13). Wilhelm Wundt
weist auf die traditionelle Verbindung der Affekte mit bestimmten
Organen hin. Die Alten »verlegten den Zorn in die Leber, den Neid in
die Milz, die höheren Gefühle in die Brustorgane. Unter diesen gilt ja
das Herz heute noch als Träger der verschiedenen Gemütszustände.
Kummer, gescheiterte Hoffnung veranlassen Herzweh und Herzeleid;
am gebrochenen Herzen stirbt die Verzweiflung; die Liebe hat in all’
ihren Wandlungen und Schicksalen das Herz zum Schauplatz …«
(Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele a. a. O. – Anm. zu
25,22 – S. 403, von Scheler angestrichen).
Schelers Wertphilosophie gerät ins Schwimmen, wenn man ihr
denjenigen Begriff des Herzens zugrunde legt, den er an einer Stelle
des Sympathiebuchs zum Ausdruck bringt: »Das Bewusstsein, dass
wir endliche Menschen nicht ganz einander ›ins Herz‹ sehen – nicht
einmal unser eigenes ›Herz‹ ganz und adäquat zu erkennen vermö­
gen, geschweige das ›Herz‹ eines anderen –, ist als wesentliches Be­
standstück allem Erleben des Mitgefühls (ja sogar aller spontanen
›Liebe‹) phänomenal mitgegeben.« (GW  7, S. 77)
Eine darüber hinausgehende fundamentale Bedeutung schreibt
Scheler der »Leere des Herzens« im »Urerlebnis der Räumlichkeit« in
der Konstitution der natürlichen Weltanschauung zu. In »Idealismus
– Realismus« heißt es: »Die ›Leere des Herzens‹ ist merkwürdigerweise
das Urdatum für alle Begriffe von Leere (leere Zeit, leerer Raum).
Das, woraus alle Leere quillt, das ist ganz ernstlich die Leere unseres
Herzens. Der Leergang, der gleichsam stehende Leergang der nach
allen Richtungen auslangenden Triebe, und der mit diesem Leergang
verknüpfte Hintergrund der Perzeptionen ist stetig vorhanden. Und
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 171

nur der in seinen Impulsen nach Kraft und Richtung wechselnde Be­
wegungsdrang des Menschen als Lebewesen ist es, der das seltsame
Wunder, das unerhörte Fiktum der natürlichen Weltanschauung des
Menschen hervorbringt, dass ihm eine bestimmte Art des Nichtseins
(von μὴ ὄν) allem positiv Seinsbestimmten gleichwie ein fundierendes
Sein vorherzugehen scheint: der leere Raum.« (GW  9, S. 219 f.)
58,17 Der Begriff des »Könnenserlebnisses« spielt in Schelers
Analyse des menschlichen Handelns eine wichtige Rolle: »Dieses
Können als Erlebnisakt, in dem uns Strebungsinhalte in einem ›Ich
kann etwas‹ ursprünglich gegeben sein können, ist vom bloßen Be­
wusstsein des Könnens völlig verschieden. In ihm ist uns irgendein
Inhalt unmittelbar als unter unserer Willensmacht stehend gegeben.«
(GW  2, S. 239)
59,19 – 60,21 Ähnlich heißt es bei dem mit Scheler befreundeten
Psychologen Adhémar Gelb: »Ich kann mich in einem, mir auch nur
wenig bekannten Gelände gut zurechtfinden und bedarf dazu keines
Ordnungsraumes. Ein Haustier kann das ja auch, aber das Tier besitzt
selbstverständlich trotz guten Orientierungsvermögens keine sche­
matische Gesamtvorstellung der Geländeanlage; es kann sich doch
keinen ›Plan‹ entwerfen! Hierzu bedarf es eben eines spezifischen
Raumbewusstseins. Darüber aber verfügt nur der Mensch und auch
nur dann, wenn er die Umwelt denkend darstellt. Mit einer solchen
denkenden Darstellung geht aber der Mensch über den Umweltraum,
über die bloße ›Umwelt‹ hinaus und gewinnt so die Möglichkeit, den
Begriff des ›Weltraumes‹ und der ›Welt‹ zu fassen.« (A. Gelb: Zur me-
dizinischen Psychologie und philosophischen Anthropologie, Den Haag
1937, S. 72; Ana 315.Z.679)
60,33 f. In »Idealismus – Realismus« schreibt Scheler: »Wohl
aber ist nach unserer Lehre auch die Zeitlichkeit noch daseinsrelativ
auf den Geist, der, ontisch erhoben über das Leben, den Lebenspro­
zess selbst und seine Werdeform noch zu schauen vermag.« (GW  9,
S. 236)
61,7 f. »Wie Humor und Ironie im Wesen des Menschen zeigen«,
schreibt Scheler in B.I.2, S. 89 zu Alfred Seidels (vgl. unten Anm. zu
80,30 – 32) Lehre von der »Hypertrophie«, mit der Seidel Freuds Theo­
rie der Triebsublimierung kritisiert.
61,9 – 12 In der transzendentalen Analytik schreibt Kant im Ab­
schnitt »Von dem obersten Grundsatze aller synthetischen Urteile«:
172 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Die »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind


zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfah-
rung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen
Urteile a priori«. Kritik der reinen Vernunft, B 197. – In einem sei­
ner letzten Notizbücher schreibt Scheler erläuternd zu Joëls »Kant
und der Mensch«: »Indem Kant den transc[endentalen] Verstand als
Vorauss[etzung] des Seins der Gegenst[ände] als Erscheinung ein­
führt, schließt er Ableit[ung] des Menschen (s[iehe] Kosmos) aus dem
sichtbaren Kosmos aus.
Die Grundstruktur erfahrbare Welt ist jetzt auf Mensch zurück­
geführt.
Jede Metaphysik hat unmittelb[ar] im Menschen selbst ihr Pro­
blem.
Dazu führt die kopernik[anische] Wendung.
Ist Raum, Zeit in Struktur daseinsrelativ auf Mensch, so kann der
Mensch nicht mehr aus dieser relat[iven] Ordn[ung] abgeleitet wer­
den.« (B.II.66, S. 21)
62,12 – 17 Zur Lehre vom »übersingulären Geist« vgl. Schelers
Zusätze aus nachgelassenen Schriften zum Teil V von »Idealismus –
Realismus«, GW  9, S. 288 ff.
62,20 Der Abschnitt VI, A, 3 behandelt: »Person und Akt. Die psy­
chophysische Indifferenz der Person und des konkreten Aktes. We­
senhafte Zentralitätsstufen innerhalb der Person« (GW  2, S. 382 – 469).
62,28 – 30 Goethe verlobte sich 1775 in Frankfurt am Main mit
der Bankierstochter Anna Elisabeth (Lili) Schönemann, einer »nied­
lichen Blondine«, von der er sich im gleichen Jahr jedoch wieder
trennen musste. Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit, Buch 16 – 20.
Dort findet sich die zitierte Stelle jedoch nicht. In einem Brief an
Betty Jacobi vom 31.12.1773 schreibt Goethe hingegen, dass er in ei­
ner Zeichnung seiner Hannoverschen Lotte (Charlotte Kestner) nicht
so sehr ins Detail gehen konnte, »das macht ich war ins Ganze so
verliebt, und Gott hat gewollt dass ein Liebhaber ein schlechter Be­
obachter seye« (Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, Abtlg. IV, Bd.  2,
1887, S. 137).
62,35 f. Teil C von Wesen und Formen der Sympathie handelt
»Vom fremden Ich. Versuch einer Eidologie, Erkenntnistheorie und
Metaphysik der Erfahrung und Realsetzung des fremden Ich und der
Lebewesen« (GW  7, S. 209 – 258). In der ersten Auflage des Sympathie­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 173

buchs (1913) lautete der Abschnitt: Ȇber den Grund zur Annahme
des fremden Ich«; er entspricht, überarbeitet und ergänzt, dem
Abschnitt »Die Fremdwahrnehmung« der zweiten Auflage (GW  7,
S. 232 – 257).
63,1 – 4 Zur Kritik der Grundthese aller Arten von Idealismus,
dass die Ideen »ante res« seien, vgl. Scheler u. a. in GW  11, S. 257 f.,
261 f. und im Notizbuch B.II.65, S. 79 die Bemerkungen zu »Ideae non
ante res, sed cum re«.
63,7 – 12 Zum menschlichen Mitvollzug der Akte der stetigen
Weltrealisierung (creatio continua) vgl. aus den nachgelassenen
Schriften zu »Idealismus – Realismus«: GW  9, S. 251 f. und Schelers
Lehre von der Funktionalisierung des Geistes, unten Anm. zu 67,
9 – 11.
64,8 – 17 Zu Schelers Lehre vom Schmerz vgl. den Aufsatz »Vom
Sinn des Leides« (1916/23), in GW  6, S. 36 – 72. Vgl. unten die Anm. zu
76,31 – 33.
64,19 Scheler kannte die Bekehrungsgeschichte Buddhas u. a. aus
dem Buch: Das Leben des Buddha. Eine Zusammenstellung alter Be-
richte aus den kanonischen Schriften der südlichen Buddhisten. Aus
dem Pali übersetzt und erläutert von Julius Dutoit, Leipzig 1906 (Ana
315.Z.711).
64,24 – 65,2 Scheler spielt an auf René Descartes: Meditationen
über die Grundlagen der Philosophie (1635), entweder auf die zweite
Meditation (Meditationen …, mit den sämtlichen Einwänden und Er-
widerungen, übers. und hrsg. v. Artur Buchenau, Hamburg 1954 (PhB
27), S. 23) oder, wie in B.I.17, S. 40, auf Descartes’ Meditationen über
die »Ausdehnung«.
66,10 f. Die verschiedentlich G. W. F. Hegel zugeschriebene These,
Ideen seien »Fenster ins Absolute«, konnte nicht ermittelt werden.
Zitiert hat sie ohne Nachweis u. a. auch Eugen Fink in seiner Dis­
sertation: »Vergenwärtigung und Bildbewusstsein. Beiträge zu einer
Phänomenologie der Unwirklichkeit« (1930), in: Studien zur Phäno-
menologie, Den Haag 1966, S. 18. Zu Finks Auffassung der These vgl.
László Tengelyi: Finks ›Fenster ins Absolute‹, in: Phänomenologische
Forschungen 30 (1996), S.65 – 87, doch auch er ohne Zitat-Nachweis
weder bei Hegel noch bei Scheler. Es ist nicht auszuschließen, dass
Fink das Hegel zugeschriebene Wort einfach von Scheler übernom­
men und dass Scheler es verwechselt hat mit einer Stelle aus Otto
174 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Erörterung der Grund-


probleme der Philosophie, 4., verb. Aufl. Straßburg 1911, Vorw. S. VII:
»Thomas Carlyle macht einmal im Sartor Resartus die ziemlich
jeanpaulische Bemerkung: ›Alle Gegenstände sind wie die Fenster,
durch die das Auge des Philosophen in die Unendlichkeit selbst hin­
einschaut‹«; einer solchen »Schattenjagd nach dem Transcendenten«
stellt Liebmann seine eigene »verständige Reise auf sehr festem und
begrenztem Lande« entgegen. In B.I.12, S. 20 gibt Scheler Hegels Wort
in der Formulierung Liebmanns wieder: Hegel sage, dass Wesenser­
kenntnisse »Fenster ins Transzendente« seien, wofür Scheler als Bei­
spiele die Wesenserkenntnisse von Leben, Pflanze, Tier und Mensch
anführt.
66,16 – 18 Der Text der Fußnote ähnelt stark einer Passage in Ju­
lius Stenzels Aufsatz »Der Begriff der Erleuchtung bei Platon«, in:
Die Antike 2 (1926). Stenzel erläutert den Begriff des ›typus‹, »den
Kant nur dem göttlichen Verstande vorbehielt, den aber Goethe für
seine dichterische Phantasie in Anspruch nahm! War nicht Platon in
diesem Sinne ein Stück von beiden?« (S. 240) J. Stenzel hat in Platons
Phaidros 275 d ein 5-Stufen-Modell der Erkenntnis rekonstruiert, das
über Name – Logos – eidolon – nous bis zur phronesis aufsteigt. Sche­
ler hat am Anfang der Kosmos-Schrift einige der antiken Vernunft-
Begriffe unterscheidungslos nebeneinander gestellt (oben S. 7), ohne
wie Platon und Stenzel ihr Verhältnis zu den Stufen des Psychischen
zu berücksichtigen – das verbot sich, abgesehen vom populären Cha­
rakter seiner Schrift, durch seine radikale Trennung des Geistes vom
Psychischen, insbesondere von der praktischen Intelligenz.
Kant erläutert in der Kritik der Urteilskraft (1790) den Begriff der
»ästhetischen Idee« durch »Archetypon, Urbild«, die in der Malerei
und Plastik der Einbildungskraft zugrunde liege und in der »Gestalt«
(Ektypon, Nachbild) zu einem sichtbaren Ausdruck komme (§ 51). In
seinem Aufsatz ›Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton
in der Philosophie‹ (1796) behauptet Kant gegen Platon (und seine
neueren Interpreten), dass unser Verstand nicht ein Anschauungs-,
sondern nur ein diskursives bzw. Denkungsvermögen sei, wodurch
er sich grundsätzlich von einem sog. »göttlichen Verstande« unter­
scheide, der als Urgrund aller Wesen als selbständiger Dinge aufge­
fasst werde und dessen »göttliche Ideen« als Anschauungen a priori
die Urbilder der Dinge seien.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 175

Bei Goethe denkt Scheler vermutlich an Äußerungen über die »Ur­


pflanze«, das »Urphänomen« oder das »Urbild«, über das Goethe in
den »Vorträgen über vergleichende Anatomie« Teil II schreibt: »Sollte
es denn aber unmöglich sein, da wir einmal anerkennen, dass die
schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die vollkomm­
neren organischen Naturen erzeugt und entwickelt, dieses Urbild,
wo nicht den Sinnen, doch dem Geiste darzustellen, nach ihm, als
nach einer Norm unsere Beschreibungen auszuarbeiten und, indem
solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere abgezogen wäre, die
verschiedensten Gestalten wieder auf sie zurückzuführen?« (Goethe,
Münchner Ausgabe Bd.  12, 1989, S. 201 f.) Vgl. auch »Maximen und
Reflexionen« Nr. 412, 434, 577, 1369 (Münchner Ausgabe Bd.  17, 1991)
und zu Eckermann am 13.2.1823.
Zu der Zeit, als Scheler seinen Vortrag ausarbeitete, erschien von
Josef König (1893 – 1974, Philosoph, Schüler von Georg Misch) die
Dissertation: Der Begriff der Intuition, Halle 1926, mit einem Kapi­
tel über »Das Urphänomen bei Goethe«, S. 120 – 213. Scheler kannte
und schätzte das Werk sehr; sein Handexemplar (Ana 315.Z.29) weist
viele Anstreichungen auf und in seinen Notizbüchern erörtert er wie­
derholt Königs Theorie der Intuition (vgl. u. a. B.II.66, S. 1), woraus
hervorgeht, dass es nicht ganz zutrifft, dass Scheler für die »noble
Dilthey-Misch-Tradition« kein Verständnis gehabt habe (Plessner
an König 20.2.1973, in: Josef König/Helmuth Plessner: Briefwechsel
1923 – 1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Pless­
ners Die Einheit der Sinne, hrsg. v. Hans-Ulrich Lessing und Almut
Mutzenbecher, Freiburg/München 1994, S. 30).
66,30 f. Mit der »allgemeinsten Gegenstandslogik« kann Scheler
gemeint haben Alexius Meinong: Über die Stellung der Gegenstands-
theorie im System der Wissenschaften, Leipzig 1907 (Ana 315.Z.901),
oder auch Oskar Külpe: Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundle-
gung der Realwissenschaften, Bd.  1, Leipzig 1912, S. 10 ff.
67,3 – 6 Über das »apriori-Wissen«, verstanden als notwendige
und ewige Wahrheit, schreibt Leibniz in der Monadologie (1714) im
§ 29: »Die Erkenntnis der notwendigen und ewigen Wahrheiten je­
doch unterscheidet uns von den bloßen Tieren und setzt uns in den
Besitz der Vernunft und der Wissenschaften, indem sie uns zur Er­
kenntnis unsrer selbst und Gottes erhebt. Dies nun ist es, was man in
uns vernünftige Seele oder Geist nennt.«
176 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

67,9 – 11 Die »Funktionalisierung der Wesenseinsichten« gehört


nach Scheler zu den noch am wenigsten durchschauten Eigenschaften
der Wesenserkenntnis: »Die Wesenserkenntnis funktionalisiert sich
zu einem Gesetz der bloßen ›Anwendung‹ des auf die zufälligen Tat-
sachen gerichteten Verstandes, der die zufällige Tatsachenwelt ›nach‹
Wesenszusammenhängen ›bestimmt‹ auffasst, zerlegt, anschaut, be-
urteilt. Was vorher Sache war, wird Denkform über Sachen; was Lie­
besobjekt war, wird Liebesform, in der nun eine unbegrenzte Zahl
von Objekten geliebt werden können; was Willensgegenstand war,
wird Wollensform usw.« Scheler: Vom Ewigen im Menschen (1921),
GW  5, S. 198. – In »Erkenntnis und Arbeit« verbindet er die Theorie
der Funktionalisierung mit der durch Christian v. Ehrenfels, Hans
Cornelius, Wolfgang Köhler und anderen entwickelten Gestalttheo­
rie (GW  8, S. 301 ff.). Durch die Funktionalisierung von Wesensein­
sichten finde eine »Art wahren Wachstums des menschlichen Geistes
sowohl im Einzelleben als im Laufe der Geschichte […] statt« (ebd.).
Zum Zusammenhang der »Funktionalisierung des Geistes« mit dem
»Kulturwachstum durch Verflechtung und Aufnahme der vorhan­
denen Geistesstrukturen in eine neue Struktur« vgl. »Probleme einer
Soziologie des Wissens«, in: GW  8, S. 35 ff.
68,6 f. Das Wort Buddhas aus den Predigten des Palikanon (vgl.
GW  9, S. 254) konnte nicht ermittelt werden.
68,11 – 18 Zur Lehre von der »phänomenologischen Reduktion«
vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
nomenologischen Philosophie (1913), neue, auf Grund der handschrift­
lichen Zusätze des Verfassers erweiterte Auflage, hrsg. von Walter
Biemel, Den Haag 1950, vgl. bes. Teil II, § 31: »Radikale Änderung der
natürlichen Thesis. Die ›Ausschaltung‹, ›Einklammerung‹«, S. 63 ff.
Husserl hat Schelers Kritik an der phänomenologischen Reduktion
privatim als totales Missverständnis zurückgewiesen. – Zu Schelers
Auseinandersetzung mit Husserls Theorie der phänomenologischen
Reduktion, der er seine Lehre von der Aufhebung des Wirklich­
keitscharakters der Dinge bzw. der Ausklammerung des »Lebens­
zentrums« entgegenstellt, vgl. u. a. Scheler: »Probleme einer Sozio­
logie des Wissens«, GW  8, S. 138 ff.; »Erkenntnis und Arbeit«, GW  8,
S. 281 f.; »Idealismus – Realismus« (1928), GW  9, S. 206 – 208 und aus
dem Nachlass das Fragment über »Philosophische Erkenntnis« (1927),
GW  11, S. 258 – 262.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 177

69,3 Zum Phänomen eines »Lebensdrangs« hat sich Scheler be­


reits 1914 in »Phänomenologie und Erkenntnistheorie« zu Bergson
geäußert, der versuche, »alle logischen Kategorien (ja sogar Identität)
sowie Raum und Zeit der Mechanik auf Lebensbedürfnisse zurück­
zuführen, d. h. auf Bedürfnisse eines Lebens, das selbst nicht mehr
mit Hilfe der Kategorien zu begreifen ist, die ihm entsprangen, son­
dern das nur mehr einer – sehr unklaren – Intuition und Einfühlung
zugänglich sein soll.« (GW  10, S. 422) – Zur »puren unsinnlichen In­
tuition« von Tatsachen vgl. auch die »Lehre von den drei Tatsachen«
(1911), GW  10, S. 444 f. und »Erkenntnis und Arbeit«, GW  8, Abschn.
V, S. 282 – 358.
70,11 Von dem durch die phänomenologische Reduktion gefor­
derten »Nein« ist das weltanschaulich-existenzielle Nein zu unter­
scheiden, das u. a. Leopold Ziegler vertritt: »Denn dass wir’s nicht
vergessen: der Mensch sagt Nein, Nein, Nein schon von Natur zu fast
allen Dingen, Nein fast zu allen Wesen und Geschaffenheiten, Nein
fast zu allen Vorkommnissen und Erschütterungen.« (L. Ziegler: Ge-
staltwandel der Götter, Bd.  2, Darmstadt 1922, S. 875)
70,13 f. Vgl. zur phänomenologischen Urteilsausschaltung Hus­
serl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Erstes Buch (1913), insbes. den zweiten Abschnitt: Die
phänomenologische Fundamentalbetrachtung, Kap. 1: »Die Thesis
der natürlichen Einstellung und ihre Ausschaltung«.
70,17 – 19 Friedrich Schiller, »Das Ideal und das Leben« (1795).
Vers 121 – 126: »Aber in den heitern Regionen, / Wo die reinen Formen
wohnen, / Rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr. / Hier darf
Schmerz die Seele nicht durchschneiden, / Keine Träne fließt hier
mehr dem Leiden, / Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.«
71,17 f. »Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philo­
sophie befassen, mögen wohl, ohne dass es freilich die andern merken,
nach gar nichts anderm streben als nur zu sterben und tot zu sein.
[…] Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph als seine Seele von
der Gemeinschaft mit dem Leibe ablösend vor den übrigen Menschen
allen.« Sokrates, in Platon: Phaidon 64a–65a (Übers. Schleiermacher).
71,29 »Omne ens est malum«: alles Seiende ist böse – Scheler
denkt hierbei vermutlich auch an die Widerlegung dieser These in
der Summa Theologica von Thomas v. Aquin, Teil I, Quaestio 48
(Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd.  4, Salzburg/leipzig 1936, S. 86 ff.).
178 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

71,33 ff.   Vgl. zu dem bei Scheler so vielschichtigen Problem des


»Ausgleichs« den Aufsatz: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs
(1927), GW  9, S. 145 – 170.
72,1 f. Das »Philisterium« einer studentischen Verbindung um­
fasste die Altherrenschaft, d. h. alle diejenigen, die während ih­
res Studiums aktive Mitglieder der Verbindung gewesen sind. Die
Altherrenschaft wahrte streng die Tradition und stellte sich gegen
Protestlertum und Abweichler, sie blieb beim Althergebrachten. In
»Zur Idee des Menschen« (1913) hat Scheler zwischen dem über sich
hinausgehenden »Gottsucher« und der in sich ruhenden Existenz des
»Philisters« unterschieden (GW  3, S. 189).
72,2 Der »ewige Faust« – in Goethes Tragödie Faust ist Faust auf­
grund seiner existenziellen Bedürftigkeit (»entbehren sollst du …«)
ein von unstillbarem Verlangen nach Glück umgetriebener Mensch,
der an nichts von dieser Welt sein Genügen findet und nach einer
»ewigen« Befriedigung seines Dranges sucht, die er nach Scheler nur
durch Vergöttlichung erlangen kann. – Vielleicht auch eine Anspie­
lung auf O. Spenglers Untergang des Abendlandes (München 1918/22),
in dem der abendländische Mensch als »faustischer Menschentypus«
dargestellt und u. a. vom antiken und arabischen Menschentypus un­
terschieden wird.
72,2 f. Bestia cupidissima rerum novarum – das nach Neuerun­
gen oder Neuigkeiten höchst begierige Tier – die in der Scheler-For­
schung häufig zitierten Worte S. 72,1 – 5 gehen auf ein Wort Caesars
zurück, der den Häduer Dumnorix als »cupidus rerum novarum« im
Sinne von »neugierig« bezeichnet hat (De bello Gallico, 5,6,1). Einigen
Interpreten zufolge hat Scheler mit diesen Worten sich selbst gemeint.
72,7 f. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, Leipzig (u. a.)
1920. Zit. nach: Gesammelte Werke, Bd.  13, Frankfurt am Main 1999,
S. 1 – 69. Vgl. unten Anm. zu 78,4 – 10.
72,13 »Sublimieren« – vgl. Schelers komplexe Ausführungen zur
»Sublimirung« unten S. 146 f. und die kurze Bestimmung S. 82,2 – 5.
73,10 Mit dem »Seienden selbst« ist hier das »Ens a se« gemeint,
an dem der Mensch teilhat.
75,12 f. Paul Alsberg (1883 – 1965), deutscher Mediziner und An­
thropologe: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lö-
sung, Dresden 1922 (Ana 315.Z.342).
Alsberg will das Menschheitsproblem bzw. das Problem der
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 179

»Menschwerdung« weder allein von der organischen noch allein


von der Seite einer Psychologie des menschlichen Geistes her lösen,
sondern aus der Entwicklung der menschlichen Kultur. »Entwick­
lung! heißt das Zauberwort, welches uns die übrige organische Natur
entschleierte; es muss uns auch die Pforten zur Menschheit öffnen
können.« (S. 90) Wenn das Entwicklungsprinzip »ein spezifisches,
einheitliches, durchgängiges Prinzip ist, welches der Gesamtentwick­
lung der Menschheit zugrunde gelegen hat, welches sich in gleicher
Weise im ersten Menschen, der die menschliche Entwicklungsbahn
eröffnete, wie im heutigen Kulturmenschen offenbart: dann werden
wir die Entwicklung und mit ihr den Menschen – als körperliches
und geistiges Wesen – begreifen können; dann werden wir das Ver­
hältnis des Menschen zum Tiere, seine Stellung in der Natur und
seinen heutigen und späteren Entwicklungsweg verstehen lernen.«
(S. 90 f.) Die Vernunft bzw. den Geist begreift Alsberg keineswegs nur
als diskursives Denken, wie Scheler behauptet, und er geht auch nicht
von Schopenhauer, sondern hauptsächlich von Kant aus, um das
Menschheitsprinzip zu bestimmen, denn: »Der ganze Mensch mit
seinem vollen Kulturgehalt muss sich aus ihm [dem menschlichen
Kulturleben und vor allem dem menschlichen Geistesleben] herlei­
ten lassen, wenn es das richtige Prinzip sein soll, und zudem darf es
in keiner Lebensäußerung des Tieres enthalten sein.« (S. 103) – da­
her die radikale Bedeutung des »Prinzips der Körperausschaltung«.
Vgl. Anm. zu 76,12 – 77,17.
75,13 f. Anders als in der ersten Auflage des Sympathiebuchs
(1913) setzte sich Scheler in seiner Vorlesung über die »Bedeutung der
Psychoanalyse für die Philosophie« (WS 1927/28) und in der zur glei­
chen Zeit entstandenen Kosmos-Schrift hauptsächlich mit der Spät­
lehre Freuds auseinander.
75,16 – 76,5 Nirwana – zentraler Begriff des Buddhismus, der
mehrere Deutungen zulässt bzw. erfordert – die höchste Stufe des
Nirwana ist die Befreiung von allen Leiden und Begierden, die einem
Zustand absoluter Ruhe weichen. Scheler hat in seinem Darmstädter
Vortrag die in der westlichen Rezeption des Buddhismus verbreitete
nihilistische Deutung des Nirwana als des absoluten Nichts vertre­
ten und scheint sich in diesem Sinne auch auf einer »Europäischen
Woche« im Schweizer Schloss Crissier im Herbst 1927 ausgesprochen
zu haben. Dort lernte er den Kieler Indologen Otto Strauß kennen,
180 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

der ihn zu einem erneuten Studium buddhistischer Lehren angeregt


hat.
76,5 – 12 Schopenhauer sieht keineswegs den Wesensunterschied
zwischen Mensch und Tier »ausschließlich« in der erlösenden Ne­
gation des Willens zum Leben (Arthur Schopenhauer: Die Welt als
Wille und Vorstellung, Bd. II, Kap. 451); Schopenhauer stellt andere
Wesensunterschiede heraus, vor allem durch den menschlichen In­
tellekt: die »Kluft zwischen uns und ihnen entsteht einzig und allein
durch die Verschiedenheit des Intellekts« (Sämtliche Werke, textkrit.
bearb. u. hrsg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Bd. II, Kap. 19, Darm­
stadt 1961, S. 263). Wille und Intellekt bilden im Inneren des Men­
schen indessen ein »sonderbares Wechselspiel« (S. 267), bei dem es
um die Herrschaft des einen über den anderen geht. Ist der Mensch
»Herr über sich«, dann »ist hier der Herr der Wille, der Diener der
Intellekt; da jener in letzter Instanz stets das Regiment behält, mithin
den eigentlichen Kern, das Wesen an sich des Menschen ausmacht.
In dieser Hinsicht würde der Titel ἡγεμονικόν dem Willen gebühren:
jedoch scheint derselbe wiederum dem Intellekt zuzukommen, sofern
dieser der Leiter und Führer ist, wie der Lohnbediente, der vor dem
Fremden hergeht. In Wahrheit aber ist das treffendste Gleichnis für
das Verhältnis beider der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten
auf den Schultern trägt.« (S. 269) Vgl. unten Anm. zu 106,29.
76,10 – 12 Friedrich Bouterwek (1766 – 1828), deutscher Philosoph:
Ideen zu einer allgemeinen Apodiktik, Halle 1799.
76,12 – 77,17 Zu Paul Alsberg vgl. Anm. zu 75,12 – 13. Während die
Entwicklung des Tieres im Daseinskampf zu »möglichst vollendeter
Anpassung des Körpers an die äußeren Lebensverhältnisse« führe
(S. 101), liege das Entwicklungsprinzip des Menschen im »Prinzip
der Körperausschaltung vermittels künstlicher Werkzeuge« (S. 103),
die sich außerhalb des Körpers befinden. Das menschliche Entwick­
lungsprinzip lasse sich als ein »Prinzip der Naturbefreiung« bezeich­
nen (S. 117, 182 ff.). Die gesamte Menschheitskultur sei auf das Prinzip
der Körperausschaltung durch künstliche Werkzeuge zurückzufüh­
ren. Die drei aufeinander aufbauenden Grundformen des Werkzeugs
sieht Alsberg im stofflichen Werkzeug, in der Sprache und im Be­
griff als der edelsten und höchsten Werkzeugform. Dem Prozess der
Werkzeugbildung korrespondiere ein Prozess der Rückbildung und
Verkümmerung des menschlichen Körpers (S. 172 ff.).
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 181

76,23 f. Ernst Mach (1838 – 1916), österreichischer Physiker und


Philosoph. Alsberg bezieht sich a. a. O. S. 108, 143 u. ö. auf Ernst Mach:
Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (Leip­
zig 1905), 3. Aufl. 1917. Das Ökonomieprinzip beschränkt sich nach
Mach darauf, ein relativ Unbekanntes auf ein relativ Bekanntes zu­
rückzuführen. – Scheler hat sich im Formalismusbuch kritisch mit
Machs Lehre auseinandergesetzt (GW  2, Abschn. VI, A, 3, e). Er hält
in »Erkenntnis und Arbeit« Machs Prinzip der Denkökonomie durch
Husserls Logische Untersuchungen, Teil I, für endgültig widerlegt
(GW  8, S. 250). Vgl. die Anm. zu 107,18 – 21.
76,24 – 26 Alsberg a. a. O. S. 135 ff. lehnt es ab, das Wesen des Men­
schen durch Geist und Vernunft zu definieren, weil sich Geist und
Vernunft erst durch die Körperausschaltung entwickeln. Er orientiert
sich an Schopenhauers Unterscheidung zwischen Verstand und Ver­
nunft: »Der Verstand hat überall dieselbe einfache Funktion, nämlich
Erkennen, Verstehen des unmittelbar Angeschauten; gleicherweise
hat auch die Vernunft überall dieselbe einfache Funktion, nämlich
Übertragung des durch den Verstand Angeschauten vermittels der
Abstraktion in das reflektierte Bewusstsein. So geht also alle Ver­
nunft von der einen Grundform, dem abstrakten Begriff, aus; alle
die mannigfaltigen Äußerungen der Vernunft lassen sich auf das
eine Prinzip der Abstraktion zurückführen.« (a. a. O. S. 137) »So ist
denn die Abstraktion der unansehnliche Wurzelstock, aus welchem
die herrliche Blume Vernunft hervorsprießt.« (S. 139) Alsberg be­
schränkt den Vernunftbegriff nicht, wie Scheler behauptet, auf das
»diskursive Denken«, im Gegenteil: sein Vernunftbegriff gleicht
dem Geistbegriff Schelers: »Denn die Vernunft allein befähigt den
Menschen zur Selbstobjektivierung und Abspaltung des geistigen,
nämlich denkenden, handelnden, empfindenden Ichs von dem auf
die Verfolgung natürlich-egoistischer Interessen bedachten Körper.«
(S. 184)
76,31 – 33 Max Scheler: »Vom Sinn des Leidens«, ursprünglich er­
schienen in der Allgemeinen Frankfurter Zeitung, erweitert in Scheler,
»Vom Sinn des Leides« (Schriften zur Soziologie und Weltanschau-
ungslehre, Bd.  1: Moralia, Leipzig 1923, S. 42 – 103), jetzt GW  6, S. 36 – 72.
Auf den metaphysischen Sinn des menschlichen und göttlichen Lei­
dens geht Scheler auch im Abschnitt IV des Sympathiebuchs 1923 ein
(GW  7, S. 61 ff.).
182 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

77,1 Alsberg zufolge ist es a. a. O., S. 154 f. aufgrund der Ergebnisse


der modernen Sprachforschung unbezweifelbar, dass die Sprache
schon vor der Vernunft bestanden habe, »und es ist der Mensch in
seiner Entwicklung nicht den Weg vom Abstrakten zum Konkreten,
sondern umgekehrt vom Konkreten zum Abstrakten gegangen«.
77,16 f. Vgl. Alfred Adler (1870 – 1937), österreichischer Psycho­
analytiker, Begründer der Individualpsychologie: »Die Theorie der
Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und
Psychologie« (1908), in: Alfred Adler Studienausgabe Bd.  1, hrsg. v.
Almuth Bruder-Bezzel, Göttingen 2007, S. 51 – 63. Ders.: Menschen-
kenntnis (Leipzig 1927), Alfred Adler Studienausgabe, Bd.  5, hrsg. v.
Jürg Rüedi, Göttingen 2007.
77,19 f. Scheler zitiert in B.I.21, S. 61 eine von Oswald Schwarz
als »verblüffenden Ausspruch« Schopenhauers angeführte Aussage
über den psychischen Zusammenhang, der zum Wahnsinn führen
kann (Oswald Schwarz, Hrsg.: Psychogenese und Psychotherapie
körperlicher Symptome, Wien 1925, S. 25, Fn.; von Scheler doppelt
angestrichen). Schopenhauers Ausspruch zitiert O. Schwarz nach
A. Scho­penhauer: Philosophische Aphorismen. Aus dem handschriftl.
Nachlass hrsg. v. Otto Weiss, Leipzig 1924: »Dem Wahnsinnigen ist in
seinem Leben etwas aufgestoßen, das ihm unerträglich fällt und das
vergessen werden muss, wenn er bestehn soll. Etwas absolut aus dem
Bewusstsein fortzuschaffen, ist aber nur dadurch möglich, dass etwas
anderes an seine Stelle tritt und dies ist der Wahn, sei er bleibend sei
er wechselnd. Die beobachtenden Ärzte scheinen aber immer nur
bei dem sich vorfindenden Wahn stehn geblieben zu sein und nicht
bemerkt zu haben, dass dieser Wahn nur da ist, um etwas anderes
zu verdrängen und nicht aufkommen zu lassen.« (S. 166) In Schelers
Handbibliothek befindet sich die Ausgabe der Philosophischen Apho-
rismen (Ana 315.Z.1906), aber ohne Lesespuren. Scheler könnte die
Stelle von O. Schwarz übernommen haben. Etwas variiert findet sich
die Aussage über die Verdrängung auch in § 32 des zweiten Bandes
der Welt als Wille und Vorstellung, wo sie Scheler aber nicht aufge­
fallen ist.
78,4 – 10 S. Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Gesammelte Werke
(vgl. Anm. zu 72,7 – 8), Bd.  13, S. 44.
78,9 »auf welcher«, bezogen auf »Triebverdrängung«, statt bei
Freud »auf welche«, bezogen auf »Folge«.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 183

78,12 f. Die umstrittene Lehre von den zwei Grundtrieben Libido


und Todestrieb hat Freud in Jenseits des Lustprinzips (1920) entwickelt
und bis zuletzt aufrecht erhalten.
78,13 Freud beruft sich in Jenseits des Lustprinzips (Gesammelte
Werke, Bd.  13, S. 53) ausdrücklich auf Schopenhauers Aufsatz »Tran­
szendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im
Schicksale des einzelnen«, in: Parerga und Paralipomena, Bd.  1, in:
Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hrsg. von Wolfgang Frh.
von Löhneysen, Bd.  4, S. 243 – 272: »So geleitet dann jene unsichtbare
und nur in zweifelhaftem Scheine sich kundgebende Lenkung uns
bis zum Tode, diesem eigentlichen Resultat und insofern Zweck des
Lebens.« (S. 272)
78,19 – 22 Vgl. S. Freud: Jenseits des Lustprinzips: »Für den leben­
den Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe
als die Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausge­
stattet und muss vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der
Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden,
also zerstörenden Einfluss der übergroßen, draußen arbeitenden
Ener­gien zu bewahren.« (Gesammelte Werke, Bd.  13, S. 27)
Im Notizheft B.II.65, S. 46 lehnt Scheler Freuds Lehre ab: »Die
Freud­sche Lehre vom Reiz-schutz ist sehr einseitig. Sie ist roman­
tisch und pessimistisch. Bildet das Leben nicht im[mer] mehr
Sinnesorg[ane] und Funct[ionen] und ›Contakte‹ mit der Umwelt
aus? Ist das nicht Folge s[einer] gesteigerten Beweglichkeit und Acti­
vität. Das Leben ›wählt‹ die Reize; aber es ist falsch, daß es sie ›fürch­
tet‹, daß es die ›conservative‹ Tendenz nach innerem Gleichgewicht
von Hause aus hat (Berufung auf Fechner). Aehnlich wie ›Organaus­
schaltung‹ [bei Alsberg]. Wesentlich ist nur, daß die erste Reizung die
innere ist (Blutdrüsen) und daß die afferenten Org[ane] sich erst un­
ter der Det[ermination] oder der affect[iven] bilden (S[iehe] Arb[eit]
und Erk[enntnis]).«
78,27 Freud schreibt in Jenseits des Lustprinzips: »Wenn wir es als
ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, dass alles Lebende aus
inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können
wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend:
Das Leben war früher da als das Lebende.« (Gesammelte Werke, Bd.  13,
S. 40)
79,13 – 80,2 Jean Baptiste Pierre Antoine de Monet de Lamarck
184 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

(1744 – 1829), französischer Botaniker, Meteorologe, Chemiker und


Zoologe, entwickelte in seiner Histoire naturelle des animaux sans
vertèbres (7 Bde., Paris 1815 – 1822) eine neue Klassifikation der Tiere.
In seiner Philosophie zoologique (2 Bde., Paris 1809) führte er die
Umwandlung von Arten und die Zweckmäßigkeit in der Ausbildung
der Organismen auf den Einfluss der Außenwelt auf das Leben der
einzelnen Individuen zurück. – Im dritten Teil der Zoologischen
Philosophie beschreibt Lamarck das »innere Gefühl« bzw. das »Exis­
tenzgefühl«, das der Natur der Organismen zugrunde liegt, als die
»Quelle einer Kraft, welche die Bedürfnisse erregen können« (S. 397).
Er resümiert seine Theorie mit den Worten, »dass dieses Gefühl bei
den Wesen, die damit ausgestattet sind, die Quelle der Bewegungen
und Tätigkeiten ist; sei es wenn Sensationen, welche Bedürfnisse ent­
stehen lassen, irgendwelche Emotionen desselben verursachen, oder
wenn das Denken, das ebenfalls ein Bedürfnis entstehen lässt oder
eine Gefahr zeigt, usw., dasselbe mehr oder weniger stark bewegt.
[…] und da jedes empfundene Bedürfnis das Resultat der Emotion,
die es erregt, nach den Teilen hinleitet, welche in Tätigkeit treten
müssen, so werden die Bewegungen unabänderlich auf diesem Wege
ausgeführt und stimmen immer mit dem überein, was die Bedürf­
nisse erfordern.« Jean Lamarck: Zoologische Philosophie, nebst einer
biographischen Einleitung von Charles Martins, aus d. Frz. übers. v.
Arnold Lang, Jena 1876, S. 404.
79,17 – 20 Der alte Unterschied zwischen »Psychikern« und »Pneu­
matikern« ist durch Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes
(1918/23) wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden: »Der
Gnosis war die Vorstellung einer doppelten, leiblichen oder geisti­
gen Ekstase und die Einteilung der Menschen in niedere und höhere,
Psychiker und Pneumatiker, geläufig. Plutarch hat die in der spätan­
tiken Literatur verbreitete Psychologie, den Dualismus von νοῦς und
ψυχή, orientalischen Vorbildern nachgeschrieben. Man setzte ihn
alsbald zu dem Gegensatz von christlich und heidnisch, Geist und
Natur in Beziehung, aus dem dann das noch heute nicht überwun­
dene Schema der Weltgeschichte als eines Dramas der Menschheit
zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht, mit einem Eingreifen
Gottes als Mitte, bei Gnostikern, Christen, Persern und Juden hervor­
gegangen ist.« O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse
einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1963, S. 391.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 185

79,29 – 31 Zu Freuds »eminent verdienstlichen« ontogenetischen


Untersuchungen vgl. das Kapitel »Zu Freuds Ontogenie« in GW  7,
S. 195 – 208 und die Erstauflage Zur Phänomenologie und Theorie der
Sympathiegefühle und von Liebe und Hass (1913), S. 100 – 117.
80,9 – 12 Vgl. Alfred Seidel, a. a. O. S. 78.
80,30 – 32 Alfred Seidel (1895 – 1924): Bewusstsein als Verhäng-
nis. Aus dem Nachlasse hrsg. v. Hans Prinzhorn, Bonn 1927 (Ana
315.Z.156). Prinzhorn hat ein sehr viel komplexeres Bild als Scheler
von denjenigen Autoren entworfen, denen sich Seidel verpflichtet
fühlte: Hegel, Marx, Schopenhauer, Nietzsche, George, Klages, Do­
stojewski, Freud, Adler, William James, Georg Simmel, Max Weber,
Oswald Spengler, Karl Jaspers, und unter diesen am meisten Max
Weber (vgl. Prinzhorns vorangestelltes Nachwort, S. 53 ff.). Er hält
sich dabei offensichtlich an Seidels »letzte Vorrede« (a. a. O. S. 72). Ob­
wohl sich Seidel gelegentlich recht kritisch über Scheler geäußert hat
(vgl. etwa S. 62, wo er sich gegen die »billigen Lösungen« von Scheler,
Keyserling und anderen ausspricht), stimme Schelers Spätphiloso­
phie »sehr tiefgehend mit Seidels Einstellung überein« (Prinzhorn,
Nachwort S. 58), wofür auch die vielen zustimmenden Randnotizen
sprechen, die Scheler in sein Exemplar von Bewusstsein als Verhäng-
nis eingetragen hat. Scheler geht jedoch grundsätzlich über Seidels
Bewusstseinsauffassung hinaus.
In B.I.2, S. 88 f. (vgl. GW  12, S. 66) setzt er sich mit Seidels Be­
griff der »Triebhypertrophie« auseinander, wobei er sich auf Seidels
Ausführungen a. a. O. S. 39 und auf das Kapitel »Die Hypertrophie
des Trieblebens beim Menschen. Eine Hypothese« bezieht (a. a. O.
S. 94 – 97). Scheler wirft Seidel vor, in seiner Freud-Kritik noch bei
dem falschen Sublimierungsbegriff stehen geblieben zu sein, dem zu­
folge der Mensch zu einem »kranken Tier« degeneriere. »Es fehlt der
Begriff der ›Übersublimirung und Resublimirung‹. […] Diese Trieb-
verdrängung ›schafft‹ nicht den ›Geist‹ – beliefert ihn auch nicht mit
Energie – sie beliefert mit Energie den Eros, aus dem erst der Geist
beliefert wird.« (B.I.2, S. 89) Vgl. auch die Kritik aus der Vorlesung
über Philosophie und Psychoanalyse in B.I.67, S. 14 (GW  12, S. 66).
Vgl. oben die Anm. zu 61,7 – 8.
81,8 – 12 Scheler hat seine Lehre von den geistigen Akten der Lei­
tung und Lenkung in »Probleme einer Soziologie des Wissens« ge­
nauer entwickelt: »›Leitung‹ ist die primäre, ›Lenkung‹ die sekundäre
186 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Funktion des Geistes. Leitung ist ein Vorhalten einer wertbetonten


Idee, Lenkung ist Hemmung und Enthemmung der triebhaften Im-
pulse, deren zugeordnete Bewegungen die Idee realisieren. Die Leitung
bestimmt die Art der Lenkung.« (GW  8, S. 40, Fn. 1) »Wir hingegen
sagen: Nur Leitung und Lenkung einer festgeordneten Phasenabfolge
eigengesetzlicher, automatisch eintretender, vom ›Willen‹ der Men­
schen unabhängiger und geist-wert-blinder Geschehnisse und Zu­
stände vermag der menschliche Geist und Wille gegenüber dem Gang
der Realgeschichte zu leisten.« (GW  8, S. 40) Auch schon in »Formen
des Wissens und die Bildung« (1925) ist Scheler auf »Leitung« und
»Lenkung« eingegangen (vgl. GW  9, S. 96), noch nicht hingegen in
Vom Ewigen im Menschen (1921) und im Formalismusbuch (1913/16).
82,18 – 19 Vgl. zur Klassenbedingtheit der Wissenschaft einerseits
durch die Arbeiterklasse, andererseits durch das Bürgertum M. Sche­
ler: »Probleme einer Soziologie des Wissens« (1926), S. 202 ff. (= GW  8,
S. 170 ff.)
82,33 – 35 M. Scheler: »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs«
(1927), in: Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, S. 74 (= GW  9,
S. 164).
84,4 Averroes, arabischer Name Ibn Ruschd (1126 – 1198), ein­
flussreicher Kommentator von Schriften des Aristoteles, besonders
mit drei Kommentaren zu De anima.
84,4 Benedikt de Spinoza: Die Ethik, mit geometrischer Methode
begründet (posthum 1677), in: Werke, lateinisch/deutsch, hrsg. v. Kon­
rad Blumenstock, Bd.  2, Darmstadt 1967, 7. Lehrsatz, S. 396/397.
84,9 Thomas v. Aquin erörtert in der Summa Theologica I in der
Quaestio 75 die Frage, auf welche Weise der Mensch aus einer gei­
stigen und einer körperlichen Substanz zusammengesetzt ist. Dabei
geht er im fünften Artikel auf die Frage ein, ob die Seele aus Stoff und
Form (materia et forma) zusammengesetzt sei (Deutsche Thomasaus-
gabe, Bd.  6, Salzburg/Leipzig 1937, S. 18 ff.).
84,26 Mit »v. Hartmann« ist Eduard von Hartmann gemeint; vgl.
die Anm. zu 139,28 – 29.
85,14 f. Scheler bezieht sich auf Nicolai Hartmanns »kategoriales
Grundgesetz (oder das Gesetz der Stärke)«: »Die höheren Kategorien
setzen immer eine Reihe niederer schon voraus, sind aber ihrerseits
in diesen nicht vorausgesetzt. Die höhere Kategorie ist also allemal
die bedingtere, abhängigere und in diesem Sinne schwächere. Die
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 187

niedere Kategorie dagegen ist allemal die unbedingtere, elementarere,


fundamentalere und in diesem Sinne stärkere.« N. Hartmann: »Kate­
goriale Gesetze«, in: Philosophischer Anzeiger 1, 1926, S. 248.
86,29 In B.I.17, S. 69 statt »Werte«: »Werke«
87,13 Im Begriff der »Drangphantasie« fasst Scheler in seinem
nachgelassenen Vorlesungsskriptum über »Kunst und Metaphysik«
auf der Ebene der Körper-Bilder zwei Momente zusammen: Dasein
und Sosein: »Alles zufällige und bildhafte Sosein der Realität ist
durch die Einheit der Drangphantasie gesetzt: drangbestimmt zufäl­
liges Dasein, Phantasie das zufällige Sosein.« (GW  11, S. 189)
88,20 – 89,10 Vgl. hierzu im Anhang die Ausführungen über
»Sublimirung« (unten S. 146 – 149).
88,26 f. Auf die konstitutive Funktion der »Gestaltgesetze« geht
Scheler ein in: »Erkenntnis und Arbeit«, Abschnitt V: Zur Philosophie
der Wahrnehmung, GW  8, bes. S. 298 ff. »Ich drücke diese Tatsache so
aus: Gestalterfahrung, wie Erfahrung von Seinsformen überhaupt,
pflegt sich zu ›funktionalisieren‹ und bestimmt dann weitgehend fer­
nerhin mögliche Gestalterfahrung. In diesem elementaren Vorgang,
der noch eingehend zu studieren ist, sehe ich das Mittel, uns ver­
ständlich zu machen, wie das, was Kant ›Kategorialfunktion‹ genannt
hat und dessen psychologisch-genetische Entstehung er gegen Hume
mit vollem Rechte leugnete, doch keineswegs, wie er annahm, eine
überhistorisch konstante und nicht weiter erklärbare Einrichtung
des menschlichen ›Vernunftvermögens‹ ist, sondern selbst erst durch
funktionalisierte ursprüngliche Anschauungen von Seinsformen und
Gestalten entsteht. Diese ›Erfahrung‹ erklärt nicht die Gestaltper­
zeption überhaupt, sondern sie vermag nur kompliziertere Gestalt­
perzeptionen auf einfache Gesetze der Gestaltung zurückzuführen
– und zwar auf Gesetze, die dem physikalischen, physiologischen und
psychologischen Gebiete von vornherein gemeinsam, d. h. echt ontolo-
gischer Natur sind.« (GW  8, S. 301)
89,14 f. Zu der These, dass die Geschichte auf einer Explikation
bloßer Ideen beruhe, vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesun-
gen über die Philosophie der Geschichte, in: Hegel, Theorie Werkaus-
gabe, Bd.  12, Frankfurt am Main 1970.
89,16 f. Zu Schelers Auffassung der Geschichte als Ergebnis der
Wechselwirkungsverhältnisse von Ideal- und Realfaktoren vgl. Sche­
ler: »Probleme einer Soziologie des Wissens«, bes. GW  8, S. 97 ff.
188 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

89,17 – 21 »Nach der bisherigen unkritischen, also nicht im Sinn


der absoluten Kritik verfassten Geschichte ist ferner genau zu un­
terscheiden, inwieweit die Masse sich für Zwecke ›interessierte‹ und
wieweit sie sich für dieselben ›enthusiasmierte‹. Die ›Idee‹ blamierte
sich immer, soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschieden war.« Karl
Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1845), in:
Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd.  2, Berlin 1974, S. 85.
90,15 – 17 Bei Paulus heißt es: »Seid nüchtern und wachet; denn
euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe,
und suchet, welchen er verschlinge.« (Neues Testament, 1. Petrus 5, 8).
Vgl. zum Kontext die Ausführungen zur Sublimierung, unten S. 148.
90,17 f. William James (1842 – 1910), amerikanischer Psychologe
und Philosoph, einer der Begründer des Pragmatismus. Vermutlich
bezieht sich Scheler auf W. James: Die religiöse Erfahrung in ihrer
Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und
Pathologie des religiösen Lebens (engl. 1902), dt. Bearbeitung von Ge­
org Wobbermin (1907), 2. verb. Aufl., Leipzig 1914, bes. auf die Vor­
lesungen VI und VII: »The Sick Soul«, sowie Vorlesung VIII: »The
Divided Self, and the Process of its Unification«. Scheler beruft sich
außerdem häufig auf W. James: Das pluralistische Universum. Hib-
bert-Vorlesungen am Manchester College über die gegenwärtige Lage
der Philosophie (engl. 1908), ins Deutsche übertragen und mit einer
Einführung versehen von Julius Goldstein, Leipzig 1914. Schelers
Studienfreund Julius Goldstein wollte mit dieser Schrift James als
Metaphysiker in Deutschland einführen.
90,21 f. Der Teil I von »Probleme einer Soziologie des Wissens«
behandelt »Wesen und Begriff der Kultursoziologie« (GW  8, S. 17 – 51).
Scheler denkt dabei wohl in erster Linie an seine Ausführungen zum
Ordnungsgesetz der Wirksamkeit der Ideal- und Realfaktoren, das
die Bewegungsform der Geschichte beherrsche.
90,25 – 27 Schelers Vortrag: Die Formen des Wissens und die Bil-
dung, ist 1925 im Verlag Cohen in Bonn erschienen; wieder veröffent­
licht in: Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, S. 84 – 123 und die
Anm. S. 143 – 153. Maria Scheler wird hauptsächlich die Anmerkung 11
zu »Leitung« und »Lenkung« gemeint haben: S. 146 f. (GW  9, S. 96 f.,
Anm. 2).
91,9 – 11 Vgl. Benedikt Spinoza, Ethik, mit geometrische Methode
begründet (posthum 1677), Opera/Werke, lat. u. dt., Bd.  2, hrsg. v.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 189

Konrad Blumenstock, Darmstadt 1967. Scheler hielt Spinozas Ethik


für schlechthin »klassisch«. »Wenn es eines der Kennzeichen jener
zeit- und geschichtsüberlegenen Gedankenbauwerke ist, die man
klassische philosophische Systeme nennt, daß sie an Tiefe uner­
schöpflich sind, daß sie ebensowohl den Zeitaltern als den persönli­
chen Geistestypen, die sie zu verstehen und zu verwerten suchen, die
mannigfaltigsten Gesichter bieten und je nach den Fragen, mit denen
man an sie herantritt immer neue Reichtümer des Sinnes offenba­
ren, so ist die Ethik des großen Juden und Weisen Baruch Spinoza
›klassisch‹ im höchsten Verstande. So oft ich in meinem Leben dieses
Werk las, habe ich Neues und Wesentliches in ihm entdeckt, hat es
mir die Seele auf eine mir ganz unvorhersehbare Art neu erhoben und
gekräftigt.« (B.III.34, Bl. 158) Vgl. auch den Vortrag »Spinoza« (1927),
jetzt in: GW  9, S. 171 – 182.
91,22 f. Scheler mag hierbei an seine Ausführungen über »Die Ar­
ten des Wissens um Natur« gedacht haben (GW  8, S. 260 – 282). Seine
Auseinandersetzung mit dem Gegensatz zwischen teleologischer und
mechanischer Naturerklärung lässt sich mindestens bis auf seine aus
dem Druck zurückgezogene Logik zurückverfolgen.
93,9 – 16 Zur gegenseitigen Durchdringung von Geist und Drang
vgl. auch Schelers Aufsatz: »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs«
(GW  9, S. 145 – 170), und nachgelassene Fragmente zur Geschichtsphi­
losophie, GW  13, S. 131 ff., 155 f. u. ö.
96,12 – 15 Nach B.I.17, S. 73 handelt es sich um ein Zitat: »Kretsch­
mer S. 16«: »Die wichtigen Beziehungen zwischen Körperbau und
seelischer Anlage […] fügen sich eng in den Funktionszirkel: Blut­
drüsen – vegetatives Nervensystem – Gehirn ein. Gerade diese Kör­
perbaukorrelationen zeigen uns die Psyche nicht mehr ausschließlich
mit einzelnen Körperorganen funktionell verknüpft, sondern der Ge­
samtkörper, sowohl anatomisch wie physiologisch betrachtet, ist bis
zu einem gewissen Grade Repräsentant dieser Beziehungen gewor­
den. Wenn wir die Gesamtheit aller humoralen und vegetativ-ner­
vösen Wechselbeziehungen mit ihrer Doppelauswirkung einerseits
nach dem nervösen Zentralorgan und der Psyche, anderseits nach
dem körperlichen Aufbau und Funktionsablauf übersehen könnten,
so würden wir wahrscheinlich zu dem Schlusse kommen, dass eine
bestimmte Psyche nur mit einem ganz bestimmten Gesamtkörper
(von außen und innen, funktionell wie anatomisch gleichzeitig be­
190 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

trachtet) gedacht werden kann.« Ernst Kretschmer: Medizinische Psy-


chologie, 3., wesentlich verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1926, S. 16 (Ana
315.Z.761).
97,15 –17 In B.I.17, S. 74 schreibt Scheler hingegen: »Aber dieses
überzentralisirt[e] Seelenbild ist genau so irrig wie das übermechani-
sche Körperbild.«
97,19 – 21 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale
Dialektik, Kritik des vierten Paralogismus: »Ich, durch den innern
Sinn in der Zeit vorgestellt, und Gegenstände im Raume, außer mir,
sind zwar spezifisch ganz unterschiedene Erscheinungen, aber da­
durch werden sie nicht als verschiedene Dinge gedacht. Das transzen-
dentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen, imgleichen das,
was der innern Anschauung zum Grunde liegt, ist weder Materie,
noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter
Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten
sowohl als zweiten Art an die Hand geben.« (A 379 f.)
98,20 Hermann Braus (1868 – 1924), Anatom, Vertreter einer funk­
tionellen Ganzheitsbetrachtung: Anatomie des Menschen. Ein Lehr-
buch für Studierende und Ärzte, 2 Bde., Berlin 1921 – 1924 (nach seinem
Tode zu vier Bänden vervollständigt).
98,20 Armin v. Tschermak (1870 – 1952), österreichischer Physio­
loge: Grundlagen der Allgemeinen Physiologie (Allgemeine Physiologie.
Eine systematische Darstellung der Grundlagen sowie der allgemeinen
Ergebnisse und Probleme der Lehre vom tierischen und pflanzlichen
Leben, Bd.  1), Berlin: Springer 1924 (Ana 315.Z.304). Vgl. bes. das Ka­
pitel II: »Physikalische und physikalisch-chemische Beschaffenheit
der lebenden Substanz«, S. 59 ff. Tschermak schreibt: »Demzufolge ist
die lebende Substanz ganz wesentlich durch das Leben, d. h. durch
bestimmte Erscheinungen und Vorgänge, und zwar durch doppel­
sinnige Veränderung und Autonomie charakterisiert, nicht so sehr
durch bestimmte physikalische, chemische, morphologische. Keine
Charakteristik, welche sich allein oder vorwiegend auf solche Eigen­
schaften stützt, wäre durchgreifend und erschöpfend.« (S. 4, in Sche­
lers Exemplar angestrichen.)
98,26 Hermann Lotze (1817 – 1881), Philosoph und Physiologe: Mi-
krokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit.
Versuch einer Anthropologie (1856 – 1864), 6. Aufl. mit einer Einl. hrsg.
v. Raymund Schmidt, 3 Bde., Leipzig 1923. Zu Lotzes Auseinander­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 191

setzung mit verschiedenen Auffassungen der Wechselwirkungen


zwischen Leib und Seele vgl. bes. Bd.  1, S. 306 ff. Die »aufgefrischte
Wechselwirkungslehre« besagt, »dass eine Wechselwirkung zwischen
einer Vielheit von Dingen nur möglich sei, wenn ein und dasselbe
ganze, aber von ihnen unterschiedene Seiende in allen gemeinsam
tätig und von allen gemeinsam reizbar sei.« M. Scheler, »Die deutsche
Philosophie der Gegenwart« (1922), GW  7, S. 276.
98,27 f. »Forma corporeitatis«, Form der Körperlichkeit, bezieht
sich auf die Diskussion in der mittelalterlichen Philosophie und
Theologie, ob dem Menschen allein durch eine ewige substanzielle
Seele eine individuelle Einheit zukomme (Thomas von Aquin) oder
ob auch dem Körper nach dem Tode, der die Trennung der Seele vom
Körper bedeute, eine spezifische Form (auch als forma cadaveris be­
zeichnet, z. B. der Leichnam Christi) zuzusprechen sei (Duns Scotus),
denn in der irdischen Welt gebe es keine formlosen Gegenstände.
99,22 – 24 Trotz Maria Schelers neuerlicher Korrektur von 1962 ist
wohl gemeint Gustav-Richard Heyer (1890 – 1967), Psychotherapeut
und Tiefenpsychologe, Arzt für innere und Nervenleiden in Mün­
chen. Durch Experimente zeigte er, dass Pawlows Ergebnisse auch für
den Menschen gelten. Die Scheinfütterung von Hypnotisierten führte
zu Magensaftbildungen. Wenn er ihnen suggerierte, »dass sie Bouil­
lon oder Milch tränken, beziehungsweise Brot verzehrten, so floss
nach einigen Minuten der Magensaft in lebhaftestem Fluss […] Aber
nicht nur das – ganz verschieden, je nachdem ob die Versuchsperso­
nen sich den Genuss von Fleischbrühe, Milch oder Brot vorstellten,
erfolgte ein jeweilig ganz anderer Typ des Saftflusses.« G. R. Heyer:
Nervöse Magen- und Darmkrankheiten, Prien 1924, S. 20 f. Auf Heyers
Experimente verweist auch P. Schilder: Das Leib-Seelenproblem vom
Standpunkt der Philosophie und naturwissenschaftlichen Psycho­
logie, in: Oswald Schwarz (Hrsg.), Psychogenese und Psychotherapie
körperlicher Symptome, Wien 1925, S. 45 f., 47 f.
99,31  f. Auf welche »Sache« das Sachregister zu »Erkenntnis und
Arbeit« durchgesehen werden solle, hat (Maria) Scheler nicht gesagt.
Scheler mag an die Gefahr der Auflösung der Körperbilder in Wahr­
nehmungen gedacht haben, auf die er u. a. eingegangen ist in »Er­
kenntnis und Arbeit«, GW  8, S. 287 – 289.
100,4 – 9 In B.I.17, S. 76 verweist Scheler auf H. Braus (vgl. Anm. zu
98,20), A. v. Tschermak (Anm. zu 98,20) und auf Kurt Goldstein, Zur
192 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Theorie der Funktion des Nervensystems, in: Archiv für Psychologie


74 (1924), und K. Goldstein, Lokalisation und Großhirn, in: Hand-
buch der normalen und pathologischen Physiologie, Bd.  10, Berlin 1927,
S. 600 – 842.
100,19 René Descartes (1596 – 1650): Les passions de l’âme (Paris
1649, lat. 1650), dt. Übers. v. Julius Hermann v. Kirchmann: Über die
Leidenschaften der Seele, Leipzig 1891 (PhB 2) (Ana 315.Z.528).
101,3 – 8 In B.I.17, S. 76 f. beruft sich Scheler für die Lehre von der
Gleichwertigkeit der physikalisch-chemischen Reizung von außen
und der psychischen Reizung des menschlichen Erlebnisstroms von
innen vornehmlich auf Paul Schilder: Medizinische Psychologie für
Ärzte und Psychologen, Berlin 1924 (Ana 315.Z.752), besonders auf die
Lehre von der Wahrnehmung (S. 16 – 73). Scheler hält Schilders Buch
für »das weitaus Beste […], was wir an synthetischen Arbeiten über­
haupt in deutscher Sprache besitzen«. (GW  8, S. 333)
101,10 – 15 In B.I.17, S. 77 nennt Scheler Oswald Schwarz, »Psychi­
sche Symptome organischer Erkrankungen«. Gemeint sein könnte
Oswald Schwarz: »Psychogene Störungen der männlichen Sexual­
funktion«, oder: »Das Problem des Organismus«, in: ders. (Hrsg.),
Psychogenese und Psychotherapie körperlicher Symptome, Wien 1925,
345 – 384.
101,17 f. In B.I.17, S. 77 verweist Scheler für die These von der
Gleichwertigkeit physikalisch-chemischer und psychischer Reizung
des Organismus auch auf die Experimente von Paul Schilder: Das
Leib-Seelenproblem vom Standpunkt der Philosophie und natur­
wissenschaftlichen Psychologie, in: Oswald Schwarz (Hrsg.), a. a. O.,
S. 30 – 69.
101,28 Mit dem Begriff des »beziehenden Denkens« spielt Sche­
ler an auf Hermann Lotzes Ausführungen über die »Formen des be­
ziehenden Wissens« in: Mikrokosmos (a. a. O., Anm. zu 98,26), Bd.  1,
S. 247 ff. Scheler bezieht sich außerdem auf den Begriff der »Bezie­
hungserfassung« bei Joseph Lindworsky, vermutlich gemeint: Theore-
tische Psychologie im Umriss, Leipzig 1926 (Ana 315.Z.791), in der zwar
nicht von »Beziehungserfassung«, wohl aber von einer unmittelbar
erlebten »Relationserfassung« die Rede ist. Von diesem »reflexen Er­
leben«, um das sich ein anschaulicher »Erlebnishof« bilde (S. 89 f.),
unterscheidet Lindworsky die nicht mehr als elementar anzusehen­
den »Sachgehalte«: »Es sind das alle jene gedanklichen Inhalte, die
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 193

über die Sachverhaltserfassung des eigenen Erlebens hinausgehen,


nämlich die Beziehungsinhalte, wie gleich, verschieden, rechts von,
entgegengesetzt usw.« (S. 24). Scheler beruft sich auch auf die »Bilder­
wahl bei den Erinnerungsvorgängen«, auf die Erich Becher eingeht:
Gehirn und Seele, Heidelberg 1911 (vgl. die Anm. zu 139,30). Vgl. oben
die Anm. zu 33,29 – 30.
102,21 f. Von der Einseitigkeit der indischen Medizin als »Seelen­
technik« spricht Scheler auch in GW  8, S. 136 f. und in »Vom Sinn des
Leides«, GW  6, S. 53 ff.
103,1 Der theistische Kreationismus glaubt nach Scheler an eine
Welt, »in deren Ganzheit und Einheit derselbe Schöpfer, der die Welt
und unsere Seelen unmittelbar schuf, uns hineingesetzt hat, ihn zu
lieben, ihn zu preisen und ihm gehorsam zu sein. Wir dürfen dies
nicht nur, wir sollen es sogar. Und wir sollen es nicht nur um des
einen heiligsten Blutes selber willen, das für dieser einen Welt soli­
darische Sünde und Schuld, das um der gemeinsamen all ineinander
so wunderbar verwobenen Drangsale aller Kinder Adams, ja aller
Kreatur dahinströmte: Wir sollen es auch darum noch, auf dass wir
unsere Seelen und Gedanken erleuchten und frei genug machen, um
auch unseren praktischen Dienst an Deutschland auf rechte Weise zu
tun, und das heißt in letzter Linie auf eine Weise, wie sie Gott wohl­
gefällig ist.« Scheler: Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige
Welt (1917), GW  5, S. 357.
103,3 Gregor Johannes Mendel (1822 – 1884), österreichischer
Naturforscher: Versuche über Pflanzenhybride. Zwei Abhandlungen
(1866 und 1870), hrsg. v. Erich v. Tschermak (1901), Leipzig 41923.
103,23 – 28 Scheler beruft sich in B.I.17, S. 82 auf Kurt Goldstein:
Die Topik der Großhirnrinde in ihrer klinischen Bedeutung, in:
Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 77 (1923), S. 7 – 124. Vgl. auch
Adhémar Gelb, Kurt Goldstein: Psychologische Analysen hirnpatho-
logischer Fälle auf Grund von Untersuchungen Hirnverletzter, Berlin
1922.
104,11 – 14 Zum »Phantasieüberschuss« vgl. die Anm. zu 104,35.
104,23 – 105,2 Auf Untersuchungen über den Energiebedarf des
menschlichen Gehirns hat Scheler auch in seinem Vortrag über die
Formen des Wissens und die Bildung (1925) hingewiesen, darunter auf
Hans Friedenthal: Allgemeine und spezielle Physiologie des Menschen-
wachstums, Berlin 1914, und Rudolf Ehrenberg: Theoretische Biologie
194 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

vom Standpunkt der Irreversibilität des elementaren Lebensvorganges,


Berlin 1923.
Scheler bezieht sich vermutlich auf L. Edinger, B. Fischer: Ein
Mensch ohne Großhirn, Bonn 1913. Dort heißt es: »Es ist nun erstaun­
lich, wie viel weniger dieser Mensch ohne Großhirn leistete als die
bekannten Hunde. […] Unser Kind ohne Großhirn war weniger lei­
stungsfähig als ein Fisch oder als ein Frosch ohne Großhirn.« (S. 26 f.,
von Scheler in seinem Exemplar angestrichen; Ana 315.Z.930)
104,35 Der Abschnitt V, B von »Erkenntnis und Arbeit« behandelt
»Wahrnehmung und Phantasie«, GW  8, S. 343 – 358.
105,11 f. Mit der These von einer »Übersteigerung« des Gegensat­
zes von Leben und Anorganischem bezieht sich Scheler vor allem auf
Hans Driesch: Leib und Seele, Leipzig 1916 (Ana 315.Z.672).
105,19 f. Zu Herbert Spencer Jennings vgl. Anm. zu 21,8. Bei Jen­
nings heißt es a. a. O. S. 444: »Der Organismus ist Tätigkeit …«.
106,29 Mit der Umschreibung des Verhältnisses zwischen einem
Lahmen (Geist) und einem Blinden (Leben) bezieht sich Scheler in
B.I.17, S. 84 auf Schopenhauer (vgl. GW  15, S. 97); vgl. das Zitat oben
in der Anm. zu 76,5 – 12.
107 – 111 Diese Passage findet sich nicht in B.I.17; im Manuskript­
heft S. 84 geht Scheler unmittelbar auf seine Auseinandersetzung mit
L. Klages über (vgl. unten S. 111 ff.).
107,10 – 14 Julien Offray de la Mettrie (Lamettrie) (1709 – 1751),
französischer Philosoph der Aufklärung: L’homme machine, Leiden
1748; dt. Übers. v. Brahn, Leipzig 1909.
107,16 – 18 David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur,
hrsg. v. Reinhard Brandt, 2 Bde., Hamburg 31989.
107,18 – 21 Zu Ernst Mach vgl. oben Anm. zu 76,23 – 24. In seinem
Sammelband: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des
Physischen zum Psychischen (1896), 4. verm. Aufl. Jena 1903 (Ana
315.Z.1033) vgl. insbesondere den Aufsatz: »Antimetaphysische Vor­
bemerkungen«, S. 1 – 30. Mach versteht das Ich als einen »an einen be­
sonderen Körper (den Leib) gebundenen Komplex von Erinnerungen,
Stimmungen, Gefühlen« (S. 2), der ebenso wenig absolut beständig sei
wie die Körper (S. 3). Vgl. dazu im Formalismusbuch den Abschn. VI,
A, 3e: »›Leib‹ und ›Umwelt‹ ist nicht die Voraussetzung der Scheidung
›Psychisch‹ und ›Physisch‹« (GW  2, S. 402 – 412). Gegen Machs Theorie
stellt Scheler seine Auffassung, dass die »Ichheit« bzw. das »individu­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 195

elle Ichsein« ein Datum unmittelbarer Intuition sei. »Das Wesen ›Ich­
heit‹ aber ist für das Wesen ›psychisch‹ konstitutiv und steht mit der
Richtung innerer Wahrnehmung in einem Wesenszusammenhang,
der in der formlosen puren Intuition selbst noch in beiden Gliedern
gegeben ist.« (GW  2, S. 408)
108,13 – 17 Zu Schelers Auseinandersetzung mit dem Positivismus
und dessen »neuestem Ableger«, dem vom amerikanischen Mathe­
matiker und Philosophen Charles Sanders Peirce (1839 – 1914), von
William James (vgl. Anm. zu 90,17 – 18), F. C. S. Schiller (1864 – 1937)
und John Dewey (1859 – 1952) entwickelten Pragmatismus vgl. Sche­
ler: Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1922; GW  7, S. 293 – 297)
und: Erkenntnis und Arbeit, GW  8, S. 193 – 382, bes. S. 212 – 226, sowie
die »Zusätze«, S. 447 – 465.
108,21 Hans Vaihinger (1852 – 1933), Vertreter eines durch Nietz­
sche modifizierten Pragmatismus, Begründer des »Fiktionalismus«:
Die Philosophie des Als-ob. Mit einem Anhang über Kant und Nietz­
sche (1911), 9./10. Aufl. Leipzig 1927. In »Erkenntnis und Arbeit« hebt
Scheler in Vaihingers fiktionalistischer Form des Pragmatismus das
Festhalten an der sensualistischen Erkenntnistheorie hervor, wonach
alles, was über sinnlich Wahrnehmbares hinausgeht, als »Fiktion«
bezeichnet wird, so dass die inneren Wesensunterschiede zwischen
übersensuellen Seinsformen, hypothetischen Realitätsannahmen,
religiösen Gegenständen usw. bestritten werden (GW  8, S. 225 f.).
Vgl. Scheler: Die deutsche Philosophie der Gegenwart« (1922; GW  7,
S. 296 f.) und Vaihingers Selbstdarstellung in: Die Philosophie der
Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Raymund Schmidt, Bd.  2,
Leipzig 21923, S. 183 – 212.
109,7 Das Zitat »Der Mensch ist, was er ißt« stammt ursprünglich
nicht von Carl Vogt (1817 – 1895, Prof. der Zoologie: Vorlesungen über
den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte
der Erde, Gießen 1863), sondern von Ludwig Feuerbach. In seinem
Aufsatz: »Das Geheimnis des Opfers, oder: Der Mensch ist, was er
ißt« (1862), bezeichnet Feuerbach den Satz, den er bereits in einem
Aufsatz von 1850 ausgesprochen hatte, als den einzigen Satz, »der von
meinen bekanntlich längst ›verschollenen‹ Schriften noch heute ge­
wissen Leuten in den Ohren klingt« (Feuerbach, Gesammelte Werke,
Bd.  11, hrsg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1982, S. 26) – wenn Sche­
ler ihn auch nicht mehr auf den richtigen Autor zurückzuführen ver­
196 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

mochte. Scheler hat sich offenbar auch nicht mehr an Franz v. Baaders
Aufsatz über »Alle Menschen sind im seelischen guten oder schlim­
men Sinn unter sich Anthropophagen« (1834) erinnert, wo es heißt:
»man ist, sagt Paracelsus, was man isset«, d. h. aufgrund seelischer
und leiblicher »Alimentation«.
109,21 – 110,5 Vgl. zur anthropologischen Priorität des Macht­
triebs M. Schelers Vorträge über »Politik und Moral«, bes. GW  13,
S. 18 ff.
109,24  f. Scheler nimmt im Rahmen seiner Auseinandersetzung
mit dem Pragmatismus nur kurz zum historischen Materialismus
von Karl Marx Stellung; vgl. »Erkenntnis und Arbeit«, GW  8, S. 222 f.
und 242 ff.
110,4 f. Zu Alfred Adler vgl. die Anm. zu 77,16 – 17.
110,9 – 11 Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vor-
stellung, Bd.  2, 4. Buch, Kap. 45: »Von der Bejahung des Willens zum
Leben«: Der Geschlechtsakt sei die Konzentration, der Brennpunkt
des Willens zum Leben. »In diesem Akt also spricht das innere Wesen
der Welt sich am deutlichsten aus.« Die Bejahung des Willens zum
Leben, die natura naturans komme allererst in dem mit Vernunft
ausgestatteten Lebewesen, dem Menschen, zur Besinnung (Schopen­
hauer: Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet und hrsg. v. Wolfgang
Frh. v. Löhneysen, Bd.  2, Darmstadt 1961, 731 f.).
110,25 f. Für seine Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds Lie­
bestheorie verweist Scheler auf die jüngste Auflage seines Buchs: We-
sen und Formen der Sympathie (1923), 3. Aufl. 1926, S. 195 – 208. Dort
sagt er jedoch, dass er »Freuds Lehre von der Genese der Liebesarten«
nur kurz behandeln werde. Eingehender wolle er sie im zweiten Band
dieses Werkes behandeln – gemeint war damit seine geplante, aber
nicht über den ersten Band hinausgekommene Schriftenreihe: Die
Sinngesetze des emotionalen Lebens: Band 2: Wesen und Formen des
Schamgefühls; Band 3: Wesen und Formen der Angst und Furcht,
Band 4: Wesen und Formen des Ehrgefühls. Mit diesen vier Bänden
wollte Scheler alle Hauptstämme des emotionalen Lebens behandelt
haben (GW  7, S. 10).
111,12 – 15 Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik (a. a. O. Anm. zu 91,9 – 11),
Teil IV: »Von der menschlichen Knechtschaft«, 7. Lehrsatz.
111,20 In B.I.17, S. 84 spricht Scheler sehr viel respektvoller von
dem »sehr tiefdenkenden und hochverdienstvollen Klages«.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 197

111,23 – 25 M. Scheler: Die transzendentale und die psychologi-


sche Methode (1900), jetzt in GW  1, S. 197 – 335. Da Scheler in dieser
Schrift mit Eucken von »geistiger Lebensform« spricht, die er vom
»psychischen Sein« unterscheidet (z. B. GW  1, S. 329 ff.), ist die Un­
terscheidung keineswegs so klar, wie Scheler später behauptet hat,
denn »Leben« schreibt er beiden Seiten der Unterscheidung zu. In
der Vorrede zur 2. Auflage spricht Scheler auch viel vorsichtiger von
»Gedankenkeimen«, die er weiterentwickelt habe; zu ihnen zählt er
die Unterscheidung des Geistes sowohl von der Seele als auch von
der Vernunft (GW  1, S. 203), wodurch sich die Frage stellt, ob Scheler
Anfang der 20er Jahre die Vernunft schon dem Geist oder noch der
Seele zuordnet oder ob er in ihr eine dritte Position sieht.
Zum Beleg für die partielle Gemeinsamkeit mit der Philosophie
von Klages verweist Scheler in B.I.17, S. 84 auf seinen Aufsatz: »Zur
Idee des Menschen« (GW  3, S. 171 – 195). Zum Verhältnis Scheler – Kla­
ges vgl. Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie,
Berlin 1994.
112,1 Scheler führt in »Mensch und Geschichte« (1926; GW  9,
S. 139) die folgenden Schriften des Psychologen und Philosophen
Ludwig Klages (1872 – 1956) an, alle ohne Erscheinungsort und -jahr:
Mensch und Erde (1913), erweiterte Auflage Jena 1937; Vom Wesen des
Bewusstseins. Aus einer lebenswissenschaftlichen Vorlesung, Leipzig
1921 (Ana 315.Z.165); Vom kosmogonischen Eros (1921), 3. veränd. Aufl.
Jena 1930 (Ana 315.Z.807). In Schelers Handbibliothek befinden sich
außer den beiden zuletzt genannten noch weitere Schriften von Kla­
ges: Prinzipien der Charakterologie, Leipzig 1910 (Ana 315.Z.160); Aus-
drucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft
vom Ausdruck, 3. und 4. Aufl., Leipzig 1923 (Ana 315.Z.161); Die psycho-
logischen Errungenschaften Nietzsches, Leipzig 1926 (Ana 315.Z.1024).
Schelers Rückbindung von Klages einerseits an Freud, andererseits
an die genannten Panromantiker lehnte der Schweizer Philosoph und
Psychoanalytiker Hans Kunz (1904 – 1982) entschieden ab. Sie könne
nur den einen Sinn gehabt haben, »den gemeinsamen geistvernei-
nenden Zug in der wissenschaftlichen Forschung sowohl wie in der
›dahinter‹ wirkenden metaphysischen Überzeugung herauszuheben,
abgesehen von den übrigen entscheidenden radikalen Unterschieden
nach Weite und Tiefe des Weltbildes«. Hans Kunz, »Psychologie der
psychoanalytischen Weltanschauung«, in: Auswirkungen der Psycho-
198 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

analyse in Wissenschaft und Leben, hrsg. v. Hans Prinzhorn, Leipzig


1928, S. 78.
112,4 Edgar Dacqué (1878 – 1945), Prähistoriker und Naturphilo­
soph: Urwald, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphy-
sische Studie, München 1924; Natur und Seele. Ein Beitrag zur magi-
schen Weltlehre, München/Berlin 1926.
112,4 f. Der Ethnologe und Kulturphilosoph Leo Frobenius
(1873 – 1938) hat auf der Darmstädter Tagung 1927 einen Vortrag ge­
halten über: »Erdenschicksal und Kulturwerden« (a. a. O., S. 139 – 160).
Am bekanntesten wurde Frobenius durch seine Schrift: Paideuma.
Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München 1921 (Ana 315.Z.481).
Scheler hat sich auch mit Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes
(Berlin 1904) auseinandergesetzt. Vgl. die Notizen in B.III.34, Bl. 206.
112,5 Carl Gustav Jung (1875 – 1961), Schweizer Psychoanalytiker,
hat auf der Darmstädter Tagung 1927 gesprochen über: »Die Erdbe­
dingtheit der Psyche« (a. a. O., S. 83 – 137). Obwohl Scheler von Jungs
Vortrag sehr beeindruckt war, hat er sich nicht mehr ausführlich mit
seinen Schriften beschäftigt.
112,5 Der Psychoanalytiker und Klages-Anhänger Hans Prinz­
horn (1886 – 1933) hat auf der Darmstädter Tagung gesprochen über:
»Die erdentrückbare Seele« (a. a. O. S. 277 – 296). Er gab den Sammel­
band: Auswirkungen der Psychoanalyse in Wissenschaft und Leben,
Leipzig 1928 heraus, für den Scheler einen Artikel über »Metaphysik
und Psychoanalyse« verfassen sollte. Vorstudien dazu befinden sich
im Nachlass (u.a. in B.I.25, S. 14 – 18). Im WS 1927/28 hielt Scheler, par­
allel zu seiner letzten Vorlesung über die philosophische Anthropolo­
gie, eine einstündige Vorlesung über Psychoanalyse (das Manuskript
für die erste Vorlesung befindet sich im Nachlass, B.I.67, S. 1 – 23, teil­
weise – mit Abweichungen – veröffentlicht in GW  12, S. 59 – 71). Hans
Prinzhorn schrieb im Vorwort, dass Max Scheler der einzige sei, »der
das Thema ›Metaphysik und Psychoanalyse‹ in seinen letzten Tiefen
hätte verfolgen können«. (S. 10)
112,6 Der Kulturphilosoph Oswald Spengler (1880 – 1936) veröf­
fentlichte das viel diskutierte Buch: Der Untergang des Abendlandes,
Bd.  1, Wien 1918; Bd.  2, München 1922. Im Nachlass Schelers befinden
sich die bisher unveröffentlichten, mehrfach überarbeiteten Manu­
skripte von Vorträgen über Oswald Spengler von ca. 1922/24 (B.I.257
und B.I.258), in denen sich Scheler insbesondere mit Spenglers nach
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 199

dem verlorenen Weltkrieg wirkungsvollen Kulturpessimismus aus­


einandersetzt und ihm seine eigene optimistischere Geschichtsphi­
losophie entgegensetzt.
112,18 – 25 Der Philosoph und einstige Freund von Ludwig Kla­
ges, Theodor Lessing (1872 – 1933), veröffentlichte das provokante
Buch: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1921), 4., völlig umge­
arb. Aufl. München 1927 (Ana 315.Z.1422). Die Korrektur des Zitats
(vgl. die Fn. zu S. 112,24) hat Maria Scheler erst in der 6. Aufl. der
Kosmos-Schrift vorgenommen.
113,11 Ludwig Klages hat in seinem Werk Vom kosmogonischen
Eros (1921, Bonn 91988) an den Schweizer Rechtshistoriker und Alter­
tumsforscher Johann Jakob Bachofen (1815 – 1887) erinnert, der in sei­
nen beiden Hauptwerken: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über
die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen
Natur (Stuttgart 1861) und: Versuch über die Gräbersymbolik der Al-
ten (Basel 1859) »die ganze abendländische Vorgeschichte aus dem
Gesichtspunkt des Kampfes zwischen ›Matriarchalismus‹ und ›Pa­
triarchalismus‹ zu deuten unternahm, mit divinatorischer Sicherheit
in Sagen und Sinnbildern die Unterschicht ihrer ältesten Bildungsan­
triebe freilegte und mit den Tragpfeilern beispielloser Gelehrsamkeit
den Satz vom Dasein einer um Zeit- und Völkerschranken unbeküm­
merten Urreligion zu stützen vermochte« (Klages 1988, S. 225).
113,30 – 34 M. Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs
(1927), in GW  9, S. 145 – 170.
114,13 In GW  9, S. 66 f. folgt die Passage unten S. 115,3 – 11.
115,14 f. Zitat aus Friedrich Hölderlin: »Sokrates und Alcibiades«
(Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, hrsg. v. Friedrich Beissner, Bd.  1,
Stuttgart 1944, S. 256).
116,7 – 10 Die Aufzählung von Monopolen erhebt keinen An­
spruch auf Vollständigkeit, auch nicht auf eine systematische Ord­
nung, wenn sie auch sichtlich auf eine umfassende Theorie der Kultur
angelegt ist. In seiner Übersicht über die Anthropologie-Vorlesung
von 1925 fügt Scheler z. B. noch die Nennfunktion der Zeichen und
den Geschmack hinzu (GW  12, S. 19).
117,6 – 10 Vgl. Scheler: Vom Wesen der Philosophie (GW  5, S. 61 –
99) und die Ausführungen zu den drei möglichen Bedeutungen des
Wortes »Nichts« in: Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee
(GW  10, S. 204).
200 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

117,19 – 22 »So natürlich die Annahme allmähliger Ausbildung


der Sprachen ist, so konnte die Erfindung nur mit Einem Schlage
geschehen. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die
Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn.« Wilhelm von
Humboldt: Ȇber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf
die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung« (1820), in: Wil­
helm v. Humboldt: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Albert Leitzmann,
Bd.  4, Berlin 1905, S. 1 – 34, hier: S. 15.
117,30 f. »Der Gegenstand der Philosophie und die philosophi­
sche Erkenntnishaltung«, in: M. Scheler: Vom Wesen der Philoso­
phie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens
(1917/21), in: Vom Ewigen im Menschen (1921), GW  5, S. 92 – 99. Auch
in »Probleme der Religion« spricht Scheler über die Wesensnotwen­
digkeit eines Zusammenhangs zwischen Welt-, Selbst- und Gottes­
bewusstsein: »Die Welt ist Welt (und nicht Chaos) und die Welt ist
eine Welt nur, wenn und weil sie Gottes Welt ist – wenn und weil
derselbe unendliche Geist und Wille in allem Seienden tätig und
kräftig ist. Genau wie die Einheit der Menschennatur in letzter Linie
nicht ruht in aufweisbaren Naturmerkmalen des Menschen, sondern
in seiner Gottebenbildlichkeit, und die Menschheit als Ganzes nur
eine Menschheit ist, wenn alle Personen und Gliedteile vermöge ihrer
Verknüpfung mit Gott auch untereinander rechtlich und moralisch
verbunden sind, so ist auch die Welt nur um Gottes Einheit willen
eine Welt.« (GW  5, S. 107 f.)
118,20 f. Zur »dritten Reflexio« muss es auch eine erste und zweite
Reflexio geben: S. 15 die erste, S. 52 die zweite; doch erwähnt Scheler
dort weder eine erste noch eine zweite Reflexio. Dagegen kommen
diese Unterscheidungen deutlicher im Vortragsmanuskript zum Aus­
druck: B.I.17, S. 3 spricht Scheler von der »primitiven re-flexio der
Empfindung, wie sie bei der Pflanze gegeben ist«, und B.I.17, S. 33 von
der »einfachen Rückmeldung des tierischen Leibschemas«, die die
Sphäre des tierischen Seins bestimme. Der »geistige Akt« des Selbst­
bewusstseins konstituiere schließlich die Sphäre des Menschseins.
119,23 Vgl. GW  5, S. 87 ff.: Ursprung der Metaphysik.
120,8 Zur Stifterreligion vgl. Scheler: »Probleme einer Soziologie
des Wissens«, insbes. Abschn. II, B: »Zur Soziologie der Religion«,
GW  8, S. 69 – 84; GW  5, Sachreg. »Stifter«, und GW  10, S. 274 ff.: »Typo­
logie der religiösen Vorbilder und Führer«. Noch die letzten Notiz­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 201

hefte Schelers zeigen, dass er einen Essai über die »Vergottung des
Stifters« schreiben wollte (B.II.66, S. 51; B.II.67, S. 7).
120,27 f. Zur »Vergottung des Stifters« (S. 122,8) vgl.: Probleme ei­
ner Soziologie des Wissens (GW  8, S. 73 f.). Der von Scheler angekün­
digte Aufsatz über die Soziologie der Vergottung des Stifters (GW  8,
S. 73, Fn. 3) ist nicht mehr ausgearbeitet worden. Einige Notizen in
B.II.67, S. 24 zeigen, dass Scheler die Vergottung des Stifters in China,
im Mahayamabuddhismus, in der Antike und natürlich auch die Ver­
gottung Jesu behandeln wollte.
122,11 Die Metapher des »menschlichen Herzens« kann dem Kon­
text zufolge weder als »Gemüt« noch als »Organ seelischer Gefühle«
verstanden werden, sondern in dem engeren Sinne eines Fühlens der
absoluten Wertrangordnung, wodurch der Mensch Anteil gewinnt
am Prozess der Selbstverwirklichung Gottes, in dem Mensch- und
Gottwerdung aufeinander angewiesen sind (S. 122,21 f.). Vgl. oben
die Anm. zu 58,5.
124,7 – 9 In diesem Satz klingt nach, was Scheler 1921 über die
»Glaubensevidenz« geschrieben hat: »Nur die Freiheit des Glaubens­
aktes im Unterschiede vom rein sachgebundenen Verstandesakte
macht die Evidenz des Glaubens und die ›felsenfeste Gewissheit‹
möglich. Glaube ist freie Einsetzung der Person und ihres Kernes für
den Glaubensinhalt und das Glaubensgut« (GW  5, S. 147).

Zum Anhang

Darmstädter Einleitung

127,18 f. Der Titel »Monopole des homo sapiens« nimmt die Über­
schrift des Heftes B.I.17 auf. Wer der »Jemand« ist, von dem die Be­
schreibung der Sonderstellung des Menschen durch »Monopole des
homo sapiens« stammt, konnte nicht ermittelt werden.
128,13 Hermann Klaatsch (1863 – 1916), Mediziner, Anatom und
Anthropologe: Entstehung und Entwicklung des Menschenge­
schlechts, in: Hans Kraemer (Hrsg.): Weltall und Menschheit, Berlin/
Leipzig 1902; Die Stellung des Menschen im Naturganzen, in: Die
Abstammungslehre. Zwölf gemeinverständliche Vorträge über die De-
szendenztheorie im Licht der neueren Forschung, Jena 1911, S. 321 – 483;
202 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Der Werdegang der Menschheit und die Entstehung der Kultur, Berlin
1916.
128,13 Johannes Ranke (1836 – 1916), Physiologe und Anthropo­
loge der Universität München, bei dem Scheler 1894 eine Vorlesung
über Anthropologie gehört hat: Der Mensch, 2 Bde., Leipzig 1886/87.
Eine zweite, gänzlich neu bearbeitete Auflage erschien in Leipzig
1894.
128,13 Julius Kollmann (1834 – 1918), Zoologe, Anatom und An­
thropologe: Plastische Anatomie des menschlichen Körpers. Ein Hand-
buch für Künstler und Kunstfreunde (1886), 3. verm. und umgearb.
Aufl., Leipzig 1910. Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte des Men-
schen, Jena 1898.
128,13 Adolf Naef (1883 – 1949), Schweizer Zoologe: Idealistische
Morphologie und Phylogenetik. Zur Methodik der systematischen
Morphologie, Jena 1919 (Ana 315.Z.1205).
128,13 Lodewijk Bolk (1866 – 1930), holländischer Anatom: Das
Problem der Menschwerdung, Jena 1926. In B.I.65, S. 50 zitiert Scheler
Bolks Definition des Menschen als »infantilen Affen mit gestörter
innerer Secretion«. In seinem eigenen Exemplar strich Scheler die
Stelle an: »dann möchte ich den Menschen in körperlicher Hinsicht
als einen zur Geschlechtsreife gelangten Primatenfetus bezeichnen«
(Ana 315.Z.755, S. 8).
128,13 Max Westenhöfer (1871 – 1957), Pathologe und Biologe: Die
Aufgaben der Rassenhygiene (des Nachkommenschutzes) im neuen
Deutschland, Berlin 1920.
128,14 Zu Edgar Dacqué vgl. die Anm. zu 112,4.
128,14 Gustav Schwalbe (1844 – 1916), Anatom und Anthropologe:
Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane, 2 Bde., Erlangen 1887; Stu-
dien zur Vorgeschichte des Menschen, Stuttgart 1906.
128,14 f. Hans Friedenthal (1870 – 1942), Physiologe und Anthro­
pologe: Neue Versuche zur Frage nach der Stellung des Menschen
im zoologischen System (SB. d. Kgl. Akad. d. Wiss. Berlin, 10.7.1902);
Beiträge zur Naturgeschichte des Menschen, Jena 1908; Die Sonder-
stellung des Menschen in der Natur. Mensch und Affe, Berlin 1925;
Menschheitskunde, Leipzig 1927. Friedenthal leitet die »Stellung des
Menschen im Reiche der Lebewesen« aus der menschlichen Physis ab,
einschließlich der Frage nach dem »voraussichtlichen Endziel, dem
die bisherige Entwicklung des Menschengeschlechtes entgegenstrebt«
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 203

(Beiträge 1908, S. 4): Das Endziel liege »keineswegs in der Erhaltung


der Tiergattung (›Mensch‹)« (S. 18).
128,34 Auguste Comte (1798 – 1857), französischer Mathematiker,
Philosoph und Religionskritiker, Begründer des (französischen) Po­
sitivismus: Cours de philosophie positive, 6 Bde., 1826 – 1842. Deutsch:
Soziologie. Aus dem französischen Original ins Deutsche übertragen
v. Valentine Dorn und eingeleitet von Heinrich Waentig, 2. Aufl.,
3 Bde., Jena 1923. Vgl. Scheler: Über die positivistische Geschichtsphi­
losophie des Wissens (Dreistadiengesetz) (1921), GW  6, S. 27 – 35. Sche­
ler sieht ein Verdienst der positivistischen Philosophie A. Comtes,
Spencers und anderer trotz der Beschränkung des Erkenntnisziels auf
das »voir pour prévoir« darin, die Erkenntnistheorie mit der soziolo­
gischen Statik und Dynamik in Zusammenhang gebracht zu haben
(GW  6, S. 29).
128,34 f. In Fragen der Rassenlehre, d. h. der »exakten Erblich­
keitslehre« seit Mendel, bezieht sich Scheler u. a. auf Jos. Arthur de
Gobineau und Westenhöfer (s. Anm. zu 128,13).
130,30 Zu Carl von Linné s. Anm. zu 8,25.
131,22 Zu Paul Alsberg s. Anm. zu 75,12 – 13.
133,17 Mit »Freitag« vermutlich gemeint: Willy Freytag: Die Er-
kenntnis der Außenwelt. Eine logisch-erkenntnistheoretische Unter-
suchung, Halle 1904. Auf W. Freytag verweist Scheler ohne nähere
Angaben auch in »Realismus – Idealismus«, GW  9, S. 191.
133,17 Hermann Weyl (1885 – 1955), Mathematiker, Physiker und
Philosoph: Was ist Materie? – Zwei Aufsätze zur Naturphilosophie,
Berlin 1924.
133,19 Philipp Frank (1884 – 1966), österreichischer Physiker
und Wissenschaftstheoretiker, Mitbegründer des »Wiener Kreises«:
»Das Relativitätsprinzip und die Darstellung der physikalischen Er­
scheinungen im vierdimensionalen Raum«, in: Annalen der Natur-
philosophie 10 (1911), S. 129 – 161; »Die statistische Betrachtungsweise
in der Physik«, in: Die Naturwissenschaften. Wochenschrift für die
Fortschritte der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik 7
(1919), S. 701 – 705, 723 – 729.
133,19 Hans Reichenbach (1891 – 1953), Mathematiker und Wissen­
schaftstheoretiker des »Berliner Kreises«, der sich als geistesverwandt
mit dem »Wiener Kreis« verstand: Relativitätstheorie und Erkenntnis
a priori, Berlin 1920 (Ana 315.Z.1767); Axiomatik der relativistischen
204 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Raum-Zeit-Lehre, Berlin 1924; Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Ber­


lin 1928.
133,19 Albert Einstein (1879 – 1955), Physiker, Nobelpreis 1921,
Begründer der allgemeinen Relativitätstheorie: Die Grundlage der
allgemeinen Relativitätstheorie, in: Annalen der Physik 49 (1916),
S. 769 – 822 (als Broschüre Leipzig 1916). Ders.: Über die spezielle und
die allgemeine Relativitätstheorie, Braunschweig 1917 (Ana 315.Z.1840).
133,19 Max Planck (1858 – 1947), Physiker, Nobelpreis 1918, Be­
gründer der Quantentheorie: Die Einheit des physikalischen Welt-
bildes (Vortrag, 1908), Leipzig 1910 (Ana 315.Z.1882); Die Entstehung
und bisherige Entwicklung der Quantentheorie (Nobel-Vortrag, 1920),
Leipzig 1920 (Ana 315.Z.1967); Physikalische Rundblicke, Leipzig 1922.
134,11 »Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand
Gewissen als der Betrachtende.« Goethe, Maximen und Reflexionen
(1824), in: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens.
Münchner Ausgabe, Bd.  17, München 1991, S. 758, Nr. 241.
134,20 Zur Frage einer sempitern dauernden Unsterblichkeit der
Person vgl. unten S. 135,27 ff. und die Anm. zu 136,11 – 15.
134,35 – 135,2 Nicolai Hartmann hat in seiner Ethik (1926, Kap. 84)
als offene Frage stehen gelassen, ob es »neben der Freiheit des Willens
den geschauten Werten gegenüber auch noch eine Freiheit der Wert-
schau selbst« gebe. »Falls es also eine Freiheit des Wertgefühls gibt,
so ist sie jedenfalls eine in ganz anderem Maße beschränkte als die
aktuelle Entscheidungsfähigkeit den geschauten Werten gegenüber.«
(Ethik, Berlin/Leipzig 1926, S. 733) Scheler hat Hartmanns offene
Frage für sich selber apodiktisch entschieden. Zu Schelers Ausein­
andersetzung mit N. Hartmann vgl. das Vorwort zur 3. Auflage des
Formalismusbuchs, GW  2, S. 19 – 23, die vier Seiten des Heftes B.I.32:
Zu Hartmann: Ethik, und B.I.34 (Abschrift: CC.VII.6).
135,5 »Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir!
Amen.« Mit diesen Worten soll Martin Luther auf dem Reichstag zu
Worms am 18. April 1521 seine Antwort auf die Frage beendet haben,
ob er seinen Abfall von der Kirche widerrufen wolle.
135,6 Anspielung auf Hegels These: »Die Weltgeschichte ist der
Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir
in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« (Vorlesungen über die
Philosophie der Geschichte, in: G. W. F. Hegel, Theorie Werkausgabe,
Bd.  12, S. 32)
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 205

135,14 Mendelsche Gesetze: s. Anm. zu 103,3.


136,11 – 15 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den
letzten Jahren seines Lebens, hrsg. v. Heinz Schlaffer, München 1986
(Münchner Goetheausgabe, Bd.  19). »Solche Männer und ihres Glei­
chen, erwiderte Goethe, sind geniale Naturen, mit denen es eine ei­
gene Bewandtnis hat […] Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewig­
keit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden
ist, machen sie nicht alt. – Ist diese Entelechie geringer Art, so wird sie
während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben,
vielmehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie
ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art,
wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie […] bei ihrer
geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend
geltend zu machen suchen. […] Ich sage dies, indem ich erwäge, wie
oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten eine andere Gestalt
gab, und wie einzelne Menschen durch das, was von ihnen ausging,
ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch in nachfolgenden
Geschlechtern kenntlich blieb und wohltätig fortwirkte.« (11. März
1828, S. 609 – 611)
136,18 f. Anspielung auf Blaise Pascal (1623 – 1662): Pensées sur la
religion, et sur quelques autres sujets, (posthum) Paris 1670 (Pensées
de Blaise Pascal, nouvelle édition par L. Brunschvicg, Bd.  2, Paris
1904, Nr. 347, 261 f.): »L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible de
la nature; mais c’est un roseau pensant. Il ne faut pas que l’univers
entier s’arme pour l’écraser: une vapeur, une goutte d’eau, suffit pour
le tuer.« (Blaise Pascal, Über die Religion, übertr. u. hrsg. v. Ewald
Wasmuth, Berlin 1937, S. 166: »Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste
in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht ist
es nötig, daß sich das All wappne, um ihn zu vernichten: ein Wind­
hauch, ein Wassertropfen reichen hin, um ihn zu töten.«)
136,30 Hinweis auf Scheler: Zur Soziologie der Religion, in: Die
Wissensformen und die Gesellschaft (1926), in: GW  8, S. 69 – 84.
137,9 Zu Kants Lehre von der Unsterblichkeit der Seele vgl. die
Kritik der praktischen Vernunft, Zweites Buch, Abschn. IV: Die Un­
sterblichkeit der Seele, als ein Postulat der reinen praktischen Ver­
nunft, A 219 ff.
137,10 Das Gesetz der »transcendentalen Schlussweise« bestimmt
Scheler in seiner letzten Veröffentlichung, dem Radiovortrag über die
206 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

»Philosophische Weltanschauung«, folgendermaßen: »Da das Sein


der Welt selbst vom zufälligen Dasein des Erdenmenschen und sei­
nem empirischen Bewusstsein mit Sicherheit unabhängig ist, da aber
gleichwohl strenge Wesenszusammenhänge bestehen zwischen gewis­
sen Klassen geistiger Akte und bestimmten Seinsregionen, zu denen
wir Zugang durch diese Aktklassen gewinnen – muss dem Grunde
aller Dinge alles das an Akten und Operationen zugeschrieben wer­
den, was uns vergänglichen Wesen diesen Zugang gibt.« (GW  9, S. 82)
137,17 f. Rabbi Hillel, Beiname »der Alte«, jüdischer Gelehrter aus
Babylon, ca. 30 v. Chr. – 10 n. Chr.; sein viel zitierter Spruch lautet:
»Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und bin ich für mich,
was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann denn?« (Der Gottesdienst
des Herzens. Israelitisches Gebetbuch für die öffentliche und Privatan-
dacht, Bd.  1, Nürnberg 1874, S. 607.) Vgl. Yitzhak Buxbaum: The Life
and Teachings of Hillel, Lanham (u. a.) 1994, S. 268 ff.
139,28 Meister Eckhart (ca. 1260 – 1327), Dominikaner, mystischer
Theologe und Philosoph: Werke, 2 Bde., hrsg. und kommentiert v.
Niklaus Largier, Frankfurt am Main 1993.
139,28 Jakob Boehme (1575 – 1624), Philosoph, Mystiker: Myste-
rium Magnum, oder Erklärung über das 1. Buch Mosis (1623). Ders.:
De triplici vita hominis, oder Vom dreifachen Leben des Menschen
(1620). Jakob Böhmes sämtliche Werke in 7 Bdn., hrsg. v. K. W. Schieb­
ler, Leipzig 1922. Scheler besaß von Boehme: Sex puncta theosophica
(1620), Leipzig 1920 (Ana 315.Z.1137).
139,28 Zu Spinoza s. Anm. zu 84,4.
139,28 Zu Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) vgl. Scheler: Vorle­
sung über die Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert, GW  15,
S. 58 – 66.
139,28 Über Georg Wilhelm Friedrich Hegel ebd. S. 74 – 81.
139,28 Über Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ebd. S. 67 – 73.
139,28 f. Über Eduard v. Hartmann (1842 – 1906), ein »Synthetiker
großen Stils«, vgl. ebd. S. 135 – 137.
139,30 Carl Stumpf (1848 – 1936), Philosoph und Psychologe, Leh­
rer Husserls: Psychologie und Erkenntnistheorie, München 1891; Er-
scheinungen und psychische Funktionen, Berlin 1907 (Ana 315.Z.185);
Empfindung und Vorstellung, Berlin 1918. Vgl. seine Selbstdarstellung
in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Ray­
mund Schmidt, Bd.  5, Leipzig 1924 (Ana 315.Z.676 – 5), S. 205 – 265.
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 207

139,30 Erich Becher (1882 – 1929), Philosoph, Vertreter des kriti­


schen Realismus und der induktiven Metaphysik: Gehirn und Seele,
Heidelberg 1911; Naturphilosophie, Leipzig 1914; Die fremddienliche
Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen und die Hypothese eines über-
individuellen Seelischen, Leipzig 1917 (Ana 315.Z.375); Geisteswissen-
schaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und
Einteilung der Realwissenschaften, München 1921. Vgl. seine Selbst­
darstellung in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen,
hrsg. v. Raymund Schmidt, Bd.  1, Leipzig 21923 (Ana 315.Z.676 – 1),
S. 21 – 48.
139,30 Hermann Schwarz (1864 – 1951), Vordenker einer völki­
schen nationalsozialistischen Weltanschauung: Das Ungegebene. Eine
Wert- und Religionsphilosophie, Tübingen 1921; Über Gottesvorstel-
lungen großer Denker, München 1922 (Ana 315.Z.30); Gott. Jenseits
von Theismus und Pantheismus, Berlin 1928. In einem Artikel über
»Deutsches Wesen und deutsche Weltanschauung« kritisiert er die
Phänomenologie als einen »sublimierten Engelsglauben« (Blätter für
deutsche Philosophie 2, 1928, S. 382 – 403, hier: S. 400). Vgl. Hermann
Schwarz: Systematische Selbstdarstellung, Berlin 1933, und Heinz
Heimsoeth (Hrsg.): Hermann Schwarz als Philosoph der deutschen
Erneuerung, Berlin 1935.
139,30 Leopold Ziegler (1881 – 1958), Kulturphilosoph: Gestaltwan-
del der Götter (1920), 2 Bde., Darmstadt 31922 (Ana 315.Z.1363 und
1363a). Vgl. Zieglers Selbstdarstellung in: Die Philosophie der Gegen-
wart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Raymund Schmidt, Bd.  4, Leipzig
1923, S. 163 – 217.
139,30 Walther Rathenau (1867 – 1922), Großindustrieller, Politiker
und Schriftsteller: Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912; Von kommenden
Dingen, Berlin 1917; vgl. dazu Schelers Besprechung (1917), in: GW  4,
S. 543 – 570, und seine Gedenkrede: Walther Rathenau †. Eine Würdi­
gung zu seinem Gedächtnis (1922), in: GW  6, S. 361 – 376.
139,31 Henri Bergson (1859 – 1941), französischer Philosoph, des­
sen Werke Schelers Denken seit seiner Jenaer Zeit stark beeinflusst
haben; durch die Phänomenologie setzte er sich später von Bergson
ab, vgl. den Artikel: »Versuche einer Philosophie des Lebens« (1913,
GW  3, S. 311 – 339). Scheler empfahl kurz nach der Jahrhundertwende
dem Verleger Diederichs, die Werke Bergsons in deutscher Überset­
zung herauszubringen, was einige Jahre später auch unter der Leitung
208 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

von Georg Simmel geschah. Scheler besaß von Bergson: L’Évolution


créatrice, 5. Aufl. Paris 1909 (Ana 315.Z.1749, viele Anstreichungen);
Schöpferische Entwicklung, 2. Aufl. Jena 1921 (Ana 315.Z.1735, Anstrei­
chungen); L’Énergie spirituelle. Essais et conférences, 2. Aufl. Paris
1919 (Ana 315.Z.1461, Anstreichungen); einen entscheidenden Ein­
fluss übte bereits Bergson: Matière et mémoire. Essai sur la relation
du corps à l’esprit (Paris 1896) auf Scheler aus. Zum Verhältnis Scheler
– Bergson vgl. Caterina Zanfi: Bergson und die deutsche Philosophie.
1907 – 1932, Freiburg/Brg. 2018.
139,32 Herbert George Wells (1866 – 1946), englischer Sozial­
kritiker, Schriftsteller und philosophischer Autodidakt: First and
Last Things, London 1908; A Short History of Mankind, New York
1925.
140,9 – 15 Hermann Keyserling schrieb: Schelers »gedruckter Ta­
gungsvortrag, der die Quintessenz seines Hauptwerks ›Das Wesen
des Menschen‹ […] enthält, ist mit dem seinerzeit gehaltenen nicht
durchaus identisch. In der Ausarbeitung hat er, gewiss nicht ohne
Anregung durch die Gedanken, die auf der Tagung seitens der auf
Scheler folgenden Redner verlautbart wurden [d. h. vor allem durch
Keyserlings dritten und vierten Vortrag], von seiner schroffen Ein­
seitigkeit viel verloren. Dementsprechend habe ich meinen dritten
und vierten Vortrag meinerseits umarbeiten müssen.« (Vorrede, in:
Mensch und Erde, a. a. O., S. 1)
141,1 – 12 Zu den genannten Schriften vgl. oben die Anm. zu
3,23 – 4,18.
141,10 f. »Jetzt auch« sollte auf das Erscheinen als Sonderdruck
verweisen, der aber erst 1929 erschienen ist.
141,14 – 23 Die Angaben zu den Vorlesungen und Seminaren in
der Vorrede von 1928 sind deutlich kürzer ausgefallen. Während im
Entwurf die Hinweise auf Erkenntnistheorie und Metaphysik fehlen,
so in der veröffentlichten Vorrede die Hinweise auf Unsterblichkeit,
Tod und Altern, Psychoanalyse, Leib und Seele, Entwicklungspsy­
chologie – der Akzent hat sich in der Vorrede auf die Metaphysik
verschoben, im Entwurf auf die psychologisch-biologischen Fra­
gen. Über »Probleme der Unsterblichkeit der Seele« hat Scheler im
SS 1921 gelesen; im WS 1926/27 hat er Übungen gehalten über ›das
Problem von Altern und Tod‹; im WS 1927/28 hat er eine Vorlesung
über ›die Bedeutung der Psychoanalyse für die Philosophie‹ gehal­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 209

ten, über ›Leib und Seele‹ hat er mehrfach Übungen abgehalten (WS
1919, SS 1922, WS 1924/25), ebenso über die ›Entwicklungspsychologie‹
(SS 1924, SS 1925, SS 1926). Vgl. die Anm. zu S. 4,20 bis 4,21 – 23.
141,19 – 22 Die deszendenztheoretische Problematik umfasst bei
Scheler nicht bloß die Frage der Abstammung und Herkunft des
Menschen, sondern auch, ob sich die Menschheit fortentwickeln oder
ob sie in die Tierheit zurückfallen werde, und wie sie sich im Laufe
der Erdgeschichte entwickelt hat, wobei die Erdgeschichte wiederum
nicht unabhängig von der Realisierung des Weltgrundes im Univer­
sum zu verstehen ist. Zur Deszendenztheorie hat sich Scheler u. a. in
B.I.7-B.I.11, B.I.22-B.I.23 geäußert.
142,10 – 12 Heideggers Sein und Zeit (Halle 1927, Ana 315.Z.1325)
ist einige Wochen vor Schelers Vortrag erschienen. In B.I.17 und B.I.2
nimmt Scheler bereits Stellung zu Sein und Zeit; er ist einer der ersten,
die sich gründlich mit Heideggers Werk auseinandergesetzt haben.
Maria Scheler hat Schelers Randnotizen abgeschrieben, M. S. Frings
hat sie vervollständigt (jedoch immer noch mit Lücken und Fehl­
lesun­gen) und veröffentlicht in: GW  9, S. 305 – 340.
142,13 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der
Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/Leip­
zig 1928 (Ana 315.Z.1146). Widmung: »Mit herzlichen Weihnachts­
wünschen v[om] Verf[asser] 19. XII. 1927«.
Plessner schreibt im Vorwort: »In der Überzeugung, dass es sich
bei diesen Disziplinen [u. a. Psychologie, Soziologie, Biologie] um
Wissenschaften von eigener Methodik mit ursprünglichem Anschau­
ungsfundament handelt, stimmen die folgenden Untersuchungen mit
den Ansichten jenes genialen Forschers überein, der – soweit es sich
literarisch übersehen lässt – bis heute allein auf diesem Gebiete ge­
arbeitet hat: Schelers unbestreitbares Verdienst ist es, in seinen Un­
tersuchungen über Emotionalprobleme, über Strukturgesetze der
Person und die Strukturzusammenhänge von Person und Welt eine
Fülle von Entdeckungen gemacht zu haben, die zum thematischen
Bestand der philosophischen Biologie und Anthropologie gehören.
Seine Tätigkeit in den letzten Jahren zeigt überdies, dass er im Begriff
ist, unter Zusammenfassung auch weiter zurückliegender biophiloso­
phischer Analysen – die dem älteren Münchener und Göttinger Phä­
nomenologenkreis teilweise bekannt gewesen sind und z. B. Hedwig
Conrad-Martius’ Ansätze in ihren ›Metaphysischen Gesprächen‹ be­
210 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

einflusst haben – zu einer Grundlegung der philosophischen Anthro­


pologie auszubauen. Erhoffen wir also hinsichtlich der Gegenstände
unserer Arbeit eine möglicherweise weitgehende Übereinstimmung
mit den Schelerschen Forschungen, so dürfen darüber doch die we­
sentlichen Unterschiede im Ansatz der Probleme nicht übersehen
werden. Scheler ist, unbeschadet der metaphysischen Tendenzen sei­
ner Philosophie, in allen Grundlegungsfragen Phänomenologe. Seine
wesentlichen Arbeiten bis zu den letzten Publikationen zeigen ihn
primär phänomenologisch orientiert. Gegen eine Verwendung der
Phänomenologie als grundlagesichernder Forschungshaltung haben
wir uns aber seit unserer 1918 erschienenen Methodenschrift gewehrt.
Wir gehen hier auf diesen Punkt nicht näher ein. Phänomenologische
Arbeit bedarf u. E. für die Philosophie einer bestimmten methodi­
schen Führung, die weder aus der Empirie noch aus einer Metaphysik
stammen kann.« (S. IV f.)
Scheler meint vor allem den 3. und 4. Teil von Plessners Schrift.
Im dritten geht es um den »Ursprung des Menschen«, im vierten um
»Die Stellung des Menschen in der Natur«.
142,14 Peter Wust (1884 – 1940), katholischer Philosoph, Vertreter
eines christlichen Existenzialismus: Die Auferstehung der Metaphy-
sik, Leipzig 1920; Naivität und Pietät, Tübingen 1925; Die Dialektik
des Geistes, Augsburg 1928 (Ana 315.Z.1878). Das Vorwort ist »Köln,
Weihnachten 1927« unterzeichnet. Die Schriften aus Schelers katholi­
scher Periode haben Wust nachhaltig beeinflusst; in Köln stand er in
engem Kontakt mit Scheler, auch nachdem dieser sich öffentlich von
der Kirche losgesagt hatte.
142,15 Carl Theophil Fries (1875 – 1962), Chemo-Biologe: Pflanze
und Tier. Lebensraum und Daseinsform der Organismen, Leipzig 1927
(Ana 315.Z.202).

[ Disposition Anthropologie ]

144,1 Die Disposition befindet sich im zweiten Anthropologie-


Heft (B.I.2, S. 56), aus dem Scheler den Text des Abschnitts VI der
Kosmos-Schrift zusammengestellt hat. Die Disposition schließt an die
Ausführungen zur Unsterblichkeit an (B.I.2, S. 51 – 55, oben S. 135 – 139)
und ist vermutlich Ende August/Anfang September 1927 niederge­
schrieben worden, nachdem Scheler die Druckfassung seines Darm­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 211

städter Vortrags abgesandt und sich der Ausarbeitung eines Vortrags


über Nietzsches Anthropologie zugewandt hatte.
144,10 Zu Julius Stenzel vgl. die Anm. zu 47,17 – 18.
144,10 Von Wilhelm Dilthey, bei dem Scheler im WS 1898/99 in
Berlin studiert hat, käme zur geschichtlichen Entwicklung der Ideen
vom Menschen außer seinem Hauptwerk über die Einleitung in die
Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium
der Gesellschaft und der Geschichte (1883; Gesammelte Schriften, Bd.  1)
in Frage: Ȇber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom
Menschen, der Gesellschaft und dem Staat« (1875), »Ideen über eine
beschreibende und zergliedernde Psychologie« (1894) und »Beiträge
zum Studium der Individualität« (1895/96), alle drei in: Gesammelte
Schriften, Bd.  5 (Ana 315.Z.1563).
145,21 Zu Schwalbe vgl. Anm. zu 128,14.
145,21 Zu Dacqué vgl. Anm. zu 112,4.

Sublimirung

147,13 f. Zu Leopold Ziegler vgl. Anm. zu 139,30.


147,27 f. Zum Werden der »Perceptio« vgl. GW  8, S. 311 ff.
147,28 f. Mit »Philosophie der Wahrnehmung« verweist Scheler
auf seine Abhandlung: »Erkenntnis und Arbeit«, Abschn. V: Zur Phi­
losophie der Wahrnehmung, GW  8, S. 282 – 358.
147,31 In »Erkenntnis und Arbeit« zitiert Scheler Kurt Koffka:
Probleme der experimentellen Psychologie, in: Die Naturwissen-
schaften. Wochenschrift für die Fortschritte der Naturwissenschaft,
der Medizin und der Technik 5 (1917), H. 1, S. 1 – 5, 23 – 28 (vgl. GW  8,
S. 317 ff.) und ders.: Die Grundlagen der psychischen Entwicklung. Eine
Einführung in die Kinderpsychologie, Osterwieck am Harz 1921 (Ana
315.Z.442). (GW  8, S. 376).
148,11 f. Charles Baudouin (1893 – 1963), französischer Psychoana­
lytiker: Collected Works of Charles Baudouin, New York 2015. Ders.:
Psychologie der Suggestion und Autosuggestion, autoris. Übertragung
aus dem Französischen, Dresden 1926 (Ana 315.Z.596). Ders.: Die
Macht in uns. Grundlegung einer Lebenskunst im Sinne der neuen Psy-
chologie, Dresden 1923. Vermutlich spielt Scheler auf das »Gesetz der
konvertierten Anstrengung« an, dem Baudouin einen »sehr weiten
212 Anmerkungen zu Text und Fußnoten

Geltungsbereich« zuspricht (S. 101): »Sobald eine Idee eine Suggestion


auslöst, dienen, solange diese Suggestion den Geist ihres Trägers be­
herrscht, all dessen Anstrengungen, der in Gang gekommenen Sug­
gestion entgegenzuwirken, nur dazu, sie noch heftiger zu machen.«
(Psychologie der Suggestion, S. 105; vgl. auch S. 243 ff.)
148,13 f. Zu William James vgl. Anm. zu 90,17 – 18. Mit James’
»Wille zum Glauben« vermutlich gemeint: The Will to Believe and
Other Essays in Popular Philosophy, New York (u. a.) 1897. W. James
bekennt sich zu einem radikalen Empirismus.
148,19 f. Erfahrung des Paulus, Luther – vgl. oben S. 89 – 91.
148,23 – 25 Hegel spricht nicht unmittelbar von der »List der
Idee«, sondern von der List der Vernunft: »Das ist die List der Ver-
nunft zu nennen, dass sie die Leidenschaften für sich wirken lässt,
wobei das, durch was sie sich in Existenz setzt, einbüßt und Scha­
den leidet. Denn es ist die Erscheinung, von der ein Teil nichtig, ein
Teil affirmativ ist. Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das
Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben.
Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit
nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen.«
G. W. F. Hegel: Einleitung, in: Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte (Theorie Werkausgabe, Bd.  12, Frankfurt am Main 1970,
S. 49).
148,26 Zu Schopenhauer über »Verdrängung« vgl. die Anm. zu
77,19 – 21. Freud äußert sich über die Triebverdrängung, auf der »das
Wertvollste an der menschlichen Kultur aufgebaut ist«, in: Jenseits
des Lustprinzips, Abschn. V (Gesammelte Werke Bd.  13, S. 35 – 45): »Der
verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu
streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserleb­
nisses bestünde; alle Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierun­
gen sind ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben,
und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten
Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei kei­
ner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach
des Dichters Worten ›ungebändigt immer vorwärts dringt‹ (Mephisto
im ›Faust‹, I, Studierzimmer).« (S. 44 f.)
148,34 f. Eduard v. Hartmann: Kategorienlehre (1896), 2. Aufl.
hrsg. v. Fritz Kern, 3 Bde., Leipzig 1923 (Ana 315.Z.487 – 489). Gemeint
sein könnte Hartmanns Auseinandersetzung mit der Finalität (Teleo­
Anmerkungen zu Text und Fußnoten 213

logie) in Bd. III, S. 96 ff.; vgl. auch: Die Weltanschauung der modernen
Physik, Leipzig 1902 (Ana 315.Z.3). Was Scheler mit Hartmanns Ethik
gemeint hat, ist unklar. Wenn er überhaupt Eduard von Hartmann
und nicht vielmehr Nicolai Hartmann gemeint hat, dann kommen
für E. v. Hartmanns Ethik, über die er eine selbstständige Schrift
nicht verfasst hat, in Betracht: Phänomenologie des sittlichen Bewusst-
seins, Berlin 1879 (Ana 315.Z.1675), ergänzend dazu: Ethische Studien,
Leipzig 1898 (Ana 315.Z.947), und: Grundriss der ethischen Prinzipien­
lehre, Bad Sachsa 1909.
Ist Nicolai Hartmann gemeint, dann seine Ethik (1926; vgl. die
Anm. zu 85,13 – 15); zu Nicolai Hartmanns Kategorientheorie vgl. die
Anm. zu 85,14 – 15.
149,21 – 31 Über die Arten und Stufen des Energiewandels vgl.
Eduard von Hartmann: Die Entwertung der Energie, in ders.: Die
Weltanschauung der modernen Physik, Leipzig 1902 (Ana 315.Z.3),
S. 16 – 43; Das Problem des Lebens. Biologische Studien, Bad Sachsa
1906; Grundriss der Naturphilosophie, Bad Sachsa 1907.
Walther Nernst (1864 – 1941), Physiker: Das Weltgebäude im Lichte
der neueren Forschung, Berlin 1921 (Ana 315.Z.1463); Zum Gültigkeits-
bereich der Naturgesetze (Berliner Rektoratsrede), Berlin 1921.
William Stern (1871 – 1938), Philosoph und Psychologe, Vertreter
eines »kritischen Personalismus«: Der zweite Hauptsatz der Energe-
tik und das Lebensproblem: eine naturphilosophische Untersuchung,
Leipzig 1903.
Personenregister

Adler, A. 77, 110 Edison, Th. A. 46


Alsberg, P. 75, 76 f., 79, 131 Einstein, A. 133
Alverdes, F. 21, 25, 27 Epikur 83, 107
Aristoteles 15, 29, 83
Augustinus 63 Fabre, J. H. 22
Averroes 84 Faust 72
Fechner, G. Th. 12, 19
Bachofen, J. J. 113 Fichte, J. G. 83, 84, 139
Baudouin, Ch. 148 Franck, Ph. 133
Becher, E. 139 Freud, S. 72, 75, 77 – 79, 83, 104,
Bergson, H. 139 110, 148
Blaauw, A. H. 13 Freytag, W. 133
Boehme, J. 139 Friedenthal, H. 128
Bolk, L. 128 Fries, C. 142
Bouterweck, F. 76 Frobenius, L. 112
Braus, H. 98
Buddha 64, 68, 71, 75 f., 78 f. Galilei, G. 97
Bühler, K. 26 Goethe, J. W. v. 62, 66, 136 f.
Buytendijk, F. J. J. 27 Goldstein, K. 103

Comte, A. 128 Haberlandt, G. 13


Hartmann, E. v. 84, 139, 144,
Dacqué, E. 112, 128, 130, 145 148 f.
Darwin, Ch. 8, 16, 45, 128, 130 Hartmann, N. 85, 135, 148
Demokrit 107 Hegel, G. W. F. 66, 83, 84, 89,
Descartes, R. 11, 64, 94 ff., 118, 109, 121, 131, 135, 139, 148
126, 133 Heidegger, M. 142, 144
Dewey, J. 108 Hering, E. 29 f.
Dilthey, W. 144 Heyder (= Heyer, G. R.) 99
Driesch, H. 105 Hillel 137
Hobbes, Th. 83, 109
Eckehart 139 Hölderlin, F. 115
216 Personenregister

Humboldt, W. v. 117 Nietzsche, F. 14, 54, 108, 110,


Hume, D. 32, 43, 107 144
Husserl, E. 68, 70
Pascal, B. 136
Jaensch, E. R. 43 Paulus 90, 148
James, W. 90, 108, 148 Pawlow, J. P. 30
Jennings, H. S. 21, 25, 105 Peirce, Ch. S. 108
Jung, C. G. 112 Planck, M. 133
Platon 68, 71, 74, 83
Kant, I. 61, 66 f., 84, 97, 137 Plessner, H. 142 f.
Keyserling, H. 140 Prinzhorn, H. 80, 112
Klaatsch, H. 128, 130
Klages, L. 111 ff., 126, 144 Ranke, J. 128, 130
Koehler, W. 40 ff., 45 Rathenau, W. 139
Koffka, K. 147 Reichenbach, H. 133
Kollmann, J. 128, 130 Reimarus, H. S. 28

Lamarck, J. de 17, 45, 79, 128 Scheler, Maria 51, 53, 106, 139,
Lamettrie, J. de 83, 107 144, 146
Leibniz, G. W. 52, 67 Scheler, Max 3 f., 8 f., 18 f., 33 f.,
Lessing, Th. 112 38 f., 44, 56 f., 60, 62, 104,
Linné, K. v. 8, 130 108 – 111, 117 f., 120, 136,
Locke, J. 32 140 – 142, 145
Loeb, J. 21, 24 Schelling, F. W. J. 84, 139
Lotze, H. 98 Schilder, P. 28, 35, 101
Lucretius 107 Schiller, F. 70
Luther, M. 148 Schiller, F. C. 108
Schopenhauer, A. 75 – 77, 83, 110,
Mach, E. 76, 107 131, 148
Machiavelli, N. 83, 109 Schwalbe, G. 45, 128, 145
Marx, K. 83, 89, 109 Schwarz, H. 139
Mendel, G. 103, 135 Semon, R. 29, 30
Mill, J. St. 32 Seidel, A. 80
Spencer, H. 25
Naef, A. 128 Spengler, O. 112
Nernst, W. 149 Spinoza, B. de 84, 91, 111, 121,
Newton, I. 97 139
Personenregister 217

Stenzel, J. 47, 144 Wells, H. G. 139


Stern, W. 149 Westenhöfer, H. 128, 130
Stumpf, K. 139 Weyl, H. 133
Wundt, W. 25 f.
Thomas v. Aquin 84, 118 Wust, P. 142
Tschermak, A. v. 98
Ziegler, L. 139, 147
Vaihinger, H. 108
Vogt, K. 109
Volkelt, H. 56

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