Skript III (Art. 1 GG)

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Universität zu Köln

Rechtswissenschaftliche Fakultät

Großer Examenskurs
SS 2018 – WS 2018/19
Für Rückfragen: stefan.muckel@uni-koeln.de

Prof. Dr. Stefan Muckel Öffentliches Recht

Staatsrecht III: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG

I. Allgemeines:

Die vom Verfassunggeber als Reaktion auf die NS-Gewaltverbrechen an den Anfang des
Grundgesetzes gestellte Menschenwürde ist nach h.M. nicht nur (aber auch) oberstes Konsti-
tutionsprinzip, sondern ein echtes Grundrecht im Sinne eines subjektiven Rechts, auf das der
Einzelne sich auch mit einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG berufen
kann.

Eine beachtliche Gegenmeinung in der Lit. sieht das allerdings anders. Sie versteht – in unterschiedlichen Spiel-
arten – Art. 1 Abs. 1 GG nicht als Verbürgung eines Grundrechts. Eine durchaus plausible dogmatische Konstruk-
tion stellt die Menschenwürde dabei im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Eingriffen in spe-
zielle Freiheitsrechte in die Abwägung ein (im Falle der sog. Rettungsfolter z.B. bei der Prüfung von Art. 104 Abs.
1 Satz 2 GG).1 Das BVerfG freilich hat die Grundrechtsqualität mittlerweile bejaht. 2

Die Menschenwürdegarantie genießt den Schutz der sog. Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3
GG.

II. Schutzbereich:

Wegen der Unklarheit des Würdebegriffs ist der Schutzbereich umstr. Die sog. Mitgifttheorie
stellt auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1, 26 ab und sieht sich in der Tra-
dition der christlichen Naturrechtslehre sowie der Philosophie Immanuel Kants. Die sog. Leis-
tungstheorie stellt die Selbstbestimmung des Einzelnen in der Vordergrund und damit auch
das eigene Verständnis von Würde (Problemfälle z.B.: Peepshow, Zwergenweitwurf – dazu
Fall 1).

Nähere Ausführungen zum Gehalt der Menschenwürdegarantie finden sich aktuell in der Entscheidung des
BVerfG zum Antrag auf ein Verbot der NPD.3

III. Eingriffe:

Das BVerfG hat sich nicht um eine abschließende Charakterisierung des Schutzbereichs be-
müht (wohl mit Recht), sondern den Eingriff in den Vordergrund gestellt. Danach greift der
Staat in die Menschenwürde ein, wenn der Einzelne zum Objekt staatlichen Handelns gemacht

1 Vgl. etwa Heinig, Unabwägbarkeit der Menschenwürde und Würdekollisionen, Vortrag, gehalten 2016 (zur Veröffentli-
chung vorgesehen in der Reihe der Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 51).
2 BVerfGE 125, 175 (222).
3 BVerfGE 144, 20 (207 Rn. 539 ff.) NJW 2017, 611 (619 f.).
2
und dabei seine Subjektqualität prinzipiell in Frage gestellt wird (nach Günter Dürig, der sich
auf Kant berief).

Das BVerfG hat in einer jüngeren Entscheidung folgendes formuliert: „Art. 1 GG schützt den einzelnen Menschen
nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder
durch den Staat selbst (vgl. BVerfGE 45, 187 [229]; 96, 375 [399 f.]). Ausgehend von der Vorstellung des Grund-
gesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu
entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied
mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 [227f.]), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und
zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu ma-
chen (vgl. BVerfGE 27, 1 [6]; 45, 187 [228]; 96, 375 [399]). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des
Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätz-
lich in Frage stellt (vgl. BVerfGE 30, 1 [26]; 87, 209 [228]; 96, 375 [399]), indem sie die Achtung des Wertes
vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (...). Wann eine
solche Behandlung vorliegt, ist im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation zu konkretisieren, in der es zum
Konfliktfall kommen kann (...).“4

Einen Verstoß hat das BVerfG angenommen z.B.

- im Hinblick auf sog. Rettungsfolter, dass sie einen Eingriff darstelle (vgl. auch Art. 104 Abs. 1
Satz 2 GG).5
- im Hinblick auf gesetzliche Bestimmungen zum Abschuss gekaperter Passagierflugzeuge im
Luftsicherheitsgesetz.
Dabei geht es (in der Folge der terroristischen Anschläge vom 11.9.2001 in den USA) um das Abschießen eines
von Terroristen gekaperten Passagierflugzeugs, das mit Besatzung, Passagieren und Terroristen auf ein Hoch-
haus zufliegt. Das BVerfG erklärte eine den Abschuss erlaubende Regelung im Luftsicherheitsgesetz für verfas-
sungswidrig, weil der Staat die im Flugzeug befindlichen Passagiere zu Objekten seiner Bemühungen um Rettung
der Menschen in dem Hochhaus mache.6 Durch einen gezielten Abschuss des Flugzeugs werde ihre Tötung als
Mittel zur Rettung anderer benutzt. Die Passagiere und die Besatzung des Flugzeugs würden „verdinglicht und
zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen entschieden wird, wird den als Opfern selbst
schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zu-
kommt.“7 Das BVerfG hat nach Einschätzung nicht weniger Autoren falsch entschieden.8

Rspr. und Lit. bemühen sich um „Fallgruppen und Regelbeispiele“ (so für die Rspr. das BVerfG
zum Großen Lauschangriff9). Als solche können genannt werden:10

- (rassistische) Diskriminierungen, die dem Diskriminierten das Menschsein absprechen,


- massive Verletzungen der körperlichen und seelischen Identität und Integrität, etwa durch
Sklaverei, Leibeigenschaft, Menschenhandel, aber auch durch (systematische) Folter,
Misshandlungen, körperliche Strafen sowie Gehirnwäsche, Brechung des Willens mit
Wahrheitsdrogen oder Hypnose,
- Einsperren von zwei Gefangenen in einem Einzelhaftraum von 7,6 qm (dazu auch noch
unten im Kleindruck),11
- systematische Demütigungen oder Erniedrigungen,
- Entzug des Existenzminimums (auch durch eine zu hohe Abgabenlast),

4 BVerfGE 115, 118 (153) - Nichtigkeit der Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz.


5 BVerfG NJW 2005, 656 (657 – Fall Daschner bzw. Gaeffgen).
6 BVerfGE 115, 118; dazu bereits Fn. 2.
7 BVerfGE 115, 118 (154).
8 Vgl. etwa Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007, S. 84 ff.; hier zit. n. Heinig (Fn. 1), S. 20 f.
9 BVerfGE 109, 279 (311 f.).
10 Vgl. die Fallgruppen bei R. Schmidt, Grundrechte, Rn. 236; Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 426 f.
11 Dazu in jüngerer Zeit wieder BVerfG NJW 2016, 389 = JA 2016, 153 (Haftunterbringung einer Person in einer Einzelzelle

von 5.25 qm menschenwürdewidrig); BVerfG NJW 2016, 1872 = JA 2016, 712 (1874 Rn. 28: 4,5 qm).
3
- Einsatz von Polygraphen (Lügendetektoren), und zwar nach wohl h.M. auch, wenn der
Betroffene der Verwendung des Lügendetektors zugestimmt hat,12
- Betrachtung eines Kindes als Schaden i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB,
- lebenslange Freiheitsstrafe ohne berechenbare Chance zur Freilassung,13
- Zwangsernährung hungerstreikender Menschen, solange sie bei Bewusstsein sind,14
- genetische Veränderungen des Embryo.15

Zu dem in jüngerer Zeit immer wieder auftretenden Problem (angeblich) zu kleiner Hafträume hat das BVerfG
zuletzt mit Blick auf das Gebot der Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) entschieden,
dass ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein noch Amtshaftungsklage wegen der Unterbringung
von drei Gefangenen auf 16 qm nicht von vornherein als aussichtlos hätte abgelehnt werden dürfen: 16

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung erscheinen allerdings auch andere Praktiken im
Strafvollzug zumindest als sehr problematisch. So wurde ein prominenter Angeklagter in der
Untersuchungshaft über Monate hinweg nachts jede Viertelstunde daraufhin überprüft, ob der
noch lebe, da man ihn – entgegen mehrerer psychologischer Gutachten und eigener Beteue-
rungen für suizidgefährdet hielt. Bei den Kontrollen wurde von außerhalb des Haftraums die
Deckenbeleuchtung im Haftraum eingeschaltet. Reagierte der Betroffene dann nicht durch He-
ben des Arms, ging ein Vollzugsbediensteter in die Zelle und berührte ihn, um Lebenszeichen
feststellen zu können.17 In dieser Vorgehensweise dürfte eine Instrumentalisierung des Ange-
klagten für den Zweck liegen, das Strafverfahren durchzuführen. Der Angeklagte ist durch den
Schlafentzug unheilbar erkrankt.

Anschaulich hat das BVerfG zum sog. Großen Lauschangriff wesentliche Aspekte seiner
Rechtsprechung zu Art. 1 GG wie folgt zusammengefasst:18
„Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert (vgl. BVerfGE 6, 32 <36>;
45, 187 <227>; 72, 105 <115>). Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf
der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem
Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen und
Regelbeispielen (vgl. zu Art. 100 BV etwa BayVerfGH, BayVBl. 1982, 47 <50>). Dabei wird der Begriff der Men-
schenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>; 27, 1 <6>; 30, 1 <25>;
72, 105 <115 ff.>). Anknüpfend an die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus standen in der Rechtspre-
chung zunächst Erscheinungen wie Misshandlung, Verfolgung und Diskriminierung im Zentrum der Überlegun-
gen. Es ging insbesondere, wie das Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen formulierte,
um den Schutz vor ‚Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.‘ (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>).

Später wurde die Menschenwürdegarantie im Hinblick auf neue Gefährdungen maßgebend, ... . Im Zusammen-
hang der Aufarbeitung des Unrechts aus der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Verletzung von
Grundsätzen der Menschlichkeit unter anderem bei der Beschaffung und Weitergabe von Informationen zum
Gegenstand der Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 93, 213 <243>). Gegenwärtig bestimmen insbesondere Fragen
des Schutzes der personalen Identität und der psychisch-sozialen Integrität die Auseinandersetzungen über den
Menschenwürdegehalt.

... Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass es mit der Würde des Menschen nicht vereinbar
ist, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen (vgl. BVerfGE 30, 1 <25 f. und 39 ff.>; 96, 375 <399>).

12 Vgl. von der Pfordten, Menschenwürde, 2016, S. 113 f. Allerdings stellt BVerfG NJW 1982, 375, auf das allg. Persön-
lichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ab. Sehr krit. zum Ganzen Schwabe, NJW 1092, 367: „Bei der
Alternative ‚Lebenslang‘ trotz denkbarer Unschuld oder – angeblich – menschenunwürdige Erhebung eines Un-
schuldsindizes beim Einwilligenden entscheidet man sich für die Lösung ‚Lebenslang‘. Absurder geht es kaum noch.“
13 Dazu BVerfGE 45, 187 (227 ff., 245).
14 Vgl. von der Pfordten, Menschenwürde, 2016, S. 113.
15 Von der Pfordten, ebd., S. 117 f.
16 BVerfG, NJW 2016, 3228 (3229 Rn. 16 ff.).
17 Dazu F.A.Z. v. 7.4.2015, S. 17: „Middelhoff gibt Haft Schuld an schwerer Erkrankung“; aus der Sicht des Betroffenen:

Thomas Middelhoff, A 115. Der Sturz, 2017, S. 44, pass.


18 BVerfGE 109, 279 (311 f.).
4
So darf ein Straftäter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Ach-
tungsanspruchs behandelt und dadurch zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung und Strafvollstreckung
gemacht werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 72, 105 <116>).

Allerdings sind der Leistungskraft der Objektformel auch Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 30, 1 <25>). Der Mensch
ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch
des Rechts, dem er sich zu fügen hat. Die Menschenwürde wird nicht schon dadurch verletzt, dass jemand zum
Adressaten von Maßnahmen der Strafverfolgung wird, wohl aber dann, wenn durch die Art der ergriffenen Maß-
nahme die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das ist der Fall, wenn die Be-
handlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner
selbst willen zukommt. Solche Maßnahmen dürfen auch nicht im Interesse der Effektivität der Strafrechtspflege
und der Wahrheitserforschung vorgenommen werden.

Dabei führt ein heimliches Vorgehen des Staates an sich noch nicht zu einer Verletzung des absolut geschützten
Achtungsanspruchs. Wird jemand zum Objekt einer Beobachtung, geht damit nicht zwingend eine Missachtung
seines Wertes als Mensch einher. Bei Beobachtungen ist aber ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensge-
staltung zu wahren (zu dessen Garantie vgl. BVerfGE 6, 32 <41>; 27, 1 <6>; 32, 373 <378 f.>; 34, 238 <245>;
80, 367 <373>). Würde der Staat in ihn eindringen, verletzte dies die jedem Menschen unantastbar gewährte
Freiheit zur Entfaltung in den ihn betreffenden höchstpersönlichen Angelegenheiten. Selbst überwiegende Inte-
ressen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestal-
tung nicht rechtfertigen (vgl. BVerfGE 34, 238 <245>).“

In jüngerer Zeit hat das BVerfG in den Zielen der NPD und im Verhalten ihrer Anhänger einen
Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen, auf die es im Rahmen eines Parteiverbots an-
kommt, weil sie ein zentrales Grundprinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
darstellt:19

„Das politische Konzept der Ag. ist mit der Garantie der Menschenwürde iSv Art. 1 I GG nicht vereinbar. Sie
akzeptiert die Würde des Menschen als obersten und zentralen Wert der Verfassung nicht, sondern bekennt sich
zum Vorrang einer ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“. Der von ihr vertretene Volksbegriff negiert den sich
aus der Menschenwürde ergebenden Achtungsanspruch der Person und führt zur Verweigerung elementarer
Rechtsgleichheit für alle, die nicht der ethnischen „Volksgemeinschaft“ angehören. Ihr Politikkonzept ist auf die
Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, Muslimen, Ju-
den und weiteren gesellschaftlichen Gruppen gerichtet. Dabei mögen einzelne Äußerungen für sich genommen
die Grenze der Menschenwürde durch die Ag. nicht überschreiten. Die Vielzahl der diffamierenden und die
menschliche Würde missachtenden Positionierungen dokumentieren in der Gesamtschau aber, dass es sich nicht
um einzelne Entgleisungen, sondern um eine charakteristische Grundtendenz handelt.“ 20

IV. Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen:

Eingriffe in die Menschenwürde können verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sein. Denn


die Menschenwürde ist nach Art. 1 Abs. 1 GG „unantastbar“. Es handelt sich also hier aus-
nahmsweise um ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht.

Das BVerfG hat im Zusammenhang mit einem Konflikt von Meinungsfreiheit und Menschenwürde formuliert: „So
muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet.
Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz (vgl. BVerfGE 75, 369 <380>) beansprucht auch für die
Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht
abwägungsfähig. Da aber nicht nur einzelne, sondern sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der
Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, daß der
Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt.“21

Allerdings kann es vereinzelt Fälle geben, in denen gerade die Schrankenlosigkeit der Men-
schenwürdegarantie zu diskutieren ist, wenn z.B. die Menschenwürde des einen beeinträchtigt

19 BVerfG NJW 2017, 611 ff.


20 BVerfG NJW, 2017, 611 (630 Rn. 635).
21 BVerfGE 93, 266 (293) – Hervorhebung nur hier.
5
werden soll (etwa durch Folter), um die Würde eines anderen (etwa einer Geisel, die misshan-
delt wird) zu schützen. Das werden aber seltene Sonderfälle sein. Und im Ergebnis sollte es
bei der Schrankenlosigkeit bleiben. Der Staat darf also auch, um die Würde eines Dritten zu
schützen, nicht die Menschenwürde verletzen.

V. Leistungsrechtliche Dimension der Menschenwürde

Aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG leitet die h.M. ein Grundrecht
auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ab. Jedem Hilfebedürftigen müssen diejenigen
materiellen Voraussetzungen gewährt werden, die für seine physische Existenz und für ein
Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich
sind.22 Ein bestimmter „Regelsatz“ lässt sich allerdings nicht aus der Verfassung ableiten, son-
dern muss vom Gesetzgeber konkretisiert werden. Dem Gesetzgeber kommt zwar hierbei ein
Gestaltungsspielraum zu, jedoch ist er verpflichtet, den Leistungsumfang in einem transparen-
ten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage
verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.23

Literatur: Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 33. Aufl. 2017, Rn. 406 ff.; Manssen, Staatsrecht II.
Grundrechte, 15. Aufl. 2018, Rn. 217 ff.; Rolf Schmidt, Grundrechte, 23. Aufl. 2018, Rn. 225 ff.

Zur weiteren Vertiefung für besonders Interessierte: von der Pfordten, Menschenwürde, 2016 (ein kleines Ta-
schenbuch aus der Reihe „Beck. Wissen“ mit 128 S.) zur Geschichte der Idee, zu Auffassungen über die Men-
schenwürde und zu Anwendungsfällen.

22 BVerfGE 125, 175 ff. = JA 2010, 476; E 132, 134 = JA 2012, 794.
23 BVerfGE 125, 175 (225).

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