Sie sind auf Seite 1von 288

Erich Sauer

Der Triumph des Gekreuzigten

Ein Gang durch die neutestamentliche Offenbarungsgeschichte

Vorwort

»Triumph des Gekreuzigten« -, das ist der Sinn der neutesta mentlichen
Offenbarungsgeschichte. In immer helleren Lichtkreisen läßt Christus, der Triumphator, seinen
Himmelsglanz erstrahlen. Die Gewinnung der Gemeinde, die Bekehrung der Völkerwelt, die
Verklärung des Universums - das sind die drei Hauptstufen in dem Triumphzug seiner Erlösung.

Christus selbst ist der »Erstling«, der Anfang einer neuen Mensch heit, »die Grundzelle des
Weltvollendungswerkes Gottes«. In har monischem Rhythmus von Äonen und Perioden geht der
Gesamt haushalt Gottes seinem Ewigkeitsziel entgegen. Das Ende des Gan zen ist, wie der
Anfang, Gott selbst (1. Korinther 15, 28).

Diesen Zusammenhang zu schauen, ist die Aufgabe der Heilsge schichte. Sie zeigt uns den
göttlichen Weltplan als Einheit in der Vielheit, als Stufengang, der nach oben führt, als
Erdengeschichte, die das Weltall umspannt. Sie zeigt uns die Bedeutung der einzelnen
Heilsereignisse, die Gottesordnung der Zeitalter, das Ziel des geschöpflichen Gesamtwerdens. In
diesem Sinne läßt sie uns auch an unsere Aufgabe herantreten: den Ver such einer umrißartigen
Schilderung der durch die Jahrtausende hindurch wandernden »Pilgerreise« der göttlichen
Heilsentfaltung von der Welterlösung an bis hin zum Himmlischen Jerusalem.

Auf Vollständigkeit ist es nirgends im folgenden abgesehen. »Die Welt würde die Bücher nicht
fassen« (Joh. 21, 25). Worum es sich nur handeln kann - zumal bei einem so umfassenden
Thema -, ist lediglich die Her ausstellung gewisser Grundzüge der neutestamentlichen Haushal
tungen, und auch dies nur überblickartig und in bewußter Be schränkung auf das Allerwichtigste,
kein Aufbau einer eigentlichen »Glaubenslehre«, sondern überall Vorherrschaft der
geschichtlichen Gesichtspunkte, keine Geschichtsphilosophie der Erlösung, keine
»Neutestamentliche Theologie«, sondern einfache Beschreibung der neutestamentlichen
Heilsentfaltung, vor allem des »Sinnes« der Heilsereignisse.
Bibelschule Wiedenest, im Januar 1937

Erich Sauer

INHALT

Erster Teil: Der Aufgang aus der Höhe

1. Das Erscheinen des Welterlösers


2. Der Name »Jesus Christus«. Das dreifache Amt
3. Die Himmelreichsbotschaft
4. Der Entscheidungskampf von Golgatha
5. Der Triumph der Auferstehung
6. Die Auffahrt des Siegers
7. Die Eröffnung des Gottesreiches
Erster Teil

DER AUFGANG AUS DER HÖHE

1. Kapitel. Das Erscheinen des Welterlösers

Mit jubelndem Frohlocken himmlischer Heerscharen trat das Evangelium auf den Schauplatz der
irdischen Welt. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen!" So klang es zur nächtlichen Stunde auf Bethlehem-Ephratas Fluren (Luk. 2, 14).

Er, auf den die Väter längst geharrt, trat in die Mitte seines Volkes als die Hoffnung« (Apg. 26, 6)
und der Trost« Israels (Luk. 2, 25). Gott geoffenbart im Fleisch!« Welch Geheimnis der
Gottseligkeit! (1. Tim. 3, 16). Zwar kam er in Knechtsgestalt (Phil. 2, 7) und bettelarmer
Niedrigkeit; aber dies Äußere war nur das Zelt« seiner innewohnenden Göttlichkeit. Auch im
Lande des Todes blieb er der Fürst des Lebens« (Apg. 3, 15); denn in ihm war das Leben, und
das Leben war das Licht der Menschen« (Joh. 1, 4).

I. Die Gottesbotschaft der Zeitenwende

Ein dreifaches Zeugnis himmlischer Boten hatte das große Ereignis angesagt.

1. Christus - der Gottessohn. Die erste Ankündigung ge schah im Tempel an Zacharias den
Priester (Luk.1, 8-13). Sie schloß sich sofort an die letzte und höchste der alttesta mentlichen
Weissagungen an (Mal. 3, 23). Sie handelte zu nächst von der Geburt des Wegbereiters, des
zweiten »Elias«, und sagte, daß er, dessen Vorläufer dieser »Elias« werden sollte, kein
Geringerer sein würde als der HErr, der Gott Israels selbst. »Viele von den Kindern Israels wird er
zu dem HErrп, ihrem Gott, zurückführen. Gerade diesen nahenden HErrп und Gott hatte
Maleachi im Geiste geschaut und ihn als den »HErrn der Heerscharen« bezeichnet, »der
da unversehens zu seinem Tempel kommt« (Mal. 3,1). Wie passend war es darum, daß gerade
in einem Tempel diese Prophe tenbotschaft ver kündigt wurde.

2. Christus - der Davidssohn. Die zweite Ankündigung ward Maria, der frommen Jungfrau aus
Davids Hause, zuteil (Luk. 1, 26-38). Hier knüpfte der Engel an die davidischen Verheißungen an,
und zwar sofort an die älteste und erste, die dem David selbst durch Nathan den Propheten
gegeben wor den war und die den Messias als Gottes- und Davidssohn bezeichnet hatte (1.
Chron. 17, 13; Luk. 1, 32). »Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden, und
Gott der HErr wird ihm den Thron seines Vaters David geben (Luk. 1, 32). Auch hier ist also die
Engelbotschaft wun dersam fein auf die Person des empfangenden Menschen ab gestimmt.

3. Christus - der Heiland. Die dritte Ankündigung ward schließlich dem Joseph gegeben. Er kam,
trotz seiner davidi schen Abstammung, nicht als Vater, sondern nur als Pflege vater in Betracht,
also lediglich als gläubiger, bußfertiger Israelit, nur dazu bestimmt, den Erlöser in sein Haus
aufzu nehmen. Ihm wurde darum gesagt, was der Messias für das erlösungsbedürftige,
glaubende Israel sein würde. Er ist der »Immanuel, der von Jesaja geweissagte »Gott mit uns«
(Jes. 7, 14; Matth.1, 23). »Des Namen sollst du >Jesus< heißen; denn er wird sein Volk selig
machen von ihren Sün den« (Matth. 1, 21). Hier war von dem Amt und dem Werk des Erlösers
als solchem die Rede. Und gerade dies ist das Wichtigste; denn Christus ward nicht Erlöser, um
Gottes- und Davidssohn zu sein, sondern er trat als Gottes- und Davids sohn auf, um Erlöser zu
sein. »Jesus« - »Der HErr ist Ret tung« - ist darum sein eigentlicher Name, und das Erlösersein
ist so ganz sein eigenstes, innerstes Wesen, daß er den Namen »Erretter« direkt als
menschlichen Personennamen trägt.
Alle drei Engelankündigungen aber wurden zusammenge faßt in der nächtlichen Botschaft der
himmlischen Heerscharen auf dem Hirtenfelde von Bethlehem:

»Euch ist heute der Heiland geboren« - das ist die Er füllung der Immanuelsweissagung Jesajas
und der Anord nung des Jesusnamens an Joseph -,

»welcher ist Christus der HErr - das ist die Erfüllung dei Maleachibotschaft von dem kommenden
»HErrn« und »Gott« an Zacharias -,

»in der Stadt Davids« - das ist die Erfüllung der Nathans botschaft vom Davidssohn an Maria.

Mit diesem vierfachen Zeugnis direkter Himmelsbotschaften durch Engelmund klang noch
harmonisch zusammen ein siebenfaches, indirektes Geisteszeugnis durch den Mund gläu biger
Menschen:
Zacharias, die Hirten, Simeon und die Wei sen aus dem Morgenlande, ferner Elisabeth, Maria
und Hanna standen da wie leuchtende Fackeln am Eingang der Zeiten wende, welche hinwiesen
auf den, der da kommen sollte, den »Aufgang aus der Höhe« (Luk. 1, 78), den großen Erretter
aus Davids Geschlecht. Und zwar priesen

Zacharias - den Besuch Gottes (Luk. 1, 68),


die Hirten - den Heiland (Luk. 2, 20 vgl. 11),
die Weisen - den König (Matth. 2, 11 vgl. 2),
Simeon - das Licht der Welt (Luk. 2, 31).E
Elisabeth - die Glückseligkeit (Luk. 1, 41-45)
Maria - die Barmherzigkeit (Luk. 1, 54)
Hanna - die Erlösung (Luk.2, 38).

II. Die Menschwerdung als geschichtliche Tat

Gewaltige Bewegungen in der oberen Welt müssen dem Erscheinen des Gottessohnes auf
Erden vorangegangen sein. Nur wenig lüftet die Schrift den Schleier. Doch teilt sie uns,
gleichsam aus einem innergöttlichen Zwiegespräch, ein Wort mit, das der Sohn gerade »bei
seinem Eintritt in die Welt« zum Vater sprach: »Schlachtopfer und Speisopfer hast du nicht
gewollt, wohl aber hast du mir einen Leib bereitet; an Brandopfern und Sündopfern hast du kein
Wohlgefallen ge funden. Da sprach ich: Siehe, ich komme, in der Rolle des Buches ist von mir
geschrieben, daß ich tue, o Gott, deinen Willen« (Hebr. 10, 5-7).

Und dann geschah das Unbegreifliche. Der Sohn verließ des Himmels Pracht und ward ein
Mensch wie wir. Aus der Ewigkeitsform göttlicher Überweltlichkeit begab er sich freiwillig in das
Verhältnis menschlicher Innenweltlichkeit. [1] Aus der freien Unbedingtheit und weltregierenden
Absolutheit der göttlichen Gestalt trat er ein in die raumzeitliche Begrenztheit dei Kreatur. Das
ewige »Worte ward menschliche Seele und entäußerte sich seiner weltumspannenden
Herrschergewalt. Mag die Gesinnung der Selbstsucht sogar fremdes, unrecht mäßiges Gut als
willkommenen »Raub« (Phil. 2, 6) mit Zähigkeit festhalten: er, der Urquell der Liebe, sah nicht
einmal seinen ureigenen, rechtmäßigen Besitz, seine göttliche Gestalt und gottgleiche Stellung,
als unbedingt zu behauptendes Gut an, sondern gab ihn dahin, um uns zu erretten. Er stieg hinab
»in die niederen Gegenden der Erde (Eph. 4, 9), um uns, die Erlösten, dann mit sich und in sich
emporzuheben in die Hö hen des Himmels. Gott wurde Mensch, auf daß die Menschen göttlich
würden. Er ward arm um unsertwillen, auf daß wir durch seine Armut reich würden (2. Kor. 8, 9).

Für die Heilsgeschichte der Menschheit aber ist Christi Er scheinen die innerste »Sinnmitte«.
Was vor ihm geschah, kam lediglich im Hinblick auf ihn zustande; was nach ihm ge schieht, wird
nur in seinem Namen vollbracht. Wie die buntschillernden Farben eines Prismas, trotz aller
Verschiedenheit, dennoch nur Ausstrahlungen eines und desselben Lichtes sind, so wird auch
die Offenbarungsgeschichte mit all ihren Haus haltungen von einem einheitlichen Lebensprinzip
getragen. Christus der Mittler ist der Eckstein des Ganzen. Sein Wirken auf Erden ist der
Wendepunkt alles Werdens, und die Ge schichte seiner Person ist der wesenhafte Inhalt aller Ge
schichte. Damit aber wird die Menschwerdung Christi das In-Erscheinung-Treten des göttlichen
Weltfundaments, der Eintritt des HErrn der Geschichte in die Geschichte selbst, und die Krippe
von Bethlehem, in Verbindung mit Golgatha, wird auf ewig

Aller Zeiten Wendepunkt,


aller Liebe Höhepunkt,
alles Heiles Ausgangspunkt,
aller Anbetung Mittelpunkt.

Wie sich aber in Christo diese beiden, seine Gottheit und seine Menschheit, in einem vereinen,
das vermag niemand zu erklären. Das Geheimnis seiner Selbsterniedrigung ist ewig un
ergründlich. Christus tat nicht nur Wunder, sondern war selber ein Wunder. Begreifen wir doch
schon die Zeit nicht; sie ist uns ein Rätsel. Noch viel weniger begreifen wir die Ewigkeit; sie ist
uns erst recht ein Rätsel. Wie können wir da das Rätsel der Rätsel begreifen, die Vereinigung
dieser beiden, entgegenge setzten Geheimnisse, den »Schnittpunkt« dieser zwei »Paralle len« in
der Zeit, die organisch-harmonische Verbindung von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Gottheit
und Mensch heit in einer Person, in Jesus von Nazareth.

III. Menschwerdung und Auferstehung

Um aber die Heilsbedeutung der Menschwerdung noch le bendiger zu schauen, müssen wir sie
im Zusammenhang mit der Auferstehung des HErrn betrachten, und zwar hier unter einem
dreifachen Gegensatz:

1. Erniedrigung und Erhöhung,


2. Heilserwerbung und Heilsvollendung,
3. Geschichtliche Form und ewige Idee.

1. Denn in der Tat! Trotz alles Herabsteigens aus Himmels höhen war es nicht eigentlich das
Menschwerden an sich, was für den Sohn des Höchsten jene unendliche Erniedrigung be
deutete, sondern das Eingehen in die Form der unverklärten, unter den Folgen der Sünde
stehenden Menschheit (Röm. 8,3); denn wenn schon das Menschsein als solches eine Erniedri
gung des Sohnes Gottes gewesen wäre, dann hätte ja seine Erhöhung nicht etwa in einer
Verklärung, sondern in der völ ligen Ablegung seines ganzen menschlichen Wesens bestehen
müssen! Und doch ist es die klare Lehre der Heiligen Schrift, daß Jesus in seiner Erhöhung die
Form der Menschheit behal ten habe, daß also seine Auferstehung und Himmelfahrt nichts
Geringeres in sich schlössen als die Verewigung seines Menschseins in verklärter, verherrlichter
Form, wenn auch in einer uns völlig unvorstellbaren Weise!
Er ging zwar ein in die »Knechtsgestalt« (Phil. 2, 7) der erniedrigten Mensch heit; doch durch sein
Erlösungswerk erhöhte und verklärte er sie so, daß sie selbst zu seiner eigenen Herrlichkeit als
des zur Rechten des Vaters Sitzenden keinen Ge gensatz mehr bilden kann. Denn die
Herrlichkeit des ver klärten Menschen Christus Jesus im Himmel ist gewiß keine geringere als
die, welche das ewige »Wort« vor seiner Menschwerdung gehabt hat. Sagt er doch selbst:
»Verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich schon bei dir besessen
habe, ehe die Welt ward (Joh. 17, 5).

2. Aber noch mehr. Dies ewige Menschbleiben des Sohnes Gottes ist sogar unerläßliche
Bedingung für die Vollendung seines Werkes. Denn nur als verherrlichter Mensch konnte er der
»letzte Adam« (Röm. 5, 12-21; 1. Kor. 15,21) und das erhöhte »Haupt« (Eph. 4, 15; Kol. 2, 19)
des »neuen Menschen« (Eph. 2, 15), des von ihm erlösten Menschheitsorganismus, seiner
Gemeinde, sein. Nur so konnte das »In-Christo-Sein« der Geretteten, die organische Lebens
gemeinschaft der »Glieder« seines »Lei bes« (Eph. 1,23) mit ihm, dem Haupte, er möglicht
werden. Darum ist das Menschbleiben Christi ein wesenhaft notwendiges Stück seiner Erhöhung,
und erst durch die Auferstehung und Himmelfahrt wird das Wunder von Bethlehem in das rechte,
biblische Licht gestellt.

3. Christus ward Mensch, um »letzter Adam« sein zu können. Das ist die ewige Grundidee seines
Erscheinens in der Kreatur, und insofern ist dieses eine Verklärung seiner Person als des
Erlösers; doch er ward erniedrigter Mensch, um auf dem Wege der Stellvertretung für die Sünder
die Herrlichkeiten dieses letzten Аdam durch Leiden zu erlangen. Das war die geschicht
liche Form seines Kommens in die Welt.
Aber die geschichtliche Form war nur der Weg zur Verwirk lichung der ewigen Idee.
Er kam, um zu dienen und sein Leben zu geben als ein Lösegeld für viele (Matth. 20, 28)
und um so, durch seine »Stunde« von Golgatha, die für die Ewigkeit zu erretten, die sich von ihm
zur Buße rufen suchen und finden lassen würden (Luk. 19, 10). In uns aber gewinnt, durch unser
Eingegliedertsein in ihn, un ser Leben (Kol. 3, 4), der himmlische Christus immer sieg hafter
Gestalt.

2. Kapitel. Der Name »Jesus Christus«. Das dreifache Amt

»Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen
gegeben, darin wir sollen selig werden« (Apg. 4, 12). Was ist mit diesem Namen ge meint?
Warum heißt der Erlöser gerade »Jesus Christus«
I. Der Name »Jesus«

Dieser ist ein Dreifaches: zunächst ganz einfach sein

1. Personenname. [2] »Du sollst seinen Namen Jesus heißen« (Matth. 1 21). Indem er aber
gerade bei der Menschwerdung dem Sohne Gottes gegeben wurde, ist er zugleich auch sein

2. Niedrigkeitsname. Ja, so sehr ist dieser Name mit der Erniedrigung des HErrn verbunden, daß
ihn dieser geradezu mit anderen, mit sterblichen Menschen, gemeinsam hat.[3] Von hier aus wird
auch klar, warum die Evangelien meistens von »Jesus« reden, während in den Briefen der
»Christus«titel durchaus im Vordergrund steht. Denn die Evangelien handeln von der Zeit seiner
Niedrigkeit, während die Briefe von ihm, dem Erhöhten und Verherrlichten, zeugen, und in dem
Jesusnamen wiegt das Heil, in dem Christustitel die Herrlichkeit vor.Erst in der Auferstehung und
Himmelfahrt ist »Jesus«, wie Petrus am Pfingsttage sagt, recht eigentlich zum »Christus« im
Vollsinn des Wortes geworden. »Das ganze Haus Israel wisse nun zuverlässig, daß Gott ihn
sowohl zum HErrn als auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr ge kreuzigt habt«
(Apg. 2, 36). Insofern also der Weg des HErrn von Selbstentäußerung zu Herrlichkeit voranging,
geht auch das Neue Testament denselben Weg: den Weg von »Jesus« zu »Christus«.Die
Hauptbedeutung des Jesusnamens aber liegt in seinem eigentlichen Wortsinn: »Jehoschua«,
»Der HErr ist Rettung«. Darum ist er der besondere

3. Heilsname des Welterlösers. »Er wird sein Volk erretten von ihren Sünden« (Matth. 1, 21). Als
solcher aber offenbart er dreierlei:
die Ausschließlichkeit seines Heils; denn er und nur er kann erretten (Apg. 4,12)
die Grenze seines Heils; denn nur »sein Volk« (d. h. seine Erlösten aus allen Völkern) wird er
retten (vgl. 1. Petr. 2,9; Tit. 2,14: Apg. 15,14) und
die Tiefe und Weite seines Heils; denn nicht nur von den Folgen der Sünde - von Verdammung
und Gericht - will er erlösen, sondern von den Sünden selber, von ihrer Knech tung, Herrschaft
und Macht. Er ist nicht nur Rechtferti gungs-, sondern auch Heiligungsquell (1. Kor. 1,30; Sach.
13, 1).Dies alles liegt in dem Jesusnamen. Kein Wunder darum, daß gerade dieser Name den
Lobpreis der Erlösten in alle Ewigkeit er füllt.
Aber welches ist der Weg und die Weise, auf welche der HErr diese Schätze seines
Jesusnamens offenbart? Die Ant wort liegt in dem Christustitel.

II. Der Name »Christus«

Hier sind es vor allem vier dreieinheitliche Tatsachen, die uns den Inhalt dieses Namens
erschließen:

1. die dreifache Amtssalbung im Alten Testament,


2. die dreifache Entfaltung im Neuen Testament,
3. die dreifache Bindung des Menschen durch die Sünde,
4. das dreifache Christuswerk des Erlösers.

1. In der alttestamentlichen Heilszeit hatte es drei theokra tische Hauptsalbungsämter gegeben,


eine Salbung des Hohenpriesters (3. Mose 8,12; Ps. 133, 2), des Königs (1. Sam. 10,1) und des
Propheten (1.Könige 19,16).
Wenn also der Mittler des Heils als »Christus«, »Messias«, d. h. »Gesalbter« bezeichnet wird, so
heißt dies, daß die höchsten Ämter und Würden des ganzen Alten Bundes in seiner Person
vereint sind, daß in ihm alle Gedanken der Weissagung auf ewig zur Erfüllung gelangen. Er
bringt, nach der Weissagung Jeremias vom Neuen Bunde (Jer. 31, 31-34: vgl. Hebr. 8, 8-12),

eine Verinnerlichung des Königtums (2. Kor. 3, 3)


eine Verallgemeinerung des Prophetentums (Jer. 31, 34a) und
eine Ewig-vollkommen-Machung des Priestertums (Jer. 31, 34b).

Er legt sein Wesen in die Seinen hinein und macht sie des gleichen zu Königen, Priestern und
Zeugen seiner propheti schen Wahrheit (1. Petr. 2, 9; Off. 1, 6).

2. Nicht auf einmal, sondern in drei großen Stufen entfaltet der HErr den Herrlichkeitsinhalt
seines Christustitels. Er kommt zuerst als Prophet (5.Mose 18, 15-19), als »Sohn«, in dem Gott
»am Ende der Tage« geredet hat (Hebr. 1,1-3) und der, als der »Abglanz der Herrlichkeit«
Gottes, das Wesen seines Vaters unvergleichlich vollkommener offenbar macht als alle
Propheten von alters (Joh. 1, 18; 3,13).
Und dann geht dieser Prophet an das Kreuz. Er läßt sich beladen mit den Sünden der Welt (Joh.
1, 29; 1. Joh. 2, 2), wird Opferlamm und Priester zugleich (Hebr. 9,12; 14; 25) und bewirkt durch
sich selbst die Reinigung der Sünden (Hebr. 1, 3).
Zuletzt aber wird er erhöht und setzt sich zur Rechten der Majestät in der Höhe, und nun sehen
wir ihn, der »ein wenig unter die Engel erniedrigt« gewesen war, gerade »um seines
Todesleidens willen« als König »mit Herrlichkeit und Ehre ge krönt« (Hebr. 2,9).3.

3. Aber warum gerade ein dreifaches Amt? - Weil ein dreifaches Heilsbedürfnis der Menschheit
vorliegt! Weil die gefallene Nachkommenschaft Adams dreifach gebunden ist und darum auch
nach drei Beziehungen hin erlöst werden muß!

Gott hat die Menschen zu einem geschöpflichen Abglanz sei nes geistigen, heiligen und seligen
Wesens geschaffen. Damit sie ein Spiegel seiner Geistigkeit sein könnten, gab er ihnen den
Verstand, damit sie ein Abbild seiner Heiligkeit und Lie be sein könnten, den Willen, und damit sie
ein Gefäß seiner Seligkeit würden, das Gefühl.

Doch dann kam die Sünde. Der ganze Mensch fiel: sein Verstand wurde verfinstert (Eph. 4, 18),
sein Wille wurde bö se (Joh. 3, 19), und sein Gefühl wurde unselig (Röm. 7, 24).4.

4. Aus diesem totalen, dreifachen Verderben errettet ihn nun das Werk Christi.

Als Prophet bringt er die Erkenntnis, das Licht, erlöst den Verstand aus seiner
Sündenverfinsterung und richtet das Reich der Wahrheit auf.
Als Priester bringt er das Opfer, tilgt die Schuld und damit das Bewußtsein der Schuld, erlöst also
das Gefühl von dem lähmenden Druck der Unseligkeit und des anklagenden Ge wissens und
richtet das Reich des Friedens und der Freude auf.
Als König beherrscht er den Willen, lenkt ihn in den Bahnen der Heiligkeit und richtet das Reich
der Liebe und der Gerechtigkeit auf.

So wird sein Christustitel mit seinem dreifachen Heilsinhalt zur Entfaltung und Auslegung seines
Jesusnamens. Der Erlö ser ist dadurch der »Jesus«, der »Retter«, daß er der »Chri stus«, der
dreifach Gesalbte, ist. Sein dreifaches Amt befreit den Menschen nach seinen drei Seelenkräften,
nach Verstand, Gefühl und Wille. Ein volles, freies und ganzes Heil ist eingeführt, so daß die
Erlösung nicht vollständiger sein kann, als sie ist.

3. Kapitel. Die Himmelreichsbotschaft

»Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbei gekommen.« Matth. 3,2; 4, 17.

I. Der Herold

Am Jordan, in der Wüste, predigte Johannes die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden
(Markus 1, 4).[4] Er war der »Elias« (Mal. 4, 5; Luk. 1, 17), der »Wegbereiter (Jes. 40,3),
gewaltiger als alle Propheten (Matth. 11, 9-10), der Zeuge vom Licht und vom Lamm (Joh. 1, 7-
8; 29; 36), der Herold des unmittelbar kom menden Königs (Mal. 3,1; Joh. 1, 26). Er war die
»Stimme« eines Rufenden in der Wüste, die da hinwies auf das »Wort« aus der Ewigkeit (Joh. 1,
1-3; 14).
So sagt auch Johannes: »Nach mir kommt ein Mann, der vor mir ge wesen ist; denn er war eher
denn ich« (Joh. 1, 30).

Ist aber schließlich das Wort gesprochen, so verschwindet die Stimme, verhallt und existiert nicht
mehr. Das Wort aber bleibt; denn es ist in das Herz des Hörenden eingepflanzt. So auch bei
Jesus und Johannes. »Er muß wachsen; ich aber muß abnehmen« (Joh. 3, 30). Sobald der
Täufer seine Sendung er füllt hat, wird er hinweggenommen; Jesus aber bleibt.

II. Der König

An die Botschaft des Herolds knüpfte der König an (Matth. 4, 17 vgl. 3, 2). In seiner Person war
das Gottesreich mitten unter die Menschen getreten. Er selber war das personhaft anwesende
Reich. Dies drückte er, verhül lend und enthüllend zugleich, durch seine Selbstbezeichnung
»Menschensohn« aus.

1. Der Ursprung des Menschensohn -Titels.


Diese in den Evangelien über 80 mal vorkommende Redeweise Jesu hat ihre Wurzel im Buche
Daniel. Dort war das Messianische Reich, im Gegensatz zu der Raubtiernatur der Weltreiche -
Löwe-Adler, Bär, Panther und Schreckenstier - als das Reich des »Men schensohnes«
bezeichnet worden, das heißt, als das erste und einzige Reich der Geschichte, in dem wahres
Menschentum im Sinne der Heiligen Schrift auf der Erde regiert. »Ich schaute in Gesichten der
Nacht: und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie eines Menschen Sohn, und er kam
zu dem Al ten an Tagen, ... und ihm wurde Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum gegeben«
(Dan. 7, 13).
Diese Weissagung von dem Menschensohn in den Wolken des Himmels, der als Messiaskönig
das Reich errichtet, deutet Christus in seiner Ölbergrede vor seinen Jüngern (Matth. 24,30) und
in seinem Eidschwur vor dem Hohen Rat unverkennbar auf sich: »Von nun an wird's geschehen,
daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wol
ken des Himmels« (Matth. 26, 64).
2. Der Sinn des Menschensohn -Titels.
Mit der Selbstbe zeichnung »Menschensohn« will Christus also nicht etwa im Hinblick auf seine
himmlische Vergangenheit seine Selbsterniedrigung zum Ausdruck bringen, daß er, der
Gottessohn, nun Menschensohn geworden war, sondern, daß er, als verherrlichter Mensch, auf
den Wolken des Himmels einst wiederkommend, der Bringer des Gottesreichs sei und somit in
seiner göttlichen Person die Verwirklichung der Idee wahrer Menschheit auf den Thron der
Völkergeschichte erhebe. Der Ausdruck »Men schensohn« ist also ein göttlicher Messias- und
Königstitel, gleichwie schon David, der Psalmist, gerade vom »Menschen sohn« gesagt hatte:
»Mit Herrlichkeit und Pracht hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher gemacht über das
Werk deiner Hände. Alles hast du ihm unter die Füße gestellt« (Ps. 8, 6; Hebr. 2, 6-9). Und weil in
dem Menschensohntitel zugleich auch das verhüllte Geheimnis seiner Gottessohnschaft
enthalten ist, sagt Christus in seiner Antwort auf die Frage des Hohenpriesters, ob er der
»Gottessohn« sei: »Von nun an werdet ihr den Menschensohn sitzen sehen zur Rechten der
Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels« (Matth. 26, 63).
Immer wieder tritt diese Gotteskönigsbeziehung des Men schensohntitels hervor. »Der
»Menschensohn« wird kommen in der Herrlichkeit seines Vaters (Matth, 16, 27), »mit großer
Kraft und Herrlichkeit«. Des »Menschen sohnes« Ankunft wird sein, »wie der Blitz ausgeht vom
Auf gang und scheint bis zum Niedergang« (Matth. 24, 27) . . .
Allerdings ist es eine verhüllte Gottes- und Königsbezeich nung Joh. 12, 16; 34); denn nur von
dem Glauben wollte Christus, bei seinem ersten Erscheinen, als Gottkönig anerkannt sein. Daher
auch sein oftmaliges Verbot, ihn als Messias offenbar zu machen. Der Öffentlichkeit hat er sich
erst unmittelbar vor seinem Kreuzestode als Messias kundgetan, und auch da nur in der Form
einer sinnbildlichen Handlung, dem Einzug in Jerusalem (Luk. 19,29-40; Sach. 9, 9). Nur im
Kreise der Sei nen hat er sich, gleich von Anfang an, mit immer wachsender Klarheit, als Messias
geoffenbart (Joh. 1, 41; 49; 4,25), bis schließlich der Felsenapostel, erleuchtet durch die
Offenbarung des Vaters, das sieghafte Bekenntnis aussprach: »Du bist der Christus, der Sohn
des lebendigen Got tes« (Matth. 11, 16).

III. Das Reich

1. Der Ausdruck »Himmelreich«.


Vom Himmelreich hatten die Juden schon vor Johannes dem Täufer gesprochen. Sie nannten es
»Malekut Schamajim« (»Königreich der Himmel«) und verstanden darunter die Herrschaft Gottes
über alle Geschöpfe schlechthin, die Königsherrschaft Gottes über Israel insonderheit und
namentlich das endgeschichtliche Herrlichkeitsreich des Messias. »Als Israel am Sinai das
Gesetzbuch an nahm, da übernahm es mit dem Gesetz das Königreich der Him mel«(Talmud).
»Geoffenbart wird werden das Königreich der Himmel auf dеm Berge Zion.« Wenn hierbei das
Gottesreich »Him mel«reich genannt wurde, so hatte dies darin seinen Grund, daß die Juden,
aus Ehrfurcht vor dem heiligen Jahwenamen diesen durch Ausdrücke wie »Höhe, Name, Kraft,
Himmel« umschrieben. Schon Daniel sagt: »Die >Himmel< herrschen«, um damit die Herrschaft
»Gottes« zu bezeichnen (Dan. 4, 23) [5]Johannes der Täufer und Christus waren also nicht die er
sten, die vom »Himmelreich« sprachen. Vielmehr schlossen sie sich, denselben Ausdruck mit
neuem Inhalt füllend, dem Sprachgebrauch des Alten Testaments und des Judentums ihrer
Umwelt an. [6][7]

2. Die Erscheinungsformen des Himmelreiches.


Die Pro klamation und Durchführung dieser Königs herrschaft Gottes waren das Gesamtziel des
Werkes Christi: die Proklamation durch das prophetische, die Ermöglichung durch das
priesterliche, die Durchführung durch das könig liche Amt. Die Verkündigung des Himmelreiches
war darum auch das eigentliche Thema seiner irdischen Botschaft, und alle seine Gleichnisse
sind Himmelreichsgleichnisse, auch die, in denen das Wort »Himmelreich« nicht ausdrücklich vor
kommt. Hierbei ist das »Him melreich« nicht einfach »der Himmel«, das »himmlische Reich« (vgl.
2. Tim. 4, 18), auch nicht nur das zukünftige Reich des Messias (Off. 20, 4) oder die Gemeinde
des gegenwärtigen Zeitalters (vgl. Kol. 1, 13; Röm. 14, 17), sondern ganz all gemein die
Königsherrschaft Gottes schlechthin, wie sie, vom Himmel her kommend, auf dem Wege der
Erlösung, auf der alten Erde errichtet und auf der neuen in Ewigkeit fortgesetzt werden soll.
Von allen Perioden und Erscheinungsformen dieses Reiches hat der König als sein eigener
Herold gezeugt:
vom Reich in Israel, dem heilsvorbereitenden Reich des Alten Testaments, das den bisherigen
Besitzern, den Juden, »weggenommen« werden soll (Matth. 21,43),

vom Reich in Christo, dem in ihm selber personhaft an wesenden Reich, wie es in der Person
und den Wunderwerken (Luk. 11, 20 ) des fleischge wordenen Königs mitten unter Israel war,

vom Reich in der Gemeinde (Vgl. Kol. 1, 13; Röm. 14, 17) dem gegenwärtig verborgenen Reich,
wie es zu seiner Zeit »nahe herbeigekommen« war, und, durch die Gemeindehaushaltung
hindurch , »im Geheimnis« (Matth. 13, 11), bis zur »Vollendung des Zeitalters« andauern wird,

vom Reich in der Vollendung, dem messianischen Herrlichkeitsreich der Prophetie, wie es
dereinst »in Macht »erscheint« und vom Vater der »kleinen Herde« (Luk. 12, 32), - die dorthin
»eingehen« darf - als »Belohnung« und »Erbe« gegeben werden wird (Matth.. 8, 11).

3. Das Evangelium vom Reich.


Dies alles gehört mit zum »Evangelium des Reichs« (Markus 1,14). Es ist das eigentliche
Grundthema der Botschaft Christi. Es redet bald von dem gegenwärtigen, bald von dem nahen,
fernen oder fernsten Reich.[8] Daher auch bei dem HErrn die vorherrschende Bezeichnung
»Himmelreich« für »Reich Gottes« Das Gottesreich ist eben »Himmelreich, weil es seinem
Ursprung nach - vom Himmel her kommt, seinem Wesen nach - den Himmel in sich trägt und
seinem Mittelpunkt nach - den HErrn zum König hat, durch den der Himmel recht eigentlich erst
»Himmel« wird (Ps. 73, 25).

Aber immer ist es das eine Reich, das aus dem Himmel und der Ewigkeit stammt und, durch die
Zeiten hindurch, in die Ewigkeit Gottes wieder einmündet. Dies eine (Gal. 1, 6-9) Evangelium
aber ist:

»Evangelium Gottes« - dein Gott ist sein Ursprung (Röm. 1, 1; 2. Kor. 11,7),
»Evangelium Christi« - denn Christus ist sein Mittler (Röm. 15, 19; Gal. 1,7),
»Evangelium der Gnade« - denn Gnade ist seine Seele (Apg. 20, 24),
»Evangelium des Heils« - denn Heil ist seine Gabe (Eph. 1, 13)
»Evangelium des Reichs« - denn Gottes Reich ist sein Endziel (Matth. 6,10),
»Evangelium der Herrlichkeit« - denn Herrlichkeit ist seine Gesamtwirkung (1. Tim. 1, 11).

Und Paulus sagt von sich und seinen Mitarbeitern »mein Evangelium« (Röm, 16,25) oder »un ser
Evangelium« (2. Kor. 4,3) - denn sie waren die Boten (Gal. 1,11).

IV. Der Weg zum Reich

Aber der Weg zur Krone ging über das Kreuz. Nachdem darum der König zuerst das Ergebnis
seines Werkes, das Reich, in den Mittelpunkt seiner Botschaft gestellt hatte, ließ er hernach
immer mehr das Mittel zur Erreichung dieses Zieles - das Leiden - hervortreten.

Er sprach von der Tatsache seines Todes in der Hinwegnah me des Bräutigams, dem Trinken
des Kelches und dem Getauftwerden mit der Leidenstaufe (Matth. 20, 22).

Er sprach von der Notwendigkeit seines Todes, von dem göttlichen »Muß« seines Erhöhtwerdens
wie die Schlange in der Wüste (Joh. 3, 14) und seines Sterbens wie ein Weizen korn, um durch
Fruchtbringen verherrlicht zu werden (Joh. 12, 23).

Er sprach von der Freiwilligkeit seines Todes: Niemand nimmt es (mein Leben) von mir, sondern
ich lasse es von mir selbst« (Joh. 10,18), und
Er sprach von der Bedeutung seines Todes als Grundlage völligen weltweiten (Joh. 12, 32) Heils
durch stellver tretendes Sterben (Matth. 20, 28) für verlorene Sünder, zwecks Aufrichtung eines
Neuen Bundes durch Vergebung der Sünden, und als Grundlage praktischer Heiligung in echter
Jünger schaft in Selbstverleugnung und Kreuznachtragen (Matth. 10, 38; Joh. 12, 24-26).

Und in dem allen schaute er sein Sterben stets im Zusam menhang mit seiner Auferstehung und
Verherrlichung (Joh. 10, 17). Dies beweisen seine Worte vom Tempelabbruch (Joh. 2, 18-20),
Jonaszeichen, Eckstein und Weizenkorn (Joh. 12, 23). Und auf diesem Bo den der Auferstehung,
in der Mitteilung seines Lebens an das Leben der Glaubenden sah er den einzigen Weg zum
Teilha ben der Sünder an der Heilsbedeutung seines Werkes; daher seine Worte vom Essen und
Trinken seines Fleisches und Blu tes, ohne das niemand Leben hat in sich selbst (Joh. 6, 53).
»Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der
Welt«(Joh. 6, 51; 58). »Wer dies Brot ißt, der wird leben in Ewigkeit«.

V. Die Reichsbotschaft

Unmöglich ist es, das sittliche Wesen der Himmelreichsbot schaft erschöpfend zu schildern. »Die
Welt würde die Bücher nicht fassen« (Joh. 21, 25). Die Reichsbotschaft ist

1. Heilig erhaben in ihrer Autorität. »Er lehrte, wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie die
Schriftgelehrten« (Joh. 7, 46), bestätigt durch Zeichen und Wunder (Joh. 5, 36; Hebr. 2, 4). [9]
Seine Worte waren Taten. Seine Taten waren Wunder, und Er Selber der göttlich gebietende
Lebens fürst (Apg. 3, 15). Ferner: Die Reichsbotschaft war

2. Wunderbar weise in ihrer Belehrung. Den Alten Bund deutete er als Vorstufe des Neuen, als
Wahrheitsbeweis (Joh. 10, 34) und als Weis sagung seiner eigenen Botschaft (Luk. 24, 27), also:
erklärend.
Die Natur vergeistigte er zu Bildern und Gleichnissen des Himmelreichs, desgleichen das
Menschen leben und die Geschichte (Luk. 19, 12), also: verklärend.
Die fragenden Feinde bringt er durch Gegenfragen zum Ver stummen (Joh. 10, 34), also:
abwehrend.
Die lernbegierigen Jünger weiht er noch besonders in seine Geheimnisse ein (Matth. 13, 18),
also: belehrend.

Darum spricht Gott: »Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe. Den sollt ihr
hören!«(Matth.17,5).
Von besonderer Bedeutung ist hierbei Jesu Stellung zum Alten Testament. Für Christus, das
personhaft lebendige »Wort« (Joh. 1,14; Off. 19,13), ist das alttestamentliche, geschriebene Wort
eine unauflösbare Einheit, ein Organismus, »die Schrift« (Joh. 10, 35).
Und im einzelnen ist es für ihn:

die Autorität, unter die er sich stellt (Gal. 4, 4),


die Speise, von der er sich nährt (Matth. 4.4)
die Waffe, mit der er sich weht (Matth. 12,3),
das Lehrbuch, das er erklärt (Luk. 24,27),
die Weissagung, die er erfüllt (Joh. 5,39),

Bei dem allen aber war seine Verkündigung

3. unheimlich hart in ihrem Urteil. Arg« ist der Mensch von Natur (Matth. 7, 11), »ein
ehebrecherisches Geschlecht« (Mark. 8, 38), ein »Greuel vor Gott« alle Frömmigkeit des
Fleisches (Luk. 16,15).
Mit »verzehrendem Eifer« (Joh. 2, 17) kämpft Christus gegen die Pharisäer, seine »Feinde« (Luk.
19, 27), diese Hauptvertreter der Scheinreligion. Er nennt sie Blinde, Lügner und Heuchler,
»Diebe« (Joh, 10,8) und »Mörder« (Matth. 22,7), »reißende Wölfe« (Matth. 7,15) und Kinder des
Teufels (Joh. 8, 44).
Den Tempel nennt er eine »Räuberhöhle« (Mark. 11, 17), Herodes einen »Fuchs« (Luk. 13, 32),
seine falschen Bekenner »Übeltäter« (Matth. 7, 23) und alle, die ihn ablehnen: ärger als Sodom
und Gomorrha (Matth. 10, 15).
Sie alle, die so bleiben, sind »Verlorene« und ihr Los ist »Heulen und Zähneknirschen«, ihr Ort
das »unaus löschliche Feuer« (Mark. 9, 44; Matth. 25, 41).

Und doch ist die Himmelreichsbotschaft zugleich

4. Unendlich erbarmend in ihrem Evangelium Der Freund der Sünder, der Arzt der Kranken,] der
Erquicker der Mühseligen und Beladenen, die Kinder segnend, den Armen gute Botschaft
verkündend und noch dem sterbenden Mörder das Paradies verheißend (Luk. 23, 43).

So wird er, der König, der Diener seiner Knechte (Markus 10, 42-45; Luk. 12,37).Und doch leibt
er der König und verlangt restlosen Gehor sam. Seine Botschaft ist Befehl, ja

5. Rückhaltlos total in ihren Forderungen.Er verlangt rest losen Gehorsam. Seine


Himmelreichsbotschaft ist Geschenk und Gebot, Gabe und Aufgabe zugleich. Wenn je ein Reich
Totalitätsanspruch erhebt, so das Reich Gottes. Autorität und Gehorsam, Befehls gewalt und
Unterwerfung - das ist seine Ordnung. Ein tota ler König, ein totales Reich, eine totale Gemeinde!
Alles Halbe und Laue ist dem König ein Greuel. Der ganze Mensch gehört ihm, nach Geist, Seele
und Leib, das Kreuz auf sich nehmen (Matth. 16, 24), nur ihm allein dienen (Luk. 16, 13), sein
eigenes Ich hassen (Luk. 14, 26), sein Leben ver lieren, um es auf ewig zu gewinnen (Joh. 12,
25) : das ist die Gesinnung, die der König verlangt.Das alles aber herausgeboren aus dem Leben
von oben, aus dem königlichen Standesbewußtsein der Adelskinder aus göttlichem Samen.
Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Matth. 5,
48).Zuletzt aber wird das Ende kommen und mit ihm der Sieg; denn des Himmelreichs Botschaft
ist

6. Weltweit erlösend in ihrem Ziel. »Der Acker ist die Welt« (Matth. 13, 38). Predigt das
Evangelium aller Krea tur« (Mark. 16, 15). Denn »in seinem Na men muß Buße und Vergebung
der Sünden gepredigt werden unter allen Völkern« (Luk. 24, 47), »in Jerusalem, ganz Judäa,
Samaria und bis an das Ende der Welt« (Apg. 1, 8).Und wenn dann der König erscheint, wird
sein Reich offen bar. Die Gesegneten des Vaters werden die Herrschaft ererben, und die
Gerechten werden leuchten wie die Sonne immer und ewiglich (Matth. 13, 43). Das ist die Hoff
nung der Himmelreichsbotschaft.

VI. Die Hörer

Aber alle diese Worte waren auf jüdischem Volksboden ge sprochen. In den Tagen seines
Fleisches war der Herr durchaus »Diener der Beschneidung« (Röm. 15,8), für seine Person so
gar selber »unter Gesetz« (Gal. 4, 4). Ich bin nicht gesandt als nur zu den ver lorenen Schafen
des Hauses Israel« (Matth. 15, 24).
Die in der Bergpredigt (Matth. 5-7), Seepredigt (Matth. 13), Ölbergsrede (Matth. 24 und 25) und
allen Gleichnissen Ange redeten waren zunächst Söhne des Volkes Israel. Erst seit der
Hinwegnahme der »Umzäunung durch das Kreuz (Eph. 2, 13-16) und der Öffnung des
Himmelreichs auch für die Vollhei den bei der Bekehrung des Kornelius (Apg. 10) hatten auch die
Nationen das Recht, den wesentlichen Lehr inhalt der Evangelien in gleicher Weise wie die
Juden direkt auf sich zu beziehen (Joh. 12, 32). Erst diese beiden, nach dem Erdenleben Jesu
vollzogenen Ereignisse eröffneten hinterher auch den Nichtisraeliten die Tür in den Lehrsaal des
Herrn.

Nun aber besteht auch »kein Unterschied« mehr (Apg. 15, 8-9); denn beide haben das »gleiches
Heil (Apg. 28, 38; 11,17). Nun gibt es nicht zwei Evangelien - ein judenchristliches und ein
heidenchristliches -, sondern nur ein Evangelium und eine Gemeinde (Gal. 1, 6-9; Eph.2, 11-22;
3,6).1] Und den »Anfang« seiner Verkündigung hat das »Heil« des Gemeinde zeitalters in der
Erdenbotschaft Jesu genommen (Hebr. 2,3). »Heil« und »Errettung« ist also die inspirierte
Überschrift der irdischen Verkündigung des HErrn. Und wenn Paulus »sein« Evangelium, im
Gegensatz zu dem »Buchsta ben« und »Tod« des Gesetzes, als »Geist« und »Lebens be
zeichnet - »der >Geist< macht >lebendig<~ (2. Kor. 3, 6) -, so steht der Charakter der Jesusworte
auf derselben Haushal tungslinie: »Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind
Leben« (Joh. 6, 63)

So ist die Zeit der Evangelien eine Übergangszeit. Der Um fang, die Umwelt und oft auch die
Lehrform der Himmelreichsbotschaft waren alttestamentlich und national begrenzt; aber ihr
Wesen und Geist waren neutestamentliche Freiheit. Die Haushaltungen des Gesetzes und der
Gnade sind also nicht durch ein einziges Einzelereignis scharf voneinander geschieden, sondern
gehen ineinander über wie die Farben des Regenbogens, beginnend mit der
Geburtsankündigung des Wegbereiters und abschließend mit der Öffnung des Himmel reiches
für die Heiden durch Petrus in Cäsarea und dem Auf treten und den Offenbarungen des Paulus
(Eph. 2 und 3). Erst von da an war das Zeitalter der Gnade in vollem Umfange angebrochen.

4. Kapitel. DER ENTSCHEIDUNGSKAMPF VON GOLGATHA

»Theologia crucis - theologia lucis« (»Die Theologie des Kreuzes ist die Theologie des Lichtes«
Luther).

Der Haß der Pharisäer brachte Christus ans Kreuz. Die Hin richtung Jesu war der größte
Justizmord der Weltgeschichte. Sie war der feigste Gesandtenmord, das schmutzigste Atten tat,
das jemals Rebellen gegen einen gütigen Vater ihres Va terlandes begangen haben.

Was aber tat Gott?


Er hat diesen teuflisch gemeinen Aufruhr gegen seine Per son in das Sühnopfer zur Errettung
dieser Rebellen verwan delt! Er hat auf den Faustschlag in sein heiliges Angesicht mit dem Kuß
versöhnender Liebe geantwortet! Wir taten das Äu ßerste an Bosheit gegen ihn; er aber tat das
Äußerste an Güte gegen uns, und zwar beides zur selben Stunde, und so wurde die Schandtat
am Kreuz noch im selben Augenblick zum erlö senden Wendepunkt der Menschheitsgeschichte
und zum Umbruch des gesamten Dramas der Weltall-Übergeschichte.

I. Die Bedeutung des Kreuzes für Gott

Das Kreuz ist das größte Ereignis der Heilsgeschichte, noch größer als die Auferstehung. Denn
das Kreuz ist der Sieg, die Auferstehung der Triumph; aber der Sieg ist noch wichtiger als der
Triumph, obwohl sich dieser mit Notwendigkeit aus ihm ergibt. Die Auferstehung ist das
Offenbarwerden des Sie ges, der Triumph des Gekreuzigten. Der Sieg selber war vollkommen.
Es ist vollbrachte (Joh. 19, 30; Hebr. 2, 14).

Für Gott ist das Kreuz


1. Die höchste Erweisung der Liebe Gottes. Denn dort gab der Allherr des Lebens sein Liebstes
in den Tod, seinen eingeborenen Sohn, den Mittler und Erben der Schöpfung (Hebr. 1, 2;3).
Christus der HErr starb am Kreuz, er, für den im Äther die Sterne kreisen und für den jedes
Mücklein im Sonnenschein tanzt (Hebr. 2,10). Wahrlich: »Darin be weist Gott seine Liebe gegen
uns, daß Christus für uns ge storben ist, da wir noch Sünder waren« (Röm. 5, 8). Zugleich aber
ist das Kreuz

2. Der größte Beweis der Gerechtigkeit Gottes. Denn dort hat der Richter der Welt »zur
Erweisung seiner Gerechtigkeit« nicht einmal seines eigenen Sohnes geschont (Röm. 8, 32). In
all den Jahrhunderten vor Golgatha hatte Gott, trotz vieler Gerichte im einzelnen, die Sünde doch
niemals hundertprozentig bestraft (Apg. 17, 30), so daß schließlich seine Heiligkeit durch seine
Geduld in Frage gestellt zu sein schien »wegen des Dahingehenlassens der vor her
geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes« (Röm. 3,25). Da hat erst der Sühntod des
Erlösers, als göttliche Selbst rechtfertigung der vergangenen Menschheitsgeschichte, die un
umstößliche Gerechtigkeit des obersten Weltenrichters erwie sen. Alle Geduld der Vergangenheit
war nur möglich im Hin blick auf das Kreuz, und alle Vergebung der Zu kunft ist nur »gerecht«
durch den Rückblick auf das Kreuz (Röm. 3, 23; 1. Joh. 1,9). Und gerade dadurch ist das Kreuz

3. Die wunderbarste Vermehrung des Reichtums Gottes. »Du bist geschlachtet worden und hast
für Gott erkauft durch dein Blut aus jedem Stamm und Sprache und Volk und Nation und hast sie
unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht (Off. 5, 9). Sie sind nun erworben für Gott, das
»Volk zum Besitztum« (1. Petr. 2, 9), das »Eigentumsvolk« (Tit. 2, 14).

II. Die Bedeutung des Kreuzes für Christus

Für Christus und Gott ist das Kreuz

1. Die höchste Anerkennung der Herrschaft Gottes; denn der Sohn »ward gehorsam bis zum
Tode, ja bis zum Tode am Kreuze (Phil. 2, 8; Röm. 5,19).

2. Die höchste Vollendung des Glaubens an Gott; denn er hat »an dem, was er litt, den
Gehorsam gelernt (Hebr. 5, 8; 9) und ist also der »Anführer« und »vollkommenste Ausge staltung
des Glaubens geworden (Hebr. 12, 2).

3. Die entscheidendste Erwerbung des Wohlgefallens Got tes, denn er gab sich als Opfer dahin,
»Gott zu einem duftenden Wohlgeruch« (Eph. 5), und

4. Die endgültige Verewigung der Liehe Gottes. »Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben
lasse, auf daß ich es wiedernehme« (Joh. 10, 17). Und was Christus persönlich be trifft, so ist
das Kreuz für ihn:

5. Der Weg zur Verklärung seiner Liebes- und Machtstel lung zur Siegerstellung, vom Sein »in
dem Schoße des Vaters« bis hin zum Sitzen »zur Rechten der Majestät in der Höhe« (Phil. 2, 9;
Hebr. 2, 9; 8, 1), und ferner

6. Der Weg zum Besitz einer erlösten Gemeinde, vom »Al leinsein« des Weizenkorns, durch
Sterben hindurch, zum sieghaften »Verherrlichtwerden« und »Fruchtbringen« (Joh. 12, 24).

III. Die Heilsbedeutung des Kreuzes für uns

A. Das Einzelheil

Für den einzelnen ist das Kreuz ein doppeltes: die Grund lage seiner Rechtfertigung, juristisch
seine Vergangenheit ord nend, und die Grundlage seiner Heiligung, sittlich seine Ge genwart
beherrschend.

1. Die Grundlage der Rechtfertigung. Auf den Bürgen muß all unsere Sünde gelegt werden (Jes.
53, 5), er muß sie tragen an Stelle der andern (Hebr. 9, 28), damit sie, der Sünde gestorben,
nunmehr der Gerechtigkeit leben; und wie das Verderben der Mensch heit durch den Fall - also
ein geschichtliches Einzelereignis - hervorgerufen worden war (1. Mose 3; Röm. 5,12), so muß
nun auch seine Aufhebung durch den Bürgen desgleichen durch ein Einzelereignis - eben die
einzigartige »Rechtstat« von Golgatha - bewirkt werden (Röm. 5,18). Und da das Wesen der
Sünde in der Trennung des Geschöpfes vom Schöp fer besteht, also in der Trennung vom
Urquell des Lebens und Folglich im Tode, so muß nun auch der Erlöser, wegen der not wendigen
Entsprechung von Sünde und Sühne, das Urteil die ses Todes erdulden und so durch sein
Sterben die Wiederher stellung des Lebens bewirken. »Ohne Blutvergießen geschieht keine
Vergebung« (Hebr. 9, 22). Nur so kann er, durch den Tod, dem die Macht nehmen, der die
Gewalt des Todes hat, dem Teufel (Hebr. 2,14; 1. Kor. 15, 21).

Dies ist die Logik des Heils. Festgewurzelt und unantastbar steht sie im Erlösungsplan Gottes da.
An ihrer zwingenden Beweisführung zerschellen alle hochmütigen Angriffe des Un glaubens. Die
verhaßte »Bluttheologie« der Bibel (Hebr. 9, 22), mit dеm gekreuzigten Christus als ihrem
Zentrum, bleibt dennoch der Felsen des Heils, zwar vielen ein Stein des Anstoßes, den
Erlösten aber der lebendige Eckstein.

Für die Erretteten ist dann das Kreuz

2. Die Grundlage der Heiligung.


Christus der HErr starb am Kreuz, damit wir nicht an das Kreuz brauchten. Das ist die uns
ausschließende, rechtliche Seite seines Sterbens, das »Er lösende« von Golgatha. Und dennoch:
Er starb dort am Kreuz, damit wir, zusammen mit ihm trotzdem an das Kreuz kämen. Das ist die
uns einschließende, sittliche Seite seines Sterbens, das »Bindende« von Golgatha. Wir sind mit
dem Gekreuzigten »zusammengepflanzt« (Röm. 6, 5) und zur »Gleichheit seines Todes«
organisch verbunden. Wir sind Nachfolger, Kreuzträ ger (Matth. 10, 38), »Weizenkörner« wie er,
die nur durch Sterben zum Leben gelangen (Joh. 12,24). Wir sind beru fen zum Teilhaben an
dem Charakter der zwar dunklen, aber nichtsdestoweniger kostbaren Grundlage unserer eigenen
Er lösung. Wir sind »mit Christo gekreuzigt« (Gal. 2, 19).

a) Die Welt um uns ist durch den Gekreuzigten für uns tot. Sie ist durch das Kreuz uns
»gekreuzigt« und wir der Welt (Gal. 6, 14).

b) Die Welt in uns ist gleichfalls mit am Kreuz. »Indem wir dies wissen, daß unser alter Mensch
mitgekreuzigt wor den ist, ... daß wir der Sünde nicht mehr dienen« (Röm. 6, 6; 11).

c) Die Welt unter uns ist durch das Kreuz völlig besiegt. Denn »nachdem Christus die Mächte und
Gewalten entwaffnet hatte, hat er sie öffentlich an den Pranger gestellt und durch das Kreuz über
sie triumphiert« (Kol. 2, 15; 1. Mose 3,15), und schließlich

d) Die Welt über uns ist durch das Kreuz für uns Gnade und Segen; denn der Fluch des
Gesetzes ist abgetan (Gal. 3, 13). Die in ihren Geboten wider uns zeugende Schuldhand schrift
ist ausgelöscht und ans Kreuz geheftet (Kol. 2,14). Gottes Blick kann nun nicht mehr auf sie
fallen, ohne zugleich auf das Kreuz zu fallen; sie ist gleichsam mitgetötet, mitge kreuzigt. »Ich bin
durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe« (Gal. 2,19).

Das Gesetz Gottes hatte den Tod über den Sünder verhängt (Gal. 3,10), und diesen hat Christus
an seiner Statt getragen. Also ist Christus »durch« das Gesetz gestorben. Damit aber hat das
Gesetz seine weiteren Geltungsansprüche an ihn verloren, gleichwie ein zum Tode Verurteilter
durch die Hinrich tung aus dem Untertanenverhältnis gegen die hinrichtende Obrigkeit
ausscheidet. So ist nun auch Christus »dem« Gesetz gestorben. Was aber Christus erfuhr, hat
der Gläubige in ihm miterlebt (Röm. 6,5-11). Also ist auch er dem Gesetz gegen über tot und lebt
nun in der Freiheit des Auferstandenen (Röm. 7, 4)

B. Das Gesamtheil

Auch für die Gesamtheit ist durch das Kreuz eine vollstän dige Neuordnung eingetreten, und
zwar

nach innen hin - als Aufhebung des Gesetzes,


nach außen hin - als Heilszulassung der Völkerwelt,
nach allen Seiten hin - als Weltall-Triumph des Gekreu zigten.

1. Die Aufhebung des Gesetzes.


Nach innen hin bedeutet das Kreuz die Erfüllung und Abschaffung aller mosaischen Opfer (Hebr.
10, 10-14) und damit die »Aufhebung« des Ge setzes überhaupt (Hebr. 7,18); denn die Opfer
waren die Grundlage des Priestertums, und das Priestertum war das Fun dament des Gesetzes.
So aber ist Christus durch das Kreuz »des Gesetzes Ende« (Röm. 10, 4) und also der »Bürge
eines besseren Bundes« geworden (Hebr. 7, 22), eben des »Neuen Testaments« (Matth. 26, 28).
Indem aber das levitische Priestertum aufgelöst ist, ist auch die »vordere Hütte« dahin (Hebr. 9,
8); der Vor hang im Tempel zerriß (Matth. 27, 51), der Weg ins Aller heiligste ist frei (Hebr. 9, 8;
10, 19-22), und das ganze Volk Gottes ist nun ein Königtum von Priestern (1. Petr. 2, 9; Offb.1,6).

2. Die Heilszulassung der Völkerwelt.


Ist aber das Gesetz abgeschafft, so auch nach außen hin. Bis zum Kreuz war das Gesetz der
»Zaun«, der das jüdische Volk von den Weltvölkern trenn te (Eph.2, 14.). Die Nationen waren
»ohne Gesetz« (Röm. 2, 12) und »Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheißung« (Eph. 2,
12). Zwischen beiden bestand eine Spannung, die die »Fernen« und die »Nahen« nicht
zusammenkommen ließ. Nun aber ist Christus »unser Friede«. Mit der Erfüllung des Gesetzes
hat er die »Zwischenwand der Umzäunung« hinweg getan und die beiden, die Juden und die
Heiden, in dem einen Leibe seiner Gemeinde, durch das Kreuz, miteinander wie auch mit Gott
versöhnt (Eph. 2, 13-16). Die Erfüllung des Gesetzes durch den Tod des Christus bedeutet
darum den »Durchbruch der Abrahamsverheißung durch die Schranke des mosaischen
Gesetzes« (vgl. 1. Mose 12, 3; Gal. 3, 13-14), die Erweiterung des Heils über Israel hinaus auf
die Völkerwelt.

3. Der Weltall -Triumph des Gekreuzigten.


»Jetzt ist das Gericht dieser Welt! Jetzt wird der Fürst dieser Welt hinaus geworfen werden« (Joh,
12,31). Gerade durch das Kreuz hat der Sterbende triumphiert. Gerade »durch den Tod« hat er
»dem die Macht ge nommen, der die Gewalt des Todes hat«, dem Teufel (Hebr. 2, 14). Daher
sein Siegesruf: »Es ist vollbracht!« (Joh. 19, 30.) Das Ausgestoßenwerden Satans ist seiner Kraft
nach begründet auf Golgatha (Joh. 12, 31), seiner Auswirkung nach geschieht es allmählich
(Matth. 12, 29), seiner Vollendung nach wird es einst völlig sein (Off. 20, 10).Daher auch die
Doppelsinnigkeit des Ausdrucks »erhöhen« in der Schrift (Joh. 3,14; 8,28; Phil. 2,9). Denn die
»Erhöhung« ans Kreuz und die »Erhöhung« auf den Him melsthron gehören zusammen. Der
Gekreuzigte ist der Ge krönte (Phil. 2, 8-11), und darum muß der alte Fürst dieser Welt
»hinausgeworfen« werden, weil der neue, der eigentliche Fürst, seinen Einzug halten will.Darum
auch erschütterte sich der Erdboden beim Tode des HErrn (Matth. 27, 52) und die Sonne verlor
ihren Schein (Luk. 23, 44-45). Denn das Kreuz Christi ist zugleich das große »Nein« Gottes zu
allem irdischen und himmlischen Schauplatz der Sünde (Joh. 12, 31).

4. Christus - das Weizenkorn.


Durch dies alles wurde »Christus das Weizenkorn, welches welterlösende Liebe am Karfreitag in
die Erde gesenkt hat, das Weizenkorn, das Ostersonntag die Erde durchbricht und himmelan zu
wachsen beginnt, das Weizenkorn, dessen goldner Halm am Himmelfahrts tage zum Himmel
emporsteigt, das Weizenkorn, dessen myriadenreiche Ähre sich am Pfingsttage zur Erde
herabneigt und die Samenkörner aus streut, aus denen die Gemeinde geboren wird« (Joh. 12,
24).

5. Das Kreuz von Ewigkeit zu Ewigkeit.

So sehen wir das Kreuz überall:


das Kreuz in der Ewigkeit - das Lamm, zuvorerkannt vor Grundlegung der Welt (1. Petr. 1, 19),
das Kreuz in der Vergangenheit der Zeit - Gethsemane, Gabbatha, Golgatha;
das Kreuz in der Gegenwart - der gekreuzigte Christus als das lebendige Grundthema unserer
eigenen Verkündi gung (1. Kor. 2, 2);
das Kreuz in der Zukunft - der früher einst erniedrigte Heiland dann als König des geoffenbarten
Messiasreiches (Phil. 2,8-11) und
das Kreuz in der Herrlichkeit - die Botschaft vom Lamm, als das Edelsteinfundament der
himmlischen Stadt (Off. 21, 14) und,
inmitten des Thrones, das Lamm selbst als der Ge genstand der Anbetung der seligen Geister
(Off. 5, 6-10).

5. Kapitel. DER TRIUMPH DER AUFERSTEHUNG

Christus ist auferstanden!« Mit diesem Siegesruf ist das Evangelium durch die Lande gedrungen.
Die Botschaft vom Kreuz ist zugleich Botschaft der Auferstehung (Apg. 1, 22; 2,32). Darin besteht
ihre Unüberwindbarkeit (Off. 5, 5-6).

An sich wäre eine Rückkehr des Erlösers in den Himmel auch ohne leibliche Auferstehung
denkbar gewesen. Ein Lebendiger wäre Christus ja auch dann geblieben, wenn er, un mittelbar
nach dem Tode, als Geist in die Herrlichkeit seines Vaters zurückgekehrt wäre! Als Geist ohne
menschlichen Leib hatte er, vor seiner Menschwerdung, ja schon immer in allen Äonen der
Ewigkeit im Himmel existiert und war dennoch der Brunnquell und Fürst alles Lebens gewesen
(Apg. 3, 15). Nein, Fortexistenz nach dem Tode und Aufstieg zum himmlischen Thron war
durchaus noch nicht notwendig dasselbe wie Auferstehung des Leibes!

Und doch war gerade sie die Voraussetzung für die Durch führung der Erlösung. Denn nur sie
war

I. Die volle Auswirkung des Sieges des Erlösers über den Tod

Bei einer Rückkehr in den Himmel ohne leibliche Auferste hung wäre Christus nicht als voller
Todesüberwinder offen bar geworden. Er hätte nur geistig und sittlich über den Tod triumphiert;
aber sein Sieg über den materiel len Tod wäre nicht königlich hervorgetreten. Sein Triumph wäre
nur gleichsam ein »Zwei-Drittel«-Triumph, nicht aber ein vollständiger Triumph gewesen; denn
von der dreiteiligen menschlichen Persönlichkeit wären nur zwei Teile - Seele und Geist -, nicht
aber auch der Leib in den Triumph seiner Erlösung mit eingeschlossen gewesen.

Ja, noch mehr. Ohne leibliche Auferstehung wäre Christus im Vollsinn des Wortes überhaupt
nicht als Todesüberwinder offenbar geworden. Denn »Тоd« ist doch nicht Aufhören der Existenz,
sondern Auflösung der menschlichen Persönlichkeit, nicht Auslöschung des Daseins, sondern
Auseinanderreißung des Zusammenhangs von Geist, Seele und Leib. Überwindung des Todes
muß darum in der Wiedereinsetzung dieser Einheit, in der Wiederherstellung des organischen
Zusammenhangs von Geist, Seele und Leib offenbar werden, das aber heißt - vom Leibe aus
gesehen - in der Wiedervereinigung des Lei bes mit der Seele und dem Geist. Ohne leibliche
Auferstehung darum überhaupt kein Triumph des Lebens (1. Kor. 15, 54 -57). Als überwunden
erwiesen wird das Sterben nur in der Form der leiblichen Auferstehung.

Weiterhin war die Auferstehung notwendig als

II. Die Voraussetzung für die Entstehung des Glaubens in den zu Erlösenden

»Denn der Glaube kommt aus der Predigt« (Röm. 10, 14-17), und diese geht zurück auf den
Glauben der ersten Zeit. Der einzelne glaubt durch das Zeugnis des Glaubens der Ge meinde
(Kol. 3, 15), und der Glaube der Gemeinde ist undenkbar ohne den Glauben der ersten
Generation (Eph. 2, 20). Aber gerade dieser war nach dem Kreuzestode Christi
zusammengebrochen (Joh. 20, 19; 25; Luk. 24, 21). Da waren es erst die leibliche Auferstehung
des HErrn und die sich daran anschließenden Erscheinungen des Aufer standenen, durch welche
er wieder neu aufgerichtet wurde (1. Petr. 1, 21). Ohne leibliche Auferstehung hätte niemals ein
denkender Mensch je an den Gekreuzigten geglaubt; denn sein Ende hätte seine eigenen
Voraussagun gen von seiner Auferstehung und seinem Triumph widerlegt (Matth. 16,21; 17,23;
Joh. 2,19). Die Auferstehung des HErrn ist darum das Siegel des Vaters auf die Person und das
Werk seines Sohnes (Apg. 2, 32). Durch Totenauferstehung ist Christus als Prophet und Sohn
Gottes in Kraft »erwiesen« (Röm. 1, 4).Die Auferstehung ist das Siegel auf
1. das Zeugnis der Propheten,
2. das Selbstzeugnis Jesu
3. das Zeugnis seiner Apostel. Sie beweist
4. die Gottessohnschaft Jesu,
5. die Königsherrschaft Jesu,
6. die Weltrichtervollmacht Jesu, und sie gewährleistet
7. unsere eigene, zukünftige Auferstehung und Verklä rung.

Darum ist sie auch das urkundlich verbürgteste Ereignis der Heilsgeschichte. Gerade in dem
selbst von der radikalsten Bibelkritik als echt anerkannten ersten Korintherbrief gibt Pau lus vor
zum Teil gegnerischen, also kritischen Lesern unter Hinweisung auf Hunderte noch lebender
Augenzeugen (1. Kor. 15, 6) folgende vier Hauptbeweise:

1. Den Erfahrungsbeweis: Ihr Korinther seid selbst durch die Botschaft vom leiblich
Auferstandenen gerettet worden(1. Kor. 15, 1);
2. den Schriftbeweis: Nicht nur gestorben, sondern auch auferstanden ist Christus »nach den
Schriften« (1. Kor. 15,3-4)
3. dеn Zeugenbeweis: Über ein Halbtausend Männer haben ihn bei den verschiedensten
Gelegenheiten nach seiner Auferstehung persönlich gesehen (1. Kor. 15, 5-12):
4. dеn heilsgeschichtlichen Notwendigkeitsbeweis: »Ist Christus nicht auferstanden, so ist
unsere Predigt vergeblich und euer Glaube eitel; so sind die, die in Christo entschlafen sind,
verloren; so sind wir die elendsten unter allen Men schen« (1.Kor. 15, 13-19).

Das Kreuz und die Auferstehung gehören folglich zusam men. Der Gekreuzigte starb, um
aufzuerstehen (Joh. 10, 17), und der Auferstandene lebt ewig als der "Gekreuzigte« (1. Kor. 2, 2;
Off. 5, 6). Darum werden auch die Heilswirkun gen der Erlősung immer wieder mit diesen
beiden Tatsachen zusammen in Verbindung gebracht.

Damit ist aber auch zugleich schon gesagt: Die Auferste hung ist - in Verbindung mit
dеm Kreuz -

III. Die Grundlage des neues Lebens für die Gläubigen

Erst dann nämlich kann das Sühnopfer Christi dem schuldi gen Sünder zugutekommen, wenn
dieser an ihn glaubt als an das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweggetragen hat (Joh.
1, 29). Zur Ermöglichung des Glaubens aber war die Auferstehung notwendig. Denn ohne das
Offenbarwerden des vollkommenen Sieges von Golgatha im Tri umph der Auferstehung wäre der
Glaube an das Lamm Got tes nicht möglich geworden.

Darum wird erst in dеm aufer standenen und erhöhten Mittler das am Kreuz für uns erwor
bene Heil flüssig. Erst in dem zur Herrlichkeit erhöhten Lamm steht die Gnade für alle offen. Und
deshalb, weil wir so durch den Glauben die Vergebung der Sünden empfangen haben und damit
im Urteil Gottes gerecht und seine Kinder gewor den sind, hat Gott den Geist seines Sohnes in
unsere Herzen gesandt (Gal. 4, 6), wodurch es zur Wiedergeburt gekommen ist. So ergibt sich
als selige Frucht der im Opfertod Christi geschehenen und in der Auferstehung besiegelten
Versöhnung eine organische Verbindung des Glaubenden mit Christus, eine Todes- und
Lebensgemeinschaft der Erlösten mit dem Er löser (Röm. 6,5; Gal. 2,19; Kol. 3,3), gleichsam ein
Es sen und Trinken seines Fleisches und seines Blutes (Joh. 6, 53), und der »Christus für uns«
wird »Christus in uns«, die Hoffnung der Herrlichkeit (Kol. 1, 27).

Die leibliche Auferstehung des HErrn bedeutet darum die Rückkehr des Erlösers zur
Menschennatur, die Verewigung seiner Menschheit in verklärter, verherrlichter Form. Sie be
deutet, daß Christus der »letzte Adam« ist (Röm. 5, 12-21; 1. Kor. 15, 45) und im Himmel zur
Rechten Gottes (Apg. 1,11; Dan. 7,13; Phil. 3,21), der schöpferische Anfänger und das
organische »Haupt« einer erlösten Geistes menschheit.

Zugleich aber stehen wir hier vor einer ungeheuren Span nung unseres Denkens. Denn wie kann
der Erlöser noch nach seiner Erhöhung in der Herrlichkeit »Mensch« sein, noch dazu in der Form
eines verklärten »Leibes«? Sagt er doch selbst zu den Seinen: »Siehe, ich bin bei euch alle
Tage!«, und ist er doch vor allem die zweite Person in der Gottheit! Hier zeigt sich von neuem der
Abgrund des Ewigen. Das Überräumliche und Überzeitliche ist uns restlos unerklärbar. Wenn wir
darum hier - mit der Bibel - von »Stofflichkeit« und »Leiblich keit« reden, so hat dies alles für uns
einen unbegreiflichen Sinn. Christus aber ist gerade in die »Ewigkeit« eingegangen. Dennoch
lehrt die Heilige Schrift dieses ewige Menschbleiben des Erlösers. Gerade dies verbürgt die
Inkraftsetzung und Erhaltung seines Werkes. Sein Sieg über den Tod muß die endlose
Fortsetzung seiner Menschwerdung in sich einschlie ßen. Nur als der »Erstgeborene unter vielen
Brüdern« (Röm. 8, 29; Kol. 1,18) kann er der »Urheber ewigen Heils sein (Hebr. 2,10; 5,9).

Zuletzt aber ist die Auferstehung

IV. Das Fundament für die Verklärung der Welt

Als solches entfaltet sie sich in drei stets größeren Kreisen. Sie gewährleistet

im Leben des einzelnen - die Auferstehung des Fleisches,


im Leben der Erdwelt - die Erscheinung des Herrlich keitsreiches,
im Leben des Weltalls - das verklärte Universum.

1. Die Auferstehung des Fleisches ist nur möglich auf der Grundlage der Auferstehung des HErrn
Jesu. Die Auferweckung Jesu ist die Verklärung der Menschheit in Christo als ihrem »Erstling«
(Kol. 1,18). Die Aufer stehung beweist: Der Weg zur Auferstehung der Erlösten ist frei. Sein
Triumph über den Tod ge währleistet uns unsere eigene Auferweckung (Röm. 8, 11). Sein
Herrlichkeitsleib ist das Muster und Urbild unseres eigenen, zukünftigen Leibes (Phil. 3, 20; 1.
Kor. 15, 49). Die Auferstehung des »Erstlings« ist die Grundlage aller Auferstehung (Joh. 5,26-
29).

2. Das Tausendjährige Reich ist durchaus auf der Aufer stehung des HErrn Jesu gegründet.
Denn die dem David gegebenen Verheißungen sprachen von einem ewigen, verklär ten
Menschheitsreich (2. Sam. 7, 13). Dazu ist aber ein ewiger Menschheitskönig erforderlich, eben
der Menschensohn, der dereinst auf den Wolken des Himmels erscheint (Dan. 7,13; Matth. 26,
64; Off. 1, 13).
Das Menschbleiben Christi in der Auferstehung ist also die grundsätzliche Erfüllung der
davidischen Reichsprophetie. Die Auferstehung des »Königs« ist die Grundlage der
messianischen Welt»wiedergeburt« (Matth. 19, 28); und was bei der Wiederkunft Christi
geschieht, ist nur die geschichtliche Offenbarung und Durchführung dieser schon längst bei
seinem ersten Kommen gegebenen »Erfüllung«. Darum sagt auch Paulus: »Daß Gott ihn
(Jesum) aus den To ten auferweckt hat, ... hat er in den Worten ausgesprochen: Ich will euch die
dеm David verheißenen, unverbrüchlichen Gnadengüter geben (Apg. 13, 34).

Geistliche »Auferstehung« Israels! (Hes. 37,1-14).


Geist liche Wiedergeburt der Nationen! (Ps. 87, 4-6; Jes. 25, 7).
Neubelebung der Natur! (Jes. 41,18).
So werden dereinst die Lebens kräfte des Auferstandenen die ganze Erde erfüllen, und die
sichtbare Herrschaft des Messias wird für die irdische Schöp fung neues Leben sein (Matth.
19,28).
Aber auch das Tausendjährige Reich ist nur Einleitung und Vorspiel. Das Endziel ist

3. Der neue Himmel und die neue Erde nach dem Großen Weißen Thron. Dann werden nicht nur
Seele und Geist, sondern auch Stoff und Natur in Voll endung verklärt sein. Im himmlischen
Jerusalem wird es gleichsam Gold geben, »durchsichtig wie Glas« (Off. 21,18). Nicht Geistigkeit,
sondern Geistleiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes mit seiner Kreatur.
Aber auch hier ist das Osterereignis das schöpferische Fun dament. Die Auferstehung des
»Erben aller Dinge« ist die Gewähr des neuen Himmels und der neuen Erde.
An Jesu Lei be wurde in der Auferstehung zum erstenmal Materie ver klärt (Joh. 20, 27 und bes.
Luk. 24, 39-43), und damit der Grundsatz der Verklärbarkeit des Stoffes in der Heilsgeschichte
geoffenbart und gewährleistet. Auch in dieser Hinsicht ist Christus »der Erstling«. Fortan beruht
alle Verklärung des Himmels und der Erde auf der Auferste hung des Leibes des Erlösers, und
nach dem Großen Weißen Thron werden die Lebenswirkungen des Auferstandenen in
weltumspannendster Weise offenbar. Darum ist dies der letz te und umfassendste Sinn seiner
Auferstehung: »Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde« (Jes. 65,17; 2. Petr.
3,13).

6. Kapitel. DIE AUFFAHRT DES SIEGERS

Der siegreich Auferstandene ist gen Himmel gefahren. Der von den Menschen ans Kreuz
»Erhöhte« (Joh. 12,32) wurde von Gott in die Herrlichkeit »erhöht« (Phil. 2,9). »Setze dich zu
meiner Rechten, bis daß ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße« (Ps. 110,1).

Für alle drei Ämter des Erlösers ist die Himmelfahrt von entscheidendster Bedeutung. Sie ist
für das prophetische Amt - der Übergang aus der un mittelbaren Prophetie in die Geistprophetie,
für das priesterliche Amt - der Übergang in das Hohepriestertum »nach der Ordnung
Melchisedeks«,
für das königliche Amt - die Erweiterung der könig lichen Vollmacht zur königlichen Herrschaft.

I. Das prophetische Amt

war zunächst vornehmlich:

1. Zeugendienst durch Wandel. Von der Menschwerdung des Erlösers bis zu seinem öffentlichen
Auftreten war die Kundmachung Gottes, wie Christus sie vollzog, durchaus ein Prophetentum der
Persönlichkeit. Das Leben des Kindes, des Jünglings, des werdenden Mannes offenbarte die
Heiligkeit Gottes - »Wer mich sieht, der sieht den Vater« - und zeigte das göttliche Ideal für die
normale Lebensentwicklung der Menschen (vgl. Luk. 2, 40; 52). Das »Themas dieses
Prophetentums lautete gleichsam: »Der Mensch Gottes«. Seit der Taufe trat noch die

2. Wortprophetie hinzu, zu dem Prophetentums des Lebens das Prophetentum der Lehre.
Christus »lehrte wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie die Schriftgelehrten« (Matth. 7, 29). Sein
Thema war jetzt: »Das Reich Gottes. Seine Himmelfahrt aber bedeutete den Übergang dieses
direkten Prophetentums in ein indirek tes, und - in Verbindung mit Pfingsten - den Beginn einer
vom Himmеl her wirkenden

3. Geistprophetie. Nun gibt es ein »Kommen« des erhöhten Propheten in Wort und in Geist
zu uns, den zu Belehrenden (Joh, 14, 18; 28). Nicht nur seine Sendboten »kommen« - die
Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer (Eph. 4, 11) und überhaupt seine »Zeugen«
allzumal (Apg. 1, 8) -, sondern in ihnen und ihrer Botschaft »kommt« Christus sel ber (Matth. 10,
40) und setzt sein Prophetentum durch den Geist von der Herrlichkeit aus fort; wie Paulus von
dem Gekreuzigten und Auferstandenen bezeugt: »Er kam und ver kündigte Frieden, euch, den
Fernen (den Nichtjuden) und Frieden den Nahen (den Juden)« (Eph. 2, 17). Sein Thema ist jetzt:
»Die vollbrachte Erlösung«, der »Friede«, das »Licht« (Apg. 26, 23).
Von noch größerer Bedeutung ist die Himmelfahrt für

II. Das hohepriesterliche Amt

Auf Erden brachte Christus die wesenhafte Erfüllung des aaronitischen Priestertums (Hebr. 5, 1-
4; 9, 6-23), das Sühnopfer stellend zur Errettung der Sünder; doch, von der Erde erhöht und in
die Himmelswelt eingegan gen ist er nun »von Gott begrüßt als Hoherpriester nach der Ordnung
Melchisedeks« (Hebr. 5, 10). Seine Himmelfahrt ist also nicht nur der Wendepunkt zwi schen
seinem Stande der Niedrigkeit und seinem Stande der Hoheit, sondern zugleich auch der
Wendepunkt zwischen zwei Formen der Ausübung seines hohenpriesterlichen Wir kens.
In der Himmelfahrt ist Christus in das obere Allerhei ligste eingegangen, »nicht mit fremdem
Blut«, wie die alt testamentlichen Hohenpriester am Großen Versöhnungstage in das irdische
Allerheiligste eingingen (3. Mose 16, 15-19), sondern »mit seinem eigenen Blut«, d. h. mit seinem
Selbstopfer auf Golgatha, um so, auf dieser Grundlage, nunmehr vor dem Angesicht Gottes für
uns zu er scheinen (Hebr. 9, 11-14; Röm. 8, 34).

Damit aber wird die Himmelfahrt Christi zugleich die Rechtfertigung des Gekreuzigten (Phil. 2, 9),
die An nahme des Werkes des Sohnes durch den Vater (Hebr. 5, 10),
die Gültigerklärung seines irdischen Hohenpriestertums durch die höchste Majestät in der
Himmelswelt (Apg. 2, 34-36),
der wesenhafte Sinn und die zentralste Erfüllung der feierlichsten Hohenpriesterhandlung des
größten aller israelitischen Feste (Hebr.9,7).

III. Das königliche Amt

Sie ist die »Thronbesteigung« des »Königs der Ehren« (Ps. 24, 8) . . .

Vom Himmel her offenbart Christus sein Königtum in vielfacher Weise:

als Gründung seiner Gemeinde - durch die Ausgießung des Geistes,


als Ausbreitung seines Reiches - durch Bekräftigung der Heilsbotschaft,
als Verteidigung seines Reiches - durch Überwindung der Hindernisse (Apg. 5, 19;
als Vollendung seines Reiches - durch seine Ankunft in Herrlichkeit (1. Tim. 6, 14) . . .

7. Kapitel. DIE ERÖFFNUNG DES GOTTESREICHES

(Die Ausgießung des Heiligen Geistes).

»Werdet voll Geistes« (Eph. 5, 18).

Mit Pfingsten beginnt eine neue Zeit, das Zeitalter des heiligen Geistes. Der Unterschied zur
alttestamentlichen Zeit ist ein dreifacher:

I. Der Umfang. Im Alten Bunde kam der Geist nur auf einzelne (4. Mose 11, 29), im Neuen Bunde
kommt er auf alle Gläubigen (Apg. 2, 4; 17; Röm. 8, 9).

II. Die Dauer. Im Alten Bunde wirkte der Geist immer nur für eine Zeitlang (4. Mose 11, 25), im
Neuen Bunde »wohnt« er in den Gläubigen (Joh. 14, 17; 23; 1. Kor. 3, 16)

III. Der Inhalt und Zweck. Im Alten Bunde wirkte der Geist nur erziehend und dienstbefähigend;
im Neuen wirkt er in der mannigfaltigsten Weise, nämlich
zur Weckung des Glaubens - heilswerbend, als »Geist der Wahrheit;
zur Bewirkung der Wiedergeburt - lebensspendend, als Geist der Sohnschaft;
zur Lenkung der Heiligung - erziehend, als »Geist der Heiligkeit« (Ps. 51, 11);
zur Belebung des Dienstes - ausrüstend, als »Geist der Kraft« (2. Tim. 1, 7);
zur Herbeiführung der Verherrlichung - erklärend, als »Geist der Herrlichkeit« (1. Petr. 4, 14)

1. Heilswerbend. Die Aufgabe des Geistes ist es, Christum zu verklären. Als »Zeuge« des HErrn
an die Welt (Joh. 15, 26) ist er der große Evangelist des Sohnes (Off. 22,17). Er redet zur Welt
von Sünde, Gerechtig keit und Gericht (Joh. 16, 8-11), von Sünde der Welt, Gerech tigkeit Christi
und Gericht über Satan.

Die Sünde der Welt deckt er auf durch den Hinweis auf ih ren Unglauben, mit dem sie den HErrn,
den einzig wahren Guten, verworfen haben (Apg. 2, 22)

Die Gerechtigkeit Christi stellt er fest durch den Hinweis auf die Himmelfahrt; denn gerade in der
Erhöhung ist der von den Sündern als »ungerecht« Verworfene von Gott als der »Heilige« und
»Gerechte« anerkannt worden (Joh. 16, 10; Apg. 2, 25; 1. Tim. 3,16)

Das Gerichtetsein Satans macht er klar durch den Hinweis auf Jesu Kreuzessieg (Joh. 19, 30);
denn gerade durch das Kreuz ist der Fürst dieser Welt gerichtet worden (Kol. 2, 15), und darum
kann nunmehr die Welt aufgefordert werden, einem anderen, dem eigentlichen Fürsten, zu
huldigen.

So wird die in ihren eigenen Augen gerechte Welt durch das Zeugnis des Geistes sündig
gesprochen; der von dеп Men schen als Sünder Gekreuzigte wird durch den Geist als der
Heilige und Gerechte erwiesen, und Satan, der Urheber des Mordes von Golgatha, wird als der
Besiegte und Gerichtete bloßgestellt. Dies ist das dreifache Zeugnis des Geistes an die Welt ...

Gerade dies ist die eigentliche Hauptbedeutung des Pfingstereignisses: Der von dem Himmel
herniedergesandte »Geist des Sohnes«(Gal. 4, 6) verbindet die Erlösten mit dem Erlöser, und
eignet dem Glaubenden die volle Frucht des Opfers Christi zu. Das in der Menschwerdung und
Auferstehung Christi erst göttlicherseits begründete, organische Verhältnis wird nun durch die
Ausgießung des Geistes auch menschlicherseits er fahrene Wirklichkeit. »Der HErr ist der Geist«
(2. Kor. 3, 17), und »wer dem HErrn anhängt, ist ein Geist mit ihm« (1. Kor. 6, 17). So ragt die
Bedeutung von Pfingsten in die Ewigkeit hinein. Durch den Geist sind wir Söhne (Röm. 8, 14), als
Söhne sind wir Erben (Gal. 4, 7), und als Erben Teilhaber seiner kommenden Herrlichkeit (Römer
8, 17) . . .

Zusammengestellt und Hervorhebungen von Horst Koch, Herborn, im Februar 2006

[1] Die Tatsache der persönlich bewußten, metaphysisch realen Präexistenz Christi wird deutlich
gelehrt in Joh. 8, 58; 17, 5; Phil. 2, 6-8, wo dem vorweltlichen Gottessohn ein wollendes Handeln
zugeschrieben wird, was eine nur »ideale« Präexistenz ausschließt. Ferner Micha 5, 1; Joh. 1,
14; Hebr. 10, 5; 6.

[2] Während »Christus« das zunächst nicht ist. Daher kann Eph. 2, 12 und Hebr. 11, 26 dem
Zusammenhang nach nicht »Jesus«, sondern nur »Christus« stehen.

[3] So mit Josua, dem Sohn Nuns, dem Nachfolger Moses (griech. »Jesus«, . 4, 8), mit Josua,
dem Hohenpriester der Sacharjazeit (Sach. 3, 1), mit Jesus Sirach, Jesus Justus (Kol. 4, 11), ja
sogar mit Jesus, dem Vater des jüdisch-arabischen Zauberers Bar-Jesus (»Sohn des Jesus«,
Apg. 13, 6).
[4] Das Neue an der Johannestaufe war nicht, daß er t a u f t e - denn schon die Juden übten an
den zum Jahweglauben übertretenden Heiden die sog. Proselytentaufe -, sondern daß er J u d e
n taufte, sie dadurch auf die selbe Stufe stellend wie auch die Nationen.
[5] Vgl, rabbinische Ausdrücke wie: »Den Himmel um Verzeihung bitten«, »den Himmel
fürchten«, oder »der Himmel tut Wunder«.

[6] Luk. 15, 21: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel (d. h. Gott) und vor dir.« Matth. 21,
25: »Woher war die Taufe des Johannes? War sie vom Himmel (d.h. Gott) oder von den
Menschen?« Matth.. 26, 64: »Ihr wer det sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft
(d.h. Gottes).

[7] Daher kommt auch der Ausdruck H i m m e l reich nur in dem ur sprünglich für Juden
bestimmten Matthäusevangelium vor (32mal) ; die an deren Evangelien geben ihn, im Hinblick
auf das Verständnis ihrer heidni schen Leser, mit »Reich Gottes« wieder (so z.B. Lukas 32mal).
Himmelreich und Reich Gottes sind also, der Sache nach, genau dasselbe.

[8] Das »Reích« ist also nicht etwas nur Israelitisches und Zukünftiges. Auch P a u l u s hat das
»Reich« verkündigt, und zwar den H e i d e n (Аpg. 20, 25; 28, 31). Sei ne Tätigkeit während
der Zeit seines Aufenthaltes in Ephesus (Apg. 20, 18) beschreibt er mit den beiden Ausdrücken:
»zu bezeugen das Evangelium der Gnade Gottes und »das Königreich (Gottes) proklamieren«
Арg. 20, 25. Beide Ausdrücke beziehen sich also auf dieselbe Zeit.Man hüte sich also vor
einer vorschnellen Gleichsetzung von »Reich« und »Tausendjährigem Reich«. Das »Reich« ist
zunächst ganz allgemein das Herrschen Gottes, sein Königsein als lebendig machtvolle
Gottestat.
[9] Die Himmelreichsbotschaft zu bestätigen, war der Hauptzweck der Wunder Jesu, wie
besonders das Johannesevangelium beweist (Joh. 2, 23; 3, 2; 6, 14; 9, 32; 12, 37). Hierbei
setzen die Wunder aber ein Heilsverlangen voraus, sind also hauptsächlich für die
Empfänglichen be stimmt (Matth. 8, 8; 15, 28).
[10] Alle Wunder Jesu sind Wunder der Hilfe und damit zugleich ein Tat symbol des Zweckes
seiner Sendung. Auch das einzige Gerichtswunder - die Verfluchung des Feigenbaumes (Matth.
21, 19) - war in Wahrheit ein Liebesakt Jesu, nämlich eine symbolische Warnung an Israel.

[11] Daß auch nach der Türöffnung des Himmelreiches durch das Kreuz und Apg. 10 der
Lehrinhalt der Evangelien auf Israel begrenzt geblieben sei und nicht mit der Botschaft Pauli und
der Gemeinde auf d e m s e l b e n Haushaltungsboden stände, befindet sich darum im
Widerspruch zu der neutestamentlichen Heilslehre. Auch Paulus bezeugt (wie Matth. 10, 5; vgl.
28, 19) von »seinem« Evangelium, daß es, hinsicht lich des U m f a n g e s seiner Verkündigung,
z w e i Perioden zu durchlau fen habe: »Den Juden z u e r s t« (wegen Joh. 4, 22; Röm. 11,18)
und dann (dieses selbe Heil, Apg. 28, 28) den Heiden (Röm. 1, 16; Apg. 13, 46 vgl. Luk. 24, 46).
Zu dieser Erweiterung des Predigtumfanges der Himmelreichsbotschaft gehören auch
die»größeren Werke« von Joh. 14, 12.

--

JESUS GESTALTENDER KÜNSTLER

- Lebensstil – Gleichnisse – Predigten -

Inhalt

Die Kunst Jesu


Präludium der Passion
Jesu Abendmahl und das Künstlerische in ihm
Kunst und Passion
Das Allerheiligste
Der Karfreitag:

Die Umwandlung aller Schönheitsbegriffe.


Das heilige Schweigen
Der Herrenmensch und der Herr, der allein Mensch ist.
Dem Tode nahe.
Der letzte Weg
Aus der Stadt heraus
Furchtbare Gesichte
Das Sterben
Die sieben Worte am Kreuz.
Das Grab im Felsen und die Kunst.

Die Kunst Jesu.

Gibt es eine Kunst Jesu? War Jesus ein Künstler?

Das ist die Frage, die bis heute noch nicht beantwortet ist, und es ist hohe Zeit, daß es geschieht.
Ich weiß wohl, daß die Frage erstaunten Gesichtern begegnet, ja, daß sich auf ihnen zumeist das
Erstaunen mit Unwillen mischt. »Soll Jesus herabgezerrt werden aus göttlicher Höhe in die
Niederungen der Menschheit? Dahin, wo es nach Ateliers riecht, dahin, wo Künstlerohnmacht
und Künstlereitelkeit bei allem redlichen Wollen doch immer zu Hause sind und immer zu Hause
sein werden?« So wehren sich die einen und weisen allein schon die Stellung der Frage als
etwas Entwürdigendes ab, als etwas, was Jesus herabsetzen muß, wenn sie mit »ja«
beantwortet wird.

Von der einen Seite heißt es da, »will man Jesus, nachdem man ihm irrend menschlich die
höchsten Ehrennamen gegeben und ihn dankbar kindlich noch über die Herren aller Zeiten
gestellt hat, nachdem man das wundersamste Wissen und das wunderbarste Können von ihm
erzählt hat, will man ihn da auch noch mit der Künstlergilde in Berührung bringen? Ihm so eine
Art Ehrenmitgliedschaft erringen? Man lasse das lieber! Denn die Größe der wahren Künstler
wird ihn so klein erscheinen lassen, daß damit sein ganzes Wesen und sein Werk seines Nimbus
entkleidet wird.«

Ich weiß, daß es nicht nur diese beiden Auffassungen gibt. Dazwischen lebt noch eine andere.
Sagen die einen: »Kunst ist belanglos, wo es sich um Glaube und Offenbarung handelt«, sagen
die andern: »Glauben und Offenbarung sind Wahn, sind nichts, Kunst ist alles, ist einzige
Religion, einzige Menschheitshöhe«, so meint eine dritte Gruppe, daß, wenn man wirklich
Künstlertum bei Jesus entdecken würde, das dann aber noch keine größere Rolle spielen würde,
als wenn man bei Leonardo da Vinci Kenntnisse der heutigen Flugtechnik fände.

Alle drei Gruppen gehen Irrwege.

Nur eins ist befremdlich.

Wie ist es möglich, daß Welt und Kirche, Kunst und Glaube bisher an der Kunst Jesu
vorübergegangen sind?

Wie war es möglich, daß ein Strom von Kunst sich aus dem Leben Jesu in die Zeit ergoß, ja daß
die höchste Kunst, die wir haben, ohne ihn undenkbar, unmöglich ist, und daß die blinde Welt
nicht sah, daß der Spender, der Erwecker dieser Gaben, selber höchste, herrliche Kunst
geschaffen hat?
Wie war und ist es möglich, daß immer wieder neu unvergleichliche Motive, Anregungen,
Vorwürfe, Vorlagen dem Künstler aus dem Leben Jesu sich zwingend aufdrängen und daß
niemand merkte, daß Jesus selber das Geheimnis der ewigen Kunst in sich trug, es in jedes
seiner Worte hineinverwob und nun kommt das, was man kaum sagen darf, was aber gesagt
werden muß: Kunst lebte, unerreichbare Kunst lebendig darstellte, verlebendigte?

Die Kunst hat sich nicht des Lebens Jesu bemächtigt, sondern das Leben Jesu hat sich der
Kunst bemächtigt und ihr letzte Wege gewiesen, über die es nicht hinausgeht, nie hinausgehen
wird.

Ein Bild, ein Erlebnis genügt schon, um dich das empfinden zu lassen, daß es vielleicht wie ein
Erschrecken über dich kommt: Welch unergründlich tiefe Kunst liegt hier zugrunde, ist hier
vorausgegangen und hat den Künstler bei der Hand genommen, der begnadet wurde, sie zu
verstehen, zu erleben und umgeformt weiterzugeben:

Matthäuspassion!

Das ist ein Letztes, nicht mehr Rubrizierbares. Da kommt Musik zu einer Blütenentfaltung
verborgener Herrlichkeiten, wie sie vor Christus und ohne Christus einfach nicht da ist und nicht
da sein kann. Eine Blütenentfaltung, die in ganz anderem Sinne Kunstoffenbarung genannt
werden muß, als dies Wort gemeinhin gebraucht wird. Denke nur an die Tonführung bei der
Einsetzung des heiligen Abendmahls: »Nehmet, esset, das ist mein Leib!« Andacht, inneres
Erbeben, Tiefe, Zartheit, Wohllaut, Miterleben, zitternde Erwartung, Trauer, Ergriffenheit, Hingabe
- alles das wird geweckt und rauscht auf zu einer nie gekannten Harmonie des
Empfindungslebens - durch ein paar Worte!

Vollendete, besondere Form!


Ewiger Inhalt!
Das begegnet uns in ihnen.
Und das, nur das ist Kunst. - Ja, es gibt eine Kunst Jesu!

Nur wer dies versteht, begreift und fühlt, versteht auch das Leben Jesu ganz, nicht nur seine
Worte, erkennt, daß sich auch im Leben und Wandeln Jesu etwas ewig Schönes, etwas nach
Form und Inhalt Vollendetes offenbart, das allen Maßstäben der höchsten Kunst genügt und
doch nicht von ihnen gemessen werden kann.

Ein besonderer Weg, Kunst Jesu zu sehen.

Ein besonderer Weg, Kunst Jesu zu sehen - ein Weg, der bisher noch nie begangen ist, führt
mitten hinein ins Wesentliche. Darf man sagen, in die Kunstseele Jesu? Fast möchte man's,
wenn man nicht wüßte, daß keine Seelenkraft gesondert neben der andern besteht.

Der gewöhnliche Weg ist ein anderer. Einer, der eigentlich viel näher liegt. Das ist der, wo man
einfach fragt: »Gibt es Kunstwerke Jesu? Wie sehen sie aus? Welche charakteristischen
Eigenschaften haben sie? Welche Schönheiten weisen sie auf?«
Wie man eine Gemäldegalerie studiert, so möchte man Jesu Werke beschauen, kritisieren, die
Werke anderer Künstler daneben halten und dann das Ergebnis feststellen. Da ist ja der
buntgewirkte Teppich seiner Gleichnisse. Da sind ja die lebendigen Gestalten, die sprechenden
Ähnlichkeiten in ihnen, da in einem sich tausendmal tausend wiedererkennen. Da sind seine
Sprüche, die wie Lieder klingen, seine Gerichtsworte, die wie Donner rollen, seine Bilder, die jede
leere Phantasie mit einer Fülle von Geschautem beleben und den Stumpfen zum Erwachen
bringen, den langsamen Menschengeist überraschen, den kühnen Denker überholen.

Das alles sind doch greifbare Kunstwerke, vor die man sich geradeso hinsetzen kann wie vor
Rembrandts Nachtwache in Amsterdam, um sie sinnend zu betrachten, zu genießen
einzuschätzen. Herkömmliche Kunstbetrachtung, bei der es auch bis zur Überwältigung kommen
kann. Kommen kann! Aber ebensogut kann man glatt an diesen Kunstwerken vorbeigelangen,
vorbeilaufen, so daß man kaum merkt, es mit höchster Kunst, es überhaupt mit wahrer Kunst zu
tun gehabt zu haben, die allein als Kunst schon unendlich viel zu sagen hat. So ist es doch
gewesen. Und so ist es noch heute. Dickleibige Kommentare füllen die Bücherborde der
theologischen Wissenschaft. Jahrhunderte um Jahrhunderte legt man aus, legt man hinein,
spricht man von den Evangelien, von den Gleichnissen Jesu und deren Sinn, streitet sich um die
richtige Auslegung - und sieht den Wald vor Bäumen nicht.

Höchstens, daß einmal ein anerkennendes Wort über die Form fällt, in der Jesus seine
Gedanken darbietet. Dann heißt es aber beinahe entschuldigend weiter, daß die bunte Form ja
nur Hülle sei und Jesus in der Sprache seiner Zeit rede; er benutze die orientalische
Bildersprache, die der Orientale nun einmal übernommen habe, und die Jesus als Kind seiner
Zeit gebrauche. Die Hauptsache sei ja der Inhalt, der sich ergäbe, wenn man dem Gedanken die
orientalischen Gewänder ausgezogen habe. Eigentlich das wird nicht gesagt, aber das meint
man hätte er sich anders ausdrücken müssen. - Ein Glück, für die Menschheit, daß er's nicht
getan hat.

Hülle und Inhalt!

Man trenne sie einmal bei der Sixtinischen Madonna, man löse die Form auf, ziehe sie dem Bilde
aus und lasse nur den Grundgedanken stehen: er wird nicht mehr da sein. Man trenne bei einem
Volksliede die Form vom Inhalt, z. B. »Es sah einmal auf der Heide ein Knabe eine kleine Rose«
usw. und man sieht mit Erschrecken, daß Inhalt und Form, Wahrheit und Form nach eigenen
Gesetzen aufeinander angewiesen sind.

Doch die Tatsache liegt nun einmal vor: die Kunst Jesu ist nicht gesehen worden. Sonst wäre das
Wissen um die Kunst Jesu, das Ergriffensein von ihr, das Erbaut und Beseligtwerden durch sie
Allgemeingut der Christenheit, der Kirche, der Bibelleser und Evangelienkenner.

Und sie muß gesehen werden. Endlich muß das geschehen; die Christen bringen sich sonst um
einen Reichtum, der so manche arme, leere Zeit in Glück und Leben verwandeln kann. Die
Herrlichkeit Christi ist zu einem großen Teile nicht erkannt, wenn dies nicht erkannt ist. Es gilt
Jesu Ehre.

Es gibt einen besonderen Weg.

Einen Weg mitten ins Wesentliche der Kunst Jesu, in Jesus selbst hinein, wo er Kunst schafft,
bietet.

Ein Weg, nicht an bekannten Kunstwerken vorüber, die zudem nicht sehr unmittelbar wirken, weil
man uns ihre Unmittelbarkeit ausgeredet hat oder weil unsere Sinne dafür zu stumpf geworden
sind durch Glaubens und Richtungsstreitigkeiten sowohl wie durch Verbildung. Jeder kennt
diesen besonderen Weg und kennt ihn doch nicht.

Das ist Jesu - letzter Weg.

Der Weg, der in die Nacht von Gethsemane, in die Nacht des Verrates, in die Finsternis am
Karfreitag führt!

Ein Weg, bei dem es ausgeschlossen erscheint, daß uns da Kunst und Kunstschaffen begegnet,
begegnen darf; denn von Kunst stammt ja das böse Eigenschaftswort künstlich.

Gehen wir ihn mit ihm.

Begleiten wir ihn auf dem Wege des Leidens und Sterbens von Anfang bis zu Ende, und wir
werden erschauernd eine Kunst ahnen, die nichts mehr mit der Mühsal künstlerischen
Spezialistentums zu tun hat, sondern von ihr so weit entfernt ist wie der Himmel von der Erde.

Ja, es hat Künstler gegeben und es gibt sie durch Gottes Gnade immer wieder, die scheinbar
mühelos wie im Rausche schaffen, Zeit und Raum vergessend, losgelöst von der Erde, ohne alle
Erdenschwere, aber ihr Ziel, ihr Drang ist dabei doch immer geweihte Kunst selber also nur ein
Teil des Lebens.

Jesu Ziel ist: Gott, Menschheit und Ewigkeit.

Ziel - und zugleich Gegenwart und Vergangenheit. Jenseits im Diesseits.

Im Diesseits, das als Volk, Geschichte, Schicksal, Kampf vorüberzieht, durch das er
hindurchzieht, vollendete Kunst offenbarend. - Der Weg des Leidens und Sterbens.

Präludium der Passion.

Es gibt in Jesu Leben ein Bild, das nie gemalt worden ist und das den nie wieder losläßt, der
einmal innerlich in sein Schauen versunken war. Das ist jene Stunde, wo sich Jesus vom Anblick
der hochgebauten Stadt, die friedlich zu seinen Füßen schlafen geht, nicht losreißen kann, und
die Ergriffenheit ihn so übermannt, daß er seinen Tränen über Jerusalem freien Lauf läßt.

Es ist Zeitenwende, es ist Weltenwende! Gott hat sein Volk heimgesucht - und keiner merkt es,
keiner glaubt es; keiner ahnt es, daß bald so blutrot die Feuergarben der Zerstörung den Himmel
malen werden, wie es jetzt die Abendröte tut, und das Schweigen des Todes auf Zion herabsinkt.
Schluchzen schüttelt da den Mann, der am Kreuz keine Träne vergießt, als sein Leib zerbricht.
Denn er liebt. Er liebt sein Volk und sieht das Entsetzliche kommen, sieht die Ströme von Blut,
die aus dem brennenden Tempel zu Tal eilen, hört im Geist die Schreie der Sterbenden, der
Verzweifelnden und ist doch machtlos? Er kann sein Volk nicht zur Besinnung bringen, daß es
die Bedeutung der Stunde erkennt und seinen Rettet nicht tötet. Furchtbares Los, die grausige
Zukunft so sicher eintreten zu wissen wie die Mitternachtsstunde und sie doch nicht abwenden
zu können! Im Geist es greifbar deutlich schauen zu müssen, wie das Volk, sein Volk, sich selbst
verstößt, indem es ihn verstößt, wie es dann nach der Katastrophe zum ruhelosen, ungläubigen
Weltenwanderer wird, überall zu Hause und doch überall heimatlos, immer die Folgen einer
unseligen Stunde tragend, - ohne gerade das je zuzugeben.

»Wenn du doch erkenntest, zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient!« ruft Jesus aus.
Nein, Zion erkennt seine Zeit nicht. Es hat anderes zu tun. Außerdem geht ja alles trotz der
römischen Besatzung seinen geregelten Gang und die Tempelsteuer geht pünktlich ein, die
herrschenden Klassen haben es gut, und die Frömmigkeit der Pharisäer gedeiht und hängt dem
Gesetz tausend neue Gesetzlein an, damit dem Buchstaben bis ins kleinste genügt wird, daß
man sogar Minze, Dill und Kümmel zur Zehntenabgabe empfiehlt. Das ist wichtiger, als auf den
Pulsschlag der Zeit zu achten. Es wird morgen so sein, wie es gestern war. So hat sich von eher
der Alltagsmensch getröstet! Und wie anders kommt es! Ja, hätte ihnen Jesus Titus und seine
Heere, die 40 Jahre später kamen, zeigen können, irgendwie, im Bilde oder magisch, mitsamt all
den Schrecknissen und der anschließenden Erfüllung von 5. Mose 28, dann hätten sie vielleicht
erschrocken aufgehorcht? Nein, sie hätten es doch nicht getan. Des Menschen Wille gebietet
auch über Einsicht. Was er nicht sehen will das sieht er nicht. Darum fährt Jesus fort: »Aber nun
ist es vor deinen Augen verborgen!«

Tiefer Schmerz, den man nie vergißt! Aber nahe dabei wohnt lodernder Zorn. Zorn über die
Führer des Volkes, die zu Verführern geworden sind. Nie wird es anders sein. Jedes Volk besteht
aus Führenden und Geführten.

Wehe den Führenden, die die Masse ins Verderben führen!


Dies siebenfache Wehe ruft Jesus ihnen bald nach jener Stunde zu, da er nicht imstande war,
den Tränen Einhalt zu gebieten. Welch ein Zorn! Lies es nach in Matthäus 23!
Nein, das ist nicht Wut, nicht Haß, nicht Raserei, das ist heiliger Zorn, der noch in letzter Stunde
ein letztes Mittel versucht, um mit Peitschenhieben die Schlafenden in dem schon brennenden
Hause aufzuwecken und zu retten. Die Worte kommen nur so dahergeströmt. Sein Zorn, sein
Weherufen wird immer heftiger. Die Erregung ist noch größer als in der Stunde, da er die
schrecklichen Gesichte hatte und weinte. Denn diese Gesichte verfolgen ihn, jagen ihn, lassen
ihm keine Ruhe. Er sieht den stürzenden Tempel, sieht wie in einer großen Ebene die ganze
Zukunft, die jammervolle Not seines Volkes vor sich und hier stehen die Schuldigen vor ihm, die
alles, alles abwenden könnten, wenn sie auf ihn hörten, an ihn glaubten. Darum hat sein Zorn
etwas Zermalmendes: »Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr gleich seid wie die
übertünchten Gräber, auswendig hübsch, inwendig voller Totengebeine und Verwesung! Ihr
verblendeten Führer, die ihr Mücken siebt und Kamele verschluckt! Ihr Kinder derer, die die
Propheten getötet haben. Wohlan, erfüllet auch ihr das Maß eurer Väter!« - Nebenbei bemerkt,
welche Bilderkraft in jeder Wendung, jedem Worte! Aber zum Schluß steigert sich sein Wehe zu
einer Sprachvollendung, die ihresgleichen sucht:

»Jerusalem, Jerusalem! Die du tötest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind! Wie
oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter
ihre Flügel und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden! Denn
ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis daß ihr sprecht: ’Gelobt sei, der da
kommt im Namen des Herrn!'«

Das ist doch anders, als Menschen sonst sprechen. Das ist Kunst. Aber da liegt nun das
eigentliche Rätsel, wie das möglich ist, so zu sprechen, wenn ein Sturm durch die Seele rast!
Beim Durchschnittsmenschen fällt doch dann eine Schranke, und auch der Große ist dann nicht
mehr imstande, sich zu beherrschen und seine Worte so abzuwägen, daß sie in wunderbarer
Formschönheit leuchten! Ja, oft zerreißt die Bewegung und Erregung alle Bande der Zucht oder
steigert die Ausdrucksweise ins Hohle. Das Ganze wird dann ein Bekenntnis, daß andere die
Sieger sind, daß man das Spiel verloren hat. Furchtbare Erschütterung auch bei Jesus! Aber
wenn man an sonst nichts seine Andersartigkeit erkennt, dann an dieser Klage um Jerusalem!
Denn seine Seele selber bleibt dabei doch völlig unverändert und unverzerrt, trotzdem das Meer
seiner Empfindungen alle Dämme durchbrochen hat. Mitten in der Sturmflut des Augenblicks -
steht makellose Kunst - und ist dabei reine, echte Natürlichkeit. Nach schwerem Leid, nach dem
Abebben wilder Qual oder inmitten schweren Ringens in die Stille gehen und da in höherer
Sprache sagen, was man leidet, das haben die besten Geister unter den Dichtern immer
versucht auch vermocht.

Aber im Moment des stürmischen Erlebens selber, mitten im Menschengewühl, ohne Zeit zur
Besinnung, das Bild der eigenen Seele keusch, formvollendet, packend nach außen zu senden -
ohne Kunstabsicht und doch reinste Kunst bietend, wo zeigt Geschichte und Literatur der ganzen
Welt etwas Ähnliches!

Vielleicht hat der Maler bei der Beurteilung der Jerusalemklage Jesu den Vorzug vor dem Dichter
und dem Beherrscher der Tonwelt und erkennt schneller den Künstler in Jesus. Denn jeder Satz
ist ja ein Bild, das der Maler sofort erschaut, das des Pinsels harrt.

»Jerusalem , Jerusalem!« Da steht schon die Stadt vor seinem geistigen Auge. Wieder folgt ein
Bild: »Du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind.« Das wird sofort von dem
zarten Gleichnis abgelöst: »Wie oft wollte ich deine Kinder versammeln wie eine Henne
versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel.«
Gleich darauf wieder das Bild des Grauens, der Tempel in Trümmern! »Siehe, euer Haus soll
euch wüste gelassen werden.« Und dem schrecklichen Gemälde folgt das Bild eines jubelnden
Volkes, das seinen König nach langer Trennung singend einholt mit dem Huldigungsliede:
»Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.«
Doch auch der Dichter muß dem Schwunge dieser Worte es abfühlen, daß hier ein Geist spricht,
den man nicht »auch« zu denen rechnen »kann«, die etwas von Kunst verstehen. Der wahre
Dichter erkennt hier den Größeren, der unter schwersten Bedingungen künstlerische
Höchstleistungen ungewollt darbietet, wo ein sonst noch so Begabter seelisch dazu einfach nicht
imstande wäre, auch wenn er noch so bewußt wollte. Dem Musiker aber werden die Worte Jesu
zu Tondichtungen, ja, sie fordern durch ihren Rhythmus gebieterisch dazu heraus. Vielleicht
kommt bald ein Bach oder Händel, ein Haydn oder Reger, der sich an das heranwagt, was diese
Worte als ewiges Lied singen.

Jerusalem, Jerusalem!

Das ist das gewaltige Präludium der Passion. Der Passion, die anklingt mit der ganzen Zukunft.
»Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis . . . «

Den Seinen aber hinterläßt er ein Vermächtnis, daß sie ihn, nicht sehend, dennoch sehen sollen,
haben sollen - doch immer mitsamt seiner Passion: - im Abendmahl.

Kommt mit in den Saal des Abendmahls am Vorabend seines Todes. - Wird uns auch da - Kunst
begegnen?

Jesu Abendmahl und das Künstlerische in ihm.

Halte es bitte nicht ohne weiteres für lästerlich, wenn einer davon redet, daß im Abendmahl Kunst
- auch Kunst - zum Ausdruck kommt. Man darf es ja beinahe gar nicht sagen, daß an jenem
Gründonnerstagabend auch die Kunst das Wort hatte. Dann war ja alles Mache, dann war's ja
eine gestellte Szene, dieser Protest meldet sich sofort. Zu Kunst war doch in dem Augenblick
keine Zeit, und erst recht keine Stimmung da, und wenn es eben doch der Fall war, dann stürzt
dies einzigartige Mahl aus ewiger Höhe in elend menschliche Tiefen.

Dann zunächst eine Gegenfrage: War das Abendmahl schön?

Versetze dich einmal in jenen Saal, den Jesus heimlich für seine Jünger zum letzten
Zusammensein fürsorglich offenbar bei einem reichen Freunde besorgt hatte. Im Lärm der
Großstadt, wo sie ihn zum Könige ausschreien wollen und recht irdische Hosiannalaute dafür
ertönen lassen, im Gehetze und Getriebe der aufgeregten Pilgermassen sucht er mitten im
Gewühl ein Eiland der Stille, des Friedens, wo er ungestört zum letzten Mal den Kreis der Seinen
um sich haben kann. Er hat alles so wohl vorbereitet, daß ein paar Stichworte genügen und die
Jünger finden alles so, wie er ihnen gesagt hat:
»Wenn ihr in die Stadt kommt, wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Wasserkrug.
Folget ihm nach in das Haus, in das er hineingeht. Und saget zu dem Hausherrn: ‚Der Meister
läßt dir sagen: Wo ist die Herberge, darinnen ich das Osterlamm essen möge mit meinen
Jüngern?' Und er wird euch einen großen Saal zeigen, der mit Polstern versehen ist. Daselbst
bereitet es.«

Und Petrus und Johannes gingen hin und fanden, wie er ihnen gesagt hatte. Schon das hat
etwas, wenn nicht Schönes, so doch atemberaubend Fesselndes an sich. Man sieht die beiden
erlesenen Jünger stumm dem stummen Wasserträger folgen, - die Tür tut sich auf, und auf ihre
Frage: Wo ist die Herberge? - da liegt vor den erstaunten Blicken der Jünger der Saal, der große
Saal.

Aber was dann am Abend folgt, hat doch unbedingt das Gepräge der Schönheit an sich: Er, der
Eine, im großen Saal, um sich geschart die besondere Zahl 12, Menschen mit charaktervollen
Zügen, auf denen der Schein der Lichter in den Öllampen die Architektur heraustreten läßt.
Flackerndes Helldunkel. Gehaltene Stimmung. Der Meister hat das Wort. Er geht über zum
dargereichten Wort. Staunen und Schweigen schweben durch den Raum: Der Meister kniet in
Sklavenhaltung und wäscht seinen Jüngern die Füße.
Wieder wandelt sich die Szene. Das Essen des Osterlammes geht als liturgischer Gottesdienst -
denn so kann man's nennen bis hin zum feststehenden Lobgesang, der es beschließt, - feierlich
vor sich, bis plötzlich der Jünger Augen gebannt auf dem Meister ruhen. Sie kennen ihn,
verstehen sein Wesen und lauschen ergriffen, als er das Brot bricht und bedeutungsvoll sagt:
»Mein Leib, der für euch gegeben wird.« Ja, sie hängen an seinem Munde. Aber ist das nicht
grauenvoll? Nun reicht er auch den Kelch mit dem roten Wein, der im Licht zum leuchtenden
Rubin wird, nun sagt er das furchtbare Wort: »Mein Blut des neuen Bundes, das für euch
vergossen wird zur Vergebung der Sünden.« Ein Schauer durchrieselt sie. Sie haben's nie, nie
vergessen können. Dieses Mahl!

Ich breche ab. Hast du's gesehen? Hast du ein Bild gewonnen von dem, was dort geschah? Ist
es nicht schön, Raum, Feier, Menschen, Gruppen, Wort, Fußwaschung, Abendmahl?

Und wenn es schön ist, meinst du, das kommt so von selbst, ihm von außen zugeflogen?

Wie kommt es denn, daß sich immer und immer wieder die größten Künstler aller Zeiten gerade
an diesem Zusammensein von 13 Leuten versucht haben, fromme und unfromme? Meinst du, sie
wollten gern mit Kunst verschönen, was an sich nicht schön war? Ist es nicht umgekehrt? Der
Künstler sucht, hungrig wie ein Bettler oft, nach wahrer Schönheit in dieser Welt, nach einer
Schönheit, die nicht frisiert und fabriziert ist, die nicht bloß in ein paar klassischen Linien besteht,
sondern die auch wahr ist, wahres Leben hier mitten auf unserer vom Menschen geschädigten
Erde ist, - und wenn er sie gefunden hat, dann beugt er sich unter sie, dann packt ihn die Liebe
zu dem, was sein Künstlerauge geschaut, was seine Seele nicht los wird, er schaut in der
Alltäglichkeit eine Form, die jenseits der Alltäglichkeit ihre Werte hat und doch mittendrin zu
stecken scheint, er hört aus dem Geschwätz der Menschen, aus ihrer Eintagsphilosophie,
Eintagspolitik, Eintagsgeschäftelei endlich einmal ein ewiges Wort herausklingen, und das - das
will er, muß er festhalten. Angst zerrt an ihm mitten in der Hingabe an das Schöne, das er fand,
daß es ihm unter den Fingern zerrinnen, daß es sich beim inneren Schauen in Übel auflösen
könnte, und es kommt das Fieber über ihn, das Hinstürmen zum Schaffen und Vollenden und
zugleich die Bangigkeit »Wird mein Werk auch das werden, was ich innerlich geschaut habe?«
Es ist auch einem Michelangelo so ergangen, daß er nach der Vollendung seiner Kunstwerke
immer wieder fühlte: »Was da vor dir steht, ist nicht das, was in dir steht.« Und sieh, nun kommen
die Größten und bannen immer wieder, gepackt von dem »Gegenstand« das Abendmahl auf die
Leinwand.

Weil es schön ist!

Weil der Geist, der es durchwaltete bei seiner Darstellung, nach außen Schönheit offenbarte.

Das brauchte Jesus nicht zu beabsichtigen. Das hatte er nicht nötig. Kunst ist nicht Mache,
sondern wo sie echt ist, ist sie ein Bestandteil des Wesens, und da mag nun dieses Wesen
sagen und fragen und bauen und schaffen, was es will es wird unter seinen Geisteshänden zur
dargestellten Kunst.

Um es anschaulicher zu machen, wenn das noch nötig ist: Ich habe einen Menschen gekannt - er
ruht nun schon -, der im Greisenhaar edel, jung, feurig, demütig und groß war. Natürlich kam das
Gespräch auch auf Nebensächliches und Alltägliches. Aber er mochte sagen, was er wollte,
alles war edel, jung und ohne Resignation! Dabei war der Mann durch Tiefen gegangen, in denen
man sonst entweder unrettbar verloren ist oder sich fürs ganz übrige Leben eine Seelenkrankheit
holt. Wollte er edel sein? Wollte er jeden Satz »künstlich« mit Jugendlichkeit würzen, um
krampfhaft jung zu sein, während das Alter ihm etwa auf die Schulter klopfte und sagte: hab dich
nur nicht so, eine Ruine bist du doch? Nein, er wollte es eben nicht. Er mußte so sein und konnte
nicht anders sein.

Jesus kann nicht anders, als das, was er tut und sagt und baut, in Schönheit darzubieten, ohne
dabei mit bestimmter Seeleneinstellung auf »Schönheitsprinzipien« hinzuschauen und sie »in
sein Werk einzuordnen«. Das innerlich Schöne aber, dargestellt, ist Kunst.

Vergiß einmal bei der Betrachtung Jesu das Spezialistentum der Menschen. Wir haben aus der
Kunst eine Spezialität gemacht, und so ist denn auch der menschliche Künstler eben - nur
Künstler, weiter nichts. Weiter weiß er nichts und kann er nichts, und soll er wohl auch nicht
können, weil er sonst zerbräche und nie fertig würde. Immerhin, der Künstler, der die nicht
künstlerische Welt und ihre Engigkeit und Stumpfheit belächelt, weiß meistens nicht, wie er mit
diesem Lächeln sich selbst verspottet. Denn kraft seiner Einseitigkeit ist er auf andern weltweiten
Gebieten so eng und stumpf wie der Unkünstlerische auf dem Gebiet der Kunst. (Es gibt aber
große Künstler, die wissen das, und ihren Kunstwerken merkt man das an, da die dadurch nicht
kleiner werden). Jesus ist nicht einseitig, auch nicht vielerleiseitig er ist eine Persönlichkeit, die es
mit der ganzen Geisteswelt zu tun hat. Seine Kunst ist kein Spezialfach, sie ist auch nicht eine
Vokabel seines Wortschatzes; das ganz und gar nicht! Sie ist eine Kraft, die bei allem, was er tut,
mitwirkt und sich offenbaren muß.

Nun sieh dir daraufhin all die Abendmahlsbilder an! Und reiche, im Geiste zurückwandernd, dem
die Hand, der da in dem »großen Saal« in die markanten Fischer- und »Kämpfer« Gesichter
seiner 12 schaut, auch in das eine mit den stechenden Augen, und ihnen Brot und Wein reicht
und sagt: »Mein Leib, mein Blut.«

Kunst und Passion.

Daß der Passionsweg Jesu wieder eine Wanderung durch lauter Kunst ist, darf gleich
vorweggenommen werden. Mag jeder beim Hören dieses Satzes auch zunächst seine
Vorbehalte machen und sich nur dazu verstehen, den ungeheuren Eindruck der Passion auf die
Künstler festzustellen. Daß aber der Mann der Passion seinen Leidensweg anders gestaltet, als
es sonst Menschen tun, das wird jeder gelten lassen. Der Leidensweg ist anders. Er fällt aus der
Art heraus, wie sie sonst den Menschen naheliegt oder schon bei der Geburt mitgegeben ist.

So können wir eins an den Anfang stellen als etwas, was eigentlich Gemeingut all derer ist, die
etwas von der Passion wissen und wissen wollen: Das ist die unerschöpfliche Flut voll Kunst, die
sich aus der Passion Christi wie aus einer strömenden Quelle übernatürlichen Ausmaßes in die
Menschheit ergossen hat und noch weiter ergießt - eine Flut, die sogar im Steigen begriffen ist -
eine Kunstleistung, wie sie - zahlenmäßig so riesenhaft, in der Kraft der Darstellung so einzigartig
kein anderes Ereignis auf diesem Erdboden hervorgerufen hat, kein Krieg, kein Leiden sonst,
kein Ringen, auch kein Ereignis sonst aus dem Leben Jesu, weder seine Geburt noch seine
Taten noch Ostern: das Leiden Jesu scheint wie ein magisches Etwas inmitten der Menschheit
zu stehen und die Seelen in Scharen anzuziehen, eine Anziehung, die bei dem Künstler in den
Zwang umschlägt, was er da schaut, in Wort und Bild und Stein gestalten zu müssen
(sonderbarerweise im Wort am wenigsten, im Bild am meisten).

Danach kommt also im Leiden Jesu, in der Art, wie er leidet, etwas ganz Besonderes dem
Künstler entgegen, was seiner Natur entspricht. Es kann gar nichts anders sein, als daß auch der
Künstler oft sein eigenes Schaffen als eine Sendung empfindet, die mit Passion verbunden ist.
Und da begegnet ihm in der Welt, in der er seine Augen aufschlägt und Umschau hält nach
denen, die mit ihm gehen, - nach denen, die er beschenken will - lange Zeit umsonst in der Welt
begegnet ihm der Passionszug Jesu durch die Kürze einer Tageslänge hindurch. Und er wird von
ihm so bezwungen, daß er zum Pinsel greifen und, Essen und Trinken kaum achtend, in breiten
und feinen Strichen das Einzigartige malen muß; etwas Übermenschliches im Menschlichen,
Überzeitliches im Zeitlichen und dabei ist es doch gerade so echt menschlich, so festgenagelt in
eine bestimmte Zeit, an einen bestimmten Tag, einen bestimmten Ort!

Den Strom dieser Kunst kennst du, und deine Seele hat sich oft daran gelabt. Dein Auge hat
sehen gelernt, was es sonst nicht sah, weil der Künstler mehr und anders sieht als der
gewöhnliche Sterbliche. Diese ewig alten, immer neuen Bilder treten vor dein Auge: der im
schwarzen Garten am Boden Liegende, dessen Silhouette sich scharf vom halbhellen
Nachthimmel abhebt - der Kuß des Judas im unheimlichen Licht der Fackeln - Petrus am
Kohlenfeuer sich wärmend, das Verhör, die Geißelung, Ecce Homo, und all die andern bis hin zu
dem geneigten Haupt am Kreuz. Ja, Kunstwerke sind zu Tausenden um die Passionsstraße
erblüht wie ein unendlicher Garten, und der Wanderer auf dieser Straße, Jesus, hat eine andere
Art an sich, den Weg durchs Dunkel in die Nacht hineinzugehen, wo scheinbar der letzte Stern
erlischt und als Lohn nur das Schweigen des Todes übrigbleibt.

Und du wirst nun weiter sehen, daß auf diesem Leidenswege wahre Kunst vor Auge und Ohr des
Menschen tritt.

Kunst, die einen Ewigkeitsmoment festhält und im Strom der Zeiten weitergibt, daß er daraus
immer wieder emportaucht. Diese Kunst begegnet uns in der Passion. Und sonderbar:

Gerade das, was kein Maler malen und kein Bildhauer in Stein hauen kann, das ist in Jesu
Passion das, was man zuerst als Kunst erkennen und zu sich sprechen lassen kann, nämlich
seine Worte!

Darum bitte ich dich, lies die folgenden Passionsworte laut! Am besten in stiller Einsamkeit,
ebenso wie jenes »Lied« vom Ölberge, das im Grunde alles andere als ein Lied ist. Ich setze die
Worte einzeln hierher, obwohl du sie kennst. Aber hier sieh sie einmal zusammen, und es wird dir
sonderbar damit gehen: sie haben alle denselben Rhythmus, denselben Klang, denselben Ernst,
dieselbe Tiefe, und, alles zusammengenommen, tragen sie noch ein ganz besonderes
Geheimnis an sich.

Die Worte der Angst und des Ringens im Garten Gethsemane:

»Meine Seele ist betrübt bis in den Tod, bleibet hier und wachet mit mir. Wachet und betet, daß
ihr nicht in Anfechtung fallet, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Vater, ist es
möglich, so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht wie ich will, sondern wie du willst. Vater, ist es
nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, und ich ihn muß trinken, so geschehe dein Wille.
Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhn, siehe die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn in der
Sünder Hände überantwortet wird. Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät!«

Da ist Jesus im schwersten Kampf seines Lebens begriffen. Hier ringt er mit dem andern Willen,
der das letzte von ihm fordert. Er glaubt andere Möglichkeiten zu sehen. Aus dem Dunkel der
Nacht tauchen Pfade auf, die gangbarer sind, die zum Ziel führen, die - wenn sie vielleicht auch
zum Tode führen, zwischen diese Nacht und die letzte Nacht auf Erden eine lange Spanne von
Zeit, viele Jahre legen, in denen er ein anderes Erbe hinterlassen kann. So vermuten wir
vielleicht. Aber Jesus ist zu groß, als daß man erschöpfen könnte, welche Wege sein Auge sah.
Genug, er sah sie und er lehnte sie schließlich ab. Es blieb für ihn bei den Worten seines
Gebetes, ehe er mit den Seinen in diese finsterste Nacht hinauszog:

»Vater, die Stunde ist hier, daß du deinen Sohn verklärest, auf daß dich dein Sohn auch verkläre.
Gleich wie du ihm Vollmacht gabst über alles Fleisch, auf daß er ihnen alles gebe, was du ihm
gegeben hast, das ewige Leben!«

Aber wenn auch dies Gebet nachher im Garten Gethsemane seine Kraft erwies und die ewige
Frucht trug, es war doch im Ringen und Kämpfen fast verklungen wie ein Glockenton, und die
ganze Schwere der Erdennot, des Menschseins sank auf den herab, der der Drangsal des
Menschseins ein Ende machen sollte. Da denke einmal an Stunden der eigenen Seelenkämpfe
und vergegenwärtige dir deinen Zustand, wie da das ganze Innenleben durcheinandergeriet und
auch die Gesetze der Sprache dahinfielen! Ja, auf der Bühne kann der Held der Verzweiflung
wohl in schön durchdachter Rede in kunstvollen Steigerungen bis hin zur Verzweiflungsekstase
über die Rampe in den Zuhörerraum strömen lassen. Das geht gut und künstlerisch vor sich, da
der Dichter am Schreibtisch Zeit genug hatte, jedes Wort, ohne daß er aus den Fugen geriet, an
seinen Platz zu stellen und das Gewicht der Sätze und Gedanken planvoll gegeneinander
abzuwägen, damit die Steigerung so recht »natürlich« herauskam, aber wie sieht es im
wirklichen Leben aus! Da zerreißen auch Heldenherzen die Dämme, und die Flut ergießt sich
wild über allen grünen Frieden. Mit der Schönheit der Worte ist es aus. Bei Jesus nicht. Seine
Worte leuchten in unvergänglicher Schönheit mitten im Gethsemane Dunkel. Sie behalten
besondere Form und ewigen Inhalt. Ja, in unnachahmlicher Gestalt tritt uns in seinem Wort das
Verhängnis der Doppelnatur des Menschen entgegen: »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist
schwach", um gleich in das höhere Gesetz der Freiheit davon gestellt zu werden: »Wachet und
betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet.«

Dies Wort ist ein bittender Angstruf. Man spürt ihm die Erregung Jesu ab: es geht um Leben und
Tod! Dennoch diese Gehaltenheit! Da liegt das Geheimnis aller Passionsworte, sie bewegen sich
zwischen zwei Grenzen dem Ziele zu, zwischen tiefem Frieden, vollkommener Ruhe, ja Freude
und Gewißheit und einem Ergriffen und Erregtsein, das bis in letzte Tiefen geht. Aber nie ist ein
Wort lediglich Friede, es bleibt doch verbunden mit der tiefen Erschütterung seiner Seele, von der
ein Erdbeben ein schwaches Bild ist. Denn es ist ein Weltbeben. Und andererseits ist kein Wort
ungehemmte Erregung, es ist gebunden gerade an den Frieden in ihm und ist erhellt von einer
wunderbaren Klarheit, daß es so und nicht anders sein muß und daß der, der dies Muß verlangt,
für alles einstehen wird. Gerade in diesen Stunden des »Weltbebens«, das ihn fast umstürzt,
behalten darum seine Worte die Züge der Schönheit an sich, so daß er mitten im Kampfgewühl
mit göttlicher Ruhe ewige Gesetze aussprechen kann, die ein Licht auf sein Werk und Wesen
werfen:
»Stecke dein Schwert an seinen Ort, denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert
umkommen.«

Dasselbe Ergriffensein und dieselbe Ruhe in wunderbarer Vereinigung klingt aus dem Wort an
die Häscher:

»Ihr seid ausgegangen als zu einem Mörder, mit Schwertern und Stangen, mich zu fangen. Bin
ich doch täglich gesessen bei euch und habe gelehrt im Tempel, und ihr habt mich nicht
gegriffen. Aber das ist alles geschehen, daß erfüllet würden die Schriften der Propheten.«

Und da verrät sich nun das, was den Worten Jesu den Glanz der Schönheit gibt: er erhebt jeden
Augenblicksvorgang zum Ewigkeitsvorgang, d. h. er erkennt ihn als solchen: Das Schlafen der
Jünger im entscheidenden Moment weist Jesus als einen Vorgang mit ewigen Beziehungen auf,
der wie ein Scheinwerfer die ganze Menschheit ableuchtet und ihren Zwiespalt aufzeigt.

In verborgene göttliche Gesetze weist auch das schnell scheinbar nur so hingeworfene Wort:
»Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen« ein Wort, so plastisch und
unvergeßlich, daß es dem Gepräge auf einer Goldmünze ähnlich ist. Und auch in dem letzten
Wort, wo Jesus seine Häscher richtet, daß sie den hellen Tag meiden und den Wehrlosen mit
Heeresaufgebot wie einen Raubmörder bei Nacht »stellen«, weil sie nur dann Macht haben (nach
Lukas 22).

Aber gleich steigt der ganze Vorgang wieder auf einsame Höhen durch den Zusatz: Alles ist so -
ewige Absicht gewesen und wird jetzt Erfüllung. Und es sind wieder Worte, die den Nagel auf den
Kopf treffen und dabei doch keine Spur von Erbitterung oder Gereiztheit aufweisen, von
Verwirrung, wie der nächtliche Überfall sie bei den Jüngern mit sich brachte, gar nicht zu reden.

Obgleich seine Worte ganz die Schwingungen des Augenblicks an sich tragen, wirken sie doch -
wie ein von Meisterhand gefügter Bau. Zu geradezu gewaltiger Höhe erhebt sich diese Kunst in
seinem Bekenntnis vor dem Hohen Rat, wo sich der Geächtete zum Weltenrichter aufreckt und
das Wort spricht, das ihn selber dem Henker ausliefert. Die letzte Hauptfrage muß der
Hohepriester endlich stellen, die Frage, die er gern umgangen hätte. Die falschen Zeugen hatten
nicht vorsichtig genug »gearbeitet», oder ihre Einflüsterer hatten nicht vermutet, daß die Wahrheit
alle Lügenschatten verscheuchen würde. Da muß der Hohepriester zur Kernfrage schreiten, er
muß Jesus fragen, ob er »der ist, der da kommen soll«, der Messias. Wenn Jesus die Frage
bejahte und auf seinen Eid nahm, dann ja dann konnte das Volk ihm doch ganz zufallen und ihn
mit Gewalt befreien. So fragt er denn: »Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns
sagest, ob du seist Christus, der Sohn Gottes!« Darauf zuckt der Blitz der Wahrheit hernieder und
es rollt wie Donner:

»Du sagest es! Doch sage ich euch: Von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des
Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels!«

Eine gewaltige Antwort an den Hohenpriester und die Welt, die sich durch den Priester vertreten
läßt. Die göttliche Majestät dieser Worte klingt auch dem vernehmbar, der für sich mit ihnen
nichts anzufangen weiß. Es heißt ja, der Inhalt baut sich seine Form, seine Außenhaut, seinen
Körper. Hier tut er es ganz sicher und noch dazu in einzigartiger Weise. So redet nur einer, der
Königreiche zu verschenken hat. So kann nur einer von der Zukunft sprechen, der ihrer ganz
gewiß ist, ja, der selber über die Zukunft verfügt. Gewiß, die Worte sind, wie man so gern sagt,
»entlehnt«. Von diesem »Entlehnen« werden wir später noch mehr hören und bald aufhören, es
mit Geistesarmut zu verwechseln, sowenig man den Maler schilt, der seine Motive aus der Natur
oder der Antike oder Renaissance entlehnt, wenn er nur nicht abschreibt und stiehlt. Uns kommt
es darauf an, zu schauen, wie diese Worte wie ein Banner vor den entsetzten Richtern entrollt
werden, und wie sie da in der verlogenen Gerichtsverhandlung wie ein luftreinigendes Gewitter
wirken. Es ist nicht schwer, ihre Klarheit, Kraft und Schönheit zu ahnen und in ihnen ein
Riesengemälde der ganzen Zukunft, des Schicksals der Welt, des ganzen Kosmos, des Sieges
Jesu zu erkennen, so wie das Kommende in seiner Seele gegenwärtig ist. Und das ist ja auch
gerade eine objektive Kunstleistung, daß das Innere bildhaft greifbar nach außen gestellt wird,
unmißverständlich, und doch ohne trockene Erklärungen und begriffliche Zergliederungen. Ja, so
unmißverständlich, daß das Wort heute ebenso wie damals, als es zum ersten Mal erscholl, zu
bildlichen Vorstellungen zwingt, die über die Welt der Bilder in jene andere Welt hinüberweisen,
in der »die Kraft«, die alles bewegt, am Webstuhl der Geschichte wirkt und zugleich
Persönlichkeit ist: »zur Rechten der Kraft.«

Das Allerheiligste: Der Karfreitag: Die Umwandlung aller Schönheitsbegriffe.

Wir treten nun ein in das Allerheiligste, beginnen im Morgengrauen mit Jesus den Tag, der für ihn
der bedeutsamste war, für den er alle geistige und leibliche Kraft hat erhalten und ansammeln
müssen, um sie in den entscheidenden Stunden bis zum letzten Augenblick hin einsetzen zu
können, ohne zu versagen. Eine durch Kraftlosigkeit oder innere Erschlaffung das Bild eines
Besiegten zu geben. Bis zum letzten Atemzuge ist er beides: der wirklich leidende
Menscliensohn, der sein Leiden nicht hinter Trotz und Hohn verbirgt. Und er ist der, der doch
größer ist als die schrecklichste Qual des Leibes und der Seele und mitten im Leid von
unvergleichlicher Hoheit umstrahlt ist. Eigentlich könnte es doch gar nicht anders sein, als daß in
dem Zustande, da einem langsam Glied für Glied zerbrochen wird, da ihm Nerv für Nerv,
Empfindung um Empfindung zerrissen wird, daß da das Menschsein im Vollsinne aufhört, und
daß es zu »menscheln« beginnt. Es ist nicht unfolgerichtig, das zu erwarten und zu verstehen,
wenn der Leidende wenigstens gelegentlich aus der Schönheit der Tage, da ihn noch kein
körperlicher Schmerz zerschnitt, mit Anklagen oder Selbstanklagen herausfällt und im
durchlöcherten Seelengewand des Alltagsmenschen erscheint. Oder daß der Schmerz der
reglosen Glieder, der brennenden Wunden unter der sengenden Glut der Sonne (von der man
sich in unseren Breiten einfach keine zutreffende Vorstellung machen kann) schließlich vom
ganzen Ich Besitz ergreift und nur noch das W'immern unter der Qual übrigbleibt, wie es dem
Menschen doch nun einmal gewöhnlich ergeht, wenn ein großer Schmerz einsetzt und fast mit
einem Schlage unser Denken und Wollen ausschaltet. Von den so oft belächelten
Zahnschmerzen an bis zu jenen fürchterliclien Schmerzen, die oft erst das Messer des Arztes
beseitigen kann, ist eine Erscheinung, die sich immer wiederholt . Der Körper hat das Wort, die
Seele kann nicht mehr. Und bei Jesus: ja, der Körper hat auch das Wort, aber die Seele behält
die Führung, von der Geißelung an bis zu dem letzten großen Schrei (Markus 15, 39), denn
gerade dieser letzte Aufschrei weckt nicht Mitleid und ein Wort des Bedauerns: Ach, der Arme!
sondern macht, daß ein Römer (vielleicht ein Germane, denn die deutsche Legion lag
wahrscheinlich in Palästina (Jerusalem) durchschauert wird von einem Erleben des Höchsten
und Göttlichen und das Schauen dieser Hoheit mit den Worten ausdrückt: »Wahrlich, dieser
Mensch ist ein Gottessohn gewesen!«

Nein, nirgends zieht Jesus den Königsmantel aus, der aus Schönheit gewoben ist.

Und diese Schönheit leuchtet auf in seinen wenigen Worten und in seiner Haltung, die er
während der Passion von dem Abendmahl an bis zu seinem letzten Atemzug unbeirrbar
beibehält. Ja, es gab kein »Beirren« mehr. Es war das Wesen Jesu, was da hervortrat und sich
gar nicht anders mehr äußern konnte, weil es seine Natur war Natur, die gegeben war und doch
in höherem Maße errungen werden mußte, als etwa der Begabte die Begabung zu seiner
Lebensmacht und Wesensart macht. Der Sänger, der sein Lied singt, ein Schubert, der das Lied
schafft, beiden liegen die Wege der Zukunft offen, denn eine Gabe weist auch den Weg, und
wenn sie auch Kraft verlangt, um entwickelt zu werden, so handelt es sich doch immer nur um ein
Teilgebiet des menschlichen Lebens, das dabei im Schaffenden selber in Frage kommt.
Menschen, die höher wollen und mehrere Teilgebiete meistern und dann der Welt weitergeben
wollen, kommen mit sich und der Welt in die schwersten Konflikte, so daß sie wohl sagen: »selig,
wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt«, aber selber von dieser Seligkeit nichts wissen.
Naturen wie Michelangelo, Leonardo, Wagner weisen diesen Riß auf. Was sie geben, ist
schöner, tausendmal schöner als sie selber. Ihre Schöpfungen sind einzelne seelische
Höhepunkte, ihr Alltagsseelenleben aber so hoch es über dem Durchschnitt liegen mag ist
eben doch bitterer Alltag, ist keine fortlaufende Höhenstraße, die mitten in der Menschheit hoch
über ihr verläuft. Jesus aber behält diese Höhe gerade da bei, wo sie am allerwenigsten erwartet
werden kann, wo sie den meisten Gefahren von innen und außen ausgesetzt ist. Daher der
Glanz der Schönheit über der Passion. Und diese Höhe und Schönheit wollte errungen sein.

Auf eine scheinbar ganz nebensächliche Vorbedingung sei in diesem Zusammenhang


hingewiesen, und es sei gleich hinzugefügt, daß Jesus diese Vorbedingung erfüllt hat. Und
gerade dieser Vorbedingung zu genügen, erforderte ein Ringen um solche Dinge, um die sich ein
geistig Bedeutender gewöhnlich nicht bekümmert. ja, mancher Geistesarbeiter hält es für unter
seiner Würde, dergleichen zu pflegen; es ist ihm zu wenig geistig: Ich meine die Entwicklung des
Körpers bis zum gehorsamen Werkzeug. Jesus hat den Körper entwickelt. Als es galt, Strapazen
zu überstehen, wie sie sonst nur dem trainierten Soldaten zugemutet werden, da war dieser
Körper fertig. Und geistig frisch bleiben bei fortwährender geistiger Überanstrengung, ist doch in
erster Linie eine Leistung des Körpers. Der moderne Geistesarbeiter kann das einfach nicht.
Jesus konnte den ganzen Tag oft Hunderte von Menschen, die mit Kranken zu ihm drängten,
geistig verarbeiten, d. h. ihr Schicksal ganz stark verstehen und empfinden, das lindernde oder
erlösende Wort sprechen und die heilende Hand wirken lassen. Wie dies Gedränge war, das ihn
heischend umgab, davon läßt uns Markus 1, 45 ein klein wenig ahnen, ebenso gibt uns aber
Markus 1, 35 einen Hinweis auf die Frische und Kraft Jesu.

Markus 1, 45: »... Er (der Geheilte), da er hinauskam, hob er an und sagte viel davon und machte
die Geschichte ruchbar, also daß Jesus hinfort nicht mehr konnte öffentlich in die Stadt gehen;
sondern er war draußen in den wüsten Örtern, und sie kamen zu ihm von allen Enden.«

Markus 1, 35: »Und des Morgens vor Tage stand er auf und ging hinaus. Und Jesus ging in eine
wüste Stätte und betete daselbst. Und Petrus mit denen, die bei ihm waren, eilte ihm nach. (37)
Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: jedermann sucht dich!«

Es muß betont werden, daß Jesus diesen Körper geschult und erzogen hat. Das ist weder Sport
noch sogenannte Körperkultur. Diese beiden Worte sind ja wieder nur die üblichen Teilgebiete,
die der Mensch sich schafft, damit er seine ganze Seele nicht einzusetzen braucht. Der Sportler
widerspricht: »Mens sana in corpore sano«, antwortet er, »ein gesunder Geist in einem gesunden
Körper«, so sagten doch schon die Alten, die da wußten, daß die Stählung des Körpers auch
eine gesunde Seele schafft. Das lateinische Wort lautet aber anders: »Mens sana sit in corpore
sano«, und das bedeutet: Es genügt nicht, daß der Körper gesund ist, die Seele, die darin wohnt,
die soll vor allem gesund sein. Richtige Körperstählung wirkt zweifellos vielfach auf die Seele
zurück, wo aber die Seele der Führer ist und den Körper als Instrument, als Diener für geistige
Höchstleistungen beansprucht, da geht die Gestaltung der körperlichen Fähigkeiten doch andere
Wege, als sie uns augenblicklich als die allein richtigen in Wort und Schrift gezeigt werden.

Körperliche Ertüchtigung, wie sie heute gepflegt wird, ist ein schwacher Anfang der Stählung, die
erzielt werden soll. Sie kann leicht am eigentlichen Ziel vorbeiführen, und zum Teil hat sie es
schon getan. Immerhin findet der Hinweis auf Jesu Körperleistungen heute ein ganz anderes
Verständnis als vor einem Menschenalter. Darum sei um so deutlicher auf die rein körperliche
Leistung hingewiesen, ohne die sein Werk eine Trümmerstätte geworden wäre, bestenfalls ein
unvollendetes Kunstwerk, da die Kraft gefehlt hätte, die im entscheidenden Augenblick eingesetzt
werden mußte. Man soll es getrost aussprechen: Ohne die Zucht und Bildung seines Körpers gab
es keine Erlösung, gab es kein Vorwegnehmen des Sieges mit den Worten: »Das ist mein Leib,
der für euch gegeben wird.« Ja, dann gab es eben kein Blut, das für die vielen vergossen werden
konnte zur Vergebung der Sünden.

Ohne den stahlharten Körper gab es keinen Menschensohn, der uns das Bild der Geißelung und
der Kreuzigung so hinterlassen und dauernd vor die Seele stellen konnte, wie beides heute vor
uns steht. Gewiß war es kein »Üben« des Körpers in dem Sinne, wie es Sportler und Fakire
betreiben, um dem Ruhm oder dem Sich selbst Genießen zu leben. Aber den Körper unter den
Geist gebeugt und zum Diener des Geistes gemacht, hat Jesus schon zu einer Zeit, als ihm die
Höchstleistung, die einmal von ihm gefordert werden sollte, noch gar nicht vorschweben konnte.
Vielleicht hat ihn Gott auch darum von Kind auf in alle Erdenhärte hineingezwungen, damit er
nicht versagen konnte. Die Geburt im Stall, die Flucht im zarten Alter nach Ägypten, die
Heimreise nach Jahr und Tag und noch dazu auf Umwegen nach Galiläa, der schwere Beruf des
Tekton, des Häuserbauers, der ihn Wind und Wetter aussetzte und Kräfte und Ausdauer von ihm
verlangte das alles zusammengenommen ist schon eine Vorbereitung auf seine schwerste
Hausarbeit, die er auf Erden vornehmen mußte, und gerade da wurde seine Arbeitsleistung
riesengroß, als andere die letzten Nägel einschlugen.

Zucht des Körpers, Stählung des Körpers, Erziehung des Körpers zur völligen Dienstleistung,
das waren Werke, die er im schlichten Gehorsam gegenüber einem Drängen oder Walten von
oben her vollbrachte, zunächst ohne den eigentlichen Zweck zu wissen, dann aber vom Anfang
seiner Tätigkeit als Erlöser an bewußt und zielsicher. Das Fasten in der Wüste war für den Herrn
schon eine Umformung dieses Körpers, daß er imstande war, noch besser als Instrument des
Geistes zu dienen, höchste Kraftleistungen zu vollbringen und dabei nichts Sinnlich-Körperliches
als Erfolg zu erkämpfen. Von da an ist sein Körper in ganz anderem Sinne als vorher in seiner
Hand, und Jesus sieht ihn schon von Anfang an da, wo er später hängt, als er bei der ersten
Aussendung zu seinen Jüngern vom Kreuz spricht, das man auf sich nehmen soll, - und daß ein
Kreuz zum Verbluten da ist, wußten die Jünger, und nicht nur sie!

Als dann nach 3 Jahren der Freitag kam, den die Welt nicht vergessen kann, war der Körper zu
der einen Tat fertig, ohne die es keine erlöste Weltgemeinde geben konnte, ohne die die Kluft
zwischen hier und dort sich nicht schloß, - und was dann!

Ja, Jesus hat anders ringen müssen um das hohe Lied der sterbend siegenden Liebe, als ein
Mensch mit geringeren Aufgaben seinen Gaben Bahn bereitet. Daß man aber nie oder ganz
selten nur von einem Ringen und Sich Mühen bei ihm etwas sieht oder hört, ist ein Grund mehr,
sich dessen bewußt zu werden, wie weit der Weg ist bis zur Beherrschung und
Dienstbarmachung aller Kräfte, auch der Körperkräfte. Du Maler aber, der du das Bild des
Dornengekrönten geistig schaust, der du ihn unter den Geißelhieben im Spottgewand als wahren
König der Menschheit erkennst, ihn unter dem Kreuz auf dem Wege nach Golgatha
zusammenbrechen und wiederaufstehen siehst zu einem ganzen Tagewerk, dem schwersten der
Weltgeschichte:

Du Künstler, der du den Mann in der Mitte auf Golgatha inmitten seiner Not und Qual erschaust
und doch wie der Hauptmann den Eindruck der überirdischen Majestät von ihm gewinnst, der
Schönheit eines Lebens, wie sie nicht alltäglich, wie sie nur einmal da ist und der du dann all
diese Schönheit malst oder in Stein bildest oder sie als Dichter oder Musiker in Wort und Ton
gießt vergiß nicht, was es ihn gekostet hat, diese Höhe zu erringen. Vergiß nicht, daß er damit
alle Schönheitsbgegriffe für alle Zeiten umgewandelt und uns erst gelehrt hat, was wahre
Schönheit ist. Sage dir, daß der, der dir am dunkelsten Tag sogar Schönheit bietet, diese
Schönheit nicht erst als Gnadengeschenk und künstliche Glorie aus der Hand der »Künstler« zu
empfangen braucht. Er hatte sie vorher, und weil er sein Leben zum Kunstwerk gestaltet hat,
darum und nur darum - kann die Kunst von ihm zehren. Aber das sei auch gesagt: Die keine
innere Stellung zu Jesus haben, aber sein Leben als Schacht benutzen, aus dem sie Motive
schürfen, die Künstler werden nie imstande sein, den Herzschlag dieses Jesuslebens
vernehmbar zu machen. Sie werden kein 100 Guldenblatt radieren. Den Freund der Niedrigen
und Elenden werden auch sie gern zum Vorwurf nehmen, aber nicht, weil sie von jenseitiger
Wirklichkeit und Wahrheit überwältigt sind, sondern weil sie einen schönen Stoff gefunden haben,
den sie bewältigen wollen, umdämmert von den Gefühlen, die andere mit dieser Gestalt
verbinden. Aus diesen Gefühlen übernimmt man dann die Möglichkeit, Lichteffekte anzubringen.
Alles wird malerisch und so, wie es der »naive Glaube« bloß der Maler selber nicht schaut.
Und dann kommt der Gegenstoß aus derselben inneren Verfassung heraus, und Jesus soll dann
gemalt werden, wie er »wirklich war« und »die von heiliger Selbstverblendung dumpf gewordene
Kirchenwelt ihn nicht mehr sehen will«. Eigentlich müßten solche Künstler erkennen, daß der, der
ihnen aus sich und seinem Leben das bietet, was sie nicht haben, also größer ist als ihre
Phantasie, auch und gerade in anderer Hinsicht größer ist als sie.

Das heilige Schweigen.

Darf man fragen: welche Bilder liefert dieses Jesusleben in den wenigen Morgenstunden, als sein
Schicksal von Fürsten und vom Volk entschieden wird? ja, man darf darauf sein Augenmerk
richten und soll sogar fragen: wird dies Leben von einem einzigen häßlichen Zuge entstellt, als
die Verachtung der Großen und das Geheul eines Volkes den einen herunterzerrt in die
niedrigsten Staubebenen, die es für menschliche Empfindungen überhaupt gibt? Begleiten wir ihn
zu den beiden Fürsten, vor die er nun treten muß, zu Pilatus und Herodes. Lassen wir den
Evangelisten erzählen: »Da aber Pilatus Galiläa hörte, fragte er, ob er aus Galiläa wäre. Und als
er es vernahm, daß er unter des Herodes Obrigkeit gehörte, übersandte er ihn zu Herodes,
welcher in diesen Tagen auch zu Jerusalem war.

Da aber Herodes Jesus sah, ward er sehr froh; denn er hätte ihn längst gerne gesehen denn er
hatte viel von ihm gehört und hoffte, er würde ein Wunderzeichen von ihm seihen. Und erfragte
ihn macherlei; er antwortete ihm aber nichts. Die Hohenpriester aber und Schriftgelehrten
standen und verklagten ihn hart. Aber Herodes mit seinem Hofgesinde verachtete und
verspottete ihn, legte ihm ein weißes Kleid an und sandte ihn wieder zu Pilatus. Auf den Tag
wurden Pilatus und Herodes Freunde miteinander, denn zuvor waren sie einander feind. «

Da steht der Mann, den er einst gefürchtet, wehrlos vor Herodes. Um seinen Thron hatte der
Fürst gezittert, als in Galiläa nur ein Name erklang und alles Volk nur diesem einen zujubelte.
Dazu die Qual des bösen Gewissens, wenn dieser König auf seine blutbefleckten Hände
schaute, und das Haupt Johannes' des Täufers auf der Schüssel gräßlich sichtbar wurde in
seiner Erinnerung, daß die Furlen ihn jagten, daßer (Markus 6,14) dein Wahn verfiel, Johannes
sei auf geheimnisvolle Weise wieder lebendig unter die Menschen getreten und wandle nun als
ein »Jesus« in ihrer Mitte! Und da hatte es für diesen Gejagten nur noch das eine gegeben, auch
das Gespenst Johannes des Täufers, seinen atmenden Schatten, zu beseitigen. Ein Mord mehr
oder weniger, was macht das aus bei Händen, die schon so in Blut gebadet sind! Mörder werden
gedungen. Und nun waren es gerade Pharisäer, die Jesus warnten und dafür sorgten, daß er den
Dolchen des Herodes entging. (Luk. 13, 31 f) Gesehen hatte ihn Herodes nie. Er hätte ihn längst
gern einmal gesehen und sieht ihn am Karfreitag endlich so, wie er ihn zu sehen sich schon
damals gewünscht hatte: als einen Geächteten, der unschädlich gemacht ist, als einen, der wohl
über magische Kräfte verfügt, die aber doch nicht stark genug sind, um Fesseln zu sprengen und
ein Gerichtsverfahren aufzuhalten der Kräfte hat, die im Grunde nur vermögen, eine
Gesellschaft mit Wunderexperimenten zu unterhalten. All seine einstige Angst wandelt sich in
Verachtung und Hohn. Das Hofgesinde, immer erfinderisch in Liebedienerei, macht glänzend mit
und umtobt Jesus illit billigen Königswitzen und schallendem Gelächter, während aus ihrer Mitte
heraus Herodes vom Banne seines Wahns befreit immer erneut das Wort an Jesus riclitet. Und
doch ist nachher dieser selbe Herodes nicht imstande, ein ungerechtes Urteil zu fällen und
Pilatus mit der Botschaft zu beruhigen: verurteile ihn, es ist nicht schade um ihn, er hat's verdient.
Nein, ganz unmißverständlich läßt er Pilatus erklären, daß er Jesus für unschuldig hält. Und
Jesus hat sich nicht verteidigt. Der Sanftmütige und von Herzen Demütige hat hier eine neue
Sprache gesprochen, die er vor der Passion nie angewendet: »das heilige Schweigen«. Herodes
schaut ihn an mit lebendigem Mienenspiel und fragt, fragt immer wieder. Jesus taucht seinen
Blick in den des Herodes, ohne Herausforderung, ohne Trotz, und schweigt. Wieder eine Frage,
wieder lautlose Stille! Ein Schweigen, das zum Gericht wird!

Der schweigende Jesus wieder das Bild der Hoheit, daß man den Eindruck gewinnt, da unten in
der Tiefe auf der Erde spülen wogend die schmutzigen Fluten, wollen mit Wellenbergen zu ihm
hinauf und ihn hinabreißen. Und sie müssen ablassen und stille werden, können ihn nicht
erreichen, können ihn nicht erschüttern und beflecken. Bei dem Bilde, das der Evangelist
wiedergibt, ist nichts aufgetragen«. Schlicht und einfach wird berichtet. Die Tatsachen treten
selber heraus und sprechen ihre eigene Sprache, und wieder zeigt auch diese Handlung Jesu ein
Wesen nach der Seite der Schönheit hin. Daß auch dies Hindurchschreiten Jesu durch den
Staub so unsagbar schön ist, weist weit tiefer, als ein oberflächliches Hinsehen oder auch ein
religiöses Betrachten erraten läßt. Es weist in die Geistesräume hinein, in denen das geborgen
wird, was wir wahre Kunst nennen.

Der Herrenmensch - und der Herr, der allein Mensch ist.

Das Allerheiligste nennen wir diesen Passionsweg. Denn es reiht sich eine Offenbarung des
Jesuslebens an die andere, wie sie vorher nicht vorhanden und auch unmöglich sind. Ins
Allerheiligste hinein führen auch die Bilder, da Jesus vor Pilatus steht: der verachtete Jude vor
dem römischen Vizekönig. Ist da nicht von vornherein eine Lage vorhanden, in der Jesus, wenn
schon nicht versagen, so doch verschwinden muß? Bei der Nichtachtung des Herrenmenschen
und Nichtbeachtung durch den Römer mußte sich, menschlich geredet, die große Linie seines
Lebens in nichts auflösen, die Schönheit der Form im Nebel vergehen. Aber Jesus zwingt Pilatus
gleich mit dem zweiten Wort, aufzuhorchen, von der Höhe der Nichtachtung herunterzusteigen
und als Mensch zum Menschen zu reden, ja ob dieses Menschen zu staunen, innerlich etwas zu
erleben, so daß ein ganz anderer »Mensch« in ihm lebendig wird als sonst, und sogar zu
fragen. Dabei sind uns im ganzen nur 4 Worte Jesu überliefert, die er an Pilatus richtet. 4 Worte
nur, und doch mit einem Inhalt erfüllt, daß zahllose Bücher und Predigten, die sich mit ihnen
befassen, sie nicht erschöpft haben. Für uns kommt heute als etwas Besonderes hinzu, daß
diese Worte zugleich von unvergänglicher Schönheit sind und eine derartige Form bieten, daß
der begabteste Künstler der gebundenen Rede oder der Prosa nicht vermag, eine schönere Form
für denselben Inhalt zu finden. Und das will doch schon vom rein künstlerischen Standpunkt
etwas heißen! Ich weise immer wieder darauf hin, daß es sich um eine solche Hochflut im
Seelenleben Jesu handelt, wie sie nur an diesen zwei Tagen, Gründonnerstag und Karfreitag,
vorhanden sein kann. Hochflut, Sturm, Springflut! Alle Tiefen sind in Bewegung und steigen nach
oben! Für Jesus ist es ja so, daß er es eigentlich ist, der diese Stunde heraufbeschworen hat
schon durch sein bloßes Dasein, denn Dasein ist Sendung , der jetzt, an diesen Tagen, das
Schicksal der Welt in seinen Händen hält und zum Schicksal seines Volkes wird, das er nicht
abwendet! Für das er vielleicht in Gethsemane um Frist gebeten hat, ohne sie zu erhalten. Es ist
tatsächlich die Welt, die in der Frage des Pilatus: »Bist du der Juden König?« zu Worte kommt.
Denn Jesus macht die Frage zur Weltfrage, indem er seine Antwort daran bindet, daß er der
König der Menschheit sei, höher stehend als jeder vor ihm und nach ihm, da er das bringt, was
keiner je bringen konnte und könnte. Eine fremde Welt istJesus für Pilatus; Pilatus wieder steht
ihm als gegensätzliche, abgewandte und dabei halb tote Welt gegenüber. Kann es da in kurzen
Worten ein Sich Finden geben? Zwang dieser Unterschied, der mehr als tausend Sonnenweiten
betrug, nicht zu endlosen Auseinandersetzungen, wenn's überhaupt zu annähernder Klarheit
kommen sollte, um was es ging, um welche Prinzipien es sich handelt und welche übersinnlichen
Ziele in Frage kommen? Und es geht alles so selbstverständlich vor sich, als ob es gar nicht
anders als eben nur so sein könnte. Als ob kein Zwang auf allen lastet. Als ob nicht das
furchtbarste Ungewitter der Weltgeschichte bevorstand. Als ob nicht am fernen
Geschichtshorizonte die Flammen des brennenden Jerusalem emporzüngelten.

Zunächst sieht es freilich so aus, als ob der römische Richter aus seiner starren Sachlichkeit
nicht herauskommen wird. Kurz und bündig faßt er die ganze lange Anklage der Juden
zusammen. Alles, was sie von Landesverrat, von Auflehnung gegen den römischen Kaiser, von
Throngelüsten dieses Angeklagten gesagt haben, legt er in die eine Frage . »Bist du derjuden
König?« Jesus antwortet mit einer ebenso einfachen Gegen¬frage, die aber einen sonderbaren
Unterton hat: »Redest du das von dir selber, oder haben's dir andere von mir gesagt?« Das heißt
in scharfer, schneidender Sprache: »Bist du, Partei, voreingenommen oder objektiv?«

Das ist ja der Punkt, wohin Jesus erst immer jeden zu bringen gesucht hat, der mit ihm sprach
oder ihn stellte: stets weist er vorher die geistigen Bindungen auf! Nichts ist Pilatus unbehaglicher
und erniedrigender als der bloße Gedanke, er könnte mit Juden gemeinsame Sache machen und
sich seine röm' sche Ehre als oberster Richter beschmutzen lassen. Daher gleich seine nach
Verachtung klingende Feststellung, daß ihm jüdische Probleme und problematische Fragen und
Zwiste gänzlich fernliegen, so fern, daß er schon aus reiner Verachtung nicht Partei sein kann.
Darum stellt er seine völlige Unbefangenheit fest und sagt: »Bin ich ein Jude? Dein eigen Volk
und die Hobenpriester haben dich mir überantwortet. « Weiterhin entkleidet er seine erste Frage
aller Tendenz und fragt nach dem Grundsatze »audiatur et altera pars« (der Angeklagte muß
auch zu Worte kommen, wörtlich: »auch der andere Teil werde gehört«: »Was hast du getan?,
Wieder antwortet Jesus nicht, wenigstens nicht auf diese Frage. Sondern jetzt beantwortet er
gerade den Kern der ersten Frage, »Bist du der Juden König?, nachdem Pilatus seine
Sachlichkeit und Bereitschaft, nur das Wahre gelten zu lassen, als über allen Zweifel erhaben
hingestellt hatte. Jesus gibt also Auskunft über die Königsfrage und Pilatus lehnt sie nicht ab,
denn sie enthält in wunderbarer Weise eine Antwort auf die Frage, was er getan habe, aber in
dem andern Sinne, was er zum Inhalt seines ganzen Lebens gemacht und gehabt habe. Da
stehen sie, diese unvergänglichen Worte, umleuchtet von Ewigkeitslicht und doch ein Bestandteil
des Erdendenkens geworden! Unaustilgbar, weiterwirkend als eine Kraft, die alles Kirchenwesen
immer wieder vom falschen Wesen befreit, das niemand treffender als Dostojewski im
»Großinquisitor« der »Brüder Karamasow« gezeichnet hat. Jesus spricht: »Mein Reich ist nicht
von dieser Welt.« Es ist unerschöpflich und bleibt der unverrückbare Wegweiser durch die
Menschheits und Kirchengeschichte hindurch. Im Augenblick der Verantwortung vor Pilatus aber
kann Jesus ganz folgerichtig mit Worten fortfahren, die scheinbar nur der Tageslage gelten,
obschon auch in ihnen mehr liegt:

»Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen, daß ich den Juden nicht
überantwortet würde, aber nun ist mein Reich nicht von dannen. «

Damit sagt Jesus auch, was er nicht getan hat. Damit entkräftet er die hundert Anklagen der
Feinde, die wider besseres Wissen von einem Streben Jesu nach Krone und Macht mit Feuer
und Schwert geredet haben. Er spricht vom Kampf, spricht vom Reich, spricht von seinen
Dienern. Ganz deutlich spricht er von seiner Führerstellung und von denen, die er führt, denen
gegenüber er als ein solcher Gebieter gilt, daß er über ihr Leben nicht verfügen könnte ,
sondern tatsächlich verfügt. Aber er hat nun einmal ein anders geartetes Reich, in dem das
Leben für andere Zwecke hergegeben wird als dazu, den Herzog herauszuhauen und die Feinde
zu vernichten. Seltsamer Mann mit einem seltsamen Reich!

Da muß nun Pilatus weiterfragen und muß seine erste Frage wiederaufnehmen: »So bist du
dennoch ein König?" Er ist nun ganz Ohr. Die Rätselrede hat ihn gepackt. Aus dem gelangweilten
Richter ist ein interessierter Zuhörer geworden, der sogar seine Wahrheitsliebe beteuert hat und
jetzt ein Rätsel gelöst haben will. Jesus löst es. Und seine Lösung schlägt durch, wirkt in Tiefen
hinein, die Pilatus in sich selber nicht kannte:

»Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die
Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.«

Die folgende Szene ist in ihrem inneren Widerspruch echt menschlich. Pilatus spricht das aus
dieser Unterredung ebenfalls berühmt gewordene Wort, das Wort, das die Verzichtreligion von
Millionen ist: »Was ist Wahrheit?« Wahrheit! Gibt's überhaupt nicht. Sinn für Wahrheit aus der
Wahrheit sein Unsinn! Eben verneint er die Wahrheit und sagt mit seiner wegwerfenden
Antwort, daß man für dergleichen keinen »Sinn« mit auf die Welt bekommen habe, wie etwa das
Auge zum Sehen, das Ohr zum hören, und in einem Atemzuge sagt er dann die Wahrheit und
bezeugt, einen wie klaren und tiefen Sinn er für Wahrheit hat. Er geht hinaus zu den Juden und
sagt: »Ich finde keine Schuld an ihm.« Das heißt doch: »lch habe einer Seele bis auf den Grund
geschaut und sie als rein, wahr, glaubwürdig, unantastbar erkannt. Es gibt wohl eine Schuld auf
Erden und die wird heimgesucht und muß heimgesucht werden. Aber von solcher Schuld ist
Jesus frei. Ich habe nach Schuld gesucht an ihm, mein Auge hat ihn beobachtet, mein Ohr auf
den Klang seiner Stimme, auf den Inhalt seiner Worte geachtet. Ich bin seinem Wesen so
nahegekommen, daß ich nun der Wahrheit gemäß nur sagen kann: ich finde keine Schuld an
ihm.« Pilatus will Skeptiker sein und ist Wahrheitszeuge. Wie wunderbar ist es, zu beobachten,
in welch zarter, schlichter Weise Jesus den stolzen Römer auf diesen Wahrheitsweg nötigt.
Schon das ist Kunst! Dazu aber kommt das andere: Er braucht nicht nach Worten zu suchen, um
einen ganz, ganz Fernstehenden in seinen Gedanken und Schicksalskreis herüberzuzwingen.
Diese Worte aber selber weisen wieder den wohltuenden Klang des Wohllautes auf. Es ist, als ob
wirklich lauter Schönheit sich in diese Worte hüllt und vor uns hintritt. Nirgends aber wird die
Erhabenheit der Gedanken zerstückelt oder zerrissen, trotzdem: nichts, aber auch wirklich nichts
Künstliches klingt in diesen Worten mit.

Als dann Jesus von Herodes auch als der Unschuldige bestätigt wird, kann Pilatus trotz seiner
Weltanschauung . »Was ist Wahrheit« von der Wahrheit nicht los. So will er denn seinem
Wahrheitssinn genügen und Jesus loslassen, aber auch der Wut der Volksführer Zugeständnisse
machen. Wenn sie ein blutiges Haupt sehen, werden sie zufrieden sein, ihre Hassesglut sich
abkühlen. Er verhandelt: «Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht, als der das Volk abwende,
und siehe, ich habe ihn vor euch verhört undfinde an dem Menschen der Sachen keine, deren ihr
ihn beschuldigt; Herodes auch nicht, denn ich habe euch zu ihm gesandt, und siehe, man hat
nichts auf ihn gebracht, das des Todes wert sei. Darum will ich ihn züchtigen und loslassen.«

Dem Tode nahe.

Das war gleich danach. Denn die Geißelung geschah in erbarmungsloser Weise. Oft stand der
Gegeißelte nicht wieder auf und hauchte bald darauf seine Seele aus. Mit Jesus machten die
Kriegsknechte keine Ausnahme. Die unsäglichen Qualen sein Körper hielt ihnen stand. Dabei
hatte kein Schlaf ihn erquickt. So wie er sich von den Knien in Gethsemane erhoben hatte, stand
er vor seinen Peinigern, nachdem in der Nacht ihm schon die Fäuste das Angesicht zerschlagen
hatten. Das war schon eine Geißelung gewesen. Und was für eine! Sein Angesicht hatten sie
verdeckt und spien ihn an und schlugen ihn und fragten zynisch: „Weissage uns, Christe, wer
ist's, der dich schlägt?« Von da ab keinen Augenblick ein Ausruhen bis zum Morgengrauen. Er
muß jetzt fast am Ende seiner Kräfte sein. Da sausen die Bleipeitschen nieder und zerfetzen
seinen Körper. Taumelt er? Sie sind noch nicht zufrieden, die Soldaten! Als kaisertreue Römer
wollen sie diesem »Judenkönig« zu Gemüte führen, was es heißt, sich in einer kaiserlichen
Provinz als König aufzuspielen. Eine Krone soll er haben. Da haben sie schon aus dem
langdornigen Unkraut eine Folterkrone gewunden, haben ihm einen alten Soldatenmantel
umgehängt, denn der König soll auch seinen Purpur tragen, und als Zepter einen Rohrstab in die
Hand gegeben. »Die ganze Schar« treibt ihren Mutwillen mit ihm, wie be¬richtet wird: einer nach
dem andern speit ihn an, kniet vor ihm nieder wie vor einem Fürsten, um ihm dann das Zepter zu
entreißen und damit auf das Haupt loszuschlagen, um nur ja die Qual ins Unerträgliche zu
steigern und die Dornen so tief ins Fleisch zu treiben, daß der Gequälte zusammenbricht und wie
ein Gefolterter zum Gaudium der Folterknechte alles nachschreit und bekennt, was ihm
vorgeschrien oder von ihm als Bekenntnis verlangt wird. Es tritt dabei ein Zustand der
Besinnungslosigkeit ein, ohne daß eine Ohnmacht dem Körper hilft.

So war hier am Karfreitag, in diesem Augenblick, die erste große, schwere Probe und Gefahr für
Jesus, ob nicht der willige Geist dem hinsinkenden Körper einfach folgen müßte, und die große
Linie an dieser Stelle erlosch. Aber kein wimmernder, aufschreiender, flehender, bei
ausgelöschtem Bewußtsein wirre Worte stammelnder Spottkönig steht vor uns da, sondern, in
Blut und Wunden gekleidet, wiederum das heilige Schweigen. Ja, das ist groß. Ist es nicht auch
schön im höheren Sinne als Darstellung einer göttlichen Idee, eines unerschütterlichen
Gehorsams, einer Treue ohnegleichen? Und wird da nicht das Äußere zur zutreffenden
Wiedergabe des Inneren? Begreifst du nun, warum ein Künstler sich immer wieder an diesem
Bilde versuchen muß in Farbe und Stein? Und es doch nie erreicht? Begreifst du auch, warum
jetzt Pilatus die Flügeltüren des Statthalterpalastes aufgehen läßt und den Dornengekrönten vor
die brausende Volksmenge stellt, die da doch plötzlich verstummt und des Pilatus Worte
vernimmt: »Sehet, welch ein Mensch!" »Ecce homo«, sagt die lateinische Übersetzung der
Bibel. Mitten im blutigen Jammer diese Majestät. Würden die Volksmengen nicht doch ergriffen
sich abwenden und still weggehen? ... Pilatus hofft umsonst!

Wieder: - das heilige Schweigen.

»Redest du nicht mit mir?" fragt nachher Pilatus gereizt. Denn Jesus schwieg mit einem Mal dem
gegenüber, der sich Mühe gegeben hatte, ihn vor dem Kreu¬zestode zu bewahren. »Redest du
nicht mit mir? Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich zu kreuzigen, und Macht habe, dich
loszugeben?«

Eine Frage: möchtest du das hoheitsvolle oder geheimnisvolle nenne es wie du willst
Schweigen Jesu am Karfreitag missen? Bringt es nicht etwas in die Hast und die Stürme dieses
Tages, das nach der ewigen Stille schmeckt? Ganz zuerst geschah es einmal so unvermittelt,
daß sich der Landpfleger verwunderte, als nämlich der »Verbrecher« seinem »Richter zugeführt
wurde, und seine Verkläger wahrscheinlich auf den Stufen des Statthalterpalastes ihre
Anklagen mit Entrüstung und gut gespieltem Entsetzen dem Pilatus zuschrien. Als da Jesus
nichts antwortete und die hohen Persönlichkeiten, Hohenpriester und Ältesten noch mehr
entrüstete, ja, als die Anklagen so toll, zwingend und genau wurden, daß sie nach dem
Naturrecht - verteidige deine Ehre um der Wahrheit willen und die Wahrheit um der Ehre willen
nicht ohne Antwort bleiben durften, fragt ihn kopfschüttelnd Pilatus: »Hörst du nicht, wie hart sie
dich verklagen?« - Eine Frage, die etwas ganz anderes zum Ausdruck bringt, als was sie sagt.
Sie ist schon beinah eine Stellungnahme für den Angeklagten. »Sie verklagen dich hart, aber
ich durchschaue sie schon! Nun sprich du ein erlösendes Wort und mach mir mein Richteramt
leicht und hilf meiner inneren Stimme! Denn diese wird lauter. Immer lauter. Da kommt gar noch
der Mensch, der ihm auf der Welt am nächsten steht, seine Frau, und fällt ihm in den Arm, der
doch aus Zweckmäßigkeitsgründen sich erheben und das Schwert niedersausen lassen kann.

»Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten«, läßt sie Pilatus angstvoll bestellen, »Ich
habe heute viel gelitten im Traum um seinetwillen.« Es überkommt den skeptischen Römer eine
Unheilstimmung, die er nicht abschütteln kann. Der Evangelist Johannes hat wohl aus nächster
Nähe zugeschaut und konnte darum Kap. 19 Vers 6 9 berichten; Pilatus spricht zu ihnen: »Nehmt
ihr ihn hin und kreuzigt ihn; denn ich finde keine Schuld an ihm... « Die Juden antworten ihm:
»Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetze soll er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes
Sohn gemacht.« Da Pilatus das Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr. Noch mehr! Und daß er
sich in diesem Augenblick nicht vor den Juden fürchtet, kann man doch wohl diesem grausamen
Tyrannen zutrauen, der nicht mit der Wimper zuckte, als er »die Galiläer, (Lukas 13,1) im
Tempelvorhofe in der Nähe des Branddopferaltars niederhauen ließ. Auf ein paar Dutzend
Menschenleben kam es ihm wirklich nicht an, wenn es galt, reinen Tisch zu machen und
Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Vor wem er sich fürchtet, noch mehr fürchtet, sagt er
selber mit dem, was er sofort nach der Anschuldigung »zu Gottes Sohn hat er sich gemacht!« tut
und spricht. Denn da ging er wieder hinein in das Richthaus und spricht zu Jesus: »Von wannen
bist du?« Wieder die Weltfrage: Jesus, wo bist du her? Aus welcher Welt kommst du, stammst
du? Kommst du wirklich aus einer andern Welt, aus der andern Welt, die von der Gottheit verhüllt
ist und von der doch jeder Mensch weiß, um die er sich quält sein Leben lang, entweder mit der
Bejahung oder der Verneinung der andern Welt, die ihre Gänge und Zuflüsse bis in unsere
eigene Brust vorgetrieben hat und das Gewissen wissen und fürchten läßt. Und da hilft ihm Jesus
nicht? Warum hilft er dem erschütterten Pilatus nicht? Ist das Liebe? Ist das Demut? Hätte jetzt
nicht ein Wort genügt, das wie ein Blitz das Dunkel zerriß, um Pilatus Mut und Klarheit zu einem
sofortigen Freispruch zu geben? Wie würdest du in gleicher Lage handeln, in ähnlicher? Ist dies
Schweigen hellig und schön? Pilatus findet es jedenfalls in keinem Sinne »schön«. Es erbittert
ihn. Er, der hohe Römer, läßt sich herab, init diesem Juden zu reden, und der straft ihn mit
Nichtachtung. Verachtete dieser Jesus ihn so, wie er zu Anfang Jesus verachtet hatte, sind die
Rollen vertauscht? Da bricht es los wie verhaltener Zorn und grausame Willkür, die scheinbar
nichts auf innere Stimmen gibt: »Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich zu kreuzigen, und
Macht habe, dich loszugeben?« Das heißt ganz eindeutig: »Ich kann mit dir machen, was ich will.
Mich bindet nichts, kein Gesetz von außen oder innen. Ich verfüge über das Leben jedes
Angeklagten wie über das Leben eines Hundes. Ich kann mit ihm spielen wie ich will, opfere ihn,
wenn's sein muß, und lasse ihn leben, wenn's mir paßt. So verfahre ich auch mit dir!«

Nun weiß es Pilatus eigentlich selber, warum Jesus schweigt. Er hat es ja eben gesagt: Denn
gerade in diesen Worten, die er gesprochen, liegen die Gründe aufgedeckt, die Jesus wenn er
von der andern Welt i,~t heiliges Schweigen aufzwingen. Würde Jesus in diesem Augenblick
geantwortet haben, so war die Antwort eine Bitte ums Leben, und das kam für Jesus nicht in
Frage. In diesem Augenblicke hätte eine Antwort dem Jesusleben die Größe genommen. Und
wenn damit auch nur ein schnell verfliegender Hauch auf dem ewigen Spiegel der Wahrhaftigkeit
erschienen wäre, die eigentliche Schönheit wäre dahin, weil der Urgrund angetastet worden
wäre.

Wollte Jesus seinen obersten irdischen Richter dazu bringen, den tiefsten Grund und Urgrund
seines eigenen Handelns selber ganz klar zu erfassen, es sich selber einmal laut zu sagen, daß
er die Wahrheit ganz genau kennt, ja, schon in der ersten Zone ihres Machtbereiches steht?
Merken wir nicht, wie Jesus seinen Richter in den Bann der Wahrheit hineindrängt? Spürt man es
dem Skrupellosen nicht ab, daß er sich mit schweren Skrupeln an einen äußersten Rand
geschoben fühlt, an eine unheimliche Stelle, die er vermeiden will und muß? Erdbeben in der
Pilatuswelt! Kann er mit vollem Bewußtsein das tun, was unwahr ist, wo ihn die Wahrheit
geradezu blendet? Kann er kalt das Böse tun, wo er dem Bösen gegenüber zum ersten Mal in
seinem Leben nicht mehr frei ist? Soll der Römer vor Toresschluß noch eine bange Ahnung
nein noch mehr, ein deutliches Empfinden, vermittelt erhalten von dem, was Sünde ist? Also
einen Blick ins unbekannte Land des ewigen Willens und einen Blick auf den Weg, den die
Frevler gegen diesen Willen einschlagen?

Bußpredigt von ewigen Dingen in dem Augenblick, wo man sich um ganz andere Dinge erregen
müßte?

Will Jesus auch die Heidenweit mitverantwortlich machen an seinem Tode?

Will er in Pilatus die ganze außerjüdische Kulturwelt als bewußt antl christ lich offenbaren und sie
an der Kreuzesschuld so teilnehmen lassen, daß die Tat seiner Verdammung tatsächlich den
Charakter einer Menschheitstat gewinnt? Hat Jesus so weit gesehen?

Wer sich von dem VorausschauenJesu, wie sein Blick die Zukunft durchdrang, keine rechte
Vorstellung machen kann, der lese Matthäus 13, dazu Lukas 14, 16 24, und endlich Matthäus 8,
11 12. Da ziehe man die Linien nach, die Jesus bis in fernste Fernen vorzeichnet, oder man
versuche sie nachzuziehen. Dabei lerne man ein ehrfürchtiges Staunen über das, was
inzwischen Wort für Wort genauso gekommen, wie vorausgeschaut, und man wird es vielleicht
doch fassen können, daß dieser übernächtigte, blutige, bleiche Mann vor Pilatus doch gerade
jetzt etwas tut, was der ganzen Welt gilt, als er mit dem Römer diese Wege ins Übersinnliche
geht, indem er ohne Worte von der schweigenden Vergeltung jener Welt spricht, »von wannen
er ist«.

Als daraufhin Pilatus mit jenen wenigen Worten seinen ganzen Seelenzustand beleuchtet hat,
wie eine in Dunkel gehüllte Landschaft durch einen Blitz in allen Einzelheiten mit Wäldern,
Türmen, Giebeln, Bächen, Sümpfen und Bergen sichtbar wird, da tritt Jesus aus seinem
Schweigen heraus und geht mitten in diese Seelenlandschaft hinein bis zu der Stelle, wo der
Mensch abhängig ist von dem Einen, von dem Oben, und wo die größte Sünde gegen dieses
»Oben« beginnt!

»Du hättest keine Macht über mich«, entgegnete er, »wenn sie dir nicht wäre von oben herab
gegeben; darum, der mich dir überantwortet hat, der hat größere Sünde.«

Aber - heißt das - größere Sünde bleibt doch auf dir hängen, wenn auch die andern die größere
Sünde auf sich laden, die den Pilatus in eine Zwangsjacke nötigen, so daß der »freie Römer, sich
fügen muß. Der Griff an der Gurgel schmerzt und erniedrigt namenlos. Pilatus ahnt noch nichts
davon. Jesus sieht es schon kommen. Anfangs hatte für Pilatus höchstens der Gedanke Raum
gehabt: »Was kommt's am Ende auf ein Judenleben mehr oder weniger an! Wenn man durch
eine Verurteilung die Affäre schnell und mühelos los wird, steht es ja in meinem Belieben, das
Todesurteil zu fällen. Dann haben die Fanatiker ihr Opfer und ich habe meine Ruhe.« jetzt hat
sich aber unter Jesu Blick, Wort und Schweigen die ganze Seelenwelt des Pilatus verschoben.
Mit der lässigen Haltung ist es ganz vorbei. Sein Gleichgewicht hat er endgültig verloren. Druck
von innen drängt ihn. Am liebsten möchte er jetzt den Mann freigeben. Nicht nur sein Gewissen
zwingt, auch sein Wissen tut's, das unter den Worten Jesu so übermächtig geworden ist, daß es
da kein Entrinnen mehr gibt! Das Unheimliche, das »Oben«, meldet sich. Wehe dem, der
dagegen anrennt! Die Sünde rächt sich!

Der seltsame Mann da vor ihm hat die Sache beim rechten Namen genannt, und sein Inneres hat
zugestimmt. Darum will er Schluß machen. Mit einem jähen schnellen Abschluß die Sache
beenden!

Ist er nicht diesem Fremdvolke und seinem häßlichen Geschrei gegenüber frei, freier Herr? So
frei, wie der Adler auf dem Felsenhorst - das Symbol der römischen Macht und Weltanschauung?
Soll er sich der Rache der Welt, von warmen dieser jes us am Ende doch ist, aussetzen, das
Schicksal herausfordern?

»Von dem an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe ... «

Aber gerade in diesem Augenblick werden dem römischen Adler die Schwingen gebrochen. Die
raffinierten Gegner haben die Stelle entdeckt, wo Pilatus tödlich zu treffen ist. Ein Stellvertreter
des Kaisers, der »een Revolutionär und Kronprätendenten« freigibt (so muß man die Sache
drehen!) ist vor dem Kaiser für immer erledigt. Was wußte und verstand der Kaiser in Rom von
der geistigen, unsichtbaren Krone, die sich Jesus in seinem Reiche aufs Haupt gesetzt hatte, das
nicht von dieser Welt ist! Krone ist Krone! König ist König, Reich ist Reich! Das braucht nur mit
dürren Worten vielsagend hingeworfen zu werden, dann antwortet der Kaiser darauf mit der
Handbewegung, die den Lebensbau des Pilatus in einen Trümmerhaufen verwandelt, der Pilatus
mit seiner Frau und seinem Glück darunter begräbt. Daher schleudern sie ihm die erpresserische
Nötigung kreischend frech ins Gesicht:

»Lässest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der
ist wider den Kaiser!«
Wie tückisch genau sie Bescheid wissen! "Freund des Kaisers«! Pilatus hört es und erbleicht.
Da fühlt er sich gewürgt und kann die Hand nicht loszerren. Wie sie das nur alles wissen! ja, er
als ehemaliger Sklave hatte sich emporgeschwungen bis zu der Stufe, wo man den Titel »amicus
imperatoris«, Freund des Kaisers, erhielt und damit über alle Reichsgenossen emporstieg.
Pilatus führte diesen Titel nicht nur mit berechtigtem Stolz, sondern auch mit der wohligen
Genugtuung, daß nun sein Leben für immer in Ordnung sei, fern aller Sorge, fern allem Ringen,
um emporzukonnnen.

»Sie haben mich in der Schlinge, und ich kann mich nicht rühren!« Diese Erniedrigung bekommt
Pilatus zum ersten Mal in seinem Leben zu schmecken und muß sie mit Zähneknirsclien
hinnehmen. Oft genug hat er diesem verachteten Volke den Fuß auf den Nacken gesetzt und
Tausende auf dem bloßen Argwohn der Empör ung hin niedert i letzeln lassen. Und nun ist er in
ihrer Hand. Er hat das Spiel verloren. Er sieht's. Es geht ums Leben. Er muß ihnen zu Willen sein
und kann nur noch eins: sie, die ihn in die große Sünde gegen »das da oben" hineinzwingen, das
sein Schicksal leitet und ihm Macht gab vor Millionen anderen, das ihn tödlich treffen kann, - sie
kann er wenigstens vor Wut schäumen lassen. Das ist seine Rache - bis dahin, wo er den
Leichnam Jesu freigibt, statt ihn mit den Mördern einscharren zu lassen. Alle Worte, die er
spricht, die Inschrift, die er nachher ans Kreuz setzen läßt in der Fassung, die wie Peltschenhiebe
ins Gesicht wirken, sind Versuche, Rache zu nehmen für die schändlichste Niederlage eines
ganzen Lebens. Und dabei will er die Wahrheit sagen, die ihn erfüllt: dieser Jesus ist wirklich die
einzige königliche Natur unter euch. Er verdient, euer König zu heißen.

So setzt er sich denn, als er das Todesurteil aussprechen muß, draußen vor der Masse auf den
Richtstuhl und beginnt zu höhnen: »Seht, das ist euer König!«, um damit sofort das frenetische
Geheul zu entfesseln:

»Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn!«

Mit Genugtuung hört er's und reizt sie noch mehr, bis zur sinnlosen Wut mit der Frage: »Soll ich
euren König kreuzigen?«

Dieselben, die so angelegentlich auf den Sturz der Römerherrschaft hinarbeiten, antworten da
aber - der Zweck heiligt ja die Mittel - mit einer ihrer größten Gesinnungslügen: »Wir haben
keinen König, denn den Kaiser!«

Treu, ergeben, loyal.

Der Zweck wird erreicht, da »überantwortete erJesus, daß er gekreuzigt würde«,! Doch für
Pilatus ist nun das Maß der Entwürdigung voll. Er schreibt selber eine Überschrift und setzt sie
auf das Kreuz. Und sie enthält und soll enthalten des Pilatus Überzeugung und Auffassung von
Jesus:

»Jesus von Nazareth, der Juden König...«

Warum schreibt er nicht: der Rebell! Der Narrenkönig, der Spottkönig?

Nach den geltenden Vorschriften mußte doch ganz eindeutig das Verbrechen auf dem Zettel über
dem Kopf des Verbrechers am Kreuz zu lesen sein!

Er schreibt's so, daß jeder es lesen kann: griechisch, lateinisch, und einen Sprachkundigen ließ
er wohl dasselbe auf hebräisch hinzufügen, wenn er es in grotesker Weise nicht selber getan hat.

Die Hohenpriester verstehen sofort den Hohn. Mit verhaltener Empörung und Wut bitten sie ihn
höflich, sich doch deutlicher auszudrücken: »Schreibe nicht der Juden König«, sondern daß er
gesagt habe: »Ich bin der Juden König!«
Ein kalter Blick des Pilatus. »Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben!« weist er sie
ab.

Wenn er damit nur die beklemmende Angst vor dem »Oben« damit loswürde! Da kann das
Verhängnis lauern! Schauen ihn nicht von da starre Augen durchdringend an, deren Blick er nicht
los wird, er kann sich drehn und wenden, wie er will? Augen, die von diesem blutig geschlagenen
»Gottessohn« zu ihm blicken.

Still wird's. Was macht er? Sie bringen ihm ein Becken mit Wasser? Stumm steht das Volk. Aller
Augen sind auf ihn gerichtet. Was soll das? Er - wäscht sich die Hände? Und nun spricl it er, und
es hallt von den Mauern wider, daß sie es bis in die äußersten Winkel hören:

»Ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten! Seht ihr zu!«

Denn sein Gewissen hat angefangen zu schreien, gellend zu schreien. Er bittet förmlich mit
dieser symbolischen Handlung, daß auch sie ihr Gewissen sprechen lassen sollen.

Ein grausiges Echo kommt zurück, das grausigste, das es jemals in der Weltgeschichte gegeben
hat, ein Echo, das sich immer wiederholt und nicht zur Ruhe kommen will. Wann wird es das
einmal tun? Ober das Jahr 70 hin tönt es bis heute weiter, manchmal leiser werdend, daß man
meinte, es sei nun verklungen, dann wieder plötzlich dröhnend laut werdend:

»Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«

Dabei waren die Juden das einzige Volk der Welt, das etwas Genaueres von Erbsegen und
Erbfluch wußte.

Aber wie eng in Fühlung mit der Wahrheit ist jetzt Pilatus, der noch vor einer Welle gemeint hatte,
Wahrheit interessiere ihn nicht! Und jetzt interessiert sie ihn so, daß das schon kein bloßes
Interesse mehr ist, was ihn packt. Sie zerreißt ihn förmlich. Der Panzer um sein Gewissen ist wie
Papier durchbohrt, die Binden hat ihm jener Mann da mit dem blutigen Antlitz, auf dem göttliche
Hoheit thront, von den Augen genommen.

Gibt es dann eine »Haltung«, die je in der Welt so war wie die Haltung Jesu in der Flut des
Grauens? Das ist die Schönheit seines Schweigens! Ist sie nicht die Begleiterscheinung der
Wahrheit, die nun endlich einmal wie die Sonne aus den Wolken hervorgetreten ist?

Wahrheit und vollkommene Kunst sind die Worte Jesu, die Pilatus bezwingen. Der Künstler mag
einmal hier entscheiden, ob schöner, künstlerisch richtiger, erhabener das ausgedrückt werden
kann, was Jesus mit den wenigen Worten dem Pilatus sagt! Und mit dieser unüberbietbaren
Schönheit verbindet sich ein Ernst, eine Güte, ein seelsorgliches Helfen, das man vergebens in
der ganzen Weltliteratur nach ähnlichen Worten in gleicher Lage sucht. Wie kommen sie daher,
diese Worte, wie ungesucht, wie mühelos: »Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht
wäre von oben herab gegeben; darum, der mich dir überantwortet hat, hat größere Sünde!» Das
kann nur der Meister, der auch die Sprache meistert, dem die Sprache das Instrument geworden
ist, auf dem er seine ewigen Melodien spielt, die der Menschheit in die Seele klingen sollen, das
Instrument, das unter dem Griff des Meisters mit nur wenigen Lautfolgen gleich Allerletztes
hergibt.

Unter dem Eindruck dieser göttlichen Schönheit - steht Pilatus, als erJesus verurteilt und bei
seinem Urteil doch die Krone zuerkennt! Was er geschrieben hat, hat er unbewußt im Namen der
Menschheit geschrieben: Du bist ein König! König in einem Sinne, wie es hier auf Erden nie
einen gegeben hat.

Jesu Schweigen - es brachte Pilatus zu der Welt die schweigt und regiert.
Jesu Schweigen! Wehe, wenn es einer von uns nachmachen wollte!

Denn es ist tiefstes Erkennen allerletzter Beweggründe, und - Gericht und Liebe und Hoheit.

Der letzte Weg

Muß es noch gesagt werden, daß es sich bei Jesu letztem Gang und seinem Scheiden nicht um
das handelt, was unsere Zeit »in Schönheit sterben« nennt?

Dies »in Schönheit sterben« ist ein Wahn, ja ein Witz, oder beides zusammen, die Ausgeburt
einer Welt, die sich immer in einer Pose sieht, in einer angenommenen theatralischen Stellung,
die immer vor dem Spiegel steht, auch wenn sie sich in Schlichtheit hüllt.

Der ganze Karfreitag ist aber wie kein anderer Tag sonst in heilige Schönheit getaucht. Nur
darum kann auch der wundersame Zauber von ihm ausgehen, dem sich keiner entziehen kann.
An sich wäre es durchaus möglich, daß ein solcher Tag, der in der Verbrechersphäre endet, der
angefüllt ist mit Roheit und Feigheit, Lug und Trug, Quälerei und Todesnot fürchterlichster Art,
daß der überhaupt keine Schönheitsstrahlen mehr aufweist, - daß er nicht nur den Feinfühligen,
sondern den Menschen schlechthin abstößt. Ja, das wäre nicht nur möglich, sondern zunächst
das Wahrscheinlichere. Wenn nun dieser Wahrscheinlichkeit zum Trotz der Karfreitag gerade
den Künstler zu Visionen zwingt, zum inneren Schauen von Bildern, die geradezu stürmisch ihr
Recht verlangen, und eins das andere kraft der ihnen innewohnenden Gewalt fast verdrängt, so
enthüllt damit der unauslöschbare Tag seine Seele! Und diese Seele – ist Jesus!

Freilich ist es ein anderer Karfreitagszauber, um den es sich dabei handelt, als der, den Richard
Wagner im Parsifal locken und schmeicheln läßt. Wagner will ja gar nicht jenen Tag der
Weltgeschichte malen, sondern einen ganz besonderen Tag im Leben seines Helden, wobei alle
Schatten schon von Osterlicht überleuchtet sind. Das sind sie aber an jenem ersten Karfreitag
nicht! Da dröhnt vielmehr der eherne Schritt ewigen Weltgeschehens. Aber daß dieser Schritt
zum Donner wird, das ist wieder ein Anzeichen dafür, daß die Wasser der Weltgeschichte sich
hinter einer riesenhaften Felswand aufgestaut hatten, um diese Wand der Sünde und des Todes
an diesem Tage zu sprengen und sich selber über die Trümmer zu ergießen - ein ganzes Volk
dabei in die Tiefe reißend, während Geisterhände die Felstrümmer so über- und nebeneinander
zu schichten scheinen, daß sie sich zu einem Weltheiligtum ordnen, mit hohen Pforten nach allen
vier Himmelsrich tungen.

Aus der Stadt heraus

Zum Hinrichtungshügel geht's. Trotz des Morgens glüht schon die Sonne. Ein Zug, wie ihn die
Jerusalemer oft genug gesehen, denn die Richtstätte liegt dicht bei der Heerstraße. Und doch -
ein ganz anderer Zug, wie ihn nie wieder einer gesehen hat. Menschen, Neugierige, Staub,
blitzende Harnische, Hauptleute hoch zu Roß, weinende Frauen - ein langer Zug! Und in der
Mitte drei Kreuzträger. Einer von ihnen wankt. Stürzt in den Staub. Jesus. Da geht einer aus
Kyrene in Afrika vorüber, der wahrhaftig zu anderen Zwecken zu Ostern nach Jerusalem
gekommen ist, als um einem Verbrecher das Fluchholz abzunehmen. Die Soldaten packen ihn.
Er wehrt sich und verwahrt sich. Es hilft ihm nichts. Er muß Jesu Kreuz auf seine Schultern
nehmen und es tragen. Der zerrissene Rücken, das blutige, zerpeitschte Antlitz, das krampfhafte
Zittern und langsamere Ausschreiten ihres todesbleichen Opfers hatten wohl die Soldaten
befürchten lassen, daß der Tod des Verurteilten schon auf der Landstraße eintreten und den Tag
seines Hauptschauspiels berauben konnte. Daher üben sie aus Unmenschlichkeit etwas
Menschlichkeit. Ob dieser Afrikaner schärfer sah als die andern? Jedenfalls ist sein Name mit
unverwischbarer Schrift in dem großen Geschehen mit verzeichnet. Bedeutsam bemerkt Markus
dazu: »welcher ist ein Vater des Alexander und Rufus« also zweier den Evangeliumslesern ganz
bekannten Anhängern des Mannes, dem ihr Vater das Kreuz getragen. Damit ist man schon über
die Linie der bloßen Vermutungen hinüber und sieht Bande sich knüpfen, die unlöslich mit dem
Karfreitag und seinem Zauber verknüpft sind.

Furchtbare Gesichte

machen dem Todgeweihten die Last zentnerschwer und den Weg verzweifelt sauer. Fortwährend
muß er sie schauen, während das Weinen und Klagen der Frauen ihn umschallt. Während diese
rührenden Frauenseelen sein Einzellos fassungslos beklagen, ist ihm das Herz zum Zerspringen
voll von einem heißen Erbarmen, das sich - erbarmen möchte und nicht kann! Aber er muß es
ihnen sagen, was ihn erfüllt. Die Bilder verfolgen ihn! Nicht als zweifelhafte Schatten, sondern als
Wirklichkeiten, die schon wie Sturmwolken schwefelgelb und schwarz über ihnen hängen. Und in
was für Worten entströmt ihm das entsetzliche Gesicht, das er schaut! Folgt man diesen seinen
Worten bis in die innersten Zusammenhänge, so erkennt man wieder, daß das ja alles lauterste
und reinste - Kunst ist... ein Gewebe so einziger Art, wie es nur bei völliger Versunkenheit in die
Ruhe des Schaffens möglich ist. Und er spricht sie in einem Augenblick, da an bewußtes
Kunstschaffen doch überhaupt nicht zu denken ist. Die klagenden Frauen redet er bedeutsam an:

„Ihr Töchter von Jerusalem ... !"

Ihr, die ihr mit dieser Stadt auf Gedeih und Verderb zusammenhängt, mit diesem Jerusalem, das
die Propheten tötet und die Gottgesandten steinigt! Dieser eine Zusatz beleuchtet schon eine
Verhaftung und Verknüpfung von Schicksalen untereinander, wo einer, der ans rettende Ufer
möchte, von dem Sturz der Wasser mit in den Abgrund gerissen wird. Als Kinder Jerusalems
werdet ihr Jerusalems Zukunft haben. Ihr seid heute schon gezeichnet. Darum keine Anrede, wie
sie wohl nähergelegen hätte: Ihr Mütter! Ihr Weiber! Hier klingt vielmehr das »Jerusalem,
Jerusalem« wieder, das Jesus unter Tränen im Blick auf die geliebte Stadt gerufen hat, als er
zum letzten Mal die Stadt von der Höhe erschaute. Mitten im Verhör, mitten in der Geißelung
geht es ihm durch Herz und Sinn: Jerusalem, Jerusalem!

Darum, weil ihr Jerusalems Töchter seid, weint über euch selbst - und über eure Kinder!
Die Kinder sind ja immer in das Schicksal der Eltern verflochten! Israel weiß das.

Dies Verflochtensein ist so grauenhaft, daß der Segen des Mutterseins und des Kinderhabens
zum schrecklichen Fluch und zur Qual über alle Qualen werden wird, wenn das Verhängnis
hereinbricht!

Und er will's nun noch aufhalten!

Denn was Moses weissagt, wenn sie den Propheten nicht annehmen, dem Gott seine eigenen
Worte in den Mund legen wird, was Moses nur als Möglichkeit weiß, sieht Jesus schon als
lebendige Gegenwart mit bei den Füßen in die Stadt eintreten. Im 5. Mose, Kap. 28, heisst es:

»Der Herr wird ein Volk über dich schicken von dem Ende der Welt, das wie ein Adler
fliegt (das Zeichen Roms), des Sprache du nicht verstehst, ein freches Volk, das nicht ansieht die
Person des Alten noch schont die Jünglinge... und wird dich ängsten in allen deinen Toren, bis
daß es niederwerfe deine hohen Mauern ... (so geschehen im Jahre 70 nach dem Bericht des
Josephus). Und wird euer ein geringer Haufe übrigbleiben...
Denn der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker von einem Ende der Welt bis zum andern...
Dazu wirst du unter denselben Völkern kein bleibend Wesen haben und deine Fußsohlen werden
keine Ruhe haben. Denn der Herr wird dir daselbst ein bebendes Herz geben und
verschmachtete Augen und eine verdorrte Seele, daß dein Leben wird vor dir schweben. Nacht
und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. Des Morgens wirst du sagen:
Ach, daß es Abend wäre! Des Abends wirst du sagen: Ach, daß es Morgen wäre! Vor Furcht
deines Herzens, die dich schrecken wird, und vor dem, was du mit deinen Augen sehen wirst«.
Und die dies Verhängnis treffen wird, die gehen hier neben Jesus einher zur Richtstätte - und
stehen schon auf - ihrer eigenen Richtstätte! Die Töchter Jerusalems! Die Mütter!

Wilde, rasende Verzweiflung wird die Mütter packen, daß sie nur noch einen Wunsch haben
werden, unter der Erde zu sein.

»Dann werden sie anfangen zu sagen. Ihr Berge fallet über uns, ihr Hügel deckt uns zu!«

In Schönheit sind diese Worte getaucht. Sie entsprechen dem höchsten Kunstmaßstab. Aber der
Stachel ist ihnen damit nicht genommen. Sie erschüttern im Gegenteil dadurch nur noch mehr,
enthüllen die erschütterte Seele des Herrn. Denn um seinetwillen wird es ja so kommen, daß
wimmernde Mütter die Berge, die Hügel anflehen, sie mit undurchdringlicher Nacht zuzudecken.

Hat Jesus eben ein Prophetenwort (Hosea) aufge griffen, so genügt die unscheinbare Wendung
eines Hesekielwortes (sprich zum Walde: ich will in dir ein Feuer entzünden, das soll beide, grüne
und dürre Bäume, verzehren), um sie in ein Gottesgesetz umzuprägen: wenn ein Volk seine
eigene grüne Hoffnung und Zukunft (ihn selber, Jesus!) vernichtet, was soll aus dem werden, das
schon längst nicht mehr grün ist!

»So man das tut am grünen Holze, was soll mit dem dürren werden!"

Wie eine glühendrote Fackel steht dies Wort an die Mütter Jerusalems in der Weltgeschichte da,
düster den Weg zu dem großen Sterben im Jahre 70 und die Tempelstufen hinanleuchtend, von
denen dann flüssiges Gold vermischt mit Blut herabrann.

Warum hat man diese unbeschreiblich packende Form der Worte Jesu nie eines Blickes
gewürdigt?

Wer selbst das Schauerliche, das Unabwendbare in solche Farben kleiden und damit seine Seele
selber so ganz aussagen kann, daß die inneren Schwingungen dessen, der um den ganzen
Jammer mit Kopf und Herzen weiß, auf uns übergehen, - wer dabei den Rhythmus edelster
Sprache wahrt, - der gehört in die Reihe der größten Künstler, die je gelebt haben.

Man lese es noch einmal im Zusammenhange und lasse sich von der Sprachgewalt und der
Wucht und Tiefe der Gedanken ergreifen:

»Ihr Töchter von Jerusalem! Weinet nicht über mich, sondern weinet über euch und eure Kinder!
Denn siehe: es wird eine Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren
und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben! Dann werden
sie anfangen zu sagen: Ihr Berge, fallet über uns, Ihr Hügel bedecket uns! - Denn so man das tut
am grünen Holze, was will am dürren werden!«

So streut Jesus, im Staube wandernd, fast zusam menbrechend, - eine Handvoll Perlen aus.
Eine Totenklage um Lebende, wie sie schöner und schauerlicher kein Dichter erdenken kann!

Das Sterben

Auf Golgatha entsprang eine Quelle, die sich durch Jahrhunderte ergießt, und je mehr sie in
Zeiten und Völker und Rassen hineinfließt, um so breiter wird ihr Lauf, und sie wird zu einem
Strom, dessen Ufer fast so weit voneinander entfernt sind, daß man nicht mehr von dem einen
zum andern schauen kann und dieser Strom einem Meere ähnlich sieht.

Die Quelle sprudelt weiter und zieht tausend andere Rinnsale herbei, die zu ihr streben, um in ihr
zu ver schwinden.
Karfreitag und Kunst trafen zusammen! Karfreitags kunst!

Unerschöpflich ist sie und bewegt noch heute den Arm des Bildhauers, überkommt die Hand des
Malers, zwingt den Schöpfer der Tonwelten in ihren Bann, läßt den Dichter Tiefen fühlen,
schauen und sagen, wo der Alltag stumm und blind vorüberging. Und der Alltag läßt sich dann
bei der Hand nehmen, zum Stillstehen zwingen, und indem er zum Echo der ihm geschenkten
Kunst wird und eine verborgene Welt in ihm aufgeht, wird er zum Feiertag, zur Kirche!

Wahre Kunst steigt immer aus der Erde, aus unverbildetem Volkstum, wo die Unmittelbarkeit
zwischen Gott und Mensch vorhanden ist. Es gilt auch da: aus der Tiefe steigen die Befreier der
Menschheit.

Das ist der geheime Maßstab, mit dem alle Karfreitagskunst gemessen wird. Verbildete Epochen
mögen ihn einmal verlieren; gefunden wird er doch immer wieder, weil Kunst Kunst ist und bleibt
und nicht dauernd ihr Wesen verleugnen kann.

Unsere Zeit hat den einen Vorzug vor der eben vergangenen: ihre Kunst will unmittelbar sein,
Unmittelbares geben! Sie will - ahnend - einen Urwillen, der hinter den Dingen steht, mit den
Erscheinungen dieser Erde verbinden. Sie wittert ewige Zusammenhänge. Wenn dann ein Bild
schauerliche Verzerrungen bringt, so soll der große Riß sichtbar werden, der durch die Welt geht
und nach Erlösung schreit. Es ist nur schade, daß sich dabei ein Großstadtkünstlertum
herausgebildet hat, das - auf dem Asphalt groß geworden nichts mehr von Ursprünglichkeit an
sich hat, nur Hüllen bietet und auch mit der geschicktesten Radiernadel nicht darüber
hinwegtäuschen kann, daß alles verkehrt gesehen wurde, weil das innere Auge den Star hat. Im
Zeichen der Zigarette, des Mannweibes, des Weibmannes! Aber die Totengräber stehen schon
vor der Tür! Es wird bald diese verkrampfte Kunst zur Sage geworden sein, denn die Seele will
nicht unausgesetzt im Staube kriechen und Erde essen ihr Leben lang. Es meldet sich schon das
Ringen um die großen Prinzipien Licht und Finsternis. Solche Kunst wird sich dann nicht daran
genügen lassen, verrenkte Menschleiber an Kreuzen darzustellen, wie es so widerlich nach 1918
in Erscheinung trat - vom Karfreitag kamen sie eben doch nicht los -, sondern sie wird wieder
einlenken in das unfaßlich Große des Karfreitags, wie es bei unseren Großen, Dürer, Rembrandt
und Grünewald, erscheint, wo der Vorwurf des Gemäldes es war, der die Künstler über sich
selbst hinaus gesteigert hat. Dies Sterben - ist ein Leben im höchsten Sinne. Diese
Karfreitagsfinsternis ist - allerhellstes Licht!

Läßt sich das überhaupt malen?

Nie ganz! Denn Größe kann nur von gleicher Größe ganz erkannt werden! Es bleibt ein nie
auszugleichendes Minus. Die größten Gemälde, die uns in die Knie zwingen, sagen doch nicht
genug. Das Bild, das uns aus den Evangelien anschaut, hat noch keiner erreicht. Keiner!

Weil sich kein gleich Großer je finden wird!

Schon die Kriegsknechte müssen diese Größe empfunden haben. Von dem römischen
Hauptmann am Fuße des Kreuzes wissen wir es mit Bestimmtheit. Denn wenn ihnen vielleicht
oder bestimmt jeder Sinn für seelische Größe abging, so erstaunten sie doch ob der Kraft dieses
Mannes, der Schmerzen ohne Wimmern und Klagen ertrug und den Betäubungstrank ablehnte,
der ihm die Schmerzen der klaffenden Wunden und die Qualen des Wundfiebers gelindert hätte.
Sie bewundern ihn, aber sie verstehen ihn nicht! Schmerzen aushalten, wenn man's nicht nötig
hat! Wer tut das!

Jesus zwingt sich, alle Schmerzen zu erdulden und jeden Augenblick volles, ungetrübtes, klares
Bewußtsein zu haben.

So ist er mit vollem Bewußtsein der Mann der tausend Schmerzen und erduldet Höllenqualen.
Keine wohltätige Ohnmacht umfängt ihn. Mögen ihm fast die Adern zerspringen, die Herzschläge
jagend sich überstürzen, mag das Blut kochen, mögen die Handknochen unter der Last des
hängenden Körpers zerreißen und zerbrechen, - er bittet nicht doch noch um den
Betäubungstrank.

Die beiden andern scheinen dagegen dem betäubenden Wein zugesprochen zu haben. Denn
dem einen löst er die Lästerzunge, dem andern die Reuetränen, und sowohl das Lästern wie die
Reue sind dabei ganz echt.

Jesus aber bleibt im Meer der Schmerzen. Jetzt leidet sein Körper das Äußerste!

Jetzt wird er ganz zum Instrument der Seele. Jetzt ist er ganz Mensch, und in den entsetzlichsten
Grenzen, die ein Mensch um sich und in sich haben kann. »Ich habe Macht, mein Leben zu
lassen; niemand nimmt es von mir!« sagt er ein Jahr vorher. Er leidet freiwillig.

Er hat als einzelner die ganze Menschheit angegriffen mit der göttlichen Liebe. Er hat ihren
Gegenangriff herausgefordert. Er durfte nach dem Befehl seines Vaters auch nicht ein einziges
menschliches Mittel zum Siege anwenden, auch nicht in der Verteidigung, auch nicht in der
Abwehr. Auf alle menschlichen Auswege und Brücken muß er verzichten und untertauchen in der
Flut, wo alle Sünden zu dem dunkelsten Strom zusammenrauschen und Haß und Grausamkeit
ihre furchtbarsten Triumphe feiern! Um selber am Kreuz vollendet zu werden und um als letztes
Wort am Kreuz davon sagen zu können: »Es ist vollbracht!« erzählt in der kürzesten Form, die es
je gegeben hat, von der eigenen Vollendung.

Von diesem Untertauchen in Nacht und Grauen hat er lange, lange vorher in geheimnisvoller
Weise gewußt:

»Ich bin gekommen«, sagt er einmal (Lukas 12), »ein Feuer anzuzünden auf Erden! Was wollte
ich lieber, denn es brennete schon. Aber ich muß mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe, und
wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde.«
Bange ist ihm auch - um die Kraft. Angst bewegt ihn, ob er's aushalten wird, ob er nicht vorher
aufgeben wird. Die Schmerzen seines eigenen Körpers sind ja mit seinen Feinden im Bunde.
Bedrängt von innen und außen, das Sterben in jedem Nerv, in jedem Herzschlag, erdrückt von
der Erkenntnis der fürchterlichen Schuld und Eiseskälte der Menschheit, deren Todesgeist und
Versteinerung er mit Grauen für sie trägt, muß er liebend aushalten und bis zum letzten
Atemzuge den Angriff der Gottesliebe auf die Menschheit bis zum Siege über sie und über sich
vorantragen! Die neue Menschheit im neuen Menschen erschaffen. Im ersten neuen Menschen,
der das Haupt einer neuen Menschheit sein wird!

Und als die Todesnacht ihm in die Augen sinkt und der Erdentag erlischt, da ist sein Lebenswerk
fertig. Das einzige, das je fertig geworden ist. Es mußte fertig sein. Denn er konnte nichts
nachholen. Andere brauchen mit solchen Gedanken nur in bescheidenstem Maße zu ringen. Ihr
Leben geht nur einen Kreis und eine vorüberhuschende Zeit an. Sein Werk geht alle Zeiten und
alle irgendwie erdenkbaren Kreise aller Menschen an.

Das Kunstwerk seines Lebens darf keinen Gußfehler aufweisen.

Auch nicht die geringste Abbiegung vom göttlichen Bewußtsein darf vorliegen. Darum, als sie
»Ihm den Mischwein reichten, wollte er's nicht trinken «! Die göttliche Linie muß er innehalten
ohne Abweichung von dem ewigen »Modell« im Bewußtsein Gottes.

So gibt er seinem Leben die fleckenlose Schönheit!

Er greift mit seiner Kraft über Abgründe hinüber, über die der Mensch nie hinüberdenken kann!
Unbekannte Welten! Wenn's über die ersten unbekannten Gräben geht, kann der Mensch schon
nur im Dämmerzustand hinüber; meistens stürzt er von seinem Brett, das er sich darübergelegt
hat, ab. Vorher sind wir alle Helden. Dann aber ist's vorbei, wenn's aus eigner Kraft gehen soll.
Bei keinem ist's ein Vollbringen mit dem Siegesruf: es ist vollbracht. Immer nur ist's ein
Sich-Fügen in das Unvermeidliche, oft auch dann noch Pose, weil man sich ja im Grunde
garnicht fügt.

Jesus auf Golgatha befindet sich nicht in einem Dämmerzustand, als er sich über den gähnenden
Abgrund irrsinniger Todesschmerzen hinüberwagt und einen Kampf kämpfen muß, der alles
Vorausgegangene wieder in Frage stellt.

Seine sieben Worte am Kreuz offenbaren seine starke Geistesklarheit. Er kann sie nur sprechen,
indem er seine Seele mit ungeheurer Kraft aus dem Schmerzensmeer herausholt und immer
wieder das Leben sammelt, das verrinnen will.

Die sieben Worte am Kreuz

1. Das erste Wort am Kreuz

Wir müssen uns ganz in das Geschehen des Karfreitags hineinbegeben, wenn wir die
»Herrlichkeit« Christi sehen wollen, um dann mit Johannes sagen zu kön nen: Wir sahen seine
Herrlichkeit. Herrlichkeit ist innere Schönheit. Es gibt keine innere Schönheit, die sich nicht nach
außen wunderbar ausdrückt. Denn Leben heißt sich offenbaren. Dies innere Leben schafft den
»Lebensstil«. und damit ist schon ein Wort gefallen, das in das Gebiet der Kunst hinüberweist.
Kunst aber ist ja: besondere Form und ewiger Inhalt. Man nehme diese Worte voll inhaltlich - und
man wird sofort dessen inne sein, daß damit gerade auch der - Karfreitag ganz einzigartig
charakterisiert ist. Oder wie eine andere Erklärung, geboren aus einer Künstlerseele, sagt: schön
ist, was echte Lebenstiefe in der ihr gemäßen Form, in der sie eindeutig anschaulich wird,
darstellt und versinnbildlicht!

Und hier am Kreuz wird die echteste und tiefste Lebenstiefe dargestellt und zugleich
versinnbildlicht, - so versinnbildlicht, daß es seitdem überhaupt kein anderes Sinnbild mehr für
diese Lebenstiefe gibt. Eine »gemäßere Form« kann es wohl nicht geben als dieses Kreuz und
dieses Sterben, das ganz eindeutig ewige göttliche Größe anschaulich macht.

Und ist unsere Seele zu kraftlos und klein, oder zu nüchtern und dem Karfreitag zu fremd, so
helfen uns die Golgathavisionen der großen Künstler Mantegna oder Dürer, El Greco oder
Veronese, Rembrandt und Rubens, um in lauter Unherrlichkeit Herrlichkeit und vor dem
Finsternishintergrunde das Licht aufleuchten zu sehen.

War's, als sie ihm die Nägel durch die Hände und Füße schlugen, - war's, als das Kreuz
emporgeschwungen war und damit die letzte Wegstrecke zum Tode begann und die Tat
unwiderruflich wurde? Die Evangelien sagen es nicht. Jedenfalls ist es Jesu soge nanntes
»erstes Wort am Kreuz«, das ihm da zuerst über die Lippen kommt und zu einem Weltwort
geworden ist; so göttlich ist es:

»Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«

Der Sohn bittet den Vater. Sein eigenes Herz hat längst gesprochen, er hat vergeben. Er weiß,
was er getan hat, als er in Gethsemane ihnen entgegenging. Er wußte auch, was der Vater tun
wird. Aber sie wissen nicht, was sie getan haben, wissen nicht, was sie tun, und glauben nicht,
daß ihr Tun zermalmend auf ihre Kinder fallen wird. Sie wissen darum nicht, daß der letzte
Kreuzigungshammerschlag zugleich Tempel und Volk in Trümmer schlug.

Unheilvolle Unwissenheit! Unbelehrbar, unbekehrbar! Und wenn einer vom Himmel kommt! Und
wenn einer den Vorhang von der Zukunft wegzieht! Und wenn alles, alles, Wort für Wort, eintrifft,
was aus dem Munde dessen kam, der das Siegel des Kreuzestodes unter seine Worte drückte, -
auch dann unbelehrbar!

Sie kreuzigen Jesus und kreuzigen in Wirklichkeit sich selbst! Wahrheit und Gerechtigkeit, »Licht
und Recht« predigen die orthodox-nationalen Pharisäer und die liberalen Opportunitätspolitiker,
die Hohenpriester, und als Wahrheit und Gerechtigkeit leibhaftig unter ihnen wandelt, sind Feuer
und Wasser »einig« und holen für diese Himmelsoffenbarung den Galgen. Die Sonne auslöschen
wollen! Welch ein Wahn! Nein, sie wissen wirklich nicht, was sie tun, wissen nicht, was sie Gott
antun! Denn daß hier Gott etwas angetan wird, darauf weist Jesu erstes Kreuzeswort. Von sich
sieht er ab. Was hier jetzt geschieht, geschieht im Reiche des Vaters. Die Wunden, die
Schmerzen da - sind keines einzelnen Menschen Wunden. Die Schmerzen durchzucken das
Herz des Vaters! Der sündige Mensch ist's, der diese Pfeile schleudert. Der, der Gott nicht
erreichen kann, - der da kalt sagen kann: »Wenn ich sündige, was tue ich dir damit, du
Menschenhüter?« - der erreicht jetzt Gott und trifft ihn ins Herz -, ob er weiß, was er tut, oder ob
er's nicht weiß, er trifft! Denn an nichts ist Gott selber mit seinem eigenen Sein und Leben so
beteiligt wie an dem, was da geschieht. Das zeigt das Kreuz heute noch und wird es zu allen
Zeiten zeigen. Das Kreuz sehen, heißt schon: sofort an Gott und an Tod denken müssen. Die
Gedanken fliehen und fliegen von dem zerschlagenen und zerstochenen Körper immer ins
Unendliche, ins Zeitlose, weil sich das am Kreuz gefesselte und gebundene Leben - längst dahin
erhoben hat, zu seinem Ursprung, zum Vater.

Es ist ein wirkliches Anliegen, dies erste Wort am Kreuz: »Vater, vergib ihnen!« - Leere Worte hat
Jesus nie gemacht. Er weiß also, daß die Vergebung von oben her aufgehalten wird, wenn er
nicht darum bittet. Er bittet wirklich und durchbricht damit die letzte Schranke. Es kommt darin
eine Liebe von der Erde zu Gott empor, wie kein Erdentag sie je gesehen hat oder je wieder
sehen wird. Die Menschheit sendet Gott das Göttlichste! Die Menschheit ist in dieser Stunde ER,
der Eine, der die Verantwortung für sie übernommen hat. In ihm wird die Menschheit zur
Offenbarungsstätte der Gottheit, und ins Reich des Vaters, ins Herz Gottes zuckt nicht nur
hinüber der Schmerz, sondern flutet hinüber die heiße Liebeswelle, die den Schmerz begräbt.
Der »Sohn« vollendet das letzte, daß er von Gott her die Menschen liebt und von den Menschen
her Gott liebt, beides unendlich und über alles Begreifen hinaus. Er bittet nicht umsonst.

»Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«

Schlicht und unfaßlich tief steht dieses Wort da. Unter Schmerzen geboren. Gott, Menschheit und
Ewigkeit umfassend und in die Tiefen Gottes hineinwirkend.

Seine Schlichtheit ist sein Adel. Seine Klarheit stammt aus der Meisterschaft dessen, der das
Wort Gottes der Menschheit verkündet hat.

Manch Verkannter hat sich dies Wort dem Wortlaut nach angeeignet, der über dem
Verkanntwerden die Liebe verlor und sich verbittert abwandte. In Jesu Munde ist das Wort auch
dem Inhalt nach gesichert, denn er steht hinter ihm, nein, er hängt und blutet hinter ihm und stirbt
dazu, und jeder Hauch sagt: Liebe.

II. Das zweite Wort am Kreuz.

Es steht dem ersten an Schönheit nicht nach. Aus einer Fülle des Schauens heraus ist es
gesprochen, daß es leuchtet wie reine Seligkeit: »Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im
Paradiese sein!«

Wie der Abendstern am Abendhimmel aufleuchtet, so schaut dieses Wort uns an. Es ist
Verklärung. Es ist ein Stück Himmel auf Erden. Und - um Jesus herum ist wirklich alles andere
als Himmel: ein Verbrecher zur Rechten und einer zur Linken! Sterben aber ist an sich alles
andere als Seligkeit. Der Tod ist nicht der große Bußprediger, der gleich ein Stück Jenseits
mitbringt. Der Schächer zur Linken zeigt's. Grausige Verworfenheit tritt zutage. Was sind für ihn
die Menschen und was ist er selber! Gewürm, das bis zum Ende Ekel erregt und daran noch
seine einzige Freude hat! So verspritzt sich das Gift seiner Seele und verhöhnt den Verhöhnten
und veranschaulicht damit eine unheimliche Solidarität - mit den Menschen da unter dem Kreuz,
den Männern der Kirche, des Staates und der Bildung, und ist - ihr Echo!

Der andere Schächer faßt ihn darum mit ihnen – mit einem vielsagenden »auch« - zusammen:
»Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott?« Denn das ist Gotteslästerung, daß er diesen da in
der Mitte verhöhnt; denn dem gehört ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. »Herr«, wendet er
sich an Jesus. So macht er sich gleich zu seinem Diener und veranschaulicht die
entgegengesetzte Solidarität. Er sieht in ihm den König, der über die Zukunft gebietet mit allen
ihren Räumen, und bittet - um ein »Gedenken«. Wie unaufdringlich, wie demütig! »Herr, gedenke
an mich, wenn du in dein Reich kommst!« Und Jesus sprach zu ihm:

»Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!«

Du mit mir! Da nimmt er des Schächers Angebot an und besiegelt die Solidarität, die über den
Tod hinausreicht bis an die ewigen Ufer, bis dahin, wo ganz andere Pfade weiterführen zu
Stätten, die die ewige Herrlichkeit ahnen lassen.

Mitten in der Verzerrung und Schändung alles Menschlichen - kann da noch diese Schönheit
erblühen? Ist das nicht »über unsere Kraft«, geht das nicht schlechthin über alle Menschenart
hinaus? Und ist es nicht doch das Bild des allein echten Menschentums, das nun endlich und
zum ersten Mal den ewigen Thron eingenommen hat und von da aus alle Geschlechter der
Menschen mahnend und erhebend, wahrhaft hinaufhebend und emporziehend - anschaut?

Das Leuchten des zweiten Wortes am Kreuze:

Es weist in die Unendlichkeit (Paradies) und es erfüllt diese Unendlichkeit mit Liebe und
Gemeinschaft (du mit mir), Austausch, Leben und Freude (Paradies), und zwar mit absoluter
Gewißheit! Denn der es sagt, ist selber die Gestalt gewordene Kraft Gottes, die Liebe. So ist
auch dies eine Wort nur eine Umschreibung der Liebe Gottes und ihrer wirklich existierenden
Welt, aus der sie ausstrahlt, so wie Sonnenstrahlen eben nur von einer wirklich vorhandenen
Sonne kommen.

III. Das dritte Wort am Kreuz.

Genau derselbe Klang ist in Jesu drittem Wort am Kreuz, der Klang der Liebe, die zum Leben eilt
und die in der Tiefe tröstet. Da unten steht ja die, durch deren Seele jetzt das Schwert geht, das
Simeon einst im Dunkel der Zukunft aufblitzen sah, und neben ihr der Jünger, der in Jesu Tiefen
vielleicht als einziger schon vor Ostern hinabgestiegen ist: Maria, seine Mutter, und Johannes,
der Jünger, den Jesus liebhatte. Aus der Nacht der Schmerzen öffnet sich das Jesusauge und
bleibt auf den zwei Gestalten haften, die unter seinem Kreuze stehen. Wie haben die beiden
diesen Blick empfunden! Diesen suchenden, verstehenden Blick, der zu ihnen spricht mit der
Sprache der Seele, ehe der zuckende Mund sich auftut! Sie leiden mit ihm, leidet mit ihnen. »Da
nun Jesus seine Mutter sah«, er zählt mit stummer Klage das Evangelium, »und den Jünger
dabeistehen, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: 'Weib, siehe, das ist dein Sohn!'
Danach spricht er zu dem Jünger: 'Siehe, das ist deine Mutter!' Und von der Stunde an nahm sie
der Jünger zu sich." – Zwei Schicksale werden so vom Kreuz aus miteinander vereint. Er, der
Einsame und Verlassene, fühlt ihre Verlassenheit. Maria wird ja am Abend die Mutter eines
Gehängten sein und dann die bitteren Vorwürfe ihrer anderen Kinder hören müssen, daß der
Familie nicht der Makel des Verbrechertodes erspart worden ist. Aber - von der Stunde an nahm
sie, die jetzt doppelt Witwe wird, der Jünger zu sich. - Mit dem Tode ringend, hat Jesus diese
Worte in ihrer klassischen, alles sagenden Kürze geprägt! Ein Heiligtum nach Inhalt und Form!
Hier könnte die Kunst einmal ihre Andacht halten und lernen.

IV. Das vierte Wort am Kreuz. (Absturz in die Tiefe.)

Dann verstummt sein Mund. Langsam verrinnen die Stunden. Unter dem Kreuz wird's still. An
den drei Kreuzen winden sich die Körper, denen langsam und qualvoll das Leben entflieht.

Der Stärkste der drei leidet am meisten und stirbt am schnellsten. Wie mancher war schon unter
den Geißelhieben der Soldaten vor der Hinrichtung gestorben! Jesus hat auf seinen blutig
gegeißelten Rücken noch das Kreuz nehmen müssen, und auf das Herz die ganze Welt mit ihrer
Sünde und Schuld, nachdem er die Nacht auch nicht einen Augenblick geruht hat. Von Verhör zu
Verhör geschleppt, ins Gesicht geschlagen, verhöhnt, verraten, verlassen, von Schmerzen
geschüttelt, sinkt er in eine Finsternis der Kreuzestod hinein, daß er ins Bodenlose zu stürzen
meint. Kreuze und Berge und Sonne umkreisen ihn in irrem Wirbel, bis plötzlich alles in Nacht
untergeht. Mitten am Tage, Donner rollen in der Tiefe heran, dröhnender und immer dröhnender,
bis mit berstendem Krachen ein Erdbeben alles schüttelt, daß die Felsen mit den Kreuzen
wanken und der Steinboden aufklafft. Aschfahl alle Gesichter, die vor kurzem noch lachten und
höhnten. Totenstille auf Golgatha. Entsetzt sind die geflohen, die die Neugier hergetrieben und
die Schadenfreude voll Genugtuung geschmeckt hatten. Müßten die Wachen nicht aushalten -
nichts hielte sie mehr unter diesen Kreuzen!

Wenn die Sonne der Welt stirbt, mag auch das Tageslicht erlöschen! Und der Vorhang im
Tempel zerriß mitten entzwei. Ein Aufruhr der Elemente, während der Tod Jesus von einer Tiefe
in die andere stürzt, in der ihn statt tröstender Engel die Fratzen der Sünden aller Menschen
umgeben. Wo ist da Jesus, der Prophet? Jesus, der Wundertäter? Jesus, der Bergprediger? Hier
ist der Mensch im Menschensohn vor seinem Ende und schreit in die Nacht

»Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen!«

Wer sein Leben verliert, nur der findet es, - das hat er einmal selber als oberstes und letztes
Lebensgesetz ausgesprochen. Dort am Kreuz dringt in das letzte Stück seines Menschseins das
Göttliche ein, gerade bei dem Tiefensturz des Gefühls der Gottverlassenheit. Seine letzte
Versuchung. Er besteht sie. Der Menschensohn klammert sich an Gott und läßt ihn nicht los. Und
da weiß er, daß nun alles vollbracht ist. Der neue Mensch ist geschaffen, dort am Kreuz. Der
Sieg kann ihm nicht mehr entrissen werden. Der neue Mensch, der die Vergebung für die neue
Menschheit errungen hat in diesem Neubeginn, wo Vergebung nie etwas anderes sein wird als
Ergebung: Vergebung des Vaters - Ergebung des Sünders. Völlige Waffenstreckung des alten
Menschen unter dem Kreuze! Sonst ist Vergebung Lüge. Denn die Liebe ist nur Liebe, wenn sie
das Böse haßt, so haßt, daß es tödlich an der Wurzel getroffen wird. Jetzt erst ist Jesus selber
»vollbracht«, wörtlich übersetzt: vollendet! Darum sagt die Schrift an dieser Stelle:

V. (Aus der Tiefe empor.)

»Danach, da Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, spricht
er: 'Mich dürstet.' – Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und
legten ihn um einen Isopschaft und hielten es ihm dar zum Munde.

Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er:

VI.

»Es ist vollbracht!«


VII.

»Und Jesus rief abermals laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!

Und er neigte sein Haupt und verschied.

Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, daß er mit solchem Schrei
verschied, sprach: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!«

Damit steht zum ersten Mal makellose Vollkommenheit auf Erden.

Ein Leben liegt vor dem Auge des Menschen, das in der Menschheit steht und doch abseits von
ihr, in der Mitte der Menschen und doch hoch über ihnen, den Menschen gleich und doch völlig
ungleich.

Und dies Leben steht nicht da als kalte Größe, sondern blutwarm und fast schon mit einem Fuße
in uns selber. Man vergißt so oft und viel zu sehr, daß es auch die Schönheit dieses Lebens ist,
die uns das Herz abgewinnt. Auch! Nicht allein und nicht zuerst, aber auch!

Man soll doch ja nicht vergessen, daß ein großes Leben immer Züge an sich hat, die ganz große
Kunst sind. Ein Großer ist auch immer in weitem Sinne ein Künstler, weil er sich nur groß äußern
kann. Also so, daß er nach Form und Inhalt die Umwelt überragt. Und das wird nie Eckigkeit und
Alltag sein, nie Flitter oder Geste. Nur darum kann die Kunst aus solchem Leben schöpfen.

Was aber am Karfreitag diese Erde betritt, das ist trotz der Scheußlichkeiten, mit denen die
Menschen das Menschsein entstellen - ja gerade aus diesem Grunde der Verzerrung - ein
Gottesbild, an dem nichts verzeichnet ist, ein Menschentum - mitten im Widergöttlichen - in lauter
Göttlichkeit getaucht. Da legt alle Heldenverehrung den Finger auf den Mund und verstummt.
Diese Größe hat kein Mensch erreicht. Da spürt die Kunst, daß hier letzte Kunst vor ihr steht, von
der sie wohl immer wieder neue und tiefste Anregungen und Inspirationen empfangen kann, die
sie aber nie erreichen wird. Dazu die Karfreitagssprache der Natur! Wer kann an den Karfreitag
denken, ohne des großen Grauens inne zu werden, das auch die Natur durchbebt! So wirkt alles
zusammen in geheimnisvoller Harmonie. Und ein geheimes Walten steht über diesem Mann der
Schmerzen, der vollendet ist und vollendet hat, daß die Schönheit, die ihn bis zum letzten Schrei
am Kreuz umgibt, nicht nach seinem Hauptneigen und Verscheiden geschändet oder entstellt
wird. Eine solche Belastung hätten wir als Finale des Karfreitags nicht ertragen.

Das Grab im Felsen - und die Kunst

Eine göttliche Fürsorge hat darüber gewaltet, daß unserer Erinnerung und Vorstellungswelt nicht
ein Grab auf dem Schindanger zugemutet wird. Das Kreuz über - das Kreuz hinausdauern zu
lassen - wäre zuviel gewesen.

Größe und Schönheit sollen ihm auch im Tode bleiben. Darum die Fügung, die Josef von
Arimathia zum Boten Gottes macht, der sein vornehmes Kammergrab in der Felswand seines
Gartens für Jesus, dem er heimlich angehörte, bereit hat. Er wagt sein Leben, als er um den
Leichnam des Herrn bittet. Er wagt Ruf und Ruhe, als er hingeht zu Pilatus und den geliebten
Toten von ihm erbittet. Grablegung Christi! Die Türplatte wird im Dunkeln bei Fackelschein aus
der Felswand herausgehoben, der tote Herr mit dem Schweißtuch um die blutige Stirn in der
Grabkammer niedergelegt und das Grab wird geschlossen.

Das Evangelium berichtet vielsagend noch mehr, wenn es in stummer Trauer den Hergang so
erzählt: »Dahin legten sie Jesus um des Rüsttages der Juden willen, dieweil das Grab nahe
war.«
Danach hatte also Josef von Arimathia noch eine ganz andere Ehrung im Sinne, vielleicht ein
stilles Felsengrab, beschattet von Zypressen in der Einsamkeit, wo die Trauer ihre ungestörte
Andacht halten konnte. Aber da die Zeit so drängt - mit der Abendstunde des Karfreitags beginnt
ja der Sabbat -, muß die Grablegung fast überstürzt vor sich gehen.
Doch - das Grab ist ja nahe. So bleibt uns ein Bild voller Frieden. »Bei Reichen erhält er sein
Grab«, weissagt Jesaja (53) von dem leidenden »Gottesknecht«. - Er, der im wahren Sinne wie
ein Reicher gestorben ist, der sich schwer vom Leben trennt; reich ist er, so reich, denn ihm
gehört eine Welt, für die er lebt und die von ihm leben wird! Gesehen - hat er nichts von ihr, als er
starb, nichts von seinem Besitz hat er erhalten, den er teuer erkauft hat. Jetzt empfängt er die
erste Gabe seiner Welt, eine Stätte, da er sein Haupt hinlegt und dies edle Haupt Ruhe hat.
Schönheit - so - auch jetzt! Der stille Garten, die ragenden Bäume darin, durch sie hindurch ein
Weg zur Grabestür von Stein, hinter der Jesus nun ruht! Das ist - nicht Alltag. Das ist - Kunst
Gottes.

Ein kurzer Weg von vierundzwanzig Stunden ist's, der Passionsweg - mit dem Präludium der
Tränen auf dem Ölberg. Ein einziger Tag, und bringt eine solche Fülle von Herrlichkeit, daß er
dem Meere gleicht, das nicht auszuschöpfen ist, Und ob sich alle Künstlerhände und -geister aller
Zeiten darum mühen. Wir sehen es ja mit eigenen Augen, wie diesem Jesus dabei alles vollendet
Schöne und unfaßlich Große wie von selber zufließt in Wort und Haltung und Gebärde, und wie
er den Weg ins schlechthin Widerliche des Sündenlandes zum Erschütternd-Erhabenen verklärt.
Bei jedem Schritt empfindet man es mit einem tiefen Wahrheitsempfinden, das Er in uns aufruft:
Hier ist nicht nur Kunst, hier ist die Kunst übertroffen, da sie ihrer Mühe entkleidet und zur
Selbstverständlichkeit geworden ist. -

So vorbereitet machen wir uns auf und folgen dem Meister in seine eigene »Werkstatt«, da er der
Welt bewußt und mit Absicht Kunstgaben schenkt.

Die Gleichnisse und Predigtworte

Die Gleichnisse – statt eines Vorwortes ein Wort des Malers van Gogh

»Er - Christus - hat unbeirrt als Künstler gelebt, ein größerer Künstler als irgendeiner; den
Marmor, den Ton und die Palette verachtend, denn er arbeitete in lebendigem Fleisch. Das heißt:
dieser unglaubliche Künstler, der für das grobe Instrument unseres modernen, nervösen und
zerrütteten Gehirns unbegreiflich ist, schuf weder Statuen noch Bilder, er schuf wirklich lebende
Menschen. Unsterbliche. Das ist etwas Ernstes, besonders weil es die Wahrheit ist. Dieser große
Künstler hat auch keine Bücher geschrieben. Unbedingt würde ihn die christliche Literatur im
ganzen empören. Denn wie selten sind in ihr literarische Produkte zu finden, die neben den
Evangelien des Lukas, den Episteln des Paulus, die so einfach in ihrer harten und kriegerischen
Form sind, Gnade finden würden. Aber wenn auch dieser große Künstler Christus es
verschmähte, Bücher über seine Ideen und Sensationen zu schreiben, so hat er sicherlich das
gesprochene Wort, hauptsächlich Gleichnis, nicht verachtet. Welche Kraft liegt in dem Sämann,
in der Ernte, in dem Feigenbaum! Und wer unter uns würde wagen zu sagen, daß er gelogen
hätte, als er mit Verachtung den Fall der römischen Bauwerke weissagte und dabei behauptete:
»Wenn selbst Himmel und Erde schwinden, so werden meine Worte nicht schwinden.«
Seine gesprochenen Worte, die er als »Grand Seigneur« nicht einmal für nötig hielt
aufzuschreiben, sind der höchste Gipfel, den je die Kunst erreicht hat; in solcher reinen Höhe
bekommt sie Schöpferkraft, erhabenste Schöpferkraft.«

Einführung

Ja, Jesus hat die Welt mit Kunstwerken beschenkt. Das ist es, was so wenige wissen. Und dabei
handelt es sich um Kunstschöpfungen, die weder Motten noch Rost noch der Geschmack
fressen. Sie sind von unvergänglicher Schönheit. Den Rahmen der Kunst scheinen sie geradezu
zu sprengen, weil sie so Ungeheures zum Gegenstande haben; führen sie uns doch in ein Land,
das nie eines Menschen Fuß betreten hat. Was kein Auge gesehen, - er macht es sichtbar. Was
kein Ohr gehört, was in keines Menschen Herz gekommen ist, er macht es hörbar und baut eine
Welt, seine Welt, herrlich inwendig auf, inwendig in uns. Nicht ein Nebelheer blasser Gedanken
hüllt uns ein, - sondern sonnengetränkte Fernen läßt er uns schauen und in lauter Leben und
wechselnder Buntheit einhergehen. Bilder zaubert er vor unsere Seele, wie sie kein Maler zu
malen vermag! Kunstwerke des Wortes, wie sie kein Dichter oder Denker je so ersonnen, je so
vor einem staunenden Geiste hat erstehen lassen.

Das sind seine Gleichnisse.

Aber hat denn die Welt nicht Überfluß an dieser Kunstgattung?

Das hat sie tatsächlich. Der Orient ist geradezu von ihnen überschwemmt. Je näher man Indien
kommt, um so höher steigt die Flut. »Orientalische Bildersprache« ist eine nur allzu bekannte
Wendung, die sogar sagen will, daß man vom Orient gar nichts anderes erwartet als blumige
Übertreibungen und duftige Märchenbilder. Und viele sind der Meinung, daß Jesu Gleichnisse ein
paar Blumen seien, die er da gepflückt hat, wo sie haufenweise zu haben sind. Aber gerade das
Gegenteil ist der Fall. Jesu Gleichnisse verhalten sich zu denen des Orients (und auch des
Okzidents!) wie das Matterhorn zu einer Steinpyramide, die sich die Kinder am Fuße des
Bergriesen aufgebaut haben. Man tut also gut, die Gleichniskunst der Welt selber zu fragen. Also:
»Orient! Tue deine Schätze auf!«

Daß wir dabei sehr ernüchtert werden, darf gleich vorweg bemerkt werden. Nein, das sind nicht
die Blumen, die sich Jesus borgen mußte. Gerade wenn es dich ermüdet und du im stillen sagst:
ach, das ist zu langweilig, mit dieser Indiendichtung mögen sich die Indologen abgeben, - gerade
dann mußt du weiterlesen. Nur dann sieht man zu seinem Staunen, daß ein Gleichniskunstwerk
weit schwerer zu gestalten ist als eine der uns geläufigen Dichtungen, schwerer als ein Porträt,
schwerer als eine Sonate! Wer sehen will, wie sich Jesu Kunst aus der Mühseligkeit
menschlicher Versuche heraushebt, der muß diese andere mühselige Kunst auch einmal wirklich
sinnend betrachten. Erst auf dem toten, dunklen Hintergrunde hebt sich das Leben als Leben ab.
Oft muß uns erst geringe oder Halb- oder Unkunst erschrecken, ehe wir ein Auge haben für das,
was wahre Kunst ist, Kunst, die - Gottes Finger angerührt hat.

Orientalische Gleichniskunst

Buddhas Gleichnis von der Kisagotami

Als eines der zartesten, schönsten und tiefsten Gleichnisse wird das Gleichnis Buddhas von der
Unerbittlichkeit des Todes gerühmt. Wahr ist, daß der Menschheit ganzer Jammer darin
aufschreit. Die Frauengestalt darin hat etwas Rührendes an sich. Aber daß das Herz dieser
Mutter schließlich eiskalt wird, und sie die Leiche ihres Söhnchens endlich, vom kalten Tode zur
Kälte bekehrt, einfach wie einen toten Hund, mit dem sie nichts, nichts, nichts mehr verbindet, in
den Wald wirft, - das nimmt dem Gleichnis den leisen Lichtschimmer, der erst noch darüber
schwebte. Dumpfe Trostlosigkeit umfängt uns. Also das soll des Lebens Sinn sein, daß man sich
vom Leben abwendet! Mit verzweifelter Entschlossenheit! Weg mit Mutterschaft, weg mit
Totentrauer, weg mit diesem Leben dieses Menschen in dieser Welt! Der Sinn des Lebens ist,
daß es keinen hat.

Aber lies es nun selber, das Buddhagleichnis.

Buddha 4 - Kisagotami
In Sravasti wurde in einer armen Familie ein Mädchen geboren, das den Namen Gotami erhielt.
Wegen seiner Magerkeit wurde es Kisa - Gotami genannt = die magere Gotami. Sie heiratete,
wurde aber von der Familie ihres Mannes schlecht behandelt, weil sie aus einem armen Hause
stammte. Als sie aber einen Sohn geboren hatte, kam sie zu Ehren. Der Knabe starb, als er eben
laufen konnte. Da sie selber den Tod nie gesehen hatte, wehrte sie den Leuten, die den Knaben
forttragen wollten, um ihn zu verbrennen. Mit dem Gedanken: »Ich will für meinen Sohn ein
Heilmittel erfragen, nahm sie den Leichnam auf ihren Schoß und wanderte von Haus zu Haus,
indem sie fragte: »Wißt ihr nicht ein Heilmittel für meinen Sohn?« Da sagten die Leute zu ihr:
»Hast du deinen Verstand verloren, o Tochter? Du wanderst umher, indem du ein Heilmittel für
deinen Sohn erfragst.« Sie aber sprach zu sich: »Solcher werde ich einen treffen, der ein
Heilmittel für meinen Sohn weiß.« Da sah sie ein kluger Mann. Er sprach zu ihr: »Ich, meine
Tochter, weiß kein Heilmittel, aber ich kenne einen, der ein Heilmittel weiß.« - »Wer weiß eins,
lieber Herr?« - »Der Meister, meine Tochter, weiß eins; gehe hin und frage ihn!« Mit den Worten:
»Ich will hingehen, lieber Herr«, ging sie zum Meister, grüßte ihn, stellte sich seitwärts von ihm
und fragte: »Weißt du ein Heilmittel für meinen Sohn, o Herr?« - »Ja, ich weiß eins.« - »Was für
eins soll ich nehmen?« - »Nimm eine Prise Senfkörner.« - »Ich will sie nehmen, o Herr; doch aus
welchem Hause soll ich sie holen?« - »Aus dem Hause, in dem weder ein Sohn noch eine
Tochter noch irgend jemand zuvor gestorben ist.« Sie sprach: »Gut, o Herr«, grüßte den Meister,
legte ihren toten Sohn auf ihren Schoß und ging in die Stadt. An der Tür des ersten Hauses bat
sie um Senfkörner, und als sie ihr gegeben wurden, fragte sie: »In diesem Hause ist doch wohl
weder - ein Sohn noch eine Tochter noch irgend jemand zuvor gestorben?« - »Was sagst du?
Der Lebenden sind wenig, aber der Toten sind viel.« Darauf wies sie die Senfkörner zurück und
wanderte von Haus zu Haus, ohne die gewünschten Senfkörner zu erhalten. Da dachte sie am
Abend: »Ach, es ist eine schwere Arbeit. Ich glaubte, nur mein Sohn sei tot; aber in der ganzen
Stadt sind die Toten zahlreicher als die Lebenden.« Als sie so dachte, wurde ihr aus Liebe zu
ihrem Sohne so weiches Herz hart. Sie warf ihren Sohn in den Wald, ging zum Meister, grüßte
ihn und stellte sich seitwärts von ihm. Und der Meister sprach zu ihr: »Hast du die Prise
Senfkörner bekommen?« - »Ich habe sie nicht bekommen, o Herr. In der ganzen Stadt sind die
Toten zahlreicher als die Lebenden.« Da sprach der Meister zu ihr: »Du meinst, nur dein Sohn
sei gestorben. Das ist das ewige Gesetz für die lebenden Wesen. Der König des Todes wirft ja,
wie ein reißender Strom, alle lebenden Wesen, ehe ihre Wünsche befriedigt sind, in das Meer
des Verderbens«, und sprach dann, das Gesetz lehrend, die Strophe: »Der Mann, der stolz ist
auf Kinder und Vieh, und dessen Geist am Irdischen hängt, den rafft der Tod hinweg, wie die Flut
ein schlafendes Dorf.« Nach Beendigung der Strophe erlangte Kisagotami die erste Stufe der
Heiligkeit. Sie wurde dann Nonne, und Strophen von ihr stehen in der Therigatha.

Viel Schnörkelwerk stört in diesem Gleichnis. Aber von Anfang an ist es dadurch mißlungen, daß
es von einer Scheinwirklichkeit ausgeht. Daß gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist, ist eine
Binsenwahrheit, die die törichtste Frau nicht erst dadurch erfährt, daß sie von Haus zu Haus geht
und um eine Prise Senfkörner bittet, die dann wirksam sein sollen, wenn sie aus einem Hause
stammen, aus dem noch nie ein Toter hinausgetragen worden ist. Rührend ist zwar die Mutter in
ihrer Unkenntnis des Todes, wie es im Anfang des Gleichnisses geschildert ist. Sie hält ihren
Sohn gar nicht für tot. Plötzlich sagt sie aber genau das Gegenteil: »Ich glaubte, nur mein Sohn
sei tot.« Die unwirkliche Annahme, die den Ausgangspunkt des Gleichnisses bildet, ja, um die
sich alles dreht, ist mit einemmal gänzlich aufgegeben, und die Mutter, die noch nie den Tod
gesehen hatte, hat plötzlich von Anfang an gewußt, daß ihr Sohn tot ist, nur nicht, daß auch in
andern Häusern der Tod ein- und ausgegangen ist. Der Schwerpunkt des Gleichnisses wandert.
Das Bild wird undeutlicher und undeutlicher, und die Prise Senfkörner, die hartnäckig im
Gedächtnis hängenbleibt wie die Klette am Kleidsaum, drängt sich nach vorn und macht eine
winzige Nebensache zur Hauptsache. Eine ganze Reihe von Nebenzügen, die gar nicht zur
Sache selber gehören, die gezeichnet werden soll, belastet die Geschichte, z. B. daß Kisogotami
mager war, daß sie aus armem Hause war und schlecht behandelt wurde, daß sie aber endlich
doch zu Ehren kam, ferner daß sie beim Meister auch die vorgeschriebene Stellung der Demtit
einnimmt, indem sie sich seitwärts stellt usw.

Eine sehr mühsame Kunst!


Dazu für Mühselige und Beladene eine Folter. Wer noch nicht völlig verzweifelt ist, wird hier
aufgefordert, es zu werden.

Der Durchschnittsmensch weiß wenig. Aber was in diesem Gleichnis steht, das weiß er. Das
braucht ihm nicht erst gesagt zu werden. Es führt ihn nicht auf einen Turm, von wo aus er eine
Aussicht hat, die er nie erschaut hat, die ihn Weiten sehen läßt, daß ihm selber weit ums Herz
wird. Es offenbart nichts. Es unterstreicht nur.

Es - ist kein Gleichnis. - Was ist denn ein Gleichnis?

Ein zweites indisches Gleichnis (Pantschatantra, 5. Buch, 15. Erzählung)

Dieses Gleichnis - so kann man die Geschichte getrost nennen - gehört zu der Unsumme von
ähnlichen Erzählungen, die in Indien umgingen und irgendeine Moral oder auch Unmoral
veranschaulichen sollten. Es genügt, dies Stückchen Literatur herauszugreifen, um damit gleich
alle anderen zu charakterisieren. Wer wird sie nicht verstehen! Sie sind ja so klar erzählt, daß die
ganze Handlung wie ein Münchener Bilderbogen wirkt. Aber auch wirklich nicht wesentlich
anders. Verblüfft aber wird man durch die »Moral der Geschichte«. Denn es handelt sich bei
dieser um eine derartige Belanglosigkeit, daß man enttäuscht seufzt: Um eine solche Nichtigkeit
braucht man nicht eine so langatmige Geschichte drum herum zu schreiben. »Du brauchst einen
Mitwanderer!« sagt das Gleichnis. Wie reizt diese Frage geradezu, einen Durchblick in
transzendente Zusammenhänge zu tun! Aber nicht einmal gestreift werden sie!

Der rettende Krebs

An einem gewissen Orte wohnte einst ein Brahmane, namens Brahmadatta (»von Brahma
gegeben«). Dieser machte sich eines Geschäftes wegen nach einem andern Dorf auf den Weg.
Seine Mutter sagte zu ihm: »Kind, warum gehst du allein? Suche doch irgendeinen zweiten, der
dir Gesellschaft auf dem Wege leiste.« Jener aber entgegnete: »Mutter, fürchte dich nicht! Dieser
Weg hat keine Gefahr! Drum will ich ihn, um das heilige Geschäft zu besorgen, heute allein
gehen.« - Als sie ihn darauf entschlossen sah, nahm die Mutter aus der Höhlung eines in der
Nähe befindlichen Brunnens einen Krebs und sprach zu ihrem Sohne: »Kind! Wenn du denn
unweigerlich gehen mußt, dann möge dieser Krebs dein Reisegefährte sein. Drum nimm ihn
sorglich und gehe!« - Er aber ergriff ihn aus Ehrfurcht vor seiner Mutter mit beiden Händen,
wickelte ihn in eine von Kampferblättern gemachte Tüte, legte ihn mitten in sein Gepäck und
machte sich schnell auf den Weg. Indem er nun wanderte, wurde er von der Sonnenhitze
gequält, ging deshalb zu einem Baum am Weg und schlief sorglos unter demselben ein.
Mittlerweile kam eine schwarze Schlange aus einer Höhle dieses Baumes und ging auf ihn los.
Da wurden aber die Sinne der schwarzen Schlange von dem Geruch des Kampfers angelockt,
sie ließ den Schlafenden unberührt, riß den Gepäckbeutel auf und fraß mit großer Begier die
Kampferblättertüte. Der Krebs aber, welchen sie ebenfalls verschlang, geriet ihr in die Kehle und
nahm der Schlange das Leben. Der Brahmane nun, als er sich ausgeschlafen hatte, und sich
umsieht, so ist da in seiner Nähe eine tote schwarze Schlange, der Gepäckbeutel zerrissen, die
Kampfertüte aufgefressen, und in der Nähe der Schlange der Krebs. Als er dies sah, dachte er:
»Ach! Meine Mutter hat mit Recht gesagt, daß man irgendeinen zweiten Reisegefährten nehmen,
nicht aber eine Reise allein machen soll. Weil ich mit gläubigem Sinn ihre Rede befolgt habe,
darum bin ich sogar durch einen Krebs vor dem Tod durch eine Schlange beschützt worden. Sagt
man ja doch mit Recht: ... Wie einer im Rat bei Wallfahrten, Priestern, Gott, Geschichtskundigen,
Lehrern sich aufführt, so gehen ihm seine Wege aus.« - Nachdem er so gesagt, ging er, wohin er
zu gehen beabsichtigte. Daher sage ich: Selbst ein geringer Mitwanderer verschafft Segen auf
dem Weg: Vor der Schlange beschützte einst ein Krebs den Wanderer als Genoß.
Ein drittes indisches Gleichnis

Und nun ein Gleichnis, wo der Mensch an der Tür anklopft, die ins Geheimnis führt! Aber die Tür
bleibt verschlossen, und das Anklopfen hat etwas Grausiges. Das Herz sehnt sich nach Ewigkeit
und erhält statt dessen das große Grauen »offenbart«. Es ist ein Stück aus der Bhagavadgita.
Arjuna, der Held, bittet seinen Freund Krishna um die Enthüllung des letzten göttlichen
Geheimnisses. Denn Krishna ist der höchste Gott selber in Menschengestalt. Kurz gesagt: Arjuna
will das, was der Herr dem reinen Herzens verheißen hat: Er will Gott schauen. Die ewige
Sehnsucht des Menschen! Nur wegen dieser Sehnsucht ist er »Mensch«. Und Krishna willfahrt
ihm, setzt ihm »ein göttliches Auge« ein, und - nun schaut er Gott!

Lies das nun! Lies, und erschauere auch du, wenn dir dieses Gleichnisbild von Gott gemalt wird.
Malerei innerhalb der Todeslinie! Innerhalb des Kreises, dessen Grenze das Ende aller Dinge ist.
Was Dante über der Tür der Hölle liest, steht hier über der Gottesgestalt: »Laßt jede Hoffnung,
wenn ihr eingetreten.«

Der Text ist gekürzt gegeben, weil das Lesen sonst zu ermüdend ist und das Bild zu
verschwommen wirkt.

Ja, ein Gleichnis! Ein Bild ist es.

Und zwar will es ein echtes Gleichnis sein und das sichtbar machen, was nun einmal das Auge
nicht sehen kann. Mit den Mitteln des sterblichen Menschen soll der unsterbliche Gott dem Auge
und Verstande erfaßbar dargestellt werden. Die Erde soll die Farben liefern zu dem Gottgemälde!

Das tut sie dann aber auch gründlich. Strich um Strich wird hingesetzt. Die rote Farbe wird
bevorzugt.

Und dann ist das Bild fertig. Und was steht da?

Ein Ungeheuer!

(Das uns aber sehr bekannt vorkommt! Wir müssen es schon irgendwo gesehen haben!)

Und jetzt lies und wundere dich nicht allzusehr über die Schwerfälligkeit der Darstellung. Hier will
eben ein Mensch das Unmögliche möglich machen, aus einem Spiegel, der gegen die Wand
steht, das lesen, - was hinter dem Spiegel ist.

Aus der Bhagavadgita. Elfter Gesang.

Arjuna sprach: »(O Erhabener!) Durch deine geheimnisvollen, über die höchste Seele
handelnden Worte, ... ist meine Verwirrung geschwunden. Über das Entstehen und Vergeben der
Wesen habe ich ja ausführlich von dir gehört... und auch über deine unvergängliche Größe... Nun
aber wünsche ich deine göttliche Gestalt zu schauen, o höchstes Wesen! Meinst du, daß diese
von mir geschaut werden kann, o mächtiger Herr der Wunderkraft, so zeige du mir dich selbst,
den Unvergänglichen!«

Der Erhabene sprach: »So erblicke denn meine Gestaltungen zu Hunderten und Tausenden, die
von verschiedenen Formen und Farben sind... Hier in meinem Leibe erblicke heute die ganze
Welt vereinigt... Aber du wirst nicht imstande sein, mich mit deinem eigenen Auge anzuschauen.
Ich gebe dir EIN GÖTTLICHES AUGE! Nun sieh meine göttliche Wunderkraft... «

Nachdem er so gesprochen hatte, zeigte er seine göttliche Gestalt mit vielen Mündern und
Augen... mit vielem himmlischen Schmuck, viele himmlische Waffen schwingend, himmlische
Kränze und Kleider tragend, mit himmlischen Wohlgerüchen und Salben ausgestattet, voll von
allen Wundern, ...mit Gesichtern in allen Richtungen. Wenn am Himmel der Glanz von tausend
Sonnen gleichzeitig hervorbräche, würde dieser ähnlich sein dem Glanz des Gewaltigen.

Da neigte sich Arjuna, ...das Haar gesträubt, mit dem Haupte vor dem Gott und sprach mit
zusammengelegten Händen: «Ich erblicke, o Gott, in deinem Leibe alle die Scharen der
verschiedenen Wesen, Brahman, den Herrn auf seinem Lotussitze, alle Wesen und die
himmlischen Schlangen, mit vielen Armen, Bäuchen, Mündern und Augen. Also erblickte ich dich,
dessen Gestalt von allen Seiten unbegrenzt ist. Kein Ende, keine Mitte, auch keinen Anfang
erblicke ich an dir, o allgewaltiger Herr des Alls. Ein Diadem, eine Keule und einen Diskus
tragend, - als eine nach allen Seiten hin strahlende Lichtmasse - so erblicke ich dich, den schwer
Anzuschauenden, ringsum wie flammendes Feuer und wie die Sonne Leuchtenden,
Unermeßlichen.

Du bist das unvergängliche, höchste zu Erkennende, du bist der erhabene Behälter dieses Alls,
du bist der ewige Behüter des Gesetzes; als das uranfängliche Wesen wirst du von mir
angesehen. Ohne Anfang, Mitte und Ende, von unendlicher Kraft, mit zahllosen Armen und mit
Sonne und Mond als Augen, so erblicke ich dich, mit einem Munde aus flammendem Feuer,
durch deine Glut dieses All erwärmend. Dieser Raum zwischen Himmel und Erde ist ja von dir
allein erfüllt. Bei dem Anblick dieser deiner wunderbaren und grausigen Gestalt sind die drei
Welten bestürzt, o Gewaltiger!...

Beim Anblick deiner mächtigen Gestalt, o Starkarmiger, mit den vielen Mündern, Augen, Armen,
Schenkeln, Füßen und den vielen Bäuchen, mit den vielen grausig starrenden Zähnen - sind die
Welten bestürzt und ich auch. Denn wo ich dich erschaue, den Himmel berührend, strahlend,
vielfarbig, mit geöffnetem Munde, mit strahlend großen Augen, finde ich, in der innersten Seele
erzitternd, weder Mut noch Ruhe. Und beim Anblick deiner von Zähnen grausig starrenden
Münder, die dem Feuer der Weltvernichtung gleichen, finde ich keine Zuflucht. Sei gnädig, ...du
Stütze der Welt. Und alle jene Söhne... samt den Scharen der Könige... zusammen mit den
vorzüglichsten von unseren Kriegern gehen in dich ein - in deine Münder eilig, die von Zähnen
grausig starren. Einige erscheinen, mit zermalmten Häuptern in den Spalten zwischen den
Zähnen hängend. Wie die vielen Wasserfluten zu Ströme zu dem Meere hineilen, so gehen jene
Helden der Menschenwelt in deine Feuerrachen ein. Wie Motten ins brennende Feuer fliegen zu
ihrem Untergange mit großer Eile, so gehen auch die Menschen zu ihrem Untergange mit großer
Eile in deine Rachen ein. Ringsum die Menschen allesamt verschlingend, beleckst du sie mit
deinen flammenden Mäulern...

Verkünde mir, wer bist du in dieser furchtbaren Gestalt! O erster der Götter, - sei gnädig! Zu
erkennen begehre ich dich, den Uranfänglichen; denn ich verstehe dein Tun nicht!«

Der ERHABENE sprach: »Ich bin der Tod, der die Vernichtung bringt, und bin gekommen, die
Menschen auszurotten!«

Klar und erschütternd stark wird hier die letzte Frage gestellt. Wohl dem, der sie stellt! Weh dem,
der dann nur das Echo seiner eigenen Stimme hört. Und hier ist es so. Nur Tod sieht der Mensch
um sich, vor sich, hinter sich. Also - echot er - ist Gott der Tod selber, der alles in sich, in seinen
gräßlichen Rachen zurückschlingt!

Ich bin der Tod, sagt Gott. Ich bin gekommen, die Menschen auszurotten!

Ich bin das Leben, sagt Christus. »Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge
haben sollen.«

Seltsamer Parallelismus!

Aber Christus sagt das nicht, nachdem er etwa ähnliche unendliche Definitionen vorausgeschickt
hat. Lies es in Johannes 10 selber nach, wie erhaben die Ruhe ist, die diesem Worte vorausgeht,
wie sonnig und klar die Worte, wie ewigkeitsdurchhaucht alles, was vorausgeht und folgt.
Und das ist - Kunst, erhabene Kunst.

Der Bhagavadgitatext ist ohne Zweifel auch Kunst. Denn ganz offenbar steht eine heiße
Leidenschaft hinter jedem Worte, die an alles andere als an trockene Beweisführung oder
Schablone denkt. Es liegt tatsächlich ein inneres Erschauen der ganzen Menschheitsnot vor. Der
unbekannte Gott, der diese Not hervorruft, wird als ganz nahe empfunden. Da verstummt die
Sprache des Alltags, da steht der Mensch wirklich vor Gott.

Gott ist! Das sagt der indische Beter hier. Da muß die Sprache schon anders werden, als wenn
gerechnet wird. Die Seele strömt über und gibt ihr Bestes her. Aber immer, wenn die Sprache
gerade emporgestiegen ist und von den Strahlen des Lichtreiches, dem sie sich nähert,
überglänzt wird, erlahmt sie wieder. An die Schwingen des Geistes hängt sich das Bleigewicht
des Todes, und es geht rasend abwärts ins Leere, ins Diesseits, ins Massengrab der Menschheit,
das dem Gott buchstäblich »in den Mund gelegt« wird. Das Widerlichste alter expressiv-surrealer
Höllendarstellungen reicht nicht heran an das ekelerregende Bild des Gottes, dem die zerkauten
Helden zwischen den Zähnen hängen. Absturz der Kunst in phantasielose Greuelszenenmalerei.

Und ein einheitliches Bild entsteht überhaupt nicht. Wie soll es auch! Wer von der Erde ist, der
redet von der Erde, auch wenn er Gott sagt.

Darum ist es eben kein Gleichnis.

Das allein ist ein Gleichnis, wo einer die Dinge dieser Welt zum Reden bringt, daß sie die Dinge
der ewigen Welt an sich und über sich aufleuchten lassen. Es muß einer den Punkt herausfinden,
wo selbst das Alltägliche, sagen wir ein Acker, der besät wird, - uns etwas von Vorgängen in der
unsichtbaren Welt erzählt, die in unserer eigenen Seele beginnt und in den Himmel hineinführt!
Es muß einer imstande sein, zu sagen, ich zeige euch hier etwas auf Erden mit ganz eigenen
besonderen Gesetzen in sich und seht: genauso ist eure unsichtbare Welt in euch, genau nach
denselben Gesetzen geht es in ihr zu, und alles endet in einer himmlischen Verwandlung, die ihr
getreues Abbild hat in einer irdischen Verwandlung, wie man sie alle Tage und, ohne ein großer
Geist zu sein, in der Natur sieht.

Das wird aber nur der sagen können, der die ewigen Dinge selber kennt, deren Abbild er uns in
der Natur und im Leben nachweist. Der da sagen könnte: wir reden, was wir wissen, und zeugen,
was wir gesehen und gehört haben.

»Zum Himmel fahren« mit offenbarenden Worten und Bildern, kann doch eben nur der, der
irgendwie von daher selber herniedergekommen ist.

Gleichnis und Altes Testament

Darum kann es uns nicht wundernehmen, daß auch im Alten Testament keine Gleichnisse sind.
Denn auch da gilt: wer von der Erde ist, der redet von der Erde. Dabei sind reiche Kunstschätze
in diesem ersten Teil des Buches der Bücher angehäuft, aber eben keine Gleichnisse. Kunst ist
schon das erste Blatt der Bibel: majestätisch, Ehrfurcht gebietend schreiten die Worte einher und
lassen eine Welt in uns erstehen. In bannender Rätselsprache wird der Menschheit ihr eigener
Ursprung aus Gott ins Wissen und Gewissen geschoben, doch bleibt dabei alles in einem
gewissen Dämmerlicht, als ob dadurch dargetan werden sollte, daß der eigentliche Tag der
Menschheit noch gar nicht begonnen habe. Ungeheuer ist die Sprachgewalt der Propheten, und
die Dichtungen der Psalmen sind vielfach vollendete, heilige Kunst. Aber das ganze Alte
Testament kümmert sich nicht um die Ewigkeit. Hier auf Erden verteilt Gott Glück und Unglück
schon nach der Würdigkeit. Die andere Welt, die ewige, ist für den Alten Bund ein -
Schattenreich, in dem Schemen aneinander vorbeihuschen, so daß es für den alttestamentlichen
Frommen feststeht, fragen zu dürfen: »Herr, wer wird dich im Schattenreich loben?«, und Hiskia
gibt nach seiner Gesundung die vielsagende Antwort: »Denn im Totenreiche lobt man dich nicht,
so rühmt dich der Tod nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Wahrheit. - Der
Tod kann nur unheimliche Daseinsverminderung bringen!

Allein der Hiob bricht durch diese Trostlosigkeit hindurch zu der Wahrheit: »Ich weiß, daß der
lebt, der mich erlöst, und als letzter (und einzig Bleibender) wird er über dem Staube sich
erheben. Und wenn diese meine Haut zerschlagen ist, werde ich ohne mein Fleisch Gott
schauen.« - Doch auch Hiob bringt trotz der zahllosen, wunderbar künstlerischen Vergleiche kein
Gleichnis. Er weiß auch nicht, wie das Leben aus Gott aussieht und welche Gesetze da
obwalten. Er kennt den »Schöpfer, der Lobgesänge schenkt in der Nacht«, als Schöpfer - und
willkürlichen Richter, und einmal als seinen Erlöser, der dem Leid ein Ende machen wird, aber
nicht als den Erlöser, der dem alten Menschen ein Ende macht. Denn den Menschen, d. h. die
unsichtbare Welt des Menschen mit ihren Gesetzen und ihrer Unerfülltheit, kennt Hiob nicht. Wie
sollen da Gleichnisse entstehen? Offenbarungen der anderen Welt? Er kennt sie ja nicht.

Ebensowenig bringen die Apokryphen Gleichnisse, obwohl sich schon der Schwerpunkt vom
Diesseits nach dem Jenseits zu verschieben beginnt, womit schon der Prophet Daniel begann,
als er visionär Zukünftiges schauen durfte, das das Schicksal der ganzen Welt umfaßte und im
Himmel endete.

Doch dieses erstmalige Sich-Umkehren nach der Ewigkeit langt nun einmal nicht hin, um die
Ewigkeit im Gewande der Zeit erkennbar zu machen, also ein echtes Gleichnis zu sagen. Wer
kein Gold hat, kann keins verschenken. –

Gleichnisspringflut!

(in der nachchristlichen Literatur Israels.)

Anders kann man die Fülle der Gleichnisse nicht nennen, die in der Literatur Israels nach
Christus emporschäumt. Aber es ist auch nicht viel mehr als ganz gewöhnlicher Schaum. Man
könnte beinahe von einer Gleichniskrankheit sprechen; in so verwirrender Massenhaftigkeit treten
sie auf. So salzlos wie diese Gleichnisse alle sind, mögen wohl die gewesen sein, mit denen die
Schriftgelehrten zur Zeit Jesu das Volk unterhielten und dem Volke das Beste vorenthielten. Es
folge hier ein solches. In ihm soll dargetan werden, daß die Ägypter bei dem Auszug der Kinder
Israel sehr schlecht gefahren sind. Der anonyme Verfasser läßt die Enttäuschung und Wut der
Ägypter in folgenden Überlegungen sich Luft machen:

Die Ägypter sagten: »Wenn wir bloß die Schläge erhalten hätten und die Israeliten nicht
fortgeschickt hätten, so wäre das schon genug gewesen. Oder wenn wir die Schläge erhalten
hätten und die Israeliten fortgeschickt hätten, aber sie hätten unser Geld nicht mitgenommen, so
wäre das für uns genug gewesen. Aber wir haben Schläge bekommen, wir haben sie
weggeschickt, und sie haben außerdem noch unser Geld mitgenommen. Wem gleicht die
Sache? Sie gleicht einem, der zu seinem Knechte sagte: 'Geh hinaus und hole mir einen Fisch
vom Markte.' Er ging hinaus und brachte ihm einen Fisch, der aber roch. Da sagte er zu ihm: 'Ich
bestimme: entweder ißt du den Fisch, oder du erhältst 100 Schläge, oder du gibst mir 100 Minen.
Da sagte der Knecht zu ihm: 'Sieh, ich will essen.' - Er begann zu essen. Aber er war nicht
imstande, zu Ende zu essen, sondern er sagte.- 'Sieh, ich will mich geißeln lassen!' Er erhielt
sechzig Geißelhiebe, aber er war nicht imstande, bis zu Ende auszuhalten, sondern er sagte:
'Sieh, ich will 100 Minen bezahlen.' So war also das Ergebnis: er aß den Fisch, erhielt die
Geißelhiebe und zahlte 100 Minen.«

Ist es noch nötig, dieses Gleichnis zu charakterisieren? Ein Kunstwerk ist es nicht. Die Phantasie
ist alles andere als beflügelt. Auch nicht eine einzige Idee, die das Höhere nur streifte, ist darin
enthalten. Dagegen ist mit Farben gearbeitet, die der Naturalismus gebrauchte, als er
Düngerhaufen und Unrat auf die Leinwand brachte. Das Gleichnis entspringt nicht dem starken
inneren Leben, das sich nach außen hin Bahn bricht, sondern es ist ein unerträglich mühsamer
Vergleich, den ein Schriftgelehrter zusammengeklaubt hat. Es ist nicht eine Kunstschöpfung, - es
ist geschneidert.

Vergebens sucht man nach einem Wink, der nach oben weist.

Ein zweites Gleichnis.

Rabbi Simeon, der Sohn des Eleanar, sagt: »Wenn die Kinder Noahs schon in den 7 Geboten,
die ihnen gegeben worden sind und die sie auf sich genommen haben, nicht bestehen konnten,
wieviel weniger würden sie bestehen in den Geboten des Gesetzes Moses!«

Ein Gleichnis: »Das ist wie mit einem Könige, der sich 2 Aufseher eingesetzt hatte, den einen
über den Vorrat an Stroh, den andern über den Vorrat an Silber und Gold. Der über das Stroh
eingesetzt war, geriet in Verdacht, und er murrte darüber, daß er nicht über den Vorrat an Silber
und Gold eingesetzt worden wäre. Da sagte zu ihm der, der über den Vorrat an Silber und Gold
eingesetzt war: 'Du Dummkopf! Bei dem Stroh hast du schon betrogen, wieviel mehr hättest du
das bei dem Silber und Gold getan! Lehrt nicht hier das Kleinere das Größere? Wenn die Kinder
Noahs nicht einmal in ihren 7 Geboten bestehen konnten, wie hätten sie in den 613 Geboten des
Moses bestehen können!'«

Nein, auch das ist kein Kunstwerk! Auch das ist geschneidert. Es atmet dieselbe Stickluft wie das
erste, ist ihm innerlich zwillingsartig ähnlich, obgleich es von einem ganz andern Verfasser ist.
Geistlosigkeit, Leblosigkeit, Selbstbewunderung, Schablone! Und kein Zug, der ins Unerkannte
weist! Nirgends ein Durchblick. Und wie nahe lag es hier, zu fragen, wie sieht es in der
Menschenseele aus, der Gottes Wille in den Weg tritt!

Nichts von alledem. Keine irgendwie versuchte Erklärung, warum jene vormosaischen Menschen
ihre 7 Gebote nicht halten konnten. Zum Tropf werden sie herabgewürdigt.

So aber sind sie alle, die vielen, vielen Gleichnisse.

Ohne Erkenntnis und ohne jedes Sehnen nach wahrer Erkenntnis!

»Weh euch Schriftgelehrten«, sagt der Herr, »denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis
weggenommen. Ihr kommt nicht hinein (ins Reich Gottes) und wehrt denen, die hineinwollen.«

Hier hat Jesus keine Anleihen gemacht. Konnte er keine machen. Gewiß ist diese Form der
Gleichnisrede in Israel zu seiner Zeit umgegangen, wie zur Zeit Rembrandts die Bilder der
Schützengilden Mode waren. Aber was hat Rembrandt davon übriggelassen?! Den Rahmen,
sonst nichts.

Man kann die Probe machen, wenn man den Saal im Rijksmuseum in Amsterdam betritt, wo
Rembrandts »Nachtwache« steht und an den Wänden die so genau und brav gemalten
Schützengildebilder hängen, diese großen Pracht- und Prunkdarstellungen des Bürgerstolzes. Du
brauchst nur einzutreten und das Auge auf Rembrandts großes Gemälde zu richten, das quer im
Raume - wie das Altarbild in einem Heiligtum - vor den Sesseln steht, auf die man sich zur
Betrachtung der Kunstwerke niederläßt; du siehst ja dann nur noch Rembrandts Vision: das
faszinierende Helldunkel mit dem magischen Lichteinbruch. Die schwebenden Farben, das
sprühende Gelb, die auf dich zuschreitenden zwei Streitbaren, das mystische durchsichtige
Tiefdunkel des fliehenden Hintergrundes ... die Zeit vergeht... du siehst nach der Uhr. Der
»Augenblick« des An schauens hat eine Stunde gedauert. Du warst entrückt. Die andern
Gildebilder streift dann kaum noch ein halber Blick. Sie tun dem Auge (der Seele) förmlich weh
nach dem Rembrandt-Erlebnis! Sie haben nur den Rahmen mit dem Rembrandtbilde gemein.
So ist es mit jenen leeren Gleichnissen der Schriftgelehrten und den Gleichnissen Jesu.

Jesus kriecht nicht in eine Schablone, sondern der Schmetterling entledigt sich des Sarges, der
Puppe, schwebt frei ohne Erdenschwere über der Erde, und das Licht und die Weite ist sein
Element.

Die Gleichnisse Jesu

Im folgenden betrachten wir die 30 Kunstwerke Jesu, die uns als Gleichnisse bekannt und zum
Teil geläufig sind. Es gilt, ihre Besonderheit vor aller anderen Kunst und vor Versuchen, die
äußerlich ähnlicher Art sind, aufzuzeigen. Keins soll übergangen werden, dazu sind sie zu
wertvoll und zu einzigartig. Natürlich können wir nicht dabei stehenbleiben, etwa die Kunst Jesu
nach ihrer technischen Seite hin zu untersuchen und die Mittel aufzuzeigen, deren er sich bedient
hat. In Kunstwerke muß man sich versenken.

Vor Rembrandts Radierung der Auferweckung des Lazarus kann man freilich auch so stehen,
daß man überwältigt von dem Spiel des Lichtes nach den Kontrasten schaut und zugleich die
Gruppen der Menschen nach Aufbau und Eingliederung stark empfindet. Man kann vergleichen
und untersuchen, wie sich das von allen andern durch eine unerklärliche Unmittelbarkeit
unterscheidet. Aber das reicht doch nicht entfernt!

Was hat er sagen wollen? Das fragt man gespannt und ergriffen zugleich, nicht bloß: Wie hat er
einen Gegenstand behandelt? Dann fängt das Bild an zu reden! Da steigen ewige
Zusammenhänge auf, die in uns geknüpft, vom inspirierten Maler selber geknüpft werden. Es
steigt die Welt des Glaubens auf. Der Eine, der Unvergleichliche, wird durch die Kunst mit dem
Geheimnis der Einmaligkeit und göttlichen Herrlichkeit umwoben ohne die Konditorware des
Barockgepränges, ohne die billige klassische Linie. So muß man vor Jesu Kunstwerken, der
selber die Seele jener ist und ohne den sie nicht wären, in langer Versunkenheit Kunstandacht
halten und sie sagen lassen, was sie offenbaren. Sie offenbaren Kunst und mit Kunst das
schlechthin Verborgene.

Es gibt Gemälde, die sind um ein Profil, um einen Baum herum gemalt. Das Eine in der Mitte ist
dann im Grunde alles. Denn was außerdem auf dem Bilde ist, ist nur Füllsel, Dekoration.

Bei Jesu Gleichnissen aber handelt es sich nie um eine schöne Einzellehre, die in das bunte,
unterhaltsame Vielerlei eines Gleichnisses kostümiert wäre, so daß uns dann die Aufgabe bliebe,
diesen Prozeß nach rückwärts zu drehen und die Pointe herauszuwickeln, sie herauszunehmen,
hochzuheben, daß sie alle sehen können, und dann zu sagen: Seht, das hat er sagen wollen, um
diese Münze hat er das viele Papier gewickelt.

Wo Jesus das Verborgene enthüllt, enthüllt er es nicht ratenweise. Denn es ist immer ein Stück
Leben, das er uns vermittelt und miterleben läßt. Leben aber ist Zusammenhang. Ist
Zusammenhang von Zusammenhängen mit feiner Verästelung, einem Gewebe vergleichbar, das
erst dann das Muster ergibt, wenn kreuz und quer Fäden um Fäden geschlungen, Farben um
Farben gesetzt, Konturen gezogen, Flächen bestimmt und Licht und Schatten abgewogen sind.

Diese Zusammenhänge in den Gleichnissen Jesu zu entdecken, ist unsere Aufgabe und ist ein
unendlicher Genuß. Gerade sie sind es, die die Gleichnisse Jesu schier unergründlich machen.
Aber man muß dabei immer von dem Gegebenen ausgehen und nur das Gegebene mit seiner
Allseitigkeit reden lassen. Wenn Jesus z. B. das Wort Knecht = Sklave fallen läßt, so gehört zu
diesem einen einzigen Worte ein ungeheures Lebensgebiet mit ganz bestimmten
Lebensbedingungen, Stimmungen, Bindungen und Möglichkeiten; eine ganze Welt rückt so
Jesus mit einem Wort vor unsere Seele, eine Welt, die einen großen, unlösbaren
Zusammenhang bedeutet. Darauf kommt es so sehr an, daß man das von vornherein mit in die
Betrachtung der Gleichnisse hineinnimmt. -

Wer aber an Offenbarungen herangeht, der geht als Mensch an sie heran! Mit Fragen! Mit
Bedrängnissen! Er fragt: wozu bin ich da? Was soll ich in dieser Wie ist meine Seele geartet?
Was für rätselhafte Kräfte be wegen sie? Was braucht die Seele? Handelt Gott an uns? Kümmert
er sich um uns? Was tut Gott? Ist alles Naturablauf oder verantwortliches Tun? Woher die
Ohnmacht des Menschen? Das Wachstum des inneren Menschen, ist es freiwillig oder
unfreiwillig? Wo hört unser Können auf? Wo fängt es an?
Ich kenne die Warums meiner Seele so wenig wie ihre Gefahren. Wo ist die Stelle, wo man den
einen entscheidenden Schritt tut? Denn das hat man »im Gefühl«, daß er getan sein muß. Was
wird aus der Menschheit? Wohin steuert sie eigentlich oder wohin wird sie gesteuert?
Das ist das Verborgene, und die Frage klopft an eine Tür, die kein irdischer Schlüssel öffnet.
Unter dem Sich-Versenken in die Gleichnisse Jesu aber erfährt man, wie die Tür sich unmerklich
leise öffnet, während wir noch vom Anschauen des Bildes, das Jesu Kunst von der Erde nahm,
eingenommen sind.

Das Ungeheure . . . Das Überlebensgroße

(Matthäus 18, 21-35)

Das gilt es!

Das Ungeheure, das über alle unsere Alltagsmaße hinausragt wie der Kölner Dom über die
Dächer der Stadt...

Das Unmögliche, dem kein Zollstock des Verstandes beikommt...

Die Ahnung von dem Schrankenlosen des ewigen Lebens und der ewigen Beziehungen, die
schon heute das Hier und Dort überleiten sollen und deren Ausmaße man nicht wahrhaben will,
um nicht erschauern zu müssen und um gemächlich unter der Glasglocke weiterleben zu
können ... :

Dies Ungeheure bringt Jesus in einer Reihe von Gleichnissen, wenn nicht in allen. Er vermag das
eben. Das ist seine Kunst, daß das Ungeheure, das Überirdische wie durch einen durchsichtigen
Schleier hindurchscheint.

Aber ahnt das ein Mensch, daß in seinem eigenen kleinen Eintagsfliegendasein das Ungeheure
da ist? Daß Dinge da sind, hervorgezaubert durch ihn, den Menschen, für die es auch kein Maß
mehr gibt? Dinge, in denen die Entscheidung getroffen wird über das Endlose, Ewige? - Dinge, in
denen vor die Kette der Ewigkeiten das Vorzeichen des Lebens oder das Vorzeichen des
Sterbens und des Doch-nicht-sterben-Könnens gesetzt wird?

Dann nehme man Jesu Kunstwerk Matthäus 18, 21-35 vor und bestaune da die Meisterhand, wie
sie wie im Spiel das Unendliche sich selber darstellen läßt!

Das Alleralltäglichste muß dabei herhalten, nämlich daß einer dem andern etwas schuldig ist.
Schuldner und Gläubiger - die Hälfte der Menschheit ist entweder das eine oder das andere.

Aber in diese Alltäglichkeit steckt Jesus das Ungeheure, das der Tage des Menschenlebens
spottet: eine Schuld, so groß, daß sie kein Mensch je abarbeiten könnte, ob er auch seine Hände
blutig risse bei der Fron. Millionen auf Millionen getürmt sind es. Werde zehnfacher oder
hundertfacher Millionär! Mit nichts! Und zwar müssen die Millionen bis morgen beschafft sein!
Und bezahle, zahle! Verwandle dich aus dem Bettler zum Krösus! 10.000 Pfund Gold fehlen! Das
wären heute zehnmal soviel oder noch mehr, mehr als eine Viertelmilliarde!
So groß ist deine Schuld!

Morgen ist sie fällig!

Nein, du kannst sie nicht bezahlen, wirst sie nie, nie bezahlen können, und doch verlangt es der,
dem du sie schuldig bist. Er kann's verlangen. Ohne Erbarmen. Denn du hast ihn betrogen, um
das Seine gebracht, und hast es vertan!

Damit wächst nun auch der Herr des Schuldners ins Riesengroße, ins Unendliche. Was muß das
für ein Herr sein, in dessen Wirtschaft eine Million nach der andern verschwinden kann, ohne daß
die Kasse es spürt! Und dieser Herr ist wirklich Herr und hat Macht, mit dem Leben seiner
Untertanen zu schalten, wie er will.

Er hat abgerechnet. Er verlangt nur das Seine, mehr nicht. Keine Sonderleistungen verlangt er,
keine herausgewirtschafteten Überschüsse, keine Erbohrung von Goldadern. Der Betrüger aber
kann statt der hundert Säcke voll Edelmetall nur die leere Hand vorweisen.

Die Katastrophe ist da.

Ein Wink des Königs - und schon hat alles Glück ein Ende. Her mit dem, was da ist. Her auch mit
den Menschen, her mit der Familie samt ihrem Oberhaupte! Alles, was er mit dem gestohlenen
Gelde gekauft und gebaut hat, wird mit denen, die es genossen haben, zum Verkauftwerden
verurteilt. Die Steinlawine der Untreue stürzt den Abhang hinab und reißt die Unschuldigen mit in
die Tiefe. Alle Schuld tut das! Wer kann da Einhalt tun?!

Eine Kopfbewegung des Königs - und alles ist zu Ende, aber auch wirklich alles!

So rückt Jesus ein verborgenes Gesetz unseres Daseins ins helle Licht des Tages! Wir kommen
nicht mehr daran vorbei. Der »Künstler« hat es wie ein Bildwerk hingestellt: das Geheimnis, daß
der Mensch etwas Ungeheures ansammelt, was er in alle Ewigkeit nicht tilgen kann, gerade das
»Etwas«, was Diesseits und Jenseits bestimmt. Die Tage unseres Lebens verrinnen, unbemerkt,
einer nach dem andern, und plötzlich ist der Berg von Schuld da, der bis in den Himmel ragt, -
den keine Menschenhand von der Stelle rücken, keine Treue, keine Reue abarbeiten kann. Er
bleibt.

So ganz nebenbei versteht es sich dabei so ganz von selber (ohne daß eine Verknotung von
Zusammenhängen wie in Dramen und Romanen vorgenommen wird), warum dieses Geheimnis
grenzenloser Verschuldung ins Menschenleben hineinkommt: Ein Herr und König hat uns in
seine Pflicht genommen und kann über uns in wirklicher Königsherrschaft unumschränkt
verfügen und will es auch. Diesem König gehören wir. Darüber wird gar kein Wort weiter verloren,
kein psychologischer Beweis gesponnen, und jeder versteht sofort mit Verstand und Gewissen,
was gemeint ist: unser ganzes Leben besteht einfach darin, diesem Herrn zu dienen.

Mit unnachahmbarer Leichtigkeit läßt hier also Jesus die Grundmelodie des ganzen
Christentums, seine Sinngebung des ganzen Menschendaseins erklären, und zwar in einer so
durchsichtigen Klarheit, daß die Seele mit einem tiefen Wohlgefallen darauf antwortet. Diesem
Herrn dienen!

Ein Dienen eigener Art in schrankenloser Freiheit mit unendlichen Verfügungsrechten.

Aber die Abrechnung kommt! Mit der Majestät und Herrlichkeit göttlicher Rede sagt Jesus das
alles in der erhaben kurzen Fassung:

»Das Himmelreich (das Sein, wo es sich um den Himmel handelt, um Gott und um mich und
mein Leben) ... das Himmelreich ist gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen
wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm 10. 000 Pfund schuldig. Da
er's nun nicht hatte zu bezahlen, ließ der Herr verkaufen: ihn und sein Weib und seine Kinder und
alles, was er hatte, - und BEZAHLEN!«

Da steht es. Und ließe Jesus da das Gleichnis enden, so endete das Leben. Und gerade das läßt
uns Jesus spüren! Ein Meistergriff - und ohne alles Pathos ist eine Steigerung vor unser inneres
Schauen hingestellt, daß es danach nur noch eins gibt: Absturz in das Gegenteil von dem, was
Leben ist: schuftende Hoffnungslosigkeit ohne Ende!

Ja, das sind in der Tat Ungeheuerlichkeiten.

Nein, das Ungeheure ist nicht »aus dem Leben gegriffen«. Das ist aber gerade die Kunst, daß es
dabei so natürlich und aus dem Leben gegriffen erscheint. Es ist das Unendliche in endlicher,
natürlicher Hülle.

Das Unmeßbare aber schreitet nun weiter durch das Gleichnis.

Mit einemmal steht eine Gnade vor uns, die - noch riesenhafter ist als die untilgbare Schuld des
Knechtes. So vernichtend die Abrechnung ist, so absolut ist darin die Vernichtung dieser
Abrechnung. Gnade ohne Maß! Das hohe Lied des Evangeliums, das Herz Jesu selber, der
Urgrund Gottes, um des willen die »Zeit erfüllet war«. Eine Gnade, die unbegreiflich ist in ihren
Gründen und unfaßbar in ihrer Grenzenlosigkeit. Jesus überläßt es der Gleichniskunst, uns zu
zwingen zu dem Bekenntnis: Eine solche Gnadentat hat, solange die Welt steht, nicht
ihresgleichen! Alle Könige und Herren der Erde sind zusammen zu arm, um es diesem Herrn
nachtun zu können.

Und jetzt kommt, im Zusammenhange mit dem Gnadenakt des Königs, das Erschütterndste: ein
Gemälde des Menschen, der vor seiner Vernichtung steht, ein Seelengemälde, wie es mit so
wenig charakteristischen Konturen noch kein Künstler gemalt hat.

Der »Knecht« (der über Haufen Goldes, über ungeheure Reichtümer Vollmacht hatte) wirft sich
auf die Knie vor seinem Herrn und bettelt um Frist (!) und gelobt das Unmögliche, von dem er
selber weiß, daß es ein leeres Wort ist: »Herr, habe Geduld mit mir! Alles, alles zahle ich bei
Heller und Pfennig zurück. (Aber laß mich nicht in diese Hölle stürzen, zu der du mich mit Weib
und Kind verdammst! O meine Schmach, mein Unglück! Das ist schlimmer als der Tod). Schieb
auf das Gräßliche! Ich will dir's alles bezahlen!« Noch ohnmächtiger erscheint er durch dies Wort,
das der Herr in eine furchtbare Beleuchtung rückt, als derselbe Weheschrei aus anderem Munde
kommt und da nicht eine Unmöglichkeit bedeutet, als der Mitknecht um einer geringeren
Groschensumme willen vor dem Großbetrüger auf die Knie fällt und - keine Frist erhält. Um so
hohler klingt es in seinem Munde, gerade weil es so blutig ernstgemeint ist. Trotz und kalter Hohn
hätten ihm wohl gelegen, aber das geht nur bis zu einer gewissen Grenze, und über die hat ihn
sein Unglück längst hinübergedrängt. Hier steht der arme Schächer vor uns, der in unserer Seele
wohnt und um sein Leben bettelt und dabei immer noch auf bessere Zeiten hofft. Ein Nichts -
krümmt er sich auf der Erde. Schmerz und Angst um die Seinen haben ihm den Rest gegeben. In
seiner ganzen Verdorbenheit ist er offenbar geworden - vor sich, seinem Herrn und den andern.
Zerknirscht gelobt er alles. O die Gelübde der Verzweiflung! Wie verstiegen sind sie, wie ehrlich
gemeint, wie echt - und doch wie unecht! Jesus malt das mit den wenigen Strichen: Hinknien,
bitten, das Unmögliche versprechen, und dann nachher einen andern kalten Herzens für eine
Lappalie vergebens auf Knien flehen lassen!

Und diesem wertlosen Haufen Jammer und Verworfenheit schenkt der König (aller Könige)
Gehör! Der König hat Mitleid! Aber nicht tropfenweise kommt's, sondern als ein Meer! Er ließ ihn
los! Ist das nicht genug? Er schenkt ihm die Freiheit! Die Freiheit! Ist das nicht schon eins der
höchsten Güter? Die eigene - und die der Seinen?

Freiheit mit der Möglichkeit, wenigstens einen Teil der Schuld abzutragen in lebenslänglichem
Dienst? - Natürlich nach Rückgabe des Veruntreuten, womit er sich sein Haus gebaut hat, soweit
es noch dasteht und da ist.

Gar nicht natürlich!

Dieser König zeigt übermenschliche Unnatur. Er läßt dem Knecht sein Marmorhaus, seinen
Garten, seine Juwelen - alles - alles - und - die ganze Schuld - Millionen um Millionen - löscht er
aus.

Sie ist gar nicht da. Sie ist sowenig da, als ob sie nie dagewesen wäre. Der Betrug ist nicht mehr
da, der Diebstahl auch nicht mehr. Das Gericht ist nicht mehr da. Nichts ist! Nichts ist zwischen
dem Knecht und dem König!

Bedingungslose Freiheit!

Der König leistet völlig Verzicht - auf das, was war.

Verzicht auf die Vergangenheit, verzichtet auf einen Ausgleich aus der Hand des Menschen. Der,
der diesen Ausgleich leistet, ist der König aller Könige selber. Unfaßbar - und das ganze
Evangelium! Male einmal diese »radikale Gnade« mit wenigen Worten, plastisch,
unmißverständlich! Wer vermag's! Der vermag's, der der Ausgleich alles Unausgleichbaren ist,
Jesus:

»Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: 'Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir's
alles bezahlen.' Da jammerte den Herrn desselbigen Knechts, und er ließ ihn los, und die Schuld
erließ er ihm auch!«

Wahrlich, atemberaubende Größe! Welche Blicke in ewige Weiten dürfen wir da tun!

Aber plötzlich wandelt sich das Bild. Verwandelt sich in - sein Gegenteil... als sähen wir die ganze
Sonne in ihrer unvorstellbaren Größe greifbar nahe vor uns und in der Kürze eines Augenblicks in
einem dunklen Meer verzischen, erlöschen, für immer verschwinden.

Dies Gleichnis macht es uns wie kein anderes erschütternd klar, daß in einem Punkte alles auf
den Menschen ankommt. Leben und Tod ist da in seine Hand gegeben, er, er allein verfügt da
über Licht und Finsternis, Himmel und Hölle, er, der Mensch, die Eintagsfliege! Es ist, als ob das
Weltall auf einer Nadelspitze balanciert, und diese Nadelspitze ist - des Menschen Herz. Das
Weltall ewiger Bestimmung, ewigen Lebens eines ewigen Wesens, das also eben doch keine
Eintagsfliege ist. Auf den Menschen kommt es an bei dem, was der Herr, sein König (der Mensch
hat nur einen) beschließen wird, nachdem bei dem Gnadenakte gar nichts auf ihn angekommen
war. Denn Gnade will etwas, Gnade sagt nicht, was sie will. Gnade wartet auf ein leises Echo mit
göttlichem Widerklang, und wo das ausbleibt, bleibt das Leben selber aus, um des willen allein
Gnade Gnade war.

Darum hält der König in dem Gleichnis Jesu sein Wort nicht. Hätte er denn doch wenigstens
vorher seine Bedingungen gestellt! Warum hat er nicht »Anweisungen für ein neues Leben«
gegeben? So aber hat er dem eben mit Gnaden Überhäuften den Weg in neues, viel
schrecklicheres Unglück offengelassen und ihn mit keiner Silbe gewarnt. Reut ihn sein
Gnadenakt? Stellt er gar dem Beschenkten eine Falle? Ist es am Ende das Spiel eines Tyrannen,
der je nach Laune verschwenderisch beschenkt oder zur Galeere verurteilt? Zuerst stürzt er den
Ertappten in die Hölle, darin holt er ihn in den Himmel, um ihn dann wieder in die Hölle zu
stürzen, aber dahin, wo nie gekannte Schrecken ihn nie wieder loslassen? In einen Abgrund, aus
dem in alle Ewigkeiten kein Kletterweg herausführt? Und gäbe es wenigstens einen
todumdrohten Pfad, an schwindelnden Abhängen vorbei, zum Lichte hinauf, so wäre doch
wenigstens noch Hoffnung. Aber darüber läßt Jesus in dem Gleichnis keinen Zweifel, daß bei
diesem Sturze auch nicht ein Sandkörnlein Hoffnung mehr für den Verstoßenen vorhanden ist.
Ewige Nacht!
Und warum das alles?

Weil der König nur Wesen mit königlicher Gesinnung neben sich duldet, nur solche haben will.

Kann er das verlangen?

Welche Frage, nachdem er eben gezeigt hat, daß er die Liebe ohne Grenzen selber ist. Liebe ist
Liebe, weil sie das Böse haßt. Denn Liebe will Leben und nicht Vernichtung. (Wo eine Mutter an
ihrem Kinde das Böse mitliebt, geht sie eine Verschwörung mit dem Tode ein.) Wozu tauchte der
König aller Könige eine Seele in lauter Erfahrung von lauter Seligkeit und streckt ihr noch dazu
alle Mittel zu ununterbrochener Seligkeit in verschwenderischer Fülle vor? Wozu läßt er ein Herz
einmal alle Tiefen und Höhen des Glücks bis zur unvorstellbaren Unmeßbarkeit auskosten?

Weil ihm auf dies Herz alles ankommt!

Und der Mensch bringt es fertig, aus der unendlichen Welt unendlicher Liebe, mitten aus ewiger
Beglückung, aus der Erfahrung überwältigender, ewiger Errettung mit einem Schritt
herauszutreten in die kalte Welt der Gier nach ein paar Groschen, wo die Menschenseele in
emsiger Grausamkeit und Verhärtung über Leichen geht (wie ruhte dabei das Auge Jesu auf
Judas!) und unerbittlich richtet und das fordert, was er ausstehen hat.

Die »königliche Gesinnung« bringt er nicht auf. Gott ist die Liebe, der Mensch das Gericht, und
dieser hat dabei sogar den Buchstaben noch für sich.

Und die Gnade des Königs hat ihm tatsächlich noch die Wege zu seiner Unmenschlichkeit
geebnet! Ohne sie konnte er nicht frei herumlaufen und seine Freiheit mißbrauchen! Ohne sie
konnte er nicht Peiniger und Bedränger spielen.

In welche Engen treibt uns da das Gleichnis! Mit welch einfachen Mitteln wird hier das
Verborgenste ans Licht gebracht, das Geheimste der Menschenseele, die als Bodensatz immer
Vernichtungswillen mit sich her umträgt, auch wenn sie noch so begnadigt worden ist! Das ist
nicht nur ein unheimliches Wissen um das Letzte, sondern die ganze Darstellung ist eine
packende Kunstleistung, die auf dem geraden Wege der Überwältigung durch Anschauung
unsere Seele von der Bahn des Todes herunterreißt.

Ja, ja, der König nimmt sein Wort zurück. Er nimmt seine Gnade zurück. Und verhängt eine
Strafe ohne Ende und ohne Unterbrechung. Ein Ungewitter der Schrecken entlädt sich über den
Sünder ohne Aufhören.

Denn der Herr ward zornig. Gerade weil er die Liebe ist, einzig und allein darum! Für
Lieblosigkeit, Unversöhnlichkeit und Richtgeist hat der König keinen Platz in seinem Reich. Wer
seine moralischen Rechnungen unnachsichtig eintreibt und die fünfte Bitte aus dem Vaterunser
gestrichen hat, trotzdem er mit Gnade überströmt wurde, der leidet an unheilbarem höllischem
Aussatz, in dem er sich noch forsch und schön findet, und wird dahin gebracht, wo er die
zugehörige Umwelt vorfindet.

Weh dem Kalten!

Wie war ihm heiß geworden, wie zerschmolz sein Herz im Gericht angesichts des Ungeheuren
seiner Schuld, die er für alle Zeiten hätte tragen müssen! Wie zerfloß sein Herz in Seligkeit, als
es die Gnade wie eine Glut empfand, die alle Not in Asche verwandelte und das ganze Leben
und Wesen durchleuchtete. O dies Ungeheure! Für alle Zeiten blieb er es dem König schuldig
und durfte es. Aber das Stückchen Blech, das ihm ein anderer »Mitknecht« schuldet (in
Wirklichkeit aber nicht schuldet, denn es war ausgeliehen aus dem gestohlenen Gut!), dieses
Winzige ist ihm nicht aus dem Gedächtnis entschwunden. Die Temperatur seines Innern fällt bei
dem bloßen Gedanken daran unter den Eispunkt.

Wie können Fromme verachten!

Wie können Gesegnete hassen! Wie können Beschenkte neiden! Wie können ins Leben
Zurückgerufene auf Lebensansprüche pochen, die andere ihnen schuldig geblieben sind, als sie
schon in selbstverschuldeter Agonie lagen!

Bekenner, »die sich des Evangeliums Jesu Christi nicht schämen«, aber sich erst recht nicht
Schämen, um das Stückchen Blech ein furchtbares »Schuldig« zu sprechen!

Was allein könnte gegen solche Verstockung helfen, zumal man in ihr auch noch - wie man sich
einbildet - »seines Glaubens gewiß« sein kann?

Eine Szenenfolge, die den Fluß der Vergangenheit und die Katastrophe des Menschen malt in
ihren ungeheuren Ausmaßen und die die Rettung ebenso als das Ungeheure erkennen läßt, das
ist sie, und die den Geretteten in der Schmach seines alten Fluches unbekümmert herumwaten
läßt, daß man darüber aufs tiefste und bebend vor Zorn erschrickt, - um dann zu sehen, daß der
andere, über den man so erschrickt, in uns selber schlummert, unsere eigenen Züge trägt und
nur aufs Aufwachen wartet. Jesus vermag diese künstlerische Aufgabe zu lösen. Er löst sie mit
wenigen Strichen, und das ist gerade das Kunstvolle, daß diese wenigen Striche nicht den
Eindruck einer Skizze machen, sondern eines Vollkommenen, in dem man nicht müde wird, sich
umzuschauen, um immer neue Herrlichkeiten zu entdecken. So also sieht der aus, der in uns
schlummert, der Vernichter und Selbstvernichter:

»Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm -- 100 Groschen
schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: 'Bezahle mir, was du mir schuldig bist!'
Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: 'Hab Geduld mit mir, ich will dir's alles
bezahlen!' Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis dass er bezahlt,
was er schuldig war.«

Da steht das Bild vor uns. Lebendig. Bild und Drama zugleich. Es ist das Drama: Mensch wider
Mensch und damit - wider Gott. Mit einem einzigen Strich zeichnet Jesus das Zweiseelentum:
Derselbe Knecht, sagt er nur, und damit läßt er einen Widerspruch aufgellen im Wesen auch und
gerade des Begnadeten, wie er schärfer nicht gezeichnet werden kann. Derselbe ist es, der eben
unendliche, unmeßbare Gnade erfahren hat!

Derselbe! Wir brauchen es nur zu hören, und schon melden wir leidenschaftlich unsere
Forderungen an, die wir an ihn stellen. Jesus zieht uns so in die Handlung als Mitspieler und
Teilnehmer hinein und läßt uns fragen: Was wird er jetzt tun? Zu was dürfen wir uns verpflichtet
und gedrungen fühlen?

Plötzlich sind wir alle - königlicher Gesinnung! Und dann - träumen wir? Das sind ja dieselben
Worte wie vorher! Eigentlich müssten sie doch dem Verderber einen Schlag auf's Herz geben!
Wir stehen unter dem lähmenden Eindruck, daß hier alle Rollen unheilvoll vertauscht sind. Wir
selber fordern ein rücksichtsloses Eingreifen. Und sieh - da treten wir schon selber auf:

»Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie betrübt und kamen und brachten vor ihren
Herrn alles, was sich begeben hatte.«

Und nun schreitet die Entwicklung wie von selber weiter. Die Szene wird zum Tribunal, und um
der Wahrheit und Gerechtigkeit willen verlangen wir geradezu den »Wortbruch« des Königs.
Damit das Königswort bleibt, was es ist, durch und durch wahr und gerecht und Zeugnis der
einen Forderung Gottes an uns, der Liebesforderung, muß er - es zurücknehmen.

Das ist wahre Kunst: den Zuschauer zum Mitspieler zu machen. Jesus vollbringt's und damit ist
er allen Theoretisierens enthoben, denn wir sind nun schon Partei und denken mit dem Herzen,
ohne Wenn und Aber, ohne »freilich« und »jedoch«. Wir sind Partei, leidenschaftliche Partei
geworden - gegen uns selber! Und das alles ohne jeden Trick, ohne jede Künstelei oder
Verrenkung der Situation. Ja, das ist Kunst!

Denn Partei sind wir geworden - gegen den, der in uns selber schlummert, den immer wieder in
uns auferstehenden Richter und Vernichter des - anderen. Da ergreift dann der König --- unsere
Partei!

»Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: 'Du Schalksknecht! Alle diese Schuld habe
ich dir erlassen, derweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen
Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?' Und sein Herr ward zornig und überantwortete
ihn den Peinigern, bis dass er bezahlte, was er schuldig war.«

Haben wir recht gehört? Bis daß er bezahlte alles, was er schuldig war, Kunst Jesu? Im
Nebensatz - ein Ungeheures! Wie beiläufig, nebensächlich, selbstverständlich hingeworfen: bis er
bezahlte! Wann wird dieses »bis« einmal eintreten? Rechne es dir aus, deutet Jesus an, du
kennst ja die Summe! Das klingt etwa so, als wenn uns einer sagte, jemand sei dazu verurteilt, zu
schreiben, bis er die Bücher der Erde abgeschrieben habe. Schon beim Gedanken daran entsinkt
uns die Feder. Nein, hier hört jedes irdische Zeitmaß auf, und jenes »bis« erhält das Vorzeichen:
unendlich.

In 12 Sätzen ein unfaßbar großes Kunstwerk.

Vor uns hin tritt der Mensch, und der ganz andere, der er nicht ist, Gott, und der gar nicht andere,
der Mitmensch, ohne den er doch nicht leben kann und den er so schlecht behandelt!

Vor uns tritt die Menschenseele mit ihren Widersprüchen, ihrer Not, ihrer Schuld, ihrer Ohnmacht,
ihrer Sehnsucht nach Liebe und Gnade, ihrer Lieblosigkeit, mit ihrer Macht, ein ewiges Schicksal
zu bestimmen, Gold in Müll zu verwandeln.

Vor uns steht der über alle Begriffe reiche Gott, der die Liebe ist und darum unvereinbar ist für
alle Ewigkeit mit denen, die die Kälte zu ihrem Lebensprinzip gemacht haben und danach
handeln und Gottes Welt verschandeln.

Nichts ist Willkür, alles Notwendigkeit, trotz der unverdienten Gnade. Gerade diese ist ein Teil
des Liebesgesetzes Gottes, das auch und allein unser Lebensgesetz ist, sie ist ein Teil des
Wesens Gottes selber, dahin notwendig, und doch wieder nicht unabänderlich.

So macht es Jesus. Er stellt uns mitten in lauter wirkliches Leben hinein, alles erleben wir
gleichsam als Mitspieler hier unten auf der Erde mit, und während wir noch mitten in der
Handlung drinstecken, haben wir unmerklich die Alltagswirklichkeit, Erde und Zeit samt ihren
üblichen Zwergmaßstäben verlassen und gehen zwischen greifbaren Unendlichkeiten einher,
sind hineingelangt in die andere Welt, ins Wesen der Dinge, ans Herz Gottes. Darum alles
überlebensgroß, größer als dies Leben, »das eine Handbreit ist vor dir«.

Überlebensgroß und doch natürlich!

Überlebensgroß und doch schön und harmonisch.

Überlebensgroß und darum wahr, erschütternd wahr.

Denn so, nur so, sieht man die wahren, sonst unmeßbaren Unterschiede, die eigene Größe, die
eigene Verantwortung.

Gemalt in ein paar Bildern. - Kunst Jesu.


Das Geheimnis aller Geheimnisse

Auch dem Kinde sichtbar gemacht

Das wäre freilich eine Kunst, vor der alle Künstler die Waffen strecken müßten! Und - sie müssen
es. Denn es ist geschehen, und seitdem steht diese Kunst einzig und unerreichbar da.

Es handelt sich um nichts weniger als um das gänzlich Ungreifbare, das schlechthin Unsichtbare.
Wer will das greifbar machen, sichtbar?

Wir wissen alle, was unser Glaube ist. Christentum heißt doch dies: Gott kommt zum Menschen,
und die Tragik dieser Liebe wird in der Frage vernehmlich: Kommt der Mensch auch zu ihm?

Was bringt der Mensch denn für diese Begegnung mit?

Nur seinen Todeszustand! Aber kann ein Toter dem Leben begegnen?

Wie ist das alles unergründlich!

Dann muß also Gott von neuem anfangen zu schaffen und den Toten anrühren und ihn mit
Leben durchpulsen, und der Tote, den Gott doch auch einst geschaffen hat, bringt gar nichts
mehr mit?

Was aber brachten denn die mit, die Jesus folgten und ihn liebten? Was war das für ein Tod, von
dem umfangen Nathanael unter dem Feigenbaum saß, dem nichtssagenden Abbild seines
Volkes?

Es waren doch nicht wandelnde geistliche Leichen, die Johannes den Täufer verstanden und die
mit leuchtenden Augen dann Jesus umstanden und nicht mehr losließen!

Nein, sagt der, der uns nun psychologisch aufklären und in Gang bringen will. Nein, sondern der
von Gott geschaffene Mensch trägt schon in sich keimhaft alles Göttliche. Es muß nur dafür
gesorgt werden, daß es sich entfaltet. Gibt es etwas Herrlicheres als Geist und geistiges Leben?
Wie strahlt das auf in den Großen! (auch in den Kleinen und ganz Kleinen? Nein?) Und dem
Menschengeiste erschließt sich kraft seiner göttlichen Art alles. Gott braucht wahrhaftig nicht zu
kommen. Der Mensch ist autonom, selbstherrlich stark und kraft einer unauslöschlichen
Sehnsucht zum Himmelsfluge von sich aus fähig.

Er braucht keine Offenbarung, keine Erlösung, er trägt alles Gute und Wahre und Schöne in sich
und wartet nur noch auf eine Stufe höchster Vollendung, die aus seinem eigenen Wesen
heranwachsen wird.

Und der Weltkrieg mit seinem Vernichtungswahn, den der autonome Mensch verbrochen hat und
nicht beendigen will, weil ihm vor der unauslöschlichen Sehnsucht zum Himmelfluge die noch
unauslöschlichere Sehnsucht nach dem Gold und nach der Macht steht? Was ist nun Wahrheit?
Wo liegt hier der Irrwahn?

Der erste sagt: Hier ist nur ein Leichenfeld, die erste Schöpfung hat sich mitsamt der göttlichen
Abstammung des Menschen totgelaufen. Der andere sagt: Genau das Gegenteil ist richtig: die
Göttlichkeit des Menschen ergibt unvorstellbare Ausblicke in die Zukunft und in die Entwicklung
des Menschengeschlechtes.

Zwischen diesen beiden Polen schwankt die Seele immer wieder hin und her, wenn und weil ihr
aus sich selber die Klarheit darüber fehlt. Solche Klarheit aber - wie kann sie anders erstehen, als
wenn das Unsichtbare sichtbar gemacht wird!

Jesus macht es sichtbar.

In einem unvergleichlich schönen Bilde, das gleich das Herz gefangennimmt und das Auge, das
schauen will, lauter Bekanntes schauen läßt, worauf es oft lie bend geruht hat. Ganz Bekanntes!
1000mal Geschautes.

Es ist das Gleichnis vom Sämann (Matthäus 13, Lukas 8, Markus 4). Und in welch einer Kirche
wird es gesagt!

Die Gemeinde sitzt am terrassenförmig aufsteigenden Ufer des blauen Sees, das Schweigen der
Berge umgibt sie, die Matten grünen und leuchten von den zahllosen Blumen, von denen uns die
Palästinawanderer erzählen, und dort in der Bucht vor der »Gemeinde« liegt ein Schifflein vor
Anker, und auf dem hohen Verdeck sitzt Jesus, das Antlitz den Erwartungsvollen zu gewandt,
jedem Auge sichtbar, und »er predigte ihnen lange durch Gleichnisse«!

»Siehe, es ging ein Säemann aus, zu säen seinen Samen. Und indem er säete, fiel etliches an
den Weg, und ward zertreten, und die Vögel unter dem Himmel kamen und fraßen es auf.
Etliches fiel in das Steinige, wo es nicht viel Erde hatte, und ging bald auf darum, daß es nicht
tiefe Erde hatte. Als aber die Sonne brannte, verwelkte es, und dieweil es nicht Wurzel hatte,
ward es dürre. Und etliches fiel mitten unter die Dornen, und die Dornen wuchsen mit auf und
erstickten es. Und etliches fiel auf ein gutes Land, und es ging auf, und trug Frucht! Etliches
hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig. Da er das sagte, rief er: 'WER OHREN
HAT ZU HÖREN, DER HÖRE!'«

Ja, das kann auch ein Kind erzählen und verstehen und sich daraus selber verstehen. »Ein
Kindlein wandelt spielend darin, - ein Mann versinkt mit Geist und Sinn in seinen Wundertiefen.«

Zuerst aber begegnet uns das Trauliche, der Zauber der Natur, dem wir uns gern ausliefern. Der
Sämann, der Acker, die Saat, die Sonne und auch das Unkraut gehören dazu, und dann die
dicken Ähren - wie liebt auch der Mensch in der Steineinöde der Stadt diesen Anblick (kraft einer
Veranlagung, daß sie den Schöpfer suchen sollten, ob sie ihn vielleicht fühlen und finden
möchten!).

Immer wieder schaut man das liebe Bild an.

Aber was ist denn das? Je länger man es anschaut, um so größer wird es. Wächst, wächst über
die ganze Welt, und nachher ist statt der Welt und der Menschheit nur noch dieser Acker da.

Machte das der Ruf, der plötzlich so ganz anders klingt als das so leicht und licht Gesagte: Wer
Ohren hat zu hören, der höre? Auch der. Aber noch etwas anderes. Das leichte, lichte Wort ist
mit einer jenseitigen Feierlichkeit angetan. Der Rhythmus ist alles andere als der der
sogenannten Lebenslust und ungetrübten Heiterkeit. Es entspricht vielmehr dem langsamen
Wogen des grenzenlosen Meeres, das plötzlich in der Brandung anfängt zu brausen: »Wer bist
du, o Mensch? Hörst du nur mit dem Hörsinn? Hörst du nicht mit der lauschenden Seele aus den
Klängen mehr als Klang?«

Meister Schütz hat die Gnadenstunde erlebt, wo ihm das Gleichnis Jesu zu überwältigender
Ewigkeitsoffenbarung wurde. Wer einmal seine Akkorde: Wer Ohren hat zu hören, der höre!, die
periodisch in der Vertonung des Gleichnisses wiederkehren, gehört hat, der vergißt nicht, wie sie
ihm Mark und Bein durchdrangen und ein ganz anderes HÖREN des Gleichnisses erschlossen.
Dieses Tonwerk müßte geradeso wie die Matthäuspassion zum lebendigen Dauerbesitz der
Kirche werden.

Da liegt das Feld, die Welt. Weit, weit dehnt sie sich. Und ist tot. Kein Leben ist in ihr. Kein Leben
kommt aus ihr, kein Halm, der Frucht bringt, der Wert hat, der zu gebrauchen ist. Kein Leben -
nur ein Daliegen und ein Warten ist's, was da Acker heißt. Wer erlöst diese tote Erde? Soll sie
ewig so liegen? Ja, wenn nicht einer kommt, der das Leben auf sie streut, ist sie nichts. Sie ist
tot, die Erde, aber sie wartet. Das ist ein anderer Tod, als das Erloschensein. Das ist ein Tod, der
eine Seele hat und seinen Tod fühlt!

Seine Seele kann hungern und dürsten, aber daran kann sie endgültig sterben, denn sie hat
nichts für diesen ihren Hunger in sich selber, sonst würde sie ja nicht hungern. Dieser Tod ist wie
die Todesstarre des Wassers, wenn es zu Eis gefroren ist und nun erstarrt steht, hat sein Wesen
verloren, kann nicht fließen, kann nicht heimwärts zum Meere eilen. Es wartet auf die Sonne, die
allein es retten kann.

Tote Erde!

Wehe, wenn sie sich einbildet, daß sie aus ihren sehnsüchtigen Gedanken das Leben selber
ableiten kann!

Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Ach nein, der Tod der Erde wird auf die Dauer zu offenkundig, als daß einer meinen könnte, sie
würde demnächst selber zum Schöpfer werden und aus sich, aus richtig zusammengefügten
toten Erdklümpchen einen Keim erzeugen, der dann unaufhaltsam weiterwächst.

Der Tod hat nicht das Leben geboren. Das sagt uns hier Jesus.

Und darum wird uns der Sämann eine Figur, die immer größer hinaufwächst bis an den Himmel,
bis es überhaupt keinen andern Sämann in unserer Vorstellung gibt als diesen einen, der allein
das Leben bringt und es als die Saat, die er »ausging zu säen«, auf den ganzen Acker streut,
daß auch nicht eine Stelle vergessen wird.

Das Leben fällt in den Tod, und der Tod wird lebendig. Erde empfängt und vermählt sich der
Saat. Nun ist sie erlöst und kann erst das sein, wozu sie da ist.

Das Geheimnis aller Geheimnisse wird hier von Jesus spielend entschleiert und anschaulich
überzeugend gemacht. Das Geheimnis, daß Gott zum Menschen kommen muß, wenn überhaupt
Leben erstehen soll. Ewiges Leben aus ewigem Leben, und der Mensch, der auf Gott wartet und
kein ewiges Leben in sich hat, ist trotz seines Herzens, das den furchtbaren Hang zur Ver-
nichtung des Gotteslebens in sich trägt (das Steinige, der Weg, die Dornen!) - er ist fähig, Gottes
Offenbarungssaat in sich aufzunehmen. Nichts hat der Mensch! Aber daß er dies sein
Nichtshaben, das Bewußtsein seines Todes fühlen kann und muß, das drängt ihn an die
äußerste Grenze seiner Nichtigkeit, wo er auf etwas ganz, ganz anderes wartet, als was ihn
schmerzvoll umtreibt. Was es ist, vermag er nicht einmal zu träumen. Aber daß da etwas
kommen wird, das schreit jeder Tropfen seines Blutes. Das sagen Jesus die Augen, die da vom
Gestade zu seiner Schiffskanzel emporschauen: wir warten, wir warten wie Tote auf unsere
Auferstehung. Es muß etwas kommen. Und deine Worte haben den so eigenen Klang, daß sie
uns bannen und fesseln und satt machen und - in eine unbekannte Welt versetzen, gerade weil
du es uns mit ganz bekannten Bildern sagst. Und dann kommt die Enthüllung: »Er kam in sein
Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf«.

Leben von oben, aber tausendfach - erstickt von unten!

Da kommt die zweite Enthüllung, die so weh tut und so wahr ist. Das Herz des Menschen ist auf
nichts anderes angelegt als darauf, daß Gott sich ihm selber mitteilt. Also auf die tiefste
Gemeinschaft, wo Gott sein ganzes Wollen, Lieben und Denken, ja, sein lebendiges Wesen
selber der Menschheit zuströmt, wo Gott uns selber persönlich anredet und dies uns anredende
Wort in Fleisch und Blut kleidet. Welch eine Saat!
Und wieviel verdorrende, umsonst gesäte Saat!

So daß es oft aussieht, als siegte der Tod über das Leben!

Woher der Riß, der durch das Feld, durch die Welt geht?

Dies auf Gott angelegte Menschenherz ist selber schuld daran. Der Künstler bringt es fertig, uns
durch seine Bilder davon zu überzeugen, daß es möglich ist, daß - die beste Erde nichts taugen
kann. Was für ein Widerspruch! Jesus löst ihn. Er malt mit scharfen Konturen und realistischen
Farben.

Wie kann bester Boden unempfänglich für gute Saat sein?

Er ist zum - Wege geworden, da man erlaubt hat, daß alle Welt über diesen Weg hinzieht. Wer
die Menschheit in diesem Sinne liebt, kann Gott nicht lieben, da unter den Tritten der Menschen
alles steinhart wird. Ein solches »weltoffenes« Herz ist das, was Menschen lieben, und wer wollte
von Menschen nicht geliebt, bei ihnen nicht beliebt sein? Die Gottesgedanken, die Gott
hineinstreute, sterben unter den achtlosen Sohlen derer, die den Weg benutzen. Und was noch
unzertreten daliegt, tragen die leichtsinnigen, losen Gedanken lustig hinweg, daß auch nichts
mehr bleibt! Welch bewegtes Leben, und doch - welch ein Tod! Das Beste ist
zueinandergekommen, und es ist, als ob Abgründe dazwischen liegen, zwischen Gott und
Mensch! Dabei berühren sich Gotteswelt und Menschenwelt so dicht, daß kaum ein Blatt Papier
dazwischengeschoben werden kann, und dieses dichte Aneinander führt zu - nichts! Kann das
ein anderer so vollendet darstellen wie Jesus? Dieses Geheimste, Undarstellbare wird unter
seinen Händen zu einem unvergeßlichen Bild, das wir noch dazu selber in unserem Herzen
aufhängen müssen, getrieben durch den Zwang, den dieses Bild auf unser Gewissen ausübt.

Und noch härter als der Weg ist das Feld da, wo unter dem besten Boden Steine sind. Ein
Grünen beginnt auf dieser Fläche, wo von unten her die Steine, die die Sonnenwärme
aufspeichern und zurückstrahlen, am Wachstum mitwirken, daß diese Ecke fast als die beste
Stelle des Feldes erscheint, denn im Wachstum sind da die Halme allen andern voraus. Aber
Glut können sie nicht aushalten, diese Glühenden, Begeisterten. Ja, wie gern läßt sich das
Menschenherz immer wieder von etwas anregen. Und ein so Begeisterter kann sich oft selbst
nicht erklären, wo plötzlich seine Begeisterung geblieben ist. Begeisterung war sein Kitzel, der
ihn über die Langeweile seines leeren Lebens ohne Gott hinbringen sollte. O, wie gern nimmt
man auch zu diesem Zweck religiöse Anregungen entgegen! Gerade Religion hat so etwas
Süßes, Träumerisches an sich. Da gibt es ein Schwelgen in Gefühlen, daß man wie im Traume
einhergehen kann. So ergriffen war man ja noch nie. Tränen der Seligkeit und des Glücks
wischte man sich verstohlen aus den Augen. Gab es denn etwas anderes, was besser war? Muß
sich nicht die Seele für eine so gewaltige Bewegung, wie sie das eigene Wesen durchbebt hat,
mit aller Kraft der Überzeugung einsetzen?

Und eines Tages ist alles vorbei. Die Glut der Prüfung und das Feuer der Läuterung bringen alles
zum Welken. Glaube als Romantik, ja! Aber nicht als etwas, wofür man sein Leben läßt oder eine
gutbezahlte Stelle aufgibt! »Mein Gott«, heißt es dann so auf Gott bezogen, »es gibt ja noch
andere Anregungen wie nun gerade diese, an denen doch vieles eben nur Gefühl und Einbildung
ist, und als Mensch in dieser Welt muß ich doch erst einmal hier festen Boden unter den Füßen
haben.« Mit Nachdenken und Beobachten allein ist dieses wetterwendische Wesen in der
Menschheit nicht zu beschreiben, auch nicht durch exaktes Wissen über die Seelenvorgänge
allein, nein, dazu gehört das innere Schauen des Künstlers, der diese Zusammenhänge in
Sichtbarkeit verwandelt.

Und wenn endlich auf die Tatsache hingewiesen wird, daß oft die bestveranlagten
Menschenseelen mit völliger Verlorenheit ihr Leben abschließen, so fragt man billig, ob man nicht
die Form eines Dramas wählen müsse, um so etwas glaubwürdig und als Ende einer langen
Entwicklung darzustellen.

Jesus aber weiß in seiner Meisterschaft einen ganz kurzen Weg, der noch dazu unter denselben
Gesetzen steht wie die bereits gezeichneten Entwicklungen.

Mit unnachahmlicher Sicherheit und Plastik malt er das Bild der innerlich Gescheiterten, die von
oben bis in die Tiefe »gute Erde« waren. Mit der Gottessaat geht zugleich etwas anderes auf. Die
Pfahlwurzeln der Disteln fangen an zu treiben. Reich in Gott wollte die Seele werden, ganz
ehrlich. Aber der Mammon! Der geliebte Mammon! Den liebt man heimlich weiter, ob man ihn in
Fülle hat oder ob man gar nichts von ihm hat: er bleibt letztlich doch die Hauptwelle des Werkes,
die durch alle Stockwerke geht. Schließlich endet das Reichsein mit Genußsucht, trotzdem das
aufgegangene Gotteswort protestiert, in der alles erstickenden Wollust, oder bei dem, der nichts
hat als nur die nie gestillte Sehnsucht nach Genuß, der nichts kennt als Sorgen und als ihre
Umkehrung die Befriedigung der Sinne, - schließlich endet dieses Leerbleiben in der Lossage
von Gott, teils verbittert still, teils mit Fluchen und Drohen.

Aus der Tiefe war es emporgekommen, wie die Disteln und Dornen dort im Heiligen Lande in
Mannstiefe überwintern und mannshoch wachsend alles ersticken, was sie überholen, auch und
gerade den aufgegangenen allerbesten Samen.

Das Geheimnis ist bis in seine letzten Verästelungen klargelegt, zur Anschauung gebracht, ins
Gewissen geschoben als Beleuchtung des eigenen Tuns.

Mit diesen wenigen Worten, die etwas Furchtbares an sich haben (wer Ohren hat zu hören, der
höre!): »Und etliches fiel unter die Domen, und die Dornen wuchsen mit auf und erstickten es!« -
Die Mächte des Abgrunds wollen »Tod«! Beste Saat, beste Erde, alles kommt zusammen, was
zusammenkommen muß, Gott und Mensch, und doch kein Erfolg, und wieder kein Erfolg.

Der Moderne, der sich dem Christentum versagt hat, sagt in solchen Fällen gern: Das
Christentum hat versagt!

Alle Bedrängnisse auch gläubiger Seelen, die sich in unsern letzten 20 und 30 Jahren nicht mehr
zurechtfinden konnten und doch leise, leise Zweifel gegen Jesus und die Art, wie Gott seine
Offenbarung gestaltet und verwaltet hat, angemeldet haben, alle diese Bedrängnisse sieht Jesus
voraus und tut sie darum mit diesen unerhörten, rücksichtslosen Gemälden ab. An diesen Bildern
ist nichts zu retouchieren. Sie bleiben. Sie lassen sich nicht umbiegen in die allgemeine Güte des
Menschengeschlechtes, die demnächst wohl doch einmal durchbrechen werde. Der autonome
Mensch ist nicht autonom, sowenig wie eine Uhr autonom ist. Nur einer ist autonom. Gott. Der
Sämann, der der Welt das Leben ausstreut!

Und dieses Leben allein macht aus einem Leben ein Leben, ein Sein mit ewigem Inhalt, mit der
Frucht, die es allein bringen soll: »Und etliches fiel auf ein gutes Land, und es ging auf und trug
Frucht.«

Trug Frucht! Erzeugte ewiges Leben, das allein, ganz allein Gott will.

Wachsen geht langsam. Wachsen hat mit viel, viel Erde zu tun! Mit Frost und Hitze, mit Sturm
und Stille. Dazu gehört Geduld, wahre Geduld aber ist Vorausschau, ist höchste Weisheit, beruht
auf tiefster Erkenntnis, auf vollem Verstehen. Und das Hören dieser Gut-Land-Seelen war eben
ein ganzes Verstehen des Wortes, das »vom Himmel gekommen ist und gibt der Welt das
Leben«. Da gibt es dann nur eins für solche Erkennenden: sich wehren allem Tode und bleiben
beim Leben. Nichts bringt sie davon ab, auch nicht ihre eigene Langsamkeit, auch nicht die
Aussicht, daß der Ertrag vielleicht nur dreißigfältig ausfällt. Gottesernte ist Gottesernte. Ist
absoluter Sieg. Ist Ewigkeitsreife.

Nein, das Weltgeschehen kann die Ernte nicht verhindern. Kann sie nur noch sicherer
hervorrufen. Denn wenn im Weltgeschehen immer wieder die Weltnot ihre traurigen
Zwischenernten hält, so wandert manche Seele doch endlich gern aus dieser Mühsal und will
lieber einmal gut Land sein und statt der trostlosen Unfruchtbarkeit langsam, aber geduldig und
sicher Frucht bringen und darin selig sein.

Ja, das Reich Gottes wächst durch das Weltgeschehen und Menschengetue unwiderstehlich
hindurch zu einer wirklichen Ernte. Am Ende der Welt steht sie auf dem Halm (Matth. 13, 39). Der
Same ist zu gut, als daß er versagen sollte. Gottes eigenes Wort, Jesus Christus selber, trägt ja
in sich soviel Kraft und Freiheit und Frieden, daß darüber gern der Spreu der Abschied gegeben
wird.

Gottes ist die Saat, Gottes aber auch das unwiderstehliche, unaufhaltsame Wachstum, daß sich
keine Seele um den Fortgang grämt, nachdem Gott das gute Werk in Gang gesetzt hat. Gott
weiß schon jetzt um die Ernte, die noch gar nicht da ist, und der Mensch auch. Darum kann jesus
diesem Gleichnis ein zweites hinzufügen, das uns nur bei Markus (Kap. 4, 26-29) aufbewahrt ist:

»Das Reich Gottes hat sich also, als wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft, und schläft und
steht auf Nacht - und -Tag - und der Same geht auf und wächst, daß er's nicht weiß! Denn die
Erde bringt von selbst zum ersten das Gras, danach die Ähren, danach den vollen Weizen in den
Ähren... Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er bald die Sichel hin, denn die Ernte
ist da!«

Das Geheimnis aller Geheimnisse - dem sehenden Auge enthüllt! Das Geheimnis: der Mensch ist
Gottes! Die Saat kommt zur Erde, sonst bleibt sie tot.

Gott kommt zum Menschen, das ist seine Gnade und seine Freiheit. Der das Leben ist, der
macht den Menschen zur Erde und sich selbst zur Saat.

Die Erde wartet und lernt das Warten, die Saat ist bereit. Die Saat ist für die von Gott bestimmte
Saatzeit bereit, da er den Sämann sendet.

Da schreitet er. Siehst du ihn?

Seit dieses Gleichnis gesagt ist, sehen wir ihn schreiten, sehen wir die goldene Saat, die
Lichtsaat, wie sie in weitem Bogen geworfen wird, sehen wir Wachstum ewigen, todentrückten
Lebens, wissen wir um die Rätsel der Gegenwart und die Lösungen der Zukunft.

Durch ein Bild. Durch etwas ganz Alltägliches, aber ein Alltägliches, daran unsere Seele hängt.
Und dies Hängen macht Jesus unzerreißbar, indem er das alltägliche Ewige künden läßt.

So leicht ist das, nicht wahr? Warum hat es aber keiner wieder fertiggebracht? Auch ein
Geheimnis! Und - doch kein Geheimnis!

Kunst und Unkunst nebeneinander.

Einschaltung I

Zur Kunstbetrachtung.

Jesus:

»Das Himmelreich ist gleich einem verborgenen Schatz im Acker, welchen ein Mensch fand und
verbarg ihn, und ging hin vor Freude über denselben und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte
den Acker.«
130 Jahre später heißt es in der Mechilta als Ausspruch des Rabbi Simon ben Jochai:

»Wem gleicht die Sache? Sie gleicht dem Manne, dem ein großes Feld in weiter Ferne am Meere
als Erbe zufiel. Und er verkaufte es um ein Geringes. Und der Käufer ging hin und grub es um
und fand darin Schätze von Gold, Silber, kostbaren Perlen und Steinen. Da begann der Verkäufer
vor Ärger fast zu ersticken.«

Man betrachte diese beiden Gleichnisse eine Weile nebeneinander und lasse sie ganz
unbefangen auf sich wirken. Freilich muß man sie sinnend betrachten und fragen, wo die
Menschenseele und ob sie in ihrem We sen, in ihrer Not und ihrer Hoffnung richtig gesehen,
meisterlich dargestellt und auf einen Weg zum Leben gewiesen ist!

Betrachtung dazu.

Fast erübrigt sich eine Betrachtung nach der Betrachtung.

Das Gleichnis aus der Mechilta wirkt neben Jesu Gleichnis wie eine Kinderzeichnung, wo ein
Kind versucht hat, die Engel der Sixtinischen Madonna durchzupausen und auszutuschen.

Jesus taucht das Geschehnis in lauter Ewigkeit, daß es uns froh macht und wir plötzlich
Zusammenhänge sehen, die wir nie vermutet haben. Da wagt man denn alles und nimmt die
Freude schon vorweg wie der unfreiwillige Schatzgräber. Aus dem Zufall wird ewiges Gesetz.
Aus dem bald hier, bald da Geschehen wird monumentale Einmaligkeit.

Unter der Fron des Alltags im Alltagsstaube harrt in der Tiefe verborgen - dein Glück, deine
Erlösung. Was an der Oberfläche liegt, das hat mit diesem Glück nur soviel zu tun, daß es der
Ort ist, wo der Spaten angesetzt wird und klirrt, wenn er in der Tiefe aufstößt, wo der Schatz ruht.
Nicht jeder kümmert sich um das Klirren.

So ruht im Erdenleben verborgen das ganz Andere! Das ewige Leben, das Leben in Gott. Das ist
noch eine ganz andere Freiheit, als sie der Goldschatz verschafft. Man hört auf, werkende
Kreatur zu sein, die aus dem Staube ihr bißchen Leben zieht. Die Zukunft gehört dem, der erst
meinte, keine zu haben, und mit ihr das Leben im letzten, höchsten Sinne.

Was hat aber Simon ben Jochai daraus gemacht! Er stößt den Staubgeborenen erst recht in den
Staub zurück und ironisiert die Dummheit wider Willen, die einen freilich zur Verzweiflung bringen
kann. Es fehlt nur noch, daß der, der seinen Acker verkaufte, durch den er selber hätte reich
werden können, ausruft, daß er sich selbst ohrfeigen könnte. So geht's im Leben! Meistens bist
du der Dumme! Ein Gegenstand für eine Posse! Aber Kunst ist das nicht, nicht einmal Realismus,
sondern Plattheit.

Einschaltung II

Zur Kunstbetrachtung.

Jesus Sirach XI, 17-19:

»Mancher kargt und spart und wird dadurch reich und denkt, er habe etwas vor sich gebracht und
spricht: 'Nun will ich gutes Leben haben, essen und trinken von meinen Gütern... ', und er weiß
nicht, daß sein Stündlein so nahe ist, und muß alles andern lassen und sterben. «

Jesus (Lukas 12, 15-21):

»Sehet zu und hütet euch vor dem Geiz, denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat. Es
war ein reicher Mensch, des Feld hatte wohl getragen. Und er gedachte bei sich selbst und
sprach: 'Was soll ich tun? Ich habe nichts, da ich meine Früchte hinsammle.' Und sprach: 'Das
will ich tun! Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darein sammeln
alles, was mir gewachsen ist, und meine Güter! Und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du
hast einen großen Vorrat auf Viele Jahre, habe nun Ruhe, iß und trink und habe guten Mut!' Aber
GOTT sprach zu ihm: 'Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wes
wird's sein, das du bereitet hast?' Also geht es, wer sich Schätze sammelt und ist nicht reich in
Gott!«

Betrachtung der Betrachtung.

Der Unterschied dieser beiden Bilder springt in die Augen.

Jesus Sirach bringt Menschenweisheit, Jesus Offenbarung. Dabei sind die Grundlinien ganz
dieselben: Reich sein und plötzlich sterben müssen - was hat uns das zu sagen?

Bei Jesus Sirach kommt die Allerweltsweisheit heraus, daß der Knauser umsonst gekargt hat.
Gerade wie er den Pokal, den er sich nie gegönnt hat, ansetzen will, kommt der Tod und nimmt
ihm den Pokal aus der Hand. Also genieß dein Leben beizeiten, sonst schlucken andere, die dich
nichts angehen, dein Geld, das du dir vom Munde abgespart hast.

Jesus aber überleuchtet dieses Geschehen mit dem Wetterleuchten des Gerichtes und des
verlorenen Lebens. Gott tritt selbst herein in die Stube des Geizigen, der so reich ist und dabei so
arm. Reich - aber nicht reich in Gott!

So packt Jesu Gleichnis ein solches Lebensbild, wie es das Leben des Reichen bietet, gleich an
der Wurzel und weist den tiefen Riß auf, der durch das Wesen dieses Mannes hindurchgeht. Wie
Donner rollt es daher: Du Narr

Aber anders »Narr«, als Sirach es annimmt. Sirach bleibt an der platten Erde und zeigt den
Menschen der Dummheit, der auf eine ungewisse Zukunft spart, statt sich beizeiten etwas zu
gönnen. Jesus offenbart den als Narren, als Tor, der sein eigener schlimmster Feind ist, der das
Verkehrte gesammelt hat. Nun hat er einen Haufen Staub, mit dem seine Seele nichts anfangen
kann, und seine Seele ist leer, leer wie ein vergessenes Kellergelaß. Nacht bricht über ihn herein!
(Wie ist damit die Gerichtsstimmung und die Katastrophe mit entsprechender Farbe umrandet!)
Das Leben ist vertan! Die leere Seele weiß, welchen Weg sie gehen muß. Das heißt, die Ewigkeit
verspielt haben!

Jesus hat ohne Frage das Sirachmotiv verwendet. Bewußt hat er das getan und damit das
ungeheure Manko aufgedeckt, das jene Gedankengänge aufweisen, die nirgends bei Gott
endigen, sondern im Diesseits, und zwar da, wo der Lebemann auch mit seiner »Philosophie«
landet, bei dem Grundsatz, der keiner ist: leben und leben lassen. Daß aber dieses Staubmotiv
dazu verwendet werden kann, daß es den Menschen in seinen tiefsten Tiefen erschüttert, daß es
jeden, nicht nur den Geizigen, zur Revision seines ganzen Lebens zwingt, zumal der Mammon
jeden zu bestechen und zu binden versucht, - das ist das Kunstwunder in der Hand der
Offenbarung, in der Hand Jesu.

Der Spiegel der Menschheit - aus Kunst!

Die Menschheit ist krank, und sie weiß es, aber sie weiß nicht, woran.

Jesus sagt es ihr, woran sie leidet: sie ist krank an Gott.

»Ja, aber das soll erst einmal ’bewiesen’ werden.«

Jesus beweist nichts. Er hält sich nicht damit auf, zu beweisen, daß es einen Gott gibt und daß
der Mensch eine unsterbliche Seele hat. Unter seinen Worten erbebt die Seele vor Gott und vor
sich selbst, das ist mehr als Beweis.

Aber - wer schenkt der Menschheit den Spiegel, in dem sie sich selber sieht? In dem ihr selber
ihr eigenes verborgenes Inneres sichtbar wird? In dem sie ihre verdorbene Bezogenheit auf Gott
so erkennt, daß sie innerlich davon überwunden wird und von ihrem mühsam mit Goldflittern
aufgeputzten Thron herabsteigt? Wer macht es glaubwürdig, daß die Menschheit nur aus
Scheiternden und Versteinernden von sich aus besteht und von sich aus gesehen ein
hoffnungsloser Fall ist?

Und muß das dann, wenn es gesagt wird, nicht in düsterste Melancholie getaucht werden oder
dahin führen?

Dieses ganze Problem, das Himmel und Erde, Gott und Mensch, inneres, hinter der großen
Wand der Schöpfung verborgenes Leben umfaßt, nimmt Jesus in seine Künstlerhände und
macht daraus zugleich ein Kunstproblem, nämlich diese schier unentwirrbaren Zusammenhänge
einmal durch nur drei Männergestal ten und ein anderes Mal durch alle auf der Welt vorhandenen
Menschengruppen darzustellen.

Er macht sich nicht an lange Definitionen heran. Er gibt nicht eine Seelengeschichte der
Menschheit, in der er entwickelt, was für den Bestand etwa gegeben war und wie dieser
allmählich vertan wurde, oder unter was für Einflüsse die menschliche Seele geriet, um beim
Nichts anzulangen. Eine solche Seelengeschichte würde viele Bände umfassen müssen, wenn
sie gründlich sein sollte, und sie würde dann als wissenschaftliche These zur Diskussion stehen.

Das wäre auch kein Spiegel, in dem man sich finden und bis ins letzte durchleuchtet sichtbar
werden könnte.

Jesus schafft diesen Spiegel aus - Kunst. Ein wirklicher Spiegel ist's. In die Hand zu nehmen, und
im Augenblick ist das ganze Bild da (Lukas 15).

Es ist ein Gleichnis, das wir fälschlicherweise das vom verlornen Sohn nennen, als ob der zweite,
zu Tode erstarrte Sohn gar nicht da wäre, - statt es das Gleichnis von der verlorenen Menschheit
zu nennen. Denn nicht ein Spezialfall ist gemeint, der besagen soll, daß ein entgleister Mensch
ins Unglück rennt und daß dem braven Menschen damit klargemacht wird, daß er nicht zu dieser
Gruppe der Gesunkenen gehört. Es handelt sich nicht um einen oder zwei Abseits-Gegangene,
sondern um alle Menschen aller Völker, aller Altersgrade, aller Stände, Junge und Alte, Männer
und Frauen. Und das dargestellt - noch einmal sei darauf hingewiesen durch drei
Männergestalten!

Kann das gelingen?

Alle wahre Kunst ist Metaphysik, Tiefblick. Hier feiert sie ihren Triumph und öffnet letzte Pforten,
und zwar so, daß geschaut wird, gehört wird, als ob man nicht beim Letzten und Tiefsten wäre,
sondern beim Ersten, Greifbaren um uns herum.

Die Menschheit Gottes hat zwei Hälften: »Ein Vater hatte zwei Söhne.«

Der Jüngste (!) ist der - Rebell. Er fordert Freiheit, wie er sie meint, durchschneidet das Band der
Abhängigkeit (vom Lebenszentrum), sagt sich los von jeder Autorität, wird autonom (glaubt an
sich selber), nimmt aber das, was nicht aus seiner Autonomie stammt, die Gaben Gottes, mit und
legt Weltenfernen zwischen sich und Gott, daß nichts mehr an ihn erinnert, und liegt zuletzt an
der Landstraße, vegetiert in der Fremde, weiß sich heimatlos und seelisch verhungert und hat
aufgehört, längst aufgehört, um seinen Freiheitsbaum zu tanzen, denn der ist verwelkt. Sein
Rebellentum hat ihm nichts gebracht. Der erste Schwung hatte den sieghaften Sturm auf die
ganze Welt und deren Besitz eingeleitet, und von allem war nichts geblieben als ein durch nichts
zu stillender Hunger, ein Hungerelend ohnegleichen.

Der älteste Sohn ist der Konservative. Er hält etwas auf sich und hält etwas auf Autorität. Was
sollte wohl aus der Welt ohne Autorität werden! Da wäre ja am Ende nichts mehr sicher. Dazu ist
die Autorität da, daß sie ein gesichertes Leben garantiert. Dazu muß man auch die Gesetze der
Moral anerkennen und innehalten und muß sich entrüsten über die Unmoral. Äußerlich hat sich
der Älteste nicht von Gott getrennt. Er ist ihm ganz nahe. Aber innerlich ist er ganz woanders.
Lange hat er's nicht von sich gegeben, aber einmal muß es doch gesagt sein und quillt es
grollend aus der Seele, wie zornig er auf die Weltordnung ist, die ihm sein gesittetes Aushalten
auf der besonnenen (aber von keinem Strahl innerer Hingabe an Gott besonnten ) Linie so wenig
gelohnt hat. Verbittert ist er. Das hat man nun von seiner Treue! Gott ist ihm nichts. Sein Leben
bezieht er nicht von ihm und hat es nie von ihm bezogen. Er ist versteinert. Verlorenes kann
gefunden werden! Aber können Versteinerungen wieder weich werden und anfangen zu leben?
Ja! Das erreicht ja Jesus mit diesem Gleichnis, daß solche Steine anfangen, wieder Herzklopfen
zu bekommen und zu spüren, wie ihre Nähe grausige Ferne war. Traurigkeit und Tod sind
umleuchtet von Hoffnung. Ein Bild kann es einem besonders antun, daß das Auge lange darauf
verweilt und es als Symbol des Evangeliums erkennt, ein Bild von wunderbarer Weite, der
großen Welteinsamkeit, wo das ewige »Ich« dem irdischen »Du« gegenübersteht, aber
welchergestalt!

»Als er aber noch ferne war, sah ihn sein Vater!«

Doch man weiß da kaum, welchem der einander ablösenden Bilder man den Vorzug geben soll.

Eins der größten Kunstwerke der Welt steht vor dir. Bestimmt ist keins so bekannt wie dieses.
Und wie viele Millionen haben es gekannt und sich darin wiedererkannt! - und gerade weil es so
bekannt ist, soll es hier im Wortlaut folgen.

»Ein Vater hatte zwei Söhne.« (Künstlerische Momente, die man sehen muß.)

»Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: 'Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir
gehört.' (Der schweigende Vater! Er weiß, was kommt. Er sendet seinen Sohn ins Gericht und
läßt seine Liebe mitgehen!)

Und er teilte ihnen das Gut.

Und nicht lange danach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog fern über Land;
und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. (In zwei Sätzen Glück und Ende dieses
Glücks!)

Da er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land,
und er fing an zu darben. Und ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes; der schickte
ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit Trebern,
die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. (Gemaltes Elend, das sich unvergeßlich einprägt.
Gemeinschaft und Speise da, wo der Name Gott nicht mehr fällt.)

Da schlug er in sich uns sprach: 'Wieviel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben,
und ich verderbe im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm
sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr wert,
daß ich dein Sohn heiße, mache mich zu einem deiner Tagelöhner.' Und er machte sich auf und
kam zu seinem Vater. (Die Liebe des Vaters ist ihm gefolgt mit ihrer ganzen Macht und Größe.
Mein Vater, sagt der Rebell gegen die Vaterautorität, und dies Wort wiederholt er. Er klammert
sich daran. Eine wundervolle Szene von ergreifender Schönheit der Seelenmalerei.)

Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm
um seinen Hals und küßte ihn. (Was für ein Können: In einem Nebensatze gibt Jesus den Inhalt
ganzer Jahre an: der wartende Vater, der von der Höhe Ausschau hielt, als der Sohn noch im
Rausch der Fremde weder an Vater noch Heimkehr dachte.)

Der Sohn aber sprach zu ihm: 'Vater ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin
hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße.' Aber der Vater sprach zu seinen Knechten:
'Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebt ihm einen Fingerreif an seine Hand
und Schuhe an seine Füße, und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet es. (Der das
Gericht der Gottesferne sendet, ist derselbe, dessen Liebe als Sonne alle Bilder des Gleichnisses
verklärt und alles Elend mit Silberlicht übergießt. Und das alles ganz natürlich, ohne irgendwelche
Künstelei oder theatralische Mache.)

Lasset uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig
geworden; er war verloren und ist gefunden worden.' Und sie fingen an, fröhlich zu sein. (Freiheit
spielender Kraft in der Kunstgestaltung!)

Aber der älteste Sohn war auf dem Felde... Und als er nahe zum Haus kam, hörte er den Gesang
und den Reigen, und rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre. Der aber sagte
ihm: 'Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästetes Kalb geschlachtet, daß er ihn
gesund wiederhat.' Da ward er zornig, und wollte nicht hineingehen. (Mit ganz wenigen Strichen
ist der älteste Sohn bis ins Verborgenste gezeichnet. Seine Grämlichkeit, sein angesammelter
Groll, seine Selbstbewunderung und Werkgerechtigkeit. Dabei ist die Zeichnung keine Skizze,
sondern bis ins kleinste genau.)

Da ging sein Vater heraus und bat ihn. (Künstlerisch fein ist die Seelengröße des Vaters
gegeben. Dasselbe Motiv wie vorher; da ist er auch »hinausgegangen«, dem Sohne entgegen.
Hier haben wir die Variation davon, zauberhaft leicht und mühelos.)

Er aber antwortete und sprach zum Vater: 'Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein
Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen
Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Dirnen
verschlungen hat, hast du ihm ein gemästetes Kalb geschlachtet.' (Prächtig das
charakterisierende Wortspiel, daß der Bruder seinen Bruder verleugnet und ihn wie ein
Geschmeiß dem Vater hämisch-giftig zuwirft: »dieser dein Sohn!«)

Er aber sprach zu ihm: 'Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.
Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein, denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder
lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden.' (Die »Allzeit« -Gemeinschaft beim
Vater hat für ihn als Lebenswert keine Rolle gespielt. Wie schlagend damit seine ganze tote Welt
dargestellt ist! Das Leben des andern gilt ihm nichts.)

Damit ist die Menschheit vor uns hingetreten. Wir selber sind es. Unsere tiefste Not können wir
nun mit Händen greifen. Wir sind uns selber anschaulich geworden, und Gott ist uns offenbart
worden. Wir können ihm ins Herze sehen und sind aller Versuche, ihn uns auszudenken und
darüber zu debattieren, wie er zu uns steht, enthoben. Aber auch des Wahnes enthoben, als
könnten wir ihm ausweichen und uns einen Begriff statt seiner konstruieren.

Selbstoffenbarung! Radikale Wahrheit! - Aber im Gewande der Schönheit.

Wahre Kunst aber lockt und ergreift Besitz vom Menschen. Sie gibt Göttliches, entspricht also
dem, was Jesus zu geben hat.

Der Spiegel der Menschheit - aus Kunst!

(Statt drei Gestalten - ungezählte, und dabei die gleiche Durchsichtigkeit und Klarheit.)
Ein Abendessen.

Das ist wirklich eine Kunstaufgabe: Schildere mir im Rahmen eines Abendessens das Wesen der
Menschheit, wie sie krank ist an Gott, versteinernd und scheiternd.

Wer stände nicht fassungslos vor einer solchen Aufgabe!

Wir sind nur leider zu stumpf geworden, um die ganze Größe der Meisterschaft zu erkennen, die
eine solche Aufgabe mit der unbegreiflichen Natürlichkeit freien, künstlerischen Schaffens löst,
wie es Jesus tut.

Weil wir seine Gleichnisse fast auswendig können.

Weil wir daran gewöhnt sind, sie auf bestimmte, in ihnen enthaltene Lehren auszukämmen,
wobei dann noch das gönnerhafte Bedauern mitklingt, daß man diese Mühe habe, weil Jesus
»als Kind seines Volkes und seiner Zeit« die Gleichnisrede wählte (statt der klaren Definition =
Begriffzerlegung des Sachlichen, der Biologie mit dem Leben der Seele verwechselt).

Ein nicht gerade Kleiner hat doch aber einmal in völliger Geistesklarheit behauptet: Alles Irdische
ist nur ein Gleichnis. Ist noch nicht das, was das eigentliche Sein, weist aber darauf als göttlicher
Wink hin.

Bei ewigen Dingen gibt es also keine Laboratoriumssachlichkeit, ohne Gleichnis sind sie nicht zu
sagen! Das ist Gesetz für diese Erde, für diese Zeit.

Das Gleichnis ist nicht »Gebundenheit an eine vorübergehende Laune eines Volkes«, sondern
göttlicher Zwang. Aber ohne Jesus nur ein Tasten und Stammeln, bei ihm dagegen weite Schau
vom schwindelnd hohen Turm in die Ferne bis dahin, wo die irdischen Wasser ins ewige Meer
münden. - Alles Irdische - Gleichnis! So ist Tischgemeinschaft mehr als Tisch-Gemeinschaft und
ein Gleichnis von einer viel höheren.

Was schon auf Erden sich andeutet!

Die Familie findet sich nur zweimal am Tage vollzählig zusammen, und dieses Zusammensein
hat oft eine Weihe ganz eigener Art. Und in der Erinnerung wächst sie sich zu einer mystischen
Innigkeit aus. Denn wenn der Vater längst heimgegangen ist, erinnert sich der Sohn, der an
seiner rechten Seite sitzen durfte, dieses Glückes, das zu einer inneren Kostbarkeit geworden ist.
Der ganze Kreis ersteht immer wieder auf, und alle Altersstufen ziehen auf der Lichtwand der
Seele greifbar vorüber, wie man sie durchlebt hat. Der Raum mit seinen Bildern und Nischen, die
frohen Worte, die ausgetauscht wurden, das Verstummen aller in Zeiten, wo eins krank lag oder
für immer weggegangen war, das war die Tischgemeinschaft. Das Essen war nur Anlaß, nicht
Inhalt.

Tischgemeinschaft! Wie kann sie beglücken und entzücken, wenn sie den Zerarbeiteten zum
frohen Feiern und zum seelischen Erquicktwerden ruft! Als Symbol einer völligen Ruhe, einer
Gemeinschaft ohne Ende, nicht mit vorübergehender Feststimmung, sondern der Freude, die
tiefe Ewigkeit hat.

Sie beginnt durch das Evangelium schon hier, denn Gott kommt selber zu den Menschen. Was
wird nun werden? Wie wird es werden? Muß die Seele nicht in den Freudenruf ausbrechen.
»Selig ist, der das Brot ißt im Reiche Gottes!«

Jesus aber sagt nicht ja dazu, sondern schaut in die Weite und erzählt etwas, was so ganz, ganz
anders klingt:
»Es war... ein - Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu. Und sandte
seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahles, zu sagen den Geladenen: 'Kommt, denn es ist
alles bereit!' Und sie fingen an, alle miteinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm:
'Ich habe einen Acker gekauft, und muß hinausgehen und ihn besehen (am Abend); ich bitte dich,
entschuldige mich!' Und der andere sprach: Ich habe fünf Joch Ochsen gekauft, und ich gehe
jetzt hin, sie zu besehen (am Abend!); ich bitte dich, entschuldige mich!' Und der dritte sprach:
'Ich habe ein Weib genommen, darum - kann ich nicht kommen.'

- Besitz, Handel und Familie! Diese drei machen ohne Frage das Erdenglück aus und machen
den Menschen von dem, was man so Schicksal nennt, auf Jahre oft ganz unabhängig. Diese
Gruppen sind die Repräsentanten der vielen, vielen, die der reiche Mann geladen hat. Also die,
von denen man so gern sagt, »daß Gottes Segen sichtlich auf ihnen geruht habe«. Nein,
Rebellen sind das nicht! -

Und der Knecht kam und sagte das seinem Herrn wieder. Da ward der Hausherr zornig und
sprach zu seinem Knechte: 'Gehe aus! Schnell! Auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe
die Armen und Krüppel und Lahmen und Blinden herein.' Und der Knecht sprach: 'Herr, es ist
geschehen, wie du befohlen hast, es ist aber noch Raum da!' (wie viele waren also zuerst
geladen!) Und der Herr sprach zu dem Knechte: 'Gehe aus auf die Landstraßen und an die
Zäune und nötige sie hereinzukommen, auf daß mein Haus voll werde! Ich sage euch aber, daß
der Männer keiner, die geladen waren, mein Abendmahl schmecken wird!'«

Hat Jesus sich Illusionen gemacht?

Nein, sich nicht, und den Menschen nicht!

Und dennoch schreien sie immer wieder: Seht, da kommt der Träumer her! Aber er ist der
einzige, der nicht träumt.

Dies Gleichnis ernüchtert auch die Verzücktesten.

Weil es so wahr ist! Weil es nachgeprüft werden kann an Ort und Stelle!

Weil alle diese Menschengruppen, von den Satten bis zu den Heimatlosen, um uns herum sind,
und wir zu der einen oder andern unbedingt gehören.

Im Rahmen eines Abendessens offenbart Jesus die seelische Grundhaltung der Menschen Gott
gegenüber, also ihrem eigenen Heil und Leben gegenüber. Die dazu berufen wären, Gott am
nächsten zu stehen, die mit ihrer Beziehung zu ihm oft genug wichtig tun, die auf Moral und
Religion halten, gerade denen graut vor der engsten Gemeinschaft, der Tischgemeinschaft, der -
Abendmahlsgemeinschaft.

Erst die, die alles verloren haben, sind bereit zu kommen. Die innerlich Heimatlosen, die sich
seelisch verkrüppelt Fühlenden! Die Blinden, die nach Licht schmachten! Die Lahmen, die nicht
mehr weiterkönnen! Die Armen, die vor dem Nichts stehen!

Und das ist nun gerade die Kunst in diesem Gleichnis, daß der Mensch, der sich unter den
Satten entdeckt hat, erschrickt über das Bild, das er im Spiegel sieht! Natürlich ist es, hinzugeben
mit Freuden, wenn der edelste und beste Herr zu einer herrlichen Festfeier und Gemeinschaft
ruft, und im Spiegel erscheint - die Verzerrung des ursprünglichen Wesens, der ursprünglichen
Veranlagung. Deine Natur ist UNNATUR! sagt das Bild. Du hast nichts!

Darüber kann der kühle Ichmensch, der nicht aus sich heraus und zu Gott hinwollte, so
erschrecken, daß er sich - und das ist dann seine Gnadenstunde - als jämmerlich verkrüppelt und
bettelarm erkennt und so zu der andern Gruppe der Geladenen hinüberwechselt!
Der Spiegel der Menschheit - aus Kunst geformt!

Ein Spiegel, der alle Bilder widerspiegelt, aber die verborgenen, die inneren, die nur Gott sieht.
Und nun sehen wir sie auch. Und gerade das brauchen wir!

Gleichnisverwandlung - unweit des Kreuzes.

Kreuz - ist Festtag der Erlösten!

Kreuz - ist Katastrophe!

Kreuz ist Fluch derer, die das Kreuz verfluchen, Vernichtung derer, die vernichten.

Jesus sieht hinter dem Kreuze die »hochgebaute Stadt« in Flammen und den einstürzenden
Tempel.

Unter diesem Blick hat er die Fassung verloren, als er zum letzten Gang nach Jerusalem kam
und von der Höhe die Stadt in tiefem Traum daliegen sieht. - Kann er sie noch wecken?

Ganz nah dem Kreuze! Wie muß sich ein Wort da wandeln, da es nun in die aufs höchste
gesteigerten Kämpfe hineingeht und die Fluten der Sünde mit dem Gericht, das die Sünde in sich
trägt, gegen ihn heranrasen!

Da verwandelt sich das Gleichnis vom großen Abendmahl und kommt in neuer Gestalt wieder mit
ganz hellem Licht und erschreckend tiefen Schatten.

Aber unbegreiflich ist die Leichtigkeit, mit der Jesus das Gleichnis in eine ganz neue Form
umgießt, als ob es niemals anders gesagt wäre und gar nicht anders gesagt werden könnte.
Wieder steht vor uns ein Stück vollen Lebens in engsten Zusammenhängen, in nicht zu
umgehender Notwendigkeit. Da ist keine Schablone, kein Sehen. Die Gestalten in den
rabbinischen und indischen Gleichnissen »funktionieren«, die Gestalten Jesu sind! Jene
vermitteln nur Anschauung durch den äußeren Sinn, das Auge, diese geben uns seelische
Wirklichkeiten und lassen sie mit dem inneren Auge sehen. Man kann das nur feststellen, aber
man kann nicht in die Werkstatt sehen, in der die Gestaltungskraft Jesu am Werke ist.

Bei musikalischen Variationen liegen die Dinge anders. Leichter. Einfacher. Denn Musik ist
Gegenwart und nicht unentschiedene Zukunft, die ihrer Entscheidung in der rauhen Wirklichkeit
entgegenreift. Darum kennt Musik den kampflosen Frieden, denn sie ist Traum. Die Abwandlung,
die Variation der Wirklichkeit, und zwar der letzten Wirklichkeit, die in Zukunft und Unendlichkeit
reicht, - die unterliegt anderen Gesetzen als die Musik. Gesetzen, die so unerbittlich und schwer
sind, wie das Leben selber. Aber wer merkt das den Worten Jesu an! Der Hörer dieser
Herrlichkeiten muß es einmal selber versuchen, auch nur ein kleines Stück Wirklichkeit zu
schildern und dann abzuwandeln in ein anderes Bild. Es wird Stückwerk.

Das Gleichnis vom großen Abendmahl ist uns noch in lichter Erinnerung.

Und nun vergleiche man mit ihm das folgende, auf das der Schatten des Kreuzes fällt, das doch
kein anderes ist als das erste:

»Das Himmelreich ist gleich einem Könige, der seinem Sohne Hochzeit machte und sandte seine
Knechte aus, daß sie die Gäste zur Hochzeit riefen, und sie wollten nicht kommen. (Ihr habt nicht
gewollt! Matth. 23, 37.) Abermals sandte er andere Knechte aus und sprach: 'Saget den Gästen:
Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet, und
alles ist bereit! Kommt zur Hochzeit!' Aber sie verachteten das und gingen hin, einer auf seinen
Acker, der andere zu seiner Hantierung; etliche aber griffen seine Knechte, höhnten und töteten
sie. Da das der König hörte, ward er zornig, und schickte seine Heere aus und brachte diese
Mörder um und zündete ihre Stadt an. Jerusalem, Jerusalem! Matth. 23, 27.) Da sprach er zu
seinen Knechten: 'Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert! Darum geht hin
auf die Straßen (gehet hin in alle Welt) und ladet zur Hochzeit, wen ihr findet!' Und die Knechte
gingen aus auf die Straßen und brachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; (So teilt
die Welt sie ein. Gott setzt beide Teile durch die gleiche Einladung gleich!) und die Tische wurden
alle voll.

Da ging der König hinein, die Gäste zu besehen, und sah allda einen Menschen, der hatte kein
hochzeitlich Kleid an; (Trotzdem der König allen Gästen die Hochzeitskleider schenkte! Siehe
auch das Wort: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an ... !) und sprach zu ihm: 'Freund,
wie bist du hereingekommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an?' Er aber verstummte. Da
sprach der König zu seinen Dienern: »Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis
hinaus! Da wird sein Heulen und Zähneknirschen. Denn viele sind berufen, aber wenige sind
auserwählt!«

Eine Bildfolge ohnegleichen! Das ganz Unmögliche erscheint im Gewande selbstverständlicher


Natürlichkeit. Es stört nicht, daß die Hochzeit drinnen wartet und draußen ein Feldzug vor sich
geht mit furchtbarem Kampf und schrecklicher Zerstörung, daß das Mahl aber so lange bereit
bleibt und noch die Straßen nach Hochzeitsgästen abgesucht werden können. Das ist tatsächlich
das Unerklärliche an dieser Darstellung, daß das Unwahrscheinlichste wie eine
Naturnotwendigkeit empfunden wird. Und das ist es auch in der Tat! Jenseitige
Naturnotwendigkeit, daher jenseitige Maßstäbe, bei denen über Raum und Zeit spielend verfügt
wird.

Und welch ein Inhalt! Der Spiegel der Menschheit aus Kunst - auch hier!

Aber zugleich Menschheitsgeschichte und die Geschichte des Himmelreichs in ihrem


Füreinander und Nebeneinander und Gegeneinander. Trümmerhaufen, wo der Mensch seine
eigenen Wege geht! Selbstvergötterung und Größenwahn des Menschen selbst dann noch, wenn
es in die unmittelbare Nähe Gottes geht!

Das hochzeitliche Kleid der Gnade, der geschenkten Reinheit, wird verschmäht.

Hochzeit - Kreuz, schreiende Gegensätze - und doch kein Gegensatz, sondern ein und dasselbe.
Augen sehen das nicht. Denn Kreuz heißt irdisch übersetzt: alles verloren, und Hochzeit: alles
errungen.

Aber am Kreuz und durch das Kreuz hat »der Sohn« alles errungen, der unsterbliche Teil der
Menschheit steht an seiner Seite, für immer mit ihm verbunden.

Hochzeit ist das! Der Sohn führt heim, was keiner ihm aus seiner Hand reißen kann. Das ist ein
Ganzes, eine Einheit, dies sein Eigentum, und umfaßt schon am Karfreitag alles, was bis ans
Ende der Welt fortschreitend dies Eigentum ausmachen wird.

Das Bild von der Hochzeit hat kosmischen Hintergrund: Der Geist des Menschen kann
Offenbarung und Erlösung nur empfangen, nicht selber schaffen. Offenbarung und Erlösung sind
nicht Keim im Menschen und entwickeln sich etwa organisch wachsend aus ihm selber, sondern
sie sind gerade das, was der Mensch nicht hat, damit er sich nach dem Schöpfer und nach
ewiger Erschaffung sehnt.

Der Mensch ist nur ein Halbes und kann nur auf das warten, was ihn erst zu einem Ganzen
macht. Und was halb bleibt, verkümmert und stirbt ganz ab.

Wer steht also an der Seite des Sohnes bei der königlichen Hochzeit? Die Gestalt ist nicht zu
sehen. Alle andern Gestalten hat Jesus scharf umrissen gezeichnet. Diese nicht. Nur ein
Leuchten scheint dort zu stehen. Denn was da steht, das sieht - nur Gott, das, was der Sohn sich
errungen und für ewig verbunden hat.

Das ist der Freudentag, die neue Schöpfung.

Diese neue Schöpfung - in einer Gestalt gesehen steht sie neben dem, zu dem und dem sie
gehört.

Und in ihr sehen die widerspenstigen Ich-Seelen, die ihren Widerspruch aufgegeben haben und
gekommen sind, das Glück, an dem sie selber teilhaben dürfen, das Leben, das sie nun selber
leben. So ist die erlöste Menschheit doppelt personifiziert, einmal als Einheit, einmal als Vielheit,
einmal von der Vollendung aus gesehen, einmal vom Werden, ja vom allerersten Anfang an
gesehen.

Das Gleichnis ist von gewaltiger Wirkung. Es beseligt und erschüttert. Alle Saiten unseres
Empfindens werden angeschlagen. Es lockt und warnt. Furchtbar steht die irdische Wirklichkeit
mittendrin mitsamt ihrer Ursache, deren Wurzeln fast 1000 Jahre tief in die Vergangenheit
hinabreichen: das Ende der Gottesstadt, das Ende ihres Volkes als Volk! Das ist geradezu das
Siegel der Wahrheit auf den ganzen übrigen Inhalt.

Als dann im Jahre 70 das alles geschah, wie müssen da die Christen (die Christen waren;
damals waren sie es zumeist) dies Gleichnis bestaunt haben und an ihm noch gewisser
geworden sein! Aber alle Wirkungen rühren davon her, daß Jesus das Unendliche und
tausendfach Verknüpfte entwirren und in irdische Vorgänge verwandeln kann, die doch die
Schwingweite des Ewigen behalten.

Und was ist die Perspektive dieses Gleichnisses?

»Wie einer vor Gott steht ... «

Das kann nur Gott sehen. Und der, der Gottes Augen hat und die Menschen sieht, wie Gott sie
sieht.

Wie stehen wir vor Gott, wenn wir überhaupt vor ihm stehen? Wir können uns ja selber nicht
sehen. Denn in diesem Heiligtum ist alles unsichtbar. Wer macht es uns sichtbar?

Wer vermag die innere Haltung in Bewegung nach außen hin zu zerlegen?

Denn allein darum wissen, das tut's nicht, da alles Wissen ein Gedankenvorgang ist und zu
schweren und schwerfälligen oder sehr nüchternen und sachlichen Auseinandersetzungen
verleitet. Das braucht gar nicht einmal kalt oder neutral zu geschehen, denn es gibt ja auch ein
Wissen, bei dem das Herz beteiligt ist. Aber das genügt bei weitem nicht, wo es sich um das
Letzte handelt, was uns Menschen nun eben doch - das liegt in der Natur der Seele - unendlich
schwer zugänglich ist.

Das Wort »Seele« braucht nur zu fallen, und schon setzt bei uns die Ohnmacht ein, von ihr
deutlich zu reden. Ein heißes Wissen ist es um die Seele, doch die Sprache will fast versagen,
wenn ihr Wesen uns klarwerden oder gar gezeigt werden soll, wie sie vor Gott steht.

Da führt uns Jesus mit der Bildkraft seiner Worte in das sichtbare Heiligtum und zeigt nur auf
zwei Menschen, und schon sehen wir mit diesen unsern Augen, »wie einer vor Gott steht«.

Und da kommt es wie von selber in unnachahmbarer Unabsichtlichkeit zum Vorschein, wie der
ganze Mensch im Innern aussieht, in welchen Spannungen der Wahrheit oder vorgetäuschten
Entspannungen der Unwahrheit, der geistigen Blindheit einer einhergeht.
»Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein
Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst (!) also: 'Ich danke dir Gott, daß ich nicht
bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich
faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe.' Und der Zöllner
stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine
Brust und sprach: 'Gott, sei mir Sünder gnädig«

Malerei! Der Tempel - wir sehen die weite, säulentragende Halle, und sie ist leer. Nur zwei sind
drin. Sie stehen. Aber nicht nebeneinander. Abstand ist zwischen ihnen. Der eine legt eine große
Entfernung zwischen sich und den andern, der andere empfindet diese Entfernung als eine
Verbannung aus der Nähe Gottes und beugt sich unter sie in Scham und Reue. Er steht von
ferne. Eine einfache Standortänderung! Weiter nichts. Aber sie offenbart alles.

Ein Platzwechsel - und der Meister hat die zwei Arten gezeichnet, wie die Menschen vor Gott
stehen.

Der Pharisäer beginnt ein stilles Gebet mit den Worten, unter deren Gericht wir zumeist alle
fallen. Wer will auch »wie die andern« sein? Die Leute! Die Leute! Die irgendwie Minderwertigen -
die sind der Hintergrund, von dem wir uns abheben. Sünde? Das Wort ist in dem Wörterbuch des
Pharisäers gestrichen! Das ist eine Angelegenheit geistiger oder leiblicher Bastarde.

Der Zöllner aber steht da, wo der alte Mensch, wo jeder Mensch hingehört.

Wie ist aber diese tiefste Innerlichkeit in sichtbare Gebärden umgewandelt! Immer wieder muß
man dieses Bild der beiden betrachten, und je länger man es beschaut, um so mehr Fäden
spinnen sich von dem Bilde zu dem Beschauer herüber, um so fesselnder wird die Gruppe, um
so stärker wird die Spannung in uns selber. Denn, daß wir selber dort zu sehen sind, das sagt
uns eine Stimme, die wir nur zu oft überhören, die aber unter dem Zwange dieses mit Augen
Geschauten mächtig erwacht: das Gewissen! Das Gewissen hat es wesentlich mit Bildern zu tun,
mit solchen, die man nicht los wird. Und zu diesen Bildern fügt der große Meister noch eins
derselben Art! Nicht eine Idee, ein Bild! Nein, seine Gleichnisse sind keine Spielerei!

Wie einer vor dem Menschen steht, dem wildfremden Menschen.

Wie falsch er steht, und wo und wie er vor ihm stehen muß, um Mensch zu sein, das sieht nur
das göttliche Auge.

Mit Recht sagt der Mensch: Was gehen mich die Menschen an! Was geht mich die Menschheit
an! Ich kann sie mir gar nicht ausdenken in ihrer Vielgestaltigkeit. Geschweige denn sie mit
meinem Herzen umfassen. Sie geht mich nur soviel an, daß ich mich gegen sie behaupte: »Laß
mich nicht in Menschenhände fallen!« fleht schon ein Großer einmal. »Hütet euch vor den
Menschen!«, sagt Christus. »Wölfen gleichen sie!«

Aber... gerade zu ihnen sendet er die Sendboten des Gottesreiches mit dem Kostbarsten, was es
gibt. Heißt das nicht, daß hinter der Raubtiernatur des Menschen noch etwas ganz anderes
steht? Heißt das nicht, daß die Raubtiernatur des Menschen nicht etwas Unabänderliches ist?

Wie soll man das zusammenreimen! Wie soll man daraus und damit aus sich selber klug werden!

Am besten ist es dann wohl, daß man von Fall zu Fall entscheidet und sich im übrigen die
Menschen nicht zu nahe kommen läßt außer denen, mit denen man harmoniert. An die große
Masse muß man nur insoweit denken, daß man gern mit dafür sorgt, daß sie sich das Leben
nicht verpfuscht, auf daß sie es uns nicht verpfuscht. Wenn man die Sache so ansieht, reicht es
sogar zu einer akademischen Liebe zur Menschheit im allgemeinen und in der Idee.
Jesus aber gibt uns - und das ist tatsächlich etwas, was nur durch Bildgestaltung fertiggebracht
wird, also durch Kunst -, er gibt uns eine Perspektive in die Menschheit hinein. Im Vordergrund ist
alles groß und ganz nah und greifbar, die Mitte des Bildes indessen gehört schon fast zum
Hintergrunde, so daß ihre Formen zu der Aussprache im Vordergrunde nichts Jesus mehr
hinzufügen. Nichts Wesentliches. In dieser Perspektive ist alles von Jesus so geordnet, daß der
Mensch ganz genau erkennt, was gerade auf ihn zukommt und was ihn zunächst unmittelbar (im
Rahmen aber des Ganzen) angeht. Wie die Bäume der Landstraße auf uns zukommen und dicht
ganz groß gesehen werden, ohne daß damit die andern Bäume, die in die Ferne zu einem
Punkte zu fliehen scheinen, nicht mehr da wären. Beim Weiterwandern erhält jeder beim Sehen
noch so winzig gewachsene Baum eine wuchtige Größe. Nur nicht alle auf einmal. Es bleibt das
Ganze, aber es wird nicht vom Menschen verlangt, daß er Gott sei und das Ganze mit Blick und
Herz umfasse.

Ja, das ist Kunst, und zwar in keiner Weise Kunst, die zuerst Nachahmung und Nachgestaltung
sein will oder gar muß, sondern hier tritt sie uns entgegen als das Schöpferische mit dem Hauch
des Schöpfers selber, der uns anweht in der Felslandschaft, wo kühne Profile eine seltsame
Schrift an den Himmel schreiben und Waldriesen von überstandenen Stürmen erzählen; der
unser Empfinden verjenseitigt im Blick auf die schweigende Einsamkeit der Wüste, die sich im
Grenzenlosen verliert und doch von einer Sonne majestätisch überstrahlt wird. Dieser göttliche,
schöpferische Hauch ruht auf Menschen noch mehr als auf Landschaften, wenn ihre Gestalt so
geheimnisvoll wahr und innerlich durchleuchtet gezeichnet ist, daß wir die unsichtbare Krone auf
ihrem Haupte sehen.

Ja, es braucht nur eine Gestalt zu sein. (Und letztlich muß es die Gestalt des Einen sein, der wir
nicht sind.)

Jesus läßt uns ihn sehen.

Läßt sehen, wie »einer« - wie der Eine - vor dem Menschen steht, dem wildfremden Menschen.
Vor ihm, daß er ihm das Nächste in der Welt ist.

Das äußerliche Nächste - zugleich das innerliche Nächste! Geistige Perspektive der Menschheit!
Dies ist ihr Bild:

»Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder: sie
zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Es begab sich
aber von ungefähr, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog, und da er ihn sah, ging er vorüber.
Desgleichen kam auch ein Levit: da er kam an die Stätte und sah ihn, - ging er vorüber. Ein
Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihm sein, ging zu ihm, verband
ihm seine Wunden und goß drein Öl und Wein und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die
Herberge und pflegte sein. Des andern Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen und gab
sie dem Wirte und sprach zu ihm: 'Pflege sein, und so du etwas mehr wirst dartun, will ich dir es
bezahlen, wenn ich wiederkomme.'«

An diesem Bilde kann man sich nicht satt sehen. Es ist vollendet schön. Es ist auch gänzlich
wahr. Kunstgenuß paart sich da mit einer Erkenntnis des Lebens, daß man weder von dem
äußeren Bild noch von der unsere Tiefen anrührenden Wahrheit los kann. Die tiefste Tiefe.... Ist
sie nicht die Tiefe, wo der Mensch Gottes Stimme hört und sich vor ihr versteckt? Das Gewissen?

Ist dies Gleichnis nicht - selber Gottes Stimme, die nun unablässig in uns ertönt und uns Unruhe
macht, bis wir - überwunden - den Weg in die Menschheit gehen wie der Eine im Gleichnis und
das Nächste im Vordergrund so in uns hineinholen, daß wir ihm ganz nahe, der Nächste sind?
Der Vordergrund unseres Lebens aber wechselt, je weiter wir wandern, und immer wieder ist
dann ein anderes »Nächstes« da, dem unser Herz nicht ausweichen kann.
Jesus erobert. Er erobert die Gewissen. Er erobert sie und kann sie nur erobern, weil er Bilder
vollen Lebens, die klare, reine, einfache Kunst sind, in sie hineinwirft. Bilder mit ganz weiter
Landschaft, von der sich die Gestalten deutlich abheben.

Trotz aller Bewegtheit ist eine erhabene, wahrhaft klassische Ruhe in ihnen. Die Übersichtlichkeit
macht das Verstehen zum Spiel, und die innere Wahrhaftigkeit macht es zum Zwang. Dies
Gleichnis hat Weltbedeutung errungen. Selbst in Japan kennt man es. Da, wo Jesus nicht den
Glauben der Menschen erobert hat, hat er doch schon von den Gewissen Besitz ergriffen.
Nichtchristen heften sich das rote Kreuz auf den Arm und tragen ihre blutenden Feinde ins
Lazarett, wenn sie in ihre Hände fallen, die also, die sie einst, wenn sie sie auf dem Schlachtfeld
halbtot liegen sehen, völlig erledigten. Das können sie nicht mehr. Ein anderer ist mit seinem
Geist in ihr Gewissen eingedrungen.

Einer, der der Barmherzige Samariter schlechthin ist, hat sich in die Menschheit hineinmengen
lassen und durchdringt sie nun mit der göttlichen Gewalt, die für alle Zeiten sein »rotes Kreuz«
den so gern Kreuzigenden offenbart: die Macht der Liebe. Gott ist die Liebe. Nur darum gibt es
ein Reich Gottes. Nur darum läßt er, der Eine, sich hineinziehen in die Menschheit.

Darum sagt er: »Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und mengte ihn
unter drei Scheffel Mehl, bis daß er ganz durchsäuert ward.«

Doch über die Gewissen führt der Weg Gottes hin zur Waffenstreckung des Menschen
überhaupt. Er führt zur Krisis. Er führt zu der Grenze, wo der Mensch seinen Willen ausliefert an
den König des Reiches und Reichsgenosse wird, oder umkehrt in den alten Tod. Wer aber will
dies Wachstum des wahren Seins aufhalten! Der Druck ist zu groß! Die Macht der Wahrheit
schafft - böse Gewissen, wo der Mensch seines Nicht-wahrhaft-Menschseins inne wird, wo ihm
um Trost sehr bange ist. Statt der tödlichen Wunde, an der er verblutet, will er Heilung und
Frieden. Ja, da wartet er auf den, der nicht an ihm vorübergeht, der ihm der nächste ist und
immer mehr wird. Nach der Glut, die ihn ausdörrte, sucht er Erquickung im Schatten.

Der Eine, der dieses Friedens- und Rettungswerk beginnt, - was ist der gegenüber den zahllosen
Millionen der Menschheit und den Jahrtausenden, die noch werden sollen. Ein Sandkorn!

Er selber sagt etwas Ähnliches. Und doch etwas so völlig anderes, daß für kein Fragezeichen
mehr Raum ist, nämlich:

»Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und säte es auf seinen
Acker. Es ist das kleinste unter allen Samen; wenn es aber aufwächst, so ist es die größte unter
allen Stauden und wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter
seinen Zweigen.«

So etwas kann man natürlich auch nüchtern sagen und logisch klar entwickeln. Aber solches
Sagen erobert nicht, wärmt nicht, fordert nicht heraus, zwingt bewegt nicht.

Auch in diesem Gleichnis ist wie in dem Gleichnis vom Sauerteig das schier Unfaßbare und
Unmeßbare, denn es geht hier bis an die eigene letzte Grenze in uns. Der Ausblick ins
Unendliche bannt uns ebenso wie die Kühnheit, mit der die Zukunft gesehen und als schon in der
Gegenwart wachsend gezeigt wird. Wer Augen hat, zu sehen, der sehe! Und er sieht es!

Er sieht es daran, daß Jesus selber schon das Weltgewissen geworden ist.

Als der Weltkrieg begann, nahmen alle Völker Jesus als den in Anspruch, auf den sie sich
beriefen, um die Sache der Feinde als Gewissenlosigkeit hinzustellen. Jesus hat also die Art, wie
einer »vor dem Menschen, dem wildfremden Menschen, stehen muß«, endgültig bestimmt und in
den Gewissen verankert. Und ohne die überzeugende und überwältigende Macht des Bildes, hat
er es nicht getan, nicht tun wollen und nicht tun können.
Gibt es so einen Künstler, der auch so ein Bild in die Welt hinausgesandt und die Welt dadurch
bestimmt hat?

Hat Jesus damit die Welt nicht geradezu mit einem Netz überzogen, aus dessen Maschen es
kein Entrinnen gibt? Denn gefangen, gebunden werden die Gewissen schließlich alle. Die Frage
ist dann nur noch die, wie ein jeder die Nötigung des Gewissens beantwortet hat, ob er also
brauchbar oder unbrauchbar geworden ist.

Auch das Neuheidentum ist gefangen. Es muß immer - gegen Jesus reden und holt seinen
ganzen Fanatismus - von Jesus. Er gibt ihnen seine Wahrheiten, und ihre einzige Tätigkeit
besteht darin, sie kreuz und quer durchzustreichen. Wie sieghaft diese beiden Striche auch
aussehen, - sie sind eben doch nur Striche ohne Ausdehnung und holen ihre Existenz von dem
Wahrheitsfelde her, das sie durchstreichen. Ihre ganze Lehre besteht im wesentlichen darin, daß
sie die Sätze Jesu hinschreiben und ein Minuszeichen davormachen.

Sie sind im Netz genau wie der Bolschewismus, der weltanschaulich nur von der Antithese gegen
Jesus lebt, denn zu sagen hat er ja nichts. Er sagt nur: Nichts, nichts ist wahr! Daß dann diese
Behauptung auch nicht wahr ist, ist der Wurm, der in ihm nagt und ihn unsicher macht. Die
Gewissen sind nun einmal gefangen. Sie kommen nicht los davon.

Darum darf Jesus sagen (und wie ist es schon bis auf den heutigen Tag greifbar geworden!):

»Abermals ist das Himmelreich gleich einem Netze, das ins Meer geworfen ist, womit man allerlei
Gattung fängt. Wenn es aber voll ist, so ziehen sie es heraus ans Ufer, sitzen und lesen die guten
in ein Gefäß zusammen, aber die faulen werfen sie weg.«

Alle Tage sieht man das am Meer. Aber wem ist daran je das Innere des äußeren
Weltgeschehens aufgedämmert! Wer sieht solche letzten Zusammenhänge!

Nur der, der auf unerklärliche Weise um sie weiß. Was Jesus anrührt, wird Gold. Wenn andere
etwas anrühren, damit es ein Gleichnis sei, wird es Holz.

Ein Halbtoter, ein Priester, ein Levit, ein Reisender - von Jesus angerührt -, werden sie zur
Menschheit und offenbaren das Gesetz des Menschseins.

Wunder oder Kunst? Beides!

Wie einer vor sich selber steht

Darüber kann er keine befriedigende Auskunft geben. Er weiß so viel von sich - und gerade das
nicht, was er wissen möchte. Es ist ein wogendes Meer im Menschen, das bald stürmt, bald still
daliegt mit seltsamer Dünung, einem ununterbrochenen Atemholen. Er fühlt, daß er sich
Unendliches zutrauen muß, muß er doch sogar die Welt erobern und kann er doch sogar
Vergangenheit in Zukunft verwandeln.

Was ist die Heilige Schrift anders, als das, was einst in der Vergangenheit gesagt und erlebt
wurde, aber schwarze Zeichen auf weißem Blatt vermögen, trotzdem sie billigstes Diesseits sind,
das jenseits ewiger Worte festzuhalten, daß es in jedem Geschlecht, in jedem Zeitalter aufersteht
zu etwas, was mit Tinte wirklich auch nicht die entfernteste Wesensgemein schaft hat. Und ist
nicht jedes Bild vom Vater oder vom Ahnen, sind nicht Cäsars Büste und Luthers Totenmaske in
Zukunft verwandelte Vergangenheit?

Wird es darum nicht klar, daß Gott dem Menschen etwas gegeben hat, was der ganzen übrigen
Schöpfung versagt ist, was ihn auf seine eigene Verwandlung hinweist? So viel Licht! So viel
Herrlichkeit! Und daneben Finsternis, daß der Mensch verzweifelt, weil er alles für verloren hält
und sich dazu. Er, der hinausstürmt in die Weite und auszieht, das Höchste zu erringen,
verwünscht dann wieder das ganze Weltgetriebe und liegt zweifelnd verzweifelt in einer dunklen
Ecke und weiß, daß er ganz woanders angekommen ist, als dort, wo er ankommen wollte. Hinter
ihm liegt sein Lebenswerk, einst so gewaltig, dann aber als so unvollkommen erkannt, daß es
eigentlich zwecklos war.

Welche Versuchungen hat da Luther überstehen müssen und ist ihnen zum Teil erlegen. »Wenn
jetzt einer käme, der nach meinem Mangel fragen und mich aus meinen Dornen herausholen
könnte!« bekannte sich der Ehrliche. »Das wäre etwas!« - »Raff dich auf«, lautet dann aber die
Auskunft. »Und glaube an dich selber! Wer erst den Glauben an sich verloren hat, der ist
verloren!« Doch gerade das kann er nicht mehr. Er hat es auch einmal gekonnt, und das alles ist
zerronnen; geblieben sind nur Enttäuschungen und Selbstanklagen.

Wirklich nur das?

Diese furchtbare Enttäuschungfühlen, fühlen können, schöpfungsmäßig fühlen müssen! - ist das
nicht etwas ganz anderes als die Feststellung, daß nun die Sache zu Ende ist? Dies bohrende
Bewußtsein will doch ganz woanders hinaus! Ist es nicht ein Suchen nach reineren Höhen?

Darum gibt uns Jesus die Antwort aller Antworten:

I. »Du suchst, und du kommst zum Ziel!«

Die ganze Besessenheit und Leidenschaftlichkeit unseres Suchens läßt er nicht nur gelten, nein,
er fordert sie! Aber er offenbart uns auch, worauf denn unser ganzes Suchen von Gott her, der es
uns gab, gerichtet ist. Er offenbart das Ziel! Das ist im wahren Sinne Rettung der Seele, wenn ihr
da geholfen wird, denn sonst rennt sie in die Wüste.

In zwei Sätzen (!) malt Jesus diese ganze geheime Welt und malt sie so durchsichtig, daß es
dem Menschen unter dem Eindrucke dieser beiden Sätze wie Schuppen von den Augen fallen
kann und er endlich einmal so vor sich selber steht, daß er sein eigenes Wesen, das ihm so
verhüllt ist, versteht:

»Das Himmelreich ist gleich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte. Und da er eine köstliche
Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte dieselbe.«

Würde wohl ein Frommer von einst oder von heute gewagt haben, den Besitz von Perlen und die
Jagd danach als vorbildlich hinzustellen, wenn man das Gottesreich im Auge hat? Sind das nicht
gerade schreiendste Gegensätze? Himmlisches Wesen und irdischer Schmuck? Dieser
Unmöglichkeit gegenüber erstrahlt Jesu Künstlertum um so heller. Was keiner wagen darf, er darf
es und löst die Aufgabe so, daß sie die Lösung schon ganz von selber in sich zu tragen scheint.
So ganz aus dem Alltagsleben kommt er her, der Kaufmann. Kaufmann und Religion! Was hat
das miteinander gemein! Aber nun steht er einmal da, der Kaufmann, und erlaubt sich, das
Kaufmannsleben als ein Leben hinzustellen, das dem Leben der Seele beim Ringen um die
höchsten Güter völlig gleichläuft. Da kann keiner auf den Gedanken kommen, daß das ja alles zu
tief sei, daß ein mystisch veranlagtes Gemüt dazu gehöre, um das zu fassen, daß der kleine
Verstand des Alltagsmenschen nun einmal zu so etwas nicht ausreiche. Im Gegenteil! Hier ist
reinster Alltag. Hier gehen Gedanken um, die uns allen geläufig sind.

Ja, das ist alles so ganz von dieser Welt, daß auch nichts im unverstandenen Dämmer bleibt. Du
siehst dem Kaufmann in seine Kaufmannsseele; er hat einen Stachel in sich wie ein Künstler, der
keine Ruhe vor sich selber hat und immer schaffen muß. So muß dieser Kaufmann immer an
seine Perlen denken. Er liebt sie. Er hat seine Seele daran gehängt. Nur gute dürfen es sein!
Hohe Werte! Wunderbare Schönheit ist mit ihnen vereint! Aber nein, so gut sie alle sind, sie
genügen ihm nicht. Entweder sind sie zu klein, oder ihre Gestalt ist nicht die erwünschte. Er läßt
nicht ab. Es muß noch bessere Perlen geben. Von Markt zu Markt geht's. Da steht er mit seinem
Perlenledersäckchen am Gürtel und sucht und fragt weiter. Er hat sich vorgenommen, die eine
Perle zu finden, die irgendwo vorhanden sein muß. Wie eine Krankheit hat es ihn gepackt.
Mancher Weg geht durch die Wüste, wo die Gefahr des Verdurstens ist. Aber er muß zum
Meeresstrand in der Ferne, wo er noch nicht war. Und da wird ihm eine Perle gezeigt, wie er
noch keine gesehen. Was kostet sie? Nein, alle seine Goldstücke reichen nicht. Der Verkäufer
zuckt die Achseln. Dann ist nichts zu machen. Eine solche Perle gibt's nicht zum zweiten Mal.
Aber er will mit dem Verkauf noch warten. Der Kaufmann will wiederkommen, mit noch mehr
Geld. Der Kaufmann schafft das Geld herbei. Alles, was er bisher erarbeitet hat, Haus und Hof,
Kostbarkeiten und Geräte, Sammlungen und Bilder, alles, alles verkauft er und verwandelt er in
bare Münze, um wieder ganz von vorn anzufangen. Aber die Perle muß er haben. Und dann
kommt der Augenblick, da geht sie in seinen Besitz über. Das Rennen eines ganzen Lebens ist
beendet und hat sich gelohnt. Der Lohn ist die Besitzfreude, die ihn fast trunken macht,
abgesehen davon, daß der Besitzer einer solchen Perle unumschränkten Kredit hat, abgesehen
davon, daß jeder seine Tatkraft anstaunt, der nichts unmöglich ist.

So - sagt Jesus - ist dein Suchen, Mensch.

Und nun suche! Suche nicht in dir, was du ersehnst.

Das Ziel deines Lebens liegt außer dir, wie die Perle in den Gedanken des Kaufmanns kein Ziel
war und sie etwa in den Gedanken hätte gesucht und konstruiert werden müssen.

Wer das Ziel seines Lebens in sich selber sucht, ist ziellos und kommt nicht vom Fleck.

Ein Vorauswissen hat Gott den Menschen mitgegeben. Sie suchen Werte, Kostbarkeiten. Sie
rennen nie hinter Dingen her, die sie auf der Straße finden. Wertvoll soll es sein, was sie suchen.
Und weil Werte existieren, nur darum suchen sie. Ihr ganzes Suchen ist erst gestiftet worden, als
die Ziele schon gesetzt waren. Das Eisen wird angezogen von der höheren Qualität des
Magneteisens, das in die niedere Qualität seine Kraft ausstrahlt. Das Suchen des Menschen ist
nicht eigenes Erzeugnis. Es ist Gabe! Gabe ist es, daß er unterscheiden kann, was Wert hat und
was nicht. Gabe ist es, daß er merken kann, was ihm mangelt. Gabe ist es, daß er unter dem
Mangel leidet und »auf die Beine kommt«. Ohne diese Gabe, die Werte herauszufinden und zu
lieben und um sie zu ringen, kann keiner den Wert Jesu erkennen. Dafür ist die Seele
vorausbereitet. Sie sucht so lange irdisches Glück, bis sie erkennt, daß es überhaupt kein Glück
gibt ohne den Frieden Gottes.

Und da lenkt Jesus unser Suchen in die Bahn des Lebens. Hast du nicht längst gemerkt, daß du
nur gute Perlen suchst? Daß dein Sehnen nach wahrem Leben verlangt? Kunst, Wissenschaft,
Arbeit, Erfolg, Vaterland, Familie - alles gute Perlen. Aber sie füllen die Seele nicht aus, bei
weitem nicht aus, und machen dem Suchen doch kein Ende.

Das tut nur Gott.

Wage nur das letzte und gib alles dran, um dein Suchen endlich loszuwerden, sonst kommt der
Friede sowenig wie das Glück, sondern du welkst und stirbst an deiner unerfüllten Sehnsucht.

Mach es wie der Kaufmann! Gib alles andere dran um das eine, das Reich Gottes. Gib alles auf,
stürze dich in die Ewigkeit, in die Wahrheit, in die Liebe Gottes. Er gibt dir alles.

Und dann gibt er dir alles, was du hattest, verklärt zurück. Du wirst nicht arm dabei. Du verlierst
dich nicht, wenn du dich an Gott verlierst.

Erdenke ein Gleichnis, das ihn besser deutet, den Menschen mit der großen Unruhe!
II. »Du wirst gesucht.«

Ja, der da sucht, wird selber gesucht, verkündet uns Jesus. Denn sie alle, alle haben ja nicht das
gesucht, was in der köstlichen Perle symbolisiert ist. Oft haben sie, die Suchenden, mit derselben
Leidenschaft gesucht wie der Perlenkaufmann, aber nicht das, was allein suchenswert ist und
Erfüllung bringt. Freiheit, Glück, Macht, Kunst und Kunstgenuß, Erfolg, Geistigkeit, Persönlichkeit,
Größe, Ruhen in sich selber - das alles füllte den leeren Raum nicht aus, der innen gähnte, und
auf dem Wege zu jenen hohen Zielen, die sie sich steckten, sind sie liegengeblieben. Sie hatten
einen Gegenspieler. In sich selber. Freiheit aber ist ein Wahn. Freiheit, in dem Sinne, wie sie der
natürliche, begeisterte Mensch haben will. Denn es gibt keine unbedingte Freiheit. Einen Herren
hat man immer, gerade dann, wenn man meint, alle Herren abgeschüttelt zu haben, unter ihnen
natürlich auch Gott. Entweder will man Höheres in sein Leben hereinholen, ein geistigeres Leben
führen, ohne Gott, - dann muß man »sein Leben auf dem Altar der Wissenschaft opfern«. Dann
hat die zu befehlen. Oder man will das Leben genießen, und schon ist der Genuß, oft genug die
Leidenschaft der Herr, der schauerlich knechtet. Alles läßt endlich leer. Auch die Wissenschaft,
die die einfachsten Fragen nicht beantworten kann und für die Not der Welt keinen Rat weiß, die
ohne Glauben nur eine Inventuraufnahme der Schöpfung ist.

Eine Zeitlang geht das alles und täuscht den, der in Bewegung ist, über sich selber. Aber endlich
offenbart sich dem immer Suchenden, was bleibt. Er hat sich verirrt in eine Gegend, aus der es
kein Zurück zu geben scheint. Er liegt, statt ins volle Licht gelangt zu sein, im Staube. Daß sie
gesucht werden, können sie aus sich nicht wissen.

Jesus aber offenbart dieses Menschheitsgeheimnis wieder im Bilde, das dem Wandel der Zeiten
nicht unterliegt. Es bleibt frisch und neu und ist immer wieder zutreffend, wie vor 1900 Jahren, so
heute im Zeitalter der raffinierten Menschenvernichtung. Das kann nur Kunst, die
Ewigkeitscharakter an sich trägt:

»Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, der nicht lasse die neunundneunzig in
der Wüste und hingehe nach dem verlorenen, bis daß er's finde. Und wenn er's gefunden hat, so
legt er es auf seine Achseln mit Freuden. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und
Nachbarn und spricht zu ihnen: 'Freuet euch mit mir! Denn ich habe mein Schaf gefunden, das
verloren war.' Oder welches Weib ist, die zehn Groschen hat (wir müßten eigentlich übersetzen
»Taler«, denn ein Gro schen ist ein Tageslohn), so sie der einen verliert, die nicht ein Licht
anzünde und kehre das Haus und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde! Und wenn sie ihn
gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: 'Freuet euch mit mir! Denn
ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte.'«

Da gibt es nun wirklich etwas zu suchen! Liebliche Bilder sind es, die zur Betrachtung locken wie
die Natur draußen und die Welt der kleinen Leute in der vergessenen Straße, die so gern von
den Malern gemalt wird. Lauter Sonne, lauter Freude liegt über den Bildern, daß man dem
Künstler ins Herz sehen und sein Wort von »seiner Freude« auf eine andere Weise als sonst
versteht: »Solches habe ich zu euch geredet, auf daß meine Freude in euch bleibe.« Aber die
beiden Idyllen haben etwas Seltsames an sich. Sie fangen an zu wachsen und immer größer zu
werden, so groß, daß man plötzlich im Himmel steht und von da aus die ganze Menschheit
erschaut und es erlebt, wie alles, was auf Erden geschieht, seine geistigen Wellen bis in den
Himmel schlägt, wie das »Oben« am »Unten« teilnimmt, doch nicht wie der Theaterbesucher in
der Fremdenloge, sondern als ein unmittelbar mit heißem Herzen Beteiligter. Der Hirte kommt ja
aus der Ewigkeit herüber! Die Hand, die den Groschen ergreift und aus dem Staube hebt, ist
Gottes Hand.

Wenn aber schon ein irdischer Hirte ein Schaf, das keine unsterbliche Seele hat, mit eigener
Lebensgefahr rettet, wieviel wahrscheinlicher ist es, daß die Anteilnahme im Himmel an
unsterblichen Seelen noch eine ganz andere ist! Und wenn schon eine arme Frau es fertigbringt,
einen Groschen zu suchen und zu finden, wieviel mehr wird der Ewige Anteil nehmen, wenn das
Gold verloren wird, das sein eigenes Gepräge, ja, sein eigenes Bild an sich trägt.

Das ist Kunst, und die Kunst in der Kunst ist wieder, daß weit Auseinanderliegendes an einer
Anschauungsstelle erscheint. So vieles würde im einzelnen für sich eine besondere Behandlung
verlangen. Was aber einzeln behandelt wird, fällt auch leicht auseinander. Dem ewigen
Seelsorger liegt aber daran, daß die Seele sich an einem Bilde erquickt und an ihm zurecht- und
zurückfindet.

Was für Ströme von Kunst hat aber dies unscheinbare Gleichnis (vom verlorenen Schaf)
erschlossen! Malerei und Plastik haben es immer wieder zum Vorwurf genommen. Wahre Kunst
holt sich nicht von der Unkunst ihre Motive.

Gottlose als - Führer zu Gott - ein Kunstwagnis

Das ist ein derartiger Widerspruch in sich selber, daß es ein unglückliches Unternehmen sein
muß, sich auf ein solches Problem überhaupt einzulassen. Gottlose als Führer zu Gott! Das
können sie doch nun einmal nicht sein! Was für geschraubte Gedankenwindungen müssen das
sein, die aus schwarz etwa weiß machen wollen! Jesus aber kommen die Gottlosen gerade recht,
um den Kindern des Lichtes zu zeigen, was jene besser können als sie. Er kann zu unserem
Staunen das Unmögliche, und nichts ist dabei geschraubt oder - wie in moderner Dichtung - an
den Haaren herbeigezogen.

Alles steht in klarem Lichte des Tages, wie wir ihn erleben, vor uns und hat das Siegel der
Wahrheit und ganz echter Natürlichkeit. Da gibt es kein »in gewissem Sinne«, kein »wenn man
die Sache so ansieht«. Keine Poloniusschmiegsamkeit! Keine Hysterie, die in
Verbrecherromantik macht! Aber Jesus braucht eine solche Gottlosenzeichnung, um die
Gläubigen aus dem Schlaf zu wecken und zur Tat aufzurufen. Scham soll sie überkommen
angesichts dieser Gottlosen. Ihre Lauheit in Tat und Gebet ist gefährlich und kann verhängnisvoll
werden. Denn das Entweder - Oder des Evangeliums läßt keinen Mittelweg zu. Das Entweder
allein ist schon die Entscheidung.

Das 1. Gleichnis heißt:

Lukas 16, 1-8. »Es war ein reicher Mann, der hatte einen Haushalter. Von dem wurde ihm
hinterbracht, er habe ihm sein Vermögen verschwendet. Und erforderte ihn und sprach zu ihm:
'Tue Rechnung von deinen Haushalten, denn du kannst hinfort nicht mehr Haushalter sein.' Der
Haushalter sprach bei sich selbst: 'Was soll ich tun? Mein Herr nimmt das Amt von mir! Graben
kann ich nicht, ebenso schäme ich mich, zu betteln. Ich weiß wohl, was ich tun will Wenn ich nun
von meinem Amte gesetzt werde, daß sie mich in ihre Häuser nehmen.' Und er rief zu sich alle
Schuldner seines Herrn und sprach zu dem ersten: 'Wieviel bist du meinem Herrn schuldig?' Er
sprach: 'Hundert Tonnen Öl!' Und er sprach zu ihm: 'Da ist dein Schuldschein, setz dich! Schnell:
schreib fünfzig. Darnach sprach er zu dem andern: 'Du aber, wieviel bist du schuldig?' Er sprach:
'Hundert Malter Weizen!' Und er sprach zu ihm: 'Nimm deinen Brief und schreib achtzig!' (u. s. w.)

Und der Herr lobte den ungerechten Haushalter, daß er klug gehandelt habe", d. h. also, die
Weltkinder sind auf ihrem Gebiet klüger als die Kinder des Lichts auf dem ihren.

Wie schlau der Betrüger handelt! Wie raffiniert macht er alle, alle Schuldner seines Herrn zu
Fälschern, zu Betrügern und dann zu betrogenen Betrügern. Sie können ihn nicht abschütteln.

Als erster in der Welt hat er die Aufgabe gelöst, ohne Arbeit und ohne Betteln durch die Welt zu
kommen und bis an sein Ende ohne die leiseste Sorge zu leben. Man sieht, wie die Geschichte
weitergeht ins Endlose. Es kommt der Tag der Entlassung. Froh zieht der Haushalter von
dannen. Da drüben, nicht weit, öffnet er die Tür, und der erblassende Wirt muß ihn aufnehmen.
Und der Haushalter bleibt, solange es ihm behagt, und äußert ungeniert seine Wünsche. Sie
müssen erfüllt werden. Er braucht nur eine Miene zu verziehen, der »Gastgeber«, so droht der
andere mit dem Finger und zeigt in der Richtung des Gefängnisses aus dem Fenster. Mag jener
mit den Zähnen knirschen, er muß ihn üppig beherbergen, denn er ist ja in seiner Hand. Der
Galgenstrick geht erst, wenn es ihm paßt. So nimmt er bald hier, bald da Wohnung, und sein
»Da-bin-ich-Wieder« kann nicht mit einer »Ausladung« beantwortet werden. Jeder weiß, daß der
Mann zu allem fähig ist und die Schuldscheinfälscher alle vor den Richter bringt, wenn sie nicht
wollen, was er will. Seine Vollmacht war mit dem Tage erloschen, wo der Herr ihm sagte:
Haushalter bist du gewesen: schließ die Bücher ab und lege Rechnung. Alle Schuldner des Herrn
wußten das genausogut, wie es jeder andere wußte. Sie sind in die Falle gegangen. Bei ihrer
Habsucht waren sie gepackt wor den, und der Haushalter hatte sich nicht verrechnet, als er
meinte, daß die Ehre der meisten Menschen nur bis zum Geldbeutel gehe.

Was ist denn aber in aller Welt daran zu loben?

Wieso ist hier der Gottlose ein Führer zu Gott?

Ist denn nicht seine Klugheit gerade das Allerverwerflichste, was es gibt?

Ja! Durchaus!

Aber wie unterscheiden sich die Lichtkinder von diesem Weltkinde? In einem sind die beiden
gleich. Das Weltkind und das Lichtkind! Beide sprechen sogar denselben Satz mit denselben
Worten. Wer aus der Nacht zum Lichte gelangt ist, sagt (oft unter Tränen): Ich weiß wohl, was ich
tun will.

Dasselbe sagt der Haushalter auch und vergießt dabei keine Träne, sondern ein wissendes
Lächeln umspielt dabei seinen Mund.

Aber nun kommt der himmelweite Unterschied: Der Weltmensch weiß, was er tun will, und tut es
auch!

Und die Kinder des Lichtes wissen auch, was sie tun wollen, und tun es nicht!

Eine größere Torheit gibt es nicht, denn damit verscherzen sie sich doch schließlich die Ewigkeit.
Heiligste Antriebe und Bewegungen waren durch ihre Seele gegangen. Ein neues göttliches
Leben leuchtete schon in ihren Augen auf - und bei diesem Leuchten blieb es dann. »So ihr
solches wisset« sagt Jesus, »selig seid ihr erst, wenn ihr's tut!«

Damit deckt Jesus die tiefste Not derer auf, die aus dem Sumpf der Welt erwacht sind zu der
schauervollen Wahrheit der Dinge, zu der Einsicht und Erkenntnis, daß die Zeit und alle ihre
Gebilde auf der Ewigkeit beruhen und daß diese arme Erde die Schwelle entweder des Himmels
oder der Hölle ist (Carlyle).

Dies Erwachen rechnen die Kinder des Lichtes als ihre Tat, und es war doch die Tat eines
anderen. Mit der Tat lassen sie sich genügen. Toren, die sie sind! Die Kinder der Welt sind auf
ihrem Gebiete klüger. Die bleiben nicht in der Ausgangsstellung stehen und treten nicht auf der
Stelle, sondern sie gehen auf ihr Ziel entschlossen los.

Das zweite Gleichnis heißt:

»Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem
Menschen. Es war aber eine Witwe in dieser Stadt, die kam zu ihm und sprach: 'Rette mich vor
meinem Widersacher!' Und er wollte lange nicht. Darnach aber dachte er bei sich selbst: Ob ich
mich schon vor Gott nicht fürchte, noch vor keinem Menschen scheue, dieweil aber mir diese
Witwe so viel Mühe macht, will ich sie retten, auf daß sie nicht zuletzt komme und betäube mich.
Höret hier, was der ungerechte Richter sagt! Sollte aber Gott nicht retten seine Auserwählten, die
zu ihm Tag und Nacht rufen? Und sollte er's mit ihnen verziehen? Ich sage euch, er wird sie
erretten in einer Kürze« (Lukas 18, 2-8).

Armes Leben ist vor uns hinskizziert. Eine entrechtete Witwe und ein Großer, der ein Beuger des
Rechtes ist und sie in der Hand hat! Der Richter ist sehr »modern«. Er ist nichts anderes als der
autonome Mensch, der sich selbst Gesetz ist und nur an sich selber glaubt und nur sich selber
lebt. In diese Eiseskälte wandert der heiße Wunsch der Witwe, gerettet zu werden vor dem, der
die Notlage des wehrlosen Weibes benutzt, um ihr das letzte bißchen Eigentum zu nehmen, das
sie noch hat. Und es geschieht das anscheinend Wunderbare, daß der Richter die Frau rettet,
und es geschieht auf ganz natürliche Weise. Es geschieht, trotzdem er die Frau widerwärtig
findet. Man glaubt, ihn im Gleichnis sagen zu hören: Ist das Weib schon wieder da? Hinaus mit
ihr! Wut packt ihn. »Das Weib macht mich verrückt!« Das ist aber nicht hineingelesen, sondern in
der kurzen, inhaltsreichen, einen Zusammenhang von vielem durch wenige Worte
ausdrückenden Redensweise Jesu enthalten. Darin liegt ja gerade das Geheimnis verborgen,
daß die Gleichnisse Jesu unerschöpflich sind und immer neue Züge offenbaren, ob man sie auch
zum hundertsten Male liest oder hört. Ein Zeichen, daß die Worte Jesu von da herkommen, wo
die Quellen der Schöpfung rauschen! Schöpferische Kunst verbunden mit dem Mitteilungstrieb
der Liebe! Das ist es. Hier wird es deutlich an einer scheinbaren Belanglosigkeit. Alle andern
Gleichnisse aber weisen diesen Charakter gerade in den tiefsten Wahrheiten auf: - sie malen.

Der verhärtete Richter, der Menschen zwingt, wie er will, wird gezwungen, daß er tut, was ein
anderer will, noch dazu ein verachtetes Wesen, das nur Schwachheit und Ohnmacht ist. Der
Gottlose lehrt die Kleingläubigen, daß selbst er Bitten erhört, noch dazu Bitten solcher, von denen
er sich abgestoßen fühlt.

Dieser Gottlose führt wahrhaftig durch sein eigenes Beispiel unmittelbar zu Gott. Denn wenn er
schon Bitten erhört, wie können dann diejenigen an der Erhörung ihrer Bitten zweifeln und matt
im Gebet werden, die von Gott zu seinem besonderen Dienst auserwählt sind! Von dem, der kein
ungerechter Richter ist, sondern die Gerechtigkeit im Vollmaß, denn er hat die Macht, sie
durchzusetzen.

Ein Kunstwagnis!

Gottlose als Führer zu Gott.

In Jesu Händen ist dieses Kunstvorhaben kein Wagnis. Gerade diese beiden Gleichnisse haben
etwas ganz Ursprüngliches und ungeheuer Emporreißendes an sich. Es ist, als ob vor uns ein
Banner entfaltet wird und wir ihm nun begeistert und entschlossen folgen.

Ganz kleine Verhältnisse...

Und er sprach zu ihnen:

»Welcher ist unter euch, der einen Freund hat, und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu
ihm: 'Lieber Freund, leihe mit drei Brote! Denn es ist mein Freund zu mir gekommen von der
Straße, und ich habe nicht, was ich ihm vorlege!' - Und er drinnen würde antworten: 'Mache mir
keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kindlein sind bei mir in der Kammer;
ich kann nicht aufstehen und dir geben!'

Ich sage euch: Und ob er nicht aufsteht und gibt ihm, darum daß er sein Freund ist, so wird er
doch um seines unverschämten Geilens willen aufstehen und ihm geben, wieviel er bedarf.«

Ein Familienbildchen! Köstlich die einzelnen Züge, die fast drollig anmuten! Kleinmalerei kleinster
Verhältnisse. Da ist ein Freund mitten in der Nacht unerwartet angekommen. Ausgehungert. Sein
Freund hat aber nichts, ihm aufzutischen. Kein Stückchen Brot ist mehr im Haus. Also hinüber
zum andern Freund. Es ist Mitternacht. Schweigen und Schlaf liegt über dem Städtchen. Und nun
lärmt in die Nachtstille hinein der Freund, der seinen Freund aus dem Schlaf heraus klopft. Ein
kleines Haus. Die Kinder sind beim Vater in der Kammer. Wenn sie nur nicht aufwachen!
Erwachen sie erst, dann wird die Nacht zum Tage. Dann schlafen sie nicht wieder ein. Dann
heißt es singen und erzählen, um die kleinen Geister zur Ruhe zu bringen. Er kennt das nur zu
gut und ist dann verzweifelt. Ihm graut davor. So geht das Gespräch durch das Holzgitter des
Fensters hin und her. Halblaut. Verzweifelt wehrt der Freund drinnen ab: »Mache mir keine
Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen (schon!)! Und meine Kindlein sind bei mir in der
Kammer! Ich kann nicht aufstehen und dir geben.« (Ich will auch nicht. Ich will meine Ruhe
haben. Soll ich jetzt durchs Haus schleichen und in der Dunkelheit nach dem Brot
herumsuchen?) Doch der Freund ist nicht loszuwerden. Er bittet immer wieder: »Aber es wird
schon gehen! Steh doch leise auf. Die Kindlein werden schon nicht aufwachen, aber ich muß, ich
muß dem armen hungrigen Freund etwas zu essen geben. Die ganze Nacht ist er schon
gewandert nach dem durchwanderten Tage. Seit 7 Stunden hat er schon keinen Bissen mehr
gegessen. Bedenke doch: Gastfreundschaft ist heilig!« - Nein, er hört nicht auf. Er wird auch nicht
aufhören, merkt der Freund da drinnen. Was bleibt ihm weiter übrig, als mit einer Verwünschung
doch aufzustehen und nach dem Lämpchen herumzutappen, es draußen vor der Kammer
anzuzünden und in der Vorratskammer nach dem Brot zu suchen. Drei Brote. Da sind ja wirklich
noch welche. Ein bißchen viel. Aber gib sie ihm nur, sonst legt er sich wieder in seiner Art aufs
Bitten und ich muß nur noch einen doppelten Weg machen. Der Schlüssel kreischt im Schloß.
Zwei Hände reichen drei Brote aus der Tür. Zwei Hände greifen zu, und ein paar lustige
Freundesworte antworten auf das Brummen hinter der zugehenden Tür, aber es klingt schon gar
nicht mehr so böse wie zuerst!

Ganz kleine Verhältnisse!

Aber sie sind ein wunderbarer Wegweiser ins Land der Wunder, dahin, wo ein Herz für uns
schlägt, dahin, wo »das Herz der Welt« schlägt. Kein Wegweiser in die größten Verhältnisse, ins
Unfaßbare, Unmeßbare!

Mitternacht! Unüberwindliche Schwierigkeiten haben sich aufgetürmt. Da hilft auch kein Bitten.
Die Berge der Hemmungen sind zu hoch. Und zu jeder Stunde darf man Gott auch nicht
kommen. Wie mag er überhaupt über unsere Schwierigkeiten und Nöte denken! Er, der ewige,
erhabene Gott, der in einem Licht wohnt, da niemand zukommen kann, der so himmelhohe
Weltgedanken bewegen muß, wenn er Welt und Menschheit regiert, - wie kann er sich um meine
Kleinigkeiten kümmern! Ich bete doch dann bloß in die Luft, also lasse ich's lieber und bin
demütig genug, an die Kleinigkeit meiner Verhältnisse zu denken. Mögen sie mir wie Bergriesen
erscheinen, - vor Gott sind sie nicht der Beachtung wert, und um meinetwillen wird er nicht seine
Gesetze auf den Kopf stellen und das, was ganz folgerichtig eins aus dem andern gekommen ist,
umzaubern in sein Gegenteil. Für mich sind's Riesendinge, für ihn Belanglosigkeiten, bei denen
er sich bei seiner Weltregierung nicht aufhalten kann.

In dieses Gedankengewirre hinein wirft Jesus das eine Wort, das die Lage des Matten erklärt:
»Freund!« Das Freundmotiv beherrscht das ganze Gleichnis. Immer wieder klingt es in unser Ohr
und beherrscht unsere ganze Gedankenwelt.

Gott ist dein Freund! Der Gedanke überwältigt uns als eine neue Wahrheit.

Gott als Freund! Kann man sich das vorstellen? Darf man das? Jesus erzwingt es hier. Er nötigt
uns, neben dem irdischen Freunde den ganz andern Freund zu sehen, der keinen Unwillen
kennt. Der Unwille ist hier mit einer Kunst, die ganz unaufdringlich ist, als ein Etwas gezeichnet,
das nur in kleinen, menschlichen Verhältnissen Heimatrecht hat, aber in den großen göttlichen
wegfällt. Dort in der Kammer, wo ein Vater das Geschrei erwachender Kinder fürchtet, da mag er
sein saures Gesicht machen. Ins Reich Gottes paßt diese Regung nicht hinein.

So malt Jesus mit Bedacht die kleine Welt und gibt uns dann den Durchblick durch sie hindurch
in das Wie-viel-Mehr der ewigen Welt. Der Freund erhört den Freund! Hier und dort! Aber, wie
hier? Und: wie herrlich anders dort! Oder meinst du im Ernst, läßt dich Jesus zu Ende denken,
daß der Freund dort in der Kammer über Gott steht? Wer kann sich diesen zwingenden
Schlußfolgerungen entziehen! Das Bild treibt uns in die Enge. Es sagt: Bittet und nehmt! Wer da
anklopft, dem wird aufgetan! Tut es, sagt Jesus. Und in der letzten Nacht fügt er hinzu: »Ihr seid
meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete.«

Hinter Ja und Nein.

Ja - ist freudige Zustimmung. Nein - ist schroffe Ablehnung. Positiv und Negativ stehen einander
gegenüber wie Tag und Nacht. Wir Menschen glauben damit etwas Endgültiges festgestellt zu
haben, wenn wir die Welt einteilen nach ihrem Ja und ihrem Nein und danach von positiven und
negativen Weltanschauungen sprechen. Jesus aber erklärt das alles für Vorgelände. Er hat ja
überhaupt ein himmlisches Interesse daran, alle menschlichen Standpunkte zu erschüttern und
die sicheren Menschen unsicher zu machen. Darum läßt er uns wieder durch einen ganz
gewöhnlichen Vorgang, der gar keine Bedeutung im Leben der Welt hat, gerade das Leben der
Welt schauen.

Statt die seelische Struktur auseinanderzufasern und uns mit Erklärungen der Veranlagung oder
Erblichkeit aufzuhalten, führt er uns in den grauesten Alltag hinein, in dem uns aber auch wirklich
nichts rätselhaft bleiben kann. Das möchten wir aber gern, seltsamerweise! Denn wenn es uns
gelingt, etwas recht dunkel zu finden und als ungelöstes Welträtsel anzusehen, haben wir das
erreicht, was wir im Grunde heimlich wollen: wir sind zu nichts verpflichtet! Was man nicht lösen
und erklären kann, kann man doch nur auf sich beruhen lassen. Das geht uns nichts an.
Natürlich! Es ist »hochinteressant«, diesen Verflechtungen nachzuspüren und geheime Fäden zu
entwirren, aber der Block in unserem Innern wird dadurch nicht gesprengt.

Darum holt sich Jesus die Farben vom grauesten Alltag, wie man ihn selber oft genug ganz so
erlebt hat, entweder als der Enttäuschende oder der Enttäuschte, und setzt mit ein paar großen
Strichen das Bild hin, dessen Einfachheit darüber hinwegtäuscht, daß es Kunst im höchsten
Sinne ist: trotz der Alltäglichkeit besondere Form und ewiger Inhalt.

Hinter Ja und Nein kommt erst das Ja und das Nein, aber nicht da, wo man es erwartet. Das
erste Ja, auf das wir Menschen Welteinteilungen gründen wollen, ist nur ein bedingtes Ja, also
überhaupt kein Ja. Denn hinter der freudigen, begeisterten Bejahung fehlt etwas, und zwar die
Hauptsache. Und ebensowenig ist das ablehnende, schroffe Nein schon das Ende einer
Entwicklung, sondern kann gerade der Anfang einer neuen sein (Matthäus 21, 28-31).

»Was dünkt euch aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: 'Mein
Sohn! Gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberg.' Er antwortete aber und sprach: 'Ich will's
nicht tun!' Darnach reute es ihn - und er ging hin. Und er ging zum andern und sprach gleichso.
Er antwortete aber und sprach: 'Herr! Ja!'- und ging nicht hin. Welcher unter den zweien hat des
Vaters Willen getan?«

Die Zusage des zweiten ist mit einem einzigen Schlaglicht charakterisiert, herausgehoben, so
daß sie uns ganz nahe tritt und wir in eine Welt von Empfindungen unmittelbar hineinschauen.
»Herr!« - redet der Sohn seinen Vater an. Du hast zu befehlen. Demütig neige ich mich vor
deiner Autorität. Sieh mich als deinen Sklaven. Nur du giltst für mich. Nur dein Wort hat Wert.
Herr! Ja! Was könnte es Schöneres geben, als einer Vertrautheit von dir gewürdigt zu werden,
wo du deine Pläne mit mir ausführst und mich zu deinem Beauftragten machst.

Wer hört da nicht den inneren Schwung, die tiefe Verbundenheit heraus! Dies »Herr« im Munde
des Sohnes spricht Bände! Es ist die einzige Stelle im Neuen Testament, wo ein Sohn zu seinem
Vater »Herr« sagt. Nun gibt es zwar nur zwei »Vater-Sohn-Gleichnisse«, doch nicht einmal der
aus der Fremde heimkehrende, zum Bettler gewordene Sohn redet den Vater mit »Herr« an,
trotzdem er nur noch Tagelöhnerrechte im Hause in Anspruch nehmen möchte. Dieses »Herr!
Ja!« ist wuchtig, aus einer unbedingt ehrlichen Stimmung heraus gesagt.

Jesus stehen, als er dieses Gleichnis spricht, gerade die Menschen gegenüber, die ihre
unbedingte Zugehörigkeit zu Gott für ihr Leben halten und damit ihr ganzes irdisches Leben
ausfüllen. Dieselben stehen immer wieder und in ganz derselben Haltung vor Jesus. Ihr Ja - ist
das nicht wirklich Ja? Haben sie nicht im Namen ihres »Herren« viele Taten getan? Was treibt sie
denn um als nur der eine Gedanke, darüber nachzusinnen, was sie nicht alles zur Verbesserung
der ungläubigen, sündigen Menschheit tun können! Haben sie nicht »im Weinberg«, das ist doch
das Sinnbild für das Reich Gottes, rastlos und mit Eifer gearbeitet? Und hier sagt Jesus: Hinter
eurem Ja steht - das furchtbare Nein! Ihr tut euren Willen, aber nicht den Willen Gottes. Gottes
Wille heißt: Kehre um! Erkenne erschüttert, daß du ein leeres Gefäß bist, das nur Gott füllen
kann. Daß du nicht und nie aus dir lebst, sondern nur aus der Fülle, die von oben kommt. Das ist
deine Arbeit, und zu der bist du nicht bereit. Damit könntest du anfangen und dann fortfahren, auf
allen Gebieten die Umkehrung des alten Wesens - immer mit dem einen zusammen - in die
Wege zu leiten. Richter ist Gott allein, der Gerichtete ist immer der Mensch. Dagegen ist das
schroffe »Nein« des anderen Sohnes aussichtsreicher. Er bereut. Er hat im Kampfe gegen den
Willen des Vaters empfunden, daß er nicht von ihm loskommt, und gespürt, wie sehr er von ihm
innerlich abhängt.

Die Schroffheit seiner Absage ist künstlerisch fein hingesetzt. Man glaubt förmlich das Gesicht
des Soh nes, wie mit dicken, schwarzen Kohlestrichen gezeichnet, vor sich zu sehen. Keine
Anrede mehr! Nicht Vater, und erst recht nicht »Herr«! Eine unerhörte Haltung. Konnte es anders
kommen? Bei diesem Leben im täglichen Widersprechen?

Aber dieses Nein ist kein Abschluß. Es ist eine Mauer, gegen die er mit dem Kopf gerannt ist und
vor der er nun nicht stehenbleibt, sondern von der er umkehrt, um den Weg zu gehen, den er nie
gegangen. Befreiungswille!

So wird aus einem Alltagsbild ein Ewigkeitsbild. Die Linien sind leicht weiterzuziehen.

Damit aber stehen wir wieder vor großer Kunst, die den wertlosen Alltagsstoff dem Geiste
dienstbar macht und die schauende Seele, der doch wirklich recht Staubiges, Materielles gezeigt
wird, ganz und gar nicht mit Materie erfüllt. Aber beileibe wird dadurch Jesu Kunst nicht abstrakte
Kunst, die im Nebel des Unvorstellba ren endet, wie etwa ein Maler ein »Adagio in grün« zu
malen versuchte. Seine Phantasie bleibt immer erlebnis mäßig eingestellt. Sie läßt Seele und
Sinne nicht los und läßt sie - nie los! –

Die Seele alles Weltgeschehens.

Die tiefste Erkenntnis alles Weltgeschehens drückt sich - und das Wort ist von der Erde her
gesprochen - in dem Bekenntnis aus: Die Weltgeschichte ist das Weltgerichte. Was heißt
angesichts des Weltkrieges »Kultur«! Was »Zivilisation«! Wo alle Erfindungen nur dazu dawaren,
ungezählte Hunderttausende von Menschen zu vernichten! Wo die Welt plötzlich von dem Wahn
befallen wurde, sie würde glücklich, wenn alle Völker der Welt sich zu einem Kriege
zusammenfänden, um ein Volk aus ihrer Mitte als verdorben auszuscheiden. Darum war es ja
auch ein »heiliger« Krieg. Aber daß dieser Wahn nicht die Seele des Weltgeschehens sein kann,
hat das Weltgeschehen in nicht mißzuverstehender Weise bewiesen. Der Wahn von 1914 und
1939 ist aber nicht ein erratischer Blick auf grüner Aue. Er ist nur eine Abart des Wahnes, daß die
Menschheit niemanden über sich hat und danach ihre Berechnungen macht. So steuert sie
immer wieder auf ein neues »Weltgerichte« los, und alle Sehnsucht, den Krieg endlich einmal
abzuschaffen, ist eitel, denn dann will die Menschheit erst recht niemanden über sich haben, und
der nach außen abgesperrte Krieg wird zu einem Morden nach Innen.

Mit heißem Bemühen hat die Geschichtsphilosophie einen verborgenen Sinn der Weltgeschichte
aufzuspüren gesucht. Sie haben alle miteinander keinen gefunden. Das heißt, jeder hat einen
andern gefunden, aber alle müssen sie vor der Todeslinie haltmachen und gestehen, daß der
»Weltentod« jedem Sinn ein Ende macht. Ein untergegangenes Schiff hat nun einmal keinen
Sinn mehr, und aller voraufgehende Sinn war vergebliche Mühe. Das Wellengrab zog auch den
mit hinunter. Die Goldbarren sinken mit allen Waren, die Gewinn bringen sollten, in die Tiefe. Das
Gold kann nicht mehr ausgemünzt werden, und wenn es die kapitalsten Gedanken gewesen
sind.

Könnte nicht die Menschheit an dem »Weltgerichte« ihrer Geschichte erkennen, daß es - einen
Richter gibt? Und daß, wenn die Weltgeschichte eine Seele hat, sie im Zusammenhang mit
diesem »Richter« zu suchen wäre?

Aber welcher Mensch entwirrt das Völkergewirre? - Kann das ein Mensch?

Nur der Mensch könnte es, der das Schicksal der Welt ist. Der ihr Schicksal in sich trägt. Das ist
Jesus. - Wie soll aber dieser wahrhaft unendliche Stoff gestaltet werden?

Das Weltgeschehen!

Jahrtausende und aber Jahrtausende, Völker, Reiche, Erdteile, Kulturentwicklungen,


Umschichtungen - wer will das auf eine Formel bringen und damit dem großen Geist genügen
und dem kleinen verständlich werden! Eine unmögliche Aufgabe! Wo soll man ein Bild auf Erden
finden, das imstande ist, in Raum und Zeit zu fassen, was unmeßbarer Raum und unmeßbare
Zeit ist! Wer macht sich überhaupt an eine solche Aufgabe! Gilt es dann doch, die ganze
Vergangenheit, die ganze Gegenwart und die in wer weiß wieviel Jahrhunderten und
Jahrtausenden abrollende Zukunft auf einen Fleck zu bannen, daß man sie anschauen kann wie
ein Bild. Daß gewissermaßen ein Blick aus dem Fenster auf einen Ausschnitt Landschaft genügt,
um die Welt in allen ihren Wandlungen und mit ihrem geheimen Hinstreben auf ein noch
unsichtbares Ziel zu überblicken und sinnend den Blick darauf ruhen zu lassen, als ob das alles
nicht vorüberhaste in endloser Flucht, sondern zum Beschauen einmal stillhielte.

Hier ist also nicht in erster Linie dem Denken und Lehren eine Aufgabe gestellt, nicht dem
Auseinandersetzen und Erklären, denn das würde endlos und haftete nicht, sondern der Kunst,
der Phantasie also, die Symbole schaut, wo das Denken jedes Symbol für unmöglich hält.

Hier ist tatsächlich allen Dichtern und Künstlern der Welt eine Aufgabe gestellt, an der sie sich
einmal versuchen könnten. Sie sollen es doch einmal im Ernst unternehmen, einen solchen
Vorwurf zu behandeln und der Forderung zu genügen, daß diese Kunstschöpfung dann
1. überzeitlich ist und allen Zeiten dasselbe sagt,
2. allen Menschen aller Rassen und aller Begabungen verständlich ist und
3. vor allem so wahr ist, daß man die Wahrheit an den Ereignissen, wie sie inzwischen
eingetreten sind, nachprüfen kann.

Man redet immer so leicht über die Gleichnisse Jesu hinweg, als ob das gar nichts Besonderes
wäre. Ein Gleichnis! Nun ja, was ist das denn weiter! Das ist so eine kleine Geschichte, an der
man etwas klarmachen will.

Darum die Aufforderung hier: Wenn es weiter nichts ist, dann muß es doch ein Kinderspiel sein,
jeden Gedanken in ein solches »Geschichtchen« zu hüllen und so anschaulich zu machen. Dann
versuche sich doch einer an dieser Aufgabe! Es kann doch keinen herzlicheren Vorwurf für die
Kunst geben als diesen: Male uns das Menschengeschlecht! Mit unserem Wesen, unserer
Bestimmung, die wir in uns tragen, mit unserem Schicksal, unserer Zukunft! Diese gewaltige
Aufgabe muß doch endlich einmal in ihrer Wucht und Größe begriffen werden, damit man nicht
immer so gleichgültig und blind an dem vorübergeht, was an rein künstlerischer, schöpferischer
Leistung in den Gleichnissen Jesu in Erscheinung tritt. »Wir sahen seine Herrlichkeit« dieses
Wort gilt auch hier.
Jesus hat es vermocht, in nur vier Bildern, die auf einem einzigen Blatt in einem Buche Platz
haben, Gang und Ziel alles Weltgeschehens zu offenbaren. Die Seele alles Weltgeschehens wird
sichtbar.

I. Der Anfang, der ein Ende ist.

Ein einziges Volk hatte den Glauben an den einen lebendigen Gott anvertraut erhalten. Das weiß
nicht nur die Bibel. Das weiß auch die vergleichende Religionsgeschichte. Das Volk war damit
auserwählt vor allen andern Völkern. Aber nicht in dem Sinne auserwählt, wie es das immer
verstanden hat. Es war auserwählt zum Dienst, nicht zum Hochgefühl stolzer Überlegenheit, die
sich hütet, von ihrem Reichtum abzugeben. Abraham weiß es nicht anders, als daß sein Glaube
an den einen Gott und Schöpfer der Welt ein Segen der ganzen Welt werden soll, die in der
Finsternis des Aberglaubens, der Verzerrung alles Göttlichen versinkt. Er gab ihn weiter, den
Segen, als er lebte. Er predigte den Helden - den Namen des ewigen Gottes - und pflanzte
Bäume! Eine kurze, schlagende Charakteristik. Darum konnte nachher ein Heide am Sinai
Priester des einen Gottes sein und Moses im Glauben unterweisen (2. Mose 18, 14-24).

Aber was wurde daraus! Aus dem Missionar wurde ein Volk, das seine Mission vergaß und
wegen seines Vorzuges, keine Götzen anzubeten, die Götzenanbeter mit einem Gefühl des
Ekels verabscheute. Wie sonderbar mutet es an, wenn an der Synagoge zu Arnheim auf
Hebräisch zu lesen steht: »Dies Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker!« Abgrenzung,
Reinhaltung der Rasse, Stolz auf den richtigen Kultus - buchstäbliche Innehaltung eines
Gesetzes und von 1000 Zusätzen dazu -, das waren die Ideale, bei denen alles Innenleben
verknöcherte. Gott ward zum Notknecht. Mit welch heiligem Zorn kämpften die Propheten alle
dagegen an! Schonungslos sagten sie ihrem Volke das Furchtbarste, was je Menschen an
Anklagen gegen andere haben vorbringen können. Sie verbluten daran. Es ist alles umsonst.

Und doch ist das Volk das einzige in der Welt, das um Gott weiß und in dem die Propheten auf
den lebendigen Gott und auf den hingewiesen haben, der die Menschheit emporführen soll. Ein
Wissen, das groß ist - und sie so klein läßt, daß der Wahn, etwas Großes zu sein, an die Stelle
der Sehnsucht tritt, groß zu werden! Der aber die Menschheit emporführen soll, kommt und bleibt
bei ihnen. Wo Gott selber angefangen hat, soll er weiterbauen, ja, erst zu bauen beginnen, denn
alles Bisherige war nur Vorhalle zu dem Heiligtum, das aus Geist und Wahrheit gebaut werden
und wahrhaftig ein »Bethaus für alle Völker« sein soll.

Drei Jahre!

Und diese drei Jahre haben das Weltgeschehen für alle Zeiten verändert!

Wie aber steht er innerlich zu dem Volke, dessen Mission ihm übertragen ist? Wie entscheidet
sich das Geschick dieses Volkes an ihm? Durch ihn? Und wie steht und stellt sich das Volk zu
ihm?

Das Symbol des Volkes Israel ist der Feigenbaum, das Symbol des Reiches Gottes der
Weinberg. Diese beiden Zeichen verwandelt Jesus in Gleichnisse und beginnt:

»Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberge. Und er kam und
suchte Frucht darauf, und fand sie nicht. Da sprach er zu dem Weingärtner: 'Siehe, ich bin nun
drei Jahre lang alle Jahre gekommen und habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaum, und
finde sie nicht. Haue ihn ab! Was hindert er das Land!' Er aber antwortete und sprach zu ihm:
'Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn, ob er wollte Frucht
bringen. Wo nicht, so haue ihn darnach ab.'«

Kann schöner die Liebe und Treue dessen geschildert werden, der kein Mittel unversucht läßt,
um den Anfang, der sich in ein Ende der Erstarrung verwandelt hat, wieder in einen lebendigen
Anfang zu verwandeln? Aber wie ziehen hier schon die Wetterwolken herauf, aus denen
unvermeidlich der Strahl zucken wird, der keinen Stein auf dem andern läßt!

Was oder vielleicht besser wer ist die Seele dieses Geschehens?

Warum geschieht das, was geschieht?

Dann, als Jesus zum letzten Male die Stadt betritt, die heute um seinetwillen alle Völker der Welt
mit Namen kennen, sieht er, daß das Ende wirklich und unabwendbar ist, ein fürchterliches,
grauenerregendes Ende für ihn, und damit das Ende des Volkes, das seinen Retter verwirft, das
keinen Sinn mehr hat für göttliches Leben und unmittelbare Wahrheit.

Diese Worte sind noch milde gegen die Worte der Propheten! Man braucht da nur aufzuschlagen,
um gleich entsetzt zurückzufahren, z. B. Hesekiel 22: »Du Menschenkind, willst du nicht strafen
die mörderische Stadt und ihr anzeigen alle ihre Greuel? Zu einem Spott und Hohn unter allen
Völkern will ich dich machen! Ich will dich zerstreuen unter die Heiden und dich verstoßen in die
Länder und will deinem Unflat ein Ende machen, daß du bei den Heiden mußt als verflucht
geachtet werden und erfahren, daß ich der Herr sei ... «

Nur ein kleiner Rest, sagen die Propheten, wird übrigbleiben, der glaubt.

Um diesen Rest ringt Jesus. Er erringt ihn und sendet ihn dann - in alle Welt. Aber er kann nicht
um diesen Rest ringen, wenn er nicht zugleich mit heißer Liebe um das ganze Volk ringt, indem
er bis zum letzten Augenblick, den sie ihm lassen, der Warner ist, weil er die Wahrheit ist.

Da entrollt er dieses Gemälde vor ihren Augen; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem
gesehen und erschütternd dargestellt; fünf Tage vor seinem Tode:

Matthäus 21, 33-44:

»Es war ein Hausvater, der pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun darum und grub eine
Kelter darin und baute einen Turm und tat ihn den Weingärtnern aus und zog über Land. Da nun
herbeikam die Zeit der Früchte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, daß sie seine
Früchte empfingen. Da nahmen die Weingärtner seine Knechte, einen stäupten sie, den andern
töteten sie, den dritten steinigten sie. Abermals sandte er andere Knechte, mehr denn der ersten
waren, und sie taten ihnen gleich also. Darnach sandte er seinen Sohn zu ihnen und sprach: 'Sie
werden sich vor meinem Sohne scheuen.' Da aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen
sie untereinander: 'Das ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn töten und sein Erbgut an uns bringen!'
Und sie nahmen ihn und stießen ihn zum Weinberge hinaus und töteten ihn. Wenn nun der Herr
des Weinbergs kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun? Sie sprachen zu ihm: 'Er
wird die Bösewichter übel umbringen und seinen Weinberg andern Weingärtnern austun, die ihm
die Früchte zu rechter Zeit geben. Jesus sprach zu ihnen: »Habt ihr nie gelesen in der Schrift:
'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckpfeiler geworden. Von dem Herrn
ist das Geschehen, und es ist ein Wunder vor unsern Augen?' Darum sage ich euch: Das Reich
Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben werden, das seine Früchte bringt.
Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen! Auf wen aber er fällt, den wird er
zermalmen!«

Alles wird Farbe und Handlung. Man erlebt es mit. Man fühlt sich persönlich eingeschaltet. Und
die Zuhörer werden so gepackt und vergessen so sich selber beim Zuhören, daß sie selber den
Urteilsspruch fällen, der über sie ergeht. Kann ein Gewissen stärker gerüttelt werden?

Umsonst!

Das Kreuz ist dann das Ende eines Volkes und seiner Sendung.
Und es ist der Anfang aller Anfänge im Weltgeschehen!

Es ist die Angel, um die sich die Tür dreht, die sich der Zukunft Gottes öffnet.

Als das Urteil auf Golgatha vollstreckt wird, wird zugleich das andere Urteil vollstreckt: das Reich
Gottes wird von euch genommen und andern gegeben.

II. Darum sagt Jesus (Matth. 20, 1-16):

»Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der am Morgen ausging, Arbeiter zu mieten in
seinen Weinberg. Und da er mit den Arbeitern eins ward um einen Groschen zum Taglohn,
sandte er sie in seinen Weinberg. Und ging aus um die dritte Stunde und sah andere am Markte
müßig stehen und sprach zu ihnen: 'Gehet ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was
recht ist.' Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und neunte Stunde und tat
gleich also. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere müßig stehen und sprach zu
ihnen: 'Was steht ihr hier den ganzen Tag müßig?' Sie sprachen: 'Es hat uns niemand gedingt.'
Er sprach zu ihnen: 'Geht ihr auch hin in den Weinberg, und was recht sein wird, soll euch
werden.' Da es nun Abend ward, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Schaffner: Rufe die
Arbeiter und gib ihnen den Lohn und heb an an den letzten bis zu den ersten.' Da kamen, die um
die elfte Stunde gedingt waren, und empfing ein jeglicher seinen Groschen. Da aber die ersten
kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen, murrten sie wider den Hausvater und
sprachen: 'Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht,
die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. 'Er antwortete aber und sagte einem unter
ihnen: 'Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht! Bist du nicht mit mir eins geworden um einen
Groschen? Nimm, was dein ist, und geh hin! Ich will aber diesem letzten geben gleich wie dir.
Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will mit dem Meinen? Siehst du darum scheel, weil ich
so gütig bin? Also werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.«

Was für schlichte Farben! An sich doch unzulänglich! Und kann das Unzulängliche zum großen,
herrlichen Ereignis werden?

Hier - wird's Ereignis!

Langt das zum Gemälde der Menschheit und des Gottesreiches und seines Werdens zu, wenn
gar keine weiten Horizonte, gar keine Größen, gar keine weltweiten Ideen zur Darstellung
aufgeboten werden? Solch Aufgebot hält man eigentlich für selbstverständlich und unerläßlich.
Es spiegelt sich zwar der Sternenhimmel auch im Dorfteich, aber damit wird doch nur das
Dorfidyll unterstrichen.

Seltsames Material, das Jesus verwendet! Es weist in eine ganz andere Richtung! Arbeiter
-Arbeitslose Lohnstreitigkeiten - der Arbeitgeber - der Morgen - die Mittagsglut - der Abend, alles
zusammengefügt in ein Eintagsbild. Welcher Geist muß diesen Stoff anrühren und durch ihn
hindurchwehen, damit aus dieser Handvoll Erde die Welt wird!

Jesus nötigt uns, den Stoff immer wieder selber zu verwandeln in etwas, was er gar nicht ist;
gewiß, nachdem er erst in unerhörter Kunst ihn jenseitig überleuchtet hat. Aber das ist gerade ein
Hauptpunkt in seinem Schaffen, daß er uns selber die Verwandlung (wahrhaft eine
"Transsubstantiation") schaffen läßt.

Sein Bild ruft eine Schaulust in uns auf, der es nicht genügt, mit Augen Gesehenes festzustellen,
sondern Zusammenhänge zu schauen, die gerade die Augen gar nicht wahrnehmen können. Die
nur die Seele sehen kann. Zusammenhänge, die unbewußt das Seelenleben schon lange
beschäftigt haben.
Dabei versetzt er uns nicht in eine Traumhaltung, in der alles ineinanderfließt, sondern eine völlig
klare innere Schaukraft ergreift beides gleichzeitig: das Endliche und das Unendliche. Blitzartig
wird uns deutlich wie eine hellüberleuchtete Landschaft: dieser eine Tag des
Weinberggleichnisses - ist der Tag der Menschheit. Der Menschheit, wie sie von dem Herrn der
Menschheit an Seine Arbeit gestellt wird. Alle Jahre, die da waren und in unendlichem Ablauf
noch kommen werden, - ein Tag sind sie, ein einziger Tag. Nicht mehr. Wir erschauern. Für Gott
ist das auch in Wirklichkeit nur ein Tag.

Da enthüllt sich die Seele dieses Menschheitsgeschehens: das Reich Gottes. Um das geht es.
Um nichts anderes. Die Geschichte hat es bewiesen. Sündfluten und Trümmerhaufen, Stürme
und Kriege ohne Zahl, Erfindungen und Entdeckungen wechseln miteinander ab. Das Unterste
wird oft genug zuoberst gekehrt und das Oberste zuunterst. Eine Philosophie löst die andere ab,
und jede will immer das letzte Wort gesprochen und der von ihr faszinierten Welt den Star
gestochen haben. Ans Traumhafte grenzen die Umschichtungen im Gemeinschafts- und
Arbeitsleben, und jedesmal glaubt man, daß man damit an der Schwelle einer völlig neuen Zeit
stehe. Weltumgestalter, wahrhafte Riesen der Macht und der Ideen steigen empor und werden
von ihrer Zeit wie Götter verehrt, um eines Tages nur noch in Geschichtsbüchern weiterzuleben.
Alles dient nur, um ganz andere als die beabsichtigten Wege zu bereiten. Denn als bleibende
Wirklichkeit zieht durch diese unentwirrbare Vielgestaltigkeit und hoffnungslose Vergänglichkeit
nur das Reich Gottes hindurch wie ein Schiff, das gegen den reißenden Strom unbeirrt
stromaufwärts fährt. -

Der Weinberg - Raum! Ein Tag - Zeit! In Raum und Zeit ist das Reich Gottes auf Erden gestellt.
Der Raum ist abgegrenzt nach Völkern und Sprachen, und die Zeit nach Zeitaltern, in denen Gott
ganz bestimmte geistige Winde wehen läßt. Um in der Zeit zu leben, braucht man Raum, und um
den Raum zu durchschreiten, braucht man Zeit und muß einen Schritt nach dem andern tun. Das
Reich Gottes muß es auch.

Es kommt in der Morgenfrühe des mit Jesus anbrechenden Weltentages zu ein paar Völkern, als
der »Hausvater ausging, Arbeiter zu mieten in seinen Weinberg.« Die Stunden verstreichen, die
Jahrhunderte vergehen. Andere Völker werden ergriffen und geben ihre Kraft, und zwar ihre
beste Kraft, für das Reich Gottes her (Ulfilas, Augustin, Bernhard von Clairvaux, Erwin von
Steinbach, Luther, Schütz, Bach, Livingstone, Bodelschwingh usw.).

Wie wird es weitergehen?

Immer neue Völker wird der Hausvater dingen. Wir befinden uns wohl zur Zeit noch am frühen
Vormittag, stehen aber schon unter der frohen Gewißheit, daß nach einem ewigen Gesetz - trotz
aller Katastrophen, die alles in Frage zu stellen scheinen - das Reich Gottes die ganze Welt
durchdringen wird. Natürlich nicht wie ein Impfstoff, nicht wie eine Injektion, sondern im Kampf
mit Last und Hitze, die getragen werden müssen. Der Geist eines jeden Volkes wird an die Arbeit
gestellt, und zwar nachdem er sich dieser Arbeit und diesem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt
hat. Das ist Verwandlung. Denn sonst suche man andere Arbeit!

Ob nicht Völker kommen werden, die mit ganz anderer Liebe an diese Arbeit gehen? Viel
entschlossener und ausschließlicher? Viel ergriffener und fröhlicher?

Mit dem Sinn der Unmittelbarkeit, daß die Hauptsache auch wirklich die Hauptsache ist? Mit der
inneren Zucht, daß sie gar nicht imstande sind, den Glauben mit dem Machtstreben des alten
Menschen zu behängen?

Das sind dann vielleicht die Letzten. Ja. Aber die werden dann die Ersten sein, und mit Recht. -
»Was wird uns dafür?« -

Was war der Lohn Beethovens für sein Schaffen? Daß er Tonmeere bändigte und seinen
Reichtum ausströmte? Das Geld? Der Beifall der Menge? Nein, das Schaffen selber! Das
Erlöstwerden der Seele durch dieses Schaffen.

Die Musik ist das Reich, das die eine seiner Grenzen ans Reich Gottes stoßen läßt.

Was ist der Lohn im Reiche Gottes? Du darfst schaffen für das, was eigentlich Menschenhänden
entrückt ist! Du bist begnadet dazu durch die höchste Gemeinschaft, die es gibt. Noch ganz
anders als in der Musik wird die Stimme Gottes selber vernommen und sein Tun und Walten
geschaut und erlebt. Ewigkeit bricht in die Zeit herein und gibt jedem, der am Werke steht, das
gleiche! Unter »des Tages Last und Hitze« hatte Beethoven die gewaltigsten Offenbarungen und
die tiefsten Seligkeiten. Er hat sie keinem vorgerechnet, diese Erschütterungen seines ganzen
Wesens, die ihn vom Staube und vom Alltag lösten. Darum gibt es auch, und erst recht im Reiche
Gottes, nur einen »Lohn«, und dieser Lohn ist - kein Lohn! Darüber läßt Jesus keinen Zweifel.
Den Lohnstreit, den Jesus an den Schluß des Gleichnisses gestellt hat, sollten alle vom Reiche
Gottes Ergriffenen immer wieder lesen. Sie würden dann den Wahn aller Werkheiligkeit und aller
menschlichen »Verdienste« endgültig begraben. Was Begnadung ist, ist nie Verdienst. Gnade ist
Glück. Gnade ist Gemeinschaft. Gnade ist ein Nicht-ruhen-Können in der Trägheit des Alltages,
wo alle Arbeit des Menschen für seinen Mund ist und die Seele doch nicht satt wird davon
(Prediger 6, 7).

Das Reich Gottes hat es mit Völkern zu tun. Sie bestimmen das Leben des einzelnen. Wehe dem
Volke, das einen kranken oder kalten oder in Verwesung übergehenden Gesamtgeist züchtet! Ob
der einzelne hindurchbricht zum Leben, das hängt so sehr ab von dem Geist, der ihn umweht!
Was haben wir Deutsche da Luther zu danken! Menschheitsgeschehen ist Reich-
Gottes-Geschehen, und Reich-Gottes-Geschehen ist Völkergeschehen! Gott will es so. Lehrer
alle Völker!

Laßt alles Überflüssige, Nichtige, Kleine endlich beiseite!

Die Zeit ist kurz.

Die Zeit der Menschheit - ist nur ein Tag im Vergleich zur Ewigkeit, und dieser Tag hat einen
Abend. Dann ist er zu Ende. Er kehrt nicht wieder.

»Der Tag der Menschheit.«

(Das ist die Überschrift dieses Abschnittes, die oben bei II. mit Bedacht weggelassen worden ist.)

III. Das Weltgericht.

Zu den Völkern ist der Menschensohn gekommen, nicht zu einzelnen Seelen in wahllosem
Durcheinander. Und die Reihenfolge bestimmt er, und bestimmt sie weiterhin. Es gibt keine
magische Selbstfindung des einzelnen. In einen Gesamtgeist hat ihn Gott hineingestellt, dessen
Hauch und Geschmack er an sich trägt. Das Volk als Ganzes ist für den einzelnen verantwortlich.
Aber in der Macht des Menschensohnes über sein Gewissen hat der einzelne die Verantwortung
für sein ganzes Volk und muß allem Verkehrten und Kranken entgegentreten und den
Gesamtgeist zu bestimmen versuchen, wie es Luther getan hat. Große sendet Gott oft genug
einem Volk. Nimmt der Große das Bild des Menschensohnes an und neigt er sich nieder zu den
Geringen und gibt er in der schrankenlosen Liebe des Menschensohnes sein Herz für sein Volk, -
oder genießt er sich in olympischer Höhe und kühler, erhabener Ferne selber, - davon hängt das
Denken, Glauben oder Nichtglauben ganzer Generationen ab.

So ist immer wieder dies die Frage: Hat ein Volk den Geist und die Züge des Menschensohnes
angenommen, oder hat es diesen Geist verbannt oder im besten Falle in die neutrale Zone einer
Kirche verwiesen, die man nicht ernst nimmt und nur als Ventil für menschliche sogenannte
religiöse Bedürfnisse betrachtet.
Aber der Menschensohn will, daß Völker derartig sich von ihm ergreifen lassen, daß sie, wie er,
gar nicht anders können, als sich verantwortlich zu fühlen für alle, die in Ketten liegen. Ganz
unbewußt! Wer aus dem Zentrum des Reiches Gottes heraus lebt, sagt nicht, daß er dies oder
das »um des Herzens willen« tun will und tut, sondern er mag es gelegentlich einmal, wenn er
meilenweit von seiner Handlung entfernt ist, merken, daß er tatsächlich um des Herrn willen
etwas getan hat, ohne sich dessen auch nur im geringsten bewußt gewesen zu sein. Was er aber
an ewigen Gütern hat, wer anders hat es ihm zugetragen als der geistige Strom seines Volkes,
der aus der Vergangenheit in die Ewigkeit fließt.

Darum ergeht über die Völker das Gericht. Unfaßlich für uns in seiner Vielgestaltigkeit, wo es
doch um die Menschenseelen geht, deren Zahl schon für uns unvorstellbar ist, deren Taten und
Sünden aber zusammen mehr sind als alle Sterne am Himmel. Wieder zerfließen uns die
unendlichen Jahre der Einzelschicksale, der Menschenhaufen, der Verantwortungen, - wieder ist
es uns, als ob wir mit einem Eimer am Strande des Meeres stehen, um es auszuschöpfen. Ein
vergebliches Unterfangen.

Jesus aber meistert wieder die Unendlichkeiten mit seinem Wort und vermag, die »Zeit ohne
Zeit« in eine Stunde zu bannen und unser Gewissen von der Wahrheit seiner Worte zu
überführen. Ohne daß wir es merken, stehen wir plötzlich oben über der Menschheit und
schauen auf sie herab -- und sehen uns selber da unten stehen. Es gibt kein Ausweichen. Die
Wucht der Darstellung ist zu gewaltig!

Jesus spricht: Matthäus 25, 31-46

»Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit
ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Völker
versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von
den Böcken scheidet. Und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: 'Kommt her, ihr Gesegneten meines
Vaters! Ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig
gewesen, - und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, - und ihr habt mich getränkt. Ich
bin ein Gast gewesen, - und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, - und ihr habt mich
bekleidet. Ich bin krank gewesen, - und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, - und
ihr seid zu mir gekommen.' Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: 'Herr, wann
haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? Oder durstig und haben dich getränkt?
Wann haben wir dich als einen Gast gesehen und haben dich beherbergt? Oder nackt und haben
dich bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen?'
Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: 'Wahrlich, ich sage euch, was ihr getan habt
einem der Geringsten unter diesen meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.' Dann wird er auch
sagen zu denen zur Linken: 'Geht hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist
dem Teufel und seinen Engeln! Ich bin hungrig gewesen, - und ihr habt mich nicht gespeist! Ich
bin durstig gewesen, - und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, - und ihr habt
mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, - und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank
und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.' Da werden sie ihm auch antworten und
sagen: 'Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig, oder als einen Gast oder nackt
oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient?' Dann wird er ihnen antworten und sagen:
'Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr
mir auch nicht getan!' Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige
Leben!«

(Einschaltung)

Ein Buddha-Gleichnis.

Hat man diese herrlichen Gleichnisse Jesu mit ihren Fernblicken über alles Weltgeschehen und
mit dem Tiefblick ins Wesen des Menschen in sich aufgenommen, so liegt doch wieder eine
Gefahr vor. Auch an das Schönste wird man gewöhnt. Man verliert den Maßstab für das
Ewigkeit-Umfassende in Jesu Gleichnissen und empfindet nicht mehr das Göttliche der
Darstellung, d. h. der Kunst Jesu.

Darum ist es nötig, Atem zu holen, um nicht zu ermatten.

Wer von der Erde ist, der redet von der Erde und bleibt auf der Erde.

Ein Gleichnis aus dieser Schicht völliger Erdgebundenheit wollen wir jetzt an uns vorüberziehen
lassen und in ihm und an ihm erkennen, was es nicht ist und nicht bietet. Denn damit ist es
zugleich eine Verheißung auf das, was anders ist. Es ist ein Gleichnis, das die Sanftmut lehren
soll.

Sanftmut nicht aus Liebe und Gottzugehörigkeit, sondern weil der Zornmütige ja noch die
Flamme des Begehrens in sich »wehen« hat, und das Ziel allen Lebens soll doch nach Buddha
sein, daß nichts mehr »weht«, auch kein Leben mehr weht. Alles soll »hinauswehen«, Nirwana,
(in welchem Worte deutlich unser Wort wiederzuerkennen ist), = Nirwana mit dem Ziel des
»Parl-Nirwana«, des völligen Erlöschens. Lies und vergleiche!

Die vorgetäuschte Sanftmut (ein Gleichnis des Buddha)

»Zu Sravasti lebte einmal eine Hausfrau namens Vaidehika. Die Hausfrau, ihr Mönche, stand in
gutem Rufe: 'Sanft ist die Hausfrau Vaidehika, ruhig ist die Hausfrau Vaidehika, friedfertig ist die
Hausfrau Vaidehika.'

Diese Hausfrau Vaidehika, ihr Mönche, hatte eine Dienerin namens Kali, die geschickt und fleißig
war und ihre Arbeit gut besorgte. Und der Dienerin Kali kam der Gedanke: 'Meine Herrin steht in
gutem Ruf: Sanft ist die Hausfrau Vaidehika, ruhig ist die Hausfrau Vaidehika, friedfertig ist die
Hausfrau Vaidehika. Zeigt nun etwa meine Herrin ihren inneren Zorn nicht oder besitzt sie
keinen? Oder besorge ich meine Arbeit so gut, daß meine Herrin ihren inneren Zorn nicht zeigt?
Wie wäre es, wenn ich sie einmal auf die Probe stellte?' Und die Dienerin Kali stand erst auf, ihr
Mönche, als es schon heller Tag war. Da sprach, ihr Mönche, die Hausfrau Vaidehika zur
Dienerin Kali: 'Was stehst du bei hellem Tage auf?' - 'Das macht nichts!' sagte das Mädchen.
'Das macht nichts, du schlechte Dienerin, daß du am hellen Tage aufstehst?' sagte sie zornig und
unzufrieden und runzelte die Brauen. Da kam der Dienerin Kali der Gedanke: 'Meine Herrin
besitzt inneren Zorn, zeigt ihn bloß nicht. Weil ich meine Arbeit gut besorge, zeigt sie den inneren
Zorn nicht, den sie besitzt. Wie wäre es, wenn ich sie noch stärker auf die Probe stellte?' Und da
stand, ihr Mönche, die Dienerin noch später am Tage auf. Da sprach die Hausfrau Vaidehika zur
Dienerin Kali: 'Heda, Kali!' - 'Was, o Herrin!' 'Was stehst du bei hellem Tage auf?' 'Das macht
nichts, o Herrin!' 'Das macht nichts, du schlechte Dienerin, daß du bei hellem Tage aufstehst?'
sagte sie zornig und mit unzufriedenen Worten. Da ergriff sie zornig einen Türriegel (Holzklotz)
und schlug ihr ein Loch in den Kopf. Da machte die Dienerin Kali mit dem Loch in dem Kopf und
indem ihr das Blut herabrann, die Nachbarn aufmerksam: 'Seht, ihr Herrn, das Werk der Sanften;
seht, ihr Herrn, das Werk der Ruhigen; seht, ihr Herrn, das Werk der Friedfertigen! Wer wird wohl
seiner Dienerin, bloß weil sie am hellen Tage aufsteht, mit einem Türriegel zornig einen Schlag
auf den Kopf geben und ihr ein Loch in den Kopf schlagen?' Und da kam die Hausfrau Vaidehika
allmählich in den üblen Ruf: 'Die Hausfrau Vaidehika ist zornig, die Hausfrau Vaidehika ist
unruhig; die Hausfrau Vaidehika ist nicht friedfertig!'

So auch, ihr Mönche, ist mancher Mönch hier ganz sanft, ganz ruhig, ganz friedfertig, solange
ihm nicht unfreundliche Reden zu Ohren kommen. Wenn aber, ihr Mönche, einem Mönche
unfreundliche Reden zu Ohren kommen, dann soll ein Mönch sanft und friedfertig erfunden
werden. Ich nenne, ihr Mönche, einen Mönch nicht sanftmütig, der seine Sanftmut zeigt, damit
ihm Kleidung, Speise, Lagerstatt und Arznei für den Fall einer Krankheit gegeben wird. Warum?
Weil der Mönch, wenn er keine Kleidung, Speise, Lagerstatt und Arznei für den Fall einer
Krankheit bekommt, nicht sanftmütig ist und keine Sanftmut zeigt. Den Mönch nenne ich
sanftmütig, der sanftmütig ist und Sanftmut zeigt, indem er das Gesetz ehrt, das Gesetz hochhält
und achtet. Deswegen, ihr Mönche, sollt ihr lernen: Wir wollen sanftmütig sein und Sanftmut
zeigen, indem wir das Gesetz ehren, hochhalten und achten.«

Die große Überraschung: Die Umwertung aller Werte!

Was ist ein Mensch wert?

Kann das ein Mensch überhaupt beantworten? Der Mensch sieht doch nur, was vor Augen ist.
Und vor Augen hat er nur das Äußere: Erfolg, Ehre, Reichtum, Macht. Wie kann das täuschen!
Wie mancher Große heißt nur wegen seines Erfolges der Große, obgleich nachzuweisen ist, daß
der Erfolg auf einer glücklichen Fügung beruhte, ohne die der Große ganz klein geworden wäre.
Mißerfolg ist in den Augen der Welt das Allerschlimmste und wird nie verziehen. Wer schuldlos
arm wurde - die Zeit ist noch nicht lange her, wo steinreiche Leute in einem Kämmerchen ihres
großen Hauses als Bettler hausen mußten -, der war auch sofort ausgeschaltet. Er war nicht
mehr da. Ist er erst Ortsarmer geworden, bestohlen von denen, die die Zeit zu nutzen
verstanden, dann ist die letzte Spur von Hochachtung dahin. Die Reichgewordenen aber werden
gefürchtet, denn sie haben ja angesammelte Macht in der Hand, und von dieser Furcht ist es nur
noch ein Schritt zur Ehrfurcht, die durch einige großzügige Stiftungen zur Selbstverständlichkeit
wird. Ablaß ist gar nicht so teuer. Entscheidend ist bei allem Kränzewinden der Menschen, was
sie selber ersehnen und sein möchten und wie sie's haben möchten. Und das ist blödeste
Sehnsucht, und wenn es sich um den Himmel handelt.

Nur der neue Mensch ist frei davon. Er ist ganz Gottes und ganz des Menschen. Er allein ist der
Wertmesser aller Größe und wirft alle Idole der Menschen um. Er weiß, was ein Mensch wert ist.

Jesus weiß es, der Menschensohn. Allem Selbstge fühl der Menschen ruft er das schneidende
Wort zu: »Ihr seid's, die ihr euch selbst rechtfertigt vor den Menschen, aber Gott kennt eure
Herzen: denn was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott.«

Das ist in der Tat die Umwertung aller Werte.

Und nach dieser Umwertung entscheidet sich der wahre Wert eines Menschen.

Dies alles umwälzende Gesetz des Reiches Gottes schickt Jesus dem Gleichnis vom reichen
Mann und vom armen Lazarus als Leitmotiv voraus und führt uns an diesem Wegweiser vorüber
in den Himmel und in die Hölle. Viel zu wenig wird das beachtet. Das Wort Jesu von der Hohlheit
aller menschlichen Größe hat ja erst den Anlaß dazu gegeben, daß er gleich darauf das
Gleichnis sagt, das den Wert der menschlichen Seele auf der himmlischen Waage wägt. Jeder
kennt es wohl auswendig. Eine wahrhaft echte Kunst tritt uns in der Darstellung entgegen.

Zwei Menschen sind es wieder nur. Zwei Extreme. Aber beide Gestalten sind nur Flügelleute auf
den Flügeln der ganzen Menschheitslinie von der sogenannten Höhe der Menschheit bis zum
bittersten Nur-noch-Vegetieren. Alles, was zwischen diesen äußersten Punkten liegt, ist
eingeschlossen und spielt unsichtbar mit. Sie spielen ja alle mit, die Jesus sein Gleichnis hören
läßt. Er zwingt sie, sich einzuordnen in die Linie, wo sie hingehören, und gerade wenn sie es
unter Widerspruch tun, treten sie an die richtige Stelle. Jesus läßt uns nicht nur bange fragen:
Was bin ich wert? Sondern daß beides aufs weiter fragen: Was wird aus mir? Denn daß beides
aufs allerengste zusammenhängt, sagt das Gewissen.

Das Rätsel des Todes rückt an die Wertfrage heran. Daß der Tod ein Rätsel ist und nicht ein
Endgültiges, ein Abschluß, das hat er mit dem Rätsel des Lebens gemein, das uns über seine
harten Grenzen hinausweist. Wohin? Mit beiden Wirklichkeiten tritt die dritte Wirklichkeit in ihrer
ganzen Majestät an uns heran: die Ewigkeit. Und dieses Gleichnis wird vielen der rechte
Wegweiser zur Ewigkeit geworden sein und noch werden, weil es die Seele frei macht von der
Anbetung des Unwertes und froh macht des unendlichen Wertes in entstelltester Hülle.

Gewiß konnte das Gleichnis eine ganze Reihe von Abstufungen bringen. Wo aber Jesus die
Zweiheit anwendet, hat er immer etwas ganz Besonderes im Auge, das sich auf die ganze
Menschheit bezieht, für die es nur die bekannten zwei Wege gibt. Und diese beiden Wege
werden mit unerbitterlicher Folgerichtigkeit bis zu Ende gegangen. Jesus will, daß sich niemand
darüber täuscht. Das ist mit in dem Rätsel des Todes enthalten, daß er von einem ganz andern
Tode weissagt, der nichts mit dem Friedhof zu tun hat.

So tritt nun das Gleichnis in wunderbarer Klarheit und geradezu greifbar vor uns hin:

Lukas 16, 19-31

»Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und köstlicher Leinwand und lebte alle
Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür
voller Schwären und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische
fielen; doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären! Es begab sich aber, daß der
Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch
und - ward begraben. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und
sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: 'Vater Abraham,
erbarme dich mein, und sende Lazarus, daß er das Äußerste seines Fingers ins Wasser tauche
und kühle meine Zunge, denn ich leide Pein in dieser Flamme.' Abraham aber sprach: 'Gedenke,
mein Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat
Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt. Und über das alles ist
zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die da wollen von hinnen hinabfahren zu
euch, können nicht, und auch nicht von da zu uns herüberfahren.' Da sprach er: 'So bitte ich dich,
Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, daß er sie
warne, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.'

Abraham sprach zu ihm: 'Sie haben Mose und die Propheten. Laß sie dieselben hören.' Er aber
sprach: 'Nein, Vater Abraham; sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie
Buße tun!' Er sprach zu ihm: 'Hören sie Mose und die Propheten nicht, so lassen sie auch nicht
mit Sich reden, wenn jemand von den Toten aufstünde.«

Gerade dadurch erreicht Jesus die tiefe Wirkung, daß er die Gestalt des Reichen durchaus nicht
in Schwarz taucht. Ja, er läßt ihn völlig ahnungslos sein, völlig überrascht von dem, was über ihn
verhängt ist. Er hat gelebt, wie sie alle leben. Das Geld muß rollen. Das Leben genießen in Glanz
und Üppigkeit, alle Tage fröhlich sein und Gäste um sich haben, - das ist doch kein Verrat an der
Menschheit. Es wird ja kein Mensch dadurch ärmer. - Gutmütig ist der Reiche auch. Um das
Schicksal des Bettlers vor seiner Tür hat er sich freilich nicht gekümmert, aber er hat ihn auch
nicht wegjagen lassen. Im Gegenteil! Die Diener haben ihm noch die Brosamen zukommen
lassen, die übrigblieben. Seine Gutmütigkeit begleitet ihn in die andere Welt. Er denkt an seine
Brüder und bittet für die wie ein Seelsorger. Laß Lazarus ihnen als Geist erscheinen, fleht er.
Geistererscheinungen! Das wirkt! Wirkt radikal! Von dem Schreck erholt man sich so leicht nicht
wieder. Aus Angst ist schon mancher vernünftig geworden! Wenn das große Grauen über den
Menschen kommt, beugt er die Knie. - Das ist Seelenmalerei ohne großen Aufwand. Der
gutmütige Allerweltsmensch steht vor uns mit seinem »leben und leben lassen«. Mit diesem
einen Menschen wird die Menschheitslinie unendlich lang. Ein Leben auf der Menschheit Höhen
ist also völlig wertlos gewesen. Und ein Leben in der Tiefe ohne Taten für die Menschheit - ewig
wertvoll!

Lazarus ist der stille Dulder. Kein Wort fällt über sein Innenleben, und doch wissen wir, wie es ist.
Es liegt wohl an dem Klang der Worte Jesu, die so hehr und ernst klingen, daß Lazarus als
gottergebene Seele vor unser inneres Auge tritt. Aber das ganze Weh der unerlösten Welt schreit
in dem Bilde auf, das Jesus zeichnet: Hunde haben Erbarmen, Menschen nicht. Ein Bild, oft von
Künstlerhand gemalt, aber von ganz anderem Künstlergeist ursprünglich gesehen, und zwar nicht
als Kunstvorwurf, der nicht weh tut, sondern als wirklicher und bitterer Vorwurf gegen alles, was
Menschenantlitz an sich trägt, empfunden und von daher gestaltet. Engel kommen und holen die
reine Seele. »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.« Er darf da weilen, wohin sein
ganzes Denken auf Erden stand, als er im Elend versank. Ein armes Leben barg das Ewige. Ist
zur Vollendung emporgedrungen.

Die Spannung der Kontraste ist in diesem Gleichnis unbeschreiblich! Wenn man nur der Bitte
gedenkt, die der reiche Mann in der Höllenqual ungestillter Glut ausspricht! Jetzt genügt ihm, daß
das Äußerste des Fingers ins Wasser getaucht wird, damit seine Zunge gekühlt wird, und einst
ging's alle Tage aus vollen Bechern! Die Erde mit ihren Genüssen ist weg, der brennende Durst
ist geblieben. Dieser Durst war sein ganzer Lebensinhalt gewesen. Den allein darf er mitnehmen,
- dieser Scheinwerfer leuchtet weit. Leuchtet über Einzelleben und ganze Weltanschauungen und
zeigt ihnen eine folgerichtige Zukunft.

Was wird aus mir? - Das, was du warst!

Das darf eigentlich -- nicht überraschen.

Vergleiche man nun mit diesem Gleichnis, in dem das Letzte offenbar gemacht wird und in
unvergleichlicher Plastizität erscheint, das voraufgegangene Buddhagleichnis, in dem eine
durchtriebene Magd ihre Herrin aus der Fassung bringt. Gewiß, auch vollendete Kunst kann aus
dem Vorwurf, der da behandelt ist, nicht viel machen. Aber daß eben nichts wirklich Großes da
ist, das jenseits des Welthorizontes liegt, das ist ja gerade das Wesentliche.

Um so erhabener ist Jesu Gleichnis. Doch was würden die tiefsten Wahrheiten wirken, wenn sie
nicht in Formen gegossen würden, die auch dem kurzsichtigsten Seelenauge deutlich erkennbar
werden? Was für ein unfaßbarer Reichtum an innerem Schauen gehört dazu, um die weltweiten
Wahrheiten, die bis in ewige Verflechtungen und Schicksale reichen, in entsprechende Gestalten
zu fassen, Gestalten, denen kein Mensch eine ewige Prägung mit Charakter des Lebens oder
des Todes auch nur entfernt ansieht! Da stehen wir an der Grenze, wo der schöpferische Geist
göttlicher Abkunft seine Herrschaftsgebiete hat. Da ist göttliche Vollmacht.

Von jenem andern Gleichnis aber, das doch auch ein Versuch ist, über den Alltag
hinauszukommen, muß man bei aller Anerkennung der aufgewandten Mühe sagen: von Erde bist
du genommen, und zur Erde sollst du wieder werden.

Der Gegenspieler

Die Nachtseite der Menschheit - was sagt sie uns? Was ist ihre Zukunft? Wie sind ihre
Aussichten? Wo tritt sie auf? Kann man sie nicht abgrenzen und absperren? Was ist ihr Wesen?

Denn daß sie da ist, zeigt alles Schreckliche, das sich noch dazu immer gräßlich wiederholt,
jedes Jahrhun dert, jede Epoche, jeden Tag.

Dabei hat diese Nachtseite überall dieselbe Sprache und Zeichensprache, denselben
Wortschatz, dieselben Wendungen, dieselben Wege, dieselben Wirkungen. Unheimlich, diese
Welt!

Dieselben Beweise gegen das Gewissen in Deutschland wie in Frankreich, wie in China, wie am
Tanganjika!

Ein und derselbe Geist! Ein und dasselbe Vokabularium! Ein und dieselbe Inspiration: Trinkt Blut
und redet von Freiheit! Revolution gegen ewige Gesetze! Predigt die Freiheit des Fleisches und
feiert Cesare Borgia!

Wer hetzt sie alle? Wer treibt sie in die Zonen des Hasses, der nur jauchzt, wenn er Glauben
vernichtet, Seelen verführt und Symbole der Ewigkeit ausgerottet hat?

Kann diese unheimliche Schar nicht die Oberhand gewinnen? Was dann? Reden die Menschen
sich selber etwas ein? In jedem Jahr einen neuen Wahn?

Woher aber die Gleichartigkeit? Es ist ja immer derselbe Wahn! Geht da ein Geist um, der sie
betört, ihnen leuchtende Wahnbilder zeigt, denen sie dann besessen nachjagen?

Und das alles, wo Gott selber kam, indem er sein eigen Leben in dem Einen darstellte, den sie
nennen müssen und meinen. Erlösung und völlige Unerlöstheit - alles unkenntlich
durcheinandergemischt? Was soll aus diesem Wirrsal werden? Und die furchtbarste Verführung,
wenn der Mensch sich erhaben über das alles dünkt und über die armen Tröpfe, Menschen
genannt, lächelt, die nun einmal ohne Wahn nicht leben können. Der in vornehmer Höhe über
allem steht und von seinem Menschsein sagt, daß er es mit Würde trage, bis er, die Lippen
scharf aufeinandergepreßt, den Sprung in die Nacht tut und so wunschlos sein Dasein dem All
zurückgibt. Diese Täuschung ist die gefährlichste. Sie steht im Vorwort zu dem Vokabularium der
Auflösung und Zersetzung.

Wer erklärt uns dieses unentwirrbare Geschehen und damit uns selber? Wer gibt uns den
erlösenden Ausblick und die Zuversicht des Sieges, damit unsere Seele froh und stark dem Licht
zuwächst, ganz auf Glauben gestellt und nicht auf eine Sichtbarmachung des Reiches Gottes als
geschlossene Gesellschaft mit eingeschriebenen Mitgliedern?

Jesus gibt uns die Schau:

Matthäus 13, 24-36

»Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Da aber
die Leute schliefen (!), kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon.
Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die
Knechte zu dem Hausvater und sprachen: 'Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker
gesät? Woher hat er denn das Unkraut?' Er sprach zu ihnen: 'Das hat der Feind getan!' Da
sprachen die Knechte: 'Willst du denn, daß wir hingehen und es ausjäten?' Er sprach: 'Nein! Auf
daß ihr nicht zugleich den Weizen mit ausraufet, wenn ihr das Unkraut ausjätet! Lasset beides
miteinander wachsen bis zu der Ernte, - und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen:
'Sammelt zuvor das Unkraut und bindet es in Bündeln, daß man es verbrenne; aber den Weizen
sammelt mir in meine Scheuer!«

Was für Unwetter schauten wir erst! Jetzt aber, nach dem Hören dieses Gleichnisses, geht es wie
in dem Hiobwort: »Die dicken Wolken scheiden sich, daß es helle werde, und durch den Nebel
bricht sein Licht.« Denn nun treten wir in das volle Licht des Sommertages, über uns der blaue
Himmel, vor uns die hoffnungsvolle, frischgrüne Saat. Auch das bunte Unkraut darf das Bild nicht
verhäßlichen oder ihm etwas von seiner sieghaften Ernteerwartung nehmen. Sprache der Natur!
Jesus läßt sie sprechen, wie der Mai zur betrübtesten Seele spricht und zu einem Gruß Gottes
wird, der tröstet: Nun, armes Herz, sei nicht bang ... ! Du hast ja noch in Händen, o Herr, die
ganze Welt; kannst Menschenherzen wenden, wie es dir wohlgefällt! Man atmet auf wie erlöst
von schwerem Alpdruck, wenn die schaurige Wirklichkeit im Gleichnis ihre Schrecken verliert und
statt der Nachtseite die lichten grünen Flächen »das Feld behaupten«. Auch hier gilt wieder:
»Solches habe ich zu euch geredet, auf daß meine Freude in euch bleibe.«

Wahre Freude aber hat immer etwas von Kunst an sich. Tiefe, wahre Freude ist immer Feier!
Festtag! Und alles Festliche stellt sich dar in einer erhöhten Form, in großen, freien, feinen Linien,
wie man sie im Alltag nicht findet.

Dabei bricht Jesus auch nicht ein Stück Wirklichkeit aus den Zusammenhängen heraus. Nein,
viel deutlicher und gesammelter erscheint alles das, was uns sonst als unentwirrbares Ineinander
umsteht. Der Gegenspieler wird sichtbar, und die werden kenntlich, die sich ihm als Saat in die
Hände gegeben haben. Ein Gegenspieler, der vor nichts zurückschreckt und dabei so geschickt
spielt, daß man in die leere Luft greift, wenn man die Hand nach ihm ausstreckt. Eine
unheimliche Wirklichkeit, mag man sie nun wie Swedenborg oder wie Luther auffassen.

Darum ruft dies Gleichnis um so herzandringender den andern, die dies Spiel nicht mitspielen
wollen, zu: Gebt euch als guten Samen in die Hand Gottes, daß er euch an den Platz in die
Wachstumsgemeinschaft säe, wo ihr eurem Wesen nach hingehört und wo euch das Unkraut nur
zum Nachdenken über euch selber bringt.

Welch eine Liebe und Herablassung liegt darin, daß Jesus sich dieser Kunstform bedient! »Die
Worte«, betet er in der letzten Nacht am Abendmahlstisch, »die du mir gegeben hast, habe ich
ihnen gegeben, und sie haben's angenommen und erkannt wahrhaftig ... « - Wer hat ihm dafür
schon einmal gedankt?

Die Wirklichkeitsmenschen sind die Träumer, und die Träumer sind die Wirklichkeitsmenschen

Matthäus 25, 1-13:

»Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen,
dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten
nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Die klugen aber nahmen Öl in ihren
Gefäßen samt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und
schliefen ein. Zu Mitternacht aber ward ein Geschrei.- 'Siehe, der Bräutigam kommt! Gehet aus,
ihm entgegen!' Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen. Die törichten
aber sprachen zu den klugen: 'Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen.' Da
antworteten die klugen und sprachen: 'Nichts also, auf daß nicht uns und euch gebreche! Gehet
aber hin zu den Krämern und kauft euch selbst.' Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der
Bräutigam. Und die bereit waren, gingen mit hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen.
Zuletzt kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: 'Herr, Herr, tu uns auf!' Er antwortete
aber uns sprach: 'Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht!' Darum wachet, denn ihr wisset
weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.«

Es ruht ein eigener Zauber über diesem Gleichnis. Nachtstimmung umfängt uns von Anfang bis
zu Ende. Nachtstimmung mit der ganzen geheimnisvollen Stille, die zu rauschen scheint und die
Seele erwartungsvoll einstimmt. Lichtgestalten schreiten in die sinkende Nacht hinein, Lampen
leuchten in ihren Händen, Er wartung steht in ihren Zügen, leuchtet aus ihren Augen. Zehn
Jungfrauen! Wie sie sich von dem nächtigen Hintergrunde abheben! Mit frohen Schritten gehen
sie immer weiter in das Dunkel hinein; ihre Lichter geistern durch die Finsternis und werfen
gespenstische Schatten. Sie sollen ja dem Bräutigam entgegengehen, dessen Macht und Glanz
ihre Herzen höher schlagen läßt. Aber Stunde um Stunde verrinnt. Er kommt nicht. Ihre Schritte
stocken. Ob er überhaupt noch kommt? Da hören sie auf, ihm entgegenzugehen. Bleierne
Müdigkeit hat sie überfallen. Auf den Steinbänken am Wege machen sie Rast, und bald sind sie
der Wirklichkeit entrückt und träumen. Neben ihnen brennen ihre Lampen, niedriger und
niedriger. Alles um sie herum ist versunken. Was sie erfüllte, erfüllt sie nicht mehr. Im Traumland
sind andere Dinge. Unwirklichkeiten, um die sich die träumende Seele bangt und die sie
erschrecken oder entzücken, und doch lauter Wesenlosigkeiten sind. Plötzlich werden sie aus
ihren Träumen in die Wirklichkeit zurückgerufen. Um Mitternacht, wo sie das Kommen des
Bräutigams am allerwenigsten erwarteten! Sie fahren empor, als ein fernes Rufen an ihr Ohr
dringt. »Auf, auf, der Bräutigam kommt! Wohlauf, die Lampen nehmt!« Doch nur fünf von ihnen
haben Öl mitgenommen und können mit leuchtenden Lampen dem Erwartenden entgegengehen.
Die andern eilen zurück, den langen Weg, den sie gekommen sind, um mitten in der Nacht noch
Öl zu kaufen, denn ihre Lampen sind erloschen. Der Zug ist aber längst in dem Palast
verschwunden und die Tür verschlossen, als sie endlich mit brennenden Lampen ankommen.
Und die Tür bleibt verschlossen. Eine Stimme dringt zu ihnen hinaus: »Ich kenne euch nicht!« So
war alles umsonst, und sie sind ausgeschlossen von aller Freude und allem Licht. Und - werden
es immer bleiben.

So bleibt über diesem Gleichnis die Nachtstimmung, die sich zum Schluß verdüstert und uns mit
einem Gefühl der Beklommenheit und Bangigkeit entläßt.

Das ist einfach Kunst. Wer kann sich ihr entziehen! Die Bangigkeit überträgt sich auf uns, als ob
wir gebunden würden, leiser atmen müßten und von neuen, dunklen Rätseln umgeben wären.
Doch diese Bangigkeit ist nicht eine Art gelungener Effekthascherei, sondern sie strömt aus dem
Herzen Jesu selber her. Es geht ja hier um eine Gefahr, die gerade denen droht, die vor allen
andern zur wahren Wirklichkeit erwacht sind und nun auf das wahre Ziel zugehen, das die Welt
für Phantasterei und für Hohn auf alle Wirklichkeit hält. Wer der Ewigkeit und dem Herrn
derselben entgegengeht, ist in Augen ein Träumer. Sie sind die Wirklichkeits-Menschen, sie, die
»die Welt nehmen, wie sie ist« und sich nicht darum kümmern, »ob etwas dahinter« ist. Vor ein
paar Jahren sprach dies der chinesische Kultus-Minister deutlich folgendermaßen aus: »Bei der
Religion handelt es sich um abstrakte Phantasien über Dinge, die man nicht betrachten kann! Sie
liegen außerhalb der Kategorie pädagogischer Theorien. Die Regierung hat daher keinen Grund,
in den Schulen die Religion für Experimentierzwecke zuzulassen!« Wirklichkeitsmenschen will er,
die keinen Phantomen nachjagen. Handel, Verkehr, Gewinn, Verlust, Arbeit und Brot, Geld und
Schulen, Kriege und Politik, um das handelt es sich hier auf Erden. Alles andere ist gutgemeinte
Phantasterei. Und bis zum Überdruß hört man es hundert Jahre lang schon in unserem
Vaterlande, daß es »das Gebot der Stunde« sei, Mit »beiden Füßen in der Wirklichkeit zu
stehen«. Und hat nicht die Wirklichkeit, die uns augenblicklich umgibt, das Recht, uns völlig mit
Beschlag zu belegen? Unsere Sorgen, unser Vaterland, die Politik mit ihren furchtbaren
Spannungen, der Alltag mit seinen Anforderungen - ist das nicht das Leben schlechthin?

Unser Gleichnis sagt: Nein! Die Wirklichkeit des Menschen ist das Entgegengehen! Was auf
einem fahrenden Schiffe geschieht, hat nur Sinn, wenn es im Zusammenhang mit dem Hafen
geschieht, in den es einlaufen soll. Jeder Handschlag, der da getan wird, jedes leise Drehen des
Steuerrades um nur wenige Grad, jeder Befehl, der gegeben wird, hat an und für sich gar keinen
Sinn. Der Sinn liegt in dem Hafen, der noch gar nicht zu sehen ist. Dem gilt jeder Blick auf die
Fahrtrichtung.

Die Ewigkeit ist unsere Wirklichkeit.

Daher unser Drang in die Zukunft. Die Ewigkeit ist die einzige Wirklichkeit, die für die
menschliche Seele in Betracht kommt, der Hafen, zu dem unser Schiff fährt. Das Meer mit seinen
Stürmen und Wogen ist Tragmittel, weiter nichts. Es ist dazu da, überwunden zu werden, nicht,
um das Schiff auszufüllen. Es muß dasein, aber es wird einmal hinter uns liegen. So steht es mit
unserem Leben. Das Erdenleben mit seinen wechselnden Zuständen ist nicht die Wirklichkeit,
sondern Tragmittel der höheren Wirklichkeit-, die nicht verschwindet wie das Kielwasser hinter
dem Schiff. Der Menschensohn hat dieses große Erwachen gebracht, und die Seele jauchzt. Das
ist kein Traumzustand, sondern ein Wachsein im höchsten Sinne. Das gibt helle Augen, die die
Gegenwart richtig sehen, und tapfere Herzen, die sich nicht niederimponieren lassen. Wer die
Alltagsereignisse für die Wirklichkeit hält, muß in jedem Jahrzehnt ein paarmal umlernen. Sie
laufen ja alle vor der Zukunft weg, und die Zukunft bringt neue! Heute warst du glücklich und
hattest eine Million in der Hand, und morgen war der Reichtum in wertloses Papier verwandelt
und alles nur ein Traum gewesen. Traumspiel des Lebens. Diese Wirklichkeitsmenschen ohne
Zukunft sind wahrhaft die Träumer in der Welt, und jene so heftig gescholtenen Träumer sind die
wahren Wirklichkeitsmenschen.
Sie gehen dem Ziel entgegen, der persönlichen Vereinigung mit dem Spender des wahren
Lebens. Die Lampen ihres Glaubens leuchten. Und - dann kommt die große Gefahr! »Der
Bräutigam verzieht.« Er kommt nicht. Die Welt geht ihren Gang weiter, als ob es keinen Herrn der
Welt und keine Ewigkeit gäbe. Sie gibt Aufgaben riesiger Art, die in Angriff genommen werden
müssen. Sie stellt an. Sie verteilt die Güter der Erde. Sie bewegt die Herzen mit sozialen,
weltpolitischen, wirtschaftlichen, militärischen Problemen und künstlerischen Forderungen,
scheinbar ohne die geringste Notiz von dem Reiche Gottes zu nehmen. Das Wort Gottes wird
verachtet. An seine Stelle treten Statistiken und Tabellen über Arbeit und Lohn, Einfuhr und
Ausfuhr, Sterblichkeit und deren Herabdrückung. Da gerät auch der Lichtträger in den
allgemeinen Traumzustand mit hinein. Denn der »Bräutigam verzieht«, das Reich Gottes kommt
nicht, der Herr der Zukunft hat wohl einstweilen das Spiel aufgegeben. Da ist die Seele, die einst
im höchsten Sinne wach war, müde geworden, hat das Entgegengehen aufgegeben und ist
eingeschlafen. Die Hälfte dieser wartenden Seelen hat wenigstens das Wort Gottes reichlich
mitgenommen. Das trägt sie im Gefäß durch die Nacht. Die andere Hälfte hat auf sich allein
gebaut. Was wir haben, wird schon reichen. Und es reicht nicht. Die andern aber können das
jähe Gewecktwerden wenigstens überstehen und aus dem Worte Gottes das Licht ihrer
erlöschenden Lampen neu speisen. Aber muß das alles so kommen? Ist das unabwendbar? Die
schlafende Gemeinde - ist die eine Naturnotwendigkeit?

Dazu hat Jesus sein Gleichnis nicht gesagt! Er sorgt vielmehr dafür, daß es nicht dahin kommt.
Kein Gleichnis Jesu schildert so wie dieses die Nachtmüdigkeit seelischer Art, und keins rüttelt so
zum Wachsein auf wie dieses.

Gerade unter der Voraussage der Schläfrigkeit vergeht einem der Schlaf. Wird einem sein
Seelenbild in dieser erschreckenden Vergrößerung vorgehalten, so ist es mit dem Träumen
vorbei, wie ein Trunkener nüchtern wird, wenn er den Ruf »Feuer« vernimmt. Jesu Herzensangst
überträgt sich, sagen wir. Und das will er auch. Darum wendet er die Kunstmittel dieses
Nachtgleichnisses an, um vor der ärgsten Gefahr zu warnen, mit dem Glaubenslicht ohne den
Schatz der Verheißung auszuziehen und Zeit und Ewigkeit zu verschlafen, die erloschene Lampe
in der Hand.

Die Jünger haben dieses Gleichnis wohl erst ganz verstanden, als sie um Mitternacht im Garten
Gethsemane geschlafen hatten und ihre Lampen erloschen waren.

Die Halben

Halbheit - die größte Gefahr derer, die guten Willens sind. Halbheit - Zusammenbruch eines
ganzen Lebens ohne Katastrophe von außen, eines Lebens, das klarer, reiner Aufstieg war!

Gerade eines Lebens, das mit dem Christusschritt begonnen hat. Was für undurchsichtige
Vorgänge und Zusammenhänge mögen dabei mitspielen!

Wer kennt sie und wie kann man sich vor ihnen hüten? Denn das Herz kennt sich doch nun
einmal selber nicht und weiß nicht, wie es sich im nächsten Augenblick verhalten wird und warum
es sich dann gerade so anders verhalten wird, als der Anfang versprach, als es mit einem
Höhenflug begann. Mag man nun das Herz und seine Tiefen das Unterbewußtsein oder das
Unbewußte nennen, jedenfalls verraten diese Bezeichnungen schon, daß der Mensch sich vor
den Plötzlichkeiten seines Herzens in acht nehmen muß, als ob er es mit einem fremden Wesen
zu tun hätte.

Aber gerade in dieses Verborgene bringt Christus Licht und kann dem also Erleuchteten zum
Siege helfen, indem er ihm die im Unbekannten schlummernden Gründe seiner Niederlage
aufzeigt.
Und mit einer malerischen und dramatischen Kunst tut er das, die dem Ringen der menschlichen
Seele würdig ist. Diese Seele kennt er, wie sie nur der Schöpfer kennt, aus dessen Händen sie
hervorgegangen ist. Darum kann er ihr raten und helfen. Aber nicht mit gewaltigen Bildern, in
denen sich der Mensch gleich selber als den unterliegenden Helden einsetzen muß und so eine
seelische Veränderung von sich selber aus mit der Aufrüttelung aller ihm zu Gebote stehenden
Kräfte erlebt. Er wird aktiv! Bei Mahnungen und Ratschlägen aber ist und bleibt man passiv. Da
läßt Jesus vor uns den Baumeister mit dem großen Plan hintreten (Lukas 14, 28):

»Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will, und sitzt nicht zuvor und überschlägt die
Kosten, ob er’s habe, hinauszuführen? Auf daß nicht, wo er den Grund gelegt hat und kann's
nicht hinausführen, alle, die es sehen, fangen an, sein zu spotten und sagen: 'Dieser Mensch hob
an zu bauen und kann's nicht hinausführen!'«

Da unten will er nicht bleiben, wo sie alle bleiben, in der quetschenden Enge der Straße, wo das
Auge nur Steine und tote Wände sieht und der Staub alles mit dem Grau des Alltags überlagert.
Ein Bauwerk soll über die Dächerwelt der Kleinen emporwachsen, das freien Ausblick in die
Gottesferne gewährt und das Herz frei macht, wenn es da oben die ganze Pracht und Größe der
Welt überschaut. Die Blicke sollen aus der Tiefe nach oben wandern und verklärt werden. Wenn
erst das Wahrzeichen der Größe und Freiheit von der Erde in den Himmel hineinragt! Wie
werden dann auch die Herzen der Menschen, die vorübergehen, höher schlagen, und wie
werden die Augen an den hohen Linien emporwandern und von einem andächtigen Staunen
glänzen! Baudenkmäler wandeln die Menschen, machen sie in edlem Sinne stolz und groß.

Wie atmet die Seele auf, die nur das Schema aus Steinbaukästen im Schablonenbau erlebt hat,
wenn sie die Stadt Nürnberg oder Rothenburg oder Athens Akropolis sieht! Da spürt sie, wonach
sie »unbewußt« gesucht hat.

Und siehe, nun gehen die Leute an diesem Turm vorüber und - lachen! Sie haben es übrigens Ja
gleich gesagt«.

Denn der Turm ist nur halb fertig und von den Bauarbeitern verlassen. Ein trauriges Bild! Ja, jetzt
hat freilich die Landschaft einen Punkt erhalten, zu dem alle Augen hinwandern müssen, ob sie
wollen oder nicht: ein Spottgebilde. Ruinen können sogar romantisch wirken, zumal wenn
Turmvögel darin nisten und zu den Löchern herein- und herausfliegen. Aber eine Ruine als Ruine
gleich bauen? Nein, das ist doch zum Lachen! Wie ist das nur dazu gekommen?

Die Vorübergehenden erzählen es mit verstehendem Lächeln einer dem andern: » Das Geld war
zu Ende!« »Aber das muß man doch vorher wissen, ob man die Kosten bezahlen kann!«
Kopfschütteln. »Wie kann man nur anfangen, wenn man doch eigentlich schon vorher weiß, daß
man in der Mitte aufhören muß!« »Dann doch lieber gar nicht erst anfangen!«

Und damit bewirkt der Bau das Gegenteil von dem, was er bewirken sollte.

Statt einer Schar Andächtiger entsteht ein Heer der Spötter. Und der Bauherr selber ist ein
geschlagener Mann. Das ersehnte Glück - für immer unerreichbar. Der Bau hat Geld und Seele
verschlungen. So malt uns der Herr das Bild der Halben und zeigt uns das innere Gesetz der
Halbheit auf. Und in unnachahmlicher Kürze bringt er das alles. Jeder andeutende Zug malt mit
künstlerischer Meisterschaft ganze Gedanken- und Erlebnisgruppen.

Sinnend steht man immer wieder vor diesem Bilde und merkt, wenn man es wieder und wieder
nachdenklich betrachtet, wie immer neue Züge in ihm auftauchen und das Bild zu ganzen
Lebensgeschichten wird, zu Selbstbiographien, die nicht geschrieben werden. Solche schreibt
man nicht. Solche nicht. Und gerade die wären so lehrreich. - Wichtig aber ist, zu sehen, wie
Jesus hier den Menschen nimmt. So, wie er ihn in keinem andern Gleichnisse genommen hat.
Lieber will ein Mensch als brutaler Tyrann oder als Scheusal vor der Welt dastehen, als eine
lächerliche Figur machen. Nichts kränkt ihn so wie das. Das geht an die Ehre. Jesus läßt aber
dabei gleich das Begleitbild, gleichsam das Spiegelbild des ersten, aufsteigen, daß nämlich so,
wie der halbfertige Turm, in dem die Eulen nisten, das Christentum vor die Welt hintritt, wenn
seine Jünger ihr solche Zerrbilder als sehr erwünschte Augenweide bieten.

»Aber«, sagt der Herr, »die Kosten sind nicht uner schwinglich. Der Turm kann gebaut werden,
denn die Kosten können beschafft werden!«

Es gibt eine Stelle, wo man die ganze Summe zum Bau erhält. Nämlich da, wo man sein Kreuz
(d.i. Gottes Willen, wobei einem die Nägel durch Hände und Füße gehen) auf sich nimmt, - tapfer
und im Glauben hoch nimmt, statt grübelnd vor ihm stehen zu bleiben und in falscher
Selbstbespiegelung Gott anzuklagen. Da, wo man es endlich und für immer aufgegeben hat, von
einem Menschen, und sei es der liebste auf Erden, das zu erwarten, was allein Gott selber geben
kann und im Sohne gibt; denn auch das treueste Wort der Treuesten macht die Seele nicht satt
und erfüllt sie nicht mit ewigem Leben.

Mit unmißverständlicher Deutlichkeit drückt das Jesus aus. Er sagt (V. 26 und 27) als Einleitung
zu seinem Gleichnis: »So jemand zu mir kommt und bevorzugt mich nicht vor seinem Vater,
Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern und seinem eigenen Leben, der kann nicht mein
Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.«

Bevorzugung gegenüber Vater und Mutter, gegen Weib und Kind! Welche Ungeheuerlichkeit!
Aber es heißt ja gleich weiter: Auch gegen das eigene Leben! Damit steht man selber neben
Vater und Mutter und gehört mit ihnen untrennbar eng zusammen. Wie eng, das sagt Jesus an
einer andern Stelle, wo er die Liebe zu den Eltern die größte nennt, die es auf Erden gibt, um von
dieser höchsten Stufe aus die doch noch ausschließlichere Liebe ahnen zu lassen, die in seiner
Gemeinschaft Lebensele ment ist, denn in ihr »ist Gott da«. Christus stellt damit die große Frage:
Bist du imstande, mich zu deinem einzigen Lebensinhalt zu machen? Soll ich dein Ansatz und
dein Endziel sein? Willst du nur aus diesem meinem Leben leben? Dann hört alles andere bei dir
auf! Dann gibt es kein Paktieren mit der kleinsten Sünde und Halbheit. Dann bin ich der, aus
dessen Händen du alles erst wieder empfängst als mein Diener, auch dein Familienleben, und
selbst die Deinen kannst du nur in mir lieben.

Bringst du diese Kraft auf? Willst du und wagst du den ganzen Einsatz? Dann treten die
himmlischen Heerscharen der Kräfte der zukünftigen Welt auf deine Seite, und du kannst den
Kampf mit Welt, Sünde und Tod aufnehmen in der Gewißheit des Sieges. Denn dann hast du den
Glauben, der die Welt schon überwunden hat, noch ehe es zur Schlacht kommt.

Bringst du diese Kraft nicht auf, tust du nicht den Schritt ganz in mich hinein, kannst aber doch
nicht von mir lassen, weil ich dir soviel Trost und Seligkeit bringe in der göttlichen Offenbarung,
dann fehlt dir im Entscheidungskampfe mit der Welt das überlegene Heer. Dann bist du an Zahl
und Kraft unterlegen, und die Übermacht triumphiert, auch wenn du dich dann noch so wütend
wehrst. Fang dann den Kampf »lieber erst gar nicht an«!

Mit entwaffnender Folgerichtigkeit schildert das Jesus in dem Gleichnis, das auf das Gleichnis
vom Turmbau folgt: (Lukas 14, 31-32)

»Oder welcher König will sich begeben in einen Streit wider einen andern König und sitzt nicht
zuvor und ratschlagt, ob er könne mit 10.000 begegnen dem, der über ihn kommt mit 20.000? Wo
nicht, so schickt er Botschaft, wenn jener noch ferne ist, und bittet um Frieden. Also auch ein
jeglicher unter euch, der nicht absagt allem, was er »hat«, kann nicht mein Jünger sein.«

Da wehrt Jesus selber dem Kampfe, zu dem mancher eine heilige Bereitschaft verspürt, ohne zu
ahnen, daß er - ein Halber ist und einer furchtbaren, vernichtenden Niederlage entgegengeht.

Etwas von dem Entsetzen springt aus solchen Enthüllungen unseres tiefsten Inneren auf uns
über, wie es sich auf die Hörer der Bergpredigt legte, als sie - schon lange verstummt und wie
entrückt und gebannt lauschend - die Sprache wiederfanden mit dem Bekenntnis: »Er predigt
gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten.« Hier werden wir unserer inneren Unfolgerichtigkeit
erschreckend inne!

Wir hatten bis dahin wohl gemeint, daß diese Welt nur etwas Höheres hergeben müsse, genötigt
vom idealen Menschengeist, der sich am Niedrigen nicht genügen läßt. Ein Durchleuchtetsein
dieser Staubwelt vom Menschen her wird schon die ganze Welt verwandeln! Und Jesus kann uns
darin doch nur bestärken! Auch ihn gliedern wir ein als Teil in unsere ideale Welt hoher Ziele und
Menschenbeglückung. Das Gönnerhafte dieser Eingliederung kam uns gar nicht zum
Bewußtsein. In die übertünchte Bretterbudenwelt, in der wir mit den Kinderballons kleiner
Diesseitsideale voll Zukunftswahn »aus eigener Kraft« umherziehen, schlägt der Blitzstrahl des
Wortes Jesu und - zündet. Ja, im wahren Sinne vernichtend ist Jesu Wort, wo er uns, den stolzen
Königen, rät, lieber um Frieden zu bitten und Anschluß an die bekämpfte Welt zu suchen. Das ist
wahrhaft ein reinigendes Gewitter! Aber wie klar werden da die inneren Verästelungen
menschlicher Selbsttäuschung bloßgelegt, die es nicht verstehen kann, daß mit einmal der
Turmbau stockt und die Seele davonläuft, aus allen Verantwortungen heraus, und das
Christenleben zum Spottgebilde wird! Wie unabwendbar die Lebensniederlage, wenn der
Mensch, was er »hat« an Idealen, Wunschbildern, Grundsätzen, Genüssen und Bindungen,
festhält und das, was Christus »hat« und bereit hat aus ewigem Besitz, nur mitmachen lassen
will. Ja, Christus holt uns wirklich in sein Gleichnis herein. Das Drama ist spannend. Wir sind die
Handelnden. Und, sagt er, du bist der König einer ewigen Welt. Es geht um deine Krone. Um die
Krone des Lebens! Bist du zum ganzen Einsatz bereit? Welcher Dichter hat je solche Kunst
gestaltet und entfaltet! Wer macht uns so zu Mitspielern, daß wir aus Zuschauern, die genießen,
die Handelnden selber werden?

Der Halbe wird gepackt, auf daß er ein Ganzer werde. Das darf nur einer mit uns tun: der selber
der Ganze ist!

Die Ganzen

(Es gibt fortan nur eine Lebensform)

Wie ist doch den Künstler um Stoff so bange! Woher ihn nehmen! Gehe einmal durch
verschiedene Museen und studiere die Stoffe der Maler! Du siehst, daß sie zu einem ganz
großen Teil von Anleihen leben. Die Welt der Bibel, in der es sich um die Menschheit in ihren
erschütterndsten Erlebnissen handelt, liefert zu ungezählten Gemälden und Zeichnungen den
Vorwurf. Was aber Kunst zur Kunst macht, ist das ewige Leuchten. Ja, das kann auch über eine
Rose im Glas oder über ein spielendes Kind dahinzittern. Es kann. Meistens aber ist es nicht der
Fall. Denn eine Unzahl von sogenannten Kunstwerken sind nichts weiter als Bekenntnisse, daß
die Gestaltungskraft des Künstlers Not leidet und sein armer Geist auf - Einfälle angewiesen ist,
auf Augenblickssachen. Ein großer Dichter nennt diese die Läuse der Vernunft. Leichter ist es
dann schon, sich in die ewige Welt der Bibel hineinzubegeben und in dieser Atmosphäre tief zu
atmen und geistig zu wachsen, bis es zu einer Ergriffenheit kommt, von der der Künstler nicht
mehr loskann. Wie hat auch Rembrandt aus diesen immer fließenden Quellen geschöpft! Und
wie wenig Stoff findet er außerhalb dieser! Und unsere großen Dichter! Wie müssen auch sie
nach Stoff suchen und sich um seine Gestaltung mühen! Ganze Jahre, ja, Jahrzehnte haben sie,
wo der Vorhang in ihrem Innern geschlossen bleibt. Die Einfälle, die sie dann in Ermangelung
eines Bessern verarbeiten, füllen ganze Bände, die keiner mehr liest.

Bei Jesus ist es anders. Liegt eine innere Notwendigkeit vor, ein Geheimnis des Lebens-vor-Gott
an die Menschenseele heranzubringen, so ist auch im Augenblick ganz ungesucht ein
schlagendes Kunstgebilde zur Hand, das den Zusammenhang des einen besonderen Teiles mit
dem Ganzen enthält. Als ob ein Stück eines Kirchenfensters gezeigt wird und dabei wie eine Fata
Morgana das ganze Fenster samt der Kirche erscheint! Das geht nicht. Aber hier ist es so. So
werden viele Gleichnisse ohne weiteres zur »Trilogie«; Erde, Himmel und Hölle - also
Gottesferne - sind die Sphären, in die alle Handlungen der Gleichnisgestalten hineinreichen!
Diese Kunst Jesu liegt nun einmal vor und läßt sich aus dem Wesen der Idee, die er offenbaren
will, nicht ableiten. Der Stoff, den er aufgreift, entspringt nicht der Wahrheit, die er verkünden will,
wie etwa der »sterbende Krieger« dem Kriege und die Hexenszene dem Faustmythos, sondern
hier erleben wir den Künder einer unerschöpflichen Phantasie.

Was ist's um das Geheimnis des allein gelassenen Menschen?

Denn das sind wir doch! Allein gelassen!

Darum fragt der Heide den Boten des Evangeliums: »Kannst du uns das sagen, was der Mensch
ist? Wie ein Vogel ist er, der durch ein Fenster in einen hellen Saal hineingeflogen kommt, eine
Weile darin herumfliegt und dann aus einem andern Fenster wieder in die Nacht hinausfliegt!
Sage uns, wo kommt er her und wo fliegt er hin und was hat er hier in diesem Saal zu suchen?«

Der allein gelassene Mensch! Auch allein gelassen mit seiner Unwissenheit, die er sich nicht
selber in Wissen verwandeln kann!

Jesus stellt es in folgender Kunstschöpfung dar:

(Matthäus 25, 14 - 31)

»Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der in die Ferne zog, er rief seine Knechte und tat
ihnen seine Güter aus; und einem gab er fünf Zentner, dem andern zwei, dem dritten einen,
einem jeden nach seinem Vermögen, und zog bald hinweg. Da ging der hin, der fünf Zentner
empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann andere fünf Zentner. Desgleichen der zwei
Zentner empfangen hatte, gewann auch zwei andere. Der aber einen empfangen hatte, ging hin
und machte eine Grube in der Erde und verbarg seines Herren Geld. Über eine lange Zeit kam
der Herr dieser Knechte und hielt Rechenschaft mit ihnen. Da trat herzu, der fünf Zentner
empfangen hatte, und legte andere fünf Zentner dar und sprach: 'Herr, du hast mir fünf Zentner
ausgetan, siehe da, ich habe damit andere fünf Zentner gewonnen.' Da sprach sein Herr zu ihm:
'Ei, du frommer und getreuer Knecht! Du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über
viel setzen! Gehe ein zu deines Herrn Freude!' Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen
hatte, und sprach: 'Herr, du hast mir zwei Zentner ausgetan; siehe da, ich habe mit ihnen zwei
andere gewonnen.' Sein Herr sprach zu ihm: 'Ei, du frommer und getreuer Knecht! Du bist über
wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen! Gehe ein zu deines Herrn Freude!' Da
trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: 'Herr, ich wußte, daß du ein
harter Mann bist. Du schneidest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht gestreut
hast, und fürchtete mich, ging hin, und verbarg deinen Zentner in die Erde. Siehe, da hast du das
Deine.'

Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: 'Du Schalk und fauler Knecht! Wußtest du, daß ich
schneide, da ich nicht gesät habe, und sammle, da ich nicht gestreut habe, so solltest du mein
Geld zu den Wechslern getan haben, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine zu mir
genommen mit Zinsen. Darum nehmet von ihm den Zentner und gebt es dem, der zehn Zentner
hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben. Wer aber nicht
hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft in die
Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneknirschen.'"

Das ist doch ein ganz besonders »Alleingelassensein«! Der Herr der Knechte lebt, ungesehen
von ihnen. Aber er lebt, und es ist für sie gewiß, daß sie ihn wiedersehen werden. Darum ist es in
ihnen so hell. Beachte die Meisterschaft, wie Jesus es fertigbringt, ohne Schilderungen die
beiden Knechte in lauter Freude und Licht zu hüllen. Dabei sind es - Leibeigene! Nichts gehört
ihnen! Nicht einmal sie selber gehören sich! Fröhliche Leibeigene! Was für eine Zumutung an den
Freiheitsdrang des Menschen!
Und was für eine Leibeigenschaft malt das Gleichnis! Ihre Seele ist - ganze Hingabe. Mit einer
Leidenschaft gehen sie an ihre Arbeit, als ob sie einen Gewinn nach dem andern nur darum
herauswirtschafteten, um selber reich zu werden. Reich werden wollen sie allerdings! Aber
anders! Das soll ihr Reichtum werden, daß sie dem Herrn gefallen und seiner Liebe und
Gemeinschaft teilhaftig bleiben. Freuen soll er sich. Stolz sein soll er auf sie. Sie arbeiten in
seinem Geiste. Kein Tag, wo sie nicht an ihn denken. Nicht »auch« so nebenbei an ihn denken!
Der Gedanke an ihn ist ihr Ansporn. Mit ihm gehen sie in ihre Arbeit hinein und wieder aus ihrer
Arbeit heraus. Was für ein Vertrauen! Der Herr ist weg, - und alles ist in ihrer Hand! Das ist ein
frohes Schaffen, das wunderbar von der Hand geht. Zuviel wird ja auch nicht von ihnen verlangt.
Der Herr hat sich nach ihrem Können, ihren Gaben, die sie mitgebracht haben in den Dienst,
genau gerichtet und keinem mehr aufgeladen, als er bewältigen kann.

Der dritte Knecht haßt diese Leibeigenschaft und schüttelt sie innerlich ab. Herrenlosigkeit ist
sein Lebensideal. Lebe, wie es dir paßt! Der Herr ist ja nicht da. Die Zeit kann man doch
ausnutzen. Was er mir gegeben hat, soll er behalten. Es soll sich begraben lassen und wird auch
begraben, von ihm. Aus der Erde kann man es ja dann herauskratzen, wenn er sich wieder
blicken lassen sollte. So ganz sicher ist das aber nicht damit. Jedenfalls hat erst einmal die
Plackerei ein Ende, und wir können unser Leben genießen und zimmern, wie wir wollen. Die
beiden Narren da! Eine heillose Angst scheinen sie vor ihrem Herrn zu haben. Denn was soll sie
sonst bewegen, sich so ins Zeug zu legen? Doch nur ihr Aberglaube, daß der reiche Mann, der
drüben wohl noch wer weiß was für Besitzungen hat, sich wieder hier sehen läßt.

Aber dann steht plötzlich der Herr vor jedem einzelnen. Der Tag der Abrechnung ist da. Und die
beiden Treuen erfahren zu ihrer namenlosen Überraschung, daß es nur eine Prüfzeit war, die
nun abgeschlossen ist und auf die ein Leben folgt mit unerhörten Aussichten, mit einem Schaffen
in seliger Freiheit und Freude. Der dritte erlebt auch seine Überraschung. Was er erst als
Grundmotiv bei den andern angenommen hat - Angst! -, das schützt er jetzt bei sich als die
Hemmung vor, die ihn habe zu nichts kommen lassen. »Herr! Haben willst du doch etwas. Deine
Sklavenhalterei hat üblen Untergrund: andere für sich arbeiten lassen und selber die Früchte und
Gewinne einheimsen! Wie leicht konnte ich - alles, was du mir gegeben hast, verlieren, wenn ich
damit Geschäfte machen und Gewinne hereinholen wollte. Dabei kann man sich ja so leicht
verrechnen, und was dann! Darum habe ich deine Sachen gelassen, wie sie waren. Da, nimm sie
wieder hin. Du hast nichts verloren, und ich habe mich nicht bereichert.«

Damit ist das Gleichnis schon durchsichtig geworden. Die Figuren bleiben, was und wie sie sind,
aber die Kunst Jesu vermag, sie durchscheinend zu machen, so daß in ihnen - der allein
gelassene Mensch sichtbar wird, und zwar nicht mehr als Rätsel, sondern als Lösung aller
Rätsel, die das Leben betreffen.

Und diese Lösung heißt. Du, Mensch, kannst und sollst der - Leibeigene deines Herrn sein, mit
vollem Bewußtsein und mit aller Kraft hingebender Treue. Dein Herr läßt dich nicht ausgestoßen
und mittellos allein. Er gibt dir - sein Gut! Das Reich Gottes, Erlösung, Wahrheit und Leben in
einem!

Das nimm hin, und vermehre es in einem frohen freudigen Erglühen. Kein Alter setzt diesem
Schaffen ein Ziel. Zitternde Hände und Nichtmehr-arbeiten-Können, beides hat mit dieser Arbeit
nichts zu tun. Die geht weiter. Vorher aber hat sie alles durchdrungen und verklärt, was irdische
Pflicht war. Das Reich Gottes ist wie das Sonnenlicht.

Es läßt alles umstrahlt erscheinen, was an sich dunkel und schwer ist.

Es gibt fortan nur eine Daseinsform, sagt hier Jesus. Dazu ist er gekommen, um sie zu bringen,
zu nichts anderem. Und diese eine, einzig mögliche Daseinsform ist die - Leibeigenschaft!

Ist die Hingabe an den einen Herrn, der diese Wirklichkeit in Fleisch und Blut dargestellt hat.
Fleisch und Blut sind dann der Grund, daß er, der Herr der Knechte, weit weg ziehen muß, um -
wie es in dem Lukasgleichnis Kap. 19 heißt - sich die Königswürde zu holen.

»Ich bin, der ich bin.«

(Die Unmittelbar-Gleichnisse des Johannes mit der Matthäuseinleitung.)

Matth. 11, 25-30:

(Luk. 10, 21-22)

»Zu der Stunde freute sich Jesus im Geist und sprach: 'Ich preise dich, Vater und Herr Himmels
und der Erde, daß du solches (Evangelium) den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es
den Unmündigen offenbart. Ja, Vater, denn also ist es wohlgefällig gewesen vor dir. Alle Dinge
sind mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennet den Sohn, denn nur der Vater, und
niemand kennet den Vater, denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. (Darum)
kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf
euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet
ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht."

Joh. 15, 1-7:

»Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jegliche Rebe an mir, die
nicht Frucht bringt, wird er wegnehmen! Und eine jegliche, die da Frucht bringt, wird er reinigen,
daß sie - mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch geredet habe.
Bleibet in mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe kann keine Frucht bringen von ihr selber, sie
bleibe denn am Weinstock, also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir. Ich bin der Weinstock, ihr
seid die Reben. Wer in mir bleibt, und ich in ihm, der bringet viele Frucht, denn ohne mich könnt
ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibet, der wird weggeworfen wie eine Rebe - und verdorrt, und
man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und müssen brennen. So ihr in mir bleibet und meine
Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. «

Joh. 10, 12 ff.:

»Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht
Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und
flieht, und der Wolf erhascht und zerstreuet die Schafe. Ich bin der gute Hirte und erkenne die
Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennet und ich kenne den Vater. Und
ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus
diesem Stalle; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören und wird
eine Herde und ein Hirte werden. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie
folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und
niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. Der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer
denn alles; und niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.«

Joh. 11, 25-26:

»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich
stürbe, und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. «

Joh. 6, 48 ff.:

»Dies ist das Brot, das vom Himmel gekommen ist, und gibt der Welt das Leben. Dies ist das
Brot, das vom Himmel kommt, auf daß, wer davon ißt, nicht sterbe.«
Joh. 8, 12:

»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern
wird das Licht des Lebens haben.«

Joh. 14, 6.

»Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch
mich.«

Joh. 18, 37:

»Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit
zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.«

Joh. 7, 37-38:

»Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, von des Leibe
( Erdendasein) werden (wie die Schrift sagt) Ströme lebendigen Wassersfließen.«

Joh. 4, 14:

»Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird i . n ihm ein Brunnen des Wassers
werden, das in das ewige Leben quillt.«

Die Perspektive der Gleichnisse.

Die Perspektive der Menschheit haben wir im Gleichnis von dem Barmherzigen Samariter
kennengelernt. Die Menschheit begegnet dir. Ihre Vorhut ist - der, der dir zuerst begegnet, sind
die, die dich aus der Nähe anschauen und die du sehen und lieben und retten mußt. Groß stehen
sie vor dir, hinter ihnen - folgt die übrige Menschheit, die sich nach dem Horizonte zu in
ununterscheidbare Punkte verliert. Der Nächste aber ist im Vordergrunde und so groß, daß du
nicht über ihn hinwegsehen kannst.

Die Perspektive der Gleichnisse ist eine ganz andere!

Betrachte eine Landschaft, beschaue ein Bild mit Häusern und Bäumen und Wegen. Wie laufen
die Linien der Häuser? Wie entfernen sich die Pappeln nach dem Hintergrunde zu? Alle Größen,
alle Linien stehen in Beziehung zu einer Stelle, die - leer ist. Dahin eilen die Dachlinien, von oben
nach unten, und die Grundlinien und die Standplätze der Bäume, von unten nach oben. Es ist wie
eine Bewegung, die damit durch alle Einzelheiten hindurchgeht, daß jeder einzelne Backstein,
der aus dem Kalk hervorschaut, mit seinen Kanten eingerichtet ist und mit an dem Punkte hängt,
der hinter der Flucht der Bäume und Häuser unsichtbar die am Hirnregiert und alle Größen
bestimmt, selbst die am Himmel segelnden Wolken, die im Vordergrunde wie wandelnde Paläste
schweben und nach »ihrer Heimat« zu, von der sie »herkommen«, immer kleiner werden, klein
wie fliegende Schwäne.

Auch die Gleichnisse sind ja Bilder und werden als solche gesehen und erlebt. Bilder zwar, die
immer wechseln, so daß ein Gleichnis ein Bild ist, das lebt, und so immer neue Blicke bietet.

Eine Perspektive aber haben alle diese Bilder. Alle Linien laufen auf eine unsichtbare Stelle zu,
die jede Linie und Größe und Bewegung bestimmt.

Wer bestimmt die Größe des Samariters, daß sie über die ganze Welt wächst?
Wer bestimmt die Kleinheit und Flachheit des Pharisäers, der doch im Vordergrunde steht, und
die Größe des Zöllners, der ganz abseits, fern im Hintergrunde steht und dennoch so unendlich
hoch über den Pharisäer emporragt?

Zu wem hat dieser Zöllner die tiefste Beziehung, ohne ihn zu kennen! Der Hirte aber, der das
Schaf auf die Achseln nimmt, - ist er denkbar ohne die - Perspektive dieses Gleichnisses auf den,
der es spricht?

Und der Sämann?

Und der Vater des verlorenen Sohnes mit seiner herben Liebe, die den Sohn nicht hält, wenn er
weg will, und ihm doch den Stachel der Liebe mitgibt, die am deutlichsten wird, wenn sie sich in
Gnade und Vergebung wandelt und Heimat wiederschenkt dem Verlorenen?

Es ist nicht schwer, diesen Perspektivenpunkt nun zu entdecken.

Die Perspektive jedes Gleichnisses - ist Jesus selber!

Es hat einen eigenen Reiz, alle Gleichnisse nacheinander daraufhin anzusehen. Selbst der
Schatz im Acker, die köstliche Perle, hat diese Perspektivenbeziehung zu Jesus. Deutlich wird
sie besonders daran, daß beide nur so errungen werden können, daß man alles, was man hat,
drangibt und nichts mehr für sich zurückbehält - eine Forderung, die Jesus an alle stellt, die ihm
nachfolgen und - das Licht des Lebens haben wollen. Da steht fast sichtbar Jesus in den beiden
Gleichnissen selber im Hintergrund!

Das Große in allen Gleichnissen (sie durchbrechen ja alle irdischen Schranken und verbinden
immer Erde und Himmel, Seele und Gott!) ist nur deshalb darin, weil - Jesus sie spricht, weil er
seine Maße hineintut.

Alle Linien dieser Art führen geradewegs immer zu dem, der im Gleichnis selber gar nicht zu
sehen ist. Das Gleichnis vom großen Schuldner (Matth. 18) kann nur darum von der Gnade ohne
Maß sprechen, weil der sie kündet, der sie selber - ist! Der den Weg zum Vater für die verlorene
Welt frei macht.

Wer Augen hat zu sehen, der sehe! - Der sehe ihn!

Das Leuchtende in all den irdischen Dingen seiner Gleichnisse ist - sein Widerschein.

Besonderheiten der Gleichniskunst Jesu.

I.

Braucht nun noch hervorgehoben zu werden, daß die Gleichnisse Jesu alle einen einheitlichen
Charakter an sich tragen? Sie tragen ihn so sehr an sich, daß es leichter ist, einen Rubens
vorzutäuschen oder ein Bild in Helldunkel als von Rembrandt auszugeben, als auch nur ein
Gleichnis zu den Gleichnissen Jesu hinzuzuerfinden. Wenn so oft und so kindlich um die Frage
gestritten wurde, ob die Gleichnisse echt seien, ob sie nicht von vielen andern hinzugedichtet
seien, ob Jesus überhaupt gelebt habe, so liegt hier der bündige Beweis in dem Werk selber vor,
das die Hand des Meisters an jeder Stelle verrät. Es hat noch keiner den Gleichnissen Jesu auch
nur eines hinzuzufügen vermocht. Das hängt nicht vom Wollen ab, sondern vom Können. Gewiß
haben nach ihm die Sufiten, die mohammedanischen Mystiker, tief bewegt von dem Geiste Jesu
und ergriffen von seiner unerklärlichen Einheit mit Gott, Gleichnisversuche unternommen, die
durchaus nicht als mißlungen angesehen werden können. Im Gegenteil! Es scheint fast, daß sie
auf christlichem Boden nie übertroffen worden sind. Aber gegen die Kunst Jesu fallen sie derartig
ab, daß sie durch sich selber schon den Nachweis führen, daß Jesus nicht zu erreichen ist.

Man kann ihm die »Gleichnistechnik« nicht absehen und dann nachmachen. In Jesus spricht die
Wirklichkeit, durch die die Wende aller Zeiten da ist, der neue Mensch da ist, der Anfang einer
neuen Menschheit und zugleich - ihr Ziel. Kann man sich daher wundern, daß in seinen
Gleichnissen etwas aufspringt und aufleuchtet, was ganz einzigartig und nicht als Technik
anzulernen ist?

Trotz ihrer gar nicht zu fassenden Vielgestaltigkeit sind die Gleichnisse von unverkennbarer
Einheitlichkeit. Im kleinsten Rahmen offenbaren sie die ganze Weltentwicklung, enthüllen sie die
Geheimnisse der Seele und den Weg in das unbekannte Land der Zukunft und Ewigkeit.

II.

Mit Recht hat man sie farbenprächtig genannt. Denn beim Anhören eines Jesus-Gleichnisses
fangen wir an zu sehen; Landschaften tun sich vor uns auf, in denen wir einherzuschreiten
meinen: Felder mit wachsender Saat, Weinberge, unheimliche Einsamkeit, Höhe und weite
Ferne, Wüste, - Hochzeit, Gastmahl, Kontor, - Lampen in dunkler Nacht, ein Licht im Hause in
der Hand einer Suchenden usw. usw. Alle diese Bilder stehen sofort voller Leben, deutlich und
greifbar vor uns, so daß uns die leuchtende Farbenpracht nahezu selbstverständlich erscheint.
Wie soll es denn anders sein, wenn es uns so verlebendigt wird! Um so auffälliger ist, daß Jesus
in keinem Gleichnis auch nur eine Farbe erwähnt. Er malt herrlich farbig - ohne irgendwelche
Farben mit Namen zu nennen. Kein Dichter verzichtet sonst auf dies Hilfsmittel und keiner
versucht auch nur, ohne ausmalende Beiwörter auszukommen.

III.

Genauso findet sich niemals in Jesu Gleichnissen irgendwelches Beiwerk, das er für nötig hielte,
um das Bild plastischer zu machen. Er verzichtet auf jede Ausschmückung. Das Dekorative sucht
man vergebens bei ihm. Keine Gruppe von Gestalten holt er herbei, um die Szene zu füllen. Wie
anders machen es auch die anerkanntesten Dramatiker - selbst ein Shakespeare. Ohne
Gestalten, die vom Parkett aus gesehen und nicht immer innerer Notwendigkeit entsprungen
sind, geht es da nicht ab. Der Zuschauer also ist da der eigentliche Schöpfer so mancher
Figuren. Seine »Bedürfnisse« entscheiden, sein Wunsch, gerührt zu werden und wieder
aufzuatmen bis zum »befreienden« Lachen. Bei Jesus findet sich keine »Addition von Gruppen«.

Was das ist, zeigt besonders Kaulbachs Gemälde »Die Reformation«. Das ist konstruiert, und die
Art der Gruppierung ist nicht ganz weit von der Art der Kunstfotografen entfernt. Umgekehrt ist
Rembrandts Hundertguldenblatt trotz der vielen Gruppen vom ersten bis zum letzten Strich
künstlerische Notwendigkeit. Eine einzige Gefühlsquelle sendet ihre Wellen durch alle hindurch
und bestimmt jede einzelne Haltung, jeden Blick, jeden Schatten, jedes Licht. Nichts Gestelltes,
nichts Künstlerisches findet man bei Jesus. Alles ist zwangloseste Natürlichkeit, und die
Menschen bewegen sich und sprechen so, als ob es anders gar nicht möglich wäre. Der
verlorene Sohn und sein Bruder, der faule Knecht, der ungerechte Haushalter - es ist auch nicht
einer, der nicht aus einer tiefsten Echtheit heraus redete und handelte. Ja, diese Menschen sind
nicht Kleiderständer, an die der Künstler seine Kostüme gehängt hätte. Sie leben! Sie sind echt!

IV.

Ein Gleichnis ist ein Kunstkörper genauso wie eine Statue oder ein Gemälde, ein Drama oder ein
Lied. Ehe es aber ein Kunstkörper wird, ist es - siehe das verirrte Schaf, den unter die Mörder
Gefallenen, siehe die Saat, das Feld, das Senfkorn, - ein Naturkörper, ein Zeitkörper rein
zufälliger, oft belangloser Art, mit seiner ihm anhaftenden Zeitschwere, mit seiner Kürze, mit
seiner kleinen Alltagsfolgerichtigkeit und seiner begrenzten Möglichkeit. Unmerklich entzieht
Jesus den Naturkörper seinem Gesetz der Äußerlichkeit, um ihn zum Darsteller des ewigen,
innerlichsten Gesetzes zu machen. Dabei muß dann sogar der Betrüger mithelfen, der
ungerechte Haushalter, dessen Lebenswille in verblüffender Weise bloßgelegt vor uns hintritt und
wie mit Scheinwerferlicht den mangelnden Lebenswillen derer, die nie so kalt handeln würden
wie er, grell beleuchtet. Merkt man aber auch nur irgend etwas von Gewaltsamkeit dabei? Es gibt
ja auch künstlerische Folterkammern, die ihre Figuren so strecken und pressen, daß sie
gewaltsam das darstellen, was sie in der Natur nie und nimmer tun. Man denke nur an den
Holzfäller des Schweizers Hodler, an seinen Aufbruch der Freiheitskämpfer 1813! Aufgepeitscht
sind diese alle in ihren Ausdrucksbewegungen, von außen aufgepeitscht, nicht von innen
gerufen, nicht unentrinnbar von innen bestimmt. Aber das sind alle Jesusgestalten. Jesus läßt sie
keine Bewegungen um der Bewegung willen machen. Nie sind sie seelenlose Masken, die nur
Zweckfunktionen zu erfüllen haben. Dennoch sind sie alle ihrem kleinen Kreise entnommen und
handeln gewissermaßen symbolisch auf der Schaubühne der Wahrheit, die Jesus im Angesichte
der Menschheit aufgeschlagen hat, und alle ihre Handlungen werden zu Offenbarungen der
Menschheit selber, auch der erlösten, und werden so - der Menschheit zur Offenbarung. Sie
werden - einmalig! Der verlorene Sohn! Einen andern gibt's hinfort nicht mehr als nur diesen
einen, und alles, was künftig und bis ans Ende der Welt auf ähnlichen Wegen umherirrt, wird als
Spielart von ihm empfunden. Man kann sagen, das Natürliche, Irdische, Geschaffene wartet auf
einen Hauch aus einer andern Welt, wartet auf das Wesentliche, das von oben kommt, auf
Erlösung, letztlich auf den Erlöser. Und dieser Erlöser nimmt nun als Gleichnisredner ein Stück
Schöpfung, gefallener Schöpfung, in seine Hände und gibt es uns verewigt zurück. Aus einer
kleinen Szene bei einfachen Leuten, wo sich ein Vater in der Nacht vor Kindergeschrei fürchtet,
macht Jesus - ein Lächeln Gottes, ein Lächeln selbstverständlicher Zugetanheit und
Hilfsbereitschaft, ja, Freundschaft.

V.

Etwas ganz Besonderes aber haben die Gleichnisse Jesu an sich, im Gegensatz zu allen andern
Werken in der Kunst. Alle Künstler zeigen ihr Werden in diesen Werken. Das Jugendwerk
unterscheidet sich wesentlich von dem der Reife. Es ist eine eigene Wissenschaft, die Werke
dann nach ihrer sich wandelnden Selbstoffenbarung des Künstlers als Seelengeschichte zu
verwerten. Bei Jesus ist dagegen kein Entwicklungsunterschied in seinen Werken vorhanden. Sie
traten uns entgegen, diese seine Kunstwerke, als etwas schlechthin Vollendetes,
Abgeschlossenes. Damit offenbaren sie eine andere Entstehungsart, als sie bei anderen
Kunstwerken unumgängliche Voraussetzung ist.

VI.

Alle Gleichnisse Jesu sind mitgeteiltes Erleben. Geradezu aufwühlende Erlebnisse sind es, in die
wir mit innerster Anteilnahme mit hineingezogen werden. Ehe wir es wissen, sind wir schon
Partei. Es ist von uns auf eine unerklärliche Weise Besitz ergriffen worden. Und dieses
Ergriffensein erzeugt in uns sofort eine Spannung, in der Bestimmung und Wille
gegeneinanderstehen: eine Bestimmung, die von außen an uns herangekommen ist und unser
Gewissen erobert hat, ein Wille, der herangeholt ist zum ja oder zum Nein.

Wer durch die Tiefen des Selbstgerichtes hindurchging, als er mit einem Grauen seine
Verwandtschaft mit dem Priester und Leviten, mit dem faulen Knecht und dem kalten Sohn
erkannte, wer sich als Mitschreier bei dem Lohnstreit, als einen der streikenden Gäste beim
großen Abendmahl im Spiegel sah, als den Pharisäer, gegen den er voll Abscheu hitzigste Partei
genommen hatte, - der hat erlebt. Denn dieses Erleben unter dem starken Eindruck der Gewalt
des Bildes bedeutet, daß man eine festgehaltene Stellung verläßt, um sie für immer aufzugeben.

Die Ursprache, die nie gesprochen wurde.

Alles Irdische, Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Aber es reicht dazu aus, das Unsichtbare so zu
benennen, daß es uns verständlich wird. Vom Gleichnis kommen wir nicht los. Nie können wir
das Geistige in unmittelbarer Sprache aussprechen. Klarheit des Wassers wird zum
Vorstellungsmittel von etwas anderem, das wir daraufhin unter Klarheit verstehen. Allen diesen
Worten liegen irdische Dinge zugrunde, mögen sie noch so geistig klingen, z. B. Erbauung,
be-greifen, Hand-lung, erfassen, be-sitzen, ver-stehen, über-legen, über-stehen, Herz, ein-sehen,
ver-treten, fallen, aufstehen, niedrig, hoch, schmutzig, rein, Reinheit, verdorben, Fehl-er, Ver-f
ehl-ung, Verwässerung, Verhärtung, Licht, Finsternis, usw. bis hin zur Er-leucht-ung und
Er-lös-ung, Friede.

Hier kann man doch wirklich mit Leichtigkeit feststellen, daß unser Seelenleben aus lauter
Worten besteht, die von der Erde genommen sind und nun im übertragenen Sinne etwas anderes
bedeuten sollen, als sie eben noch bedeutet haben. Denn wenn ich soeben vom Wasser gesagt
habe, daß es frisch und rein und klar ist, so weiß ich ja, wo ich meine Ausdrücke hergenommen
habe, wenn ich mich nun umdrehe und sage von einer Seele: sie ist frisch und rein und klar.
Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser! Ja, aber sie ist kein Wasser, und doch
müssen wir von ihr wie vom Wasser sprechen. Der Tag und die Sonne sind licht und hell und
warm. Und wieder drehe ich mich nach der Geistesrichtung herum, und plötzlich ist ein Licht
gemeint, das auch nicht mit den feinsten physikalischen Apparaten zu erfassen ist: das Licht im
Menschen, sein »warmes« Wort, sein »helles« Antlitz, ja sein »strahlendes« Antlitz.

Was ist wohl so deutlich wie dies, daß jedem Äußeren was man mit den Augen sieht, ein Inneres
entspricht, das nie ein Auge sehen wird, und man bezeichnet es mit ganz demselben Worte, z. B.
Größe! Hoheit! Beides bezeichnet zunächst den Berg und seine Höhe, und dann etwas im
Menschen, was noch über das hinausgeht, was ein Berg sein kann und wie er sein kann.
Himmel! Haben wir ein besseres Wort für das Reich, das nicht von dieser Welt ist? Und zunächst
ist doch der Himmel nichts anderes als nur der Sternenhimmel, den unser Auge sieht und der zu
dieser sichtbaren Welt gehört, die vergeht. Aber wir wissen, was gemeint ist. So ist also die
Ursprache der Menschen nichts anderes als diese sichtbare Welt, in Worte gefaßt, und
gleichzeitig die unsichtbare darstellend.

Da wird Friede, hergenommen vom irdischen Krieg, zu einem überirdischen Zustand,


hervorgegangen aus einem unsichtbaren Kampf. Goethe hat als junger Mensch gemeint, dieses
Überirdische sei ein Gleichnis, nichts Wirkliches. Es sei eine Luftspiegelung. Der Mensch, so
dachte er, verlegt einen Vorgang in sich, der nur ein vorüberhuschender Schatten ist, eine Welt,
die kein vorüberhuschendes Gebilde mehr sein soll. Er meinte, das sei eine Täuschung, ein
Wunschbild, ein schöner Traum. Als alter Mann sah er's anders; da erkannte er, daß dieses
Irdische vorüberhuscht und schon ein Gleichnis bietet von dem, was ewig bleibt. So ist dann
unser Erdendasein nur ein Gleichnis von einem ganz anderen Dasein, das ganz andere Maße
und Bedingungen haben wird. Wir spüren es schon in uns. Ja, wir leben schon im Diesseits aus
dem Jenseits.

Was heißt denn »glauben« anders, als aus jener Welt in diese Welt leben, von dort her alle Kraft
und alles wahre Wissen beziehen! Wer aber brächte das fertig, unsere Sprache, die unlösbar an
die Dinge dieser vergehenden Welt gebunden ist, so zum Reden zu bringen, daß sie die Dinge
der unvergänglichen Welt, also unserer Seele und der Gottes, kundtut! Das wäre dann die
wahrhafte Ursprache der Menschheit, die kein Volk je gesprochen hat.

Aber einer hat sie gesprochen, und wenn wir bei dem in die Lehre gehen, lernen wir sie.

Ein Pastor und Missionar in Ostafrika, der seinerzeit nach überstandenem Schwarzwasserfieber
heimkam, erzählte eine seltsame Geschichte. Auf einer Reise kam er in ein abgelegenes Dorf,
wo man noch nichts vom Christentum gehört hatte. Er mußte rasten, setzte sich mitten im Dorf
nieder und erzählte den Schwarzen die Geschichte von dem verlorenen Schaf. Lebhaft und
anschaulich schilderte er die Gefahren, die das verirrte Tier bedrohten. Der Löwe brüllt schon, es
zu haschen, blutig hat es sich gerissen und sitzt in den Dornen fest und kann nicht mehr weiter.
»Das sind wir«, riefen sie. Da hatte zum ersten Mal in ihrem Leben jemand mit ihnen in der
Ursprache der Menschheit gesprochen, und die verstanden sie sofort.
Wer also zu der Menschheit reden will, so daß sie sich selber versteht, der muß mit ihr in ihrer
Ursprache reden. Der muß im Gleichnis reden. Der muß die Bilder kennen, die schlechthin
verdeutlichen, was ungreifbar und unsichtbar im Reiche Gottes wartet, um in diese Welt
einzutreten. Ohne Bild ist nicht die leiseste Vorstellung von Geistigem, Gedanklichem möglich.
Wieviel mehr muß es da der Fall sein, wo es um Tod und Leben, um Zeit und Ewigkeit geht. Je
höher der Mensch auf der Treppe nach Gott steht, um so treffender ist sein Wort, weil es Bild ist,
zutreffendes Bild. Bismarck hatte etwas davon. Je blasser die Sprache, um so tiefer unten steht
auch der Mensch im ganzen Geistesleben.

Ganz oben aber steht der, der Gottes Welt auf schließt, der Dolmetscher Gottes, der das Ewige
in die Erdensprache übersetzt.

Das ist Jesus. Er spricht diese Ursprache, und man wird sie verstehen bis ans Ende der Welt.
Danken wir Gott für dieses Gottesgesetz, das das Bild zum Kanal der ewigen Wirklichkeiten und
Gottesgedanken macht.

Die Sprache und ihr Wesen lehrt es: sie ist von Anfang an nur Gleichnis, sie kann nicht anders,
sie weiß für »klar« keinen anderen Ausdruck, wenn sie vom Geist sagen will, daß er klar ist. Die
Sprache streift nicht auf höheren Stufen das Gleichnis ab, sondern bringt erst das letzte,
zutreffende Gleichnis. Gewiß kann man die Gleichnisgedanken Jesu in logische Begriffe und
sogenannte sachliche Ausdrucksweise zerlegen. Aber ihre Kraft und bezwingende Gewalt ist
dann dahin. Hätte Jesus so gesprochen, ohne Bild, ohne Gleichnis, so hätte er eben das nicht
sagen können, was ihm als Offenbarung auf der Seele brannte. Die Gedanken wären zu Boden
gefallen wie zu kurz geschossene Pfeile. Die Kunst, in dieser Art zu reden, haben die Zuhörer gar
nicht als Kunst empfunden und empfinden es heute noch nicht. Daß aber ohne diese Kunstform
und ihre meisterliche Beherrschung nichts zu offenbaren war, das liegt deutlich zutage. Man
vergesse ja nicht: Jesu Leben selber ist immer ein sichtbares Gleichnis seines unsichtbaren
Wesens. Man vergesse ja nicht: Kreuz ist Holz, und einer, der daran hängt, ein von Menschen
Überwältigter; aber durch die Haltung Jesu wird dasselbe Kreuz zu einem Gleichnis von etwas
ganz anderem.

Das Sichtbare fängt an, Unsichtbares zu reden. Der sichtbare Leib mit dem sichtbaren Blut ist
Gleichnis des unsichtbaren ewigen »Ich«, das sich selbst hingibt. Wie hätte das wohl deutlich
gemacht werden sollen? Durch sachliche Abhandlungen vom Katheder?

Mohammedanische Gleichnisdichter morgenländischer Mystik, die von Jesus gelernt haben.

(nach Tholucks Übersetzung 1825)

Aus dem »Gülschen Ras« (»Rosenbeet des Geheimnisses«, 1339, wahrscheinlich von dem
Perser Mahmud):

Weißt du, was das Christentum?


Hör! Ich will's dir sagen:
grabt die eigene Ichheit aus,
will zu Gott dich tragen.

Deine Seel' ein Kloster ist,


drin die Einheit wohnet.
Ein Jerusalem du bist,
da der Ew'ge thronet.

Heil'ger Geist, der Wunder tut!


Denn im Heil'gen Geiste
Gottes ganzes Wesen schwebt
her zu deinem Geiste.

Gottes Geist gibt deinem Geist


seines Geistes Feuer.
Er in deinem Geiste kreist
unter leichtem Schleier.

Wirst du von dem Menschentum


durch den Geist entbunden,
hast in Gottes Heiligtum,
ew'ge Ruh gefunden.

Wer sein Erdenkleid tut ab,


läßt's Begehren schweigen,
wird fürwahr, wie Jesus tat,
auf zum Himmel steigen.

Aus dem »Bustan« (Baumgarten) des Perserscheichs Mußliheddin Saadi (1291)

Gnade.

Zu Jesu Zeiten lebte einst ein Jüngling frech in Sünden.


In seinem Herzbuch waren nur nachtschwarze Blätter zu finden,
daß Satan selber sich vor ihm gescheut. Da kam der Tag, da er bitter bereut.
Der in Lüsten verbrannte und praßte, sich selber verdammte und haßte.

Da ging der Herr vorüber still an eines Mönchleins Hütte,


und trat ermüdet zu ihm ein auf des Bewohners Bitte.
Da hat sich der Jüngling von ferne genaht,
fiel nieder zur Erde und stumm er bat
- wie ein Schmetterling hinsinkt geblendet -
die Augen zur Erde gewendet.

Aus seinen Augen quillt ein Strom von bitteren Reuetränen.


O weh mir, ruft er, dreißig Jahr hab ich vergeudet mit Wähnen.
Mein Lebensgold warf in Schlamm ich und Lust,
jetzt verbrennt der Hölle Qual meine Brust.
Wär - ach - in der Wieg' ich gestorben:
ich wär nicht verdammt, nicht verdorben.

Ach Herr, noch keinen Sünder je deine Liebe ließ versinken!


O fasse fest doch meine Hand und laß mich nicht ertrinken! -
Da zieht das Mönchlein die Brauen hoch, und aufgeblasen droht er ihm noch:
Schamloser, umsonst ist dein Flennen!
Du magst zu Ende verbrennen!
Streif du mich nicht! Und packe dich aus des Messias Nähe!

Gott, die Gewährung einer Bitt' ich nur von dir erflehe:
Kommt einst der Jüngste Tag herauf, und alle stehen vor dir zuhauf,
und ich darf meine Zukunft sehen:
Laß nicht neben diesem mich stehen!

Da flammet jäh von Gottes Thron Offenbarung himmlisch hernieder!


Die Donnerrede Gottes hallt im Herzen Jesu wider:
Ich sehe sie dort beten, die zwei!
Und beider Bitte erhöret sei!
Sind auch ihre Bitten danieden, wie Himmel und Hölle verschieden!

Der Sünder, der dreißig Jahre im Schlamm der Sündenlüste gestanden,


bei dem das Herz vor Scham entbrennt und Reuetränen sich fanden,
der voll Verzagen bittet und glaubt, - er lege getrost und hoffend sein Haupt
auf die Schwelle des Throns demütig!
Der Erbarmungsvolle ist gütig.

Vergeben sei ihm die ganze Schuld, Paradiesesbürger er werde!


Doch jener Mönch, der keinen Platz ihm gönnt neben sich auf der Erde,
und heischt, daß er nimmer neben ihm steh:
Ich erfüll's, daß nimmer den Sünder er seh,
will ewig davor ihn bewahren!
Der Mönch soll - zur Hölle denn fahren!

Das Herze jenem im Busen zerschmolz, -


du Mönch, machst selbst dich gewichtig!
Doch am Hofe der Allgenugheit sind die Werke der Ichheit nichtig!
Wes Kleid ist weiß und wes Herz doch wie Nacht,
hat den Schlüssel zur Hölle sich selbst mitgebracht!
Hier gilt nicht die »Pflichtentreue«.
Nicht der Ichmensch hat ewigen Wert.
Nein, - Unvermögen und Elend als schönste Gab' sind begehrt!

Die Predigt Jesu.

Die Predigt Jesu ist von unvergleichlicher Schönheit. Hier spricht ja derselbe, der in den
Gleichnissen spricht. Gleichnisdurchwoben ist auch diese Sprache. Wie kann es anders sein, da
das Unvergängliche nach ehernem Gesetz nur durch Vergängliches ausgedrückt werden kann.
Es wird einmal die Zeit kommen, wo man dies noch viel tiefer erkennen wird als heute. Weder
den Geist noch die Form hat sich Jesus von Zeitgenossen entliehen. Er hat überzeitlich
gesprochen. Er hat die Form, die er vorfand, durchbrochen. Nicht aus Kunstliebhaberei, sondern
weil sein Geist die enge Schranke der Buchstabenknechtschaft sprengte und die Knebelung der
Kleinlichkeit zerriß. Man denke nur an die Auslegung der Rabbinen, die sie dem Moseswort: »Du
sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter!« - anhängten. Sie sahen darin eine
Kochvorschrift und mühten sich nun um zahllose Kochrezepte!

Wie legen sie das alttestamentliche Wort aus: »Fürchte dich nicht, du Wurm Jakob, du Häuflein
Israel!« Sie legen aus: Ein Wurm - der nagt; er nagt die Zeder an mit seinem Maul. Ist Israel ein
Wurm, so muß es dieses Nagen vollführen, es muß also -- beten (mit dem Maul nagen). Jesu
Worte gehen ganz andere Wege. Sie atmen Vollmacht und sind zu keiner Geistlosigkeit fähig.

Ihre einmalige Form aber ist es, die Einlaß fordert. Sie dringen in Tiefen, wo die Kunst nur noch
als einzige Form übrigbleibt, um das Letzte zu sagen, was das Innere so seltsam bewegt: Seine
Worte haben einen Klang, der sich in Musik verwandelt, ohne daß man sich etwa »vornimmt«,
»Jesusworte zu komponieren«. Sie komponieren sich selbst. Und ein Meister wird dieser Töne in
der Tiefe Herr und offenbart sie uns in einer Tonschöpfung, wie es bei Meister Schütz zu sehen
ist.

Die Form der Worte Jesu in der Predigt ist nicht der »Weisheitsspruch« des Lehrers, sie ist
vielmehr die Form des unverbrüchlichen ewigen Gesetzes, das abschließend durch alle Zeiten in
klarer Gestalt erklingen soll. Sie tragen das an sich, die Worte Jesu, das Unabänderliche, jedem
Verständliche und doch nie Flache, das Angreifende und Emporreißende, das Beseligende und
Frieden-Bringende. Man lese selber die Bergpredigt, man lese laut! Man lese Joh. 8 und 10 und
14-17! Man lese Matth. 10 und 24.

Immer oberstes Gesetz, als ob Gott selber spräche, und zugleich sanftes Joch, leichte Last und
Ruhe für die Seelen.

Im folgenden sollen drei Predigtarten verglichen werden:

1 . Die Predigt Jesu.

2. Worte aus der Zeit Jesu, gesprochen von Rabbinern.

3. Die Predigt von Benares (Buddhas klassische Predigt).

Sie sollen selber reden und selber den Vergleich erbringen.

Man wird es dann verstehen, daß das Neue Testament - so dünn geblieben ist. Zu den
Jesusworten ist nichts hinzuzuerfinden. Der Talmud mag in vielen Bänden, die aus vielen Federn
stammen, tausend und wieder tausend gute Lehren aneinanderhängen, auf ei nen einzelnen
Verfasser kommt es dabei wenig an. Das war nicht schwer, die Linie des Geistes innezuhalten,
der sich in diese Enge begab und sein Stübchen mit frommen Alltagssprüchen tapezierte.

Jesus stürzt eine Welt und baute eine ewige Welt auf. Gerade in seinen Worten und durch sie.
Einmal kann das nur geschehen und ist es geschehen. Darum tragen seine Worte diesen
atemberaubenden Charakter. Wäre es so einfach, Jesusworte zu erfinden, so wäre das Neue
Testament längst auf fünfundzwanzig Bände angewachsen. Aber das kann eben keiner und wird
nie jemand können. Erfindet doch! darf man getrost allen zurufen, die so gern von »Erfindung«
sprechen. Und wenn einmal Jung-Stilling das tröstliche Wort prägt: Selig sind, die da Heimweh
haben, denn sie sollen nach Hause kommen, - so empfindet man doch tief, wie weit er mit
diesem Wort hinter Jesus zurückgeblieben ist. Ebenso steht es mit dem größten Teil der Worte,
die als Herrenworte außerhalb des Neuen Testamentes überliefert sind. Ihre Zahl ist an sich ganz
gering. Die echten hat man bald herausgefunden.

Die in Schränken und Bibliotheken aufbewahrten Millionendichtungen und Prosawerke der


Klassiker und Nichtklassiker der Menschheit reden eine beredte Sprache von der Leichtigkeit, mit
der Bücher geschrieben werden können, auch wenn es Bruchstücke einer großen Konfession
sind. Aber daß auch nicht ein einziges Blatt Jesusworte hat zu Jesu Worten hinzuerfunden
werden können, was sagt das der Menschheit? Was soll es sagen?

I. Aus der Bergpredigt und aus Joh. 8 und Matth. 5

»Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen,
denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich
besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt
werden. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die
reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen, denn sie
werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das
Himmelreich ist ihr. Ihr habt gehört, daß (zu den Alten) gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten
lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch
fluchen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im
Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgeben über die Bösen und über die Guten und läßt regnen
über Gerechte und Ungerechte. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn
haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euern Brüdern freundlich
tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein,
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!
Ihr seid, das Salz der Erde! Ihr seid das Licht der Welt! Trachtet am ersten nach dem Reiche
Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles zufallen. Gebet ein durch die enge
Pforte! Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und ihrer sind
viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist enge und der Weg ist schmal, der zum Leben führt,
und wenige sind ihrer, die ihn finden.
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.
So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger, und ihr werdet die
Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen. Wer Sünde tut, der ist der Sünde
Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht ewiglich im Hause, der Sohn aber bleibet ewiglich. So euch
nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So jemand mein
Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich. Himmel und Erde werden vergehen,
meine Worte aber werden nicht vergehen. Solches habe ich zu euch geredet, daß ihr in mir
Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.«

II. Aus den sogenannten Sprüchen der Väter.

(Spruchweisheit etwa aus der Zeit Jesu und aus späterer Zeit.) (Talmud)

Halte dich fern von einem bösen Nachbarn. Geselle dich nicht zu einem schlechten Menschen
und wähne nicht, daß die Strafe ausbleiben werde. -

Mein Leben lang habe ich unter Weisen verbracht und habe gefunden, daß für den Menschen
nichts heilsamer ist als Schweigen. Spare mit deinen Worten bei der Frau, sei es eine fremde
oder die eigene. Wer viel mit ihr schwatzt, zieht sich Böses zu, wird von der Thora (Gesetz
Moses) abgelenkt und gerät am Ende in die Hölle. -

Vergnügungssucht und leichter Sinn lenken von Zucht und Sitte ab. Die mündliche Überlieferung
ist ein Zaun für die geschriebene Gotteslehre. Die Zehntenabgaben bilden einen Damm gegen
übermäßigen Reichtum. Die Gelübde sind Gehege für die Mäßigkeit. - Schweigen ist der
Weisheit Zaun. - Der Schlaf in den Morgen hinein, das Weingelage am Mittag, das Schwatzen mit
Kindern, der Aufenthalt unter Ungebildeten führen zur Versumpfung. - Verachte niemand und
unterschätze nichts. Es gibt keinen Menschen, der nicht seine Stunde findet, und kein Ding, das
nicht irgendwie zur Geltung kommen könnte. - Ein Rabbi fragte einst seine Schüler: »Was ist's,
worauf der Mensch im Leben den größten Wert zulegen hat?« Der eine sagte: »Ein
wohlwollendes Auge!« Der andere: »Ein guter Freund!« Der dritte: »Ein guter Nachbar!« Der
vierte: »Das Schauen der kommenden Dinge!« Der fünfte: »Ein gutes Herz!« Der Rabbi schloß
sich der letzten Ansicht an, weil in ihr alles andere enthalten ist.

Vier Gemütsarten gibt es: schwer zu erzürnen und schwer zu besänftigen, leicht zu erzürnen und
leicht zu besänftigen; bei beiden wiegt der Nachteil den Vorteil auf. Schwer zu erzürnen und
leicht zu besänftigen, das ist die Gemütsart der Frommen; leicht zu erzürnen und schwer zu
besänftigen, das ist die Gemütsart der Frevler.

Im fünften Lebensjahr ist der Mensch reif für das Lesen der Thora, im zehnten für das Lesen der
Mischna, im dreizehnten für die Übung der göttlichen Gebote, im fünfzehnten für die Erklärung
der Mischna, im achtzehnten für die Ehe, im zwanzigsten für den Lebensberuf, im dreißigsten
gelangt er zu voller Kraft, im vierzigsten zu vollem Verstand, im fünfzigsten zu einsichtigem Rat,
im sechzigsten zum gesetzten Alter, mit siebzig zum Greisenalter, im achtzigsten zum hohen
Alter, im neunzigsten zum Verlöschen, im hundertsten ist er wie tot. -

Welch ein Abstand gegen den 90. Psalm, gegen Hiob, gegen die Propheten, vollends gegen
Jesus. Denn - er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten.

Buddha: Die Predigt von Benares.


»Zwei Extreme gibt es, ihr Mönche, denen nicht frönen darf, wer aus dem weltlichen Leben
getreten ist. Welche zwei? Das eine ist eine Hingabe an den Genuß der Lüste; die ist niedrig,
gewöhnlich, gemein, unedel, zwecklos. Das andere ist eine Hingabe an Selbstpeinigung; die ist
schmerzlich, unedel, zwecklos. Ohne in diese beiden Extreme zu verfallen, ihr Mönche, hat der
Vollendete einen Mittelweg gefunden, der die Augen öffnet, der den Verstand öffnet, der zur
Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirwana führt.

Und was, ihr Mönche, ist dieser Mittelweg, den der Vollendete gefunden hat, der die Augen
öffnet, der den Verstand öffnet, der zur Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirwana
führt? Es ist dieser edle, achtgliedrige Weg, nämlich rechter Glaube, rechtes Sich-Entschließen,
rechte Worte, rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken, rechtes Sich-
Versenken. Das, ihr Mönche, ist der Mittelweg, der die Augen öffnet, der den Verstand öffnet, der
zur Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirwana führt.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit
ist Leiden, Tod ist Leiden, Vereinigung mit Unlieben ist Leiden, Trennung von Lieben ist Leiden,
Gewünschtes nicht erlangen, ist Leiden, kurz die fünf Elemente, die das Haften am Dasein
bewirken, sind Leiden.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: Es ist der Durst nach
(ewigem) Leben, der Durst nach (ewigem) Tode.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist das völlige
Freisein von diesem Durst, sein Aufgeben, Fahrenlassen, Ablegen, Verbannen.

Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von dem Wege, der zur Aufhebung des Leidens führt: Es
ist dieser edle, achtgliedrige Weg, nämlich rechter Glaube, rechtes Sich-Entschließen, usw. wie
vorher.«

Der Schluß aller Gleichnisse und Predigten Jesu:

»Wer diese meine Worte hört und tut sie, den vergleiche ich mit einem klugen Mann, der sein
Haus auf den Felsen baute. Da nun ein Sturzregen fiel und ein Gewässer kam und weheten die
Winde und stießen an sein Haus, fiel es doch nicht; denn es war auf einen Felsen gegründet!
Und wer diese meine Worte hört und tut sie nicht, der ist einem törichten Manne gleich, der sein
Haus auf den Sand baute. Da nun ein Sturzregen fiel und ein Gewässer kam und weheten die
Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall.«

--

Ein anderer Christus?

Im Moment geschehen in der Welt sehr merkwürdige Dinge. Plötzlich ist Jesus wieder „in“. Was
vor einigen Jahren noch peinlichst vermieden wurde - jedes Gespräch über Jesus - ist nicht nur
seit dem Mel Gibson-Film „Die Passion Christi" wieder salonfähig geworden. Sogar in manchen
islamischen Ländern, wo Muslime, die zum Christentum übertreten, mit der Todesstrafe rechnen
müssen, starren viele auf die Leinwand, um Jesus zu sehen. Und nicht irgendeinen Jesus. Jesus,
den Gekreuzigten.

Sympathie ist noch keine Bekehrung

Jesus im Kino. Jesus im TV. Jesus in Zeitschriften. Jesus auf der Bühne der Welt. Was kann es
für Christen und noch mehr für ein Missionswerk eigentlich Schöneres geben? Auf dieser Jesus-
Welle schwimmt es sich leicht. Das Ärgernis des Kreuzes scheint verschwunden zu sein. Jesus
für die ganze Welt. Aber Sympathie ist noch keine Bekehrung. Betroffenheit ersetzt keine Buße.
Und der Glaube kommt immer aus dem Wort Gottes.

Zeitgleich geschehen in der christlichen Welt Dinge, die vor wenigen Jahren für Nachfolger Jesu
undenkbar erschienen. Das evangelikale Nachrichtenmagazin idea berichtet über eine
Veranstaltung am 8. Mai 2004 in Stuttgart, bei der sich 175 Kirchenvertreter aus der Katholischen
Kirche, der Pfingstbewegung und dem evangelikalen Lager trafen. Ihre gemeinsame
Überzeugung: Unter Christen erwächst eine konfessionsübergreifende Einheitsbewegung:
Plötzlich ist Jesus der große Harmoniebringer. Dogmen, die Jahrhunderte lang in der Christenheit
zu Trennungen führten, werden auf Einheits-Kongressen beiseite gelegt. Es heißt: Jesus will
keine Trennung. Jesus will Einheit. Jesus will Liebe. Also machen wir Liebe. Der kleinste
gemeinsame Nenner für alle gemeinsamen Veranstaltungen ist: Jesus. Jesus ist das Thema auf
der Bühne der Christen und Gemeinden. Endlich macht Christsein wieder Spaß. Endlich keine
konfessionellen Streitigkeiten mehr. Jesus als Katholik. Jesus als Protestant. Jesus als Baptist.
Die gemeinsame Mitte ist Jesus.- Aber welcher Jesus?

Jesus soll für Europa die Erweckung bringen. Die Logik ist einfach: Wenn wir eins sind, dann
bricht die Erweckung aus. Gebetsmühlenartig wird das Gebet Jesu aus Johannes 17 rauf- und
runtergesprochen, wie jetzt in Stuttgart. Es macht mich allerdings stutzig, wenn der Präsident des
Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Walter Kasper, diese
Bewegung als "Geschenk des Heiligen Geistes" und diesen Europatag als "Sternstunde der
Ökumene" bezeichnet.

Die Charismatische Bewegung ist stolz darauf. Sie hat es geschafft. Millionen Anhänger der
Charismatischen Bewegung weltweit, zum größten Teil innerhalb der Katholischen Kirche,
können sich nicht irren!? Mitmachen. Mitvernetzen. Mit begeistert sein. - Welcher Geist?

Wer kritische Fragen stellt, bekommt ein Etikett

Harmlos ist mittlerweile die Bezeichnung "theologisch konservativ": Schmerzhaft sind die Worte
eines bekannten Evangelisten, der bekannt ist für seine glasklaren Predigten und sich in Stuttgart
bewusst oder unbewusst in diesen ökumenischen Prozess einspannen ließ.
Er ordnet die Kritik an seiner Teilnahme als "psychologisch verständlichen Reflex" auf
Ungewöhnliches ein. Der schärfste Vorwurf kommt von dem Leiter der evangelischen
Charismatischen Bewegung in Deutschland. "Wer sich abgrenzt verliert den Heiligen Geist"; so
Friedrich Aschoff in einem offenen Aufsatz, der die Erklärung dazu liefert, was der Hintergrund für
die nun plötzlich auftretende Einheit zwischen den Konfessionen ist.
Er schreibt:
"Es geschah zeichenhaft am ersten Tag des 20. Jahrhunderts, am 1. Januar 1901. An diesem
Tag betete Papst Leo XIII. in Rom im Namen der ganzen Kirche den Hymnus zum Heiligen Geist
'Komm, Heiliger Geist': Am gleichen Tag erlebte eine evangelische Bibelschülerin in Topeka
(Kansas/USA) die Erfüllung mit dem Heiligen Geist; ein Geschehen, das neben den Ereignissen
in der Azusa Street in Los Angeles/USA (ab 1906) zur Geburtsstunde der Pfingstbewegung
gezählt wird. Was sich in diesen beiden Ereignissen zeichenhaft ankündigte, ereignete sich im
weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts in allen christlichen Kirchen. Aufgrund der politischen
Umwälzungen begannen die starren Fronten der Konfessionen aufzuweichen. Daran kann man
erkennen, wie der Heilige Geist angefangen hat die ... Grenzen zu überschreiten, die die Christen
lange Zeit voneinander trennten: Die Grenzen der Konfessionen. Wir erwarten in Stuttgart
Zehntausend Teilnehmer aus über 160 Bewegungen, die im letzten Jahrhundert durch das
Wirken des Heiligen Geistes entstanden sind. Sie kommen aus dem katholischen, evangelischen,
freikirchlichen und orthodoxen Raum und tragen dieses Treffen mit."

Dammbrüche

Zugegeben: Ich werde ab und zu verunsichert. Wer bin ich, dass ich kritische Fragen stelle? Aber
wir sind ein Missionswerk. Wir sind über 100 Jahre alt. Von den Fragen der Ökumene und der
Pfingstbewegung waren wir immer unmittelbar betroffen. Wer 100 Jahre auch in klassisch
katholischen Ländern missioniert, weiß, was Katholizismus ist und wie wertvoll die Allianz der
wahren Gläubigen ist. Die MSOE war und ist eine mehr als 100-jährige Allianzbewegung. Nein,
wir betreiben keinen Konfessionalismus und binden uns an keine religiöse Bewegung unserer
Tage. Aber die Dammbrüche gegenüber dem Katholizismus - und der Charismatischen
Bewegung als Bindeglied - zeigen es deutlich, dass das nicht mehr die Allianz unserer geistlichen
Väter und Mütter ist. Haben diese sich geistlich so geirrt? Haben sich die Christen, die außerhalb
der verfassten Kirchen standen und für ihren Glauben Leid und Verfolgung erlebten, alle nur
getäuscht? Waren das alles Missverständnisse, wie heute gesagt wird, wenn man betont, dass
uns mehr mit der Katholischen Kirche verbindet als uns trennt?

Irrlehren hassen - Seelen lieben

Der englische Prediger Spurgeon schrieb über den obengenannten Papst Leo XIII, den Initiator
der weltweiten Pfingstbewegung (wie er in Veröffentlichungen der Charismatischen Bewegung
eindeutig genannt wird), und über das Papsttum, das er repräsentierte, folgende Worte: "Das
antichristliche Papsttum verletzt Christus, weil es ihn seiner Herrlichkeit beraubt, weil es die
Wirkungskraft der Sakramente an die Stelle seines Sündopfers setzt und ein Stück Brot an die
Stelle des Erlösers erhebt. Wenn wir das Papsttum im Gebet bekämpfen, dann sollten wir die
Personen lieben, auch wenn wir ihre Irrlehren hassen, wir lieben ihre Seelen, auch wenn wir ihre
Dogmen verabscheuen." Bis heute hat sich die Katholische Kirche in diesen genannten Dingen
nicht geändert.
Jesus Christus hat es scheinbar in unseren Tagen nicht leicht, noch als der Christus der Bibel
erkannt zu werden. So viele schreiben seinen Namen auf ihre Fahnen. Jesus wird von vielen
propagiert. Jesus wird besungen. Von Jesus wird geredet.
Kann es sein, dass Nachfolger Jesu eines übersehen: Jesus Christus selbst hat vor
Doppelgängern gewarnt. "Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und
werden große Zeichen und Wunder tun, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten zu
verführen." (Mt 24,24). Während wir noch gebannt auf die Welt schauen, auf den Islam, auf
politische Machthaber, treten Verführer mitten aus der Gemeinde auf.
Die schleichenden Veränderungen in der westlichen Christenheit der letzten Jahre in Form des
Pragmatismus, der Ökumene, des Mystizismus und der Psychologie, die sich in die Programme
und Predigten eingemischt haben, schaffen eine großartige Bühne für das Auftreten von
Verführern. - Was fehlt, ist die biblische Lehre, die Autorität der Bibel in allen Aussagen.

Identität

Warum schreibe ich das alles? "Gehört ihr jetzt auch zu den Nörglern, die an allem
rummeckern?'; denken die einen. „Es ist gut, wenn so was mal klar gesagt wird!", meinen die
anderen. "Das ist doch kein Thema für eine Mission", sagen die Dritten. Ich schreibe das so
offen, weil wir in den Entwicklungen unserer Tage auf unsere Identität angesprochen werden.
Was war und was ist uns wichtig?

Unser Auftrag ist und bleibt Mission. Vorrangig unter denen, die noch nie das Evangelium von
Jesus Christus gehört haben. Diese Arbeit geschieht durch das Wort Gottes und die Kraft des
Heiligen Geistes. Es ist der Heilige Geist, der immer Jesus Christus groß und jeden Menschen
klein macht. Unsere Arbeit geschah und geschieht in der Abgrenzung gegenüber der Ökumene
und der so genannten Charismatischen Bewegung.

Wir sind und bleiben dabei eine Allianzbewegung. Vielleicht müssen sich heute Christen
zusammenfinden, die Einheit nicht von der Wahrheit trennen. Christen, die sich nicht naiv oder
unwissend von der Kirche Roms vereinnahmen lassen und die den Mut haben, wie die Väter vor
uns, so genannte Sonderlehren als Irrlehren zu bezeichnen. Der Weg in der Nachfolge Jesu hat
uns in den vergangenen 100 Jahren immer wieder auch den Hass der Welt und zu manchen
Zeiten - wie im Dritten Reich - auch den Widerstand aus einer verführten Christenheit gebracht.
Aber auch der ist Nachfolgern Jesu verheißen: "Und ihr werdet von allen Nationen gehasst
werden um meines Namens willen." (Mt 24,9)
Warum werden bei diesen westlichen Einheitskongressen keine Christen aus der Verfolgung
eingeladen? Nachfolger Jesu, die das Kreuz Jesu tragen und ihn treu bekennen. Menschen, die
mit ihrem Leben mein eigenes Leben in der Nachfolge Jesu immer wieder in Frage stellen.

Friedemann Wunderlich, Siegen (Missionsleiter der Süd-Ost-Europa Mission)

--

Richard Wurmbrand

WER IST JESUS CHRISTUS ?

Die Geburt Jesu Christi

Die Menschheit berechnet die Zeit nach der Geburt Christi. Wenn Sie von einer Begebenheit
lesen, die sich 1812 oder 1971 ereignet hat, bedeu tet das immer, daß es soundso viele Jahre
nach der Geburt Jesu Christi geschah. Nun kennt man in der Geschichte aber Ereignisse, die viel
älter als die Geburt Christi sind. Warum wurde Seinem Kom men soviel Bedeutung zugemessen,
daß eine neue Zeitrechnung begann? Wer ist Jesus Christus?

Er ist eine Persönlichkeit, die unter ungewöhn lichen Umständen in einem Land geboren wurde,
das man heute Israel nennt. Gottesfürchtige und weise Männer, Propheten genannt, hatten acht
Jahrhunderte vor Seiner Geburt geweissagt, daß Seine Mutter eine Jungfrau sein werde. Sie
hatten auch Seinen Geburtsort (ein Städtchen mit Na men Bethlehem) sowie alle anderen
wichtigeren Umstände Seines Lebens prophezeit, einschließ lich der Art und Weise, wie man Ihn
töten und was nach Seinem Tode geschehen werde. Die gewöhnlichen Naturgesetze gelten für
gewöhnliche Um stände. Jesus war kein gewöhnliches Geschöpf. Er kam auf ungewöhnliche Art
und Weise auf die Welt.
Seine Mutter namens Maria war schwanger, ohne von einem Mann berührt worden zu sein. Ihr
Bräutigam, Joseph, bezweifelte das und wollte sie verlassen.

Aber da geschah erneut etwas Außergewöhnli ches.

Es gibt Wesen, die für das menschliche Auge gewöhnlich unsichtbar sind. Die Menschheit lebt
seit Jahrtausenden auf der Erde, wobei ihr Leben durch unsichtbare Wesen, Mikroben und Viren,
entscheidend beeinflußt wurde. Diese können nur diejenigen sehen, die das dafür notwendige
Instru ment, Mikroskop genannt, besitzen. Es gibt ent fernte Sterne, die der gewöhnliche Mensch
nie zu sehen bekommt. Sie werden nur von Menschen gesichtet, die Zugang zu riesigen
Teleskopen ha ben. Es existieren auch noch andere Wesen, die gewöhnlich unsichtbar sind. Man
nennt sie Engel. Sie sind lebendige Wesen einer höheren Ordnung als die des Menschen.
Gewisse Menschen haben das Vorrecht gehabt, sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen.

Joseph, Marias Bräutigam, sah einen derartigen Engel, der zu ihm sagte, er solle glauben, daß
Maria schuldlos sei, daß ihre Schwangerschaft von Gott gegeben sei und daß sie einen Sohn
gebären werde, in dessen Person Gott selbst mit den Men schen sein werde.

Das Universum, in dem wir leben, ist von je mandem erschaffen worden. Wir können uns ein
Haus ohne Baumeister nicht vorstellen. Die Welt ist aber ein großes Haus. Wer hat es gebaut?
Wir können uns ein Mittagessen ohne Koch nicht vor stellen. Die Natur ist aber ein Mittagessen,
das uns serviert wird. Es enthält Weizen, Reis, Kartoffeln, Fleisch, Milch und Obst. Wer hat alle
diese guten Dinge für uns zubereitet? Nichts bewegt sich ohne Ursache. Auf der Welt ist alles in
ständiger Bewe gung, angefangen vom Atom bis zu den Sternen. Unser Seelenzustand ändert
sich ebenfalls ständig. Wer bewegt alles? Der Schöpfer der Welt und des Menschen heißt GOTT.

Gott ist ein geheimnisvolles Wesen. Unser be schränkter Verstand kann Ihn nicht fassen. Wir
kennen nicht einmal die Geheimnisse menschli chen Lebens, wie sollten wir da seinen Schöpfer
begreifen?

In vielen alten Religionen glaubte man, daß Gott eine Einheit in drei Personen ist. Ein Vater, der
uns liebt, ein Sohn Gottes, der auf die Erde kommt, um uns zu unterweisen und uns von unse ren
Sünden zu erretten, sowie ein Heiliger Geist, der in unseren Verstand dringt und uns gottgefäl lig
denken und handeln läßt.

In Jesus Christus kam der Sohn Gottes, um mit uns Menschen eine Zeitlang zu leben.

Das Jesuskind wird angebetet, aber auch mit dem Tode bedroht

Das Kommen des Gottessohnes auf die Erde war zweifellos ein einzigartiges Ereignis. Einzigar
tige Dinge ereigneten sich daher zu jener Zeit.

Einige weise Männer aus einem fernen Land sahen einen Stern, der ihnen völlig unbekannt war,
und kamen zu dem Schluß, daß er die Geburt eines Erlösers signalisieren müsse. Die Geburt
eines Er lösers wurde damals in vielen Teilen der Welt allgemein erwartet.

Sie zogen aus, um Ihn zu suchen. Da sie wußten, daß die Juden Propheten, wie kein anderes
Volk, und ein Wissen von Gott hatten, das dem anderer Kulturen überlegen war, kamen sie auf
ihrer Suche nach Jerusalem, der Hauptstadt des jüdischen Staates. Sie waren sich überaus
sicher, daß dieses Volk dem neugeborenen Kind, das Gottmensch war, den höchsten Rang in
seinem öffentlichen Leben eingeräumt haben müßte und daß es Ihn zum König gemacht hätte.

Doch mit Ausnahme einiger Hirten und etli cher anderer armen und einfachen Leute hatte
niemand Seine Geburt bemerkt.

Damals wie heute lebte bzw. lebt die große Mehrheit der Menschen ihr Leben auf einer niedri gen
Stufe. Leben bedeutet für sie, zu essen und zu trinken und ein paar fleischliche Vergnügen zu
genießen. Wenige nur kümmern sich um höhere Weisheit oder um höhere Wissenschaft. Noch
we niger Menschen kümmern sich um vollkommene Tugend, Liebe, Aufrichtigkeit, Sanftmut und
Vervollkommnung. Und nur Auserwählte interessieren sich für die letzte Wirklichkeit - Gott.

Die Weisen aus dem Morgenland konnten nur erfahren, daß ein Prophet Bethlehem als Seinen
Geburtsort geweissagt hatte.

Doch der Herrscher dieser Provinz, Herodes, wurde von der Nachricht über ihre Suche aufge
schreckt. Er war König und wollte es auch bleiben. Er wollte, daß alle Ehren ausschließlich ihm
erwie sen werden sollten. Keinerlei Ehre sollte einem neugeborenen Kind zuteil werden, selbst
wenn es der Mensch gewordene Gott wäre.

Deshalb befahl er die Ermordung aller kleinen Kinder in Bethlehem. Nur Jesus entkam auf wun
derbare Weise. Sein Pflegevater, Joseph, war von einem Engel vor dem kommenden Morden ge
warnt worden und war mit Ihm und Seiner Mutter nach Ägypten geflohen, von wo aus sie erst
nach dem Tode des König Herodes nach Israel zurück kehren konnten.

Das Jesuskind wuchs bis zu seinem 30. Lebens jahr ohne bemerkenswerte Vorkommnisse
heran. Es lernte wie jedes andere Kind. Dann arbeitete Jesus als Zimmermann. Er war ein
Proletarier.
Die Taufe Jesu

Jesus wurde im Alter von 30 Jahren getauft. In unserem ganzen Leben benutzen wir Symbole als
Ausdruck innerer Gefühle oder Überzeugungen. Wir geben uns die rechte Hand zum Zeichen der
Freundschaft, wir küssen uns zum Zeichen der Liebe und wir salutieren vor der Flagge, die Sym
bol unseres Vaterlandes ist. Ebenso benutzen Menschen, die an Gott glauben, äußere Zeichen
ihrer Religion.

Taufe nennt man das Untertauchen eines Men schen in Wasser durch einen anderen zum
Zeichen, daß ebenso, wie das Wasser den Körper von Schmutz befreit, die Liebe Gottes die
Menschen von den Sünden reinigt, mit denen sie ihre Seelen beschmutzt haben. Wenn Sie das
Gefühl haben, daß Sie ein Sünder sind, daß Sie sich gegen Gott und die Menschen vergangen
und nie die Taufe empfangen haben, können Sie jeden beliebigen Gläubigen bitten, Sie zu
taufen. Lassen Sie sich taufen, wenn Sie an Gott und Seine großmütige Liebe glauben.

Jesus war Gott selbst. Er hat nie eine Sünde begangen. Für sich selbst hätte er die Taufe nicht
benötigt. Aber er wollte Sein Mitgefühl für die Sünder bezeugen. Er wollte zeigen, daß Er gekom
men sei, sie von ihren Sünden zu erretten, und daß Er die Erfüllung dessen sei, was durch die
Taufe symbolisiert wird. Er war demütig. Er fühlte mit denen, die schreckliche Taten begangen
hatten. Er liebte sie so sehr, daß Er ihre Sünden als die Seinen betrachtete. Aus diesem Grund
verlangte er nach der Taufe. Derjenige, der Ihn taufte, war ein ge wisser Johannes, genannt »der
Täufer«, weil er viele Menschen dazu veranlaßt hatte, ihre Sünd haftigkeit und die Notwendigkeit
der Taufe zu erkennen.

Johannes, der ein sehr einfaches Leben führte, ermahnte das Volk, seine Sünden zu bereuen,
Sünde zu unterlassen und wie ein Baum gute Früchte zu tragen, d. h. Sorge für die Armen,
Aufrichtigkeit, Zufriedenheit sowie Nichtanwen dung von Gewalt, Erpressung und falschen An
schuldigungen.

Er warnte die Menschen, daß der Tod wie eine Axt sei, die an der Wurzel eines Baumes angelegt
werde. Er wird einen jeden Menschen überwälti gen. Deshalb müssen wir uns beeilen, das
Rechte zu jeder Zeit in allen Lebenssituationen zu tun.

Er weissagte auch, daß ihm ein Mächtigerer als er nachfolgen werde. Damit meinte er Jesus. Jo
hannes sagte, ebenso wie er taufe, d. h. Menschen zum Zeichen ihrer Reue in Wasser tauche,
werde der Gottessohn die Menschen in den Heiligen Geist eintauchen.

Heilig zu sein, bedeutet, ein ganzer Mensch zu sein - ein Mensch, der nicht bloß die menschli
chen Funktionen ausübt, sondern auch dem höch sten Ziel zustrebt, welches Gott ist. Heilig zu
sein, bedeutet, Liebe zu empfinden, von der nie mand ausgeschlossen ist, ganz gleich welcher
Rasse, welchem Glauben oder Unglauben, wel cher Nation oder sozialen Schicht er auch
angehö ren möge. Diejenigen, die heilig sind, lieben alle Menschen, auch die schlechten
Menschen. Heilig zu sein, bedeutet, über den nebensächlichen Din gen der Welt zu stehen, die
uns vom höchsten Ziel ablenken. Ein solcher Geist, sagte Johannes, wird uns von Jesus
gegeben werden. Er wird in uns wie Feuer brennen.

Wenn Sie ein rotglühendes Stück Eisen anfas sen, spüren Sie das Feuer und nicht das Eisen.
Der Kontakt zu einem Menschen, der vom Geist Got tes erfüllt ist, läßt Sie Gott begegnen, nicht
bloß dem Menschen.

Jesus erfüllt die Menschen mit einem solchen heiligen Feuer. Die Gegner des Christentums sind
das Heu. Die Christen sind das Feuer. Sie haben nichts zu fürchten. Nur die Christen werden am
Ende siegreich sein.

Ehe Jesus jedoch andere taufte, wurde Er zuerst von Johannes getauft.
Als Er getauft wurde, öffnete sich der Himmel über Ihm und Er hatte eine Vision. Er sah den Geist
Gottes wie eine leuchtende Taube auf sich herabkommen. Und eine Stimme vom Himmel sprach:
»Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.«

Die Versuchung Jesu und Seine ersten Jünger

Nach Seiner Taufe begegnete Jesus in der Wü ste einem in der Regel unsichtbaren Wesen, wel
ches ein böser Engel ist, ein Engel, der vom Dien ste Gottes abgefallen ist. Man nennt ihn den
Teufel. (Es gibt gute und böse Engel.)

Jesus fastete in der Wüste vierzig Tage und Nächte. Er hatte eine außergewöhnliche Beru fung.
Seine Jünger sind ebenfalls zum Fasten auf gerufen, aber in vernünftigen Grenzen. Fasten ist ein
wirksames Mittel, den Geist über den Körper siegen zu lassen und schlechte Begierden zu bändi
gen.

Als Jesus nach dem langen Fasten hungrig war, erschien Ihm der Teufel und bat Ihn, er solle
zeigen, daß Er der Sohn Gottes sei, indem er Steine in Brot verwandle. Jesus gab zur Antwort:
»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund
Gottes geht.«

Es ist eine Tatsache, daß Menschen, die Brot und sogar Leckerbissen in Hülle und Fülle haben,
oftmals weder zufrieden noch glücklich sind. Der Mensch ißt, um zu leben; er lebt nicht, um gut
zu speisen.
Er braucht Licht für seinen Verstand, und dieses kann er nur vom Wort Gottes bekommen. Gott
hat durch Seine Prophe ten, durch Jesus und Seine Jünger gesprochen. Diese Worte sind in
einem Buch gesammelt, wel ches man die Bibel nennt.
Gott spricht auch durch die Schönheit und Ordnung der Natur, durch die Ereignisse der
Geschichte und durch unser Leben zu uns.
Gott spricht durch Menschen zu uns, die Ihn kennen.
Er spricht auch direkt zu uns, wenn wir den verwirrenden Lärm dieser Welt ausschal ten und
zuhören.
Nachdem der Teufel mit der ersten Versuchung keinen Erfolg gehabt hatte, die den Erlöser von
Sünden in einen Bäcker verwandelt hätte, führte er Jesus nach Jerusalem auf die Zinne des
großen Tempels, den die Juden dort hatten, und sagte zu Ihm:
»Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab und vertraue darauf, daß dich Engel auf Händen tragen
werden.«
Jesus antwor tete, es sei nicht recht, durch eine solche Verrückt heit Gott zu versuchen.
Die richtige Religion macht die Menschen überaus verständig. Sie lehrt sie, an Gott zu glauben
und Ihn zu lieben. Sie lehrt sie, für die Weisheit dankbar zu sein, die Er ihnen gegeben hat, um
an jedem Wendepunkt ihres Le bens zu überlegen, welches der richtige Weg ist. Sie ermutigt die
Menschen nicht, Dummheiten in der Hoffnung zu begehen, daß Gott sie gut enden lassen und
damit auch übersehen würde.

Sodann führte der Teufel Jesus auf einen hohen Berg und zeigte Ihm alle Länder und ihre Herr
lichkeit. Er versprach Jesus, er werde Ihm Macht über die ganze Welt geben, wenn Er ihn, den
Teufel, anbete. Jesus verjagte den Teufel und sagte:
»Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.«
Christen achten einen jeden Menschen. Sie gehorchen auch ihren Eltern, Herr schern und
anderen Vorgesetzten, sofern diese nicht Dinge verlangen, die im Widerspruch zu den Geboten
Gottes stehen. Ihr ganzes Leben ist je doch ein Dienst an Gott, dem Allerhöchsten, und nur Ihn
verehren sie.

Der Teufel verließ Jesus, und es kamen gute Engel zu Ihm und dienten Ihm.
Das Schicksal Johannes' des Täufers

Kurz nachdem Johannes Jesus getauft hatte, wurde er auf Befehl des Königs Herodes Antipa,
Sohn des Königs Herodes des Großen, verhaftet, der an dem Kindermord in Bethlehem schuld
war.

Johannes der Täufer wurde verhaftet, weil er seiner Pflicht nachgekommen war und seinem
Herrscher gesagt hatte, er handle falsch. Gläubige sind niemals Speichellecker von Tyrannen,
son dern sie sagen ihnen ihre Sünden ins Gesicht.

Herodes hatte seinem Bruder Frau und Tochter genommen. Johannes erklärte ihm: »Es ist nicht
rechtschaffen für dich, sie zu haben.«

Eine Zeitlang wußte Herodes nicht, was er mit ihm machen sollte. Er wagte es nicht, ihn sogleich
töten zu lassen, weil Johannes sehr beliebt war. Als Herodes jedoch Geburtstag hatte, tanzte die
Tochter seiner unrechtmäßigen Gattin vor ihm und seinen Gästen, worauf er ihr auf Eid ver
sprach, ihr zu geben, was immer sie erbitten möge. Auf Anweisung ihrer Mutter bat sie um den
Kopf Johannes' des Täufers, welcher ihr auch gebracht wurde. Johannes verlor sein Leben, weil
er eine richtige moralische Auffassung vertrat und die Gebote Gottes verteidigte, die von uns
verlangen, nicht die Frau eines anderen zu begehren.

Sobald Jesus vom Tode Johannes' des Täufers gehört hatte, ging Er an dieselben Orte, an
denen letzterer zuvor gewirkt hatte, und begann Seine Predigt mit den Worten: »Tut Buße, denn
das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«

Eine Sünde zu bereuen, bedeutet, daß es Ihnen leid tut, etwas Schlechtes in Ihrem Charakter zu
haben; zu bereuen, bedeutet, daß es Ihnen so leid tut, daß Sie das, was sündig ist, aufgeben.
Diese Reue ist möglich; alte Gewohnheiten können ge brochen werden, weil Gott, die guten
Engel und die Heiligen aus alter Zeit, die uns ein wunderba res Beispiel gegeben haben,
Wirklichkeit sind. Sie stellen ein mächtiges, wenn auch unsichtbares, geistliches Königreich dar,
das man das »Reich Gottes« nennt. Ihre Macht erreicht man leicht. Sie erbitten Gottes Hilfe für
ein neues Leben - und Sie bekommen sie.

Jesus berief zu jener Zeit auch einige Leute, Seine ersten Jünger zu werden. Es waren Fischer.
Jesus sah, wie einige von ihnen ihre Netze ins Meer warfen und wie andere ihre Netze
ausbesserten. Er sagte zu ihnen:
»Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen.«
Er meinte damit, daß, wenn sie bisher lediglich Fische zur Speisung Hungriger gefangen hatten,
sie nunmehr die Auf gabe hätten, Menschen zu gewinnen, damit diese erführen, was die Liebe
Gottes und das Leben bedeuten.

Seine ersten Jünger hießen Petrus, Andreas, Ja kobus und Johannes.

Von da an ging er mit Seinen Jüngern an ver schiedene Orte, lehrte, heilte Kranke und trieb
Teufel aus. Sein Ruhm wurde größer und Men schenmengen scharten sich um Ihn.

Die Bergpredigt

Als Jesus einmal eine große Menschenmenge um sich herum sah, begab Er sich auf die Spitze
eines Berges und hielt eine Predigt, die unter der Bezeichnung »Bergpredigt« bekannt wurde.
Predi gen bedeutet, das Wort Gottes als ein von Ihm gesandter Lehrer zu verkündigen; eine
solche An sprache nennt man Predigt.

Zu Beginn der Bergpredigt wird uns gesagt, daß selig sind, die da geistlich arm sind; die da Leid
tragen; die Sanftmütigen; die da hungert und dür stet nach der Gerechtigkeit; die Barmherzigen;
die reinen Herzens sind; die Friedfertigen; die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, weil sie Je
sus lieben. Sie sind selig, weil das ganze Reich Gottes sowie Seine ganze Schar von Engeln und
Heiligen ihnen zu Hilfe kommen werden. In der immerwährenden Gemeinschaft mit Gott und
Seinem Volk werden sie innere Ruhe finden und Vollkommenheit erlangen. Gott wird sich ihrer
erbarmen, auch wenn sie immer wieder sündigen. Letztendlich wird die Erde ihnen gehören. Sie
wird nicht immer von Tyrannen regiert werden. Christus wird mit Seinen Jüngern auf ihr regieren.
Doch darüber hinaus werden diejenigen, die diese Gebote Christi befolgt haben, im Himmel be
lohnt werden, in den ihre Seelen eingehen werden und in welchem sie Gott selbst von Angesicht
zu Angesicht schauen werden.

In Seiner Predigt lehrt Jesus Seine Jünger, daß sie das Licht der Welt sind. Sie sollen niemals ihr
Licht verbergen, sondern den Menschen die Wahrheit sagen, die sie gefunden haben; sie sollen
die Wahrheit durch gute Taten unter Beweis stel len, damit die Menschen, die diese sehen, Gott,
den Himmlischen Vater, preisen, von dem alles Gute kommt.

Eine wichtige Lehre

Lange vor Jesus wußten die Menschen, daß Tö ten eine Sünde ist. Jesus geht in diesem Punkt
weiter. Er warnt die Menschen, daß, wenn man grundlos zornig über jemand wird oder jemand
beschimpft, dies bereits ihre Seele gefährden kann. Es gibt eine Hölle, ein Ort ewiger Pein für alle
Sünder, die nicht bereut haben. Dies kann das Los eines Menschen werden, der sich gegenüber
seinen Mitmenschen unfreundlich verhält. Jesus rät uns: Einigen Sie sich zuerst mit dem
anderen, der etwas gegen Sie hat, ehe Sie eine Religion praktizieren. Die Ehe war eine
Institution, die es schon seit langem gab, und Ehebruch wurde als Sünde ange sehen. Auch hier
geht Jesus weiter. Die eigentliche Tat des Ehebruchs hängt von äußeren Umständen und vom
Einverständnis der anderen Seite ab, das sie ermöglicht. Aber Gott schaut auf das Herz und
betrachtet einen Blick als Sünde, den Sie je mandem anderen Geschlechts in schlechter Ab sicht
zugeworfen haben, auch wenn sie noch nicht Wirklichkeit wurde.

Jesus rät uns, in solchen Fällen sehr entschieden zu handeln und um jeden Preis mit sündhaften
Gewohnheiten Schluß zu machen - auch wenn es Leiden für uns bedeutet. Alles ist besser, als
die Ewigkeit in der Hölle verbringen zu müssen.

Jesus verbietet die Scheidung gänzlich, mit Ausnahme solcher Fälle, in denen einer der Part ner
ständig ein leichtfertiges Leben führt. Die ge schiedene Seite sollte nicht wieder heiraten, son
dern auf die Vergebung des Partners warten, der Unrecht tat.

Des weiteren verbietet Jesus jegliche Eideslei stung, die unnötig ist, wenn Aufrichtigkeit Ihr
Leitprinzip ist. Er sagt, daß unser »ja« auch »ja« sein soll, und unser »nein« gleich »nein«. Alles
was darüber hinausgeht, ist sündig.

Feindesliebe

Zur Zeit Jesu hatten die östlichen Länder ein strenges Gesetz der Vergeltung gegenüber Fein
den, die immer gehaßt wurden: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Jesus lehrt genau das
Gegenteil: »Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir
jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. Und wenn
jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich
jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht
von dem, der dir abborgen will.«

Er erteilt auch die große Lehre: »Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen,
die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures
Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und
läßt reg nen über Gerechte und Ungerechte.«
Selbst Menschen auf einer niedrigen geistlichen Stufe können diejenigen lieben, die sie auch
lieben. Sogar Gauner tun das manchmal. Diebe können ein gutes Verhältnis zueinander haben.
Doch von Seinen Jüngern erwartet Christus, daß sie vollkommen seien, wie ihr Vater im Himmel
vollkom men ist.

Wie man beten soll

In der Bergpredigt erteilt uns Jesus des weiteren das Gebot, unsere irdischen Güter mit denen zu
teilen, die ärmer sind als wir, sowie zu fasten und zu beten, das heißt mit dem unsichtbaren Gott
zu sprechen, so wie wir per Telefon und Rundfunk mit einer für uns unsichtbaren Person reden.
Jesus versichert uns, daß Gott sieht, was wir tun, und uns belohnen wird. All das oben
anempfohlene Gute soll ohne Zurschaustellung getan werden und ohne darauf bedacht zu sein,
von den Men schen dafür gepriesen zu werden.

Im Gebet brauchen wir nicht viele Worte zu sagen; der Vater weiß im voraus, was wir brau chen.

Jesus gab uns ein Beispiel, wie wir beten sollen. Wir empfehlen unseren Lesern, die Worte zu ler
nen, welche »das Vater unser« genannt werden und folgendermaßen lauten:

»Vater unser im Himmel! Geheiligt werde Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe
im Himmel als auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere
Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.«

Jedes christliche Gebet schließt mit dem Wort »Amen«, was bedeutet: Ich meine es wirklich, was
ich in meinem Gebet gesagt habe. Ich habe meine ganze Ernsthaftigkeit in meine Bitten gelegt.
»Amen« ist ein hebräisches Wort, dessen Wurzel »Glaube« bedeutet. Wenn Sie Ihr Gebet mit
»Amen« beenden, bekräftigen Sie damit, daß Sie wahrhaft an die Existenz des himmlischen
Vaters glauben, den Sie angerufen haben, sowie an die Tatsache, daß Ihre Bitten recht und billig
sind.

Achten Sie auch darauf, daß Sie, wenn Sie dieses Gebet sprechen, Gott bitten, Ihnen zu
vergeben, so wie Sie denen vergeben, die sich an Ihnen ver sündigt haben.

Leben ohne Sorge

Jesus lehrt uns, nicht viel Geld für uns selbst anzuhäufen. Geldbesitz ist eine unsichere Sache.
Wir sollen vielmehr Reichtümer im Himmel sam meln - durch Demut, Reue, Sanftmut, Fasten,
gute Taten und Liebe, die sich auch auf unsere Feinde erstreckt.

Wir sollen nur eine Absicht verfolgen: Gott zu gefallen. Man kann nicht zwei Herren gleichzeitig
gleich gut dienen. Einer wird vernachlässigt wer den. Deshalb können wir nicht gleichzeitig unse
rer Geldgier und Gott dienen.

Jesus fährt fort: »Darum sage ich euch: Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken
werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anzie hen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die
Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen
nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie
doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?«... »Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet
die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht«, und doch,
sagt Jesus, seien selbst Millionäre und Könige nicht wie eine dieser Blumen gekleidet. Jesus
schließt mit folgenden Worten: »So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch
heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr
Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir
trinken? Womit werden wir uns kleiden? Denn nach solchem trachten die Heiden. Denn euer
himmlischer Vater weiß, daß ihr das alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes
und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den
andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein
jeglicher Tag seine eigene Plage habe.«

Jesus lehrte in dieser Bergpredigt:

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet wer det. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, wer det
ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was
siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem
Auge? Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge
ziehen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus
deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.«

Jesus ermutigt uns, zu beten, und versichert uns, daß jeder, der den Vater bittet, erhält, daß der,
der sucht, findet, und daß demjenigen, der anklopft, geöffnet wird. Leibliche Väter würden ihrem
Kind, das um einen Fisch bittet, nicht eine Schlange geben. »Wieviel mehr wird euer Vater im
Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten. Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun
sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.«

Suchet den schmalen Pfad

Jesus warnt uns, nicht den Massen zu folgen. Sie suchen, was für sie bequem ist. Aber dieser
Weg führt zum Untergang des Menschen. Wir sollen vielmehr den schmalen Weg der
Selbstaufopferung und der Güte wählen. Dieser führt zum ewi gen Leben an einen herrlichen Ort,
Paradies genannt, in Gemeinschaft mit Gott. Er warnt uns auch vor falschen Propheten, die
schöne Parolen benutzen, aber in ihrem Innern Wölfe sind. Man kann sie leicht erkennen. Sie
begehen Verbrechen. Die wahren Jünger Christi ertragen Leiden gedul dig und mit Liebe. An der
Frucht erkennt man die Qualität des Baumes. An den Taten erkennt man die Qualität derer, die
sich zu Lehrern der Menschheit erklären.

Indem Jesus über diese Dinge spricht, schlägt Er erneut Alarm: »Ein jeglicher Baum, der nicht
gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.«

Jesus verlangt von uns ein vollkommenes Le ben, in dem keine Tugend fehlen sollte. Ihn »Herr,
Herr« zu nennen, mit den Lippen zu bekennen, daß Sie Christ sind, genügt nicht, um ins Himmel
reich einzugehen. Dazu müssen Sie den Willen des Vaters tun, der im Himmel ist. Was immer
Sie daneben tun, ist nutzlos.

Die Bergpredigt schließt mit den Worten:

»Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus
auf den Felsen baute. Da nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und wehten die Winde
und stießen an das Haus, fiel es doch nicht; denn es war auf den Felsen gegründet. Und wer
diese meine Rede hört und tut sie nicht, der ist einem törich ten Manne gleich, der sein Haus auf
den Sand baute. Da nun ein Platzregen fiel und kamen die Wasser und wehten die Winde und
stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall.« Das Volk war erstaunt über die Lehre
Jesu, denn Er lehrte wie einer, der es wirklich wußte.
Nachdem Jesus diese Predigt gehalten hatte, fuhr Er fort, dem Volk Gutes zu tun.

Jesus heilt Aussätzige

Jesus heilte viele Kranke, manchmal auch aus der Entfernung. In Seiner Arbeit machte Er nicht
nur bei Menschen aus dem jüdischen Volk halt, dem Er angehörte. Er heilte auch Menschen
ande rer Nationen und sagte zu ihnen, daß das Himmel reich für Menschen aller Rassen und
Nationen offen ist. Er heilte nicht nur den Körper, sondern auch die Seele, und sagte zu denen,
die man zu Ihm brachte, daß ihre Sünden vergeben seien. Er ver gab Sünden, ohne in die Details
zu gehen und zu fragen, welche Sünden, wie viele Sünden und wie schwere Sünden die
Menschen begangen hätten. Er vergab allen, bei denen Er Glauben vorfand. In einigen Fällen
erweckte Jesus sogar einige Men schen von den Toten. Er ist der Sohn Gottes; daher konnte Er
Dinge tun, die gewöhnliche Men schen nicht tun können.

Als Er sich einmal mit Seinen Jüngern, deren Zahl inzwischen angewachsen war, auf einem
Schiff befand, erhob sich ein Sturm, so daß das Schiff von Wogen bedeckt wurde. Jesus schlief.
Seine Jünger weckten Ihn und sagten: »Herr, hilf uns, wir verderben.« Aber Er brauchte nur dem
Wind und der See zu befehlen, ruhig zu werden; und so geschah es auch. Selbst die
Naturgewalten gehorchten Ihm.

Doch die Haupttätigkeit Jesu bestand darin, daß Er in Städte und Dörfer ging, überall lehrte und
die Frohbotschaft vom Reiche Gottes pre digte, welches ein Leben voller Freude ist, wie das
eines Bräutigams und seiner Braut. Die Freude kommt aus der Erkenntnis heraus, daß die
Sünden vergeben sind und daß Gott als liebender Vater mit Ihnen ist. Wenn Sie sterben, werden
Sie nicht vergehen, sondern mit diesem Vater und allen Heiligen in der himmlischen Ewigkeit
sein.

Berufung der Apostel

Jesus berief auch Seine ersten Jünger, dieselbe Arbeit zu tun wie Er.

Auch sie heilten Kranke, erweckten Tote zum Leben, trieben Teufel aus und verbreiteten die
Lehre vom Reiche Gottes. Sie hatten den Befehl, alle diese Werke unentgeltlich zu tun, sich nicht
zu bereichern und zeitweise sogar den Lebensnot wendigkeiten zu entsagen. Ihr Leben mußte
selbstaufopfernd sein. Jesus versicherte Seinen Jüngern, von denen Er zwölf zu »Aposteln« be-
nannte (was »Boten« bedeutet), daß die Menschen vor Gottes Gericht für die Art und Weise
verant wortlich sind, wie sie diejenigen behandeln, die in Seinem Namen sprechen.

Die Jünger hatten nichts Gutes von einer schlechten Welt zu erwarten. Jesus sagte zu ihnen:
»Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.« Ihr Leben wird in Gefahr sein.
Deshalb müssen die Jünger klug und arglos sein. Sie werden sich vor Menschen in acht nehmen
müssen, die sie verfolgen werden. Sie werden sehr oft ihre näch sten Angehörigen gegen sich
haben, die sie sogar dem Tod ausliefern können. Die Jünger werden von allen Menschen wegen
ihrer Zugehörigkeit zu Jesus gehaßt werden. Doch ohne Furcht müssen die Jünger selbst vor
ihren Herrschern von Jesus sprechen, die sie ins Gefängnis werfen und peini gen. Die richtigen
Worte werden ihnen von Gott eingegeben werden; und sie sollen alles erdulden. Diejenigen, die
bis zum Ende durchhalten, werden gerettet werden. Sie werden mit Gott im Himmel sein.

Das bedeutet nicht, daß Christen Verfolgung einfach über sich ergehen lassen sollen. Sie sollten
möglichst aus den Orten fliehen, an denen die Verfolgung am schlimmsten ist.
Christliches Leben ist ein Kampf

Böse Menschen gerieten gegen Jesus in Wut. Sie wurden wegen der Tatsache eifersüchtig, daß
das Volk Ihn liebte. Sie hielten sich selbst für gut und waren empört, daß Jesus sie »Sünder«
nannte und von ihnen Reue verlangte. Jesus achtete auch nicht alle wertlosen Gesetze und
Traditionen, die von gottlosen Menschen geschaffen worden wa ren. Die bösen Menschen
verbreiteten über Jesus das Gerücht, daß Er ein Teufel sei.

Jesus wußte, daß sich der Haß gegen Ihn auch auf Seine Jünger erstrecken werde, und Er
warnte sie: »Der Jünger ist nicht über den Meister... Ha ben sie den Hausvater Beelzebub
geheißen, wieviel mehr werden sie seine Hausgenossen so heißen.« Immer wieder sagte er zu
Seinen Jüngern, daß sie um ihres Glaubens willen leiden und möglicher weise sogar ihr Leben
lassen müßten. Aber Er sagte ihnen auch: »Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und
die Seele nicht können töten.« Wir sollen vielmehr Gott fürchten, der uns in die Hölle schicken
kann.

Wenn wir in Gefahr sind, wird Gott sich um uns kümmern. Selbst ein Spatz fällt nicht zu Boden,
ohne daß es der himmlische Vater nicht weiß. Was die Jünger Jesu anbelangt, so sind sogar die
Haare auf ihrem Kopf gezählt. Wir brauchen niemand zu fürchten.

Wir müssen den Menschen von Jesus berichten. Dann wird sich Jesus auch zu uns als Sein
Eigen vor dem himmlischen Vater bekennen. Wenn wir Ihn aber vor den Menschen verleugnen,
dann wird Jesus auch uns vor dem Vater verleugnen. Das Leben eines Jüngers Jesu ist ein
ständiger Kampf. Er muß Jesus selbst gegenüber Vater, Mutter oder Kind den Vorzug geben. Er
soll bereit sein, sogar einen schmerzhaften Tod auf sich zu nehmen, weil er ein Gläubiger ist.
Das Leben, das er in dieser Welt verliert, wird er nach dem Tode in weit größerer Schönheit
wiederfinden.

Jesus lädt alle ein

Jesus gab Seinen Jüngern alle diese Weisungen. Einige nahmen ihre Botschaft an. Die überwie
gende Mehrheit der Menschen nahm sie nicht an. Jesus selbst gab die Erklärung für die
Ablehnung Seiner Lehre. Er sagte, die Menschen hätten einen kindlichen Verstand, selbst wenn
sie erwachsen seien. Anstatt die Belehrungen der Weisen anzu nehmen, möchten sie den
Weisen diktieren, wie sie sich verhalten sollen. Menschen, die die Wahr heit des Lebens nicht
kennen, finden bei allem, was ein Heiliger tut, Mängel. Wenn er maßvoll ißt und trinkt, werden sie
ihn als gefräßig, als Wein säufer und als Freund von Sündern anprangern. Wenn er sich enthält,
die Freuden des Lebens zu genießen, kritisieren sie ihn auch hierfür.

Unentwegt versuchte Jesus, die Menschen zur Buße aufzurufen. Er sagte: »Kommt alle zu mir,
die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben. Nehmt meine Gebote auf euch und
lernt von mir, denn ich bin sanftmütig von Her zen, und ihr werdet Ruhe für eure Seelen finden,
denn meine Lehre ist einfach und meine Gebote sind leicht. Es ist richtig, daß ihr möglicherweise
leiden müßt, weil ihr meine Jünger seid, aber die Leiden dieser Welt sind nichts, gemessen an
der großen Belohnung, die die Gläubigen nach ihrem Tod im Himmel erhalten werden.«

Jesus gab den Menschen ein Beispiel, wie man auf einer sehr hohen Stufe der Rechtschaffenheit
und Reinheit lebt, aber Er hatte auch Verständnis für die Schwachheit der Menschen. Er brachte
volles Mitgefühl für diejenigen zum Ausdruck, die, getrieben von Hunger oder dem Drang der
Geschlechtlichkeit, Dinge taten, die normaler weise nicht erlaubt gewesen wären. Selbst wenn
ein Mensch schwach wie ein geknicktes Riedgras wäre, würde Jesus dieses Riedgras nicht
brechen. Wenn jemand wie eine fast niedergebrannte Kerze wäre, könnte er sicher sein, daß
Jesus das Licht nicht auslöschen würde. Im Gegenteil, Jesus gab den Menschen neue Kraft, um
sie in ihrem Streben nach Rechtschaffenheit siegreich hervorgehen zu lassen. Seien Sie auf
Seiner Seite, auch wenn die Schwäche Ihres Charakters Ihnen nicht erlaubt, all die Dinge zu
erfüllen, die Er geboten hat. Seien Sie auf Seiner Seite, weil derjenige, der nicht mit Jesus ist,
gegen Ihn ist. Alle Arten von Sünde und bösen Worten, die selbst gegen Gott gesagt wur den,
werden den Menschen vergeben werden; Je sus aber abzulehnen, wenn man die Wahrheit über
Ihn weiß, wird den Menschen nicht vergeben wer den. Sie können nicht Vergebung erhalten,
wenn Sie sich gegen das versündigen, von dem Sie wis sen, daß es wahr ist.

Gute Menschen werden aus dem guten Schatz ihres Geistes gute Dinge hervorbringen. Böse
Menschen werden aus dem bösen Schatz Böses hervorbringen. Alle Menschen werden nach
dem Tod von Gott gerichtet werden. Bei diesem Ge richt werden sie selbst für nutzlose Worte,
die sie gesagt haben, Rechenschaft ablegen. Heuchelei wird dann entlarvt werden, weil die guten
Worte, die Sie gesagt haben, Sie verurteilen werden, so fern Ihren Worten nicht Taten
nachfolgten.

Obwohl Jesus ständig die Gebote der Recht schaffenheit und der Liebe lehrte, war Er sich doch
sehr wohl bewußt, daß der Mensch nicht in der Lage ist, sie zu erfüllen, oder zumindest perfekt
zu erfüllen. Der Sünden sind viele, und der Mensch allein kann sie nicht besiegen.

Jesus nimmt unsere Sünden auf sich

Daher begann Jesus Hinweise zu geben, die nach und nach klarer wurden, daß Er die Sünden
der Menschen auf sich nehmen werde. Wie ein Lehrer die Unwissenheit seiner Schüler nicht als
Vorwurf, sondern als Herausforderung betrach tet, und es sich zu seiner Lebensaufgabe machen
muß, ihre Unkenntnis auszuräumen, so betrach tete es Jesus als Seine Pflicht, die Sündhaftigkeit
und Verderbtheit der Menschen auf sich zu neh men und das Todesurteil zu erdulden, das wir
verdient haben, weil wir gegen Gott gesündigt haben, um uns zu befreien und uns von unseren
Sünden zu retten. Wenn Ihnen eine Geldstrafe auferlegt wurde, und ein anderer bezahlt die Geld
strafe für Sie, ist der Gerichtsbarkeit Genüge ge tan. Daher beschloß Jesus, die Strafe zu
bezahlen, die wir für unsere Sünden verdient haben - den Tod. Er starb um unserer Sünden
willen, und allen, die an Ihn glauben, werden ihre Vergehen verziehen werden. Sie werden
weißer sein als Schnee. Sie sind vor Gott so, als ob sie nie gesün digt hätten, wie zahlreich auch
ihre Übertretun gen in der Vergangenheit gewesen sein mögen.

Jesus erzählt Geschichten

Jesus lehrte das Volk oft in Form von Gleichnis sen, einfachen Geschichten, die Gegenstand der
Betrachtung waren. Ich werde unten einige Seiner Gleichnisse erzählen: In einem Gleichnis
verglich Er sich mit einem Sämann, der mit den primitiven Hilfsmitteln seiner Zeit säte, als es
noch keine Maschinen gab. Der Sämann ging aus, um zu säen; er säte jedoch kein Getreide,
sondern das Wort Gottes. Seine Arbeit gleicht nicht dem Säen ande rer Saat, bei der man darauf
achten kann, daß nicht viel vergeudet wird. Wenn man das Wort Gottes sät, hängt es vom Willen
der Menschen ab, ob sie es annehmen oder nicht. Als dieser Sämann daher säte, fiel etlicher
Same an den Weg, und die Vögel kamen und pickten ihn auf. So geschieht es auch, wenn
jemand das Wort Gottes nicht versteht: Der Teufel kommt und läßt den Menschen bald ver
gessen, was er gehört hat. Etlicher Same fiel auf felsigen Grund, wo er nicht viel Erdreich hatte
und rasch aufging, weil er nicht tief im Erdreich wurzelte. Als die Sonne hochstieg, verdorrte er,
weil er keine Wurzeln hatte, und verwelkte. So ist es mit denen, die das Wort Gottes mit Freuden
aufnehmen, es aber stehen- und liegen lassen, wenn Trübsal und Verfolgung wegen ihm
entstehen. Etlicher Same fiel unter Steine, und die Dornen wuchsen auf und erstickten ihn. Damit
sind solche Menschen gemeint, die das Wort hören; die Sorge um die Dinge dieser Welt und um
die Falschheit der Reichtümer erstickt jedoch das Wort, und die Menschen werden nutzlos für
das Reich Gottes. Anderer Same fiel jedoch auf guten Boden und trug Frucht, etlicher
hundertfach, etlicher sech zigfach, etlicher dreißigfach. Dies sind solche Menschen, die das Wort
hören, es verstehen und gemäß ihren Fähigkeiten mehr oder weniger der Sache des Reiches
Gottes dienen.

In einem anderen Gleichnis sagte Jesus, daß das Himmelreich einem Mann gleiche, der guten
Sa men auf seinem Feld säte. Auch in diesem Gleich nis ist der, der guten Samen sät, Jesus. Er
hat auf dem Feld, welches die Welt ist, guten Samen gesät, d. h. Menschen, die das Himmelreich
lieben. Doch während die Menschen schliefen, kam der Feind Jesu, der Teufel, und säte Unkraut
zwischen den Weizen; dieses Unkraut stellen die bösen Men schen dar. Als die Halme wuchsen
und Frucht brachten, erschien auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu ihm und sagten:
»Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät«, d. h. gute Menschen? Er sprach zu
ihnen: »Das hat der Teufel getan.« Da sprachen die Knechte zu ihm: »Willst du denn, daß wir
hingehen und die Bösen aufsammeln?« Aber er sagte: »Nein! Es ist nicht einfach, eine genaue
Entscheidung zwischen ei nem rechtschaffenen und einem bösen Menschen zu treffen. Es kann
vorkommen, daß ihr, während ihr das Unkraut aufsammelt, auch den Weizen mit der Wurzel
ausreißt. Laßt beides - gute und böse Menschen - miteinander wachsen bis zum Ende dieser
Welt. Dann werden die Bösen, verkör pert durch das Unkraut, in der Hölle verbrannt werden, und
diejenigen Menschen, die Gott ange hören, werden im Paradies gesammelt werden. Dann
werden die Gerechten wie die Sonne im Reich ihres Vaters leuchten. Wer Ohren hat, der höre.«

Jesus sagte wieder, daß das Reich Gottes wie ein Schatz oder eine Perle von großem Wert ist,
für die man alles verkauft, um sie zu kaufen.

Die Leute sind manchmal über Christen schockiert, die viele Sünden und sogar Verbrechen
begehen. Jesus sagte, daß das Himmelreich einem Netz gleiche, das ins Meer geworfen wurde
und alle Arten von Fischen fing. Als das Netz voll war, lasen die Fischer nur die guten Fische in
Gefäße, die unnützen aber warfen sie weg. Daher sind in den Kirchen gute und schlechte
Christen beisam men. Manchmal begehen die Leute den Fehler, das Christentum nach der
Vielzahl unwürdiger Chri sten zu beurteilen, anstatt auf die Heiligen zu blicken, die in der Kirche
waren und heute noch sind. Doch am Ende der Welt werden die Engel ausgehen und die Bösen
von den Gerechten schei den. Und die Bösen werden in den Feuerofen ge worfen werden. Dort
wird Heulen und Zähne knirschen sein.

Jesus nimmt sich der Hungernden an

Die Leute aus dem kleinen Städtchen Nazareth, in dem Jesus aufgewachsen war, waren erstaunt
über Seine Lehren und sagten: »Woher kommt diesem solche Weisheit und Taten, alle diese
wun derbaren Heilungen und Auferweckungen von den Toten? Er ist doch nur der Sohn eines
Zim mermanns.« Obwohl sie Seine guten Werke sahen, glaubten sie nicht an Ihn. Es ist
schwierig, gerade von denen geschätzt zu werden, die einen am be sten kennen. Jesus war sehr
feinfühlig gegenüber den Bedürfnissen der Menschen. Als Er einmal

von einer großen Menschenmenge umgeben war, sagten Seine Jünger zu Ihm: »Dies ist eine
öde Gegend. Laß das Volk in die Dörfer gehen und sich Speise kaufen. Es ist schon spät.« Aber
Jesus sagte zu den Jüngern: »Sie brauchen nicht wegzu gehen. Gebt ihr ihnen zu essen.« Sie
sagten zu Ihm: »Wir haben hier nichts als fünf Brote und zwei Fische.« Und Er sprach: »Bringet
mir sie her.« Und er hieß das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei
Fische, sah auf gen Himmel und dankte und brach's und gab die Brote den Jüngern, und die
Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und hoben auf, was übrig blieb
von Brocken, zwölf Körbe voll. Die aber gegessen hatten, waren bei fünftausend Mann, ohne die
Frauen und Kinder.
Zweifle nie

Als Jesus die Menge weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg abseits, um zu beten. Die
Jünger waren in ein Schiff gegangen und hatten Ihn ver lassen. Während Jesus betete, befand
sich das Schiff inmitten eines großen Sees, von Wogen umhergeworfen, denn der Wind war
stürmisch. Früh am Morgen ging Jesus zu den Jüngern und wandelte auf dem See. Als die
Jünger Ihn sahen, fürchteten sie sich und wußten nicht, was sie glau ben sollten. Aber alsbald
redete Jesus mit ihnen und sprach: »Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!« Petrus aber
antwortete ihm und sprach: »Herr, bist du es, so heiß mich zu dir kommen auf dem Wasser.«
Und Er sprach: »Komm her!« Und Petrus trat aus dem Schiff und ging auf dem Was ser und kam
auf Jesus zu. Als er aber den Wind sah, erschrak er und fing an zu sinken, schrie und sprach:
»Herr, hilf mir!« Jesus aber reckte alsbald die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: »O du
Kleingläubiger, warum zweifelst du?« Und sie traten in das Schiff und der Wind legte sich. Die
aber im Schiff waren, fielen vor Ihm nieder und sprachen: »Du bist wahrlich der Sohn Gottes!«

Jesus ist der Erlöser

Jesus sagte, daß die Menschen gewöhnlich den Wunsch hegen, daß ihnen die besten und
frische sten Sachen in den Mund gelegt werden, daß sie aber nicht darauf achten, was aus ihrem
Mund kommt. Letzteres befleckt einen Menschen. Wir sprechen böse Gedanken aus, wir sagen
Worte des Mordes und Worte, die zum Ehebruch aufhetzen, wir planen Diebstähle, wir verbreiten
falsches Zeugnis und wir reden respektlos von Gott. Wir sollten uns mehr darum kümmern, was
aus unse rem Mund kommt, als darum, was hineinkommt.

Jesu Jünger wurden immer mehr davon über zeugt, daß Er der Erlöser sei. Als Jesus sie einmal
fragte: »Was sagen die Leute, wer ich bin?«, ant wortete einer Seiner Jünger, Simon Petrus: »Du
bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.« Jesus versprach damals, daß Er die
weltweite Ge meinschaft der Gläubigen, genannt christliche Kirche, erbauen werde, und daß sie,
selbst wenn die erbittertsten Feinde gegen sie losgelassen würden, nicht untergehen werde. Die
Jünger Jesu haben dieses Versprechen. Aber sie tragen auch eine gro ße Verantwortung. Wenn
sie durch ihr schlechtes Verhalten oder Versäumnis Menschen auf Erden in Sünde belassen,
werden diese nicht in den Himmel kommen können. Im Gegenteil, wenn die Jünger sie von der
Sünde lossprechen, werden diese für alle Ewigkeit im Himmel rein sein.

Wie aber soll man Menschen von der Sünde befreien?

Unsere Bemühungen und unser Wille können uns nicht von der Sünde befreien. Ein Ertrinken der
kann sich nicht selbst aus dem Wasser retten. Ein anderer muß es tun. Deshalb erklärte Jesus
Seinen Jüngern immer eindringlicher, daß Er vie les erdulden müsse und um unserer Sünden
willen getötet werde. Er mußte sich für uns opfern. Er nahm alle unsere bösen Taten auf sich und
mußte ihre harte Bestrafung ertragen. Aber Er sagte auch zu Seinen Jüngern, daß Er am dritten
Tag von den Toten auferweckt werde. Jesus erlaubte nieman dem, Ihn von Seiner Absicht, für
unsere Übertre tungen zu leiden, abzubringen.

Er betrachtete Leiden nicht als etwas grund sätzlich Schlechtes. Leiden veredelt. Er lehrte da her:
Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sogar die Gefahr eines
überaus schmerzhaften Todes auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben um jeden Preis
erhalten will, beraubt sein Leben des Inhalts, eines würdigen Ideals. Wer aber sein Leben um
Christi

willen verliert, der wird es finden, weil er in Ewig keit mit Gott leben wird. Was hülfe es einem
Menschen, wenn er die ganz Welt gewönne und seine Seele verlöre, indem er sie mit immer
neuen Sünden befleckt? Was wird er Gott, dem Richter, antworten, wenn dieser ihn bitten wird,
darüber Rechenschaft abzulegen, warum seine Seele in ei nem solchen Zustand ist?

Jesus wird am Ende der Welt mit Seinen Engeln wiederkommen. Und dann wird Er einen jeden
Menschen nach seinen Werken entlohnen.

Jesus lehrte, daß wir zumindest ein Fünkchen Vertrauen haben sollen und wir in der Lage sein
werden, Berge von Schwierigkeiten zu versetzen. Nichts ist dem unmöglich, der Glauben hat.

Aber im Kampf gegen den Teufel müssen wir beten und fasten.

Sanftmut, Friede und Sorge um die Seele des Nächsten

Jesus war gegen jeglichen Hochmut. Seine Jün ger fragten Ihn einmal: »Wer ist der Größte im
Himmelreich?« Da rief Jesus ein kleines Kind zu sich und sagte: »Wahrlich, ich sage euch: Wenn
ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Und
wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf. Wer aber eines dieser
Kleinen, die an mich glauben, zur Sünde verleitet, für den wäre es besser, daß ihm ein Stein an
seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im tiefen Meer. Sünden kommen, doch weh dem
Menschen, durch welchen sie kommt.« Gemäß der Lehre Jesu müs sen die Menschen sich
gegenseitig achten. Er warnte uns: Sehet zu, daß ihr nicht eines dieser Kleinen verachtet, denn
ich sage euch, daß ihre Engel im Himmel allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel
sehen.« Wir dürfen einen Men schen nicht verachten, selbst wenn dieser viel ge sündigt hat;
denn Jesus ist gekommen, um die Menschen zu retten, die in Sünde verstrickt sind.

In sozialistischen Ländern besitzen die Men schen keinen eigenen Acker oder eigenes Vieh,
außer bestenfalls sehr wenig. Jesus aber, der zu einer anderen Zeit lebte, als es Privateigentum
gab, fragte: »Was meint ihr? Wenn irgendein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen
sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte?
Und wenn sich's begibt, daß er's findet, wahrlich, ich sage euch, er freut sich darüber mehr als
über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Also ist's auch bei eurem Vater im Himmel nicht
der Wille, daß eins von diesen Kleinen verloren werde.«

Die Jünger Christi müssen Männer des Friedens sein. Wenn jemand etwas gegen einen Jünger
verbrochen hat, muß er hingehen und ihm sein Fehl verhalten unter vier Augen bekennen. Wenn
die ser Sie hört, haben Sie die Liebe Ihres Bruders gewonnen. Wenn er Sie nicht hören will,
wieder holen Sie dasselbe in Gegenwart zweier Zeugen. Wenn er auch dann nicht hört, bringen
Sie den Fall vor die Versammlung von Gläubigen. Wer nicht auf das hört, was sie sagt, ist kein
Christ mehr, sondern ein verlorener Sünder, um dessen Rettung und Wohlergehen wir uns
liebevoll küm mern müssen. Aber er hat sich in eine schwierige Lage gebracht, weil die
Entscheidung der Kirche im Himmel respektiert wird.

Alles sollte mit Gebet verrichtet werden. Wenn zwei Jünger Christi sich auf Erden einig sind und
um etwas bitten, wird es von unserem Vater im Himmel für sie getan werden. Wo zwei oder drei
in Jesu Namen versammelt sind, ist Er auf unsicht bare Weise mitten unter ihnen.

Petrus fragte Jesus, wie oft wir einem Bruder vergeben sollen? Wäre siebenmal genug? Jesus
ant wortete, daß wir ohne Grenzen vergeben müssen. Von Gott sind uns so viele Sünden
vergeben wor den, daß wir sie nicht einmal zählen könnten. Wir müssen auch Erbarmen mit
einem Nächsten ha ben, der uns beleidigt hat, den Schaden jedoch nicht wiedergutmachen kann.

Gott vergibt den Menschen, die bereuen, alle Sünden, annulliert diese Vergebung jedoch, wenn
derjenige, der sie empfangen hat, seinerseits keine verzeihende Gesinnung gegenüber
denjenigen zeigt, die ihn beleidigt haben.
Jesus liebt Kinder sehr. Als einmal Kinder zu Ihm gebracht wurden, damit Er für sie bete, tadel
ten die Jünger die Eltern, weil sie dachten, die Kinder könnten Jesus und das von Ihm abgehal
tene Treffen durch ihr Geschrei stören. Aber Je sus sagte: »Laßt die Kinder zu mir kommen und
verbietet es ihnen nicht, denn ihrer ist das Him melreich.«

Die Gefahren des Reichtums

Ein reicher Mann kam zu Jesus und fragte Ihn: »Guter Meister, was soll ich Gutes tun, daß ich
ewiges Leben habe?« Jesus sagte zu ihm, er solle nicht morden, keinen Ehebruch begehen,
nicht stehlen, kein falsches Zeugnis ablegen, die Eltern ehren und seinen Nächsten lieben wie
sich selbst. Der junge Mann sagte, sein ganzes bisheriges Le ben lang habe er so gehandelt,
habe aber immer noch das Gefühl, daß ihm etwas fehle. Da sagte Jesus zu ihm: »Willst du
vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen
Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach.« Der Reiche ging jedoch betrübt von
Ihm, denn er hatte große Besitz tümer. Da sprach Jesus zu Seinen Jüngern: »Wahrlich, ich sage
euch: Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen. Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein
Nadelöhr geht, als daß ein Rei cher ins Reich Gottes kommt.«

Reichtum ist ein großes Hindernis, wenn man ewiges Leben im Paradies erlangen möchte. Doch
bei Gott ist alles möglich. Er kann jeden Men schen von der Sünde erretten - aus jeder sozialen
Schicht. Schwanken Sie nur nie, um Christi willen auf Haus, Geschwister, Eltern, Kinder oder
Grundbesitz zu verzichten. Im Himmel werden Sie Gutes hundertfach erhalten, und das ewiglich.

Zögern Sie nicht, zu Gott zu kommen, wenn Sie alt sind. Glauben Sie nicht, daß es zu spät sei.
Der eine, der zu Gott in der letzten Stunde seines Lebens kommt, kann dieselbe Belohnung erhal
ten, wie der andere, der in seiner Kindheit zu Gott gekommen ist. Wenn Sie die Botschaft von
Chri stus gehört haben, kommen Sie!

Jesus lehrte das Volk ständig, aber Er sagte Seinen Jüngern auch genauer, was Ihm zustoßen
werde. Er werde der Obrigkeit ausgeliefert und verraten werden; man werde Ihn zum Tode verur
teilen, Ihn verspotten, geißeln und Ihn an Händen und Füßen an ein Kreuz nageln. So werde Er
sterben, aber am dritten Tag werde Er von den Toten auferstehen. Er müsse sterben, weil wir
gesündigt und Strafe verdient hätten. Er nahm unsere Sünden auf sich und erlöste uns. Wir sind
rein, weil Sein Opfer uns von unserem morali schen Schmutz gereinigt hat.

Die Jünger waren überaus weit davon entfernt, diese Seine Lehren zu verstehen. Statt dessen
sorgten sie sich darum, wer eine höhere Stellung im Himmelreich haben werde. Er erklärte ihnen,
es würden Zeiten kommen, in denen sie aus dem selben bitteren Kelch trinken müßten wie Er.
Bis dahin sollten sie demütig sein.

Jesus sagte, daß die Herrscher der Nationen über sie regieren würden. Aber unter Christen
werde es nicht so sein. Wer auch immer unter den Jüngern Christi groß sein werde, möge der
Diener der anderen werden.

Jesus in Jerusalem

Und so näherte sich Jesus mit Seinen Jüngern Jerusalem. Als er reitend in die Stadt kam,
breitete eine große Menschenmenge ihre Kleider vor Ihm aus. Sie jubelten Ihm entgegen: »Rette
uns! Ge lobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!« Für kurze Zeit war die Menschenmenge in
Seiner Gunst wachgerüttelt.

In Jerusalem gab es einen großen Tempel, aber viele Schlechtigkeiten hatten sich in ihn einge
schlichen. Es gab etliche Priester, die mit der Reli gion Handel trieben. Jesus warf die Kaufleute
hin aus und stieß ihre Tische und Stühle um. Er sagte zu ihnen, eine Kirche müsse ein Haus des
Gebets und keine Höhle von Räubern sein, die den Men schen das Geld unter dem Vorwand der
Religion stehlen.

In Jerusalem rief Jesus erneut Sünder mit einem Gleichnis zur Buße auf: »Es hatte ein Mann
zwei Söhne und ging zu dem ersten und sagte: ,Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute in
meinem Wein berg.’ Er sprach: ,Ich will's nicht tun.’ Dann aber reute es ihn und er ging hin. Und
er ging zu dem zweiten und sprach gleich also. Der antwortete: ,Ja, Herr!` und ging nicht hin.
Welcher nun von den zweien hat den Willen seines Vaters getan?« Es gibt nur eine Antwort auf
diese Frage. Nicht der eine, der »ja« sagte, aber sein Versprechen nicht hielt, sondern der erste,
der, obwohl er sich zunächst geweigert hatte, anschließend bereute und tat, worum ihn der Vater
gebeten hatte. So können Prostituierte und Gauner leichter in den Himmel kommen, wenn sie
bereuen, als Men schen, die schöne und tugendhafte Worte sagen, aber den Willen Gottes nicht
erfüllen.

Er warnte diejenigen, die nicht auf Ihn und Seine Jünger hörten und nicht ihr Leben und alle ihre
Fähigkeiten Gott weihten, daß ihre Seelen zugrunde gehen werden. Bezüglich Seiner selbst war
Er sich sicher. Die Herrscher des Volkes mochten Ihn zwar ablehnen, aber Er würde einst das
Oberhaupt einer neuen wiedergeborenen Menschheit sein, in der Gerechtigkeit und Liebe
herrschen werden.

Fragen, die Jesus gestellt wurden

Jesu Feinde wurden rührig und heckten Seine Ermordung aus. Sie wollten Ihn herausfordern,
Aussagen gegen den römischen Kaiser zu machen. Palästina, das Land, in dem Jesus lebte
(heute Israel), befand sich unter römischer Herrschaft. Für jedes Wort, das dem römischen Kaiser
miß fiel, konnte man mit dem Tode bestraft werden. Daher kamen die Feinde Jesu mit
schmeichelnden Worten zu Ihm und fragten Ihn, ob Er es als recht ansehe, an den römischen
Kaiser Steuern und an dere Abgaben zu entrichten. Hätte Er mit »ja« geantwortet, hätten sie das
Volk gegen Ihn aufge hetzt, das sich über die schwere Besteuerung är gerte. Hätte Er mit nein«
geantwortet, hätten sie Ihn als Staatsfeind an die römische Obrigkeit verra ten können. Aber
Jesus antwortete: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!«

Die Leute stellten Ihm alle möglichen Fragen. Sie fragten Ihn, wie die Beziehungen zwischen
Mann und Frau in der Ewigkeit seien. Angenom men, eine Frau sei Witwe geworden, habe
wieder geheiratet, vielleicht sogar mehrere Male, und stürbe dann - wessen Frau werde sie im
Jenseits sein? Jesus gab darauf eine sehr einfache Antwort. Diejenigen, die von den Toten
auferstehen, heira ten nicht, sondern sind geistige Wesen wie die Engel. Das Leben geht nach
dem Tod weiter, aber unter völlig anderen Umständen.

Als Jesus gefragt wurde, welches Gebot Er als das größte ansehe, lautete Seine Antwort: »Du
sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Ge
müte. Dies ist das erste Gebot. Und das zweite ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst.«

Jesus predigte nicht nur gegen die Sünde und den mangelnden Glauben an Gott. Er sprach sich
auch gegen falsche Religiosität aus, die darin be steht, anderen heiligmäßige Worte zu sagen,
selbst jedoch nicht nach ihnen zu handeln. Sie besteht auch in der Umfunktionierung der Reli
gion zu einer schweren Last mit vielen Verboten für andere, während man selbst der Sünde frönt.
Sie besteht aus Stolz. Christen haben nur einen Herrn, Jesus, und sie sind alle Brüder. Es wird
Unterschiede im Rang und Attributen geben. Aber die Größten unter den Christen müssen die
Diener ihrer Mitchristen sein. Gott wird die Stol zen erniedrigen und die Demütigen erhöhen.
Jesus verurteilt die Heuchelei

Jesus verstärkte die Feindseligkeit, die einige führende Persönlichkeiten bereits gegen Ihn heg
ten, indem Er ihnen öffentlich sehr harte, aber auch sehr ehrliche Worte gab. Er kritisierte dieje
nigen, die selbst im Luxus lebten, jedoch lange Reden über das öffentliche Wohlergehen hielten.
Er kritisierte jede Religiosität, die sich nicht auf gerechtes Urteil, Güte und Glaube konzentriert. Er
kritisierte jede Religiosität, die nur aus äußeren Zeichen besteht, während man ein unehrenhaftes
Leben und ein Leben der Ausschweifung führt. Gott schaut auf das Herz. Man kann Ihn nicht
betrügen. Er kann sehen, ob Sie die Religion nur äußerlich angenommen haben und innerlich
voller Heuchelei und Schlechtigkeit sind. Jesus nannte solche Menschen Schlangen und
Natterngezücht.

Jesus bedauerte das Los Seiner Zeitgenossen. Er hätte sie gerne aufgesammelt, wie eine Henne
ihre Küken unter ihre Flügel sammelt, diese es aber nicht wollen. Er warnte die Welt, sie werde in
einem trostlosen Zustand verbleiben, wenn sie nicht zu Jesus zurückkehre und zu Ihm sage: »Ge
lobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.«

Die Verheißungen Jesu

Jesus weissagte viele Ereignisse, die erst lange Zeit nach Seinem Weggang von uns eintreten
soll ten. Unter anderem prophezeite Er die Zerstö rung Jerusalems durch die Römer, ein Vorfall,
der sich 30 Jahre nach Jesu Tod ereignete. Er machte auch Verheißungen, die für die Zeit, in der
wir leben, Geltung haben. Er sagte, daß etliche Men schen mit dem Anspruch auftreten würden,
sie seien die Retter der Menschheit, und viele täu schen würden. Es werde Kriege und Kriegsge
schrei geben. Eine Nation werde sich gegen die andere erheben. Es werde eine Zeit mit Hungers
nöten, Seuchen und Erdbeben geben. Alle diese Dinge würden jedoch erst der Anfang sein. Viele
von ihnen würden getötet werden. Sie würden von allen Nationen gehaßt werden, weil sie Jesus
treu seien. Wegen der Schrecken würden einige Chri sten ihren Glauben verlieren, sich
gegenseitig betrügen und sich sogar hassen. Dies werde die Liebe vieler erkalten lassen. Einige
aber würden geduldig alles Leid ertragen. Diese würden von Jesus geret tet werden. - Jesus
sagte auch voraus, daß Seine Botschaft vom Reiche Gottes in aller Welt gepre digt werde. Dann
werde das Ende kommen.

Jesus, der jetzt im Himmel ist, wird nach all der Trübsal auf Erden in Begleitung von mysteriösen
Ereignissen am Himmel wiederkommen.

Vor Seiner Wiederkehr wird Jesus Seine Engel mit einem lauten Posaunenschall aussenden, und
diese werden Seine Auserwählten aus allen Teilen der Erde sammeln.

Wenn wir also all die Trübsal sehen, wissen wir, daß Jesus nahe ist, ja vor der Tür steht. Dieses
Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dies alles geschehe. Himmel und Erde werden
vergehen, aber die Worte Jesu werden nicht vergehen.

Kein Mensch und kein Engel kennt den Tag und die Stunde der Wiederkehr Jesu, sondern nur
Gott allein. Die Menschen werden essen, trinken und heiraten und nicht an Jesu Rückkehr
denken, die plötzlich kommen wird. Dann wird ein Aus sortieren sein. Von zwei Menschen, die
auf dem Feld sind, oder von zwei anderen, die in einer Fabrik arbeiten, wird derjenige, der treu
gewesen ist, zu Jesus gebracht werden, der andere wird zurückgelassen werden.

Jesus ermahnt uns daher: »Wachet, denn ihr wißt nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommt.«
Wir müssen bereit sein, denn zu einer solchen Stunde, in der wir nicht daran denken, kommt
Jesus. Gesegnet ist der Knecht, den der Herr bei Seiner Wiederkunft vorfindet, wie er mit
anderen sein Wissen über Gott teilt. Jesus wird diesen Knecht zum Herrscher über alle Seine
Güter ma chen. Wenn aber ein böser Knecht sich sagt: »Jesus kommt noch lange nicht«, und
anfängt seine Mitknechte zu schlagen und mit den Betrunkenen zu trinken, wird der Herr dieses
Knechtes an ei nem Tag kommen, da er nicht nach Ihm Ausschau hält, und zu einer Stunde,
deren er sich nicht bewußt ist. Dann wird der untreue Knecht an einen Ort geschickt werden, wo
Heulen ist.

Das Letzte Gericht

Jesus hat jedem Seiner Jünger die Fähigkeit ge geben, Ihm zu dienen. Manche besitzen eine grö
ßere Fähigkeit, andere eine geringere, aber jeder kann nützlich sein. Bei Jesu Wiederkunft
werden Ihm die Jünger zeigen, was sie mit den ihnen ver liehenen Talenten gemacht haben. Zu
denen, die die Gaben vermehrt haben, wird Er sagen: »Gut gemacht, du guter und treuer Knecht.
Du bist sorgsam mit einigen Dingen umgegangen. Ich werde dich zum Herrscher über viele
Dinge machen. Geh ein zu deines Herrn Freude.« Aber es wird auch etliche geben, die ihre
Fähigkeit unge nutzt ließen. Dies sind böse und faule Knechte. Sie werden in die Finsternis
geworfen werden.

Wenn Jesus zum zweiten Mal in Herrlichkeit mit allen Seinen heiligen Engeln kommt, werden alle
Nationen vor Ihm versammelt werden, und Er wird sie voneinander trennen, wie ein Hirt seine
Schafe von den Böcken scheidet; Er wird die Schafe zu Seiner Rechten und die Böcke zur Lin
ken stellen. Dann wird Jesus zu denen zu Seiner Rechten sagen: »Kommt her, ihr Gesegneten
mei nes Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin
hungrig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich
beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr
seid zu mir gekommen.« Dann werden ihm die Gerechten ant worten und sagen: »Herr, wann
haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? Oder durstig und haben dich getränkt?
Wann haben wir dich als einen Fremdling gesehen und beherbergt? Oder nackt und haben dich
bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen?« Und
der König wird antworten und zu ihnen sagen: »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt
einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.«

Dann wird Er auch zu denen zur Linken sagen: »Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige
Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen En geln! Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt
mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein
Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich
nicht beklei det. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.« Da werden sie ihm
auch antworten und sagen: »Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig oder als
einen Fremdling oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient?« Dann wird
Er ihnen antworten und sagen: «Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter
diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.« Und sie werden in die ewige Pein gehen,
die Gerechten aber in das ewige Leben.

Jesus wird verraten

Nachdem Jesus alle diese Unterweisungen be endet hatte, sagte Er zu Seinen Jüngern: »Ihr
wißt, daß in zwei Tagen Ostern ist. Dann werde ich verraten und an ein Kreuz genagelt werden,
an dem ich sterben werde.« Und so geschah es auch.

Die Herrscher des Volkes, dessen Führer Kaiphas hieß, beschlossen, Jesus töten zu lassen.

Jesus wußte das. Er saß in einem Haus in einem kleinen Städtchen mit Namen Bethanien. Dort
trat eine Frau zu Ihm, die eine Flasche mit sehr teurem Parfüm hatte. Sie goß es auf Sein Haupt.
Seine Jünger sahen das und brachten ihre Empö rung zum Ausdruck, indem sie sagten: »Wozu
diese Vergeudung? Dieses Wasser hätte teuer ver kauft und den Armen gegeben werden
können.« Aber Jesus sagte zu ihnen: »Was bekümmert ihr die Frau? Sie hat ein gutes Werk an
mir getan. Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. Daß sie dieses
Wasser hat auf mei nen Leib gegossen, hat sie getan, weil sie mein Begräbnis vorhersah.
Wahrlich, ich sage euch: Wo immer diese Geschichte in der ganzen Welt er zählt wird, wird man
auch das, was diese Frau getan hat, zu ihrem Gedächtnis erzählen.« Da ging einer von Jesu
Jüngern zu den Führern des Volkes und sagte: »Was wollt ihr mir geben, wenn ich Jesus an
euch verrate?« Sie versprachen ihm 30 Silberlinge. Von da an suchte Judas nach einer
Gelegenheit, Jesus den Führern auszuliefern.

Als der Abend des Festes gekommen war, setzte sich Jesus mit zwölf auserwählten Jüngern zu
Tisch und sagte beim Essen: »Wahrlich, ich sage euch, daß einer von euch mich verraten wird.«

Da wurden sie sehr betrübt und hoben an, ein jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: »Herr,
bin ich's?« Er fügte hinzu: »Wehe dem Menschen, von dem ich verraten werde. Es wäre besser
für diesen Menschen, wenn er nicht geboren wäre.« Da sagte Judas, der ihn verriet: »Meister, bin
ich es?« Jesus sagte zu ihm: »Ja.«

Das letzte Abendmahl

Als sie aßen, nahm Jesus Brot, dankte Gott dafür, brach es und reichte es Seinen Jüngern und
sagte: »Nehmet, esset; das ist mein Leib.«Und Er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den
und sprach: »Trinket alle daraus; das ist mein Blut, welches vergossen wird für viele zur
Vergebung der Sünden. Ich schließe meinen Bund mit euch, daß eure Sünden vergeben
werden.«

Wenn Christen sich versammeln, gedenken sie des Todes Jesu Christi, indem sie ein Stück Brot
essen zum Gedächtnis, daß Er Seinen Leib gab, damit er für uns gebrochen werde, und indem
sie aus einem Kelch mit Wein trinken, der sie an das Blut erinnert, das Jesus aus Liebe zu uns
Sündern vergossen hat.

Anschließend ging Jesus mit Seinen Jüngern zu einem nahe gelegenen Berg und sang Lieder
von Gott. Auf dem Weg dorthin sagte Er zu ihnen, daß Er, der Hirt, geschlagen werde, und daß
die Gläubigen, die Schafe der Herde, zerstreut wür den. Doch Er sagte ihnen auch wieder, daß
Er von den Toten auferstehen und ihnen begegnen werde.

Petrus versicherte Ihm, daß er, selbst wenn die anderen Jünger Ihn im Augenblick der Gefahr
verlassen würden, Jesus nicht verlassen werde. Je sus sagte zu ihm: »Wahrlich, ich sage dir: In
dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.« Petrus sagte zu Ihm: »Und
wenn ich mit dir sterben müßte, so will ich dich nicht ver leugnen.« Ähnliches sagten auch all die
anderen Jünger.

Die Gefangennahme Jesu

Da kam Jesus mit ihnen an einen Ort und sagte zu Seinen Jüngern: »Setzet euch hier, bis daß
ich dorthin gehe und bete.« Und Er nahm drei Seiner Jünger mit sich und fing an, äußerst
sorgenvoll zu werden. Er sagte zu ihnen auch: »Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet
hier und wachet mit mir!« Und Er ging ein wenig, fiel nieder auf Sein Angesicht, betete und
sprach: »Vater, wenn es möglich ist, laß diesen Kelch an mir vorüberge hen; doch nicht wie ich
will, sondern wie du willst !« Und Er kam zu Seinen Jüngern und fand sie schlafend und sagte zu
Petrus: »Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, daß ihr nicht in
Anfechtung fallet! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.« Zum andern Mal ging Er
wieder hin, betete und sprach: »Mein Vater, ist's nicht möglich, daß dieser Kelch an mir
vorübergehe, ich trinke ihn denn, so ge schehe dein Wille!« Und Er kam und fand sie abermals
schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ sie und ging abermals hin und betete
zum dritten Mal und redete dieselben Worte. Da kam Er zu Seinen Jüngern und sprach zu ihnen:
»Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen?

Siehe, die Stunde ist da, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird.
Siehe, er ist da, der mich verrät.«

Und als er noch redete, da kam Judas und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und Stan
gen, geschickt von den Führern. Judas hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: »Welchen
ich küssen werde, der ist's; den greift.« Und alsbald trat er zu Jesus und sprach: »Gegrüßt seist
du, Meister!« und küßte ihn. Und Jesus sprach zu ihm: »Freund, warum bist du gekommen?« Da
legten sie die Hände an Jesus und griffen Ihn. Und einer von denen, die mit Jesus waren, zog
sein Schwert und schlug nach einem Knecht des Herr schers und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach
Jesus zu ihm: »Stecke dein Schwert an seinen Ort. Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs
Schwert umkommen. Oder meinst du, daß ich nicht mei nen Vater bitten könnte, daß er mir
zuschickte alsbald Tausende von Engeln, um mich zu be schützen? Aber die alten Propheten
haben geweis sagt, daß ich für die Sünden der Menschen leiden müsse, damit ihnen vergeben
werden kann und sie in den Himmel eingehen.«

Zur selben Stunde sprach Jesus zu den Scharen: »Ihr seid ausgegangen wie zu einem Mörder
mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen. Aber das ist alles geschehen, damit erfüllt
würden die Schriften der Propheten.« Da verließen Ihn alle Jünger und flohen.

Die Verurteilung Jesu

Die aber Jesus ergriffen hatten, führten ihn zu dem Hohenpriester Kaiphas, wo sich auch die
anderen Führer versammelt hatten.

Petrus aber folgte Ihm nach von ferne bis in den Palast des Hohenpriesters und ging hinein und
setzte sich zu den Knechten, auf daß er sähe, wo es hinaus wollte. Nun fragte Kaiphas Jesus:
»Bist du der Messias, der Sohn Gottes?« Jesus bejahte es und sagte zu ihm: »Ihr werdet mich
einst zur Rechten Gottes sitzen sehen und kommen in den Wolken des Himmels.« Daraufhin war
der Hohe priester der Meinung, daß dies für eine Verurtei lung genüge. Zeugnis brauche man
nicht. Die an deren Führer stimmten mit ihm überein und erklärten Ihn des Todes schuldig. Da
spien sie Ihm ins Gesicht und schlugen Ihm mit der Handfläche ins Gesicht und sagten:
»Weissage uns, Erlöser, wer ist's, der dich schlug?«

Petrus aber saß draußen im Hof. Da trat ein junges Mädchen zu ihm und sagte: »Du warst auch
mit Jesus.« Doch er fürchtete sich und leugnete vor ihnen allen und antwortete: »Ich weiß nicht,
was du sagst.« Dann sah ihn eine andere Magd an und sagte zu denen, die dabei waren:
»Dieser Kerl war auch mit Jesus.« Und wieder leugnete er: »Ich kenne den Menschen nicht.«
Nach einer Weile traten andere zu ihm und sagten: »Ganz sicher bist du auch einer von ihnen,
denn du sprichst wie Er.« Da begann er zu fluchen und zu schwören und sagte: »Ich kenne den
Menschen nicht.« Und so fort krähte der Hahn. Und Petrus erinnerte sich an die Worte Jesu, der
zu ihm gesagt hatte: »Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleug nen.« Er ging hinaus
und weinte bitterlich.

Das Gebiet, das heute Israel genannt wird, war damals eine römische Provinz. Die Führer des
Volkes konnten das Todesurteil nicht ohne Zu stimmung des römischen Landpflegers voll
strecken, der zu jener Zeit ein gewisser Pontius Pilatus war. Daher banden die örtlichen Führer
Jesus und überantworteten Ihn dem Landpfleger.

Als Judas, der Ihn betrogen hatte, sah, daß er verurteilt wurde, bereute er es und brachte die
dreißig Silberlinge zurück. Er hatte Gewissensbisse und sagte: »Ich habe gesündigt, indem ich
unschuldiges Blut verraten habe.« Sie aber sagten: »Was geht uns das an?« Da warf Judas die
Silber linge auf den Boden und erhängte sich.

Jesus stand vor dem römischen Landpfleger. Der Landpfleger fragte Ihn, ob Er ein König sei, und
Er bejahte es. Viele Könige sind Tyrannen gewesen. Er war der rechtmäßige König. Doch auf all
die Anschuldigungen, die gegen Ihn erhoben wurden, antwortete Er nicht.

Bei dem römischen Landpfleger war es Brauch, zu jedem Fest alljährlich einen Gefangenen
freizu geben, den das Volk wählte. Damals hatten sie einen berüchtigten Gefangenen namens
Barabbas. Pilatus sagte daher zum Volk, das sich versammelt hatte: »Welchen wollt ihr, daß ich
euch losgebe, Barabbas oder Jesus?« Pilatus wußte, daß die Füh rer ihm Jesus aus Mißgunst
ausgeliefert hatten. Das Volk wählte Barabbas. Barabbas war jedoch ein Mörder.

Pilatus fragte sie: »Was soll ich dann mit Jesus tun?« Die Menge, die von ihren Führern aufgewie
gelt worden war, sagte zu ihm: »Laß Ihn kreuzi gen, indem man Ihn an Händen und Füßen an ein
Kreuz nagelt und Ihn dort langsam sterben läßt.« Pilatus sagte: »Warum, was hat Er Böses
getan?« Sie aber schrien um so lauter: »Laß Ihn töten.«

Jesus wird getötet

Daraufhin wusch Pilatus seine Hände vor der Menge und sagte: »Ich bin unschuldig am Blute
dieses Gerechten.« Das Volk antwortete: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« Da
wurde Barabbas freigelassen und Jesus wurde ge geißelt und zur Richtstätte geführt. Zuvor ent
kleideten Ihn die Soldaten; sie hatten eine Dor nenkrone geflochten. Diese setzten sie Ihm aufs
Haupt, verspotteten Ihn und beugten die Knie vor Ihm und sagten: »Gegrüßt seist du, König!«
und spien Ihn an und schlugen Ihn.

Dann brachten sie Ihn an einen Ort mit Namen Golgatha; sie nagelten Ihn an ein Kreuz und
brachten über Seinem Haupt eine Inschrift mit der Anschuldigung an: »Dies ist Jesus, der König
der Juden.« Zwei Räuber wurden zusammen mit Ihm gekreuzigt. Und sie gingen an Ihm vorbei,
verspotteten Ihn und sagten: »Wenn du der Sohn Gottes bist, so steig herab vom Kreuz.« Auch
die Führer verspotteten Ihn: »Andern hat Er geholfen, sich selbst kann Er nicht helfen. Wenn Er
ein König ist, so steige Er herab vom Kreuz, und wir werden Ihm glauben. Er hat Gott vertraut;
der erlöse Ihn nun, wenn er Ihn haben will; denn Er hat gesagt, daß Er der Sohn Gottes sei.« Die
Räu ber, die mit Ihm gekreuzigt wurden, verspotteten Ihn ebenfalls.

Um die Mittagszeit kam Dunkelheit über das ganze Land bis 3 Uhr. Dann rief Jesus mit lauter
Stimme: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Gott haßt die Sünde. Jesus hat
am Kreuz die Sünden aller Menschen auf sich genommen; aus diesem Grund wurde Er von Gott
für seine Handlung eine Zeitlang verlassen.

Jesus rief mit lauter Stimme und starb. Da er bebte die Erde, die Felsen spalteten sich, die Grä
ber taten sich auf und viele Leiber toter Heiliger standen auf.

Als der römische Hauptmann und die bei ihm waren und Jesus beobachteten, das Erdbeben und
die anderen Dinge sahen, fürchteten sie sich sehr und sagten: »Wahrlich, dieser war Gottes
Sohn.«

Am Abend kam jemand, der mit Pilatus be kannt war, zu ihm und bat um den Leichnam Jesu.
Pilatus erlaubte es. Daher nahmen die Männer den Leichnam Jesu vom Kreuz ab und legten ihn
in ein neues Grab, das die Form einer Höhle hatte. Sie rollten einen großen Stein vor den
Eingang des Grabes und gingen weg.
Am folgenden Tag gingen die Führer des Volkes zu Pilatus und sagten: »Herr, wir erinnern uns,
daß Jesus, als Er noch am Leben war, gesagt hat: `Nach drei Tagen werde ich auferstehen.`
Befiehl daher, daß das Grab bis zum dritten Tag versiegelt wird, damit nicht Seine Jünger in der
Nacht kom men, Seinen Leichnam stehlen und zum Volk sa gen: `Er ist von den Toten
auferstanden'.« Sie gingen hin und sicherten das Grab, indem sie die Steine versiegelten und
eine Wache postierten.

Dies geschah am Freitagnachmittag.

Jesu Auferstehung von den Toten

Am Sonntag morgen kamen Jüngerinnen Jesu, um nach dem Grab zu sehen. Da war ein großes
Erdbeben, denn ein Engel kam vom Himmel her ab, rollte den Stein vom Eingang der Höhle und
setzte sich darauf. Sein Gesicht leuchtete wie der Blitz und sein Gewand war weiß wie Schnee.
Als die Wachen ihn sahen, erbebten sie vor Furcht und fielen wie tot zu Boden. Der Engel sprach
zu den Frauen: »Fürchtet euch nicht! Ich weiß, daß ihr Jesus sucht, der am Kreuz getötet wurde.
Er ist nicht hier, denn Er ist auferstanden, wie Er gesagt hat. Geht rasch und berichtet Seinen
Jüngern, daß Er von den Toten auferstanden ist. Siehe, Er wird vor euch hergehen an einen Ort
mit Namen Gali läa. Dort werdet ihr Ihn sehen.« Als sie gingen, um es Seinen Jüngern zu sagen,
begegnete ihnen Jesus und grüßte sie. Und sie kamen und fielen vor Ihm nieder.

Da sagte Jesus zu ihnen: »Fürchtet euch nicht! Geht und sagt es meinen Brüdern, daß sie nach
Galiläa gehen, dort werden sie mich sehen.« Die Jünger gingen nach Galiläa auf einen Berg,
wohin Jesus sie bestellt hatte. Als sie Ihn sahen, fielen sie vor Ihm nieder. Einige zweifelten
zuerst, aber dann glaubten sie, weil sie Ihn reden und sagen hörten: »Mir ist gegeben alle Gewalt
im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker und tauft sie, indem ihr sie in
Wasser taucht und sprecht: `Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heili
gen Geistes.` Lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle
Tage bis an der Welt Ende.«

_____________________________________________________________________________
_______

Lieber Leser! Sie haben jetzt die Geschichte von Jesus, dem Erlöser der Welt, gehört. Bekennen
Sie Ihm Ihre Sünden, glauben Sie, daß Er Sein Blut zur Vergebung Ihrer Sünden vergossen hat.
Wer den Sie Sein Jünger und tun Sie das, was Er gelehrt hat. Gewinnen Sie andere Menschen
für den Glau ben an Christus. Wenn Sie nicht getauft sind, bitten Sie einen anderen Gläubigen,
Sie zu taufen. Wenn Sie eine kleine Gruppe von Gläubigen sind, dann nehmen Sie von Zeit zu
Zeit Brot und Wein und teilen Sie es untereinander, nachdem Sie dar über die Worte Jesu
wiederholt haben: »Dies ist mein Leib« und »Dies ist mein Blut«. Machen Sie die Geschichte von
Christus jedermann bekannt. Tun Sie es auf kluge Art und Weise, damit sie von den Feinden
Ihres Glaubens nicht verfolgt wer den. Wenn Sie jedoch leiden müssen, dann seien Sie mutig
und fürchten Sie niemand. Menschen, die an Jesus glauben, haben ewiges Leben. Ihr Richard
Wurmbrand

Der Autor, Richard Wurmbrand, ist ein evangelischer Pfarrer, der in seiner rumänischen Heimat
14 Jahre in kommunistischen Gefängnissen inhaftiert war. Nach seiner Entlassung in 1964
gründete er die weltweite Mission für verfolgte Christen namens HILFSAKTION
MÄRTYRERKIRCHE.

---
Das Lamm Gottes
Dave Hunt

„Seht das Lamm Gottes"

... Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Lamm zum Brandopfer? 1. Mose 22, 7

Der Islam lehrt, dass am „letzten Tag" (der buchstäblich nicht kommen kann, bis die Moslems alle
Juden auf Erden umgebracht haben) alle die Moslems, deren gute Taten ihre bösen überwiegen,
ins Paradies eingehen. Indem sie dem Beispiel ihres Propheten Mohammed folgen, gehört das
Umbringen von Nicht-Moslems, speziell von Juden, mit zu den besten Taten, die Moslems tun
können. Beim Dschihad zu sterben und dabei Nicht-Moslems umzubringen ist die einzige
Gewissheit für das Paradies, die der Islam anbietet.

Das ist die tragische Lüge, welche die Selbstmordattentäter in Israel, Irak, Afghanistan und
woanders motiviert, absichtlich auf schutzlose Frauen und Kinder loszugehen.

Viele derer, die sich „Christen" nennen, sowohl Protestanten wie auch Katholiken (obgleich sie
keine Juden umbringen), haben im Grunde die gleiche Hoffnung, den Himmel zu erreichen,
indem sie mehr Gutes (nach ihrer Ansicht) tun als Böses. Sogar Anfänger in den
Rechtswissenschaften erkennen die Torheit solcher Hoffnung.

Kein irdischer Gerichtshof würde einen Strafzettel annullieren, weil der Angeklagte öfters die
Geschwindigkeitsbeschränkung eingehalten als sie überschritten hat – oder einen Mörder
freilassen und ihn belohnen, weil er das Leben von mehr Leuten gerettet hat, als er umbrachte.
Ein solch ungeheuerliches Konzept, das unvereinbar mit dem menschlichen Gewissen ist, würde
gewiss niemanden in den Augen des unendlich heiligen und gerechten Richters des Universums
rechtfertigen!

Egal wie viele „gute Taten" eine Person vollbracht haben mag, „... alle haben gesündigt und
verfehlen die Herrlichkeit, die sie bei Gott haben sollten" (Röm 3,23) und sind angesichts Seines
perfekten Standards „schon gerichtet" (Jh 3,18). Auch kann der Eine, der sagte, „denn ich, der
HERR, verändere mich nicht" (Mal 3,6) und dessen Wort „auf ewig... steht... fest in den Himmeln"
(Ps 119,89), Sein Wort nicht halten: „Meinen Bund will ich nicht ungültig machen und nicht
ändern, was über meine Lippen gekommen ist" Ps (89,34).
Wir wissen, „Gott ist Liebe" (1 Jh 4,8) und Er begehrt, dass „alle Menschen gerettet werden und
zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1 Tm 2,4). Aber er ist auch unendlich heilig und gerecht
und kann Sünde nicht verzeihen. Er hat gesagt, „Die Seele, die sündigt, soll sterben" (Hes
18,4.20) und „der Lohn der Sünde ist der Tod" (Röm 6,23). Dieser Satz gilt. „Er kann sich selbst
nicht verleugnen" (2 Tm 2,13).

Wie kann Gott nun Sündern die ewige Bestrafung erlassen, ohne Seine eigene perfekte
Gerechtigkeit zu verletzen? Würde Er nicht zur Sünde ermutigen und ein Komplize werden,
indem Er dem Schuldigen vergibt? Und wie könnte Er das Gericht aufheben, das Er verkündet
hat, ohne Seine Integrität zu untergraben?
Die Schrift erklärt, dass wer auch immer nur ein Gebot übertritt, „der ist in allem schuldig
geworden" (Jak 2,10). Warum? Nichtbefolgung irgendeines der zehn Gebote, egal wie gering aus
unserer Sicht, ist Rebellion gegen Gott, und das ist das Wesen aller Sünde. Wie kann der
unendlich heilige Gott unter diesen Umständen Sein liebendes Begehren stillen und den Sündern
vergeben?
Das ist der zentrale Punkt. Aber diese wesentliche Frage wird im Islam oder Hinduismus oder
einer der anderen Weltreligionen nicht einmal gestellt. Sie alle unterstützen die populäre
Wahnvorstellung, dass ein Überschuss an guten Werken, welche die schlechten überwiegen, die
Waage der Gerechtigkeit zugunsten des Sünders beeinflusst. Aber das ist keine Gerechtigkeit!
Wenn man das Gesetz künftig perfekt einhalten würde (selbst wenn das möglich wäre), wäre das
nie ein Ausgleich für das Übertreten auch nur eines Gesetzes in der Vergangenheit. Ist das
Versagen, diese Tatsache zu erkennen, der verhängnisvolle Mangel in allen Religionen? Keine
denkende Person kann tatsächlich in dieser Täuschung verharren. Angesichts solchen religiösen
Betrugs drücken die Menschen bewusst ein Auge zu, um aus ihrem Gewissen die schreckliche
Furcht vor den Folgen der Rebellion gegen einen heiligen Gott zu vertreiben.

Aber diese Täuschung wird aufrechterhalten, die überführende Wahrheit wird unterdrückt – der
Wahrheit, die Gott in jedes Gewissen eingepflanzt hat. Der Stolz weigert sich, den schrecklichen
Folgen der Schuld des Menschen vor Gott ins Gesicht zu sehen. Auch kann sich weder Islam,
Buddhismus, die falsche „Christenheit" noch irgendeine andere menschliche Religion erlauben,
die Wahrheit zuzugeben. Sie würde die Macht über die Massen verlieren, wenn sie zugäbe, dass
sie nichts anzubieten hat. Nur Gott allein kann Sünden vergeben.

Vergebung der Sünden? Wie ist das möglich? Schuld, Strafe und Vergebung sind eindeutig
Sache der Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit kann nicht aufgehoben werden, auch nicht durch
Liebe, Mitleid oder Gnade. Gottes gerechte Gerechtigkeit verlangt, dass die Strafe für die Sünde
voll bezahlt wird. Jede Religion, die für sich in Anspruch nimmt, Gott bei der Vergebung der
Sünden beeinflussen zu können, ist ein Schwindel!

Die Strafe für die Verletzung von Gottes perfektem Gesetz, die Gottes unendliche Gerechtigkeit
fordert, ist notwendigerweise unendlich. Der endliche Mensch würde von Gott getrennt sein und
ewig leiden um diese unglaubliche Schuld zu bezahlen.
Nur Gott selbst, der alleine unendlich ist, konnte diese unendliche Strafe bezahlen. Aber wie? Er
ist keiner von uns. Wenn Gott Mensch werden könnte...! Und das genau ist der wunderbare
Erlösungsplan, der auf den Seiten von Gottes heiligem Wort dargelegt wird, der Bibel – und nur
dort.

Biblische Propheten sagte voraus, dass Gott selbst durch eine Jungfrauengeburt auf diese Erde
kommen würde: Der Same der Frau „wird dir [Satan] den Kopf zertreten" (1 Mo 3,15). „Siehe, die
Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären und wird ihm den Namen Immanuel
[Gott mit uns] geben" (Jes 7,14). „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben... und
man nennt seinen Namen... starker Gott, Ewig-Vater..." (Jes 9,5).

Der Koran sagt, dass Allah immer gnädig und vergebend sei. Dennoch bietet er keine gerechte
Basis für die Vergebung an. Der Koran kommt von einem Menschen, Mohammed, der behauptet
von Allah inspiriert worden zu sein, welcher durch seinen Engel Gabriel sprach. Moslems stützen
sich auf Mohammed und den Koran, obgleich der Koran selbst den „Propheten" ermahnt, seine
Sünden Tag und Nacht zu bekennen (Sure 40,55, usw.) und erklärt, dass Allah seinen Sinn
ändert: „Solche Offenbarungen von uns, die wir abschaffen oder dem Vergessen anheim geben,
ersetzen wir durch Besseres oder etwas Ähnliches" (Sure 2,106). „Wir ersetzen eine Offenbarung
durch eine andere..." (16,101).

Die Bibel dagegen wurde uns durch ungefähr 40 Menschen im Verlauf von 1.600 Jahren
überliefert. Somit haben wir für jeden Verfasser 39 andere Zeugen aus verschiedenen Kulturen
und verschiedenen Zeiten in der Geschichte. Die meisten von ihnen sind sich nie begegnet. Das
einzige Gemeinsame war der Anspruch, dass sie von Jahwe inspiriert wurden, dem einen wahren
Gott „Abrahams... Isaaks und... Jakobs" (2. Mo 3,15 und weitere 11 Male), dem „Gott Israels" (2
Mo 5,1 und weitere 202 Male). Ihre Abfassungen sind harmonisch integriert mit komplizierten
Themen, entwickelt von einem zum nächsten in einer Weise, welche die göttliche Inspiration
beweist.
Ein Thema, das sich von 1. Mose bis zur Offenbarung durchzieht, ist der rote Faden von Gottes
Erlösungsplan. Er wird sorgfältig entfaltet, durch Vertiefung der Offenbarung von Verfasser zu
Verfasser und unterstützt durch Hunderte von Prophetien, die ohne Änderung oder Ausbleiben
erfüllt wurden. Gott ließ keinen Zweifel daran, dass er selbst durch eine Jungfrauengeburt auf die
Erde kommen musste, um die unendliche Strafe für die Sünde zu bezahlen, die Seine eigene
Gerechtigkeit verlangte Dies sorgte für eine gerechte und ewige Erlösung.

Erlösung für den sündigen Menschen war seit der Ewigkeit ein Teil von Gottes Plan. Er wusste,
dass Adam und Eva der Schlange glauben würden, und dass alle ihre Nachkommen weiter
rebellieren würden. Gottes Versprechen der Vergebung wird [im Laufe der Entstehung der
Schrift] fortwährend durch Seine Propheten erneuert.

Der Erlösungsweg rückt durch das sich entfaltende Bild immer deutlicher in den Mittelpunkt und
wird zunächst dargestellt im Opfersystem des Alten Testaments. Am Anfang werden Tieren
geopfert, um die Häute zu liefern, mit denen Gott Adam und Eva kleidete, nachdem er sie aus
dem Garten vertrieben hatte. Es war eine vorläufige Bekleidung, keine volle Vergebung: „Denn
unmöglich kann das Blut von Stieren und Böcken Sünden hinweg nehmen" (Heb 10,4).

Der versprochene Erlöser wurde Messias genannt. Dass Er Sein eigenes Leben für die Sünden
der Menschheit zu geben hätte, wurde wiederholt dargestellt in den Opfern unschuldiger Tiere –
speziell dem Opfer eines fleckenlosen, nicht protestierenden Lammes. Wir treffen das Lamm das
erste Mal bei Abels Opfer für Sünden. Kain hingegen beharrte darauf, die Werke seiner eigenen
Hände zu opfern. Das war eine klare Ablehnung von Gottes Erlösung und ein Prototyp für alle
folgenden Religionen. Durch die ganze Menschheitsgeschichte zieht sich die Verfolgung
derjenigen hin, die Gott gehorchten. Im Mord Kains an seinem Bruder Abel wurde das
vorhergesehen, weil Abels geschlachtetes Lamm von Gott angenommen wurde, nicht aber die
guten Werke Kains.
Wiederholt stellte ein geopfertes Lamm das Versprechen des wahren Lammes Gottes dar, das
„sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat" (1 Tim 2,6). Dass das Lamm Gottes der wahre
Sohn Gottes sein würde, war ebenso vorhergesehen. Als Abraham seinen Sohn Isaak auf den
Berg Moriah führte, um ihn dort auf Gottes Geheiß zu opfern, weil er glaubte, dass Gott ihn von
den Toten auferwecken würde, fragte Isaak, „... wo ist aber das Lamm zum Brandopfer?"
Abraham antwortete im festen Glauben, „Gott wird für ein Lamm zum Brandopfer sorgen..." (1 Mo
22,8)

Dieses Versprechen zieht sich durch die gesamte Bibel: „nun hat mich GOTT, der Herr, und sein
Geist gesandt" (Jes 48,16). „Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn
gesandt hat als Retter der Welt" (1 Jh 4,14). Weil sie ihre eigenen Propheten nicht verstanden
und annahmen, der Messias würde sofort den Thron Davids übernehmen, erkannten die meisten
Juden nicht, dass Er zunächst als das versprochene Lamm kommen musste, das in Erfüllung der
levitischen Opfer für ihre Sünden gekreuzigt werden musste. erst bei Seinem zweiten Kommen
würde er in Macht und Ehre Sein irdisches Königreich errichten.

Das Opfer eines Lammes und das Streichen seines Blutes auf „beide Türpfosten und die
Oberschwellen der Häuser" (2 Mo 12,7-13) veranlasste den verderbenden Engel, an den
Israeliten vorbeizugehen, als Gottes Gericht auf Ägypten fiel. Es brachte Israels Befreiung von
der grausamen Knechtschaft. Und immer noch wird Passah weltweit durch die Juden gefeiert.

Traurigerweise verspottete Israel, genau wie es die Propheten vorhersagten, und kreuzigte den
„Heiligen Gottes," den sogar die Dämonen erkannten (Mk 1,24; Lk 4,34)! Wenige beachteten
Johannes den Täufer: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt" (Jh
1,29).

Im Islam gibt es, im Gegensatz dazu, keine gerechte Grundlage für die Vergebung von Sünden.
Und sogar im Katholizismus, der viel von Christi Kreuzigung hält, wird seine Hinlänglichkeit durch
den Anspruch verleugnet, dass Er in dem „Messopfer" fortwährend geopfert wird. Somit ist die
Strafe für Sünde auf katholischen Altären niemals bezahlt. Denn wenn es so wäre, wie die Schrift
sagt, hätte man in der Messe „sonst nicht aufgehört, Opfer darzubringen, wenn die, welche den
Gottesdienst verrichten, einmal gereinigt, kein Bewusstsein von Sünden mehr gehabt hätten"
(Heb 10,2).

Indem sie den vermeintlichen „umgewandelten" Leib und das Blut Christi auf Roms Altären
beständig opfern, lehnen sie die klare biblische Aussage ab, dass „Christus, nachdem er sich
einmal zum Opfer dargebracht hat, um die Sünden vieler auf sich zu nehmen... Aufgrund dieses
Willens sind wir ein für allemal geheiligt durch die Opferung des Leibes Jesu Christi... Er aber hat
sich, nachdem er ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht hat, das für immer gilt, zur
Rechten Gottes gesetzt... denn mit einem einzigen Opfer hat er die für immer vollendet, welche
geheiligt werden... da gibt es kein Opfer mehr für Sünde. (Heb 9,25-10,18). Jeder Versuch, etwas
zu Christi endgültigem Opfer am Kreuz hinzuzufügen oder immer während fortzusetzen, ist eine
Ablehnung des triumphierenden Rufes Christi, „Es ist vollbracht" (Jh 19,30).

Wie in der falschen „Christenheit", so ist in allen Weltreligionen die Strafe für Sünde niemals
bezahlt, sondern hängt über den Köpfen der Beter wie ein Damoklesschwert: „weil aus Werken
des Gesetzes kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden kann" (Röm 3,20). Nur Christus konnte
die Strafe der Sünde bezahlen, und er tat es – aber wie kann der Glauben an Ihn einen Sünder
rechtfertigen? Paulus begegnet mutig genau dieser Frage: wie konnte Gott „selbst gerecht sei[n]
und zugleich den rechtfertige[n], der aus dem Glauben an Jesus ist" (Röm 3,26)? Er antwortet,
dass wir nur das Opfer Christi anzunehmen brauchen, das Gott zu unseren Gunsten annahm,
und wodurch „der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, ohne Werke des Gesetzes"
(Röm 3,28): „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du gerettet werden" (Apg 16,31) –
„denn aus Gnade seid ihr errettet durch den Glauben... nicht aus Werken" (Eph 2,8-10).

Viele, die angeblich an Christus glauben, bestehen darauf, ihre eigenen Anstrengungen als
teilweise Bezahlung ihrer Errettung hinzuzufügen. Aber Erlösung ist ein Geschenk: „die
Gnadengabe Gottes ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn" (Röm 6,23). Der
Versuch, für die Erlösung durch unsere Kirchenmitgliedschaft, Gebete oder gute Taten zu
bezahlen, ist eine Beleidigung für Christus, der den vollen Preis bezahlte, und eine Ablehnung
des Gnadengeschenk Gottes.

Einige behaupten, dass Christus nicht für die ganze Menschheit starb, sondern nur für die zur
Errettung Vorherbestimmten, wobei er den Rest der ewigen Qual überließ. Doch jedes Bild für
das Opfer Christi im Alten Testament galt ganz Israel. Aber nicht jeder Jude wurde gerettet, weil
nicht all glaubten. Erlösung kommt durch den Glauben.

Das Passah galt nicht nur für ganz Israel, sondern auch für alle Ägypter, die im Glauben ein
Lamm töten und das Blut an ihrem Haus anbringen würden. Das Manna war für ganz Israel,
keiner wurde ausgelassen. So war es mit dem Wasser aus dem Felsen: „denn sie tranken aus
einem geistlichen Felsen, der ihnen folgte. Der Fels aber war Christus" (1 Kor 10,4). Und so war
es mit dem Versöhnungstag, allen levitischen Opfern usw. Diese waren für alle Juden und für
jeden Fremden, der glaubte. Es gab nie einen Hinweis, dass ein Opfer oder Maßnahme Gottes
nur für eine bestimmte, auserwählte Gruppe war.

Wir brauchen nicht zu spekulieren, ob Johannes 3,16 bedeutet, Gott liebe die Welt so, dass er
Christus für jeden zu sterben gab. Christus legt diese Streitfrage bei, indem Er Sein Kreuz
Nikodemus mit einem anderen Beispiel aus dem Alten Testament vorstellt: „Und wie Mose in der
Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der
an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat" (Jh 3,14.15). Unstreitig war die
Tatsache der Heilung, indem sie auf die Schlange schauten, genau wie andere Schatten des
Alten Testaments, die auf Christus hinwiesen, nicht für eine begrenzte Zahl von Israeliten,
sondern für alle, die glaubten.

So ist das mit jedem Bild des kommenden Lammes Gottes. Jesaja sagt, „wir alle gingen in die
Irre wie Schafe..." (Jes 53,6). Das ist eine Anklage jeder Person in Israel, „denn alle haben
gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie bei Gott haben sollten" (Röm 3,23). In gleich
deutlicher Sprache fügt Jesaja die gute Nachricht bei: „aber der HERR warf unser aller Schuld
auf ihn" (Jes 53,6). Weil alle in die Irre gingen, starb Christus für alle: „Glaubwürdig ist das Wort
und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten..."
(1 Tm 1,15). Satan versucht diese „große Freude, die dem ganzen Volk widerfahren soll" (Lk
2,10) aus den Herzen aller, die sie hören, wegzureißen, „damit sie nicht zum Glauben gelangen
und gerettet werden" (Lk 8,12).
Lasst uns auf Gottes Wort bestehen, und aller Welt verkünden, dass der ganzen Welt ein Retter
in Bethlehem geboren wurde, „das Lamm Gottes," das die Sünden der Welt hinweg nimmt, dass
Er am Kreuz für die Sünden aller starb. Und dass das Geschenk des ewigen Lebens allen
umsonst angeboten wird, die es in kindlichem Glauben annehmen wollen.

Und ich sah... ein Lamm, wie geschlachtet... Off 5,6

---

Ein Passah-Komplott?
Dave Hunt

Ein Passah-Komplott?

Die Prophezeiungen, die sich auf das zweite Hauptthema der Bibel beziehen, das Kommen des
Messias, sind sogar noch zahlreicher und detaillierter als die Israel betreffenden. Diese
Prophezeiungen sind ebenfalls ausreichend in meinen bisherigen Büchern behandelt worden, so
daß wir hier nur eine knappe Zusammenfassung einiger dieser Voraussagen geben. Sogar die
meisten Kritiker des christlichen Glaubens, die prinzipiell Jesus von Nazareth als Erlöser der Welt
ablehnen, geben zu, daß sich viele spezielle messianische Prophezeiungen in Jesu Leben und
Sterben erfüllt haben. Im Rahmen der Versuche, die Signifikanz dieser Tatsache wegzuerklären,
hat man die wildesten Theorien aufgestellt.
Ein typischer solcher Versuch war ein vor einigen Jahren erschienenes Buch, das auch verfilmt
wurde, (sowohl Buch als auch Film waren jedoch wenig erfolgreich) mit dem Titel The Passover
Plot (Das Passah- Komplott). Der Autor stellt darin die Behauptung auf, daß Jesus, dem einige
der alttestamentlichen messianischen Prophetien bekannt waren, sich mit Judas verbündete, um
diese Voraussagen zu erfüllen und sich auf diese Weise vor den Menschen als der verheißene
Messias zu erweisen.

Unvereinbare Widersprüche?

Es wäre für Jesus offensichtlich lächerlich gewesen, sich selbst kreuzigen zu lassen, um eine
kleine Gruppe von ungebildeten, ungeschickten Jüngern zu überzeugen, daß er der Christus ist.
In Wirklichkeit konnte keiner seiner Jünger oder irgendein anderer Jude, einschließlich Johannes
des Täufers, glauben (obgleich die Prophezeiungen deutlich waren, wie Christus es oftmals
dargelegt hat), daß der Messias gekreuzigt werden mußte. Sein Tod schien vielmehr zu
beweisen, daß er nicht der Messias war, und so war die buchstäbliche Erfüllung der
Prophezeiungen über seine Kreuzigung, die er erbrachte, nicht der Weg, um Jünger zu
gewinnen. Christi Tod, mit dem er die Schrift erfüllte, mußte nämlich zur Bezahlung unserer
Sündenschuld geschehen.

Die Prophezeiungen, die sich auf seinen Tod beziehen (Psalm 22,16; Jesaja 53,5.8-10.12;
Sacharja 12,10 u.a.) betrachteten die Juden als unergründliche Geheimnisse, weil sie ihnen in
Anbetracht der anderen Prophezeiungen, die deutlich erklärten, daß der Messias Davids Thron
besteigen und über ein glänzendes Königreich regieren werde, völlig rätselhaft erschienen. Wie
könnte der Messias ein Königreich aufrichten und nie endenden Frieden bringen (Jesaja 9,7),
und doch von seinem eigenen Volk abgelehnt und gekreuzigt werden? Beides schien unmöglich
zugleich wahr sein zu können, und so ignorierten die jüdischen Ausleger einfach das, was ihnen
keinen Sinn zu ergeben schien.

Es war dann der endgültige triumphale Beweis für die Schriftgelehrten, daß die Juden imstande
waren, Jesus zu kreuzigen, und es diente der Masse der Juden und den meisten der Jünger als
enttäuschender, aber unbestreitbarer Beweis, daß Jesus von Nazareth unmöglich der Messias
gewesen sein konnte. Weder das prophezeite messianische Königreich war aufgerichtet worden,
noch hatte er Israel Frieden gebracht, indem er es von seinen Feinden befreit hätte. So konnte er
bestenfalls ein Schwindler sein, der es vielleicht nur gut gemeint hatte und im schlimmsten Fall
ein vorsätzlicher Betrüger war. So lauten bis heute die Argumente der Juden. Es gab jedoch
einen Weg, die scheinbaren Widersprüche aufzulösen: Der Messias mußte zweimal kommen,
das erste Mal, um für die Sünden der Menschen zu sterben, und das zweite Mal, um den Thron
Davids zu besteigen und zu herrschen. Aber selbst als Jesus dieses in der Zeit vor seinem Tod
erklärte, konnte ihn niemand verstehen. Er mußte auferstehen, um die blinden Augen zu öffnen.

Mehr als nur ein Mensch

Ja, es gab tatsächlich einige wenige Prophezeiungen, die Jesus von Nazareth zusammen mit
Judas oder anderen hätte erfüllen können. Doch die meisten Prophezeiungen entziehen sich der
Kontrolle einfacher Menschen. Beispielsweise waren die Geburt in Bethlehem und die
Abstammung aus der Nachkommenschaft Davids zwei wesentliche Voraussetzungen für den
Messias. Der vorausgesagte Zeitpunkt der Geburt des Messias stand ebenfalls außerhalb des
Einflußbereiches gewöhnlicher Sterblicher. Er mußte geboren werden, bevor das Zepter von
Juda genommen wurde (1. Mose 49,10), während der Tempel stand (Maleachi 3,1), solange die
Geschlechtsregister verfügbar waren, um seine Abstammungslinie prüfen zu können (2. Samuel
7,12; Psalm 89 u.a.) und kurz bevor der Tempel und Jerusalem zerstört wurden (Daniel 9,26).

Es war ein enges Zeitfenster, durch das der Messias kommen mußte – und durch dieses kam er
tatsächlich. Wie es der Apostel Paulus so treffend sagt: „Als aber die Fülle der Zeit kam, sandte
Gott seinen Sohn, geworden von einer Frau [d.h. durch Jungfrauengeburt] ...“ (Galater 4,4).
Heute wäre es zu spät für das erste Kommen des Messias. Es kann nur ein zweites Kommen,
eine Wiederkunft, geben, wie es die Bibel ankündigt. Und doch erwarten die Juden immer noch
das erste Auftreten desjenigen, den sie für ihren Messias halten werden, der aber in Wirklichkeit
der Antichrist sein wird.

Das Zepter wurde etwa im Jahre 7 n.Chr. von Juda genommen, als die Juden das Recht
verloren, die Todesstrafe auszuführen. Dieses Recht war von entscheidender Bedeutung für ihre
Religionsausübung, weil Tod die Strafe für einige religiöse Vergehen war. Als Pilatus den
Schriftgelehrten und Hohenpriestern erklärte, daß er nichts mit Jesus tun wolle und sie ihn doch
selbst richten sollten, antworteten sie: „Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten“ (Johannes
18,31). Der Messias mußte geboren werden, bevor dieses Recht aufgehoben wurde, und mußte
danach umgebracht werden; denn er sollte nicht durch Steinigung sterben, die jüdische Weise
der Hinrichtung, sondern durch die römische Kreuzigung. Erstaunlicherweise wurde seine
Kreuzigung prophezeit, Jahrhunderte bevor diese Art der Hinrichtung überhaupt bekannt wurde:
„Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben“ (Psalm 22,17).

Der Messias mußte auch offenbar geboren werden, solange noch die Geschlechtsregister
existierten, andernfalls hätte man nicht sicherstellen können, daß er aus der Nachkommenschaft
Davids ist. Diese Register gingen jedoch mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels 70
n.Chr. verloren. Dieses Ereignis sagten sowohl Daniel (9,26) als auch Christus selbst (Matthäus
24,2) voraus. Seitdem ist es für das erste Kommen des Messias zu spät, wenngleich die
Mehrzahl der Juden noch darauf wartet. Die Christen erwarten dahingegen das zweite Kommen,
das ebenfalls von den hebräischen Propheten vorausgesagt worden ist.

Verblüffende Erfüllungen

Hätte Jesus geplant, die Prophezeiungen zu erfüllen, dann hätte er Pilatus zur Verurteilung der
beiden Verbrecher bestechen müssen, die mit ihm gekreuzigt werden sollten, um somit Jesaja
53,9 zu erfüllen. Er hätte ferner wissen müssen, welche Soldaten an jenem Tag Wachdienst
hatten, um sie vorher bestechen zu können, damit sie seine Kleider unter sich teilen und das Los
um sein Gewand werfen (Psalm 22,18), ihm Essig und Galle zu trinken geben (Psalm 69,22) und
seine Seite mit einer Lanze durchbohren (Sacharja 12,10), anstatt ihm seine Beine zu brechen,
wie es bei Gekreuzigten üblich war, was aber dem Messias nicht geschehen durfte (2. Mose
12,46; Psalm 34,21).
Waren die Hohenpriester ebenfalls in das Komplott miteinbezogen? Haben sie etwa deshalb
Judas exakt 30 Silberlinge für seinen Verrat gezahlt, wie es Sacharja (11,12) prophezeit hatte,
um dann von dem Geld einen „Töpferacker“ als Friedhof für Fremde zu kaufen, nachdem Judas
das Geld ihnen zu Füßen in den Tempel geworfen hatte, wie es wiederum vorausgesagt war
(Sacharja 11,13)? Haben sie ihn deshalb als Erfüllung von 2. Mose 12,6 genau dann gekreuzigt,
als in ganz Israel das Passahlamm geschlachtet wurde? Das Szenario des Passah-Komplotts
wird immer unsinniger, je mehr man es untersucht.

Woher hatte Jesus das Geld, um die Menschenmasse zu bezahlen, die Jerusalems Straßen
säumten und ihm als Messias zujubelten, als er auf einem Esel reitend – übrigens das allerletzte
Tier, auf dem man einen König auf einem Triumphzug erwarten würde – in diese Stadt einzog,
genau wie in Sacharja 9,9 vorausgesagt? Es war der 10. Nisan (6. April), exakt der Tag, für den
die Propheten dieses wunderbare Ereignis angekündigt hatten – 483 Jahre nach dem Tag (69
Jahrwochen, wie in Daniel 9,25 vorausgesagt), an dem Nehemia, im zwanzigsten Jahr der
Regierung Artaxerxes (465-425 v.Chr.), die Erlaubnis erhalten hatte (am 1. Nisan 445 v.Chr.),
Jerusalem wiederaufzubauen (Nehemia 2,1)! Die Erfüllung bis ins kleinste Detail dieser und vieler
anderer Prophezeiungen durch Jesus kann nicht von der Hand gewiesen werden.

Ein verschwundener Leichnam und ein leeres Grab

Darüber hinaus hätte Jesus, wenn er sich auch erfolgreich „verschworen“ hätte, um genau zum
prophezeiten Zeitpunkt gekreuzigt zu werden – obwohl die Hohenpriester und Ältesten gerade
das nicht wollten (Matthäus 26,5; Markus 14,2) – immerhin noch von den Toten auferstehen
müssen. Kein „Passah-Komplott“, ganz gleich, wieviele Verschwörer dabei auch beteiligt waren,
hätte das erreichen können! Eine „vorgetäuschte“ Auferstehung wäre für seine Jünger keine
hinreichende Grundlage gewesen, um den christlichen Glauben darauf aufzubauen. Allein wenn
er wirklich gestorben und wieder zum Leben auferstanden war, konnten sie die Motivation und
den Mut finden, angesichts von Verfolgung und Märtyrertod sein Evangelium zu verkünden.

Die römischen Soldaten schliefen nicht bei der Wache. Hätten sie es doch getan, während die
Jünger den Leichnam stahlen, hätten sie am nächsten Tag am Kreuz gehangen; ebenso auch die
Jünger, da sie ja das römische Siegel des Grabes aufgebrochen hatten. Und wenn sie den
Leichnam hätten stehlen und es irgendwie geheimhalten können, wozu hätten sie dann für eine
Lüge sterben sollen? Sie waren ja solche Feiglinge, daß keiner von ihnen bereit war für das zu
sterben, wovon sie vorher einmal geglaubt hatten, es sei die Wahrheit. Dennoch starben sie
später fast alle als Märtyrer und verkündeten bis zum Schluß, daß sie Augenzeugen vom
auferstandenen Jesus waren. Keiner von ihnen versuchte sein Leben zu retten, indem er etwa
ein Versteck des Leichnams Jesu verraten hätte. Es ist einfach nicht möglich, das unbestreitbar
leere Grab anders zu erklären als durch Auferstehung.

Weder der Hinduismus noch der Buddhismus, noch der Islam oder sonst irgendeine andere
Religion erhebt den Anspruch, daß ihr Begründer noch am Leben sei. Für den christlichen
Glauben ist die Auferstehung jedoch das Herzstück des Evangeliums. Wenn Christus nicht von
den Toten auferstanden ist, dann ist der ganze Glaube ein Schwindel. Jesus befahl seinen
Jüngern auch nicht, ins ferne Sibirien oder nach Südafrika zu gehen, um dort seine Auferstehung
zu verkündigen, wo niemand diese Behauptung hätte nachprüfen können. Er sagte ihnen, sie
sollten in Jerusalem damit anfangen, wo, wäre er nicht von den Toten auferstanden, ein kurzer
Gang zum Grab gleich hinter der Stadtmauer zur Vergewisserung genügte. Wie sehr die
jüdischen Gelehrten und die römischen Regenten es wohl liebten, den christlichen Glauben in
Verruf zu bringen, bevor er an Auftriebskraft gewann! Der wohl sicherste Weg war, den Leichnam
Jesu öffentlich zu präsentieren – aber sie konnten es nicht. Das sicher bewachte Grab war auf
einmal leer!

Saulus von Tarsus

Die Beweise für die Auferstehung sind zahlreich und unbestreitbar, aber da wir sie bereits an
anderer Stelle besprochen haben, sei hier nur ein einziger genannt – ein Beweis, der oftmals
übersehen wird. Daß Christus tatsächlich vom Tod auferstanden ist, ist die einzige Erklärung
dafür, daß Saulus von Tarsus, der größte Gegner des christlichen Glaubens, zu seinem größten
Apostel wurde. Als angesehener junger Schriftgelehrter war Saulus aufgrund seiner führenden
Rolle in der Verfolgung dieser abgeirrten Sekte mittels Gefangennahme, Einkerkerung und
Märtyrertod auf dem besten Weg zu großen Ehren. Dann wurde er plötzlich selbst einer dieser
verachteten und verfolgten Christen, und dafür ließ er sich wiederholte Male gefangennehmen,
schlagen und einkerkern. Einmal wurde er sogar gesteinigt und für tot gehalten. Zuletzt wurde er
schließlich enthauptet. Diese wundersame Umwandlung wäre unsinnig, es sei denn ...

Wozu freiwillig Ansehen gegen Leid und letztendlichen Märtyrertod eintauschen? Paulus
bezeugte, daß ihm der auferstandene Christus begegnet ist, und daß der Eine, der für die
Sünden der Welt starb, lebt und sich ihm geoffenbart hat. Dieses Zeugnis allein reichte jedoch
nicht als Beweis dafür aus, daß Christus wirklich lebt. Irgend etwas mehr war nötig.

Niemand könnte Paulus’ Ernsthaftigkeit bezweifeln. Das macht seine Bereitschaft, für Christus zu
leiden und zu sterben, deutlich. Ein ernsthafter Glaube an einen lebenden Christus reichte jedoch
als Beweis nicht aus. Es wäre ja möglich gewesen, daß Paulus Halluzinationen gehabt hätte und
sich die Begegnung mit dem lebenden Christus einfach einbildete.

Die römischen Fürsten Felix und Festus und auch König Agrippa hörten Paulus’ Bericht von
seinem übernatürlichen Erlebnis und waren überzeugt, Paulus meine es zwar ernst, sei aber
verrückt (Apostelgeschichte 24-26). Diese Erklärung wird jedoch nicht den Tatsachen gerecht.
Paulus’ plötzliche Vertrautheit mit den Lehren Christi war ein Beweis für die Auferstehung, der auf
keine Weise von der Hand gewiesen werden kann.

Überzeugende Indizien

Paulus, der Christus vor seiner Kreuzigung nie kennengelernt hatte, war plötzlich die größte
Kompetenz auf dem Gebiet, auf welchem zuvor Christus nur seinen engsten Jüngerkreis
vertraulich belehrt hatte. Er mußte ihm begegnet sein! Die Apostel, die mehre Jahre lang von
Christus persönlich unterwiesen worden waren, mußten nun erkennen, daß ihr einstiger Feind
Paulus alles wußte, was Christus ihnen beigebracht hatte, ohne dabei irgendeinen von ihnen
befragt zu haben, und sogar noch tiefere Einsichten hatte als sie. Als Paulus den Petrus
zurechtwies, weil er einen Fehler begangen hatte, unterwarf Petrus sich sogar dieser Ermahnung
(Galater 2,11-14).

In seinem Brief an die Gemeinde von Korinth begann Paulus mit den Worten, „ich habe von dem
Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe“ (1. Korinther 11,23) seine Erklärung
dessen, was beim Letzten Abendmahl geschehen war, und was Christus seine Jünger darüber
gelehrt hatte. Dabei war Paulus weder beim letzten Abendmahl dabeigewesen, noch hatte er mit
einem von den Anwesenden gesprochen. „Ich zog nicht Fleisch und Blut zu Rate; ich ging auch
nicht nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich ging sogleich fort
nach Arabien“ (Galater 1,16.17) war Paulus’ vereidigtes Zeugnis. Die Tatsache, daß er auf
einmal der Hauptapostel und die größte Kompetenz auf dem Gebiet der Lehre Christi war, kann
auf keine andere Weise erklärt werden, als dadurch, daß er, genau wie er behauptete, durch den
auferstandenen Christus unterwiesen worden war.

Ohne einen von denen zu befragen, die während seines irdischen Dienstes Christi Jünger
gewesen waren, wurde Paulus zum besten Fachmann in christlicher Lehre, wie die gesamte
Gemeinde es dann anerkennen mußte. Er schrieb die meisten der neutestamentlichen Briefe.
„Ich tue euch aber kund, Brüder, daß das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher
Art ist. Ich habe es nämlich weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch
Offenbarung Jesu Christi“ (Galater 1,11.12), gab Paulus feierlich Zeugnis. Es gibt keine andere
Erklärung als die, daß Christus tatsächlich von den Toten auferstanden war und Paulus
persönlich unterwiesen hatte.

Ein Grund zu vertrauen

Die Erfüllung der oben angeführten und weiterer Prophezeiungen im Leben, Sterben und
Auferstehen Jesu Christi beweisen fernab jeden möglichen Zweifels, daß er der Messias Israels
und der Erlöser der Welt ist. Niemand könnte die Fakten prüfen und dann immer noch ernsthaft
ein Zweifler bleiben. Wer angesichts solcher überwältigender Indizien den Glauben ablehnt, der
hat keine Entschuldigung mehr.

Wir haben diese wenigen Seiten dazu genutzt, um die Gültigkeit biblischer Prophetie
aufzuzeigen, und damit einen bestimmten Zweck verfolgt. Nachdem wir nun nämlich gesehen
haben, daß die biblischen Prophezeiungen über bereits geschehene Ereignisse mit 100%iger
Genauigkeit erfüllt worden sind, haben wir auch allen Grund zu glauben, daß ebenso die
Prophezeiungen über die Zukunft sich genau erfüllen werden.
Wir können uns nun mit festem Vertrauen den Einblicken in die Zukunft zuwenden, die uns in
Offenbarung 17 und 18 gegeben werden, und die wichtige Frage nach der Identität der Frau auf
dem Tier stellen. Zunächst müssen wir unsere Aufmerksamkeit jedoch auf das Tier selbst richten.

Der Beitrag ist dem Buch Die Frau und das Tier entnommen

--

DAS HERRENMAHL

Von Richard Schmitz

1. DAS VORBILD IM PASSAHMAHL

Ein Schattenbild des HErrnmahles.

Es ist nicht ein zufälliges Zusammentreffen, daß der HErr Jesus Sein heiliges Mahl im
Zusammenhang mit der Feier des Passahfestes gestiftet hat; vielmehr stehen Passahmahl und
HErrnmahl in einer inneren Beziehung zueinander. Beidemal handelt es sich um die Erinnerung
an eine geschehene Erlösung: bei dem Passahmahl an die Erlösung Israels aus der
Knechtschaft Ägyptens, beim HErrnmahl an die Erlösung aus der Herrschaft von Sündenschuld
und Todesmacht. Diese Linien zwischen Passahmahl und HErrnmahl wollen wir im Folgenden
aufzeigen. Zunächst lesen wir den biblischen Bericht über die Einsetzung des Passah (Passah
heißt: verschonendes Vorübergehen, Verschonung):

Darauf gebot der HErr dem Mose und Aaron in Ägypten folgendes: "Der gegenwärtige Monat soll
euch als Anfangsmonat gelten; der erste soll er euch unter den Monaten des Jahres sein. Gebt
der ganzen Gemeinde Israel folgende Weisungen: Am zehnten Tage dieses Monats, da nehme
sich jeder Hausvater ein Lamm, für jede Familie je ein Lamm, und wenn eine Familie zu klein ist
für ein ganzes Lamm, so nehme er und sein ihm zunächst wohnender Nachbar eins gemeinsam
nach der Zahl der Seelen; ihr sollt auf das Lamm so viele Personen rechnen, wie zum Verzehren
erforderlich sind. Es müssen fehlerlose, männliche, einjährige Lämmer sein; von den Schafen
oder von den Ziegen dürft ihr sie nehmen. Bis zum vierzehnten Tage dieses Monats sollt ihr sie in
Verwahrung haben; dann soll die gesamte Volksgemeinde Israel sie gegen Abend scblachten.
Hierauf sollen sie etwas von dem Blut nehmen und es auf die beiden Türpfosten und auf die
Oberschwelle an den Häusern strei¬chen, in denen sie die Mahlzeit halten. Sie sollen dann das
Fleisch in derselben Nacht essen, und zwar am Feuer gebraten, und dazu ungesäuertes Brot; mit
bitteren Kräutern sollen sie es essen. Ihr dürft nicht davon roh oder im Wasser gekocht genießen,
sondern im Feuer gebraten, und zwar so, daß der Kopf noch mit den Beinen und dein Rumpf
zusammenhängt. Ihr dürft nichts davon bis zum andern Morgen übrig lassen, sondern was etwa
davon bis zum Morgen übrig bleibt, sollt ihr mit Feuer verbrennen. Und auf folgende Weise sollt
ihr es essen: eure Hüften gegürtet, eure Schuhe an den Füßen und euren Stab in der Hand; und
in aller Hast sollt ihr es essen: ein verschonendes Vorübergehen des HErrn ist es. Denn Idi will in
dieser Nacht durch Ägypten gehen und alle Erstgeburt in Ägypten sterben lassen, sowohl
Menschen als Vieh, und will an allen ägyptischen Göttern ein Strafgericht vollziehen, Ich, der
HErr. Dabei soll das Blut an den Häusern, worin ihr euch befindet, ein Zeichen zu eurem Schutz
sein; denn wenn Ich das Blut sehe, will Ich schonend an euch vorübergehen, und es soll euch
kein tödliches Verderben treffen, wenn Ich den Schlag gegen das Land Ägypten führe."

"Dieser Tag soll dann für euch ein Gedächtnistag sein, den ihr zu Ehren des HErrn festlich
begehen sollt; von Gesdilecht zu Geschlecht sollt ihr ihn als eine ewige Satzung feiern. Sieben
Tage lang sollt ihr ungesäuertes Brot essen; gleich am ersten Tage sollt ihr allen Sauerteig aus
euren Häusern entfernen: denn jeder, der vom ersten bis zum siebenten Tage Gesäuertes ißt,
der soll aus Israel ausgerottet werden. Weiter soll am ersten Tage eine heilige Festversammlung
bei euch stattfinden und ebenso am siebenten Tage eine heilige Festversammlung; keinerlei
Arbeit darf an diesen beiden Tagen verrichtet werden; nur was ein jeder zum Essen nötig hat,
das allein darf von euch zubereitet werden. So beobachtet denn das Fest der ungesäuerten
Brote; denn an eben diesem Tage habe Ich eure Heerscharen aus dem Lande Ägypten
herausgeführt. Darum sollt ihr diesen Tag von Geschlecht zu Gesdiledit als eine ewige Satzung
beobachten. Im ersten Monat, am vierzehnten Tage des Monats, am Abend sollt ihr
ungesäuertes Brot essen bis zum Abend des einundzwanzigsten Tages des Monats. Sieben
Tage lang darf kein Sauerteig in euren Häusern zu finden sein; denn wer da Gesäuertes ißt, der
soll aus der Gemeinde Israel ausgerottet werden, er sei ein Fremder oder ein Einheimischer im
Lande. Nicht Gesäuertes dürft ihr essen; überall, wo ihr auch wohnen mögt, sollt ihr
ungesäuertes Brot essen. Da berief Mose alle Ältesten der Israeliten und sagte zu ihnen: Gehet
und holt euch Kleinvieh, für jede Familie ein Stück, und schlachtet es als Passah. Dann nehmt
einen Büschel Ysop, taucht ihn in das Blut im Becken und streicht etwas von dem Blut im Becken
an die Oberschwelle und an die beiden Pfosten der Tür; aber keiner von euch darf bis zum
andern Morgen aus der Tür seines Hauses hinausgehen. Wenn dann der HErr hindurchgeht, um
die Ägypter sterben zu lassen, und das Blut an der Oberschwelle und an den beiden Türpfosten
sieht, so wird der HErr an der Tür schonend vorübergehen und dem Würgeengel nicht gestatten,
in eure Häuser einzutreten, um euch sterben zu lassen. Ihr sollt aber dieses Gebot als eine
Satzung für euch und eure Kinder auf ewige Zeiten beobachten. Auch wenn ihr in das Land
kommt, das der HErr euch nach Seiner Verheißung geben wird, sollt ihr diesen heiligen Brauch
beobachten. Wenn eure Kinder euch dann fragen: »Was bedeutet dieser Brauch bei euch?«, so
sollt ihr antworten: »Es ist das Passahopfer für den HErrn, der in Ägypten an den Häusern der
Israeliten schonend vorübergegangen ist, als Er die Ägypter sterben ließ, aber unsere Häuser
verschonte.« Da verneigte sich das Volk und warf sich auf die Erde. Hierauf gingen die Israeliten
hin und taten so, wie der HErr Mose und Aaron geboten hatte (2. Mose 12, 1 28).

Hier ist zum ersten Male in der Heiligen Schrift von Gott selber die Darbringung eines Opfers
angeordnet worden, und zwar ist es ein blutiges Opfer. Daß wir es dabei mit einem Vorbild auf
Christus zu tun haben, sagt uns 1. Korinther 5, 7: "Auch wir haben ein Passahlamm, das ist
Christus, für uns geopfert." Passah heißt "verschonendes Vorübergehen". Als Gottes Zorn über
Ägypten lagerte wie eine dunkle Wetterwolke, da stand Israel unter der Deckung des Blutes des
Passahlammes. Während in den Häusern der Ägypter der Tod umging und angstvolles
Wehklagen ertönte, feierte Israel in seinen Hütten die Verschonung von Gericht und Untergang,
die Erlösung aus der Knechtschaft Ägyptens. Der Hinweis auf Christus liegt auch in der
Bestimmung, daß nur fehlerlose Lämmer zum Opfer taugten. So ist nach Hebräer 9, 14 auch
Christus ohne jeden Fehler: "Christus hat sich selbst als ein Opfer ohne Fehl durch den ewigen
Geist Gott dargebracht, um unser Gewissen zu reinigen von den toten Werken, zu dienen dem
lebendigen Gott."

Das Wahrzeichen der Erlösung.

Jene Nacht des Passah war die letzte für Israel in Ägypten. Nun hatte der grausame Frondienst
unter den Geißelhieben der erbarmungslosen Vögte ein Ende. Nun hörte die Entwürdigung
Israels zu einem wehrlosen und rechtlosen Sklavenvolke auf. Dasselbe Passah, das die
Verschonung des Volkes Israel vor dem Zugriff des Gerichtsengels Gottes bedeutete, war
zugleich das Siegeszeichen der Erlösung von der Drangsal und Todesfurcht. Das Schreien und
Wehklagen des unterdrückten Volkes war vor Gott gekommen: "Und Er gedachte an Seinen
Bund mit Abraham, Isaak und Jakob, und Er sah darein und nahm sich ihrer an" (2. Mose 2, 24.
25).

Die Stunde der Befreiung hat geschlagen. Ein zahlreiches Volk ist angetreten mit seinem Hab
und Gut und mit seinen gesamten Viehbeständen, um in das Land der Verheißung zu ziehen,
das Gott dem Volk Israel zu ewigem Besitz zugesprochen hatte, wenn es in Gottes Wegen
bleiben würde. Diese Erlösung aus Ägypten steht für immer da als ein Wahrzeichen der Treue
Gottes. Er löst das Wort ein, das Er gesprochen hat. Das geschieht keine Stunde zu früh und
keine Stunde zu spät, geradeso, wie Er es einst dem Stammvater des Volkes, Abraham,
zugesagt hatte (1. Mose 15, 13. 14). Immer wird es dem Volke von seinen Psalmdichtern und
Propheten vorgehalten: "Der HErr, der dich aus Ägyptenland geführt hat", und das Gesetz vom
Sinai beginnt mit dem Zeugnis dieser Befreiungstat: "Ich bin der HErr, dein Gott, der dich aus
Ägyptenland geführt hat" (2. Mose 20, 2).

Die Gottestat der Erlösung von Sünde und Todesmacht.

Doch wieviel mehr als die Befreiung Israels aus ägyptischem Frondienst bedeutet die Erlösung
der Menschheit aus der Sklaverei der Sünde durch Jesus Christus! "Der Geist Gottes, des HErrn,
ruht auf Mir, weil der HErr Mich gesalbt hat, um den Unglücklichen Frohe Botschaft zu bringen. Er
hat Mich gesandt, die gebrochenen Herzen zu verbinden, den Gefangenen die Freiheit
anzukündigen und den Gebundenen die Entfesselung . . ." (Jesaja 61, 1).

Diese Frohe Botschaft, dieses Evangelium, geht durch alle Lande, und ein Volk, das nicht zu
zählen ist, macht sich auf, dem Zwingherrn der Hölle zu entrinnen und im Reiche des Sohnes
Gottes Freiheit und Frieden und ewiges Leben zu finden. Elia hat in schlimmer Zeit geseufzt:
"Ich bin allein übriggeblieben, und sie stehen mir nach dem Leben" (1. Könige 19, 14).

Doch Gott läßt den verzagten Propheten wissen: "Ich will in Israel siebentausend Männer
übriglassen: alle, deren Knie sich nicht gebeugt haben vor Baal" (1. Könige 19, 18).

In der Vollendung des Neuen Bundes ist die Zahl der Überwinder unzählbar, die dem Ruf der
Frohen Botschaft gefolgt sind "aus allen Nationen, Völkern und Sprachen" (Offenbarung 7, 9).

Auf dieser Erde liegt vor allen Erlösten das Land der verheißenen Sabbatruhe, die ewige Heimat,
der sie entgegenwandern durch die versuchungsreiche Wüste dieser Zeit, "gegürtet um ihre
Lenden, beschuht an den Füßen und den Wanderstab in den Händen als die Hinwegeilenden".
Damit ist in der Gleichnissprache, die der Morgenländer liebt und die ihm verständlich ist, die
Bereitschaft ausgedrückt, den Bindungen des Weltwesens zu entsagen und dem himmlischen
Ziel nachzustreben.

Der Blick nach vorwärts aufs Ziel.

Mit dem HErrnmahl ist für das Volk des Neuen Bundes ebenso der Hoffnungsgedanke verknüpft
wie für das Volk Israel in Ägypten mit dem Passah. "Denn sooft ihr von diesem Brot esset und
von diesem Kelch trinket, verkündigt ihr des HErrn Tod, bis daß Er kommt" (1. Korinther 11, 26).

Jesus mahnt die Seinen: "Lasset eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen und seid
gleich den Menschen, die auf ihren HErrn warten!" (Lukas 12, 35.)

Es gilt, feste und gewisse Tritte zu tun auf dem steilen Pfad zum Ziel. Der Wanderstab in der
Hand ist das Bild des getrosten und entschlossenen Glaubens, der nur von einem Gedanken
beherrscht ist: "Fortgerungen, durchgedrungen bis zum Kleinod hin" Die Kinder des Neuen
Bundes sind Hinwegeilende: "Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt!" Das HErrnmahl hat
vor allem auch eine eschatologische Bedeutung. "Eschatologisch", das bedeutet: im HErrnmahl
ist die Zukunft der Gemeinde bereits gegenwärtig. Diese Seite des HErrnmahls ist von den
Reformatoren durchweg übersehen worden; einzig Calvin macht eine schwache Andeutung
davon. In den sogenannten "Arnoldshainer Thesen" (1958), die durch eine Kommission von
evangelischen Theologen aller Konfessionen in jahrelanger Bemühung um das rechte
Verständnis des HErrnmahls erarbeitet worden sind, heißt es in der ersten These: "Im
Abendmahl lädt der erhöhte HErr die Seinen an Seinen Tisch und gibt ihnen jetzt schon Anteil an
der zukünftigen Gemeinschaft im Reiche Gottes." Das Hoffnungsgut der Gemeinde Jesu wird
bezeugt durch die Feier des HErrnmahls. Bei dieser Feier hat für den Glauben "die Zukunft schon
begonnen", so wie beim ersten Passahmahl in Ägypten vor dem geistigen Auge der
"Hinwegeilenden" die heißersehnte Freiheit und die verheißene Heimat stand.

Das Fest der ungesäuerten Brote.

In jener letzten Nacht in Ägypten herrschte Eile. Keine Zeit blieb zum Herrichten von Speise und
Wegzehrung. Darum sollte ungesäuertes Brot gebacken werden. Was der Eile wegen geboten
war, hat eine starke sittliche Bedeutung. Gärung ist Sinnbild der Zersetzung und Verderbnis. Das
ungesäuerte Brot soll dem Volk eindringlich die Mahnung ins Herz schreiben: "Ihr sollt heilig sein,
denn Ich bin heilig." Daher mußten die Wohnungen der Israeliten vor der Passahfeier peinlich
gesäubert werden; keine Spur von Sauerteig oder von gesäuertem Brot durfte in der Wohnung
gefunden werden. Sieben Tage sollten die Feiernden ungesäuertes Brot essen, sogenannte
Matzen. Darum wird die Passahfeier auch das "Fest der ungesäuerten Brote" genannt.

Für die Kinder Gottes des Neuen Bundes gehen die Tage der süßen Brote durch ihr ganzes
Leben. Nach des Apostels Mahnung darf in ihrem Leben "der Sauerteig der Bosheit und Argheit"
nicht geduldet werden; vielmehr soll "der Süßteig der Lauterkeit und der Wahrheit" Kennzeichen
ihres neu gewordenen Lebens sein (1. Korinther 5, 8). In dem Wort "Lauterkeit" ist der Gedanke
von "Sonnenglanz" aufgenommen: was nicht im hellen Licht Gottes bestehen kann, das zerstört
die Gemeinschaft mit Christus und mit den Seinen. Nur in der "Wahrheit" kann diese
Gemeinschaft aufrechterhalten werden. Vor Gott kann kein Schein und Lügenwesen bestehen,
kein Verdecken und Verstecken, sondern nur Aufrichtigkeit und Lauterkeit.

Unter der Deckung des Blutes.

Das Passah bildet eine eigene Opfergattung. Es ist nicht unter die verschiedenen Opferarten
unterzubringen, von denen wir in 3. Mose 1 7 lesen. Nur das Blut des Passahlammes bewirkte
die Verschonung. Das Blut an den Türpfosten und an der Oberschwelle brachte für die Bewohner
des Hauses Geborgenheit vor dem Gerichtsengel Gottes.

Die Passahfeiern sind durch Christus ein für allemal beendet. Die Passahfeier ist durch das
HErrnmahl auf eine höhere Stufe erhoben. Aus der Verheißung ist Erfüllung geworden, aus dem
Schattenbild Wirklichkeit. Darum ist das HErrnmahl nicht bei einer beliebigen Gelegenheit,
sondern im Anschluß an das Passahmahl eingesetzt worden. Jesus ist in Seiner Person das
wahre Passahlamm. Der Schattendienst des Alten Bundes ist in Jesus zu seinem Ende
gekommen. Der Evangelist Johannes findet eine eindrückliche Beziehung vorn Passahlamm des
Neuen Bundes in der Erfüllung des Wortes: "Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen!" (2. Mose 12, 46;
Johannes 19, 36.) Das war für ihn Trost und Glaubensstärkung: Jesu Opfergang stand unter
Gottes Ratschluß bis in den kleinsten Umstand hinein. Damit war seine Ewigkeitsbedeutung
erwiesen.

Eine neue Zeitrechnung.

Das Passah bildete einen Wendepunkt in der Geschichte Israels. Fortan ist es "das Volk des
HErrn": "Ihr sollt Mein Eigentum sein vor allen Völkern" (2. Mose 19, 5), und der Psalmsänger
bekennt im Namen des Volkes vor Gott: "Wir sind Dein Volk und Schafe Deiner Weide" (Psalm
79, 13; 95, 7; 100, 3).

Darum beginnt mit dem ersten Passah für Israel eine neue Zeitrechnung: "Der gegenwärtige
Monat soll euch als Anfangsmonat gelten; der erste soll er euch unter den Monaten des Jahres
sein." Geradeso ist es mit dem Heilsopfer Jesu am Kreuz auf Golgatha. Wenn ein Mensch die
Erlösung durch Christus im Glauben erfährt, tritt in seinem Leben eine Wende ein. "Das Alte ist
vergangen; es ist Neues geworden" (2. Korinther 5, 17).

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt, eine neue Zeitrechnung. Eine neue Geschichte hebt an, die
dem Leben des erlösten Menschen Sinn, Inhalt und Ziel verleiht. Gleichwie Abrahams
Geschichte in heilsmäßigem Sinne erst beginnt mit der göttlichen Berufung, der er im
Glaubensgehorsam folgte, so beginnt die eigentliche Geschichte eines Gotteskindes damit, daß
es im Glauben eine volle Kehrtwendung macht und der himmlischen Berufung Gottes in Christus
Jesus folgt: "Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich nach dem, das da vorne ist, und
jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod der himmlischen Berufung Gottes in
Christus Jesus" (Philipper 3, 14).

Im HErrnmahl bezeugen die Kinder Gottes, daß Christus ihr Leben ist und daß sie in der Kraft der
himmlischen Speise, des Lebensbrotes in Christus, auf dem Wege zum Ziele sind. Als
"Menschen unterwegs" haben sie nur eine Leidenschaft: das Ziel zu erreichen, und ihr Ziel heißt
Jesus!
Mit Adolf Krummacher (1824 1884) singen sie:

"Stern, auf den ich schaue,


Fels, auf dem ich steh,
Führer, dem ich traue,
Stab, an dem ich geh,
Brot, von dem ich lebe,
Quell, an dem ich ruh,
Ziel, das ich erstrebe
alles, HErr, bist Du!"

Am Tisch des HErrn.

Das Passahmahl vereinte die Familie zu einem Gastmahl Gottes. Die Geborgenheit unter der
Deckung des Blutes, der hoffnungsvolle Blick in die Zukunft, auf ein Leben in der Freiheit, gab
dem Mahl in den Hütten Israels festliches Gepräge. So bedeutet auch das HErrnmahl ein
Festmahl, bei dem die Familie Gottes vereint ist "am Tisch des HErrn". Wir empfangen am Tisch
des HErrn Gottes Gabe, wir sind Empfangende. Nur als Beschenkte können wir wiederum Gott
das "Lobopfer der Lippen" darbringen, indem wir Seinen Namen bekennen, Ihm Lob und
Danklieder singen. Auch darin liegen die Berührungspunkte zwischen dem Passahmahl und dem
HErrnmahl, wie Ernst Moritz Arndt (1769 1860) es froh bezeugt.

"Kommt her, ihr seid geladen,


der Heiland rufet euch,
der süße HErr der Gnaden,
an Huld und Liebe reich;
der Erd und Himmel lenkt,
will Gastmahl mit euch halten
und wunderbar gestalten,
was Er in Liebe schenkt.

Kommt her, verzagte Sünder,


und werft die Ängste weg;
kommt her, versöhnte Kinder,
hier ist der Lebensweg!
Empfangt die Himmelslust,
die heilige Gottesspeise,
die auf verborgne Weise
erquicket jede Brust.

Drum jauchze, meine Seele!


Drum jauchze deinem HErrn!
Verkünde und erzähle
die Gnade nah und fern,
den Wunderborn im Blut,
die sel'ge Himmelsspeise,
die auf verborgne Weise
dir gibt das höchste Gut."

2. DIE EINSETZUNG
Das HErrnmahl ist sichtbares Verheißungswort.

"Mich hat herzlich verlangt, dies Passahlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide!" (Lukas 22,
15.) Mit diesen Worten zeigt Jesus Sein inneres Empfinden bei dem letzten Mahl mit Seinen
Jüngern. Er weiß, daß jetzt Seine Sendung sich erfüllt und daß Sein Tod die Welt erlösen wird.
Demgegenüber ist die Erlösung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft nur ein schwaches
Schattenbild. Jesus ist sich des qualvollen und schmachvollen Ausgangs Seines Erdenlebens
gewiß. Doch jetzt bewegt Ihn gegenüber dem bevorstehenden Todesleiden der Gedanke des
Sieges. Er nimmt schon vorweg die vollbrachte Erlösung und die Frucht Seines Todesleidens:
Seine bluterkaufte Gemeinde. Der alte Bund geht zu Ende und macht einem neuen Bunde Platz,
der zur Vollendung bringt, "was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war" und
wofür der Bund vom Sinai nur Abschattung und Hinweis war. Indem Jesus das HErrnmahl
einsetzt, bekundet Er feierlich den neuen Gnadenbund Gottes mit Seinem Volke.

Es ist göttliche Art, alles Große still und geräuschlos ins Werk zu setzen. Ganz unmerklich leitet
Jesus vom Passahmahl über zu dem neuen Bundeszeichen, dem HErrnmahl. Doch ist der
Aufmerksamkeit der Jünger nicht entgangen, daß sich in diesem Augenblick etwas Neues vollzog
und ein Altes abgetan wurde. War ihnen auch das Kreuzesgeheimnis noch nicht geoffenbart, war
ihnen die Bedeutung von Brot und Kelch als Zeichen und Sinnbild Seines Kreuzesleidens und
Blutvergießens noch nicht erschlossen, so prägten sich doch das Handeln und die Worte Jesu
unverlöschlich ihrem Gedächtnis ein. Später würde der Heilige Geist ihnen das volle Verständnis
für das Zeichen des Neuen Bundes schenken. In den nachfolgenden Abschiedsreden Jesu ist
nicht mehr unmittelbar Bezug genommen auf das HErrnmahl, aber sie sind angefüllt mit dem
Neuen, das ihrer wartete als Frucht Seiner Versöhnung der Menschen mit Gott. Es waren
Abschiedsworte, durch die ihre Herzen innig mit dem Meister verbunden wurden. Und wenn auch
ihre Herzen durch die sich überstürzenden Ereignisse verwirrt und ratlos wurden zu Pfingsten
sollte ihnen alles klar werden. Ohne göttliche Erleuchtung ist der Ratschluß Gottes zu unserer
Erlösung nicht zu verstehen. Doch ein deutendes Zeichen jenes Geschehens, wodurch Himmel
und Hölle in Bewegung gesetzt wurden, ist das HErrnmahl, das letzte Vermächtnis Jesu auf
Erden an Seine Jünger. In diesem Zeichen wird der sühnende Opfertod Jesu verkündet. Das
HErrnmahl ist ein sichtbares Wort Gottes. Es sagt den glaubenden Teilnehmern: "Ihr seid mit
Gott versöhnt!"

Im HErrnmahl ist vergegenwärtigt, was auf Golgatha geschah.

Der Bericht über die Einsetzung des HErrnmahls liegt uns in den drei ersten Evangelien vor .
Matthäus 26, 26 28; Markus 14, 22 24; Lukas 22, 19. 20. Außerdem findet er sich 1. Korinther 11,
23 25, wie er dem Apostel Paulus wohl in besonderer Offenbarung kund wurde:

"Der HErr Jesus in der Nacht, da Er verraten ward, nahm das Brot, dankte und brach's und
sprach: »Nehmet, esset, das ist Mein Leib, der für euch gegeben wird; solches tut zu Meinem
Gedächtnis, ebenso auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: »Dieser Kelch ist das neue
Testament in Meinem Blut; solches tut, sooft ihr's trinket, zu Meinem Gedächtnis.« Denn sooft
ihr von diesem, Brot esset und von diesem Kelch trinket, verkündigt ihr des HErrn Tod, bis daß Er
kommt."

Sooft wir das HErrnmahl feiern, soll uns jedesmal vergegenwärtigt werden, was am Kreuz auf
Golgatha geschah. Dies Mahl ist damit von andern Mahlzeiten unterschieden und in zeichenhafte
Beziehung gestellt zu dem Sühntod Jesu.

Der Verräter nahm nicht am HErrnmahl teil.

Auffallend könnte es erscheinen, daß der paulinische Bericht mit den Worten eingeleitet wird: "In
der Nacht, da Jesus verraten ward." Offenbar ist beabsichtigt, damit hervorzuheben, daß der
Verrat des Judas eine Tat war, zu der er bereits unterwegs war, als Jesus nach dem Passahmahl
das heilige Gedächtnismahl einsetzte. Als Israelit hatte Judas Ischarioth ein Recht, am
Passahmahl teilzunehmen; aber das HErrnmahl stand ihm nicht zu. Johannes, der nächste
Augenzeuge, hat den Vorgang genau beobachtet und hat ihn Kapitel 13, 21 30 geschichtlich treu
und ausführlich wiedergegeben; er sagt, daß Judas nach dem Essen des Bissens, den Jesus ihm
gereicht hatte, "alsbald hinausgegangen" ist. Dieser Bissen aber gehörte noch dem Passahmahl
an; beim anschließend eingesetzten heiligen Gedächtnismahl bediente man sich keiner
Schüssel. Wenn man meint, aus dem Bericht des Lukas auf die Anwesenheit des Verräters beim
HErrnmahl schließen zu können, so übersieht man, daß Lukas kein Augenzeuge war und er
begreiflicherweise nicht immer genau die Zeitfolge der Ereignisse festlegen konnte. Das tut
seinem Bericht keinen Abbruch, denn im Eingang seines Evangeliums sagt er, daß er mit Fleiß
alles erkundet habe, weshalb seine sorgfältigen Mitteilungen Anspruch auf sachliche
Wahrhaftigkeit machen können. Jesus selbst braucht beide Male, beim Brot und beim Kelch, die
Worte "für euch", wozu Luther bemerkt: "Der ist recht würdig und wohl geschickt, wer den
Glauben hat an diese Worte: »Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden.«
Wer aber diesen Worten nicht glaubt oder zweifelt, der ist unwürdig und ungeschickt; denn das
Wort »für euch« fordert eitel gläubige Herzen." Judas erfüllt diese Forderung eines gläubigen
Herzens nicht. Somit ist schon aus inneren Gründen die Annahme abzulehnen, daß Judas bei
der Einsetzung des Gedächtnismahles noch zugegen gewesen sei. Wenn man mit neueren
Auslegern annehmen würde, daß Jesus die Brotworte zu Beginn des Passahmahles, die
Kelchworte jedoch erst nach dessen Beendigung gesprochen habe, so hätte Judas zwar das Brot
mit gebrochen, aber nicht den Kelch getrunken. Diese Auffassung findet in der Schrift keine
Stütze.

Die Einsetzungsworte.

"Nehmet, esset, das ist Mein Leib, der für euch gebrochen wird." Wenn das Brot durch das Wort
„ist“ mit dem Leib Jesu gleichgestellt wird, so muß dies, wie sooft in der Schrift, auch hier im
übertragenen Sinne verstanden werden. Ohnehin gibt es das Wort ist in der aramäischen
Sprache Jesu nicht, sondern es gehört den Sprachen an, in die Jesu Worte später übersetzt
worden sind. Aber davon abgesehen Jesus hat sich oft ähnlicher Gleichungen bedient, ohne
mißverstanden zu werden, beispielsweise in Seinen Selbstzeugnissen: "Ich bin das Brot des
Lebens", "Ich bin der Weinstock" usw. Wenn wir jemandem das Bild eines unserer Vorfahren
zeigen mit den Worten: "Das ist mein Großvater", so wird doch niemand auf den Gedanken
kommen, daß Bild und Person wesensgleich, ein und dasselbe sei! Das Brot beim HErrnmahl
bleibt an sich Brot wie anderes Brot; aber es tritt bei dieser Handlung in sinngemäße Beziehung
zum Leib des HErrn. Das Brot ist bildhafte Rede. In dieser Handlung Jesu wird Sein
Selbstzeugnis "Ich bin das Brot des Lebens" übertragen auf Seinen Sühnetod, da Er Leib und
Leben in den Tod gegeben hat für uns. Der Streit zwischen Luther und Zwingli um das "ist" war
gegenstandslos. Es handelt sich gar nicht um das stoffliche Brot, um den stofflichen Wein; diese
irrige Auffassung gipfelt im Messopfer der römischen Kirche, wo alles auf eine Verwandlung von
Brot und Wein in den Leib und in das Blut Christi ankommt. Alle diese konfessionellen
Streitfragen um das "ist", um die Substanz von Brot und Wein, haben im Neuen Testament keine
Begründung. Das Brot und der Wein sind Gleichnisbilder, sind Zeichen für die Dahingabe des
Sohnes Gottes in den Tod, durch den wir erlöst werden von der Sünde Schuld und Macht und
durch den wir zugleich das ewige Leben erlangen freilich nur in der Glaubensverbindung mit
dem Gekreuzigten und Auferstandenen, nicht in Brot und Wein an sich.

"Für euch!"

Durch die Worte "für euch" wird das HErrnmahl zu einem frohen Bekenntnismahl: "Jesus, Du
starbst für mich!" Wenn wir mit eigener Hand das Brot brechen, so durchzittert uns der Gedanke,
daß Jesus in Seinem Opfertod unsere Stelle eingenommen hat und unsern Tod gestorben ist,
wodurch Er uns zu Seinem Eigentum erkauft hat. Kann Er inniger zu uns sprechen? Bekannt ist,
daß der später so gesegnete Gottesmann Eduard Graf von Pückler (1853 1924) bei einer
HErrnmahlfeier, an der er als junger Justizreferendar teilgenommen hatte, jedoch nur als
Zuhörer, durch dieses bei der Feier häufig wiederholte "für euch gebrochen", "für euch
vergossen“, innerlich gepackt und herumgeholt wurde auf den Weg der Jesusnachfolge. Möge
auch uns dieses Wort "für euch" zu Herzen gehen!

Einer für alle!

Schärfer noch kommt der Gedanke des stellvertretenden Sühneleidens Jesu zum Ausdruck beim
Kelch: "Dieser Kelch ist das neue Testament in Meinem Blut" (1. Korinther 11, 25) oder, wie es
Matthäus 26, 28 heißt: "Das ist Mein Blut des neuen Testaments, das vergossen wird für viele zur
Vergebung der Sünden." Das heißt: das neue Testament tritt durch das für uns vergossene Blut
Jesu in Geltung und Kraft. Wo ein Neues eingesetzt ist, da ist ein Altes vorausgegangen und nun
außer Kraft gesetzt worden, nämlich der sinaitische Gesetzesbund mit seinem Fluchwort für alle
seine Übertreter (Galater 3, 10). Einst war auch dieser Gesetzesbund durch Blutvergießen in
Kraft getreten: „Alles Volk sprach: »Alles, was der HErr gesagt hat, wollen wir tun.« Da nahm
Mose das Blut und besprengte damit das Volk und sprach: »Sehet, das ist das Blut des Bundes,
den der HErr mit euch macht.«“ (2. Mose 24, 8.) Damit war dieser wechselseitige (alte) Bund fest
geworden und konnte nicht einfach aufgehoben werden. Die unzähligen Opfer des Alten Bundes
hatten keinerlei sühnende Kraft und konnten keine Sünde wegnehmen und tilgen. Alles blieb
beim alten. Nun aber ist der große feierliche Augenblick gekommen, da dieser Alte Bund mit
seinem Fluchwort verschwindet. Jesu heiliges Blut hat sühnende Wirkung. Einer tritt für alle ein,
und in göttlicher Vollmacht erklärt Er: "Dies ist das Blut des neuen Testaments für viele zur
Vergebung der Sünden."

Das Grundwort des neuen Bundes heißt: Gnade.

Beachten wir, daß Jesus keine Bedingung an den Empfang Seines Heils stellt. Das Grundwort
des neuen Bundes heißt: Gnade! "Wir werden geschenkweise (Luther: "ohne Verdienst") gerecht
durch Seine Gnade" (Römer 3, 24). Bedingungsloses Heil! Jede noch so kleine Bedingung hätte
den neuen Bund bereits in seinem Ansatz aufgelöst. Eigentlich ist in diesem Zusammenhang die
Bezeichnung "Bund" irreführend. Nicht von einem Bunde, der wechselseitig ist und auf einem
Vertragsabschluß beruht, redet Jesus in den Einsetzungsworten des HErrnmahls, sondern von
einem Testament, also von einer einseitigen, allein vom Erblasser bestimmten Verfügung. Das
gebrauchte Wort (diatheke) bedeutet neutestamentlich "nie einen Bund im Sinne eines
wechselseitigen Vertrags, sondern immer nur Verfügung, Anordnung, eine einseitige Setzung"
(Theodor Zahn); "der Begriff des Bundes ist geschwunden, und der eines Testaments ist an seine
Stelle getreten" (Cremer, Neutestamentliches Wörterbuch). Jesus bietet ein Heil an aus Gnaden,
wie es der verlorene und im Grund seines Wesens verderbte Sünder braucht, mit einem Heil, das
an Bedingungen geknüpft wäre, könnte er nichts anfangen; er kann ja nicht aus seiner Haut
heraus. Im HErrnmahl hat Jesus feierlich "das neue Testament in Seinem Blut" verkündigt. Jede
HErrnmahlfeier ist eine Kundmachung der bedingungslosen, freien Gnade, durch die uns Gottes
Huld und Wohlgefallen in Christus ohne menschliche Gegenleistung zuteil geworden ist.

Aus Gnaden! Hier gilt kein Verdienen,


die eignen Werke fallen hin.
Er, der aus Lieb im Fleisch erschienen,
hat diese Ehre zum Gewinn,
daß uns Sein Tod das Heil gebracht
und uns aus Gnaden selig macht.
Aus Gnaden! Dieser Grund soll bleiben,
solange Gott wahrhaftig heißt.
Was alle Knechte Jesu schreiben,
was Gott in Seinem Wort anpreist,
worauf all unser Glaube ruht,
ist Gnade durch des Lammes Blut.
Christian Ludwig Scheidt (1709 - 1761)

Vergebung schafft eine Neuordnung des Lebens.

In der Matthäusstelle ist das Heilsgut des neuen Testaments gewirkt durch das Blut Christi
bezeichnet als "die Vergebung der Sünden". Damit hängt es zusammen, daß von der Schrift das
HErrnmahl stets unter den Gesichtspunkt des Todes Christi gestellt wird. Der Sühnetod Jesu ist
die Grundlage und der Inbegriff alles Heils, aller Vergebung. Vergebung der Sünden ist
gleichzeitig Gemeinschaft mit Gott; sie bedeutet im Grunde Gotteskindschaft. Von dieser neuen
Lebensmitte geht eine Neuordnung des ganzen Lebens aus. Mag man für unser begriffliches
Denken Rechtfertigung und Heiligung gesondert betrachten, so ist doch lebensmäßig beides
unzertrennbar beisammen. Christus erlöst von den Sünden, aber nicht in der Sünde. Bei der
Vergebung der Sünden klingt der Gedanke der Heiligung immer mit. Ohne Erkenntnis und
Bekenntnis der Sünden, ohne Bruch mit der Sünde, ohne innere Abkehr von ihr gibt es keine
Vergebung der Sünden. In der Grundsprache bedeutet das Wort für Vergebung (aphesis)
eigentlich ein Loslassen, nämlich aus dem Bann der Sünde, aus Schuldhaft und Verstrickung der
Sünde. Befreiung von der Schuld, Entlastung des Gewissens ist erstrangig; aber eng damit
zusammen hängt die Entmachtung der Sünde. In diesem Sinne kann man sagen, daß Heiligung
ständiges Bleiben in der Vergebungsgnade ist. Man muß etwas wissen von einem offenen
Himmel über sich, von dem freien Zugang zu Gottes Gnadenthron, um vor Gott ein geheiligtes
Leben führen zu können. Man muß sich beschlagnahmt wissen für Jesus.

Soweit ein vorläufiger Auszug aus dem Buch DAS HERRNMAHL von R. Schmitz.

---

esus Christus: ganz Gott und ganz Mensch

Walter Rominger

Jesus ist Gott

Das Neue Testament geht zum einen vom Dasein Christi vor Grundlegung der Welt in Gottes
Ewigkeit (Johannes 1,1; Philipper 2,6; 1. Korinther 8,6; Galater 4,4; Römer 8,3) aus (Präexistenz)
und zum andern davon, daß Jesus Gott ist. An drei Stellen wird ausdrücklich die Gottheit Jesu
bekannt (Johannes 1,1; Johannes 20,28; Römer 9,5), und zwar nicht nur die Gottheit des
Auferstandenen, sondern auch die des Präexistenten (Johannes 1,1: »Am Anfang war das
Wort.«). Damit kennt bereits das Neue Testament die Gottheit Jesu von allem Anfang an und
geht von seiner ewigen aus. Dadurch wird gleichzeitig die Vorstellung abgewiesen, Jesus sei erst
durch die Taufe bzw. die Auferweckung göttlicher Natur geworden und zum Sohn Gottes
adoptiert worden (Adoptianismus), vordem sei er nur Mensch gewesen. Ebenso entschieden
widerstreitet dies der Anschauung, die im theologischen Liberalismus teilweise vertreten wird,
Jesus sei nur Mensch gewesen. Diese Sicht hat allerdings Vorläufer im Nestorianismus der alten
Kirche, der, wie dessen Namengeber Nestorius, bestritt, Maria sei Gottesgebärerin, womit die
Gottheit Jesu nicht mehr festgehalten werden konnte. Das dritte ökumenische Konzil in Ephesus
hat 431 n. Chr. den Nestorianismus als Irrlehre verworfen. Die Zeugung Jesu aus dem Heiligen
Geist (Jungfrauengeburt, siehe Matthäus 1,18ff.; Lukas 1,26ff.) ist die geschichtliche Weise, wie
Gott im Sohn in die Welt kommt.

Doch mit derselben Eindeutigkeit, mit welcher das Neue Testament die Gottheit Jesu vertritt, hält
es auch die ganze Menschheit Jesu fest. Früh schon gab es die Ansicht, Jesus sei gar kein
Mensch aus Fleisch und Blut gewesen(Gnosis), sondern habe lediglich einen Scheinleib gehabt
(Doketismus, von dokeo = scheinen). Doch in besonders deutlicher Weise hält gerade Johannes,
welchem Ausleger schon eine Nähe zur Gnosis nachgesagt haben, am tatsächlichen Eingehen
Christi in diese Welt fest (Johannes 1,14: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und
wir sahen seine Herrlichkeit«; 1.Johannes 1,1.2a: »Das da von Anfang war, das wir gehört
haben, das wir gesehen haben mit unseren Augen, das wir beschaut haben und unsere Hände
betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen
und bezeugen.«).

Daß Jesus Gott und Mensch ist – und zwar beides ganz und gar, nicht nur teilweise –, das ist
demnach nicht erst eine Erfindung von Kirchenvätern und Konzilien, sondern bereits im Neuen
Testament enthalten. Freilich bedurfte es immenser theologischer Arbeit an den
neutestamentlichen Aussagen, bis dies lehrmäßig geregelt war.

Jesus: wesenseins mit dem Vater

Wenn Jesus wahrer Gott ist, dann heißt dies auch, daß er wesenseins mit dem Vater ist. Diese
Wesenseinheit leitet sich mit Notwendigkeit aus der Offenbarungseinheit her, welche besagt, Gott
offenbart sich in dem geschichtlichen Jesus. »Wer mich sieht, sieht den Vater« (Johannes 14,9),
sagt Jesus. Zum Heil offenbart er sich nur in Jesus. Deshalb wird er auch, wie Gott, als der
»Herr« (Kyrios) bekannt. Wenn Gott in Jesus diese Erde betritt, so heißt dies, daß Gott Mensch
wird. In Jesus wird Gott Mensch, ohne damit aufzuhören, Gott zu sein. Das Nizänische
Glaubensbekenntnis, das als ökumenisches Symbol von allen Großkirchen weltweit anerkannt
wird, hat in seinem Trinitätsdogma die Wesenseinheit Jesu mit Gott sachgemäß in die Worte
gefaßt: »Wahrhaftiger Gott aus wahrhaftigem Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit
dem Vater.«

»Wahrer Mensch und wahrer Gott«

Jesus ist göttlicher, aber er ist genauso menschlicher Natur. Der Ausdruck Natur mag etwas
irreführend sein. Er ist kein Ausdruck des Neuen Testaments. Jesus ist »eines Wesens mit dem
Vater«. Und doch ist die ganze Gottheit im Menschen Jesu, und damit Gott vollkommen in ihm
gegenwärtig. All die zahlreichen Versuche im Laufe der Kirchengeschichte, die Gottheit und
Menschheit Jesu in Übereinstimmung zu bringen, sind häufig nicht recht gelungen. Deshalb
wurde so manches Mal nur der eine Aspekt auf Kosten des anderen berücksichtigt. Wurde die
Gottheit Jesu stark betont, verschwand die volle Menschheit Jesu. Demnach wäre Christus in
eine einzige, die göttliche Natur verwandelt worden, so daß in ihm nicht zwei Naturen, die
göttliche und die menschliche, verbunden wären (Monophysitismus; Monophysiten sind die
koptischen und armenischen Christen.). Wenn jedoch die menschliche Seite Jesu stark
herausgestellt wird, wie etwa bei den bereits erwähnten Nestorianern, verschwindet die Gottheit
Jesu mehr und mehr (Nestorius wurde zwar exkommuniziert, dennoch betrieben die Nestorianer
eine weitreichende Mission und existieren bis heute als selbständige Kirche, die Mitglied im
Weltrat der Kirchen in Genf ist).

Auch das ökumenische Konzil von Chalcedon (am Bosporus), 451 nach Christus, hat keine
logische Lösung des Problems der zwei Naturen Christi mit seinem Bekenntnis gebracht, welche
ja auch nicht möglich ist. Das Chalcedonense hält (gegen Eutyches) vielmehr fest, Jesus
Christus sei eine Person in zwei Naturen, welche »unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und
unteilbar« seien. Es löst das Persongeheimnis Christi nicht auf, weist aber diejenigen
Vorstellungen zurück, welche die Zweiheit der Naturen und die Einheit der Person Christi nicht
festzuhalten vermögen.

Bei der Aussage, Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch, handelt es sich um Gegensätze,
die nicht ausgeglichen werden können, von denen aber jede Aussage sich begründen läßt und
daher Anspruch auf Gültigkeit hat. In der Person Jesu ist das vereinigt, was unausgleichbar
wesensverschieden ist, daß er nämlich wahrer Gott und wahrer Mensch ist, wie wir dies
bekennen (Nicänisches Glaubenbekenntnis) und auch besingen (»Wahr’ Mensch und wahrer
Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod«, aus: »Es ist ein Ros entsprungen«, EG
30,3 = EKG 23,3).

Nur der gottgleiche Jesus erlöst

Weshalb aber ist es so wichtig, das Dogma der zwei Naturen Christi, er sei wahrer Gott und
wahrer Mensch, festzuhalten? Zum einen, weil dies der Befund des Neuen Testaments eindeutig
nahelegt. Aber allein damit können wir uns noch nicht zufriedengeben, denn damit wäre letztlich
die Frage nicht in ihrer eigentlichen Bedeutungsschwere beantwortet. Jesus muß Gott sein, weil
nur Gott die Sünde aus der Welt schaffen kann, nicht aber ein noch so vorbildlicher Mensch.
Anselm von Canterbury (1033–1109) ist dieser Frage, wie bereits der Titel seiner bekannten
Schrift »Warum Gott Mensch wurde« (Cur Deus homo) zeigt, nachgegangen. Andererseits mußte
Jesus ganz Mensch werden, sich erniedrigen, ohne aufzuhören, Gott zu sein, um für fremde
Schuld zu leiden und zu sterben. Gott kann nur seiner menschlichen Natur nach sterben, ist
ansonsten aber unsterblich.

Nicht handeln wie Jesus, sondern glauben an Christus

Kirchliche Praxis der letzten Jahrzehnte und neuere theologische Entwürfe legen nahe, daß die
Gottheit Christi zugunsten der Menschheit Christi unterbetont ist. Damit besteht die Gefahr, in
einen Nestorianismus oder Adoptianismus abzugleiten, dadurch aber faktisch eine falsch
lehrende (häretische) Kirche zu werden, da beide Lehren als Irrlehren bereits von ökumenischen
Konzilien der (noch) ungeteilten Kirche verworfen wurden. Es geht darauf hinaus, nicht mehr an
Jesus als den Christus zu glauben, sondern wie Jesus zu handeln. Jesus ist Vorbild, aber nicht
mehr Glaubensgrund (Urbildchristologie). Dem theologischen Liberalismus, der mit Friedrich
Schleiermacher (1768–1834) begann, ist diese sogenannte Urbildchristologie eigen. Jesus hört
damit auf, der Erlöser zu sein, wobei er dies für Vertreter einer Urbildchristologie auch nicht zu
sein braucht, da diese, im Unterschied zur Heiligen Schrift und biblisch-reformatorischer
Theologie, nicht mehr von dem unermeßlichen Gewicht der Sünde ausgehen. Theologie, die auf
das »wahrer Gott« verzichtet, kann letztlich Erlösung nicht mehr vermitteln.

Machtlos gegenüber Religionen

Die Auseinandersetzung mit fremden Religionen macht eine eindeutige Position darin nötig, daß
Jesus der Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Denn was unterscheidet einen Jesus,
der an sich nur noch Mensch ist, grundlegend von einer Jesus-Verehrung, wie sie in anderen
Religionen auch vorkommt? Der Islam verehrt Jesus als einen Großen. Im Judentum gibt es
Versuche, Jesus in das Judentum zu integrieren (Schalom Ben Chorin, Pinchas Lapide).
Modernes Judentum und liberaler Protestantismus haben eine Gemeinsamkeit: Sie reduzieren
sich letztlich auf Humanismus.

Einem selbstbewußten Islam wird eine Kirche, die die grundlegende Lehre, wonach Jesus
Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, in ihren Lebensäußerungen nicht mehr vertritt, nur
noch wenig entgegenzusetzen haben. Denn wenn Jesus nur noch ein großer Mensch ist, aber
nicht mehr Gott, dann unterscheidet sich diese Vorstellung nicht mehr wesentlich von der
islamischen. Es sei zudem daran erinnert, daß ganz Nordafrika einmal christliches Stammland
war. Innerhalb weniger Jahrzehnte fiel dieses große Gebiet dem Islam zu. Das war nur deshalb
möglich, weil das Christentum kein gesundes mehr war. Außer daß die Christen miteinander
zerstritten waren, hielten sie vielfach nicht mehr zusammen, daß Jesus wahrer Gott und wahrer
Mensch ist; Jesus war nur noch Mensch. Könnte sich dann nicht eventuell schon in absehbarer
Zukunft in Europa Vergleichbares wiederholen, wenn doch ähnliche Voraussetzungen
herrschen?

Keine Abstriche

Über das Bekenntnis, Jesus der Christus, sei wahrer Gott und wahrer Mensch, kann man nicht
einfach großzügig hinweggehen. Wenn dies aufgegeben wird, wird der Lebensnerv des
Christseins getroffen. Zum einen wird die Erlösung des einzelnen Christen in Frage gestellt, zum
anderen wird einer der wesentlichen Unterschiede zu den Religionen eingeebnet. Christlicher
Glaube ist nicht einfach Religion, sondern Antwort auf die Religionen. Es läßt sich dann auch
nicht mehr aussagen, weshalb man Christ werden bzw. auch nur bleiben sollte, wenn sich
christlicher Glaube nicht mehr wesensmäßig von den vielfältigen religiösen Verehrungen
unterschiede.

---

Geboren von der Jungfrau Maria<

Von Dr. Hans Rohrbach

I.

In der Pfingstausgabe eines evangelischen Sonntagsblattes erschien vor einiger Zeit ein Artikel,
der eine Revision des Glaubensbekenntnisses empfiehlt, weil es Sätze und Behauptungen
enthalte, die für den modernen Menschen anstößig seien. Hierzu gehöre insbesondere der Satz:
"Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria." In Übereinstimmung mit
vielen evangelischen Theologen der letzten 100 Jahre hält der Verfasser jenes Artikels die
Empfängnis vom Heiligen Geist und die Geburt von der Jungfrau für biologische Abnormitäten,
sieht darin also nicht eine historische Tatsache, sondern nur einen gleichnishaften Hinweis für die
Offenbarung von Gottes Wahrheit. Wir Heutigen könnten, wie er meint, zwischen Fakten und
Gleichnissen genauer unterscheiden, und es ginge nicht an, den Gemeinden etwa durch das
Glaubensbekenntnis zuzumuten, legendäre Dinge für historisch zu halten. Hier berührt sich
jener Artikel mit einem anderen, der einige Zeit vorher in einer Weihnachtsnummer desselben
Sonntagsblattes veröffentlicht wurde und in dem behauptet wird, bei der Gottessohnschaft Jesu
handle es sich nicht um Zeugung, sondern um Sendung. Es ginge dabei nicht um eine
naturhafte, sondern um eine geschichtliche Kategorie. Die Aussagen über den "Sohn Gottes"
müßten sich streng in den Grenzen des Historischen und damit zugleich des historisch Möglichen
halten.

In meinen Augen ist es ein Zeichen der Zeit, daß seit einigen Jahren die Gemeinde von seiten
einer bestimmten theologischen Richtung sehr zielbewußt darüber belehrt wird, sie sei in ihrem
Glauben an Jesus Christus mehr oder weniger Legenden und Mythen aufgesessen. Die Berichte
der neutestamentlichen Bücher und vor allem die Formulierungen der Väter des
Glaubensbekenntnisses, denen wie man sagt keine tatsächlichen Ereignisse zugrunde liegen,
müßten neu interpretiert werden. Nun ist es gewiß richtig, daß die Bibel der Auslegung bedarf, ich
verweise nur auf Lukas 24, 27 und Apg. 8, 31, und es ist ebenfalls richtig, daß wir hierzu die
wissenschaftliche theologische Arbeit nicht entbehren können. Entscheidend aber ist, daß kein
Ausleger der Hilfe des Heiligen Geistes entraten kann; denn er allein, der Geist der Wahrheit,
kann uns in die volle Wahrheit leiten.

Deshalb ist es für uns, die Gemeinde, wesentlich, daß wir uns an den Rat des Apostels Johannes
halten: "Geliebte, glaubet nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott
stammen; denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen. Daran erkennt ihr den
Geist Gottes: jeder Geist, der bekennt, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, stammt von
Gott; und jeder Geist, der Jesus zunichte macht, stammt nicht von Gott, und das ist der Geist des
Widerchrists, von dessen Kommen ihr gehört habt, und jetzt ist er schon in der Welt." (1. Joh. 4, 1
3.)

Heute wird Jesus in mancherlei Weise zunichte gemacht: er sei nicht der Sohn Gottes, er habe
keine Wunder gewirkt, er sei nicht für unsere Sünden gestorben, er sei nicht auferstanden, er sei
nicht erhöht zur Rechten Gottes, er werde nicht wiederkommen.

Wenn uns das damit begründet wird, daß dies alles historisch nicht möglich sei und wir uns
streng in den Grenzen des Historischen halten müßten, so kann ich nur erwidern: Was heißt
denn "historisch möglich"? Es sind doch nicht Männer oder Menschen, die Geschichte machen,
sondern Gott ist es, der durch sein Tun Geschichte wirkt.

Was wir Menschen "Geschichte" nennen, ist bestenfalls Antwort auf Gottes Tun, im allgemeinen
aber nur der Versuch, mit dem, was Gott tut, ohne ihn oder gar gegen ihn fertig zu werden. Wir
verhalten uns weithin so, als ob es ihn nicht gäbe und wir allein auf uns gestellt seien. Gott sei
Dank, daß wir nicht uns selbst überlassen sind. Denn "so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er
seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern
das ewige Leben haben". Gott hat insbesondere in der übernatürlichen Zeugung Jesu Geschichte
gewirkt; deshalb ist diese Zeugung historisch möglich.

Ich halte es für erforderlich, daß der Verfälschung des Evangeliums und der Verleugnung der
Gottessohnschaft Jesu durch die existentiale Interpretation auch von der Gemeinde her
entgegengetreten wird. In diesem Sinne ist die vorliegende Schrift gemeint. Da ich aber kein
Theologe bin und daher nur bedingt zu einem solchen Thema sprechen darf, habe ich mir bei
Theologen Rat geholt.

Ich stütze mich in erster Linie auf Ausführungen von zwei wohlbekannten Männern, die ich schon
zu den Kirchenvätern der Gegenwart rechnen möchte: Wilhelm Stählin und Karl Barth, und tue im
Grunde nichts anderes, als daß ich deren Stimme hier zu Gehör bringe. (W.Stählin, Das
Bekenntnis der Kirche, 1954; K. Barth, Credo, 1935; Otto Rodenberg, Der Sohn, 1963).

II.

Das Glaubensbekenntnis bereitet unzähligen Gliedern in der Kirche und in den Gemeinden eine
schwere, kaum tragbare Not. Viele sprechen auch diese Not ehrlich aus oder zeigen es in ihrem
Verhalten, daß sie sich keineswegs an dieses Bekenntnis gebunden fühlen, daß ihr Glaube darin
gar nicht zum Ausdruck kommt, daß sie nicht begreifen, was mit diesem Bekenntnis gemeint ist.
Aber mit dieser gewiß sehr großen Not berühren wir nur die Oberfläche. Die eigentliche Not liegt
tiefer. Es wäre uns wenig damit gedient, wenn wir intellektuell wüßten, was im
Glaubensbekenntnis ausgedrückt wird, und wenn wir es theoretisch bejahen könnten, sofern wir
nicht einsehen, was es mit uns zu tun hat, warum wir es brauchen, warum es uns in unserem
praktischen Leben von heute betrifft.

Denn im Glaubensbekenntnis ist von dem die Rede, das uns alle zutiefst angeht, auch und
gerade den modernen Menschen von heute. Es hat mit den persönlichen Nöten des einzelnen zu
tun. Mit meinen Sorgen für mich selbst, für meine Familie, für mein Volk, mit meinem Leben in
der Familie, im Beruf, in der Welt. Es hat aber genauso zu tun mit den großen Fragen der Politik
und der Wirtschaft, mit dem Zusammenleben der Völker und der Menschen untereinander. Es hat
zu tun mit den unüberwindlichen Spannungen in Ost und West, mit der Zerschneidung unseres
Vaterlandes, mit der Mauer in Berlin. Es hat auch zu tun mit der Sinnentleerung unseres Lebens;
mit den Ansprüchen, die wir an das Leben stellen; mit der Lieblosigkeit, der wir überall begegnen;
mit der Gottlosigkeit unserer Zeit. Mit jeder Art von modernem Heidentum, mit den vielen
Mißverständnissen über Tod und Sterben.

Hier will uns das so "anstößige" Glaubensbekenntnis helfen und kann es uns helfen. Aber wie will
es das tun? Es will uns alle Nöte und Schwierigkeiten des einzelnen und der Völker überwinden
helfen, indem es uns zu der eigentlichen Wirklichkeit hinführt, von der es redet. Es will uns
abziehen von dem Vordergründigen, von der gegenständlichen, sichtbaren Welt, die uns so
gefangennimmt, und uns vor Gottes Angesicht stellen. Es will, daß wir uns und unsere Lage so
erkennen, wie er sie sieht, und es kann uns eben dadurch zurechtbringen. Es will und kann uns
die Begegnung mit der eigentlichen Wirklichkeit vermitteln, in der Gott lebt. Denn es redet von gar
nichts anderem als von dieser seiner Wirklichkeit. Es deutet die Wirklichkeit Gottes als die
eigentliche, die wesentliche, auf die es allein ankommt. Und es bekennt, daß die Wirklichkeit
Gottes erfahrbar ist, daß es Menschen gegeben hat und gibt, die sie erfahren haben. Und es
bezeugt, daß jeder von uns diese Wirklichkeit für sich erfahren kann. Davon redet das
Glaubensbekenntnis.

Und die Frage an uns, an die Kirche, an die Gemeinde ist: Wissen wir das, glauben wir das,
wagen wir das zu verkündigen? Wagen wir das gerade dein modernen Menschen zu sagen, der
mit dem Glaubensbekenntnis nichts anfangen kann? Damit wir dazu imstande sind, muß es
uns, die wir uns zur Gemeinde zählen, zuallererst deutlich sein, was es um das
Glaubensbekenntnis ist. Mehr noch: Wir müssen selber erst die Hilfe in Anspruch genommen
haben, die es uns geben will. Wir müssen selber die Wirklichkeit Gottes erfahren haben, von der
es redet und von der her die Hilfe kommt. Wie sollten wir das sonst anderen bezeugen und
unseren Glauben bekennen können? Deshalb rede ich davon als einer, der sich zur Gemeinde
zählt und sich an das Glaubensbekenntnis gebunden weiß.

Warum sprechen wir als Gemeinde im Gottesdienst das Glaubensbekenntnis? Für wen sprechen
wir es? Für Gott, zum Lobpreis Gottes. Es ist zu Gott hin gerichtet, nicht so sehr zu Menschen.
Der Psalm 66 macht das deutlich. Er beginnt mit der Aufforderung: "Jauchzet Gott, alle Lande;
lobsinget zu Ehren seinem Namen, rühmt ihn herrlich! Sprechet zu Gott: Wie wunderbar sind
deine Werke! Alles Land betet dich an und lobsinget dir, lobsinget deinem Namen."

Das ist es, was wir tun, wenn wir in der Gemeinde das Glaubensbekenntnis beten: Wir danken
damit Gott und loben ihn über allem, was er an uns Menschen getan hat. Deshalb heißt es auch
an der betreffenden Stelle in der Liturgie, wenn sie recht gehalten wird: "Lasset uns Gott das
Lobopfer unserer Herzen darbringen!" Damit ist das Glaubensbekenntnis gemeint. Und dieses
Lobopfer gilt dem Dreieinigen Gott: Gott dem Vater, Gott dem Sohne, Gott dem Heiligen Geist.
Die großen Taten Gottes sind es, die wir preisen; die immer gepriesen und besungen werden
sollen in der Gemeinde. "Jauchzet Gott, alle Lande, lobsinget seinem Namen." Und erst am
Schluß des Psalms 66 heißt es dann auch: "Kommet her, höret zu, alle, die ihr Gott fürchtet. Ich
will erzählen, was er an meiner Seele getan hat." Dann erst, nachdem der Lobpreis Gottes zu ihm
hin erklungen ist, nachdem vor ihm seine großen Taten gerühmt sind, sollen wir auch Menschen
davon erzählen, was er an uns getan hat. Erst in zweiter Linie ist das Glaubensbekenntnis an
Menschen gerichtet.
Hier aber liegt nun die Schwierigkeit, wenn wir zu Menschen vom Glaubensbekenntnis reden
wollen. Durch die ganze Geschichte der Christenheit hindurch ist es ein, menschlich gesprochen,
aussichtsloses Unternehmen, von dieser Wirklichkeit, in der Gott lebt, zu Menschen zu reden, die
ihr noch nicht begegnet sind. Da liegt die Schwierigkeit. Das Glaubensbekenntnis ist soweit es
sich an Menschen richtet der unmögliche Versuch, dem Blinden von der Farbe zu reden oder
einen Menschen, der Illusionen nachjagt, verständig zu machen. Wir können nur darum beten,
daß Gott uns beistehe, wenn wir einem anderen unseren Glauben bekennen, und er es uns dann
schenke, so zu bekennen, daß dem anderen das Tor zu der eigentlichen Wirklichkeit aufgetan
wird, zu dieser Wirklichkeit, die den Menschen zwar erschüttert, aber auch tröstet.

Nicht erst seit heute gibt es die Schwierigkeit, den Glauben in der rechten Weise zu bekennen.
Sie hat in der ganzen Geschichte der Christenheit bestanden, weil es so wenig Menschen gibt,
die der Wirklichkeit Gottes begegnen wollen, auch wenn sie an Gott glauben. Aber hier haben wir
nun die Verheißung Gottes auf unserer Seite. Er hilft dabei. Denn neben dem äußeren
Lebenslauf eines Menschen, den man biographisch festhalten kann, gibt es auch eine heimliche,
innere Geschichte des Menschen, die sich in der Berührung mit der Wirklichkeit Gottes ereignet.
Diese unsere heimliche Geschichte mit Gott verschweigen wir gern oder verdrängen sie. Und
dann erfahren wir:

"Da ich's verschwieg, zerfiel mein Gebein ob meines unablässigen Stöhnens; denn deine Hand
lag Tag und Nacht schwer auf mir, vertrocknet war mein Lebenssaft wie durch Gluten des
Sommers." (Psalm 32, 3. 4.)

Wir tragen als Menschen ein Organ in uns, durch das Gott zu uns reden kann. Die Bibel nennt es
das Herz. Aber es ist meist ein unbrauchbar gewordenes, ein verhärtetes Organ. Das Gewissen
ist der letzte Rest dieses Organs, das Gott zum Empfang seines Wortes in uns angelegt hat.
Aber wer hört darauf? Wer weiß überhaupt davon und versteht es? Das Gewissen ist bei den
meisten Menschen recht schwach. Es nimmt das Reden Gottes kaum noch wahr. Es will es oft
gar nicht hören, es wehrt es immer wieder ab. Gott muß es wecken, muß es rufen und mahnen.
Und das tut er, Gott sei Dank! Er tut es, indem er uns stört, indem er uns beunruhigt, indem er
uns erschüttert. In allem Leid, in jedem Unglück haben wir das Positive zu suchen, das, was Gott
uns dadurch sagen will.

Die Not, die vielen Menschen gerade das Glaubensbekenntnis macht, besteht nicht so sehr in
intellektuellen, verstandesmäßigen Schwierigkeiten; diese werden im allgemeinen nur
vorgeschoben, liegen an der Oberfläche. Die eigentliche Frage ist, ob wir bereit sind, uns von
Gott stören zu lassen, uns von Gott stellen zu lassen. Oder ob wir weiter ausweichen wollen.
Deshalb muß allen Versuchen der Entmythologisierung des Glaubensbekenntnisses, allen
Versuchen einer existentialen Interpretation entschieden entgegengetreten werden. Denn jeder
solche Versuch vernebelt Gottes Wirklichkeit, läßt sein Eingreifen in unser Leben als zweifelhaft
oder gar unmöglich erscheinen und hindert Gott, uns zu stören, uns zu beunruhigen. Jeder
solche Versuch hindert Menschen, zu Gott zu finden. Gott sei Dank, daß er uns immer wieder
stört, daß er uns immer wieder beunruhigt.

Hier sind wir nun an dem Punkt, wo sich die heimliche Geschichte des Menschen mit Gott und
das Glaubensbekenntnis berühren. Die Störung, die Gott uns schickt, sieht oft so aus, daß uns
ein anderer seinen Glauben an Jesus Christus bezeugt. Und darauf ruht die Verheißung, daß,
wenn solches geschieht, Gott durch seinen Heiligen Geist an uns wirken und uns zur Einsicht
und Umkehr bringen will. Ist das durch ihn geschehen, hat sich unser Glaube am Glau¬ben eines
anderen entzündet, so treten von selbst die verstandesmäßigen Probleme zurück. Sie werden zu
Fragen geringerer Ordnung, die nun vom Glauben her angegangen werden können und sollen.
Auch das gehört zur Aufgabe der Verkündigung. In dieser Richtung, Glaubenshindernisse
hinwegzuräumen, sehe ich insbesondere für mich selbst einen Auftrag.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle ein persönliches Erlebnis berichten. Ich selbst bin durch ein
Zeugnis der genannten Art von Gott getroffen worden. Ich könnte sonst nicht den Dienst der
Verkündigung tun, zu dem ich mich gerufen weiß. Ich tue ihn gerne, gerade für das
Glaubensbekenntnis, weil ich seine Wirkung an mir selber erlebt habe.

Es war vor dem letzten Kriege. Wir wohnten in Berlin, und meine Frau besuchte einen Bibelkreis,
der von Schwester Sigrid zu Eulenburg in unserer Gemeinde geleitet wurde. Meine Frau glaubte
damals noch nicht, doch ging sie regelmäßig hin. Sie war nämlich schon unruhig gemacht
worden. Wodurch? Durch unsere Kinder. Jeder, der Kinder hat oder gehabt hat, weiß, was und
wie Kinder fragen können, wenn das Interesse wach wird. Sie beobachten, hören in der Schule
davon, denken nach und kommen mit ihren Fragen. Und was tun wir Eltern dann? Wir weichen
aus: "Damit mußt du zum Religionslehrer gehen; frage den Pfarrer im Konfirmandenunterricht, ich
weiß es nicht."

So wurde meine Frau beunruhigt durch Fragen unserer Ältesten. Deshalb ging sie zur
Bibelstunde, weil sie sich informieren wollte, erst einmal für sich selbst eine Antwort suchte, um
dann auch dem Kinde antworten zu können. Und sie lernte viel dabei, aber doch das sei nur
nebenbei hier angemerkt sie machte auch die Erfahrung, wie schwer es ist, als Außenseiter in
einem Bibelkreis heimisch zu werden. Ich sage das nur zum Trost für viele, die eine ähnliche
Erfahrung machen. Man lasse sich dadurch nicht abschrecken, wenn man fremd in einen solchen
Kreis hineinkommt und merkt, wie andere schon viel weiter sind und klug daherreden, man selber
aber nichts weiß und stumm dabeisitzt. Man bleibe bei ihnen, es lohnt sich! Gott arbeitet an
jedem, der willig ist, zu hören und sein Wort aufzunehmen.

So ging es jedenfalls meiner Frau. Und als ich sie einmal von jenem Bibelkreis abholte, sagte sie
zu mir und es erschien mir wie eine beiläufige Bemerkung, sie selber glaubte es noch nicht :
"Du, die da glauben, daß Jesus Gottes Sohn ist!" Und bereits dieses schwache, indirekte Zeugnis
traf mich. Ich fühlte einen schmerzhaften Stich in meinem Innersten, den ich wie einen
körperlichen Schmerz empfand. Von heute aus kann ich rückblickend sagen, was wohl damals
geschah, was damals anfing. Gott hatte bei mir zu jener Operation angesetzt, die er in Hesekiel
36 uns allen verheißen hat: "Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer
Inneres legen. Ich werde das steinerne Herz aus eurem Leibe herausnehmen und euch ein
fleischernes (d. h. ein lebendiges) Herz geben. Meinen Geist werde euer Inneres legen und
machen, daß ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Gesetze treulich erfüllt." (Hes. 36, 26
27.) Diese Operation, mit der das verhärtete, unbrauchbare Organ in uns, das Gottes Wort nicht
mehr aufnehmen kann, herausgenommen und ein neues, gewandeltes, lebendiges Herz in uns
hineingelegt wird, hat Gott damals bei mir eingeleitet.

Es dauerte dann noch einige Jahre, bis ich es begriff, und mich ihm ganz und gar hingegeben
habe. Ich mußte erst lernen, daß es auf die völlige Hingabe an diesen Arzt ankommt. "Ich bin der
Herr, dein Arzt", sagt er (2. Mos. 15, 26). Noch heute bin ich bei ihm in Behandlung; man denke
nicht, daß ich entlassen sei. Ich will es auch bis zum Ende meines Lebens bleiben, auf daß er
alle Schäden an meinem inwendigen Menschen heile. Angefangen aber hat es damals, als mich
das Zeugnis von Menschen erreichte, die von sich her das Glaubensbekenntnis bezeugen
konnten. Und was mich traf, war gerade dieser Satz, der das Thema der vorliegenden kleinen
Schrift ist: Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria - Jesus, der Sohn
Gottes!

Ihm sei sie daher dargebracht als Lob und Dankopfer meines Herzens. Möge mein Dichten ihm
wohlgefallen! Ich freue mich des Herrn (Ps. 104, 34).

III.

Und nun will ich des näheren auf diese Aussage eingehen! Was heißt das, daß Jesus Christus
wahrhaftiger Mensch und wahrhaftiger Gott zugleich ist? Zunächst einmal bekennen wir damit
und beten Gott darüber an, daß er in Jesus von Nazareth Mensch wurde. Daß das Wort Gottes
Fleisch wurde, wie Johannes sagt (Joh. 1, 14). Oder wie es Paulus bezeugt (Phil. 2, 5 7): "Ein
jeglicher von euch sei so gesinnt, wie jesus Christus auch war; welcher, ob er wohl in göttlicher
Gestalt war, nahm er es nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst
und nahm Knechtsgestalt an. Ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein
Mensch erfunden." Um diese göttliche Entscheidung geht es: daß Gott sich entschloß, Mensch
zu werden, um unseretwillen.

Diese göttliche Entscheidung bildet den Inhalt unseres menschlichen Glaubens. Und das
Bekenntnis dazu als Antwort von uns auf Gottes Entschluß steht an zentraler Stelle im
Glaubensbekenntnis. Es ist auch äußerlich die Mitte und kennzeichnet damit das Wesentliche,
um das es hier geht: Daß Gott Mensch wurde, "daß Jesus im Fleisch gekommen ist", ist nicht nur
eine, es ist die große Tat Gottes, die wir damit preisen.

Weiter müssen wir beachten: Die Formulierung "empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der
Jungfrau Maria" enthält ein Doppeltes, das man zwar unterscheiden kann, das man aber nicht
trennen darf. Es geht einmal um eine innere, sachliche Bedeutung, nämlich um das
unbegreifbare Geheimnis: "Jesus ist wahrhaftiger Gott und zugleich wahrhaftiger Mensch." Und
es geht zum anderen um eine äußere, zeichenhafte Bedeutung, nämlich um das begleitende
Wunder: "Jesus hat allein Gott zum Vater und deshalb die Jungfrau Maria zur Mutter." Unser
Glaubensbekenntnis faßt beide Bedeutungen in eine Aussage zusammen: "Empfangen vom
Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria." Es trennt nicht das Geheimnis vom Wunder.
Und es will auch nicht, daß wir dies beides trennen. Daß wir etwa zu dem einen, dem Inhalt, ja
sagen und zu dem anderen, dem Zeichen, nein. Beides ist unzertrennlich verbunden, und beides
soll von der Gemeinde zu Gott hin bekannt und er darüber gepriesen werden. Wissend und
staunend sollen wir vor ihn hintreten und ihm das Lobopfer unserer Herzen darbringen.

In dieser doppelten, aber unzertrennlichen Bedeutung spiegelt sich gewissermaßen jenes


Ineinander von Sichtbarem und Unsichtbarem, das mir ein entscheidendes Moment im
Selbstzeugnis der Bibel zu sein scheint und mir für ihr Verständnis eine wesentliche Hilfe ist. Ich
beziehe mich insbesondere auf Paulus, der vom Sichtbaren und vom Unsichtbaren spricht (Kol.
1, 16; 2. Kor. 4, 18), und aus seinem Zeugnis sowie aus vielen anderen Stellen der Schrift dürfen
wir die Erkenntnis gewinnen, daß beide Wirklichkeiten nicht übereinander oder umeinander,
sondern ineinander liegen: das Unsichtbare durchdringt das Sichtbare überall .2 Von hier aus
haben wir jetzt Anschluß an ein anderes Glaubensbekenntnis, an das sogenannte Credo
chalcedonense - das Glaubensbekenntnis von Chalcedon - , in dem unsere Väter 451 das
Wagnis unternahmen, das unkündbar große göttliche Geheimnis "Jesus von Nazareth wahrer
Mensch und wahrer Gott zugleich" in Worte zu fassen. Sie fanden die überraschende, aber wie
keine andere zutreffende Formulierung - ich hebe nur die entscheidende Aussage hervor -, daß
die beiden Naturen, die göttliche und die menschliche, in der einen Person Jesus von Nazareth
unvermischt und ungetrennt enthalten waren. Unvermischt heißt "völlig geschieden", ungetrennt
heißt "völlig vereinigt". Nur in einem solchen Paradoxon kann von diesem Geheimnis gesprochen
werden.

Wie in Jesus von Nazareth beide Naturen ungetrennt und unvermischt vorhanden waren, so
dürfen wir uns auch das Ineinander von Sichtbarem und Unsichtbarem denken: ungetrennt und
unvermischt. Es handelt sich bei dem Ganzen der Wirklichkeit („Himmel und Erde") weder um
einen Dualismus, ein Auseinanderfallen, noch um einen Monismus, ein Zusammenfallen,
sondern um ein "zusammenfallendes Auseinander" oder "auseinanderfallendes Zusammen".
Umgekehrt können wir von diesem paradoxen Ineinander aus auch das Geheimnis der zwei
Naturen Jesu erahnen: Er war im Sichtbaren ganz und gar Mensch, im Unsichtbaren ganz und
gar Gott.

Karl Barth formuliert: "Jesus war und ist Gott und Mensch, aber immer Beides, das Eine nicht
ohne das Andere, und Beides, jedes in seiner Weise (das heißt: im Sichtbaren sowohl wie im
Unsichtbaren), Welch ernsthaft, gleich nachdrücklich ... Keine Vermischung zwischen Gott und
Mensch, keine Verwandlung eines Gottes in einen Menschen oder eines Menschen in einen Gott
wird damit ausgesagt. Sondern nur dieses Eine: Gott ist, ohne aufzuhören, Gott zu sein, zugleich
Mensch. Er redet, er handelt hier, er tut es als Mensch, aber er ist es, der es tut. Unbegreiflich
aber so ist Gott."

Und "Gott wurde wirklich", fährt Karl Barth fort, "was wir sind, um wirklich bei uns zu sein und für
uns dazusein. Um als Mensch das nicht zu tun, was wir tun, nämlich Sünde, und das zu tun, was
wir nicht tun, nämlich Gottes Willen. Und um so an unserer Stelle, in unserer Situation und
Verfassung der neue Mensch zu sein.« - Soviel zu dem Geheimnis: wahrhaftiger Mensch,
wahrhaftiger Gott.

Nun noch etwas zu dem Wunder: empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau
Maria. Die Worte "empfangen vom Heiligen Geist" reden nicht von einer irgendwie gearteten
Vermählung zwischen Gott und einer Frau. In der Mythologie gibt es solche Vorstellungen. Man
denke etwa an die Sage von Leda und dem Schwan: Zeus nähert sich in der Gestalt eines
Schwanes der Leda, und sie gebiert Eier von ihm. Unser Glaubensbekenntnis aber redet von
keinerlei Mythologie, sondern vom Tun Gottes. Hier geht es um das große Wunder seiner
Menschwerdung, nicht um eine mythologische Idee. Auch der Urgemeinde oder unseren Vätern,
die das Glaubensbekenntnis formten, darf man keine mythologischen Vorstellungen
unterschieben. Wer hier Mythologie sieht oder zu sehen meint, weiß nicht, wie Gott ist, was Gott
vermag, was Gott getan hat. Er sieht Gott vielleicht als das "Wie meiner Existenz" oder als das
"Warum meiner schlechthinnigen Abhängigkeit" oder als das "Woher meines Umgetriebenseins".
Er versucht Gott von menschlichen Denkkategorien her zu verstehen oder zu beschreiben, aber
weiß nichts von dem einen lebendigen Gott, dem Vater Jesu Christi.

Er weiß auch nichts von der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Macht der Finsternis, des Satans
und seiner Dämonen. Bereits um 200 schreibt Tertullian: "Welche Weise könnte ihnen mehr am
Herzen liegen, als daß sie den Menschen vom Gedanken an die wahre Gottheit abbringen durch
falsche Gaukeleien ... Alle Mittel gegen die Wahrheit sind auf der Wahrheit selbst aufgebaut, und
diese Rivalität bewirken die Geister des Irrtums. Von ihnen sind derartige Verfälschungen der
Heilslehre aufgebracht worden, von ihnen auch manche dichterischen Mythen eingegeben, die
durch ihre Ähnlichkeit den Glauben an die Wahrheit erschüttern oder vielmehr ihn sich selber
verschaffen sollten, so daß man deshalb den Christen nicht glauben zu müssen meint.

Diese Worte sind keineswegs überholt. Sie treffen genau den Kern der Sache und gelten daher
heute ebenso wie vor 1800 Jahren. Sie zeigen auf, wo die Mythen und Legenden wurzeln im
Denken des von Gott abgekehrten Menschen, nicht in der Bibel.

Die Worte "empfangen vom Heiligen Geist" besagen zunächst nur, daß Jesus nach seiner
menschlichen Existenz überhaupt keinen Vater hat. An Maria ereignet sich etwas, bei dem der
Mann als aktiver sündiger Mensch einfach ausgeschlossen ist, von Gott her ausgeschaltet.
Natürlich ist auch Maria ein sündiger Mensch. Aber sie empfängt nur, sie ist passiv an diesem
Geschehen beteiligt. Sie ist das Gefäß, der Ort dieser besonderen Offenbarung Gottes, der
Fleischwerdung seines Wortes. Maria ist dazu auserwählt, dieses Gefäß zu sein, als ein Zeichen
dafür, was der Mensch trotz seiner Sünde sein kann, wenn Gott sich seiner annimmt. Maria wird
selig gepriesen, weil sie geglaubt hat. Nicht um ihrer Jungfräulichkeit willen, nicht um ihrer
Weiblichkeit willen, Maria wird befähigt zu einer Antwort, die Gott auch von uns haben will, wenn
er an uns handelt: Mir geschehe, wie du gesagt hast.

Ganz behutsam möchte ich nun zum Wunder der übernatürlichen Zeugung auch etwas von der
Naturwissenschaft her sagen. Aber wirklich nur behutsam, denn sie hat praktisch nichts damit zu
tun. Ich halte mich an den Bericht aus dem Lukas Evangelium nach der Zürcher Übersetzung,
über den Besuch des Engels bei der Jungfrau Maria: "Er kam zu ihr herein und sprach: Sei
gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir. Sie aber erschrak über das Wort und sann darüber
nach, was das für ein Gruß sei. Da sprach der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du
hast Gnade bei Gott gefunden. Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären,
und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten
genannt werden, und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird
König sein über das Haus Jakobs in Ewigkeit, und seines Königtums wird kein Ende sein. Maria
aber sagte zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich von keinem Manne weiß? Und der Engel
antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des
Höchsten wird dich überschatten; daher wird auch das Heilige, das gezeugt wird, Sohn Gottes
genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, auch sie erwartet einen Sohn in ihrem
Alter; und dies ist der sechste Monat für sie, die unfruchtbar hieß. Denn kein Wort, das von Gott
kommt, wird kraftlos sein. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe nach
deinem Wort." (Luk. 1, 28 38.)

Diese Botschaft zeigt zunächst, daß der Ausdruck „übernatürliche Geburt" unzutreffend und
irreführend ist. Die Geburt Jesu ist eine ganz natürliche. Er kommt auf die Welt wie jedes andere
Kind auch. Er wird in Windeln gewickelt und in die Krippe gelegt. Er wird genährt und wächst auf
als wirkliches Kind. Das Übernatürliche bei diesem Geschehen ist nur die Empfängnis. Wie
dürfen wir in dieser Hinsicht die geheimnisvollen Worte verstehen, die der Engel zu Maria sagt?
Zweierlei ist es, wovon er spricht. Beides ist aufschlußreich.

Das eine: "Heiliger Geist wird über dich kommen." Wozu wohl? Um die Stätte zu bereiten! Vom
Unsichtbaren her umhüllt Gottes Geist Maria, um sie zu reinigen, zu heiligen. Er hüllt sie ein und
durchdringt sie, um sie zu einem Gefäß zu machen, das wirklich rein und heilig ist. Wie die
Priester die Gefäße für den Gottesdienst und sich selbst zu reinigen hatten: Reinigt euch, die ihr
des Herrn Geräte tragt! (Jes. 52, 11) so soll es auch an Maria geschehen. Sie soll gereinigt
werden für das Große, das Gott an ihr tun will. Wenn Gott aus dem Unsichtbaren her¬aus ins
Sichtbare kommt, wird durch ihn das Sichtbare heilig. Man denke etwa an die erste Begegnung,
die Mose mit Gott gehabt hat, am Dornbusch. Wie Mose auf ihn zugehen will, ruft ihm Gott
entgegen: "Tritt nicht heran! Ziehe die Schuhe von den Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst,
ist heiliges Land." (2. Mose 3, 5.) So wurde auch Maria geheiligt dadurch, daß Heiliger Geist über
sie kam.

Nun das andere: "Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten." Was soll das sagen? Nichts
anderes als: das Wort Gottes wird an Maria und in ihr wirken. Denn "Kraft des Höchsten" ist das
Wort Gottes. Wie er spricht, so geschieht's; wie er gebeut, so steht's da. Es ist ein
Schöpfungswerk Gottes, das an Maria geschieht. Ähnlich wie es uns im Schöpfungsbericht
bezeugt wird: Der Geist Gottes schwebte über den Wassern, und Gott sprach: "Es werde, und es
geschah also." Und weiter heißt es im Schöpfungsbericht (l. Mose 1, 24): "Gott sprach: Die Erde
bringe hervor lebende Wesen, ein jegliches nach seiner Art, und es geschah also." In dieser
Weise aber viel größer und viel mächtiger geschieht es hier an Maria. Gott spricht sein "Es
werde" in ihren zuvor geheiligten Schoß hinein, damit die neue Schöpfung eingeleitet werde: Es
werde ein befruchtetes Ei, und es geschah also. Das ist es, was mit den Worten gemeint ist: "Die
Kraft des Höchsten wird dich überschatten." Gottes Wort geht ein in Maria und schafft das
befruchtete Ei: "Das Wort ward Fleisch" (Joh. 1,14).

Jesus Christus ist der Erstling der neuen Schöp¬fung. Er ist der wahre Mensch, der Mensch nach
Gottes Herzen, das wirkliche Ebenbild Gottes. Und das Erstaunliche, das Gütige, das
Barmherzige, aus dem die ganze Liebe Gottes zu uns spricht, ist, daß er die alte, gefallene
Schöpfung nicht einfach wegwirft, sondern sie bevor er sie durch sein Wort vergehen läßt - neu
adelt, indem er jesus von einer menschlichen Mutter empfangen und geboren werden läßt. Hier
bedient sich Gott der Kräfte seiner ersten Schöpfung, die er selber in sie hineingelegt hat, als der
Mensch noch Gottes Ebenbild war, um sein Werk zu vollenden und den Erstling der neuen
Schöpfung hervorzubringen. Danken wollen wir Gott für seine Güte und für die Wunder, die er an
den Menschenkindern tut!

Kann gegen die Zeugung durch das Wort Gottes naturwissenschaftlich etwas eingewendet
werden? Das wäre vom naturwissenschaftlichen Weltbild der Neuzeit, insbesondere in dem darin
verankerten Verständnis von Materie und Naturgesetzlichkeit her, gewiß möglich und ist
ausgiebig getan worden. Die¬ses Weltbild, das noch Anfang dieses Jahrhunderts allgemein
anerkannt war, enthielt aber mancherlei metaphysische Aussagen, die nicht als
naturwissenschaftliche Erkenntnisse angesprochen werden dürfen, z. B. alle Unendlichkeits- und
Absolutheitsvorstellungen über den Kosmos, über Raum, Zeit, Materie, Naturgesetz. Inzwischen
sind diese metaphysischen Reste ausgemerzt, ist das Weltbild gereinigt, sozusagen
"entmythologisiert" worden. Es hat sich durch das Experiment erwiesen, daß Materie sich in ihren
letzten Einheiten nicht, wie man früher angenommen hatte, aus unzerstörbaren, ewig aus sich
selbst heraus bestehenden substantiellen Teilchen zusammensetzt, sondern aus sich immer neu
ereignenden Energieimpulsen, von denen nicht feststellbar ist, woher und ob sie überhaupt einen
Ursprung haben. Materie ist nicht, Materie geschieht. Dieses eigentliche, dynamische Verhalten
aller Materie läßt vom Glauben her das Zeugnis der Bibel ganz neu aufleuchten, daß Gottes Wort
Kraft, Dynamis ist. Wie er spricht, so geschieht's (Ps. 33, 9). Das darf wie folgt interpretiert
werden: Gott spricht, und sein Wort hat die für uns Menschen unbegreifliche Fähigkeit, sich im
Sichtbaren als physikalisch meßbare Energie zu manifestieren, d. h. genau dort, wo das nach
seinem Willen geschieht, ereignet sich Materie, ist also Sichtbares als vom Menschen her
Erkennbares vorhanden. Im Lichte dieses nur dem Glauben offenbaren (l. Kor. 2, 12 14)
Zusammenhangs erscheint auch meine Deutung der Zusage "die Kraft des Höchsten wird dich
überschatten" durch: "Gott sprach: Es werde ein befruchtetes Ei, und es geschah also"
naturwissenschaftlich denkmöglich.

Aber all das, was ich eben sehr behutsam von der Naturwissenschaft her zu deuten versuchte,
löst das Geheimnis nicht auf, daß, mit den Worten Karl Barths, Gott Mensch wurde, ohne
aufzuhören, Gott zu sein. Das Wunder und das Geheimnis gehören unzertrennlich zusammen.
Das eine bedingt immer das andere. Wir wissen von keiner göttlichen Notwendigkeit, daß das
Wort Fleisch werden mußte. Wir wissen von keiner menschlichen Möglichkeit, daß das Wort
Fleisch werden konnte. Wir können nur um die Wirklichkeit wissen: "Das Wort ward Fleisch." Und
der Glaube, der dieses Geheimnis und dieses Wunder betend bekennt, wird nicht aufhören,
darüber zu staunen. So also beten wir unser Glaubensbekenntnis recht, wenn es mit einem
staunenden, ehrfürchtigen, anbetenden Herzen geschieht. Paulus gibt uns da die richtigen Worte
(Röm. 11, 33 36):

"O welch eine Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie
unerforschlich sind seine Entscheidungen und unausdenkbar seine Wege! Denn wer hat den
Sinn des Herrn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm zuvor etwas
gegeben, daß es ihm wieder vergolten werden müßte? Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm
hin sind alle Dinge. Sein ist die Ehre in Ewigkeit! Amen."

IV.

Die bisherigen Ausführungen möchte ich, wie folgt, zusammenfassen. Wenn wir unseren
Glauben bekennen mit den Worten: "Ich glaube an Jesus Christus, empfangen vom Heiligen
Geist, geboren von der Jungfrau Maria", so bekennen wir damit nichts anderes als: "Ich glaube,
daß Jesus allein Gott zum Vater gehabt hat und deshalb die Jungfrau Maria zur Mutter." Jesus ist
nicht durch einen menschlichen Vater gezeugt worden. Diese Tatsache ist für unsere Erlösung
aus dem Verfallensein an die Sünde von entscheidender Bedeutung. Denn sie ist es, die
zusammen mit der an Maria geschehenen Heiligung sichert, daß Jesus ohne Sünde ist. Und nur
durch ein fehlloses, d. h. sündloses Lamm konnte das Sühnopfer für unsere Versöhnung mit Gott
gewirkt werden (Hebr. 7, 26. 27; 1. Petr. 1, 19). Wäre Jesus von einem Manne gezeugt worden,
so wäre er nur Mensch gewesen und hätte wie jeder andere Mensch unter dem Gesetz der
Sünde gestanden. Es hat sich deshalb nicht nur ereignet, daß Gott wirklich Mensch, sondern
auch wirklich Gott Mensch wurde (2. Kor. 5, 19 21). Was ist es aber dann um Joseph als den
Mann der Maria? Dazu sei noch einiges nachgetragen.

Die Botschaft des Engels an Maria erforderte von einen Glauben an das "historisch Mögliche" wie
er nie zuvor in der Geschichte Gottes mit den Menschen von einem Menschen gefordert wurde,
weder von Noah noch von Abraham, weder von Mose noch von Elia oder anderen Menschen des
alten Bundes. Im Grunde ist es wohl nur für eine Frau möglich, nachzuempfinden, was Maria in
der Verkündigung durch den Engel angetragen wurde.

Als liebevolle Hilfe, sich dem unfaßbaren "historisch Möglichen" im Glauben hinzugeben, erhält
Maria durch Gottes Güte und Barmherzigkeit ein Zeichen: "Und siehe, Elisabeth, deine
Verwandte, auch sie erwartet einen Sohn in ihrem Alter; und dies ist der sechste Monat für sie,
die unfruchtbar hieß. Denn kein Wort, das von Gott kommt, wird kraftlos sein." (Luk. 1, 36, 37.)
Dies zeigt uns, daß auch natürliche Zeugung nichts Selbstverständliches ist. Gott kann sie
versagen; Gott kann sie auch bei hohem Alter möglich machen durch sein Wort. Maria versteht
und macht sich auf und wandert zu Elisabeth. Dort gibt ihr Gott ein weiteres Zeichen der
Bestätigung dafür, daß er an ihr gehandelt hat, und redet zu ihr durch den Mund der Elisabeth
(Luk. 1, 41 45). Drei Monate bleibt Maria bei ihr, wohl bis zur Geburt des Johannes; dann kehrt
sie nach Nazareth zurück.

Und nun kommt Joseph ins Spiel. Er erfährt, daß Maria schwanger ist; ob sie selbst es ihm sagt
oder ob der Augenschein ihn belehrt, wird uns nicht berichtet. Er war mit ihr verlobt, nach
jüdischem Brauch war damit auch schon die Ehe geschlossen (zu entnehmen aus Matth. 1, 19).
Maria wird Joseph beteuert haben, daß sie "von keinem Manne weiß", und wird ihm von dem
Besuch des Engels erzählt haben. Joseph aber hielt das wie viele heute nicht für historisch
möglich und gedachte, Maria heimlich zu entlassen, d. h. ihr den Scheidebrief zu geben, weil so
berichtet Matth. 1, 19 er rechtschaffen war und sie nicht in Schande bringen wollte. Er gibt damit
zu erkennen, daß er die Vaterschaft ablehnt, aber Maria weiter lieb hat und ihr die Möglichkeit
geben will, den "andern" zu heiraten, damit sie nicht bei den Leuten in Verruf käme. Gott aber
läßt sich in diesem entscheidenden, geschichtsträchtigen Handeln nicht von einem Menschen ins
Konzept pfuschen. Durch den Engel des Herrn wird Joseph bestätigt, was er Maria nicht hat
glauben wollen (Matth. 1, 20 23). Und Joseph gehorcht und nimmt Maria als seine Frau zu sich;
nach jüdischem Verständnis gilt Joseph nun als Vater Jesu. Er ehrt damit das von Gott an Maria
Geschehene und sorgt durch dieses Verhalten seinerseits dafür, daß sie vor der Welt nicht als
verachtet dasteht (Matth. 1, 24. 25). Gott hat sich in beiden, in Maria und Joseph, die rechten
Eltern für seinen Sohn erwählt. So wirkt Gott Geschichte.

Sein Erwählen hält sich aber auch an seine Ver¬heißungen (2. Sam. 7, 12 16). Joseph wird von
dem Engel als Sohn Davids angeredet. Matthäus gibt uns dazu den Stammbaum Josephs, von
Abraham an über David bis zu Jakob; der zeugte "den Joseph, den Mann der Maria, aus der
jesus geboren wurde, der der Christus genannt wird" (Matth. 1, 2 16). Aber nun gibt es noch
einen zweiten Stammbaum Jesu, der von Lukas berichtet wird und von dem ersten nicht
unerheblich abweicht (Luk. 3, 23 38)! Das hat zu mancherlei Verwirrung und Irrlehre geführt, wie
etwa in anthroposophischen Kreisen zu der Hypothese von zwei verschiedenen Jesusknaben,
die sich erst später in mystischer Weise vereinigt haben sollen. Dennoch läßt sich auch das
Geheimnis der beiden unterschiedlichen Stammbäume deuten, wenn man nur genau hinsieht,
was da steht, und etwas davon weiß, wie biblische Aussagen verstanden sein wollen.

Die Ahnenreihe von David aufwärts bis Abraham ist bei beiden Stammbäumen die gleiche,
abgesehen von kleinen Unterschieden in der Schreibweise der Namen und von der Erwähnung
eines Namens, der bei Lukas zusätzlich genannt wird. Lukas setzt sogar die Ahnenreihe über
Abraham hinaus bis zu Adam fort, Matthäus setzt erst bei Abraham ein. Von David zu Joseph
dagegen werden von beiden Evangelisten gänzlich verschiedene Stammbäume genannt. Lukas
nennt einen Eli als Vater von Joseph, Matthäus einen Jakob. Lukas führt die Linie bis zu Nathan
als Sohn Davids (2. Sam. 5, 14), Matthäus bis zu Salomo.

Wesentlich für die Deutung ist nun der Unterschied im Aufbau und in der Ausdrucksweise.
Matthäus beginnt bei Abraham und führt von da bis zu Joseph, wobei er stets das Wort "zeugen"
verwendet: Abraham zeugte Isaak, . . ., Jakob zeugte Joseph, den Mann der Maria. Mit diesem
Wort ist leibliche Nachkommenschaft in direkter Linie gemeint, selbst wenn ein Glied oder mehr
in der Ahnenreihe fehlen. Wie bereits erwähnt, nennt Lukas z. B. zwischen David und Abraham
einen Namen mehr als Matthäus. Lukas dagegen geht von Joseph aus zurück bis zu David (und
weiter über Abraham bis Adam) und gebraucht stets die Wendung "Sohn": Jesus war, als er
auftrat, etwa 30 Jahre alt und war, wie man annahm, ein Sohn des Joseph, der des Eli, der des
Matthat, ..., der des Nathan, der des David (Luk. 3, 23 31). Das Wort "Sohn" wird jedoch in der
Bibel nicht nur im Sinne direkter leiblicher Nachkommenschaft verstanden (vgl. etwa 5. Mos. 25,
5. 6)! So ist es denkbar, daß Lukas der ja von Joseph so gut wie nichts berichtet (da das von
Matthäus getan wird), um so mehr aber von Maria, die sicherlich zu seinen Gewährsleuten
gehört, die er befragt hat (Luk. 1, 3) in der Ahnenreihe bis David den Stammbaum der Maria
bringt, mit Eli also den Schwiegervater von Joseph nennt, und uns damit aufzeigen möchte, daß
nicht nur Joseph, sondern auch Maria David als Ahnherrn hat, Jesus also von beiden "Eltern" her
ein Sohn Davids ist. Die bekannte Prophezeiung (Jes. 11,1), daß ein Reis aufgehen wird aus
dem Stamme Isais des Vaters Davids und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen wird,
könnte eher auf Maria als auf Joseph hinweisen.

Noch ein weiterer Punkt bedarf wohl der Klärung: das Jahr der Geburt Jesu. Bekanntlich hat der
Abt Dionysius 525 bei der Festsetzung des Beginns der christlichen Zeitrechnung das Jahr der
Geburt Jesu einige Jahre zu spät angesetzt, so daß eine Korrektur notwendig ist. Nach Matthäus,
der den Besuch der drei Weisen aus dem Morgenlande, die Flucht von Maria und Joseph mit
dem Kind Jesus nach Ägypten, den bethlehemitischen Kindermord und den Tod von Herodes
dem Großen berichtet (Matth. 2, 1 19), muß Jesus vor dem Jahre 4 vor Beginn der Zeitrechnung
geboren sein. Denn dies ist das Todesjahr des Herodes. Nach Lukas aber wurde Jesus im Jahre
einer von Kaiser Augustus angeordneten Schätzung geboren, als Quirinius Statthalter in Syrien
war (Luk. 2, 1. 2). Forscht man in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung nach, so findet
man im Buch "Antiquitates judaicae" des Flavius Josephus, daß im Jahre 6 nach Beginn der
Zeitrechnung eine Schätzung stattfand und tatsächlich zu dieser Zeit Quirinius in Syrien war. Man
könnte daher meinen, einen Widerspruch in den Zeitangaben bei Matthäus und Lukas gefunden
zu haben. Es zeigt sich jedoch, daß die Angabe bei Lukas sehr präzise ist und Übereinstimmung
mit Matthäus ergibt, wenn man sie nur genau liest.

In Luk. 2, 2 heißt es: Diese Schätzung war die erste und geschah, als Quirinius Statthalter in
Syrien war. Auf die kursiv gesetzten Worte kommt es an. Es hat bereits vor der Schätzung im
Jahre 6 nach Beginn der Zeitrechnung eine erste Schätzung, ebenfalls vom Kaiser Augustus
angeordnet, gegeben, die etwa im Jahre 7 vor Beginn der Zeitrechnung durchgeführt wurde. Sie
war von Saturninus, dem damaligen Statthalter für Syrien, zugleich mit Syrien auch für das
angegliederte Judäa eingeleitet worden und ist deshalb als Census Saturninus in römischen
Archiven nachweisbar. Doch war Saturninus nur bis zum Jahre 8 vor Beginn der Zeitrechnung in
Syrien. Sein Nachfolger als Statthalter, von dem zwar die Amtsdauer, nicht aber der Name
bekannt ist, war vermutlich Quirinius, der dann die Schätzung durchzuführen hatte. Denn auf dem
Grabstein des Quirinius in Tibur ist angegeben, daß er zweimal in Syrien war. Nach Flavius
Josephus war er aber das zweite Mal (im Jahre 6 nach Beginn der Zeitrechnung) nicht als
Statthalter dort, sondern als Juridicus mit einem Sonderauftrag, offenbar im Zusammenhang mit
der zweiten Schätzung, um seine bei der ersten Schätzung 13 Jahre vorher gesammelten
Erfahrungen nutzbar zu machen. Man sieht also, daß Lukas in seiner Berichterstattung sehr
sorgfältig gelesen sein will. Er wußte von der ersten und der zweiten Schätzung und wußte, daß
Quirinius einmals als Statthalter und einmal als juristischer Sachverständiger nach Syrien
geschickt worden war. Deshalb betont er: Diese Schätzung war die erste und geschah, als
Quirinius Statthalter in Syrien war.

So kommt man etwa auf das Jahr 7 vor der Zeitrechnung als Geburtsjahr Jesu. Um diese Zeit
ereignete sich auch die dreimalige Konjunktion von Jupiter und Saturn, die vermutlich als "Stern
von Bethlehem" zu verstehen ist und deren erste den drei Weisen die Deutung "König der Juden"
ein¬gab (Jupiter=Königsstern, Saturn=Kewan, Stern Judäas, vgl. Amos 5,26) und sie veranlaßte,
nach Jerusalem zu ziehen, dem neugeborenen König der Juden zu huldigen, deren zweite sie in
Jerusalem erlebten und deren dritte vor ihnen aufleuchtete, als sie nach Bethlehem kamen
(Matth. 2, 9). Etwa zwei Jahre später erließ dann Herodes den Befehl, alle Knaben in Bethlehem
und Umgebung zu töten, die zweijährig und darunter waren (Matth. 2, 16). Wieder ein Jahr später
starb Herodes.

Wie dem auch sei, eine das ausschließlich intellek¬tuell geprägte Denken befriedigende Klärung
erhal¬ten wir nicht. Der durch das Wort entzündete Glaube aber erkennt zur Genüge, wie
zuverlässig die Bibel berichtet. Die Aussagen des Glaubensbekenntnisses sind für mich nicht
Dogmen, die ich für wahr halte, weil die Kirche das von mir als einem Christen erwartet. Sie
haben für mich ebensowenig legendären Charakter, so daß ich sie aus wissenschaftlicher
Redlichkeit heraus nur mit schlechtem Gewissen nachsprechen könnte. Sondern sie sind für
mich Zeugnisse von großen Taten Gottes, die ich gemeinsam mit den Vätern der Christenheit mit
den schlichten, aber prägnanten Worten, die sie dafür gefunden haben, anbetend als auch für
mich maßgeblich bekenne. Ich darf in diesem Zusammenhang Rudolf Alexander Schröder
zitieren, der 1949 vor der bayerischen Landessynode u. a. sagte:

"Aber wenn mir im Raum meiner Kirche von der Legende der Jungfrauengeburt oder gar von der
Legende der Auferstehungsgeschichte gesprochen oder geflüstert wird, und wenn somit die
heiligen Männer, denen ich die Urkunde meines Heils und meiner Errettung verdanke, mir aus
frommen Historikern, als die ich sie kenne und verehre, zu frommen Hysterikern gemacht werden
sollen, so fühle ich mich von ungeschickter Hand an den schwer errungenen und verteidigten
Grundlagen meines Glaubens angetastet. Im Bericht von der Geburt und im Bericht von der
leiblichen Auferstehung hängt als in seinen beiden Eckpfeilern das Zeugnis der Schrift von Jesus
Christus!"

Es handelt sich um Fakten; auf ihnen habe auch ich mein Leben gegründet im Vertrauen auf
den einen Gott, der sich in Jesus Christus zu mir bekennt. Dazu gehört, daß über dem großen
Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth auch Äußerlichen ein Schleier
liegt, als Zeichen dafür, Gott seiner Verborgenheit geglaubt und nicht bewiesen sein will. Kein
anderer hat dies schöner in Worte gefaßt als Blaise Pascal. Ich setze daher diese Abschluß
hierher.

“Gott hat die Menschen erlösen und das Heil denen eröffnen wollen, die ihn suchen. Aber die
Menschen machen sich dessen so unwürdig, daß es gerecht ist, wenn Gott einigen wegen ihrer
Verhärtung verweigert, was er anderen gewährt aus einem Erbarmen, das er ihnen nicht
schuldet. Wohl hätte er die Hartnäckigkeit der Verhärteten durch eine offene Selbstenthüllung zu
überwinden vermocht, so daß sie an der Wahrheit seines Wesens nicht hätten zweifeln können -
so wie er am Jüngsten Tage erscheinen wird, mit einem solchen Glanz der Blitze und einer
solchen Umwälzung der Natur, daß die Toten auferstehen und die Blinden ihn sehen werden.

Er hatte aber sich für seine Ankunft Sanftmut vorgenommen, und darum hat er nicht in dieser
Weise erscheinen wollen. Weil so viele Menschen sich seiner Milde unwürdig machen, hat er sie
in der Entbehrung eines Gutes belassen wollen, nach dem sie nicht verlangten. Es war also nicht
gerecht, in einer Weise zu erscheinen, die mit ihrer unverhüllten Göttlichkeit unbedingt fähig
gewesen wäre, alle Menschen zu überzeugen. Es war aber auch nicht gerecht, auf eine so
verborgene Art zu erscheinen, daß er von denen, die ihn aufrichtig suchten, nicht erkannt werden
konnte. Da er also unverhüllt denen erscheinen wollte, die ihn von ganzem Herzen suchen, und
da er denen verborgen bleiben wollte, die ihn von ganzem Herzen fliehen, setzt er seine
Erkennbarkeit in der Weise herab, daß er Zeichen seiner Selbst gibt, sichtbar denen, die ihn
suchen, aber nicht sichtbar denen, die ihn nicht suchen. Es gibt Licht genug für die, die nichts
anderes wollen als sehen, und es gibt Finsternis genug für die anderen, die nicht sehen wollen."

---Alfred Burchartz
Das Passah - Fest Israels und das Abendmahl Jesu

Wenn nach dem jüdischen Kalender im Monat Nissan der Frühling in Israel eingezogen ist, dann
trägt das Land ein grünes Kleid. Blumen, Sträucher und Bäume blühen und auf manchen Feldern
beginnt bereits die Gerste zu reifen. Es wird Pessachzeit, und für dieses Fest, das sieben Tage
dauern wird (in der Diaspora sind es acht), haben die Hausfrauen alle Hände voll zu tun. Die
Wohnung und alle Möbel werden gründlich gereinigt. Selbst das Koch- und Eßgeschirr, auch das
Besteck, wird peinlich genau gesäubert oder nach Möglichkeit für die Zeit des Festes durch
anderes, reines Geschirr ersetzt. Im Mittelalter geschah das Reinigen (kaschern) des Hausrates
der jüdischen Mitbürger in den Wohnorten öffentlich. Mit Wasser vom Brunnen wurden Möbel u.
a. gereinigt und eisernes Geschirr auf offenem Feuer ausgeglüht. Dieser "Frühjahrsputz" gehört
zu einer alten Tradition, der Kaschrut, den Reinheitsgesetzen im jüdischen Volk, denn Pessach
ist das Fest der "süßen", d.h. der ungesäuerten Brote. Es darf in diesen Festtagen kein mit
Triebmitteln hergestelltes Backwerk, auch nicht Krümel davon, im Haus bleiben, aber auch kein
Unrat und Schmutz. Das Fest erinnert jeden Juden an Israels Auszug aus Ägypten, als man in
der Wüste Brot aus Mehl und Wasser auf heißen Steinen backen musste. Doch dieser Auszug
war die Befreiung aus der Sklaverei und führte aus dem Tod in das Leben mit und unter Gott.

Die Nacht der Verschonung

In der ersten Nacht zu Pessach trennte Gott sein Volk von dem Volk der Ägypter. Der
Todesengel ging durch die Häuser und tötete alles Erstgeborene. Doch an den Häusern ging er
vorüber, an deren Türpfosten das Blut eines geschlachteten Lammes zu sehen war. In ihnen
saßen Israeliten, gehorsam und dem Wort Gottes vertrauend, dass sie von nun an unterwegs
sein würden, einem neuen Ziel, einem anderen Land entgegen. Deshalb Pessach =
Verschonung. Und deshalb Trennung von allem Sauerteig und dem, was mit solchem Sauerteig
in Berührung kam. Denn wer diese Trennung nicht vollziehen will, wer in der Pessachzeit am
"Brot Ägyptens" festhalten möchte, der gehört nicht zu Israel (2. Mose 12, 15), kann kernen Anteil
haben an Gottes Erwählung, für ein gehorsames Leben unter ihm.

Juden feiern das Pessachfest in der Gegenwart so, als wären sie selbst in der ersten
Pessachnacht dabei gewesen. Sie selbst sind es, die sich in dieser Nacht aufmachen wollen,
gehorsam den Weg zu gehen, den Gott seinem Volk verordnet hat.

Am Tag vor der ersten Pessachnacht ist der Hausvater am Abend noch einmal durch alle Räume
seines Hauses gegangen und hat sich überzeugt, dass aller "Chamez", alles Gesäuerte, entfernt
wurde, dass selbst kleinste Krümel von ihm nicht mehr zu finden sind. Kluge Hausfrauen haben
gerne irgendeinen Unrat "übersehen", um ihren Männern die Finderfreude zu gönnen, denn am
anderen Vormittag, wenn der Chamez auf der Straße verbrannt wird, hatten die Männer
Gelegenheit, sich mit den Nachbarn zu unterhalten und den häuslichen Vorbereitungen zu
entfliehen.

Nun ist der Tag geworden, der im jüdischen Kalender als 14. Tag des ersten Monats Nissan
bezeichnet wird: Erew Pessach, denn am Abend dieses Tages beginnt das Pessachfest mit dem
Sederabend, der nach einer bestimmten Ordnung, und das heißt Seder, in den Häusern und
Wohnungen jüdischer Menschen gefeiert wird.

An diesem Abend versammelt sich die Familie. Doch auch die allein lebende Witwe aus dem
Nachbarhaus, auch der einsame Mann von gegenüber, der keine Angehörigen hat, und auch der
Fremdling, der im Lande weilt und sich zu Israel halten will, werden dazu geladen. In dieser
Nacht darf kein Jude allein sein und allein feiern. Denn Pessach ist das Fest der Verschonung
Israels, also des ganzen Volkes und kann nur im "Wir" der Gemeinschaft begangen werden:
"WIR waren Knechte Pharaos in Ägypten ... aber der Herr befreite UNS ... und nun sind WIR auf
dem Wege von Ägypten bis in die Zeit des messianischen Heils. Es ist UNSER Weg."

Der Sederabend mit seinen Symbolen

Die Wohnungen der Feiernden sind festlich geschmückt. Eingeladene haben Blumen und
Pessachgeschenke den Gastgebern überreicht. Auf der Tafel in der Mitte des Raumes steht
reines Geschirr, in dem sich Kerzenglanz spiegelt. Auf dem Tisch vor dem Platz des Hausherrn
stehen oder liegen Dinge, die für die Feier von Wichtigkeit sind. Zunächst der Sederteller (Kara
schel Pessach = Pessachschüssel) mit 6 Näpfchen, in denen Symbolspeisen enthalten sind. Als
erstes sehen wir Karpas, das ist grünes Kraut. Es kann Petersilie sein und anderes. Es gilt als
Zeichen für die Frucht der Erde, die uns Gott Jahr für Jahr bereitet, damit wir leben können. Dann
ein Näpfchen mit Salzwasser = mej melach. Es soll Erinnerung sein an die Tränen, die geweint
wurden in der Sklaverei Ägyptens, aber auch im Leid der Zerstreuung unter den Völkern.

Als drittes ein Näpfchen mit Maror. Das ist Bitterkraut und lässt an die Bitternis des Lebens in
Ägypten denken und auch an die Verfolgungen unter den Völkern in der Verbannung. Dann ein
viertes: Charosset = das Lehmartige. Es ist ein Mus aus geriebenen Äpfeln, Nüssen, Zimt und
anderen Gewürzen, mit Wein angerührt. Es erinnert an die Zeit der Fron und Armut, als wir aus
Lehm Ziegeln herstellen mußten für die Bauwerke der Mächtigen. Ein fünftes Näpf¬chen enthält
einen Lammknochen mit etwas Fleisch daran, auf Holzkohlenfeuer gebraten = Seroa. Es ist das
Zeichen für das Lammopfer, das heute im Tempel hätte gebracht werden müssen, um es jetzt in
der Gemeinschaft zu verzehren. Doch es gibt den Tempel nicht mehr, nur die Hoffnung, dass wir
es in den Tagen des Messias in Jerusalem und in dem dann neuerstandenen Tempel wieder
bringen werden. Das sechste Näpfchen zeigt ein gekochtes Ei = Bejzah. Es ist Brauch, solch ein
Ei nach der Beerdigung eines Toten zu verzehren. Das ist ein Zeichen für den Glauben an die
Überwindung des Todes in der Auferstehung zu einem neuen Leben. Hier aber will das Ei an die
Zerstörung des Tempels erinnern, also an den Tod des Tempeldienstes, und an die Hoffnung,
dass auch der Tempel wieder erstehen wird und dass dort wieder Opfergottesdienste gehalten
werden. Vielen will es aber auch ein Zeichen für die Fruchtbarkeit Israels sein, über die Pharao in
Ägypten nicht Herr werden konnte - und noch mehr: Trotz allen Leidens in dieser Welt der
Bedrohung und des Hasses: Israel lebt und wird weiterleben!

Das wären die sechs Symbolspeisen, wovon die fünfte und sechste, Lammknochen und Ei, erst
längere Zeit nach der Zerstörung des Tempels, die im Jahre 70 geschah, als Pessachbrauch
eingeführt wurden.

Aber nun liegen auf dem Sedertisch noch drei Mazzot, drei ungesäuerte Brote, übereinander,
unter einem Tuch verhüllt oder in einer Sedertasche mit drei Fächern. Es kann auch eine
Sederschüssel mit drei Etagen sein, über die dann ein Tuch gelegt wird. Die unterste Mazza gilt
für Israel, die mittlere für den Stamm Levi und die oberste für die Priester Israels, die Kohanim. In
der bald beginnenden Sederfeier wird die mittlere Mazza wichtig werden, die für Le¬vi. Es gilt als
sicher, dass sie in der Zeit Jesu als "Brot des Kommenden" einen engen Bezug zur
Messiaserwartung des jüdischen Volkes hatte.

Brot und Wein

wurden für den jüdischen Glauben zu wichtigen Symbolen für das Leben Israels unter Gott. Brot
ist geopfertes Leben und Ertrag der Mühsal aller Arbeit: "Im Schweiße deines Angesichts sollst
du dein Brot essen!" (1. Mose 3, 19) Der Wein dagegen ist ein Zeichen der Freude: "Der Wein
erfreut des Menschen Herz." (Psalm 104, 15)
In der Abrahamsgeschichte begegnet uns Melchisedek, ein Priester Gottes, des Höchsten, der
Himmel und Erde geschaffen hat (1. Mose 14, 1-24). Melchisedek = Melech-Zedek = König der
Gerechtigkeit oder der Gerechten. Er wird auch König von Salem genannt. Im Hebräerbrief wird
Salem mit Frieden (Schalom) übersetzt, also König des Friedens. Das Wort salem befindet sich
auch im Namen Jeru - salem = Stadt des Friedens, was sie einmal sein wird unter der Herrschaft
des kommenden Messias.

Melchisedek segnet Abraham und überreicht ihm Brot und Wein als Zeichen des Segens, der ihm
bei seiner Berufung verheißen wurde: "Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein." (1.
Mose 12, 2). Da dieser Segen auch für Abrahams Nachkommen gelten soll, wurden Brot und
Wein zu unverzichtbaren Segenszeichen bei jedem Schabbat und den großen Festen Israels.

Die Freudenbecher

Während der Sederfeier ist es Vorschrift, vier Becher Wein (= arba kossot) zu trinken, die als
Freudenbecher gelten, gemäß dem in 2. Mose 6, 2-7 vierfach geoffenbarten Willen Gottes zur
Rettung Israels:

"Ich bin der Herr und will euch

1. wegführen von den Lasten, die euch die Ägypter auferlegen, und will euch
2. erretten von eurem Frondienst, und ich will euch
3. erlösen mit ausgestrecktem Arm und durch große Gerichte. Ich will euch
4. annehmen als mein Volk und will euer Gott sein."

Wegführen, erretten, erlösen und annehmen, das sind Gottes Heilstaten an seinem Volk. Sie
werden dem Bewußtsein jüdischer Menschen in jeder Sederfeier nahe gestellt: Wir sind um
Gottes Willen von Ägypten und den Völkern dieser Welt geschieden und sind dadurch errettet,
erlöst und von Gott angenommen.

In 2. Mose 6 wird von einer weiteren Heilstat Gottes für Israel geschrieben: "Ich will euch bringen
in das Land."

Nach jüdischem Glauben ist damit nicht allein die geschichtliche und geographische Landnahme
Kanaans gemeint, sondern auch und noch mehr das Ziel der Geschichte und des Glaubens
Israels: Die kommende, für immer geltende Zeit des messianischen Heils.

Die aber bringt nur der Messias zuwege. Es gilt bei frommen Juden die Anschauung: Um
Mitternacht wurden wir erlöst, um Mitternacht werden wir erlöst! Das heißt, so wie Gottes
Erlösungswerk in Ägypten in der Mitte der ersten Pessachnacht begann, so wird sein
Erlösungswerk mit seinem Messias auch um Mitternacht einer ersten Pessachnacht beginnen.
Das kann heute Nacht schon sein. Deshalb wartet Israel bei der Sederfeier auf den letzten Anruf
und auf das Zeichen, endlich in eine Zeit der Erlösung und des Heils aufzubrechen. Dafür steht
auf dem Sedertisch ein fünfter Becher, der "Eliasbecher", gefüllt mit Wein, aus dem aber nicht
getrunken wird. Elias wird kommen und dem Messias Gottes den Weg bereiten. Und er tut es
schon jetzt, da in seiner unsichtbaren Anwesenheit über dem Symbol des Eliasbechers das Volk
ausgerichtet wird zur bleibenden Hoffnung auf den Tag der Erlösung Gottes. Dabei wird Elias
gleichzeitig zum Synonym für den kommenden Messias. Über dem zu seinem Empfang
bereitgestelltem Becher wird er sich in der Sedernacht zu erkennen geben, indem er ein
jüdisches Haus betritt, diesen Becher erhebt und daraus trinkt. Und wie gesagt, das kann schon
heute, in dieser Sedernacht geschehen.
Die Feier und ihre Ordnung (Seder)

Nun wird die Sederfeier beginnen. Sie besteht aus drei Teilen. Der erste Teil ist
vergangenheitsorientiert auf die Geschichte Israels, auf die großen Taten Gottes für sein Volk
Israel, wobei im Vordergrund die Befreiung aus Ägypten steht. Der zweite Teil wird das
Sedermahl sein, von der Hausfrau sorgfaltig vorbereitet. Der dritte Teil gilt der Hoffnung Israels,
seiner Zukunft, der Zeit der endgültigen Erlösung und des Heils, dem Ziel des jüdischen
Glaubens und seiner Geschichte.

Damit die Feier in der rechten Ordnung geschehen und in allen jüdischen Häusern in möglichst
gleiche Weise durchgeführt werden kann, bedarf es der Pessach - Haggada (Erzählung). Das ist
ein Buch, aus dem der Hausvater lesen und die darin enthaltenen Gebete sprechen wird.

Der erste Becher, der Becher der Heiligung (Kiddusch) wird mit Rotwein gefüllt, und der
Hausvater spricht den Kiddusch, die Eröffnung und Heiligung der Sederfeier.

"Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, der Du die Frucht des Wein-Stocks
geschaffen hast."

"Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, der Du uns aus allen Völkern erwählt,
über alle Nationen erhoben und uns durch Deine Gebote geheiligt hast ... Du gabst uns diesen
Tag des Mazzotfestes, die Zeit unserer Befreiung ... zum Andenken an unseren Auszug aus
Ägypten..."

Dann erhebt er sich und wäscht sich nach Vorschrift die Hände. Etwas Petersilie wird in
Salzwasser getaucht und gegessen. Das soll an den Ysop erinnern, der zur bewahrenden
Blutbesprengung gebraucht wurde, aber auch an den rettenden Durchzug des Volkes Israel
durch das Rote Meer.

Nun bricht der Hausvater die mittlere Mazza auseinander und verbirgt die eine Hälfte. Dann
nimmt er das Ei und den Lammknochen von der Sederschüssel, die mit den übrigen
Symbolspeisen von den Feiernden hochgehoben wird. Dazu sprechen alle:

"Dies ist das Brot des Elends, das unsere Väter in Ägypten gegessen haben. Wer hungrig ist, der
komme und esse! Jeder, der in Not ist, komme und halte mit uns das Pessachfest. Dieses Jahr
noch hier, im kommenden im Lande Israel. Dieses Jahr noch Sklaven, im kommenden Jahre frei."

Ein erster Höhepunkt der Sederfeier ist das vorbereitete Fragen des jüngsten Teilnehmers an der
Sederfeier, meist eines Kindes. Es ist das Fragen nach dem Sinn dieser Feier:

"Warum ist diese Nacht so ganz anders als alle anderen Nächte? Sonst essen wir gesäuertes
und ungesäuertes Brot - heute aber nur Mazzot. Sonst essen wir verschiedenes Kraut - heute nur
Bitterkraut?" usw.

Darauf werden die Mazzot aufgedeckt, und es folgt das großartige Bekenntnis Israels. Ein
Bekenntnis, das nun von allen feiernden Juden in dieser Nacht gesprochen wird; es ist der Grund
der Sederfeier und das Bekenntnis ganz Israels:

"Sklaven waren wir dem Pharao in Ägypten, aber der Ewige, unser Gott, führte uns heraus mit
starker Hand und ausgestrecktem Arm. Hätte der Heilige, gelobt sei Er, unsere Väter nicht aus
Ägypten gerettet, dann wären wir und unsere Kinder noch immer in der Sklaverei Pharaos in
Ägypten..."
Dahinter steht das Bewußtsein des jüdischen Glaubens: Gott der Herr führte uns und wird uns
weiter fuhren! Er befreite uns vom Tode Ägyptens und wird uns immer wieder befreien aus den
tödlichen Bedrohungen in dieser Welt. Im Bewußtsein dessen geschieht auch jene
Symbolhandlung: die Feiernden sitzen angelehnt oder liegen, was in der antiken Zeit nur den
Freien und nicht den Sklaven zustand.

Erinnerung an die Not in der Vergangenheit Israels, Erinnerung an die Wunder der Rettung und
des Lobpreises über die Rettung Israels durch seinen Gott bis auf den heutigen Tag, das alles
füllt den ersten Teil der Sederfeier. Jetzt wird der zweite Becher Wein getrunken, man wäscht
sich die Hände und ißt symbolhaft je ein kleines Stück von allen drei Mazzot, bestrichen mit
Maror und Charossot, dem Bitteren und Süßen.

Zum Lobpreis dieser Nacht gehört das "Hallel", die gesprochenen Psalmen 113 bis 118, wobei
die Psalmen 113 und 114 zum ersten Teil, die anderen zum letzten Teil der Sederfeier gehören.
Dazu gehört auch die Aufzählung der zehn Plagen, die über Ägypten kamen: Blut, Frösche,
Mücken, Ungeziefer, Seuche, Blattern, Hagel, Heuschrecken, Finsternis, Töten der Erstgeburt.
Dabei tauchen bei Nennung jeder Plage die Teilnehmer einen Finger in ihren Becher Wein, um
einen Tropfen zu verschütten: "Der Herr aber führte uns heraus mit starker Hand...!" Das will
bedeuten: Um unserer Rettung willen mußten andere Menschen leiden.

Es folgt der zweite Teil der Feier, das Sedermahl, eine gut vorbereitete und wohlschmeckende
Mahlzeit. Jeder ißt sich satt.

Nach dem Mahl

bei fortgeschrittener Nacht beginnt der letzte Teil der Sederfeier. Die anwesenden Kinder haben
jetzt die Aufgabe, die am Anfang der Feier versteckte Hälfte der mittleren Mazza zu suchen. Wird
sie gefunden, dann herrscht Freude und die Kinder erhalten Geschenke. Der Hausvater bricht
von der wiedergefundenen Mazzahälfte für jeden Festteilnehmer ein Stück davon, das gegessen
wird.

Der dritte Becher wird mit Wein gefüllt und der Hausvater wendet sich an die anwesenden
Männer:

"Meine Herren, wir wollen das Tischgebet sprechen: Der Name des Ewigen sei gepriesen von
jetzt an bis in Ewigkeit. Lasset uns preisen den, der uns speist und von dessen Güte wir leben..."

Dieser dritte Teil des Festes ist zukunftsorientiert, gefüllt mit der Hoffnung auf die Erlösung in der
Zeit des kommenden messianischen Heils. Der Segen der kommenden Heilszeit wird erbeten
und zeichenhaft für die Gegenwart vorweggenommen:

"Mach uns frei, Ewiger, unser Gott, bald von all unseren Bedrängnissen ... Der Barmherzige
zerbreche das Joch des Druckes von unserem Nacken und führe uns frei und aufrecht in unser
Land ... Er sende uns reichen Segen ... und den Propheten Elias, dass er uns gute Nachricht des
Heils und des Trostes bringe ... und uns würdig mache für die Messiaszeit... Er stifte Frieden für
ganz Israel."

Dieser dritte Becher Wein wird Becher der Erlösung oder Becher des Segens genannt. Denn die
erflehte Erlösung in der messianischen Zeit bedeutet schon Segen für die Gegenwart Israels.
Auch die Mazzahälfte weist darauf hin. Sie wird als "Afikoman" bezeichnet, was nicht nur
"Nachtisch", sondern von Aphikomenos "der Kommende", also "Brot des Kommenden" -Messias
- bedeutet.

Nachdem die Teilnehmer ihren Becher vom Hausvater zum vierten Mal gefüllt bekommen, wird
der zweite Teil des Hallels, die Psalmen 115-118 gesungen oder gesprochen. Dann schließt die
Feier mit weiteren Gebeten, dem Singen von volkstümlichen Liedern und dem Wunsch: Das
kommende Jahr in Jerusalem!

Das Schlußgebet

"Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, - für den Weinstock und für die Frucht
des Weinstockes, für die Frucht des Feldes und für das gute, schöne und geräumige Land, das
Du einst unseren Vätern zum Erbe gegeben hast, dass wir von seinen Früchten essen, an seinen
Gütern uns sättigen, Erbarme Dich Gott, unser Herr, über Israel, Dein Volk, über Jerusalem, die
Gottesstadt, über Zion, den Wohnsitz Deiner Herrlichkeit, über Deinen Altar und Tempel, und
erbaue Jerusalem bald in unseren Tagen. Führe uns dahin, dass wir essen von des Landes
Frucht und dafür Dich preisen in Reinheit und in Heiligkeit! Erfreue uns am Tage des
Mazzotfestes, denn Du, Gott, bist gütig und wohltätig gegen alle. Dir danken wir für das Land und
die Frucht des Weinstockes. Gepriesen seist Du, Ewiger, für das Land und die Frucht des
Weinstockes. Beendet ist der Seder, nach seinen Einzelheiten, nach seinen Vorschriften und
Gesetzen. Wie es uns vergönnt war, ihn zu verrichten, so möge es uns auch in Zukunft vergönnt
sein, ihn zu begehen. Reiner, der in den Himmelshöhen thront, richte auf das Volk, das nicht
gezählt wird. In Bälde führe Deine Sprösslinge als Erlöste nach Zion im Jubel."

Das Abendmahl Jesu

Es ist Mitternacht. Die eingeladenen Gäste haben sich verabschiedet. Der Elias- oder
messianische Becher steht noch unberührt auf dem Tisch. Der Erwartete ist nicht gekommen.
Oder -war das nicht schon längst geschehen? "... nahm Jesus den Kelch ... und sprach: Trinket
alle daraus!"

Die Sederfeier Israels bildet den Hintergrund für die Abendmahlsfeier, die Jesus eingesetzt hat:
"Das tut zu meinem Gedächtnis."

Wie jüdische Menschen im Pessachfest die Befreiung Israels aus dem Tode Ägyptens feiern, als
wären sie selbst dabei gewesen, so feiert die christliche Gemeinde das Opfer Jesu als
verschonende und bewahrende Tat, die ihr für die Gegenwart, aber auch für die Zeit des
Kommenden, Heil bedeutet: "Bis dass Er kommt!" (1. Korinther 11, 26).

In der Sederfeier benutzt Jesus Elemente der jüdischen Glaubenssymbolik als Zeichen für den
"Neuen Bund", den er und die judenchristliche Gemeinde als Heilsangebot Gottes zunächst für
sein Volk Israel verstand. In der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte, brach's
und sprach: "Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird." Mit diesem
Brot kann nur die Mazzahälfte gemeint sein, die im letzten Teil der Sederfeier aus der
Verborgenheit hervorgeholt, gebrochen und dann verteilt wird: "Brot des Kommenden". Das aber
bedeutet für die damals mit ihm feiernden Jünger, dass sich Jesus vor ihnen als der Messias
offenbarte, auf den das jüdische Volk wartete. Dasselbe gilt für alle diejenigen, die auch heute
noch das Brot des Abendmahls so empfangen, "als seien sie damals dabei gewesen." Wie die
aus der Verborgenheit sichtbar gewordene Mazzahälfte, so kam der im jüdischen Volk
verborgene und verheißene Messias, wie einst Melchisedek, als Friedenskönig zum Segen für
seine Anhänger und Nachfolger mit den Zeichen seiner totalen Hingabe in Brot und Wein.
"Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird..." "Desgleichen nach dem
Mahl nahm Jesus den Kelch, sagte Dank, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus, das ist
mein Blut des Neuen Bundes, das für euch vergossen wird. Das tut zu meinem Gedächtnis."

Mit den Worten "Trinket alle daraus" konnte nur der messianische Kelch (Eliasbecher) gemeint
sein, aus dem bis zur Ankunft des Messias niemand trinken durfte.

Wie einst das Blut des geschlachteten Lammes, das an den Türpfosten die auf Befreiung
warteten Israelis vor dem Todesengel schützte, so schützt jetzt das Opfer des Lammes Gottes
die Anhänger und Nachfolger des Messias Jesus vor dem Gericht Gottes mit der Vergebung all
ihrer Sünden und versichert ihnen den Heimgang ins himmlische Reich der Verheißung.

Deshalb: "Trinket alle daraus!"

So ist das Abendmahl für Christen das Fest der Verschonung.

Mit der Auferstehung Jesu wurde ihnen das garantiert:

"Ich lebe und ihr sollt auch leben!" (Johannes 14, 19)

---

Erich Sauer

In der Kampfbahn des Glaubens

- Ein Weckruf zu neuem Leben nach Hebräer 12 -

Zur Einführung

Gottes Volk hat Gottes Ruf vernommen. Nur dadurch ist es überhaupt »Volk Gottes« geworden.
Denn »der Glaube kommt aus der Predigt« (Röm. 10, 17).
Damit hat Gottes Wunderwerk an Seiner Gemeinde begonnen. Wir können nicht hoch genug von
den Erlösten des Herrn denken und reden. Sie sind Errettete und Versöhnte, Befreite und
Gesegnete (Kol. 1, 14; Eph. 1, 3). Sie sind »Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte« (Kol.
3,12). Sie sind Gefäße Seiner Gnade, Söhne des großen Vaters, Königskinder und
Himmelsbürger. Bei aller Unvollkommenheit und Schwachheit im einzelnen dürfen wir
zuversichtlichen Glauben haben an das Werk des Heiligen Geistes in den Seinen. Wir dürfen
Christi Bild in Seinen Nachfolgern, ja, Christus Selbst im Bruder sehen und uns in Ihm von
Herzen übereinander freuen. »An den Heiligen, so auf Erden sind, und den Herrlichen, an denen
habe ich all mein Gefallen« (Ps. 16, 3 Luth.).

Und doch!
Gottes Volk braucht ein neues Erwachen! Es ist eine erschütternde Tatsache, daß es, trotz des
gewaltigen Redens Gottes im Weltgeschehen der letzten Jahrzehnte, zu keiner wirklich großen,
weiter ausgedehnten, allgemeinen Erweckung gekommen ist. In keinem einzigen europäischen
Lande!

Gewiß, in nicht wenigen Städten und Bezirken hat der Geist Gottes örtliche Bewegungen wirken
können. Die breite Öffentlichkeit wurde machtvoll mit dem Evangelium angesprochen. Gläubige
wurden neu belebt, Fernstehende gewonnen, und jubelnde Heils- und Dankeslieder ertönten in
Kirchen und Zelten, in Gemeindesälen und Wohnhäusern. Für all diese Gnadenwirkungen in
Stadt und Land kann der Herr nicht hoch genug gepriesen werden.
Und doch stellen wir fest: So viel irdischer Sinn unter den Gläubigen, so viel Weltliebe und
Sorgengeist, so viel kleingeistige Ichbezogenheit, so viel Drehkrankheit um den eigenen Kreis, so
viel Verkrampftheit und Verliebtheit in alte, oft biblisch nicht einmal zu beweisende, schon längst
leblos erstarrte Formen, so viel Überbetonung von Zweitrangigem, so viel Nichtbeachtung der
eigentlichen Werte!

Wir müssen uns da allen Ernstes fragen: Sind denn unsere Ohren so taub geworden, daß wir
Gottes Reden nicht einmal unter dem Donner der Schlachtfelder, dem Brausen der Bomber, dem
Krachen der Mauern, dem Splittern der Wohnhäuser, dem Sterben von Millionen - von Männern
und Frauen, von Alten und Jungen - zu vernehmen imstande sind?

Zweifellos, hier hat die S ü n d e gehandelt! Nicht Gott, sondern die dämonisierten Kräfte der von
Ihm losgelösten Weltreiche (Ps. 2, 1-3) haben dies alles verschuldet. Aber in diesem Gebrause
der Katastrophen - sie geheimnisvoll überwaltend und letzten Endes machtvoll regierend (vgl.
Jer. 51, 20) - hat Gott gesprochen: »Kommet her und schauet die Werke des H e r r n, der auf
Erden solch Zerstören anrichtet!« (Ps. 46, 9.)

Wie aber soll denn Gott n o c h eindringlicher reden? Großmächte sind zerschlagen, Städte in
Ruinenfelder verwandelt, Jahrhunderte alte, unersetzbare Kulturwerte vernichtet, Menschenleben
millionenfach in den Tod gegeben. So erschütternd hat sich die Gottesferne der Sünder - unter
dem Gerichtswalten des Höchsten - zu ihrem eigenen Unheil ausgewirkt!
Wie hätte doch da, mitten im satanisch aufgewühlten Geschichtsgetriebe, Gottes Volk Gottes
Stimme erkennen müssen! Wie hätte es zu einem kraftvollen Zeugnis, zu missionarischem
Schwung, zu Einsatzbereitschaft und Opfersinn, zu Heiligung und Bruderliebe, zu einem
wirklichen Leben für die Ewigkeit kommen müssen!

Und doch ist - auf das Ganze gesehen - nur so wenig hiervon eingetreten!

Wie aber können wir erwarten, daß Fernstehende erwachen, wenn wir selbst nicht »erweckt«
sind? Wie soll »Feuer« ent-stehen, wenn wir selber nicht »brennen«?

Wie soll Leben gezeugt werden, wenn wir selbst nicht wahrhaft »lebendig« sind? - Das darf nicht
so bleiben! Gottes Volk muß erwachen!

D u mußt erwachen! I c h ! Wir müssen uns von neuem mit den Lebenskräften von oben
bekleiden lassen. Der lebendige Christus heute muß uns neu vor die Seele treten und uns
ergreifen.

Aus aller falschen Ruhe müssen wir heraus und in ein heiliges Tun hinein! Wir müssen es neu
lernen, unser Christenleben als »Lauf« aufzufassen, als ein »Jagen« in der »Rennbahn des
Glaubens« (vgl. Phil. 3,14; Hebr. 12,14). »Ich 1 a u f e nun also« (1.Kor. 9,26). »Ich nehme keine
Rücksicht auf mein Leben, als teuer für mich selbst, auf daß ich vollende meinen L a u f« (Apg.
20, 24), »als der ich nicht vergeblich g e l a u f e n bin« (Phil.,2, 16). »Ich habe den L a u f
vollendet« (2. Tim. 4, 7).
Das »Kleinod« winkt (l. Kor. 9, 24 Luth.). »Ich j a g e nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem
Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu« (Phil. 3, 14).

Dabei aber hat nur der den Sieg, der auf Christus schaut! Denn auch Christus war Kämpfer.
Was wir brauchen, ist ein erneutes Schauen der Person des Erlösers, ein Blicken auf das Kreuz
und praktische Kreuzesnachfolge, ein dankbares Erkennen der uns überströmend
beschenkenden Gnade, ein Erfaßtsein und Durchpulstwerden von den Kräften Seines Geistes,
ein Jagen in Seiner Kraft nach dem Vollziel unserer Berufung.
Dies bedeutet zugleich im einzelnen: Bewährung in Schwierigkeiten und Leid, Ausschaltung alles
Sorgengeistes, Überwindung aller Ermüdungserscheinungen, Zeugnisbereitschaft und
Missionsgeist, Bruderliebe und Heiligung, Gebetsleben und Hören auf Gottes Wort und, durch
dies Ganze, zielbewußtes Hineilen zu Himmel und Herrlichkeit.
Das ist die Zielsetzung der hier vorliegenden Schrift.

Vor jedes Kapitel des Folgenden ist - in der Menge-Übersetzung - der dazugehörige Bibeltext von
Hebräer 12 gesetzt, um Schriftwort und Betrachtung möglichst eng miteinander zu verbinden und
das Lesen und Verstehen des Ganzen zu beschleunigen und zu erleichtern.

Möge der Herr das Zeugnis dieses Büchleins segnen! Bibelschule Wiedenest, im Februar 1952
Erich Sauer

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel. »Lasset uns aufsehen auf Jesum!«


2. Kapitel. Christus - das Vorbild im Kampf.
3. Kapitel. Der Kampf, der uns verordnet ist.
4. Kapitel. Der Christ und das Leid.
5. Kapitel. Nicht müde werden!
6. Kapitel. Verschleuderte Werte.
7. Kapitel. Vom himmlischen Reichtum des neuen Bundes.
I. »Lasset uns aufsehen auf Jesus« Hebr 12,1.2

»Die größte Freude im Leben ist, Jesus Christus bekannt zu machen.« So las ich es als
gewaltigen, eindrucksvollen Wandspruch in der großen Evangeliumshalle Moody's in Chicago.
Dies Wort des großen Evangelisten ist zugleich der Ausdruck des Lebensinhalts und der
Lebensfreude dieses besonderen Mannes Gottes. Gleichzeitig aber darf es auch das Motto des
Dienstauftrags und des Strebens aller wahrhaft Erlösten sein. Wir alle leben »aus« Christus. Wir
alle streben »zu« Christus hin. Wir alle wollen darum auch »in« Ihm und »für« Ihn da sein. Unser
Leben hat nur soviel Wert, als Christus in ihm ist. Alles Beiwerk neben Jesus geht dahin. Es hat,
wenn es in den rechten Schranken gehalten wird, für das irdische Gefäß unseres Lebens seine
nicht zu unterschätzende Gegenwartsbedeutung - und wir sind weit davon entfernt, einer
erdflüchtigen, Gottes Schöpferherrlichkeit geringschätzenden, unnüchternen Schwarmgeisterei
das Wort zu reden -; aber b l e i b e n d ist für unsere e w i g e Existenz dennoch nur das, was
schon heute in uns auf Christus gerichtet war, was f ü r Ihn gelebt und geliebt, i n Ihm getan und
gelassen, m i t Ihm gelitten und erstritten war. Jesus, Jesus allein, ist d a s Leben unseres
Lebens, die Ewigkeit unserer Zeit, der Wert, der niemals geraubt, zertrümmert oder entwertet
werden kann. Darum hängt alles in unserem Leben von unserer praktischen Glaubensstellung zu
Jesus Christus ab.

Dies ist die Grundhaltung alles neutestamentlichen, geistlichen Lebens. »Christus zu treiben«, ist
das Anliegen des gesamten Neuen Testaments. Für alle neutestamentlichen Schreiber ist Jesus
Christus das lebendige und alleinige Universalheilmittel gegen jeden Schaden. Sie alle wissen
es: Jesus enttäuscht nie. Jesus überrascht nur! ...
»Lasset uns aufsehen auf Jesus« ist die eigentliche Zentralbotschaft.

Drei neutestamentliche Schriften bilden hier - inmitten der Gesamtheit der 27 Bücher - ein
besonderes Dreigestirn: das Johannesevangelium, der Kolosserbrief und der Hebräerbrief.
Im Johannesevangelium strahlt diese Christusherrlichkeit auf in der Schau von o b e n her. Er ist
der Sohn, der vom »Himmel« in die Welt gekommen ist, Er, den der »Vater« »gesandt« hat. Also:
Christusschau vom Himmelsurgrund her.
Im Kolosserbrief schauen wir Jesu Herrlichkeit gleichsam von i n n e n her, von Ihm Selber, dem
lebendigen, wirksamen Weltheiland und Erlöser, die überragende Größe Seiner Person (bes. Kol.
1), die allumfassende Allgenügsamkeit Seines Werkes (bes. Kol. 2). Also: Christusschau vom H e
i l s g e s c h i c h t s - Mittelpunkt her.
Der Hebräerbrief zeigt uns Jesu Herrlichkeit von »v o r h e r« her, von der Heilsvorbereitung in
der alttestamentlichen Geschichte, und damit Ihn selbst als Den, der sogar die größten
Offenbarungen Gottes nicht nur erfüllt, sondern vielfach übertrifft (bes. Hebr. 1-10).

Dabei zielt dieser Ruf auf Leben und Wirklichkeit hin. Das »Hinschauen auf Jesus« muß sich
bewähren in der Praxis des Alltags. Worum es geht, ist nicht »Christusbegeisterung«, sondern
ein »vom Geist Christi Erfülltsein«, nicht bloße Bewunderung Seiner Größe, sondern, mitten in
den Nöten und Bedrängnissen des Lebens, praktische Erfahrung Seiner Allgenugsamkeit. Nicht
nur geistiges Schauen, sondern geistliches Tun; nicht nur Triumphgesang, sondern praktischer
Sieg; nicht nur Anbetung, sondern Nachfolge. Es gehört eben beides unzertrennbar zusammen:
der erhöhte Christus und Seine praktische Erlebbarkeit im niederen Talgrund unseres Heute und
Hier.

Dasjenige Kapitel des Neuen Testaments, in dem diese Zusammengehörigkeit von


Christusschau und Kampfbewährung in ganz besonderer Weise hervortritt, ist das zwölfte Kapitel
des Hebräerbriefes. Wir wollen es fortlaufend unter folgenden Hauptgesichtspunkten betrachten:

Lasset uns aufsehen auf Jesus! Er ist unser Vorbild im Kampf. Vers 1-3.
Lasset uns aufsehen auf Jesus! So erreichen wir praktisch den Sieg. Vers 1-3.
Lasset uns aufsehen auf Jesus! So bewähren wir uns in allem Leid. Vers 4-11.
Lasset uns aufsehen auf Jesus! So vermeiden wir unterwegs die Ermüdung. Vers 12-15.
Lasset uns aufsehen auf Jesus! So verwirklichen wir unsere »Erstgeburtswürde«. V. 16.17.
Lasset uns aufsehen auf Jesus! So gelangen wir zur himmlischen Stadt. Vers 18-29.

Dabei aber ist dies Hinblicken, um das es sich hier handelt, zugleich ein Wegblicken von allem
anderen. Es ist ein Wegblicken von dem nächsten »unwillkürlich« sich darbietenden Gegenstand
auf ein »willkürlich«, das heißt, willentlich, mit Absicht ins Auge gefaßtes Ziel. Dadurch wird alle
Zerstreutheit überwunden, die Blicke werden zu einer Richtung konzentriert, und das Herz wird,
in zusammengefaßter Ausrichtung des ganzen, inneren Menschen auf Jesus Christus, erfaßt von
Seiner Herrlichkeit, und es erlebt in wachstümlichem Maße die Tiefe und den Reichtum des
Wortes: »Sie sahen niemand als Jesum allein.«

Alle Segnungen Gottes sind auf Steigerung angelegt. Jede Erfüllung ist immer zugleich eine
Verheißung auf noch Größeres. Gott kommt niemals an das Ende Seiner Möglichkeiten (Joh. 1,
16; Eph. 2, 7). Darum steht das Herrlichste uns immer noch bevor. Alles ist a u s Herrlichkeit, i n
Herrlichkeit und, seiner gottgewollten Zielstrebigkeit nach, »von Herrlichkeit zu Herrlichkeit hin«
(vgl. 2. Kor. 3, 18).

Anders ist Welt und Sünde. Mit der Scheinfreude beginnt's, mit der Enttäuschung endet's. Alles
ist Umdrehung von Leben und, wie schon das deutsche Wort »Leben« in seiner Umdrehung,
rückwärts gelesen, sagt - »Nebel«. Oder, wie es vor einigen Jahren eine westdeutsche, weltliche
Tageszeitung einmal ausdrückte: Wenn ein Mensch geboren sei, so sollte man eigentlich nicht
sagen: »Er erblickte das Licht der Welt«, sondern: »Er erblickte das Irrlicht der Welt.« Am Anfang
trughafter Glanz, am Ende die Nacht. Alle Täuschung wird darum einst als »Ent-Täuschung«
offenbar.

Vor Jahren besuchte ich die Presse-Ausstellung in Köln. In einem der großen Säle wurde an
Hand zahlreicher Dokumente und Tabellen das Verhältnis zwischen Presse und Post
veranschaulicht. Unvergeßlich bleibt mir die Verzierung an einer der Hauptwände. Sie stellte
einen riesigen Adler dar. Von den Leistungen der deutschen Post war ja hier die Rede. Geradezu
imponierend war der Eindruck dieses riesigen Adlers. Trat man aber näher heran und betrachtete
ihn genauer, so entdeckte man, daß er aus lauter Briefmarken der Inflationszeit
zusammengesetzt war. Tausende kleiner Inflationsbriefmarken! Ich sagte sofort zu meinem
Begleiter: »Bei aller Wertschätzung des Irdischen: ist dies nicht zugleich ein Bild von den Werten
dieser Welt allgemein? Sieht man sie von fern an - gleichsam auf den ersten Blick -, so erscheint
alles großartig und eindrucksvoll. Betrachtet man sie aber aus der Nähe und genau, so entdeckt
man: Es sind ja alles nur Inflationswerte! Große Zahlen und geringer Wert! Inflation nicht nur des
Geldes, sondern auch Inflation des Wortes! Inflation der Begriffe! Inflation der Ideale! Inflation des
Geistes!« Von fern wie ein Adler, in sich selbst Inflation!

Wie ist da Jesus Christus doch so ganz anders! Er gewinnt, je mehr man Ihn kennen lernt. Er
bewährt Sich auch unter den schärfsten Erprobungen der Praxis. Er versagt nie. Darum wollen
wir unser ganzes Sinnen und Streben auf Ihn richten. Er führt uns »von Glauben zu Glauben«
(Röm. 1, 17), »von Kraft zu Kraft« (Ps. 84, 7), »von Klarheit zu Klarheit« (2. Kor. 3, 18). In Ihm
steht ein unerschöpflicher Heilsbrunnen offen (Jes. 12, 3; Sach. 13, 1).

Darum: »Lasset uns aufsehen auf Jesum«!

II. Christus - das Vorbild im Kampf

Hebr 12,2-3: Lasset uns aufsehen auf Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der,
obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande geringachtete und
sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.
Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht
matt werdet und den Mut nicht sinken laßt.
Auf den rechten Blick kommt es an. Wer recht leben will, muß recht sehen können. Wer als Christ
richtig leben will, muß auf Christus schauen. »Willst du enttäuscht sein, so schaue auf die
Menschen. Willst du verzagt sein, so schaue auf dich selbst. Willst du ermutigt sein und Sieg
haben, so schaue auf Christus!« Er, Jesus allein, ist die Kraftquelle für alle, die in der
»Kampfbahn des Glaubens« laufen und an das Ziel ihrer Berufung gelangen wollen.

Großartig ist das Bild des Gekreuzigten, das der Schreiber des Hebräerbriefes in Kapitel 12 uns
vor Augen stellt. Christus erduldete das Kreuz. Ohne dies Zentralereignis in der Geschichte der
Offenbarung gäbe es kein Heil. Darum gehört die Botschaft von Ihm und Seinem Opfertod, in
Verbindung mit dem Triumph Seiner Auferstehung, in den Mittelpunkt und Vordergrund jeder
wirklich schriftgemäßen, heilskräftigen Evangeliumsbezeugung.

»Lasset uns aufsehen auf Jesum!« Er erduldete das Kreuz

1. als standhafter Held unbeirrbaren Siegeswillens.

Was äußerlich scheinbar Schwachheit war, war in Wahrheit innerlich Sieg. Wie leicht wäre es für
Christus gewesen, vom Kreuze herabzusteigen und Sich Selbst zu befreien! Wie ohne weiteres
hätte Er den Vater bitten können und Er hätte ihm »zwölf Legionen Engel« zur Verfügung gestellt
(Matth. 26, 53)! Wir machen uns kaum eine Vorstellung von dem, was das bedeutet hätte. Als
Gott in den Tagen Hiskias das durch die Assyrer hart bedrängte Jerusalem rettete, sandte Er
einen Engel gegen die assyrische Heeresmacht, und dieser tötete in einer Nacht
einhundertfünfundachtzig-tausend assyrische Soldaten und Offiziere (2. Kön. 19, 35)! Jesus aber
erklärt, daß Ihm, wenn Er nur gewollt hätte, ganze Legionen von Engeln zur Vernichtung Seiner
Feinde zur Verfügung gestanden hätten.

Wenn Christus nur gewollt hätte! Aber E r h a t n i c h t gewollt! Er wußte ja, daß nur durch
unbeirrbares Festhalten am Leidensweg das stellvertretende Sühnopfer dargebracht und die
Erlösung für die Welt bewirkt werden konnte. Darum blieb Er im Leiden. Darum harrte Er aus, bis
das Ziel erreicht war und Er in der Todesstunde von Golgatha den Siegesruf aussprechen
konnte: »Es ist vollbracht!« (Joh. 19, 30.)

Ganz stark betont der Hebräerbrief diese Standhaftigkeit und Unbeirrbarkeit des Siegeswillens
Jesu. In dreifacher Steigerung hebt er das geradezu Unerhörte dieser Situation von Golgatha
hervor.

Er, der Herr des Universums, ließ Sich von staubgeborenen Kreaturen »Widerspruch« gefallen,
ja, »großen« Widerspruch!
Er, der König der Ehren, ließ Sich »Verachtung« und »Schande« entgegenbringen und hat dann,
mitten in diesem »Verachtetsein«, in wahrer, innerer Königshaltung, »die Verachtung verachtet«!

Er, der Vollkommene und Heilige, ließ Sich dies alles von »Sündern« gefallen! S ü n d e r haben
Ihm dies alles angetan! Sünde aber ist die eigentliche Entehrung der Kreatur. Das aber heißt:
Durch die Sünde Entehrte haben Ihn, den hochheiligen Ehrenkönig, entehrt, ja Ihn als Verbrecher
durch Seine Hinrichtung als nicht mehr tragbar aus dem Verbande der Menschheit, wie sie es
meinten, ausgestoßen.

Dies alles erdulden und doch nicht brauchen, - sich so scheinbar besiegen lassen und dennoch
seinen Feinden unendlich überlegen sein, - aber eben nur um der Erreichung des hohen, idealen
Zieles willen von allen äußeren, zu jeder Minute zur Verfügung stehenden Machtmitteln in freier
Entscheidung keinen Gebrauch machen: Das ist allerdings zielbewußter Siegeswille in
unbeugsamer Standhaftigkeit! Das ist heldenhafteste Seelenkraft unbeschreiblichster Größe.
Wahrlich, Christus, der größte Dulder, war gerade in Seinem Dulden der allergrößte Held!
Er erduldete das Kreuz

2. als Heerführer und vollkommenste Ausgestaltung des Glaubens.

Christus ist der »Anfänger und Vollender des Glaubens«. Die Schrift spricht hier nicht lediglich
von «unserm« Glauben, etwa nur in dem Sinne, daß Christus durch Seinen Opfertod, Seine
Auferstehung und Sein Evangelium durch den Heiligen Geist der schöpferische Urgrund unseres
persönlichen Glaubenslebens sei und darum uns auch bewahre, unseren Glauben »vollende«
und die Seinen ans Ziel bringt; sondern sie spricht vom Glauben s c h l e c h t h i n. Der
Gegenstand des Glaubens hat Selber geglaubt! Und so wie Er, als Bahnbrecher des Glaubens,
durch eigenes Glauben den Seinen vorangegangen ist, so ist Er, gerade in diesem Seinem
Glauben, die vollkommenste Ausgestaltung des Glaubens überhaupt gewesen. In Ihm, der
wahrer Gottes- und Menschensohn war, ist der Glaube auf die Stufe höchster Vollendung
erhoben worden. Jesus hat vollkommenen Glauben bewiesen. So ist Er alles in Einem: Urheber,
Bahnbrecher und Vollender des Glaubens.

Am wunderbarsten zeigt sich dies in Seinem Siegesruf: »Es ist vollbracht.« Wenn dies Wort am
Auferstehungsmorgen oder nach der Himmelfahrt des Herrn auf dem Thron der göttlichen
Herrlichkeit gesprochen worden wäre, so hätte man dies - in aller Ehrfurcht sei es gesagt -
vielleicht begreifen können. Aber Christus hat es auf G o l g a t h a ausgerufen! Also gerade in
dem Augenblick, in dem alles auf Niederlage und Untergang eingestellt zu sein schien, als die
Sonne sich verfinstert hatte, als Qualen Ihm Leib und Seele durchwühlten, als die Feinde
höhnten und triumphierten, als der dunkle Augenblick des Todes immer näher herankam, d a rief
er aus: »Es ist vollbracht!«

In der dunkelsten Stunde der Geschichte des ganzen Weltalls hat Er das strahlendste Siegeswort
in der gesamten, irdischen und überirdischen Weltallgeschichte ausgerufen! Wahrlich, wenn
Glaube, nach dem Zeugnis des Hebräerbriefes, eine »Verwirklichung« ist von dem, »was man
hofft«, eine »Überzeugung« von Dingen, »die man nicht sieht« (Hebr.11,1), - dann ist hier Glaube
betätigt worden in der vollkommensten Weise! So ist der Glaube hier zur absoluten Vollendung
gebracht worden. Zugleich leuchtet die vollkommene Menschheit des »Fleisch gewordenen«
Gottessohnes hervor (Joh. 1, 14).
Wir sind es gewohnt Seine ewige Gottessohnschaft, in den Mittelpunkt unseres geistlichen
Denkens zu stellen. In der Tat: Jesus von Nazareth, der durch die Erde pilgerte und dann um
unsertwillen an das Kreuz ging, war »G o t t geoffenbart im Fleisch« (1. Tim. 3, 16). Aber bei dem
allen dürfen wir auch nicht vergessen, daß Er eben Gott geoffenbart war »im F l e i s c h«, das
heißt, in wahrhaftigem, irdischem Menschenleben. Oder, wie es einer der Kirchenväter
ausgedrückt hat: »Er blieb, was Er war. Er wurde, was wir sind.« Hier das Geheimnis lüften zu
wollen, wäre törichter Vorwitz. Das Geheimnis Seiner Menschwerdung ist ewig unergründbar.
Die Wahrheit Seiner Menschheit müssen wir darum ebenso erkennen, wie die Wahrheit Seiner
Gottheit. In Christus war ein Mensch auf dieser Erde, der vollkommen den Willen Gottes tat! In
Ihm wurde offenbar, was Gott überhaupt gemeint hatte, als Er einst sprach: »Lasset uns
Menschen machen in unserm Bilde, nach unserm Gleichnis« (1. Mose 1, 26). Christi Erdenleben
ist die eigentliche, sittliche Auslegung des Sinnes aller Menschenschöpfung.

Wie anspornend und ermutigend zugleich, daß Er, als dieser vollkommene Mensch, uns
Menschen den Beweis geliefert hat, daß es möglich ist, hier auf dieser Erde in durchaus
menschlichen Verhältnissen ein wahres Glaubensleben zu führen und Gott vollkommen zu
verherrlichen! Wie lebendig und wirksam wird gerade von hier aus auch Sein himmlisches
Hohespriestertum! »Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleiden zu haben
vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise
wie wir, ausgenommen die Sünde« (Hebr. 4,15).
Die wahre Menschheit des Erlösers, und zwar gerade auch im Hinblick auf Sein
»Glaubens«leben auf Erden, ist zugleich der Grund, warum der Verfasser des Hebräerbriefes an
unserer Stelle Ihn nicht mit Seinem »Christus«titel einführt - und etwa sagt: »Lasset uns aufsehen
auf Christus!« -, sondern Ihn mit Seinem menschlichen Personennamen »Jesus« nennt, ohne
eine Hinzufügung des Wortes »Christus« oder Seines göttlichen Kyrios (= »Herrn«)-titels.
Vielmehr sagt er ganz einfach und schlicht: »Lasset uns aufsehen auf J e s u m !« Dies ist genau
so beabsichtigt und sinnvoll, wie auch sonst die beiden Namen »Jesus« und »Christus« im
Neuen Testament in ihrer Anwendung sorgfältig unterschieden werden.

»Jesus« ist der Name, der dem Sohne Gottes bei Seiner Menschwerdung gegeben wurde
(Matth. l, 21). Er ist darum in besonderer Weise mit der Zeit Seines Erdenlebens, Seiner wahren
Menschheit und Seiner Erniedrigung verbunden. Es ist der Name; den Er auch mit anderen
Menschen gemeinsam hat (z. B. Jesus Sirach Jesus Justus: Kol. 4, 11).

»Christus« ist Sein Messias- und Amtstitel, in dessen Vollinhalt Er erst später durch Seine
Himmelfahrt und Verherrlichung eintrat. »Das ganze Haus Israel wisse nun zuverlässig, daß Gott
ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus g e m a c h t hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt
habt« (Apg. 2, 36). Von hier aus wird auch klar, warum die Evangelien meistens von »Jesus«
reden, während in den Briefen der »Christustitel« im Vordergrund steht. Denn die Evangelien
handeln von der Zeit Seiner Niedrigkeit, während die Briefe von Ihm als dem Erhöhten und
Verherrlichten zeugen. Nur wo in den Briefen die einstige Niedrigkeit des Menschgewordenen
betont werden soll, steht allein der Name »Jesus« (2. Kor. 4, 10 wörtl.; Phil. 2, 10; 1. Thess. 4,
14; Hebr. 2, 9; 13, 12).

Er erduldete das Kreuz

3. als siegreicher Triumphator zielbewußter Hoffnung.

»Um der vor Ihm liegenden Freude willen« hat Er die Leiden auf Sich genommen. Was war diese
Freude? Nicht die Logosherrlichkeit, die Er gehabt hatte als das ewige »Wort« (griech. logos) vor
Seiner Menschwerdung, nicht die Freude an der Welt, die Ihm der Versucher gegeben hätte,
wenn Er nur, statt den Kreuzesweg zu gehen, alle Herrlichkeit dieser Weltreiche aus seiner Hand
angenommen hätte (Matth. 4, 8-10); auch nicht einfach nur die schlichte Freude an bloßer,
irdischer Leidensfreiheit, die Ihm durch Umgehung des Kreuzes hätte zuteil werden können;
sondern gemeint ist die z u k ü n f t i g e Freude, die Christus vor Augen stand: die vollbrachte
Erlösung, die einst gewonnene Ekklesia, die Verherrlichung des Vaters, Seine persönliche
Siegerstellung in der Herrlichkeit nach vollbrachtem Werk. Eben die Freude, die Er haben würde,
wenn Er bis zum Ende standhaft durchhielt!

Durch nichts Gegenwärtiges ließ Er Sich von diesem Zukünftigen abbringen. Sein Leiden
geschah in Vorfreude! Sein Glauben im Schmuck der Dornenkrone war zugleich zielgewisse
Hoffnung auf die himmlische Königskrone.
Gott hat zu dieser Glaubenserwartung und Hoffnung des Gekreuzigten Sein Ja gesprochen.
Darum sehen wir jetzt Jesum, der ein wenig unter die Engel erniedrigt war, gerade »um Seines
Todesleidens willen« mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt (Hebr. 2, 9).3) Darum hat Gott Ihn, der
Sich einst erniedrigt hatte, »hoch erhöht« (Phil. 2, 9). Darum befindet Er Sich jetzt in der
Herrlichkeit »mitten auf dem Thron«, als das »Lamm wie geschlachtet«, mit den Wundenmalen
Seiner Liebe (Offb. 5, 6). Darum erklingt jetzt zu Seiner Ehre dort droben das «neue Lied«: »Du
bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen - das Buch der
Weltvollendungswege Gottes -; denn Du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft durch
Dein Blut aus jedem Stamm und Sprache und Volk und Nation und hast sie unserem Gott zu
Königen und Priestern gemacht, und sie werden über die Erde herrschen« (Offb. 5, 9; 10). Jesus
als Lamm Gottes ist der durch die Herrlichkeit des Vaters hoch erhöhte und triumphierende
Weltvollender.

Wenn Paulus von dieser »Erhöhung« des einst Erniedrigten spricht, so fühlt er geradezu die
Unmöglichkeit, ein passendes Wort zu finden, das das Ausmaß d i e s e r Erhöhung und
Verherrlichung entsprechend zum Ausdruck brächte. Wie so manchmal, so steht er auch hier vor
der Tatsache, daß die sonst so reiche, griechische Sprache einfach nicht über ein vollwertiges
Wort verfügt, um das zu besagen, was hier gesagt werden muß. Die menschliche Sprache besitzt
eben deshalb hier kein Wort, weil die menschliche Erfahrung die hier auszudrückende Sache
nicht hat. Darum erfindet Paulus nun ein n e u e s Wort und sagt: Gott hat Jesum nicht einfach
»erhöht« oder »hoch erhöht«, sondern Er hat Ihn »ü b e r erhöht« (griech. h y p e r hypsosen).
Das ist die Antwort Gottes auf die Standhaftigkeit, den Glauben, die Hoffnung des Gekreuzigten.
So hat der Vater der Herrlichkeit Ihn, den Entherrlichten, zur Himmelsherrlichkeit »übererhoben«!
Aber alle diese Worte stehen in der Schrift um eines praktischen Zieles willen.

Christus erduldete das Kreuz

4. als Vorbild Seiner Nachfolger.

Der Sinn der biblischen Aufforderung »Lasset uns aufsehen auf Jesum!« ist, im Zusammenhang
des Hebräerbriefes, der: In der Kampfbahn des Glaubens laßt uns, im Blick auf den Herrn, frohen
Mut gewinnen, Ihm nachzueilen. Der Blick auf den Gekreuzigten gibt in allen Lagen neue
Zuversicht. Auch das Leid wird durch das Kreuz in das rechte Licht gerückt. Um unsere eigenen
Schwierigkeiten richtig einzuschätzen, müssen wir erwägen, was Jesus erduldet hat, gleichsam
»berechnen und überschlagen«, welchen Widerspruch E r zu erdulden hatte.

Das ist der Ansporn, der sich aus dem Aufblick auf Jesus für uns ergibt. Wie Er standhaft war,
wollen auch wir standhaft sein! Wie Er Glauben bewies, laßt auch uns im Glauben leben! Wie Er
im Leiden hoffte und auf die Krone schaute, laßt auch uns unsern Blick fest auf das Ziel gerichtet
halten! Christus, der Gekreuzigte, ist nicht nur Retter, sondern auch Vorbild! Wir sollen Ihm nicht
nur nachschauen, sondern Ihm nach f o l g e n, nicht nur betrachten, sondern beachten, nicht nur
bewundern, sondern Ihm praktisch nach w a n d e r n ! Vergessen wir es nicht: Das Kreuz ist
nicht nur Erlösung, sondern auch Bindung, nicht nur Befreiung, sondern auch Besitzergreifung,
nicht nur »Vernichtung« der Sünden, sondern auch »Verpflichtung« des geretteten Sünders! Man
kann nicht in Wahrheit an den Gekreuzigten glauben, ohne Seine Kreuzeserfahrung zum
Grundsatz des eigenen Lebens und Verhaltens zu machen! »Denn hierzu ist Christus gestorben
und wieder lebendig geworden, auf daß er über Tote und Lebendige H e r r sei« (Röm. 14, 9).
Absagen allem (Luk. 14,33), das Kreuz auf sich nehmen (Matth. 16,24), Jesum mehr lieben als
das Liebste auf Erden (Matth. 10, 37), nur Ihm allein dienen (Luk. 16,13), sein eigenes Ich
hassen (Luk. 14, 26), sein Leben verlieren, um es auf ewig zu gewinnen (Joh. 12,25) - das ist die
Gesinnung, die der Gekreuzigte von den Seinen verlangt! Nur das ist Kreuzesgemeinschaft mit
Ihm. Nur so kommt es auch zugleich zu einer glückseligen Lebensgemeinschaft mit Ihm als dem
Auferstandenen (Röm. 6,1-14).

Wo der Glaube an den Gekreuzigten wahrer Herzensbesitz geworden ist und im Mittelpunkt
unseres Lebens steht, ist heilige Freude, himmlisches Wesen und ewige Herrlichkeit unser
seliges Los. Das Kreuz ist nicht Untergangs-, sondern Lebenszeichen. Es steht, biblisch
gesehen, in unauflösbarem Zusammenhang mit der Auferstehung. Darum ist Christi Tod zugleich
der Tod unseres Todes und damit Leben und ewige Seligkeit. »Lasset uns aufsehen auf Jesum!«
Im Kreuz ist unser Heil!

Um aber in dieser Weise dein Vorbild sein zu können, muß Jesus, der Gekreuzigte, erst dein
Retter geworden sein. Ehe das Kreuz unsere Heiligung sein kann, müssen wir es als unsere
Rechtfertigung erlebt haben. Ehe das »Neue« beginnt, muß das »Alte« grundsätzlich
verschwinden.

Und wie wunderbar und allumfassend ist doch die Erlösungskraft des Gekreuzigten! Wie
unzählbar waren unsere Sünden! Wie unübersehbar unsere Schuld! Wie völlig unmöglich, mit
eigenen Kräften unsere verfehlte Lebensentwicklung vor Gott je wieder gutzumachen! Darum,
wenn du Ihn noch nicht persönlich als deinen Erretter angenommen hast, so zögere nicht länger,
sondern tue es jetzt! Jesus will dir nichts nehmen. Er will dir ja nur geben! Du sollst nicht beraubt,
sondern beschenkt werden. Der Glaube macht nicht arm, sondern reich.
III. Der Kampf, der uns verordnet ist

Hebr 12,1-3: Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns
ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen
mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,
und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude
haben können, das Kreuz erduldete und die Schande geringachtete und sich gesetzt hat zur
Rechten des Thrones Gottes.

Gedenkt an den, der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht
matt werdet und den Mut nicht sinken laßt.
Am Evangelium lebt alles. Seine Quelle ist Gott, der Lebendige. Sein Vermittler ist Christus, der
Auferstandene. Seine Kraft ist der Geist Gottes, »der Geist, der lebendig macht«.
Darum ist Gottes Heil kein bloßes Gewordensein, sondern zugleich ein dauerndes Geschehen,
kein nur einmaliges Geschenk, sondern ein dauernd sich steigerndes Schenken. Jede Gnade ist
eine uns von Gott in Christus durch den Heiligen Geist gegebene Lebens b e w e g u n g. Da ist
nichts »Statisches«, sondern ein »Dynamisches«, kein Stehen, sondern ein Schreiten, keine
einseitige Rückwärtsschau, sondern ein zielstrebendes Vorwärtsschauen, eben alles ein
lebendiges Handeln, alles geistliche Aktivität, alles Stromlinien geistgewirkter, gotterfüllter
Himmelskräfte.
Gottes Gaben sind nicht wie ein Anker, der das Schiff unseres Lebens einfach festhält, sondern
wie ein Segel, in das der Wind des Geistes Gottes mit Macht hineinwehen und damit das Schiff
unseres Lebens, dem Ziel entgegen, vorwärtsbringen will.

I. Die »Verordnung« des Kampfes

Der Schreiber des Hebräerbriefes erklärt: Wir sollen mit Ausharren laufen den »vor uns
liegenden« Wettlauf (Hebr. 12, 1). Das soll nicht nur heißen: den zeitlich oder gleichsam »geistig-
räumlich« vor uns liegenden Wettlauf; sondern es ist vor allem dynamisch gemeint: den als
unsere A u f g a b e uns »obliegenden« Wettlauf, oder, wie Luther es übersetzt: den Kampf, der
uns »verordnet« ist.

Du kannst dein Christsein vom Wettläufer-sein einfach nicht mehr trennen! Gott hat »verordnet«,
daß du »laufen« sollst! Du erlebst wahre Heiligung nur in einem geistgewirkten Angespanntsein
und Ausgerichtetsein deines ganzen, inneren Menschen auf das ewige Ziel. Wer sich dem Kampf
entziehen will, verzichtet von vornherein auf die Krone und den Siegeslohn.

Wir unterscheiden oft - und durchaus auch mit Recht - zwischen Stellung und Zustand eines
Christen. Aber laßt uns das Wort »Stellung« auch einmal in einem anderen Sinne gebrauchen:
nicht nur als Bild aus dem sozialen Leben (»Stellung« = Würde), sondern als Bild aus dem
militärischen Leben: »Stellung« = Kampfstellung, Schlachtfront. In diesem Sinne müssen wir
dann sagen: Christsein heißt »im Glauben Stellung beziehen« ! Der Feind bestreitet alles. Satan
erklärt sich, bis zu seiner endgültigen Niederwerfung (Offb. 20, 10), niemals für besiegt. Er ist das
wandelnde und handelnde, dämonisch-aktive »Nein« des Bösen gegen alles erlösende,
bejahende Gnadenhandeln Gottes. Darum bleibt der Kampf für uns bestehen, bis wir zur
Vollendung gelangt sind.

Das aber heißt: Nimm dein Christsein ernst! Rechne im Glauben mit den Siegeskräften deines
Heilands. Aber übersieh auch die Wirklichkeit des Feindes nicht! Nimm alle von ihm
ausgehenden, lähmenden Kräfte ernst! Sei straff angespannt! Lebe in heiliger Glaubensenergie!
»Mit der Sünde ist kein Friede möglich.« Vergiß nicht, daß dein Christsein ein Rennen in einer
Kampfbahn ist! Bedenke: »So jemand auch kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn
recht« (2. Tim. 2, 5 Luth.). Wiedergeburt ist nicht Endziel, sondern Start. Du mußt, wenn du das
Vollziel erreichen willst, laufen !

Die Kampflage ist ernst. Dämonen umgeben uns. Finstere Mächte sperren uns den Weg.
Feindesmacht um uns und in uns (Eph. 6, 12) ! Seien wir hart gegen uns selbst! Zähmen wir
unseren Leib (1. Kor. 9, 27)! Beherrschen wir unsere Seele! Halten wir den Blick unseres Geistes
auf Christum gespannt! Nur Kämpfer werden gekrönt! Nur Sieger werden verherrlicht. Nur »wer
überwindet«, spricht Christus, »dem werde ich geben, mit mir auf meinem Throne zu sitzen«
(Offb. 3, 21).

1. Wir sind Kämpfer,


weil im Hintergrund des ganzen Weltall-Verlaufs die gewaltigste Revolution steht, die je in der
Geschichte des Universums vollzogen worden ist, der Kampf zwischen Satan und Gott, und weil
dieser - nach dem Gesamtzeugnis der Schrift - gerade auf unserer Erde, also dem Wohnort
unserer Menschheit, als seinem Zentralkampfplatz ausgefochten und zur Entscheidung gebracht
wird. Dies ist der weltallumfassende, übergeschichtliche Hintergrund unserer Kampfsituation.
Und weiterhin:
2. Wir sind Kämpfer,
weil im Verlauf dieser gewaltigen Auseinandersetzung zwar auf Golgatha von Christus, dem
Gottes und Menschensohn, der grundlegende Sieg errungen worden ist, seine geschichtliche
Durchführung aber noch nicht allseitig und sofort bewirkt wurde. So steht unsere Jetztzeit noch in
der Spannung zwischen Verborgenheit des Reiches Gottes und Offenkundigkeit der Herrschaft
Satans. Dies ist der heils - geschichtliche, in Sonderheit unser gegenwärtiges Gemeindezeitalter
bedingende Hintergrund unserer Kampfsituation.
Und schließlich:
3. Wir sind Kämpfer,
weil es überhaupt dem Gott-Menschheits-Charakter des Reiches Gottes entspricht, bei aller
Vollwirksamkeit der Gnade, der Kreatur dennoch ihre Freiheit zu belassen. So hat der Berufene
sich nicht nur in der Bekehrung grundsätzlich, sondern in seinem Heiligungsleben auch
fortlaufend von Fall zu Fall praktisch zu entscheiden, welchem Herrn er nun dienen will. Dies ist
der sich aus dem Wesen des Reiches Gottes ergebende, dynamisch - sittliche Hintergrund
unserer Kampfsituation.
Aus diesen drei Hauptgründen ist uns der Kampf »verordnet«.

II. Die zur Erreichung des Zieles erforderliche Haltung im Kampf

Welche Haltung müssen wir nun einnehmen, wenn wir in diesem Kampf siegen wollen? Mit Recht
sagt ein Dichter: »Kämpfen macht's noch nicht allein. Nein, du mußt auch Sieger sein!«
Hierzu ist aber eine ganz bestimmte, geistliche Glaubenshaltung nötig. Der Schreiber des
Hebräerbriefes läßt an unserer Stelle vier Hauptgesichtspunkte erkennen.

1. Der Blick auf den Sieger


Wer Sieg haben will, muß auf Christum schauen. »Lasset uns aufsehen auf Jesum!« Sein Kampf
auf Golgatha ist zugleich Vorbild für unseren Kampf. Sein Sieg ist zugleich Grundlage für unser
Siegen. Das Besondere am Glaubenskampf ist, daß wir nicht eigentlich erst um den Sieg ringen,
sondern daß wir ihn schon haben. Wir haben ihn in Christus, unserem Bahnbrecher und
Triumphator. Darum kämpfen wir nicht erst z u m Siege hin, sondern in Wahrheit schon v o m
Siege her. Darum dürfen wir aus Seiner Fülle heraus leben. In Christus ist uns ein ewiger
Reichtum erschlossen. Die Freude an Ihm ist unsere Siegeskraft.

Es war während des ersten Weltkrieges. In den deutschen Großstädten war allerlei Not. Gar
manche Hausfrau hatte schwer zu kämpfen, wenn sie ihre Lieben bei den beschränkten
Lebensmittelrationen hinreichend versorgen sollte. Da kam eines Tages eine schlichte Frau aus
einer der norddeutschen Großstädte an die See. Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie
den Blick in die unendlichen Fernen des Meeres genießen konnte. Und da rief sie, überwältigt
von der Weite des Ausblicks und der Fülle der Wasserfluten, aus: »Endlich mal etwas, das nicht
rationiert werden kann!«

Wir lächeln über diese Frau. Und doch kann man sie in Anbetracht ihrer Lage gewiß verstehen.
Aber wie tausendfach mehr gilt es doch im Hinblick auf die himmlischen Unendlichkeiten, die der
Herr in Seiner Gnade den Seinen zur Verfügung stellt!
Hier ist wirklich eine Fülle, die alle irdischen Maße übertrifft, ein Reichtum, den Gott nicht in
kleinen »Portionen«, sondern in geradezu überwältigend großen Himmelsgaben austeilt.
Gotteskinder sind Königskinder. Darum sollen sie in ihrem Glaubensleben auch königlich reich
leben, und ihr himmlischer Vater erweist Sich in allen Seinen geistlichen Segnungen immer
wieder als ein großzügig spendender, königlicher Geber.

Vor etwas über 25 Jahren diente ich auf einer Glaubenskonferenz in Nordengland. Unvergeßlich
wird mir eine kurze Schriftauslegung bleiben, die einer der Redner dort gab. Er sprach von der
Fülle, die in Christus erschlossen ist, von dem «unausforschlichen Reichtum« Seiner
himmlischen Segnungen (Eph. 3, 8), von Christus Selbst, der »unaussprechlichen Gabe« Gottes
(2. Kor. 9, 15). Und dann wies er auf ein kleines und doch so hoch bedeutsames Wörtchen des
Epheserbriefes hin, das kleine Wörtchen »nach«. »Dieserhalb beuge ich meine Kniee vor dem
Vater unseres Herrn Jesus Christus . . ., auf daß er euch gebe, nach dem Reichtum seiner
Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen« (Eph. 3,
15; 16). Und dazu sagte er ungefähr folgendes: Wieviel mehr besagt doch der Ausdruck »nach
dem Reichtum seiner Herrlichkeit«, als wenn es nur heißen würde: »a u s seinem Reichtum!«
Wenn ein Bettler auf der Straße einen Millionär trifft, und dieser würde ihm, auf seine Bitte hin,
vielleicht einen halben Schilling schenken, so würde jeder wohl mit Recht sagen können, er habe
ihm »aus« seinem Reichtum gegeben; aber niemand würde auf den Gedanken kommen, zu
erklären, er habe ihm »nach« seinem Reichtum gegeben! Wenn er ihm »nach« seinem Millionen-
Reichtum gegeben hätte, wäre die Gabe wohl ganz anders ausgefallen!

Wie aber macht es nun unser Gott? Gibt Er uns nur »aus« Seinem Reichtum? Hier ein wenig
Freude und da ein wenig Sieg? Heute eine kleine Durchhilfe und morgen eine gelegentliche
Gebetserhörung? Nein, Er, der Allgenugsame, gibt »nach« Seinem Reichtum! Nicht nur die
Bedürfnisse unseres Alltags nimmt Er zum Maßstab - obwohl schon das hochbeglückend sein
würde: »Wie deine Tage, so deine Kraft« (5. Mose 33,5-25) - sondern Er legt den Maßstab der
Ewigkeit an unsere Zeit und gibt Seine Segnungen »nach« Seiner Fülle in die Bedürfnisse
unserer Armut hinein.
Daher kommt es, daß das Wort »überströmend« bei Paulus geradezu einer seiner liebsten
Ausdrücke ist

Er spricht von
überströmendem Glauben (2. Kor. 85 7),
überströmender Liebe (2. Thess. 15 3)5
überströmender Hilfsbereitschaft (2. Kor. 85 2)5
überströmendem Fleiß,
überströmender Erkenntnis (2. Kor. 85 7),
überströmender Hoffnung (Röm. 155 13 wörtl.).
Und ebenso gebraucht er ein anderes Wort immer wieder, das kleine Wort »hyper« = »über«.
Mit Recht ist gesagt worden: »Die Vorliebe des Apostels für Wortzusammensetzungen mit
»über« (griech. hyper) gehört zu den Eigentümlichkeiten seiner Redewendungen.« »Von
insgesamt 29 Zusammensetzungen mit »über« im ganzen Neuen Testament sind ihm allein nicht
weniger als 19 eigen, 4 hat er mit andern, biblischen Schreibern gemeinsam.«
»Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke des
Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn« (1. Kor. 15, 58).

Und geradezu überwältigend ist die Fülle, die der Apostel in 2. Kor. 9, 8 in ganz wenigen Worten,
in einem Satz von nicht einmal vier Zeilen, zusammenstellt:
»Gott aber ist mächtig, alle Gnade gegen euch, überströmen zu lassen, auf daß ihr in allem,
allezeit alle Genüge habend »überströmend seid zu allem guten Werk«.

In Christus ist nicht nur ein Vollmaß, sondern ein »über«maß göttlicher Heilsfülle vorhanden. Er
übertrifft in Seinem Geben alle Bedürfnisse unseres Lebens. Darum quälen wir uns nicht armselig
durch den Alltag hindurch, sondern dürfen Sieger in Ihm sein, ja mehr als Überwinder, eben »Ü b
e r« - Überwinder« (Röm. 8,37).

So füllt Gott das Gefäß deines Lebens nicht nur bis hoch oben an den Rand! Er gießt Seine
Segensfülle nicht nur derartig flutend hinein, daß es zum Überfließen kommt. Nein, auch das
Wort »überfließend« reicht noch nicht aus. Gott tut »mehr als überfließend«. Ein solche
übergewaltige Erlösung ist uns in Christus geschenkt!

Und nun, mein lieber Leser, lege neben diese gottgegebenen Möglichkeiten die tatsächliche
Wirklichkeit deiner Erfahrung! Müssen wir uns da nicht beugen vor dem Herrn - du und ich - und
uns schämen, daß wir von diesen Quellen so wenig getrunken haben? Wie oft gleichen wir einem
törichten Bettler, der vor einem hilfsbereiten, reichen Wohltäter steht, ihn um eine Gabe ersucht,
die der Geber ihm auch schon freundlich entgegenstreckt. Aber er klagt dauernd über seine Not
-, er bejammert seine Armut und bittet und bittet; aber er streckt nicht seine Hand aus und nimmt
nicht das Geschenk, das ihm schon lange Zeit - sofort gleich seit Beginn seines Bittens -
bereitwillig entgegengehalten war. So bleibt der Jammernde beim Jammern und der Geber am
Geben-wollen, und, trotz alles Flehens, ändert sich nichts in der Situation.

Wie ganz anders, wenn wir wirklich die Haltung des Glaubens einnehmen: »Wir wissen, daß wir
die Bitten haben, die wir von ihm erbeten haben« (1. Joh. 5, 15). Das aber erlebt nur der echte
Glaubensblick auf Christus.

Im Augenblick aber, wo wir von Christus wegschauen, ist alle Fülle praktisch gewichen. Die
Überwinderkraft ist dahin. Dinge werden uns wichtig, die - im Licht der Ewigkeit gesehen - ganz
unbedeutend sind. Dann bezaubert uns die Verführungsmacht der Sünde. Und wird dann
unserem Eigenleben, unserer Ehre, unserem Besitztrieb, unserem Geltungswillen nicht, wie wir
meinen, entsprechend Genüge getan, so fallen wir in Sünde, Verletztheit, Lieblosigkeit,
Erdensinn, Sorgengeist. Wir haben den Maßstab verloren, weil wir nicht auf Christus geschaut
haben. Wir haben den Schwerpunkt verlagert, der nun praktisch nicht mehr in Gott, sondern in
uns selbst liegt. Wir haben uns verirrt, weil wir die Orientierung an Christus verloren haben.
Da kann dann nur eins helfen: Wieder hinschauen auf Christus! Buße und Beugung vor Ihm, und
dann Ihn im Auge behalten! Das gibt Reinigung und Wiederherstellung und, von dieser
Grundhaltung aus, Wachstum und freudige Heiligung.

Bei einem prunkhaften Herrscherbesuch, so wird berichtet, stand eine Mutter mit ihrem kleinen
Sohn in der vorderen Reihe der Menschenmenge, die die Straßen einer westeuropäischen
Großstadt übersäten, um den Herrscher und sein Gefolge zu begrüßen. Endlich kam der
Erwartete vorbei und mit ihm sein Hofstaat in glänzendem Gepränge. Alles ging verhältnismäßig
schnell vor sich. Da mit einem Mal streckte die Mutter mit einem Ruck begeistert ihren Arm aus,
wies ihren Jungen mit der Hand auf den gerade vorbeikommenden Herrscher hin und rief ihm
eindringlich mit lauter Stimme zu: »Hinschauen und nie mehr vergessen!«
Wie machen wir es im Hinblick auf Christus, den König aller Könige? Laßt es uns wie eine Parole
in unser Leben hinein-nehmen: »Hinschauen und nie mehr vergessen!« Lasset uns aufsehen auf
Jesum! Er ist unser Heil und unser Helfer, unser Vorbild und unsere Kraft.

2. Der Blick auf die Kampfgenossen

Der Schreiber des Hebräerbriefes begründet seinen Zuspruch: »Laßt uns ... in der Kampfbahn
laufen« mit dem Hinweis auf die Glaubenshelden des Alten Testaments. »Deshalb« nun, »d a wir
eine so große, uns umlagernde Wolke von Zeugen haben«, laßt uns laufen« Damit soll gesagt
sein: Ihr Zeugen Jesu Christi in der neutestamentlichen Gemeindezeit, schaut hinein in die
Geschichte der alttestamentlichen Vergangenheit! Bedenkt, was da schon erduldet, gelitten,
gekämpft -, aber auch gesiegt worden ist! Es hat Glaubenshelden gegeben zu allen Zeiten. Ihr
steht nicht allein! Ihr seid nicht die ersten, die um der Wahrheit willen zu dulden haben!
Das ist ja der eigentliche Sinn von Hebräer 11, diesem großartigen Kapitel über die
»Siegesallee« des Glaubens. Was Hebräer 11 sein will, ist nichts Geringeres als ein über vier
Jahrtausende umspannender Geschichts- und Erfahrungsbeweis, daß der Glaube eine
Gotteskraft ist, und zwar eine Gotteskraft, die zu allen Zeiten, in allen Lagen, in den
verschiedensten Ländern, bei Männern und Frauen, bei hoch und niedrig, in Krieg und Frieden,
immer wieder die Bewährungsprobe bestanden hat.
Und wenn in Hebräer 11 eine so lange »Ahnengalerie des Glaubens« gezeigt wird, dann eben
doch wohl deshalb, um damit den unwiderlegbaren Geschichtsbeweis zu liefern, daß wahrer
Glaube sich nicht nur vorübergehend in kurzen Zeitabschnitten geistiger Hochfluten, etwa nur in
Erweckungszeiten, als praktische Siegeskraft erweist, sondern zugleich auch in allen Lagen
dazwischen, eben zu allen Zeiten und darum auch in deiner Zeit, deinem Leben, deiner Umwelt
und deinen Bewährungsproben! Darum gibt es keine Entschuldigung, wenn du versagst. Der
Blick auf die vielen Kampfgenossen bedeutet Ermutigung und Verpflichtung, Ansporn und
Verantwortung. »Deshalb, da wir eine so große, uns umlagernde Wolke von Zeugen haben, . .
laßt uns in der Kampfbahn laufen!«
Und wenn gesagt wird, daß diese Zahl der Glaubensmenschen uns geradezu »umlagert« (griech.
perikeimenon), und wenn sie mit einer dichten »Wolke« verglichen wird, so soll damit auf die
große Vielheit dieser Männer und Frauen hingewiesen werden, und genauso wie die Erinnerung
an die langen Jahrhunderte eine Ermunterung unter dem Gesichtspunkt der Zeit war, so wollen
es diese beiden Ausdrücke»umlagernd« und »Wolke« unter dem Gesichtspunkt der Zahl und des
»geistigen Raumes« sein. Wo du nur hinschaust, siehst du Glaubenszeugen. Sie »umlagern«
dich geradezu! Also Mut wird dir zugesprochen von allen Seiten her.
Der Ausdruck »Zeuge« will hierbei wohl kaum besagen, daß diese Gottesmänner von ihrer
gegenwärtigen, überirdischen und außerirdischen Stellung heraus »Zuschauer« unseres
heutigen Laufens und Ringens sind, gleichsam als solche, die von den »Tribünen« her unseren
Kampf in der »Arena« beobachten - denn nirgends läßt die Schrift sonst ein bewußtes
Teilnehmen und Mitwissen der Abgeschiedenen an dem Ergehen der noch hier kämpfenden
Gemeinde erkennen -; sondern sie sollen damit wohl bezeichnet werden als Menschen, die zu
ihrer Zeit »Zeugen« gewesen sind und die, wenn wir heute noch ihr Leben hinterher überblicken,
auch uns jetzt noch durch ihr Beispiel »bezeugen« können, daß »Glaube im Einsatz« Gottes
Siege erringt. Obwohl sie der Tod schon hinweggenommen hat, ist ihr Zeugnis doch nicht
verstummt. Jene Glaubenshelden von gestern sind uns darum noch heute gegenwärtig. Sie
»umringen« uns geradezu und werden uns zur Glaubensmahnung und Ermunterung.
Schließlich aber wird durch diesen ganzen Zusammenhang auch die hohe Würde wahren
Einsatzes für Christus in das rechte, biblische Licht gerückt. Indem die Glaubenszeugen der
Gegenwart zusammengestellt werden mit den Glaubenszeugen der Vergangenheit, werden die
Bekenner von heute geadelt zu Schicksals- und Geistesgenossen der Propheten von damals. Sie
werden eingereiht in die Armee der großen Gotteshelden, in die Schar der wahren Ehrenträger,
zu denen der Höchste Sich bekennt (Hebr. 11, 16), der Menschen, die zwar durch Verachtung
und Schmach hindurchzugehen hatten, die aber in Wahrheit der Erdboden nicht einmal wert war,
zu tragen (Hebr. 11, 38)! Auch das ist wieder ein Grund, große Zuversicht zu haben, wenn
allerdings auch - verglichen mit jenen - der Rahmen unseres persönlichen Lebens nur klein und
unser eigenes Dienen und Zeugen, nach dem Maß der Führung Gottes, nur äußerst bescheiden
sein mag und ist.

3. Der Blick auf den Feind.

Bei dem Ganzen ist die Bibel außerordentlich nüchtern. Niemals redet sie irgend einer
Schwärmerei das Wort. Darum spricht sie auch ganz ehrlich von den hemmenden und
feindlichen Gewalten, die dem Wettlauf des Glaubens entgegenstehen. Nirgends sagt die Schrift,
wie man es so manchmal in Übergeistlichkeit sagt: »Du hast überhaupt nicht mehr gegen die
Sünde zu kämpfen. Schau nur ganz allein auf Christus. Dann ist alles schon klar.« Nein, ganz im
Gegenteil. Mit einer geradezu plastischen Anschaulichkeit und betonten Ausführlichkeit sagt sie:
»Unser Kampf i s t . . . wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher
dieser Finsternis, wider die Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern« (Eph. 6,12). Die Bibel
richtet eben unseren Blick nach b e i d e n Seiten: auf den Sieger und auf den Feind, auf den
Himmel und auf die Hölle, auf Christus, der uns alles schenkt, und auf Satan, der uns alles
bestreitet.
So darf bei allem Glauben an Christus der Feind nicht verharmlost werden. Er ist eine düstere
Wirklichkeit, die mit Gewalt in unser Leben eingreifen will. Ohne Frage: Der Feind ist groß! Aber,
Gott sei Dank, Christus, der Sieger, ist größer!

Mit Recht sagt Luther vom »alt bösen Feind«:

»Groß Macht und viel List


Sein grausam Rüstung ist.
Auf Erd' ist nicht sein's gleichen.« - Aber ebenso mit Recht triumphiert er:

»Es streit't für uns der rechte Mann,


Den Gott hat Selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt: Jesus Christ,
Der Herr Zebaoth,
Und ist kein and'rer Gott.
Das Feld muß Er behalten!«

Diese Kampfsituation dauert an, bis die Vollendung erreicht ist. Denn das »Fleisch« ist ein
Rebell. Es ist dem Gesetz Gottes »nicht untertan« (Röm. 8, 7). Es unterwirft sich nicht. Ja, es
macht das Gesetz Gottes »kraftlos« und unwirksam (Röm. 8, 3). Es stirbt hienieden auch nicht.
Auch kann es nicht geheiligt werden, sondern muß in ernstem Kampf, im Kampf des Glaubens,
besiegt werden.

»Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch« (Gal. 5, 17). Hier steht
Kraft gegen Kraft, Wille gegen Wille, Lust wider Lust! Und niemals erklärt sich dieser Empörer in
seiner Rebellion gegen Gottes Willen hier auf Erden für besiegt. Er ist wie eine Spirale, die sofort,
wenn der auf ihr ruhende Druck verschwindet, nach oben zurückschnellt. Er ist wie das Weib im
Epha, die »Gesetzlosigkeit«, von der der Prophet Sacharja in seinen Nachtgesichten spricht, die
im Augenblick, in dem das Bleigewicht von der Mündung des sie einsperrenden Hohlmaßes
fortgenommen wird, sprungartig nach oben drängt und sich sichtbar macht und nur mit Gewalt in
das Epha zurückgeworfen« werden kann (Sach. 5, 6-11). Er ist bei einem Gläubigen wie ein
gefangener Revolutionär, der jeden Moment auf den Ausbruch aus seinem Gefängnis lauert und
auch helle Augen hat, jede nur erdenkliche Gelegenheit für sich wahrzunehmen.

Darum widerstehe der Sünde von Anfang an. Spiele nicht mit der Sünde. Liebäugele nicht mit ihr.
Versuchtwerden ist zwar noch keine Sünde - Gedanken an Böses sind noch nicht ohne weiteres
gleich »böse Gedanken« -; aber dulden dürfen wir nicht, daß die Sünde in unserm Inneren Nester
baut! Lerne» Nein« sagen gleich im Anfang, wenn die Sünde an dich herantritt. Nur so wirst du
Sieg bekommen. Bedenke die Wahrheit des Wortes: «Säe einen Gedanken, und du erntest eine
Tat. Säe eine Tat, und du erntest eine Gewohnheit. Säe eine Gewohnheit, und du erntest einen
Charakter. Säe einen Charakter, und du erntest ein Geschick!«

Geistliche Gesinnung ist darum stets auf der Hut. Sie kennt die Gefahren. Sie wacht und betet.
Sie weiß: Unser Weg ist kein Rosenweg, sondern eine Kampfbahn. Der Triumph ist nicht
gegenwärtig, sondern zukünftig. Wir leben noch nicht in Immanuels Land, sondern in der Fremde.
Wir sind Kämpfende und Ringende, Wachsende und Werdende, Wandernde und Eilende. Wir
sind Menschen, die in eine heilige Bewegung, eben auf den »Weg«, gebracht worden sind (Apg.
9, 2). Wir sind auf der Pilgerreise nach dem himmlischen Jerusalem in »Christ's Waffenrüstung«.

Drei feindliche Gewalten können uns im Glaubenswettlauf hemmen: Welt, Sünden und Bürden.

Die »Welt« mit ihrem Widerspruch,


die »Sünde« mit ihrer Bezauberungsmacht,
die »Bürden« mit ihrem lähmenden Druck.

Die Welt hat Christus gehaßt.


Ihr »Widerspruch« hat Ihn ans Kreuz gebracht. Von ihr haben die Nachfolger Christi darum
ebenfalls Ablehnung zu erwarten. Tiefere Freundschaften mit Unbekehrten, frei eingegangene,
eheliche Verbindungen zwischen Gläubig und Ungläubig, Begehrlichkeit nach irdischen Gütern,
Streben nach Anerkennung und Ehrenstellung auf Kosten eines klaren Christusbekenntnisses -
das alles mildert zwar den Gegensatz zwischen »Welt« und Gemeinde; aber es macht uns auch
unmöglich, wirkliche »Läufer« zu sein. Am Schluß ist jedoch jeder Kompromißmacher in ernstem
Maße ein Verlierer. Er erreicht nicht das volle Ziel. Er wird nicht gekrönt (2. Tim. 2, 5).

Die Sünde will uns »umstellen«.


Sie will uns umzingeln von allen Seiten. Sie hat in ihrer Kriegstaktik eine erstaunliche
Geschicklichkeit. Der Hebräerbrief gebraucht in unserer Stelle ein äußerst eindrucksvolles Wort.
Er nennt die Sünde »wohlrings-umstellend« (griech. eu-peri-statos). Das bedeutet zwar nicht,
daß uns die Sünde »immer anklebt«, als ob sie schier unvermeidbar wäre; aber es besagt auch
noch mehr als nur »leichtumstrickend«.
»Es ist, wie wenn ein Läufer in einem dichten Gedränge stände, so daß er sich erst freie Bahn
machen muß, damit er laufen kann. So vertritt uns die Sünde den Weg von außen und von innen,
und es bedarf eines durchaus männlichen, durchgreifenden Ernstes, soll unser Lauf nicht stille
stehen« (Schlatter). Möglicherweise auch denkt der Verfasser bei diesem Ausdruck »fest-
umschließend« an das Bild eines langen, schweren Gewandes, das den Wettläufer am raschen
Lauf hindert und darum abgelegt werden muß. Auch dies würde ganz in den Vergleich seines
Zusammenhangs hineinpassen. In jedem Fall ist der Sinn der:

Die Sünde will »fein umzingeln«.Dabei geht sie äußerst geschickt vor. Dies tut sie auf doppelte
Weise:
Sie tritt auf als »gebender Freund«. Sie verspricht einen Gewinn oder zum mindesten die
Verhinderung eines Verlustes, einen Genuß oder mindestens die Umgehung einer Schwierigkeit,
einen Vorteil oder die Vermeidung einer Unannehmlichkeit. Dies tut sie als Sinnlichkeit,
Machtwille, Gewinnsucht oder» Not«lüge. Dabei beweist sie eine erstaunliche
Wandlungsfähigkeit ihrer Taktik bis hin zur völligen Selbsttarnung, ja bis zur Leugnung der
Existenz ihres eigenen Oberherrn, des Satan. Stets kleidet sich das Böse in das Gewand irgend
eines »Nützlichen« oder »Guten«. Jede Lüge lebt von einem Kern Wahrheit, der in ihr steckt und
von ihr mißbraucht wird.

Dazu kommt eine zweite Methode ihrer Taktik. Die Sünde wird stets vor der Tat die böse Tat zu
verkleinern suchen. Hinterher aber vergrößert sie sie und zerbricht dem Menschen die Zuversicht
und den Mut, daß er doch noch einmal frei und rein werden könne. »Meine Missetat ist zu groß,
als daß sie mir vergeben werden könnte« (1. Mos. 4,13). So führt sie ihn zunächst auf die Bahn
des Leichtsinns und gleich hinterher in die Schwermut. Das Endziel aber ist, daß er den Kampf
überhaupt aufgeben und ihr in Weltsinn und Sklaverei dienen soll. So ist sie zuerst »Freund« und
dann Tyrann, zuerst Blendwerk und dann Finsternis.
Aber, Gott sei gepriesen! Es gibt noch eine andere Macht, die dir ebenfalls von allen Seiten
herannaht! Das ist Gott und Seine Retterkraft. Wohl ist es wahr: die Sünde steht angriffsbereit
und äußerst geschickt von allen Seiten und an allen Ecken lauernd herum. Aber ebenso wahr ist
es, was der Psalmist von seinem Heiland-Gott jubelnd bezeugt: »Du umgibst mich mit
Rettungsjubel!« (Ps. 32, 1). In der Tat:
Er, der Herr, unser Gott, ist »um sein Volk her« (Ps. 125, 2). Sein Name ist ein festes Schloß
(Spr. 18, 10). Seine Erlösten sind darin geborgen.

Der Herr, unser Gott, waltet über uns voller Liebe. »Wie ein Adler ausführt seine Jungen und über
ihnen schwebt, so breitete er seine Fittiche aus« (5. Mose 32, 11).
Der Herr, unser Gott, schützt uns von unten her, daß wir nicht fallen; denn »der Gott der Urzeit ist
deine Wohnung, und unter dir sind ewige Arme« (5. Mose 33, 27). »Er trug ihn auf seinen
Flügeln« (5. Mose 32, 11).
Der Herr, unser Gott, steht uns bei nach allen Seiten. »Ich habe Jehova stets vor mich gestellt.
Weil er zu meiner Rechten ist, werde ich nicht wanken« (Ps. 16,8). »Ob tausend fallen zu deiner
Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen« (Ps. 91, 7).
Der Herr, unser Gott, geht uns voran als unser Feldherr. »Der Durchbrecher zieht vor ihnen her,
sie brechen durch und ziehen durch das Tor. . ., und ihr König zieht vor ihnen her und Jehova an
ihrer Spitze« (Micha 2,13 vgl. 2. Mose 13, 21).
Der Herr, unser Gott, deckt uns von hinten her als unsere Nachhut. »Da erhob sich der Engel
Gottes, der vor dem Heere Israels herzog und machte sich hinter sie; und die Wolkensäule
machte sich auf von ihrem Angesicht und trat hinter sie und kam zwischen das Heer der Ägypter
und das Heer Israels. . ., daß sie nicht zusammenkommen konnten« (2. Mose 14,19; 20).

Und schließlich:
Der Herr, unser Gott, wohnt als Gotteskraft in uns. »Wer mich liebt, der wird mein Wort halten,
und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen«
(Joh. 14,23). »Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit« (Kol. 1, 27).

So ist Christus der Herr nach allen Seiten hin unser Leben. Er ist »alles und in allem« (Kol. 3, 11),
die Grundlage und das Ziel, der Anfänger und der Vollender. Darum dürfen wir stets
siegesgewissen Mut haben, in der felsenfesten Gewißheit: »Wie Berge Jerusalem rings
umgeben, so ist der Herr ringsum sein Volk, von nun an bis in Ewigkeit« (Ps. 125, 2). Damit aber
hat die allseitig uns leicht umstellende Sünde in Christus, dem Immanuel, dem allseitig sich
offenbarenden »Gott mit uns«, ihren Meister gefunden.

Im Buch des Propheten Sacharja lesen wir von einem eigenartigen Nachtgesicht des Propheten.
Vier Hörner starren aus dem Erdboden hervor. Vier Schmiede (Werkleute) kommen heran, jeder
offenbar mit einem schweren Hammer bewaffnet. Und dann hauen diese vier Schmiede mit ihren
vier Hämmern diese vier Hörner zerschmetternd entzwei (Sach. 1, 18-21).
Der dolmetschende Engel erklärt dem Propheten den Sinn der Vision: Die vier Hörner stellen die
Gewalten dar, die das Volk Gottes von allen vier Himmelsrichtungen her feindlich umgeben (- das
Horn als Symbol der Kraft). Die vier Schmiede sind die göttlichen Kräfte, die der Herr zur
Errettung Seines bedrängten, auserwählten Volkes einsetzt.
Beachten wir: Nicht drei göttliche Gegenwirkungen gegen vier Feindgewalten, sondern Vier
gegen Vier! Keine Feindesmacht ist ausgelassen! Kein Gegner ist übersehen! Sie alle sollen
zerschmettert werden. Der Triumph soll total sein!
Und ferner: Nicht vier Schreiber oder Schneider oder Kaufleute kommen heran, sondern vier
Werkleute (Schmiede)! Das will sagen: Gottes Handeln gegen den Feind ist nicht kraftlos,
sondern stark. Er ist Seinen Gegnern nicht etwa nur ebenbürtig, sondern weit überlegen! Darum
kann die Stadt Gottes »fein lustig« bleiben (Ps. 46,5 Luth.). Denn das Ende ist ihr allseitiger
Triumph. Die vier Hörner sind zerbrochen. Das Volk des Herrn ist gerettet.
Dies alles aber durch Gottes Kraft. E r hat alles vollbracht! »Die Rechte des Herrn behält den
Sieg« (Ps. 118,15; 16).
Bedenke: Der Feind ist eine Großmacht, du selbst bist eine Ohnmacht; aber dein Gott ist die
ewige Allmacht. Darum eile mit deiner Ohnmacht zu Seiner stets einsatzbereiten Allmacht, und
der Sieg über die Großmacht der Sünde wird dein sein.

Bürden« sind nicht das gleiche wie »Sünden«.


Aber auch Bürden sind Hindernisse im Wettlauf und müssen darum »abgelegt« werden.
Sorgen sind Bürden; den sie lähmen die geistliche Schwungkraft; sie sind unnütze
Selbstbelastung und machen richtiges Laufen in der Kampfbahn unmöglich.
Gewisse Ansprüche sind Bürden und lähmen unseren Einsatz für Christus.
Falscher Anspruch auf Geld hindert den Missionseinsatz und die praktische Liebestätigkeit.
Falscher Anspruch auf Zeit fördert Selbstsucht und Bequemlichkeit, macht träge im
Versammlungs-, besonders Gebetsstundenbesuch sowie im Besuchen von Kranken oder in
Ausübung sonstiger Liebes- und Gemeindedienste.
Falscher Anspruch auf Ehre macht zeugnisschwach und feige und hindert uns, in freudigem
Bekenntnis gern die Schmach Christi auf uns zu nehmen.
Zweifellos sind irdische Dinge eine Lebensnotwendigkeit; zweifellos sind Zeit sowie bürgerliche
und persönliche Ehre von hohem Wert für unser menschliches Dasein und in keiner Weise
grundsätzlich zu verneinen. Aber wahre, geistliche Gesinnung wird von Fall zu Fall die Grenze
erkennen, wo Dinge, die an sich gut und erlaubt sind, durch gewisse Überbetonung zur «Bürde«
werden. Das Entscheidende ist, daß unser Inneres von Christus »ergriffen« wird (Phil. 3,12), daß
unser Herz »besetztes Gebiet« geworden ist, daß wir die rechte Gesinnung und Grundeinstellung
haben. Dann bekommen wir auch für alle diese Unterscheidungen ein feines Gemerk, und wir
bleiben frei und gebunden, lebensnah und einsatzbereit, natürlich und geistlich zugleich. Dann
bekommt das Irdische sein Recht, das Himmlische aber sein Vorrecht. Es kommt eben immer
darauf an, daß alles Zeitliche unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit geschaut wird.
Damit ist zugleich die vierte Blickrichtung genannt, die, nach Hebräer 12, der Wettläufer des
Glaubens haben muß.

4. Der Blick auf das Ziel.


Nur wenn der Kämpfer in der Rennbahn ganz straff auf das Ziel ausgerichtet ist, hat er Aussicht
auf Sieg. Darum sagt Paulus - und der Hebräerbrief bewegt sich ja stark gerade auch in
paulinischen Gedankengängen -: »Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem,
was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin nach dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach
oben in Christo Jesu« (Phil. 3, 14).
Der Mensch wird nicht nur von seiner Vergangenheit (Abstammung, Erziehung) und Gegenwart
(Umwelt und Arbeit) gebildet, sondern ganz stark auch von seiner Zukunft. »Es wächst der
Mensch mit seinen höheren Zielen.« Darum gehören auch im geistlichen Leben Hoffnung und
Heiligung zusammen. »Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie Er rein
ist« (1. Joh. 3, 3).
Christus hat auf Golgatha gelitten mit dem Blick auf »die vor ihm liegende Freude« (Hebr. 12, 2).
Bei Seinem Gang in das Dunkel des Todes schaute Er hindurch in den Lichtglanz des
Triumphes.
Diese Haltung darf auch die unsere sein. Wenn du um des Zeugnisses willen Schmach auf dich
nimmst, so freue dich auf den ewigen Ehrenkranz. »Ein jeder nun, der mich vor den Menschen
bekennen wird, den werde auch ich bekennen vor meinem Vater, der in den Himmeln ist« (Matth.
10, 32). Wenn du um der Heiligung willen auf Sündengenuß verzichtest, so sei gewiß, daß du
einst genießen wirst von dem verborgenen, himmlischen Manna (Offb. 2, 17).
Wenn du um der Ausbreitung des Evangeliums willen Opfer an Geld und Gut darbringst, so sei
dir gesagt: Gott bleibt dir nichts schuldig. Jede solche Abbuchung vom irdischen Konto ist
Gutschrift auf das himmlische Konto. »Nicht daß ich die Gabe suche, sondern ich suche die
Frucht, die überströmend sei für e u r e Rechnung« (Phil. 4,17).
So umfaßt diese Zielausrichtung unseres Glaubenslaufes alle inneren und äußeren
Lebensgebiete. Das Ziel ist es wert, daß wir uns voll einsetzen.
IV. Der Christ und das Leid.

Hebr 12, 4-11: Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde
und habt bereits den Trost vergessen, der zu euch redet wie zu seinen Kindern: »Mein Sohn,
achte nicht gering die Erziehung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst.

Denn wen der Herr liebhat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.«
Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr dulden müßt. Wie mit seinen Kindern geht Gott mit euch
um; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?
Seid ihr aber ohne Züchtigung, die doch alle erfahren haben, so seid ihr Ausgestoßene und nicht
Kinder.
Wenn unsre leiblichen Väter uns gezüchtigt haben und wir sie doch geachtet haben, sollten wir
uns dann nicht viel mehr unterordnen dem geistlichen Vater, damit wir leben?
Denn jene haben uns gezüchtigt für wenige Tage nach ihrem Gutdünken, dieser aber tut es zu
unserm Besten, damit wir an seiner Heiligkeit Anteil erlangen.
Jede Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein; danach
aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit.

Durchhalten! Sich in keinem Fall niederringen lassen! Nimmermehr rückwärtsbegehren, sondern


zielbewußt vorwärts eilen! Mit der Frische des Anfangs ausharren bis ans Ziel!
Nur so erlangt der Läufer in der »Kampfbahn des Glaubens« den Siegespreis. Nur so wird er
gekrönt. Das ist das Anliegen des Hebräerbriefes. Das ist die Botschaft von Hebräer 12.
Dies geschieht in unserem Kapitel in zwei großen Gedankenreihen. In diesem Sinne teilen wir es
in zwei Hauptabschnitte ein:
1. Mahnung zur Ausdauer in Leiden und Kampf: Vers 1-11.
2. Unterstreichung dieser Mahnung durch eindringliche Erinnerung an die Verantwortlichkeit und
Herrlichkeit der neutestamentlichen Berufung: Vers 12-29.
Die Mahnung zur Ausdauer gibt der Schreiber durch einen dreifachen Hinweis.
Wahrer Glaube bewährt sich
- im Rückblick auf die Standhaftigkeit der alttestamentlichen Gotteszeugen: V. 1.
- im Aufblick auf Jesus, das Hauptvorbild des Ganzen: V. 2 und 3.
- im Hinblick auf den Segen des Leidens für den Leidenden selbst: V. 4-11.
Das Leid gilt es, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu sehen. Nur so wird man seinen hohen
Wert erkennen. Es ist nichts überflüssiges oder gar Störendes und Hemmendes. »Mein Sohn,
achte nicht gering des Herrn Züchtigung« (V. 5).
Wir müssen eine Hochachtung haben auch vor den Dunkelheiten und Rätseln in unserem Leben.
Denn in allem ist letzten Endes - Gott.
Wer das Leid in seinem Leben nicht gottgemäß beurteilt, fühlt sich durch Schwierigkeit und Not in
seinem Laufen behindert. Das Leid wird für ihn Ballast. Es hält ihn auf in der Kampfbahn.
Darum muß der Läufer in der »Kampfbahn des Glaubens« den rechten Blick für den Sinn seiner
Leiden bekommen. Nur dann sind sie für ihn nicht Hinderung, sondern Hilfe, nicht Aufenthalt,
sondern Förderung. Dann werden die Beschwerungen seines Lebens ihm zu Erleichterungen
seines Strebens. Das scheinbar Lähmende bewirkt neue Schwungkraft. Das scheinbar
Zurückhaltende hilft zum Vorwärtseilen. Das »Nieder«drückende wird Anlaß zum »Auf«blick.
»Lasset uns aufsehen auf Jesum!«
In geradezu erstaunlicher Fülle wird darum in Hebräer 12, im Anschluß an den Aufruf zum
Wettlauf, in ganz wenigen Versen (V.5-11) der Segen des Leides geschildert.
Dies geschieht in zum mindesten siebenfältiger Weise:
- Wahrer Glaube sieht in Schwierigkeiten des Lebens Beweise der Vaterschaft Gottes: Hebr. 12,
5a; 6; 3; 8;
- betrachtet Nöte und Leidenswege als Führungen der Liebe Gottes: Hebr. 12, 6a;
- vertraut mitten im Leid auf die Irrtumsfreiheit und Fruchtbarkeit aller Entscheidungen der
Weisheit Gottes: Hebr. 12,10a;
- rechnet im Gewirr des Geschehens mit der ordnenden Hand der alles überwaltenden
Weltregierung Gottes: Hebr. 12,7a;
- stellt sich auch in unverstandenem Dunkel kritiklos unter das freie Regiment der königlichen
Autorität Gottes: Hebr. 12, 9;
- betrachtet die Leiden als Notwendigkeit der Erziehung zur Umgestaltung unseres Lebens in das
Wesen der Heiligkeit Gottes: Hebr. 12, 10;
- bewertet die Dunkelheiten des Lebens als Mittel in der Hand Gottes zur Erreichung der
lichtvollen Endziele Gottes: Hebr. 12, 11b.
1. Wahrer Glaube sieht in Schwierigkeiten des Lebens Beweise der Vaterschaft Gottes. Leiden
bezeugen uns unsere Sohnesstellung. »Gott handelt mit euch als mit Söhnen; denn wo ist ein
Sohn, den der Vater nicht züchtigt?« (V. 7.) Wo Zucht fehlt, fehlt auch die rechte Vaterschaft.
Wenn schon unsere irdischen Väter, denen wir das leibliche Leben verdanken, uns unter ihre
Zucht stellen mußten, wieviel mehr dann erst recht Gott, der »Vater der Geister«, dem wir unser
geistiges und geistliches Leben verdanken?
Falsch ist darum die Klage: Wie kann Gott gerade uns, Seine Kinder, so leiden lassen? Nein, im
Gegenteil, Gott läutert und erzieht uns, gerade weil wir Seine Söhne sind! Nicht »trotz«, sondern
»wegen« Seiner Vaterschaft muß Er uns in Seine Zucht nehmen. Darum sind die Leiden Seiner
Kinder kein Grund zur Enttäuschung, sondern zur Gewißheit und Dankbarkeit, daß Er, der große
Gott, in Jesus Christus, Seinem Sohne, unser Vater geworden ist. Sie sind geradezu Beweise
unseres Adels- und Kindschaftsstandes. Gott spricht zu euch »als zu Söhnen« (V. 5a). Er handelt
mit euch »als mit Söhnen« (V. 7). Er geißelt jeden »Sohn« (V.6). »Sonst wäret ihr ja Bastarde
und nicht Söhne!« (V: 8.) - Auch das hier in der Ursprache für «Züchtigung« und «züchtigen«
gebrauchte Wort ist wurzelverwandt mit dem griechischen Wort für »Kind' (griech. paideuein von
pais Kind, Knabe, Mädchen: Matth. 2, 16; Joh. 4, 51; Luk. 8, 51; 54), »jemand als Kind erziehen«
und, wenn es nötig ist, auch als Kind strafen, »züchtigen«.
Und bei dem allen bedenke: Du bist nicht der einzige Sohn, der zuweilen dunkle Wege geführt
wird. Gott stäupt »jeden« Sohn (V. 6). Dir geschieht also nichts Sonderliches. Auch das mag dir
helfen, dein Leiden nicht überzubewerten! »Wisset, daß dieselben Leiden sich vollziehen an
eurer Bruderschaft, die in der Welt ist« (1.Petr. 5, 9).
Das macht vorsichtig und zurückhaltend in der Einschätzung der eigenen Belastungen und kann
ebenfalls eine Ermutigung sein: Wenn die anderen, durch des Herrn Kraft, in der Kampfbahn des
Glaubens, mitten in Schwierigkeit und Leid durchhalten können, dann kann auch ich! Ich stehe
nicht allein, sondern ich bin eingereiht in eine große Schar von Brüdern und Schwestern, die
ähnlich geführt werden wie ich. Und ihr himmlischer Vater ist auch mein himmlischer Vater, und
Er wird uns alle ans Ziel bringen.
2. Wahrer Glaube betrachtet Nöte und Leidenswege als Führungen der Liebe Gottes. »Denn wen
der Herr liebt, den züchtigt er, und er geißelt jeden Sohn, den er aufnimmt« (V. 6). Leiden
beweisen, daß Gott an uns interessiert ist, daß Er an uns arbeitet, eben daß Er uns liebt. »Wie
hat er die Leute so lieb! Alle seine Heiligen sind in deiner Hand; sie werden sich setzen zu deinen
Füßen und werden lernen von deinen Worten« (5. Mose 33, 3).
Welch ein allgenugsames Beschäftigtsein des großen, allmächtigen Gottes mit unserem kleinen,
winzigen Leben! Wie ist doch die ganze Liebe unseres Vaters im Himmel mitbeteiligt, uns
Bewahrung, Heiligung und Segnung auf unserem Weg durch das Land der Zeit in das Land der
Ewigkeit zu schenken!
Gottes H e r z »liebt« uns - Wir haben Gottes Erwählung.
Gottes H a n d »hält« uns - Wir haben Gottes Bewahrung.
Gottes M u n d »belehrt« uns - Wir haben Gottes Worte.
Zu Gottes F ü ß e n »ruhen« wir - Wir haben Gottes Frieden.
Darum darf das Kind des himmlischen Vaters auch im Leiden getrost sein. Es weiß: Von Seiner
Liebe kann mich nichts scheiden (Röm. 8, 38; 39). Ja, noch mehr: Alles - und gerade auch das
Schwere - ist sogar ein B e w e i s Seiner Liebe! Sorgen sind darum im Widerspruch zu unserer
Kindesstellung. In der Bergpredigt führt Jesus geradezu einen heilig energischen Feldzug wider
den Sorgengeist.

Aus sieben Gründen soll der Christ die Sorge meiden.


1. Sorgen sind unnütz.
Du vermagst ja mit allem Sorgen der Wegstrecke deiner Lebenswanderung auch nicht eine
einzige Elle hinzuzufügen. Deinen gleichsam tausend Kilometer langen Lebensweg kannst du
auch nicht um 60 Zentimeter verlängern (Matth. 6,27).2)
2) Die Übersetzung «Größe« ist unklar, da sie auf den Gedanken führen könnte, als ob die K ö r
p e r größe gemeint sei. Aber der Herr will ja gerade betonen, daß wir auch das Winzigste nicht
vermögen. Die Hinzufügung einer Elle zur K ö r p er größe wäre aber etwas geradezu erstaunlich
Großes. Auch wäre sie nicht gerade erwünschenswert, so daß sie wohl niemand durch Sorgen
zu erreichen sucht. Es kann sich also nur um die Lebenslänge unter dem Bild einer langen
Wegstrecke handeln. Im Vergleich zu dieser wäre eine Elle allerdings etwas verschwindend
Kleines. Aber auch nicht einmal um Minuten können wir mit Sorgen unsere Lebensdauer
verlängern.
2. Sorgen sind schädlich.
Sie sind überflüssige, törichte Selbstbelastung im Lauf. Denn auf diese Weise erlebst du deine
Not z w e i mal:
- das erste Mal in der Phantasie (deiner Vorstellungswelt),
- das zweite Mal in der Wirklichkeit,
- das erste Mal in der Erwartung,
- das zweite Mal in der Erfahrung.
Aber einmal würde genügen! »Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe«
(Matth. 6, 34). Darum sei doch kein »Schattenjäger«, sondern suche die Sonne mehr auf
»Niemals bemühe die Bemühung, bevor die Bemühung dich bemüht.«

3. Sorgen sind unwürdig.


Die Lilien auf dem Felde, die Vögel des Himmels sorgen nicht und sind doch »versorgt«. Und bist
du nicht mehr als sie? Passend und fein sind die Bilder des Herrn.
Nahrung und Kleidung sind die beiden Hauptgegenstände des Sorgengeistes. Auf die Nahrung
beziehen sich die Vögel, das Bild aus der Tierwelt; auf die Kleidung beziehen sich die Lilien, das
Bild aus der Pflanzenwelt.
Sorgengeist ist Verleugnung des Menschheitsadels. Schon als Mensch ist der Mensch mehr als
Blume und Tier. Als Mensch ist er die Krone der Schöpfung und zum Königtum bestimmt.
Eines Tages, so wird berichtet, war König Wilhelm (der spätere Kaiser Wilhelm I.) bei der
Regelung schwieriger Staatsangelegenheiten in großen Sorgen. Am Morgen nach einer
durchwachten Nacht erklärte er Bismarck im Gespräch während einer Audienz den Grund seiner
Erschöpfung und Schlaflosigkeit. Da aber hat Bismarck sich kraftvoll aufgerichtet, den König fest
angeblickt und mit starker, markanter Betonung die Worte gesagt: »Majestät, ein König muß
schlafen können!«
Alles Sorgen ist unköniglich. Der Sorgende vergißt den hohen Stand seiner Berufung, die
Willigkeit und Macht des großen Gottes, die Allgenugsamkeit und Allweisheit der ewigen Liebe.
4. Sorgen sind unkindlich.
Als Kinder des himmlischen Vaters dürfen wir es dankbar und freudig glauben: »Euer
himmlischer Vater weiß, daß ihr dies alles bedürfet« (Matth. 6, 32). Sorgengeist eines
Gotteskindes ist darum Nichtbeachtung seines himmlischen Adelsstandes. Es gehört zur
Verwirklichung unserer Sohnesstellung, daß wir unserem Vater froh vertrauen.
5. Sorgen sind irdisch.
Sie richten das Fragen und Sinnen gar zu sehr auf die Dinge hier unten (Nahrung und Kleidung);
der Sinn eines Gläubigen aber soll nach oben gerichtet sein.
»Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch
solches alles zufallen« (Matth. 6, 33).
6. Sorgen sind götzendienerisch.
Sie beschäftigen sich zu stärk mit dem Haben oder Nichthaben irdischer Güter. Das aber ist
Mammonsdienst. Mit Bewußtsein und Absicht läßt der heilige Text bei dem Wort »Mammon« das
Geschlechtswort »dem« aus, behandelt es also wie einen Personennamen. »Mammon« ist
gleichsam Götter- und Götzenname wie Apollo oder Diana. »Ihr aber könnt nicht zwei Göttern
dienen: Gott Jehova und Götze Mammon!« (Matth. 6,24) 4)
4) In Matth. 6, 24 steht im Griechischen bei Mammon' der Artikel »dem' nicht.
7. Sorgen sind heidnisch.
»Nach solchem allem trachten die Heiden« (Matth. 6, 32). Sorgengeist ist ein Denken, das dem
Wesen des Reiches Gottes widerspricht. Es erniedrigt den Erlösten in das Denken eines
Unerlösten hinein. Er, der doch im Reich der Gnade lebt, verhält sich wie einer, der draußen
steht. Er benimmt sich wie ein Heide. Aus allen diesen Gründen soll der Christ die Sorge meiden.
Darum: »Alle eure Sorge werfet auf Ihn; denn Er sorgt für euch« (1. Petr. 5, 7).
»Gott ist mächtig, alle Gnade gegen euch überströmen zu lassen, auf daß ihr, in allem, alle-zeit
alle Genüge habend, überströmend seid zu allem guten Werk« (2. Kor. 9, 8).5) - (Im
Griechischen liegt fünfmal dieselbe Wortwurzel »all« vor: pasan, panti, pautote, pasan, pan.)
»Ich will dich nicht verlassen noch versäumen« (Hebr. 13,5).
Wahrer Glaube vertraut mitten im Leid auf die Irrtumsfreiheit und Fruchtbarkeit aller
Entscheidungen der Weisheit Gottes.
Irdische Väter können, bei allem Reichtum reifster Lebenserfahrungen, bei aller Liebe und
Klugheit, in der Wahl ihrer Erziehungsmaßnahmen dennoch irren. Ihr Tun ist stets ein Handeln
mit dem beschränkten Blick und der tastenden Hand eines Menschen. Das Höchste, was sie
vermögen, ist, daß sie ihre Entscheidungen nach ihrem besten Wissen und Gewissen, also in
edelstem Sinne »nach ihrem Gutdünken« treffen. Der himmlische Vater aber irrt nie. Seine Zucht
steht über all dieser Mangelhaftigkeit. In der liebenden Behandlung Seiner Kinder vollzieht Er
niemals einen Fehlgriff.
Alles ist zweckdienlich gewählt, genau passend auf das erstrebenswerte Ziel ausgerichtet, und
dies Ziel ist das Höchste, nämlich Sein eigenes, heiliges Wesen.
Die Leiden sollen dazu mithelfen, daß wir Gott ähnlich werden. Darum kann der Glaube nicht nur
in der Liebe, sondern nun auch in der Weisheit Gottes still ruhen. Er weiß: »Ich bin Gottes Kind
und nicht Sein Geheimer Rat« (Tersteegen). Auch wenn ich in Trübsal und Not keinen Ausweg
mehr sehe: Seine Hand läßt mich nicht. Mein Vater steht über allem! Mein Vater weiß!
»Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl.
Das macht die Seele still und friedevoll.
Ist's doch umsonst, daß ich mich sorgend müh,
Daß ängstlich schlägt mein Herz, sei's spät, sei's früh.
Du weißt den Weg ja doch. Du weißt die Zeit.
Dein Plan ist fertig schon und liegt bereit.
Ich preise Dich für Deiner Liebe Macht.
Ich rühm' die Gnade, die mir Heil gebracht.« (Hedwig von Reedern.)

4. Wahrer Glaube rechnet im Gewirr des G e s c h e h e n s m i t d e r ordnenden Hand der alles


überwaltenden Weltregierung Gottes. Denn das steht doch im Hintergrund der ganzen Belehrung
unserer Hebräerstelle, daß die Leiden der Erlösten einen tieferen Sinn haben als ihr äußerer
»Schein« (Hebr. 12, 11), daß, bei allem Handeln der Feinde, eigentlich G o t t der »Handelnde«
ist, daß, bei aller Zielsetzung zur Zerstörung von seiten der Christenverfolger, das eigentliche Ziel
des Geschehens die Verklärung der Christusgläubigen ist.
»Was ihr erduldet, ist zur Erziehung« (V. 7a). »Gott h a n d e l t mit euch« (V. 7), und zwar »zum
Nutzen« (V. 10). »Hernach« aber gibt das Leid - auch das Leid der Verfolgung, um das es sich in
dem ursprünglichen Zusammenhang ja handelt - denen, die sich dadurch üben lassen, »die
friedsame Frucht der Gerechtigkeit« (V. 11).
Das aber heißt: Gott überwaltet das Handeln sogar auch Seiner Feinde. Sie gedachten, es böse
zu machen. Er aber wird alles zum Guten wenden (vgl. 1. Mose 50, 20). Er benutzt die
Zielsetzung der Gottlosen zur Durchführung Seiner göttlichen Ziele. Er handelt in geheimnisvoller
Selbstverhüllung, auch dem Glauben nur bis zu einem gewissen Grade erkennbar. Bei aller
Vielheit des Geschehens verliert Er niemals den Überblick. Er ist nicht nur der Gott der
Gesamtheit, sondern zugleich auch der Einzelseele. Im Großen vergißt Er nicht das Kleine, im
Gesamtgeschehen nicht die persönliche Lebensgeschichte, im Ablauf der Jahrtausende nicht
den Geschehnisinhalt der Sekunden.
In dem verwickelten, netzartig verflochtenen Ineinander aller Zeiten und Räume, aller Gestalten
und Gestaltungen hält Er dennoch letzten Endes alle Fäden in Seiner Hand.
So kann der Glaube sogar Handlungen der Ungläubigen als ihm von G o t t zugesandt ansehen.
Dies gibt eine ungemein starke Überlegenheit in allen Wechselfällen des Lebens.
»N i c h t i h r habt mich hierher gesandt, sondern G o t t !« (1. Mose 45, 8), sagte Joseph zu
seinen Brüdern, obwohl er doch wußte, was geschehen war, und obwohl er sich ihnen doch
gerade soeben vorgestellt hatte mit den Worten: »Ich bin Joseph, euer Bruder, den i h r nach
Ägypten verkauft habt« (V. 4). Und auch: »G o t t hatte im Sinne, es gut zu machen, auf daß ER
täte, wie es an diesem Tage ist« (1.Mose 50, 20).
So nimmt der Glaube letzten Endes nichts aus der Hand der Menschen; sondern alles, auch das
Schwere, allen Verlust, ja selbst das Unrecht, das er erdulden muß, nimmt er aus der Hand des
liebenden, alles überwaltenden, großen Gottes.
»Ist auch ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tue?« (Amos 3, 6).
Hier stehen wir vor einem gewaltigen Geheimnis der göttlichen Weltregierung, dessen
Tatsachenwucht wir gehorsam und vertrauensvoll anzuerkennen haben, dessen
Zusammenhänge wir aber im einzelnen verstandesmäßig nicht zu erkennen vermögen. Zugleich
aber macht es uns außerordentlich glücklich und froh, auf diese Weise zu wissen: »Alles, was an
dich herantritt, muß erst an Gott vorbei.«
Darum redet auch die Schrift niemals von einer bloßen »Zulassung« Gottes. Gottes ewiger
Reichsplan waltet über unserem Leben. Darum wissen wir auch, »daß denen, die Gott lieben,
alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind« (Röm. 8, 28).
Alles Irdische ist Dienstmittel des Himmlischen. Durch alles - auch durch das »Schlechteste« -
soll das »Beste« erreicht werden: die Umgestaltung der Erlösten in Jesu Bild, daß sie» dem Bilde
seines Sohnes gleichförmig« werden, »damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern«
(Röm. 8, 29).
Ausdrücklich wird erklärt, daß dies nur bei denen eintritt, »die Gott lieben«. Denn »irdische Dinge
muß man kennen, um sie lieben zu können; göttliche Dinge aber muß man lieben, um sie
erkennen zu können« (Pascal).
Und nicht umsonst wird hinzugefügt, daß es die sind, »die nach Vorsatz berufen sind«. Damit soll
gesagt sein: Eine ewige Planung waltet über unserem Leben. Unser kurzes Erdenleben liegt
zwischen zwei Ewigkeiten: der vorzeitlichen Ewigkeit mit der göttlichen Erwählung und der
nachweltlichen Ewigkeit mit der Vollendung und Verherrlichung.
Alle Umstände der Zeit sind eingebaut in die Planung der Ewigkeit. Wenn darum hienieden alle
Geschehnisse und Verhältnisse zur Verwirklichung des göttlichen Heilszieles mitdienen, so ist
dies kein jeweilig neu auftretender, gleichsam unvorhergesehener, glücklicher Umstand oder gar
Zufall in der gerade vorliegenden Einzelsituation, sondern ist planmäßig von Gott in den ewigen
Gnadenrat mit eingeschlossen.
So hat die Glaubensgewißheit, daß alles Zeitliche Glied einer Kette des Ewigen ist, einen
heilsgeschichtlichen Felsenhintergrund, und das zuversichtliche Rechnen mit der alles
überwaltenden Weltregierung Gottes läßt uns auch auf dunklen und gefahrvollen Wegstrecken
feste und gewisse Tritte tun.

5. Wahrer Glaube stellt sich auch in unverstandenem Dunkel kritiklos unter das freie Regiment
der königlichen Autorität Gottes. Sollten wir uns denn nicht unter die Erziehungsmaßnahmen
unseres himmlischen Vaters gehorsam, ohne Widerspruch und ohne inneres Aufbegehren, still,
dankbar, beugen? Sind denn nicht Seine Gedanken unendlich viel höher als unsere Gedanken?
(Jes. 55, 8; 9) »Habe dein Geschick lieb, denn es ist der Weg Gottes mit deiner Seele!« Und
wenn dich auch tausend Rätsel umringen und wenn alles auch noch so ausweglos und sinnwidrig
erscheint: Gottes Bücher müssen rückwärts, vom Ende aus, gelesen werden, und vom einst
erreichten Ziel aus werden auch alle Dunkelheiten des Weges strahlend hell. Bis zum Anbruch
der Ewigkeit wohnt Gott im Dunkel. Je mehr sich der Priester in Stiftshütte und Tempel dem
eigentlichen, sinnbildlichen Wohnsitz Jehovas, dem Gnadenthron mit Bundeslade,
Versöhnungsdeckel und Schechina, näherte, desto dunkler wurde es um ihn.
Der »Vorhof« war unter freiem Himmel, vom Strahlenglanz der natürlichen Sonne hell beleuchtet.
Das »Heilige« hatte nur gedämpftes Licht - im allseitig umschlossenen Raum leuchtete lediglich
der siebenarmige Leuchter.
Das »Allerheiligste« aber war ganz dunkel. »Jehova hat gesagt, daß er im Dunkel wohnen
wollte« (1. Kön. 8,12; vgl. 2. Mose 20,21).
Der Sinn ist: Je näher der Mensch zu Gott kommt, desto mehr naht er sich dem großen
Mysterium.
Gott ist der Ewige, der »ganz Andere«, der schlechthin Überlegene. Die absolute Unendlichkeit
ruht in Ihm. Kein Menschenverstand kann Seine Gottestiefen ergründen. Hier können wir uns nur
unserer Kleinheit bewußt werden, uns bescheiden und uns beugen. Hier müssen wir Ihn
anerkennen und bewundern, schweigen und anbeten, »die Augen schließen und glauben blind«.
Gott »wohnt in einem Licht, da niemand zukommen kann« (1. Tim. 6, 16). Davon sollte auch
Seine irdische, symbolische Wohnstätte zeugen. Seine Unerschaubarkeit aber konnte, in
Tempel-Bildersprache, nur durch das Fehlen jedes geschöpflichen Lichtes ausgedrückt werden,
das heißt, das absolute Licht nur durch mystisch-symbolisches Dunkel.
In der ewigen Gottesstadt aber wird Sein Angesicht geschaut werden (Offb. 22, 4; Matth. 5, 8).
Darum ist das himmlische Allerheiligste dann nicht mehr unerleuchtet und dunkel, sondern von
strahlendem Lichtglanz erfüllt (Offb. 21, 10; 11; 23). »Der Herr, Gott, wird über ihnen leuchten«
(Offb. 22,5). »Wir werden ihn sehen, wie er ist« (1. Joh. 3, 2). Und - sowohl im Großen wie auch
im Kleinen - werden wir »erkennen, wie wir erkannt worden sind« (1. Kor. 13,12). Dies wird
seliges Erleben werden sowohl im Hinblick auf Gottes allgemeine Heilsratschlüsse als auch auf
Seine persönlichen, oft so rätselhaften Sonderwege mit uns.
Vor allem wird eins offenbar: Gottes Handeln im Leid war immer nur Hilfe für unser geistliches
Wachstum.

6. Wahrer Glaube betrachtet die Leiden als Notwendigkeiten der Erziehung zur Umgestaltung
unseres Lebens in das Wesen der Heiligkeit Gottes. Gott züchtigt uns »zum Nutzen«, damit wir
»seiner Heiligkeit teilhaftig werden« (Hebr. 12, 10). »Not ist auch Notwendigkeit, weil manches
nur in Not gedeiht.« Dabei muß Gott manchmal sogar ernst eingreifen. Denn: »Kleine
Schwierigkeiten bringen uns oft außer uns, und erst große Schwierigkeiten bringen uns wieder zu
uns« (Jean Paul). In allen Heimsuchungen »sucht« Er uns »heim«. Das heißt: Er »sucht« uns
und bemüht Sich, daß wir, die ach! so Flüchtigen, wieder innerlich »nachhause« finden sollen. Ins
Haus des Vaters! Alle Enttäuschungen sind »Ent-Täuschungen«. Sie sollen uns aus der Illusion
herausrufen, in die die Sünde uns gebracht hat, aus der »Täuschung«, als ob wir selber so
wichtig und die irdischen Dinge das eigentlich Wesenhafte am Leben seien. Denn gerade der
Erde Leid dient mit zur Erlösung des Menschen. Gerade dadurch, daß sie ihm das nicht bieten
kann, was er von ihr erwartet, löst sie ihn selber von seinen falschen Hoffnungen und nährt seine
Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese. So sollen seine Enttäuschungen am Irdischen den
Menschen freizumachen helfen für das Verlangen nach dem Himmlischen, damit er am Ende das
Bekenntnis ablegen kann: »Siehe, zum Heile ward mir bitteres Leid« (Jes. 38, 17).
Darum nun zum Schluß:

7. Wahrer Glaube bewertet die Dunkelheiten des Lebens als Wege zum ewigen Licht, a l s Mittel
in der Hand Gottes zur Erreichung der ewigen Endziele Gottes. »Durch Druck empor!« Das
»Hernach« wird einst kommen. »Alle Züchtigung scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand
der Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; hernach gibt sie die friedsame Frucht der
Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind« (Hebr. 12, 11).
Gewiß, auch der Christ empfindet die Schwierigkeiten des Lebens als Schwierigkeiten und Nöte.
Sie »dünken« uns betrübend zu sein. Und in keiner Weise beanstandet die Bibel, daß uns dies
so »dünkt«. Dazu ist das Göttliche stets viel zu natürlich, als daß es unnatürliche Forderungen an
das Menschliche stellen würde. Nirgends stellt die Bibel an den Christen das Ansinnen, daß er
sich über seine Schwierigkeiten hinwegsetzen oder gar über sie hinwegfliegen solle und so tun,
als ob Schwierigkeit für ihn nicht Schwierigkeit und Not nicht Not wäre! Dann wäre das Leid in
seinem Leben ja auch sinnlos und überhaupt gar kein »Leid« mehr. Darum dann aber auch ohne
jede Wirkung und Fruchtbarkeit!
Nein, wenn Gottes Schläge uns keine Schmerzen bringen würden, so wären sie uns ja auch
keine Hilfe mehr gegen unsere Sünden. Aber gerade weil sie uns wehetun, können sie uns
wohltun!
Auch von Hiob lesen wir, daß, ehe er, nach dem Eintreffen der Unglücksnachrichten, das
bewundernswerte Wort sprach: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name
des Herrn sei gepriesen« (Hiob 1,21), er vorher Äußerungen tiefsten Schmerzes und größter,
innerer Not getan hatte: »Da stand Hiob auf und zerriß sein Gewand und schor sein Haupt und
fiel auf die Erde nieder und betete« (Vers 20).
Ja, es könnte geschehen - und gewiß hat der himmlische Hohepriester dann auch dafür Mitleiden
mit unserer Schwachheit (Hebr. 4,15) -, daß dieses »Dünken« und dieser »Schein« uns den
inneren Blick vorübergehend trübt. Das Schmerzgefühl steht dem klaren Blick des Urteils
zuweilen im Weg. Aber am Schluß wird der Glaubende es dennoch erleben: Gottes Wege mit
den Seinen gleichen niemals einem Gang in eine finstere Höhle, in ein unterirdisches, lichtloses
Labyrinth, das uns gleichsam verschlingt und in auswegloser Kerkerhaft auf immer gefangenhält;
sondern sie gleichen dem Durchschreiten eines engen, manchmal vielleicht langen Tunnels, der
zunächst zwar in Dunkelheit und Tiefe hineinführt; desto herrlicher aber erstrahlt am anderen
Ausgang »hernach« die Sonne.
Von diesem »Hernach« gibt es Vorerfahrungen schon unterwegs. Leiden sind Aussaat für Friede
und Gerechtigkeit. Wer im Leiden sich üben läßt, wird die »Frucht« dieser Aussaat empfangen.
Viel Friede kehrt ein in sein Herz; wahre Gerechtigkeit erfüllt Stellung und Zustand. So erlangt er
eine »Frucht«, die, was den H e r z e n s stand betrifft, im »Frieden«, was den L e b e n s stand
betrifft, in der »Gerechtigkeit« besteht.
Jede Bewährung im Leid bringt uns innerlich vorwärts. Nach jedem Sieg dienen uns Gottes Engel
(vgl. Matth. 4, 11). Wachstum in der Heiligung ist zugleich Steigerung unserer Freude. An dem
scheinbar wilden, leidigen »Baum« von Trübsal und Not wächst die friedsame »Frucht« der
Gerechtigkeit, das heißt, eine liebliche, himmlische »Frucht«, deren W e s e n »Gerechtigkeit«
und deren G e s c h m a c k »Friede« ist.
»Licht nach dem Dunkel, Friede nach Streit,
Jubel nach Tränen, Wonne nach Leid,
Sonne nach Regen, Lust nach der Last,
Nach der Ermüdung selige Rast.«

»So bricht das Leiden den Glauben nicht, sondern befestigt ihn. Es ist nicht der Bote des Zornes,
sondern der Güte Gottes. Es ist nicht unser Ausschluß aus Gottes Gemeinschaft, sondern unsere
Zubereitung zu Seiner Gnade« (Schlatter).

Der Glaube glaubt darum wider allen Schein. Er weiß: Mitten in allem Nehmen ist Gott dennoch
am Geben. Nur gibt Er eben auf Seine Weise, und diese ist oft ganz anders als die unserige.
Darum erfüllt Er oft unsere Erwartungen, indem Er sie scheinbar enttäuscht. Er tut eben alles auf
eine höhere, innere, weisere Art. Seine Gedanken sind immer höher als unsere Gedanken (Jes.
55, 9).
Maria weinte am offenen Grabe Jesu. Sie sah den Verlust. Nicht einmal der tote Leib ihres
Meisters war mehr da. Und doch war gerade dies leere Grab der Beweis der Auferstehung, das
Zeichen des Sieges, und hätte - r e c h t verstanden - Grund zu triumphierender Freude sein
müssen! Und wie wurde dann hinterher ihre Trauer in Jubel umgewandelt! (Matth. 28, 8) »Maria -
Rabbuni!« - Was liegt nicht alles in diesen Worten! (Joh. 20, 16.) Und wie wurde sie dann, als sie
das leere Grab richtig verstanden hatte, zu einer Zeugin der Auferstehung, zu einer Künderin des
gewaltigsten Triumphes des Lebens und der Siegesmacht Gottes! (Luk. 24, 10.)
So sieht der Erlöste immer z w e i Seiten: Natur und Glaube.
Die Natur sieht den Verlust, der Glaube den Gewinn.
Die Natur sieht den Tod, der Glaube das gesteigerte Leben.
Die Natur sieht das Grab, der Glaube die Auferstehung.
Die Natur sieht voll Wehmut zurück in den Schatz der Erinnerungen,
der Glaube schaut zugleich vorwärts in die Herrlichkeit hinein.
Dann aber ist das eigentliche, wahre »Hernach« da. Das Ziel ist erreicht, dem der Lauf in der
Kampfbahn galt. Und bei der Kronen- und Preisverteilung wird der Wettkämpfer des Glaubens
gerade für die Schwierigkeiten in seinem Lauf die Weisheit und Liebe des alles überwaltenden,
göttlichen Kampfleiters ganz besonders preisen. Wohl hatte es aufhaltende Gegengewalten
gegeben - oft sogar Widerstände in fast erdrückender Fülle -, aber in Wahrheit waren alle d i e s
e Belastungen keine »Bürden« gewesen, die der Läufer - im Sinn der Anfangsworte von Hebräer
12, ebenso wie die »leicht umstrickende Sünde« - abzulegen gehabt hätte; sondern sie waren
wie »Hindernisse« in einer Kampfbahn: Anordnungen und Mittel in der Hand des weisen, alles
fehlerlos lenkenden Kampfrichters, um die geistliche Geschicklichkeit und Glaubensenergie des
Wettläufers zu erproben, zu üben, zu stärken und ihn desto besser und herrlicher ans Ziel
gelangen zu lassen.
Dann bricht der Morgen an, dem kein Abend mehr folgt. Der ewige Sonnenaufgang erstrahlt,
ohne Wolken und Nebel. Es erglänzt das himmlische Licht, wie die Sonne leuchtet in ihrer Kraft,
und alles bleibt unverminderte und ewig vollste Tageshöhe.
Dann werden wir Ihn anbeten, der uns hier unten geführt hat. Seine Wege werden wir rühmen,
Seine Weisheit bewundern, Seine Liebe und Treue in Ewigkeit genießen, und das Schauen
Seines Angesichts wird eitel Jubel und Wonne sein.
V. Nicht müde werden!
Hebr 12,12-15: Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und macht sichere
Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund
werde.
Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen
wird,
und seht darauf, daß nicht jemand Gottes Gnade versäume; daß nicht etwa eine bittere Wurzel
aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie unrein werden;
Christentum ist Ewigkeit in der Zeit. Mit Christi Erscheinen ist ein neues Reis in das dürre
Erdreich der Menschenwelt eingepflanzt, und alle, die darin eingepfropft sind, sind des ewigen
Lebens teilhaftig geworden. Christen kennen darum den Born ewiger Jugend. Im geistlichen
Leben ist ein Altern unnormal. »Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der
innere Tag für Tag erneuert« (2. Kor. 4,16). »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß
sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und
nicht müde werden« (Jes. 40,31). Gesundes Glaubensleben ist ein Laufen in einer Kampfbahn,
und zwar mit der Frische des Anfangs durchhaltend bis zum Schluß.
Und doch! Die Hebräerchristen waren müde geworden. Nach reichgesegneten Anfängen (Hebr.
10, 32-34) war ihr Innenleben ermattet. Ihre Hände waren »erschlafft«, ihre Kniee »gelähmt«
(Hebr. 12, 12), der Versammlungsbesuch geringer geworden (Hebr. 10, 25). Ihr Glauben glich
nicht mehr einem Laufen in einer Kampfbahn, sondern einem mühsam sich vorwärts
schleppenden Kranken und Gelähmten. Statt vorwärts aufs Ziel, begann ihr Blick rückwärts zu
schauen, statt auf die Wiederkunft Jesu auf die alttestamentliche Vorstufe, statt in die
Herrlichkeiten des Geistes und der Erfüllung in die doch so schönen und eindrucksvollen,
alttestamentlichen Gottesdienstformen. Die Herrlichkeit der Gnade war ihnen verdunkelt. Die
Rückkehr zum Gesetz erschien begehrenswert. Die Gefahr der »Verhärtung« hatte eingesetzt
(Hebr. 3, 13). Ja, es muß ihnen sogar gesagt werden: »Sehet zu, Brüder, daß nicht etwa in
jemand von euch ein böses Herz des Unglaubens sei in dem Abfallen von dem lebendigen Gott!«
(Hebr. 3, 12.)
Wie kann ihnen da geholfen werden?
Nur durch erneuten Anschluß an die Kraftquelle! Die überragende Herrlichkeit der
neutestamentlichen Heilswirklichkeit muß ihnen neu aufgehen. Sie müssen es erkennen: Abkehr
von der Gnade ist Selbstberaubung. Rückkehr zum Alten ist Absinken in die Tiefe. Hinwendung
zum Vergangenen ist Verlust des Zukünftigen. Nur die Gnade führt zum Ziel! Nur der
neutestamentliche Heilsstand verbürgt die verheißene, ewige Herrlichkeit. Darum ist das
Anliegen des Hebräerbriefes ein durchaus »reformatorisches«. Zweifellos bringt er viel Lehre. Ja,
er ist dasjenige Schreiben des Neuen Testaments, das uns am tiefsten hineinschauen läßt in die
inneren Zusammenhänge von Vorbereitung und Erfüllung, Schatten und Wirklichkeit,
alttestamentlichem Opferdienst und neutestamentlichem Priestertum Christi. Aber das eigentliche
Hauptziel ist nicht Belehrung, sondern Erneuerung, nicht erkenntnismäßige Darstellung, sondern
praktische Wiederherstellung, nicht erstmalige H i n führung zur vollen Heilserkenntnis, sondern Z
u r ü c k führung zu dem, was die Leser zu Anfang ihres Christenstandes schon erkannt und
erlebt hatten.
Hier soll also weniger zum Ergreifen des Heils als zum Festhalten aufgefordert werden. Hier wird
nicht so sehr »geformt« als »zurückgeformt«, eben »reformiert«. Damit aber wird, innerhalb des
Neuen Testaments, der Hebräerbrief zum Schwesterbrief des Galaterbriefes. Bei beiden ist das
eigentliche Anliegen das gleiche. Sie beide sind die ausgesprochen »reformatorischen«
Hauptsendschreiben des Neuen Testaments. Sowohl im Galaterbrief als auch im Hebräerbrief
handelt es sich um Menschen, die in Gefahr standen, von der neutestamentlichen Heilshöhe sich
hinabzuwenden zur alttestamentlichen Vorstufe.
Nur mit dem Unterschied, daß es sich bei den Galatern vornehmlich um Heidenchristen handelte,
die unter falsche, judenchristliche Einflüsse geraten waren, im Hebräerbrief aber um gläubig
gewordene Israeliten, vielleicht sogar Priester und Leviten (Apg. 6, 7).
Dies erforderte natürlich eine andersartige Form in der Darstellung der Gedankengänge.
»Gesetz und Gnade« ist das Thema beider.
Aber der Galaterbrief behandelt es unter hervorragender Bezugnahme auf die Moralgesetze, der
Hebräerbrief vornehmlich der Zeremonialgesetze der mosaischen Haushaltung. Der Galaterbrief
ist in seinem Kernstück mehr juristisch, der Hebräerbrief kultisch (Kultus = Gottesdienst).
Das heißt: Der Galaterbrief benutzt mehr Bilder aus dem R e c h t s leben - rechtliche
Abänderungsmöglichkeit offiziell anerkannter Testamentsurkunden (Gal.3, 15-20), Rechtsformen
des antiken Erziehungswesens (Gal.3, 23-29), Rechtsstellung von Sklaven und von Söhnen vor
ihrer Mündigkeitserklärung (Gal. 4,1-7) -; der Hebräerbrief weist mehr hin auf die
Vorbildersprache des alttestamentlichen G o t t e s d i e n s t lebens (Priestertum, Opfer,
Stiftshütte, bes. Hebr. 5-10). Der Galaterbrief stellt uns mehr in die Gerichtshalle, der
Hebräerbrief in den Tempel.
Aber das Thema ist dasselbe: das Verhältnis von Gesetz und Gnade, die größere Herrlichkeit der
frei schenkenden Gnade und, daraus sich ergebend, die heilige Forderung und ernste Warnung:
N i e m e h r z u r ü c k ! »Halte fest, was du hast, auf daß niemand deine Krone nehme!« (Offb.
3, 1l.)

I. Lähmende Kräfte.
Wie war es dazu gekommen, daß die Hebräerchristen ihre anfängliche Glaubensfrische verloren
hatten? Wie waren sie doch ursprünglich so glücklich! Wie hatten sie sich doch einst für Christus
eingesetzt! Sich Seiner bedrängten Zeugen angenommen (10, 34)! Persönlich selber
Schmähungen und Drangsale erduldet (10, 33), ja sogar ihr Hab und Gut sich um Jesu willen
nehmen lassen und dabei nicht nur nicht gestöhnt, sondern sogar, als man ihnen wegen ihres
christlichen Bekenntnisses ihr Besitztum wegnahm, sich - gefreut !
»Ihr habt den Raub eurer Güter mit F r e u d e n aufgenommen!« (10, 34.)
Und nun war mit einem Male alles so ganz anders! Statt Frische war »Erschlaffung«, statt
rüstigen Vorwärtsschreitens »Lähmung« eingetreten, statt Vorwärtseilen in der Kampfbahn jetzt
Stillstand, bei manchen sogar gefährlicher Rückgang (Hebr. 12, 12; 13)!
Hier hatte der Feind, unter Einschaltung lähmender Kräfte, sein Werk getan.
1. Die äußere Notlage hatte er benutzt, diese freudigen Gotteszeugen beiseitezusetzen. Indem
dieser Christushaß sie wieder und immer wieder traf, indem die Welt ihnen Schmähung und
Verachtung immer wieder entgegenbrachte, indem stets von neuem äußerer Verlust, soziale
Benachteiligung, berufliche Zurücksetzung sie ihre rechtlose Lage empfinden ließen, war es dem
Feind gelungen, sie mürbe zu machen. Nicht der erstmalige Verfolgungsstoß, wohl aber der
anhaltende Verfolgungsdruck hatte ihm den gewünschten Erfolg gebracht.
Zum Alleräußersten war es allerdings noch nicht gekommen. Märtyrerblut war noch nicht
geflossen. Dies gebraucht der Schreiber des Hebräerbriefes darum geradezu als Ermutigung.
»Ihr habt noch nicht, wider die Sünde ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden« (Hebr. 12, 4).
Dies soll nicht etwa heißen: »Ihr habt es mit eurem Kampf gegen die Sünde i n euch noch nicht
ernst genug genommen. Ihr habt noch nicht genug Glaubensenergie, Hingabe und
Entschiedenheit in der Heiligung bewiesen«, sondern die Sünde ist als von a u ß e n
andringende, verfolgende Feindgewalt, als objektive Macht des Bösen, als Feindschaft der Welt
gedacht, und es will sagen: »Der Kampf hat sich noch nicht soweit zugespitzt, daß etliche von
euch hätten den Tod erleiden müssen um des Bekenntnisses Christi willen.« Zum Blutvergießen
war es noch nicht gekommen. Bei allem Schweren war das Allerschwerste doch noch nicht
eingetreten.
Denkt aber daran, daß andere dies Allerschwerste doch zu erdulden gehabt haben! Gerade
soeben, in Hebräer 11, war ja die Rede gewesen von solchen, die »gesteinigt« oder »zersägt«
worden waren, die sich zu Tode hatten »foltern« oder durch das Schwert hinrichten lassen und
die Befreiung nicht annahmen, die sie durch Preisgabe ihres Bekenntnisses sich leicht hätten
erkaufen können (11, 35-37). Aber sie taten es nicht, »auf daß sie eine bessere Auferstehung
erlangten« als solche irdische Befreiung, die allerdings gleichsam eine »Auferstehung« aus der
Todesnot des Martyriums gewesen wäre! Wie sind doch da, bei aller Anerkennung des Ernstes
eurer Lage, eure Leiden viel geringer! Auf keinen Fall dürft ihr eure Schwierigkeiten ü b e r
schätzen!
Und müssen wir heute uns dies nicht noch in viel größerem Maße sagen lassen? Was sind denn
unsere Zeugnisleiden, verglichen mit dem Einsatz so vieler Männer und Frauen aus der
Heldengeschichte der Gemeinde vergangener Zeiten?
Oft habe ich auf meinen Reisen an solchen Stätten gestanden, wo Christen in früheren Zeiten um
ihres Glaubens willen in den Tod gegangen sind. So in den unterirdischen Kasematten des
schauerlichen Spilbergs in B r ü n n (Mähren). Oder in P r a g, wo vor dem alten Rathaus durch
27 eingepflasterte Kreuze noch heute die Erinnerung an das »Blutgericht von Prag« bald nach
Beginn des Dreißigjährigen Krieges festgehalten wird (1620) und die genaue Stelle des
Schafotts, auf dem die 27 Führer der Protestanten enthauptet worden waren, ebenfalls durch
kleine Pflastersteine gekennzeichnet ist, als großer Dornenkranz mit zwei langen, sich
kreuzenden Richtschwertern. Oder in den Kerkerzellen des Bloody Tower an der Themse in L o n
d o n, wo noch heute unter Glasplatten Bibelverse und Trostworte zu lesen sind, die von jenen
Männern in den Zeiten ihrer Not in die Mauer eingeritzt worden waren.
Oder ich denke an den Marktplatz von F 1 o r e n z, wo der Galgen und Scheiterhaufen des
großen, italienischen Vorreformators Savonarola gestanden hatte.
Oder schließlich an die Katakomben des alten R o m und die Arena des Colosseums, wo
Hunderte von Glaubenszeugen aus der ersten Christenheit sich um Jesu willen von wilden Tieren
zerreißen ließen.
Erst vor drei Jahren stand ich in spätabendlichem Dunkel auf dem Friedhof von Kilmarnock
(Schottland) an den Gräbern von sieben Blutzeugen Jesu, die vor etwa 300 Jahren um ihres
standhaften Festhaltens an ihrer biblisch-evangelischen Erkenntnis willen hingerichtet worden
waren. Wir hatten vorher auf dem Marktplatz der Stadt eine Straßenversammlung gehabt, in der
ich ebenfalls Gelegenheit hatte, ein Zeugnis abzulegen. Hochbedeutsam war mir die Stelle dieser
Freiversammlung. Mit unserem Evangeliumswagen und Lautsprecher standen wir unmittelbar
neben dem Platz, wo vor 300 Jahren ein »Covenanter« hingerichtet worden war, (John Lisbet,
am 14. April 1688.) ein Mann, der den biblischen Glaubens»bund« (engl. covenant = Bund) nicht
verleugnen wollte und darum zum Tode verurteilt worden war. Auch hier ist die genaue Stelle, wo
der Galgen gestanden hatte, heute durch besondere Pflasterung kenntlich gemacht. Mit ihrem
Blut hatten viele dieser heldenhaften, schottischen »Covenanters« den »Bund« unterschrieben,
nie ihren Glauben an Christus und Sein Wort zu verleugnen. Und nun standen wir, unmittelbar
neben jener selben Stelle, und verkündeten die selbe Botschaft, um deretwillen jener sein Leben
gelassen hatte! Hinterher bin ich dann mit einem schottischen Freund auf den stillen Friedhof
gegangen und habe, als die Sterne schon hervorgetreten waren, an den Gräbern von sieben
anderen dieser Blutzeugen Christi gestanden. Ihre Grabstätten sind durch besondere
Einfassungen mit Inschriften leicht auffindbar gemacht.
Wie klein und erbärmlich kommt man sich doch an solchen Stätten vor! Wie ergreift einen ein
Empfinden von Bewunderung für diese Gotteskämpfer, in denen die Kraft Christi so mächtig
gewesen ist! Das waren Männer und Frauen, denen Christus mehr war als ihr Leben.
Und wie sind wir selbst oft so zaghaft! Wie leicht neigen wir zu Kompromissen! Wie scheuen wir
uns oft schon vor einer kleinen Zurücksetzung, ja manchmal schon vor einer spöttischen
Bemerkung oder gar vor einem selbstsicheren, »überlegenen« Achselzucken oder Lächeln!
Der Herr aber will Kämpfer haben! Menschen, die sich für Seine Sache wirklich einsetzen!
Menschen, die die Kosten wahren Christentums überschlagen haben und auch bereit sind, sie zu
tragen. Wahrlich, auch wir haben - wie die Hebräerchristen - noch nicht bis aufs Blut
widerstanden. Blutzoll ist von uns noch nicht gefordert worden. Darum wollen wir die
Schwierigkeiten, die wir um Jesu willen auf uns nehmen, auf keinen Fall überschätzen! Darum
wollen wir aber andererseits, wie immer alles kommen mag, in Bereitschaft stehen.
Der Grund, warum die Hebräerchristen ermatteten, war aber eigentlich nicht so sehr ihre äußere
Notlage, sondern ihre innere Stellungnahme. Hierin hatten sie nachgelassen. Darin lag die
eigentliche Wurzel der Gefahr ihres Versagens.

2. Inneres Nachlassen, Ermüdungserscheinungen. Ihr Gebetsleben war schwächer geworden, ihr


Versammlungsbesuch geringer (Hebr. 10, 25), ihre gesamte, geistliche Energie schlaffer. So
glichen sie einem Wanderer, der sich zwar auf den Weg gemacht hat aus der Stadt »Verderben«,
um hinzugelangen zum himmlischen Jerusalem, der aber unterwegs müde und kraftlos geworden
ist und sich nun jetzt nur noch mit »gelähmten Knien« vorwärtsschleppt (Hehr. 12,12).
Ihr Handeln und Streben glich nicht mehr einem Wettlauf. Sie waren in der Gefahr, den Kampf
aufzugeben. Sie waren nicht mehr »Jagende«. Alte Dinge, die vor der Christussonne längst ihren
Glanz verloren hatten, leuchteten ihnen wieder auf. Ihr ganzes Heiligungsleben war praktisch in
Frage gestellt, damit aber auch die Erreichung des Vollziels ihrer himmlischen Berufung! Darum
muß ihnen gesagt werden: »J a g e t nach der Heiligung, ohne welche niemand den Herrn
schauen wird« (Hebr. 12, 14). L a u f t in der Kampfbahn (V. 1)
Und wir? Wir wollen die Hebräerchristen nicht schelten! Ist nicht das Bild ihrer Lage gar zu oft wie
eine Schilderung unseres eigenen Inneren? Wie steht es mit unserem Eifer? Wie oft besuchen
wir die Versammlungen? Sind wir regelmäßige Gebetskämpfer in den Gebetsstunden unserer
Gemeinden? Wenn nicht, so sind unsere Knie »erlahmt«! Sind wir in Frieden untereinander?
Haben wir acht auf unsere Weggenossen? Sind wir ernstlich bestrebt, ihnen zu helfen und ein
Segen zu sein?
Wenn nicht, so ist »Erschlaffung« bei uns eingetreten! Aller Streit unter Gläubigen ist
Ermüdungserscheinung. Anstatt daß wir unsere Kräfte im Frontkampf einsetzen, gelingt es dem
Feind, gewisse »Agenten« seiner dämonischen Heeresmacht, d. h. Inspirationen der Uneinigkeit,
hinter unserer Front abzusetzen, und wertvolle Kräfte werden im »Partisanen«kampf, in der
»Etappe«, in der »Gemeinde hinter der vordersten Kampflinie«, verbraucht.
Wie kann dies alles überwunden werden? Der Zustand eines »sieglosen Siechtums« kann doch
nimmermehr Normalzustand eines Christen sein! Nur durch fortlaufende Reformation! Nur durch
erneuten Blick auf Christus! Nur durch entschiedenere Hingabe und praktische Auslieferung
unseres Lebens an unseren Herrn. »Lasset uns aufsehen auf Jesum!«

II. Neubelebung
»Richtet auf die erschlafften Hände und die erlahmten Knie!«
Vielleicht wirkt das Bild vom Renn- und Ringkampf vom Anfang des Kapitels noch mit. Man kann
nicht »laufen« in der Kampfbahn des Glaubens nach dem vorgesteckten Ziel der Heiligung, wenn
die Knie erschlafft und die Hände matt geworden sind. Denn zum »Ring«kampf gehören starke
Hände und zum »Renn«kampf ausdauernde Knie.
Darum muß es zu einem mannhaften Wiederaufschwung in Gottes Kraft kommen. Der Blick auf
Christus gibt neue Frische. Die »Müdigkeit« schwindet. Die» Erlahmung« wird überwunden. Dem
vom Wege Abgeirrten und Verletzten wird »Heilung« zuteil (Hebr. 12, 12; 13). Neue Zuversicht
erfüllt unsere Seele. Wir bekommen einen nüchternen Blick für die Bewertung unserer
Schwierigkeiten. Wir nehmen sie wohl ernst; aber wir überschätzen sie nicht mehr.
Überschätzung der Schwierigkeiten ist immer Ermüdungserscheinung. Damit aber gewinnen wir
neuen Mut, und das Hinschauen auf den großen Immanuel, den »Gott mit uns«, der am Kreuz für
uns gelitten und gesiegt hat, läßt es uns freudig erkennen und erleben: »Der Herr ist bei dir, ein
starker Heiland« (Zeph. 3, 17). Dem Gerechten muß das Licht immer wieder aufgehen und
Freude den von Herzen Aufrichtigen« (Ps. 97, 11).
Der Blick auf Christus schafft Friedfertigkeit und Gemeinschaft.
Aller Streit zermürbt. Gegensätze zwischen den Erlösten machen das Glaubensleben müde. Sie
nehmen die Schwungkraft fort, zerreiben die Seele in der Auseinandersetzung für ichsüchtige
Scheinwerte und verzehren die geistliche Energie. Darum gehört zur Überwindung aller
Lähmungserscheinungen der Zuruf: »Jaget dem Frieden nach mit allen« (Hebr. 12, 14).
Schwierigkeiten unter Gläubigen sind niemals unüberwindbar. Der Blick auf den Versöhner macht
versöhnlich. »Es ist nicht Zeit, zu streiten, sondern zu lieben.« - »Lasset uns aufsehen auf
Jesum!«
»Friede« wird hier mit »Heiligung« zusammengestellt. »Jaget nach dem Frieden mit allen und der
Heiligung, ohne welche niemand den Herrn schauen wird.« Denn das Trachten nach Frieden
erstrebt Herstellung eines richtigen Verhältnisses zu den Menschen, das Jagen nach Heiligung
die Herstellung eines solchen zu G o t t. Der Friede schafft Einigung und Gemeinschaft hier u n t
e n; die Heiligung entsteht aus der Gemeinschaft mit dem Herrn, der d r o b e n ist. Beide sind
unentbehrlich. Aber »weder der Friede noch die Heiligung lassen sich ohne Fleiß und Mühe
gewinnen. Zu beiden führt nur ein ernstlicher Lauf.« - »Jaget!«
»Friede« aber im biblischen Vollsinn ist mehr als nur »Streitlosigkeit«. Friede ist Harmonie,
innerer Zusammenklang, Abgestimmtsein auf einander, Herzensgemeinschaft, Liebe.
Die Gemeinde ist aus der Liebe geboren. Sie verdankt ihr Leben der Liebestat von Golgatha. Sie
lebt v o n der Liebe und ist darum auch bestimmt, i n der Liebe zu leben. Liebe aber ist Einssein,
ein Streben nach Gemeinschaft, die höchste Form innerster Verbundenheit und herzlichster
Einheit. Und wo diese Liebe nicht da ist, da wäre auch alles äußere Zusammensein irreführende
Selbsttäuschung und wesenloser, toter Schein.
Wir glauben an die e i n e, heilige, allgemeine Gemeinde. E i n s ist ihre Grundlage - das Opfer
von Golgatha; e i n s ist ihre Gotteskraft - die Innewohnung des Heiligen Geistes. E i n s ist ihr
Ziel - die Entrückung und Vollendung. E i n e r ist ihr Herr - Jesus Christus, unser gemeinsamer
Erlöser.
Darum müssen wir auch e i n s sein in der Gesinnung der Liebe und - über alle Unterschiede
hinweg - den Weg des Friedens zueinander finden. Darum müssen wir die Verbindung
zueinander suchen, die Bruderhand einander geben und ernstlich bestrebt sein, einander
aufzunehmen, gleichwie Christus uns aufgenommen hat.
Liebe ist aber keine bloße »Fernliebe«, kein schwärmerisches Gefühl für ein Verbundensein mit
aller Welt, wobei man vergißt, mit dem Bruder am eigenen Ort Verbindung zu suchen. Wir
müssen uns sehr davor hüten, mehr an den Abwesenden zu denken als an den örtlich bei uns
Anwesenden!
Liebe ist auch keine bloße »Gruppenliebe«, wo man sich begeistert für ein Zusammengehen mit
den anderen Kreisen der Gläubigen einsetzt und noch nicht einmal praktisch beweist, daß es
einem an dem inneren Zusammengehen mit dem e i n z e l n e n Kinde Gottes gelegen ist. Liebe
ist überhaupt nichts Schwärmerisches und bloß Gefühlsmäßiges, nichts Nebelhaftes und
Unklares. Nein, Liebe ist W i l l e, ist tatkräftiges Handeln, ist zielbewußte Gotteskraft, ist
Durchbruch der Welt Gottes in die irdische Welt. Liebe kennt ein Gesetz, nämlich den Willen des
Höchsten. Wer darum von der Schrift abweicht, weicht, selbst wenn er die Einheit will - ohne daß
er es weiß -, von der Liebe ab. Hier gilt es, sich wache Augen schenken zu lassen, um auf dem
Wege zu bleiben und nicht abzuweichen weder zur Rechten noch zur Linken, wie Christus uns
selbst gesagt hat: »Wachet und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallet.«
Liebe aber s u c h t den anderen; sie glaubt an das aufrichtige Streben in ihm, an das Werk
Christi in seiner Seele, und wir müssen uns tief beugen und in Buße vor Gott und Menschen
bekennen, daß wir in diesem Suchen zu lässig, in diesem Glauben zu ungläubig gewesen sind.
Die Liebe kann alten Bruderstreit begraben. Sie kann vergessen, was dahinten liegt, und einen
Neuanfang schaffen. Sie gibt dem Todeswesen der Zerspaltung in göttlicher Lebenskraft den
Todesstoß. Die Liebe ist die Seele alles Friedens und aller Gemeinschaft unter den Gläubigen.
Sie treibt sie zusammen; sie verbindet ihre Herzen, sie führt sie zu gemeinsamer Arbeit in der
Heimat und auf dem Missionsfeld, zu gemeinschaftlichem Ringen um die Erreichung der großen
Ziele Gottes.
Jeder deiner Mitmenschen gleicht einem Spiegel. Er strahlt dir das zurück, was du in ihn
hineingestrahlt hast. Jede Unfreundlichkeit hinterläßt stets, wenn auch vielleicht nur für einen
Augenblick, einen Schatten auf dem Antlitz des andern, und jeder Dienst der Liebe und
Freundlichkeit wird einen Sonnenstrahl auf seinem Angesicht hervorbringen, und dieser
Sonnenstrahl wird wieder in dein eigenes Herz zurückkehren.
»Durch Dienst zur Freude«, dies Wort des greisen Bodelschwingh möge auch uns in Herz, Willen
und Seele eingeschrieben sein. In der Liebe und dem Dienen liegt etwas, was die Herzen
einander näher bringt. Kalte Menschen werden sich überall kalt fühlen; warme Menschen werden
es überall warm machen. Das Streben nach Frieden und Heiligung macht uns zugleich fähig,
anderen Menschen zu dienen. Auch hier ist der Zusammenhang des biblischen Textes sehr
tiefsinnig und klar: »Jaget nach dem Frieden mit allen und der Heiligung . . ., indem ihr darauf
achtet, daß nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide« (Hebr. 12,14; 15).
Der Blick auf Christus gibt neue Aufträge. Wir bekommen Augen für die Not um uns. Wir
erkennen, daß wir an der Heilung unserer Umgebung, so weit sie erschlafft und erlahmt ist,
mitwirken sollen. Wir sehen die Notwendigkeiten und Möglichkeiten gegenseitiger, brüderlicher
Wacht und Zucht. Das Schauen auf den allergrößten Liebesbeweis, den je gebende Liebe in der
Geschichte des Universums dargebracht hat, öffnet uns die Augen für die Notwendigkeit, das
Vorrecht und die Einzelgelegenheiten, wo auch wir praktische Beweise »achthabender« Liebe
und selbstlose Dienste gegenseitiger, geistlicher und leiblicher Fürsorge bringen können. Das
»Hinschauen« auf Christus macht uns sehend! »Sehet zu!« - »Richtet auf die erschlafften Hände
und die gelähmten Knie« - der Zusammenhang spricht offenbar auch von den Händen und Knien
der a n d e r e n ! - »auf daß nicht das Lahme vom Wege abgewandt, sondern vielmehr geheilt
werdet« Auch in der Prophetenstelle, aus der dies Wort des Hebräerbriefes stammt, ist der Blick,
wenn auch nicht ausschließlich, so doch vornehmlich auf die anderen gerichtet:
»Stärket die schlaffen Hände und befestigt die wankenden Knie! Saget zu denen, die zaghaften
Herzens sind: Seid stark, fürchtet euch nicht!« (Jes. 35, 3; 4.)
In deiner Umgebung sind solche, die geistlich lahm und erschlafft sind. Denke daran: Du sollst
Werkzeug zu ihrer Neubelebung sein! Geh darum nicht vorüber an ihrer äußeren und inneren
Not. Du sollst Augen bekommen für die Gefahren der anderen. Der Blick auf Christus schärft
unseren Blick für die Not unserer Brüder. »Indem ihr darauf achtet, daß nicht jemand an der
Gnade Gottes Mangel leide, daß nicht irgend eine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse . . . und viele
durch diese verunreinigt werden, daß nicht jemand ein Hurer sei oder ein Ungöttlicher wie Esau«
(Hebr. 12, 15; 16). »Lasset uns aufeinander acht haben zur Anreizung zur Liebe und zu guten
Werken« (Hebr. 10, 24).
In diesem Geist der Liebe wollen wir Tatchristen sein. Wir wollen erwachen aus allem Schlaf
frommer, selbstsüchtiger Nichtstuerei und bloßer, gefühlsmäßiger Bejahung der Gebote Gottes.
Zur Arbeit aber gehört Mühe. D e r ist kein Arbeiter, der die Hitze des Tages scheut! D e r wird
kein Sieger, der nur auf der Tribüne sitzt ...
Zur Arbeit gehört Selbstverleugnung. Viele sind gern bereit, für Christus und Seine Sache zu
wirken, aber nur solange, als es ohne Opfer und Selbstverleugnung geht. Solcher Dienst aber ist
im tiefsten Grunde ohne wahren Wert. »Wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren« (Matt.
16,25). Nur die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten (Ps. 126, 5).
Damit ist nicht eigentlich gemeint, daß durch gegenseitiges Achthaben in Liebe das Aufkommen
bitterer G e f ü h 1 e im Herzen des einzelnen verhindert werden soll - obwohl dies natürlich bei
geistlicher, wechselseitiger Fürsorge ebenfalls stets erreicht werden kann und soll -; sondern der
Verfasser meint hier ganz offensichtlich P e r s o n e n, die er als solche »Wurzeln« bezeichnet.
Schließlich aber: Der Blick auf Christus bewirkt neue Entschlußkraft.
Achten wir auf die klar ausgesprochenen Befehlsworte: »Richtet auf!... Macht gerade Bahn!...
Jaget!« (Hebr.12,12-14).
Gottes Wort zu hören, bedeutet Verpflichtung des Hörenden. Vielleicht muß es aber bei vielen
von uns zu einer neuen Hingabe kommen. Man überwindet nicht die Müdigkeit durch Müde-
Bleiben. Wir müssen »aufstehen« aus dem Schlaf (Eph. 5, 14).
Gewiß, bloße Vorsätze können uns nicht helfen. In diesem Sinne haben wir schon gar zu oft
Bankrott gemacht. Aber klar sagt die Schrift, daß wir mit »Herzensentschluß« bei dem Herrn
verharren sollen (Apg. 11, 23). Solche geistgewirkten »Herzensentschlüsse« sind erforderlich.
Denn die Hingabe hat nicht Gott zu vollziehen, sondern wir! Christus h a t Sich geweiht, auf daß
auch wir Geweihte seien in Wahrheit (Joh. 17,19). Es kann sehr wohl erforderlich sein, daß du in
die Stille zu gehen hast, deine Knie zu beugen und in erneuter Hingabe dein Leben und deinen
Willen deinem Herrn praktisch auszuliefern. Das ist gewißlich keine »zweite Bekehrung«. Denn
Bekehrung ist ein einmaliger Akt und bleibt grundlegend für das gesamte, folgende
Glaubensleben. Wohl aber ist es eine neu ausgesprochene, geistgewirkte Willenserklärung zu
gereinigter, vertiefter Heiligung.
Denn müssen wir nicht die Feststellung machen, daß wir nach unserer Bekehrung wieder oft so
lau, so gleichgültig, so träge, so oberflächlich geworden sind, daß die großen Dinge unseres
großen Gottes uns gar nicht so richtig als Allgewa1-ten und Wirklichkeiten überwältigen?
Geistliches Erwachen und Frischbleiben kommt, aber nicht automatisch oder magisch von selbst!
Nein, du mußt selbst dabei sein. Darum fange an, deinem Erlöser und Herrn erneut treu zu
dienen, dich selbst zu verleugnen und für Ihn zu zeugen. Und dann: Fahre fort ! Und du wirst
sehen:
Man lernt Beten d u r c h Beten,
Zeugen d u r c h Zeugen,
Dienen d u r c h Dienen,
Helfen d u r c h Helfen!

Und dein Leben wird frischer werden. Deine Tage werden Inhalt bekommen, und dein Herz wird
beglückt sein. Du mußt aber selbst wirklich wollen (Offb. 22, 17).
Nirgends sagt die Bibel, daß der Wille des Menschen »gebrochen« werden müßte. Solche
Redeweise klingt zwar sehr gottergeben und demütig und ist von solchen, die es so sagen, auch
gewiß ehrlich gemeint. Aber in Wirklichkeit dient man mit solchen unbiblischen Ausdrucksformen
niemand: weder den Gläubigen und erst recht nicht den Gegnern des christlichen Glaubens.
Was die Bibel meint, ist vielmehr dies: Nicht der »Wille« soll gebrochen werden, sondern der
»Eigenwille«, nicht die Energie der Persönlichkeit, sondern ihr Aufruhr gegen Gott.
Was den Willen selbst aber betrifft, so soll er in Übereinstimmung gebracht werden mit dem
Willen Gottes. Er soll, in der Kraft des Heiligen Geistes, durchaus »Wille« bleiben, aber eben d a
s wollen, was Gott will. Und gerade in diesem Wollen des Wollens Gottes soll er ganz kraftvoll
und stark werden. Ja, nur so wird er überhaupt erst richtig »Wille«.
Als »Eigenwille« war er ja vorher überhaupt gar kein richtiger Wille gewesen, sondern nur ein
Spielball in der Hand eines andern, nämlich der ihn vergewaltigenden Großmacht der Sünde
(Röm. 7,19; 20), allerhöchstens ein Streben, ein Sehnen, ein Wünschen, ein Möchten, denn die
Sünde entnervt. Aber in Christus wird der Mensch zu sich selbst hin erweckt. In Ihm - und zwar
erst in Ihm allein! - wird er »Persönlichkeit« im eigentlichen, gottgewollten Sinn des Wortes. Erst
in der Unterordnung unter den Allherrn wird der Wille der Kreatur richtig »Wille«!
Aber auch im Leben der Gesamtheit müssen alle Ermüdungserscheinungen überwunden
werden. Es ist eine immer wieder zu machende Beobachtung in der Geschichte der Gemeinde
Gottes, daß mit einem Generationswechsel fast stets auch eine geistliche Krise verbunden ist.
Gar oft hat besonders die dritte Generation einer Glaubensbewegung innerlich versagt und
wesentliche Geisteskräfte und Erkenntnisgüter preisgegeben, die den Vätern früherer
Erweckungen lebendig und heilig gewesen waren. Schon in der alttestamentlichen Geschichte ist
dies zu erkennen.
»Und das Volk diente dem Herrn alle Tage Josuas (erste Generation) und alle Tage der Ältesten,
welche ihre Tage nach Josua verlängerten (zweite Generation), die das ganze, große Werk des
Herrn gesehen hatten, das er für Israel getan hatte . . . Und auch das ganze, selbige Geschlecht
wurde zu seinen Vätern versammelt. Und ein anderes Geschlecht kam nach ihnen auf (dritte
Generation), das den Herrn nicht kannte und auch nicht das Werk, welches er für Israel getan
hatte . . . Und sie verließen den Herrn, den Gott ihrer Väter . . ., und dienten anderen Göttern«
(Richt. 2, 7; 10; 12).
Wie überaus ernst! Wiegen wir uns nicht in falsche Sicherheit! Keine Glaubensbewegung, ob
kirchlich oder freikirchlich, ob organisiert oder nicht organisiert, hat in sich die Garantie bleibender
Jugendfrische. Wenn es je irgendwo wahr und nötig ist, so muß es sich gerade im geistlichen
Leben jede junge Generation einer Ortsgemeinde oder Gemeindebewegung immer wieder neu
sagen lassen: »Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen!«
Aus einer Krise bei einem Generationswechsel heraus ist ja überhaupt der ganze Hebräerbrief
hervorgewachsen. Er ist der Warnruf und Appell des Geistes Gottes an jene »zweite
Generation«, das Bekenntnis der ersten Generation in Zeugnis und Leben stark festzuhalten.
Denn »Krise« muß nicht unbedingt »Katastrophe« sein! Anfechtungen sind Gelegenheiten zum
Sieg. Für neue Zeiten und neue Menschen ist die stets neu bleibende Kraft des nie alternden,
ewig lebendigen und stets gegenwärtigen Christus vorhanden. Das ist auch zugleich der Sinn
jenes bekannten Wortes des Hebräerbriefes: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe
auch in Ewigkeit« (Hebr. 13,8).
Man muß dieses Wort in Verbindung mit Hebräer 12 und im Zusammenhang der wenigen,
dazwischen liegenden Verse lesen. Gerade soeben war gesagt: »Gedenket eurer Führer, die das
Wort Gottes zu euch geredet haben, und, den Ausgang ihres Wandels anschauend, ahmet ihren
Glauben nach« (Vers 7).
Sofort hinterher steht dann dies leuchtende Wort von dem ewig lebenden, alle Zeiten
durchwaltenden, göttlichen Herrn. Das soll heißen: Menschen gehen dahin. Generationen sinken
ins Grab. Auch die Führer der vorangegangenen Glaubensgeneration sind nicht mehr da. Aber
Christus bleibt!
Er ist mitten im Kommen und Gehen der Geschlechter der Fels Seiner Gemeinde. Er ist erhaben
über allen Wandel und Wechsel der Situationen und Personen. Er ist das Bindeglied zwischen
den Geschlechtern, zwischen dem »Gestern« und dem »Heute« in der Geschichte Seines
Volkes.
Damit ist gesagt: Bei allem Wandel im einzelnen geht in Christus doch der unwandelbare, gleiche
Lebensinhalt der Gemeinde durch alle Jahrhunderte mit ihr mit. Durch das Sterben der
Glaubensvorbilder und Führer (Hebr. 13,7; 17; 24) geht von dem eigentlichen Leben und
Glaubensgrund des Volkes Gottes nicht das Geringste verloren. Wenn auch die Lehrer gehen, so
bleibt doch die Lehre die gleiche. Oder, wie ich es auf dem Ehrengedenkstein John Wesley's,
dieses großen Gotteszeugen, des Gründers des englischen Methodismus, in der Westminster
Abbey (London) las:
»Gott begräbt Seine Arbeiter; aber Seine Arbeit geht weiter.«
Vor Jahren besuchte ich in Stuttgart die Witwe des bekannten Schriftstellers Professor Bettex. Im
Studierzimmer dieses mutigen Christusbekenners sah ich ein Bild, das Professor Bettex selber
gemalt hatte. Es stellt einen Felsen dar inmitten einer wildwütigen Brandung. Mit ungeheurer
Wucht brausen die Wogen an die Felswand heran; aber zerschlagen und zerschellt fluten sie
wieder zurück.
In diesem Bild hat Friedrich Bettex, der durch seine zeugnisfrohen, glaubensverteidigenden,
naturwissenschaftlich und biblisch tief gegründeten Werke Tausenden von Menschen zum Segen
geworden ist, den eigentlichen Sinn und das Anliegen seiner Lebensaufgabe dargestellt:
Mitten in aller Zeit steht Christus da, als der Fels der Ewigkeit. Die Wogen des Zweifels und die
Brandung des Gottes- und Christushasses rasen gegen Ihn an, aber die Wogen werden
zerschlagen. Er, der Fels, jedoch bleibt!
Darum gibt Christus den Seinen auch den Sieg. Man wird Seine Diener in dieser Welt in die
Gefängnisse werfen; man wird sie in glutheiße Wüsten oder eiskalte Steppen verbannen; sie
werden »gesteinigt, zersägt, versucht« (Hebr. 11, 37); aber immer wieder werden sie die
Erfahrung der Männer im feurigen Ofen machen:
Der Eine ist bei ihnen, der aus der Himmelswelt kommt, der sie, wenn zwar nicht immer
äußerlich, so doch stets innerlich, hält und unversehrt zu bewahren imstande ist (Dan. 3, 20-27).
»In diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat« (Röm. 8, 37).
Der Heimgang treuer Gottesknechte legt eine heilige Verpflichtung auf die, welche zurückbleiben.
Unser Leben ist kurz. Unsere Tage schwinden dahin. Dies Irdische aber kann nicht das
Eigentliche sein; das Wesenhafte muß woanders liegen, eben nicht in der Zeit, sondern in der
Ewigkeit, nicht in dem Dahinschwindenden, sondern in dem Bleibenden, nicht in der
Vergangenheit oder Gegenwart, sondern in der Zukunft.
Und dann wollen wir vorwärtsschreiten, ernst und doch getrost, nicht auf uns selbst vertrauend,
aber doch zuversichtlich, nicht auf unsre Kraftlosigkeit blickend, sondern auf Christi Siegesmacht.
»Darum, da wir diesen Dienst haben, wie wir begnadigt worden sind, ermatten wir nicht« (2. Kor.
4, 1).
Als Abraham am Ende seines Lebens für seinen Sohn Isaak eine Braut werben lassen wollte und
darum den Ältesten seiner Knechte zu seiner Verwandtschaft nach Mesopotamien sandte, fragte
ihn dieser: »Vielleicht wird das Weib mir nicht in dieses Land (Kanaan) folgen wollen: soll ich
dann deinen Sohn in das Land zurückbringen, aus welchem du weggezogen bist?« (1. Mos. 24,
5). Da antwortete Abraham - und man spürt in der biblischen Berichterstattung geradezu die
Energie seines Wollens und die Stärke des Mitschwingens seiner Gefühle und Empfindungen:
»Hüte dich, daß du meinen Sohn nicht dorthin zurückbringst ! Wenn das Weib dir nicht folgen will,
so bist du dieses meines Eides ledig. Nur sollst du meinen Sohn nicht dorthin zurückbringen!« (1.
Mose 24, 6;8.)
Nicht zurückbringen! Der Erzvater des Glaubens verlangt für die kommende Generation die
praktische Anerkennung der Unwiderruflichkeit der patriarchalischen Berufung! In der zweiten
oder dritten Generation darf das nicht rückgängig gemacht werden, was die erste Generation im
Glauben errungen! Die Kinder müssen sich würdig erweisen der Glaubenshaltung und Hingabe
ihrer geistlichen Väter. Die nachfolgenden Geschlechter sollen das Erbe ihrer Glaubensvorfahren
in Treue verwalten.
Wir klagen manchmal, daß es dem Volk Gottes der Gegenwart an innerer Lebendigkeit gebricht.
Wir erkennen, daß uns Erweckungsgeist fehlt, daß die beiden letzten Jahrzehnte des vorigen und
das erste Jahrzehnt des jetzigen Jahrhunderts lebendiger gewesen sind, daß damals viel mehr
Menschen aus dem Sündenschlaf erwachten als heute, daß Führer und Hirten im persönlichen
und öffentlichen christlichen Leben da gewesen sind, wie wir sie heute in diesem Maß leider nicht
festzustellen vermögen. Wir denken an die Zeiten eines Moody, Torrey, eines Baedecker, Georg
Müller, v. Viebahn, Stockmayer und vieler anderer. Aber wir bleiben bei all unserm Klagen
vielleicht selber die alten, immer mit der gleichen, zwar starken und ehrlichen, aber doch nicht
genug lebenskräftigen Sehnsucht. Und wir w a r t e n, daß der Herr eine Erweckung senden
möge. Und zuletzt kann es fast so aussehen, als sei G o t t die Ursache, daß es nicht recht
vorwärts geht, eben weil Er unsere Gebete nicht erhört!
Und doch liegt die Sache ganz anders!
Nirgends in der Bibel wird uns gesagt, daß wir auf eine Erweckung warten sollen. Erweckungen
müssen sein; aber die Kinder Gottes haben keine wartende Stellung zu ihnen einzunehmen.
Nirgends verlegt die Heilige Schrift den Schwerpunkt der praktischen Heiligung und unseres
Zeugnisses in die Zukunft, sei es eine ferne oder eine nahe. Vielmehr bringt sie uns einen
gegenwärtigen Christus, einen Heiland, der heute und jetzt unser Leben befruchten und mit
wirksamen Kräften erfüllen will. Denn wenn die Erweckung erst in einigen Jahren käme - gebe
Gott, daß sie schneller kommt! - was sollten wir denn bis dahin in der Zwischenzeit machen?
Nein, wir dürfen das »Heute« nicht vergessen. Die Vergangenheit existiert in unserer Erinnerung,
die Zukunft in unserer Erwartung; was wir haben, ist das Jetzt. »Die Herrschaft über den
Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.«
Die Sache des Königs aber ist eilend! Was wir heute tun können, laßt uns nicht auf den morgigen
Tag verschieben. Wenn uns heute der Geist treibt, ein Zeugnis für den Herrn abzulegen, um eine
Seele für Ihn zu gewinnen, dann wollen wir auch heute gehorchen; denn bis morgen wird der
Feind gewiß schon tausend neue Gründe bereit haben, uns von dem Befolgen der göttlichen
Stimme abzuhalten. Zum wahren Gottesdienst gehört ein Herz mit festem Willensentschluß,
Gottes Werk heute durch uns treiben zu lassen. »Gehe hin, arbeite h e u t e in Meinem
Weinberg« (Matth. 21, 28).
Dann gibt es auch neue Segnungen. Wenn du selbst erwacht bist, kannst du auch andere
erwecken, und so können hier und da kleine Scharen von innerlich erwachten Christen
entstehen, kleine Mittelpunkte, von denen das Licht weiter ausstrahlt. Und dazu sollst auch du
gehören. Gerade dich will der Herr gebrauchen, auch wenn du vielleicht äußerlich nicht
besonders hervortrittst, eben weil Gott dir einen Dienst in der Stille gegeben hat. Aber gewiß wirst
du dich in der Ewigkeit noch einmal wundern, wieviel göttliche Wirkung auch von deinem Leben
ausgegangen ist, wenn du nur, Christus hingegeben, erwacht und wach geblieben bist.
In der Lebensgeschichte Isaaks lesen wir:
»Und Isaak grub die Wasserbrunnen wieder auf, welche sie in den Tagen seines Vaters Abraham
gegraben und welche die Philister nach dem Tode Abrahams verstopft hatten, und er benannte
sie mit denselben Namen, womit sein Vater sie benannt hatte« (1. Mos. 26,18).
Das ist, in geistlichem Sinne, unsere Situation. Unsere Glaubensväter haben »Brunnen«
gegraben und sie mit Namen benannt. Der Brunnen des Wortes Gottes, der Brunnen des
Gebets, der Brunnen der Gemeinschaft der Gläubigen, der Brunnen frohen Zeugendienstes, der
Brunnen der Mission - das waren Himmelsquellen, aus denen sie schöpften und die ihr
persönliches Glaubensleben und das Leben ihrer Gemeinden erquickten und immer wieder frisch
erhielten.
Dann aber ist die erste Generation abgerufen worden. Und die »Philister« sind gekommen -
Sünde, Weltsinn, Bruderstreit, Trägheit, Uninteressiertheit an Gottes Wort und Werk, Feigheit im
Zeugendienst, Mangel an Opfersinn und Missionsgeist -, und die «Wasserbrunnen« der Väter
wurden verstopft. Dürre des Glaubenslebens, Gebetslosigkeit, Unfruchtbarkeit des Zeugnisses,
Mattheit des Gemeindelebens, Verkrampfung in Traditionsgebundenheit, Verengung des
Gesichtskreises sind nun weithin die Lage.
Was muß geschehen?
Wir müssen die Wasserbrunnen der Väter wieder aufgraben! Wir müssen wieder beten lernen,
wie unsere Väter gebetet haben! Wieder Zeugnis ablegen, wie sie gezeugt haben! Wieder opfern
für Bibelverbreitung und Mission, wie sie es einst taten! Die Brüder wieder lieben, so wie sie die
Gemeinschaft der Heiligen gepflegt haben. Unser Platz im Gemeindesaal darf nicht leer sein.
Unser Gemeinde- und Missionsbeitrag darf nicht fehlen. Unser Gebet muß regelmäßig und echt
sein. Wir müssen wieder Zeugen für Christus und Seelengewinner werden.
Darum noch einmal: »Richtet auf! Macht gerade Bahn! Jaget!«

6. Kapitel. Verschleuderte Werte . . .

Hebr 12,16-17 Gebt darauf acht..., daß nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Gottloser wie Esau,
der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte.
Ihr wißt ja, daß er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand
keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.
Hoch ist der Stand des neutestamentlichen Heils; tief ist unter Umständen der Absturz. Deshalb
muß sich in einem gesunden Glaubensleben Freude mit Ernst verbinden, Dankbarkeit mit
Verantwortlichkeit, Zuversicht mit heiliger Vorsicht. Daher auch die zahlreichen Warnungen im
Hebräerbrief. Zu den ernstesten von ihnen gehört der Hinweis auf Esau.
»Achtet darauf.... daß nicht jemand ... ein Ungöttlicher sei wie Esau, der für e i n e Speise sein
Erstgeburtsrecht verkaufte; denn ihr wisset, daß er auch nachher, als er den Segen ererben
wollte, verworfen wurde; denn er fand keinen Raum für die Buße (Sinnesänderung, Umstimmung,
Rückgängigmachung), obwohl er sie (die Segenserteilung, die Umstimmung) mit Tränen eifrig
suchte» (Hebr. 12,16; 17).
Esau war der »Erstgeborene« Isaaks. An seinen Vorrechten, seinem Verhalten und seinem
Geschick gibt der Schreiber des Hebräerbriefes seinen Lesern einen Hinweis auf ihre
Vorrechtstellung, ihre Verantwortlichkeit und ihre Gefahr. Im Vordergrund steht die Warnung.
Aber ihre volle Kraft bekommt sie erst durch das Wissen um die hohe Stellung, in der Esau sich
ursprünglich befunden hatte.
Was »Erstgeburtsrecht«, nach alttestamentlichem Gesetz, in sich schloß, war den ersten Lesern
des Hebräerbriefes, als geborenen Israeliten, zweifellos bekannt. Im Neuen Testament wird es
als Bild gebraucht, um die hohe Ehrenstellung der Gemeinde Christi, ja Christi selbst zum
Ausdruck zu bringen.
Vor allem und in ganz einzigartiger Weise ist Christus der »Erstgeborene«. Diese Seine
Herrlichkeit strahlt in der neutestamentlichen Offenbarung in dreifacher Weise auf. Er ist »der
Erstgeborene aller Schöpfung« (Kol. 1, 15). Dies ist Seine Ehrenstellung schon von der Ve r g a n
g e n h e i t her, die Er von vornherein hatte, als »Sohn« über aller Kreatur. Er ist »der
Erstgeborene aus den Toten« (Kol. 1, 18; Offb. 1, 5). Dies ist Seine Ehrenstellung in der G e g e
n w a r t, die Er besitzt als der »Auferstandene«, der den »Vorrang« hat, als das »Haupt« Seines
Leibes in der Gemeinde. Er ist »der Erstgeborene unter vielen Brüdern« (Röm. 8, 29). Dies wird
Seine Ehrenstellung sein in aller Z u k u n f t, wenn Er offenbar werden wird als der verherrlichte
Erlöser inmitten Seiner verherrlichten Erlösten (vgl. auch Hebr. 1, 6).1)
Zugleich aber wird das Wort »Erstgeburt« gebraucht, um die besondere Gnadenstellung der
Gemeinde zum Ausdruck zu bringen. So sagt derselbe Hebräerbrief, der vom »Erstgeburtsrecht«
Esaus spricht und daraus Folgerungen für seine neutestamentlichen Leser zieht, nur wenige
Sätze hinterher: »Ihr seid gekommen. . . zu der Versammlung der Erstgeborenen, die in den
Himmeln angeschrieben sind« (Hebr. 12,23). Und der Jakobusbrief erklärt: »Nach seinem
eigenen Willen hat er (Gott) uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt, auf daß wir eine gewisse
Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien« (Jak. 1, 18).
Beide Briefe waren zunächst an judenchristliche Leser gerichtet. Das Wort »Erstgeburtsrecht«
muß darum vom Alten Testament her verstanden werden.
Hierbei liegt der Hauptnachdruck nicht so sehr auf der zeitlichen Reihenfolge, sondern der
rangmäßigen Würde. Sonst könnte ja nicht davon gesprochen werden - was das Alte Testament
aber dennoch tut -, daß ein schon Geborener an irgend einem Zeitpunkt seines Lebens zum
Erstgeborenen »gemacht« wird. »Er wird mir zurufen: Mein Vater bist du, mein Gott, und der Fels
meiner Rettung! So will auch ich ihn zum Erstgeborenen machen, zum Höchsten der Könige der
Erde« (Ps. 89, 26-28). Und umgekehrt könnte nicht ein zeitlich als Erster Geborener unter
Umständen seine Erstgeburt später noch v e r l i e r e n (vgl. aber Ruben: 1. Chron. 5, 1; 2 und
Esau).
Das Wort »Erstgeburtsrecht« ist im Text des Hebräerbriefes ein Mehrzahlwort (griech. ta
prototokia, plural neutr.) Damit ist zugleich ausgedrückt, daß sein Segensinhalt eine Mehrheit ist.
Nach der Sozial- und Heilsgeschichtsordnung des Alten Testaments ist er eine Dreiheit:
Herrschaftswürde, Dienst am Priestertum, doppelter Anteil am Erbbesitz.

I. Das israelitische Erstgeburtsrecht.

1. Herrschaftswürde. Der Erstgeborene war unter dem Vater der Vertreter der häuslichen
Autorität. Er war der »Herr« über seine jüngeren Brüder (vgl. 1. Mos. 27, 37 So »gebot« Davids
ältester Bruder seinem jüngeren Bruder David, zu einem Familienopfer nach Bethlehem zu
gehen, was sogar Saul und dessen Sohn Jonathan als ausreichenden Grund anzusehen hatten,
daß David, trotz der Erwartung des Königs, nicht an der königlichen Tafel erschien (1. Sam. 20,
27-29). Bei Tisch saßen die Söhne eines israelitischen Haushalts der geburtlichen Folge und
Rangordnung gemäß, »der Erstgeborene nach seiner Erstgeburt, und der Jüngste nach seiner
Jugend« (1. Mos. 43, 33. Vgl. auch 1. Mos. 48, 14; 17-19).
2. Dienst am Priestertum. Hier zeigt schon das soeben erwähnte Beispiel aus dem Leben Davids,
daß der älteste Bruder, also der »Erstgeborene« in seiner Familie, die Ordnung des
»Familienopfers« durchzuführen, also gleichsam als Hauspriester zu handeln hatte. Vor allem
aber ist es der große, heilsgeschichtliche, alttestamentliche Gesamtzusammenhang, der
Erstgeburtsrecht und Priestertum miteinander verbindet.
Nach Gottes Plan sollte Israel Gottes »Erstgeborener« sein unter den Völkern (2. Mos. 4, 22).
Zugleich sollte Israel, als Gottes Eigentum aus allen Völkern, »ein Königreich von Priestern und
eine heilige Nation« sein (2. Mos. 19, 5; 6). Als Gegenwirkung Gottes gegen den Frevel des
Pharao, der durch die Ausrottung Israels somit Gottes »erstgeborenen Sohn« vernichtet hätte,
verfügte Gott die Vernichtung der ägyptischen Erstgeburt. »So spricht Jehova: Mein Sohn, mein
erstgeborener, ist Israel, . . . und weigerst du dich, ihn ziehen zu lassen, so werde ich deinen
Sohn, deinen erstgeborenen, töten« (2. Mos. 4, 22; 23).
Dafür aber, daß Gott dann die israelitische Erstgeburt im Passah verschonte, ordnete Er die
besondere Weihung jeder jüdischen, männlichen Erstgeburt für Ihn an. Damit waren Gottesweihe
und Erstgeburt grundsätzlich miteinander verbunden, und zur Erstgeburtsstellung gehörte
Aussonderung zum Dienst für Jehova, also Priestertum. Nach der Anbetung des Goldenen
Kalbes in der Wüste und als Lohn für die rückhaltlos entschiedene Stellungnahme des Stammes
Levi auf der Seite Gottes (2. Mos. 32, 26-29) wurde diese besondere Gottesweihe der
allgemeinen, israelitischen Erstgeburt auf die Angehörigen Levis übertragen und somit der
Stamm Levi zum Priestertum berufen. »Mein ist alles Erstgeborene unter den Kindern Israel . . .
An dem Tage, da ich alle Erstgeburt im Lande Ägypten schlug, habe ich sie mir geheiligt. Und ich
habe die Leviten genommen a n s t a t t aller Erstgeborenen unter den Kindern Israel . . ., um den
Dienst der Kinder Israel am Zelt der Zusammenkunft (der Stiftshütte) zu verrichten« (4.Mos. 8,
17-19; Kap. 3, 12; 44; 45). Dies ist der heilsgeschichtliche Zusammenhang und die geschichtliche
Einzelentwicklung der Berufung des Stammes Levi zum Priestertum. Im Hintergrund seiner
Erwählung steht die Erstgeburtsstellung Israels und die grundsätzliche Verbindung von
Erstgeburt und priesterlicher Gottesweihe.
Das dritte Segensgut des Erstgeburtsrechts war
3. Doppelter Anteil am Erbbesitz. Nach der ausdrücklichen Anordnung des fünften Buches Mose
hatte der israelitische Vater bei der Verteilung des Erbes - wie immer auch die familiären
Verhältnisse im einzelnen seien - dem Erstgeborenen »z w e i Teile zu geben von allem, was in
seinem Besitz gefunden wird; denn er ist der Erstling seiner Kraft, ihm gehört das Recht der
Erstgeburt« (5. Mos. 21, 15-17). Das heißt z. B.: Wenn ein Vater vier Söhne hatte, so mußte der
Gesamtbesitz in fünf Teile geteilt werden, und der Erstgeborene erhielt davon zwei, jeder
nachfolgende Sohn einen.
Tiefeingreifende Entwicklungen in der Gesamtheilsgeschichte der Bibel hängen mit diesen drei
Hauptanordnungen des israelitischen Erstgeburtsrechts zusammen.
Eigentlich hatte, unter den zwölf Stämmen Jakobs, R u b e n das Erstgeburtsrecht. Dennoch ist
der Messias nicht »Löwe aus dem Stamme Ruben«. Denn Ruben war, wegen seiner
schändlichen Sünde von 1. Mos. 35, 22, seines Erstgeburtsrechtes und Messiasrechtes
entkleidet worden. »Er wird nicht nach der Erstgeburt verzeichnet« (1. Chron. 5, 1). Er soll
»keinen Vorzug haben« (1. Mos. 49, 3; 4). Die dann folgenden Brüder Simeon und Levi waren
aber auch ausgeschaltet (1. Mos. 49, 5-7), und zwar wegen ihrer Bluttat in Sichem (l. Mos.
34,25).
Daher wurde Rubens Erstgeburtsrecht folgendermaßen geteilt:
a) Den doppelten Anteil am äußeren Erbbesitz bekam Joseph in seinen zwei Söhnen Ephraim
und Manasse, so daß jeder von diesen beiden ein ganzes Stammgebiet erhielt (1. Chron. 5, 1).
Dies ist der Grund, warum diese zwei, die doch eigentlich nur Enkel Jakobs waren, genau so
behandelt wurden, wie die unmittelbaren Söhne Jakobs, also die Brüder ihres Vaters. So wie
Jakob es angeordnet hatte: »Ephraim und Manasse sollen mein sein wie Ruben und Simeon«
(l.Mose 48, 5).

b) Den Dienst am Priestertum erhielt, wie oben dargelegt, L e v i. Hierbei wurde zugleich das
über Levi wegen der Bluttat in Sichem (l. Mos. 34, 25) verhängte Zerstreuungsgericht, daß er
kein geschlossenes Stammgebiet erhalten sollte (l. Mos. 49, 5-7), bei aller äußeren
Aufrechterhaltung, in einen Segen umgewandelt. Seine Nachkommen erhielten - für jeden
Israeliten erreichbar - 48 über das ganze Zwölfstämmeland verteilte Levitenstädte (4. Mos. 35,1-
7; Josua 21,lff., bes. 41).
c) Die Herrschaftswürde bekam J u d a, der vierte Sohn Jakobs. »Juda hatte die Oberhand unter
seinen Brüdern, und der Fürst kommt aus ihm« (l. Chron. 5, 2). So wurde Juda zum
Königsstamm. Dies hat zugleich messianische Bedeutung. »Es wird das Szepter von Juda nicht
entwendet werden noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis daß der Held komme,
und demselben werden die Völker anhangen« (l. Mos. 49, 10). Durch dies alles ist der Messias
nicht, wie es sonst zu erwarten gewesen wäre, »Löwe aus dem Stamme Ruben«, sondern »Löwe
aus dem Stamme Juda« (Offb. 5, 5).
Zugleich aber erkennen wir in diesem Gesamtzusammenhang die hochbedeutsamen
Auswirkungen des israelitischen Erstgeburtsrechts, wie sie die alttestamentliche
Offenbarungsgeschichte in entscheidendsten Hauptlinienführungen mitgestalten, ja bis in das
Neue Testament und das kommende Gottesreich hineinreichen, und zwar dies nicht nur
territorial, politisch (politische Führung Israels durch den Stamm Juda.) und dynastisch
(königliche Dynastie des Davidshauses aus Juda: Matth. 1, 2-7), sondern desgleichen auch
kultisch (gottesdienstlich) und prophetisch, ja sogar messianisch.

II. Das Erstgeburtsrecht der Gemeinde. Die große Möglichkeit.


Dies alles ist, vom Neuen Testament her gesehen, zugleich gottgegebene Vorbildersprache auf
die geistlichen Heilsgüter der Gemeinde. Wenn die Gemeinde die »Versammlung der
Erstgeborenen« ist, »die im Himmel angeschrieben sind« (Hebr. 12, 23)5), so ist, von dieser
alttestamentlichen Schau her ein dreifacher Heilsbesitz zum Ausdruck gebracht: überragende
Herrlichkeit himmlischer Segensfülle, geistliches Priestertum, gottgeadeltes Königtum. In allen
diesen drei Hinsichten übertrifft aber die neutestamentliche Heilswirklichkeit ihr alttestamentliches
Vorbild noch bei weitem. Alles ist umfassender, tiefer, geistlicher, himmlischer.

1. Die neutestamentliche Segensfülle.


Unausforschlich ist der Reichtum Christi, der der Gemeinde zuteil geworden ist (Eph. 3, 8-10).
Ihre Stellung ist weit höher als die Stellung Israels als Nation. Die himmlischen Segnungen der
Christusgemeinde überragen alle irdischen Segnungen des alttestamentlichen Bundesvolkes.
Hier hat wirklich die »Gemeinde der Erstgeborenen« einen »doppelten Anteil« am Segensbesitz,
ja noch unendlich weit m e h r als dies! Gewaltig überlegen ist der Neue Bund gegenüber dem
Alten (Hebr. 8; 2. Kor. 3). Der Kleinste im Königreich der Himmel ist größer als der Größte in der
Haushaltung des Gesetzes (Matth. 11, 11). Glückselig darum unsere Augen, daß sie sehen, und
unsere Ohren, daß sie hören, was Propheten und Gerechten der alttestamentlichen Vorzeit nicht
geschenkt worden war, zu vernehmen (Matth.13,16;17). »Gepriesen sei der Gott und Vater
unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den
himmlischen Örtern in Christo!« (Eph. 1, 3).
So ist in Christus ein Heil erschienen, das alle vorangegangenen Gottesoffenbarungen
sonnenhaft überstrahlt. In Ihm ist das volle Heil da. Der ganze Reichtum des Himmels ist
aufgeschlossen. Als »Heiland« ist Christus mehr als der nur »Heilende«. Er ist mehr als der Arzt
und Gesundmacher an Leib und Seele (vgl. Luk. 4,23), m e h r als der bloße Überwinder aller
geistig-moralischen und seelisch-leiblichen Hemmungen im Einzelleben und in der Gesamtheit.
»Als »Heiland« und »Retter« bringt Er nicht nur das Minus auf den Nullpunkt, hebt nicht nur das
Negative auf, läßt nicht nur alle Krankheit verschwinden, sondern schenkt gleichzeitig etwas
überwältigend Positives, einen millionenfach ü b e r den Nullpunkt hinausgehenden Reichtum
(Eph. 1,18), einen überströmenden Lebensgenuß (Joh. 10, 10; 11), unausschöpfbare
Glückseligkeit (Phil. 4, 4), Kraft zu siegreichem Leben (Röm. 8, 37), wahre Würde der
Persönlichkeit (1. Petr. 2, 9; Eph. 4, 1), eben ewige Erfüllung echten Menschheitsadels«.
»Heil« im Sinne des Neuen Testaments ist darum der »unausforschliche Reichtum Christi« (Eph.
3, 8), »der Wirkungsbereich des auferstandenen Christus, die Summe Seiner Machtwirkungen
hier unten« (Ralf Luther). Als »Heiland« ist Christus der »Heilbringer«, der Sieger über alle
Mächte der Finsternis, die Sonne, von der alle Kräfte der Neubelebung ausstrahlen, der Erfüller
wahren Menschheitsadels, der Bringer des Reiches Gottes, der Triumphator in Weltformat (Joh.
4, 42; 3, 16; 1. Joh. 4, 14!) – (Es genügt also nicht, bei der Erklärung des Titels »Heiland« nur die
sprachliche Herkunft des Wortes soter von sozein »heilen, gesundmachen« zu berücksichtigen
(vgl. Matth. 9, 21; 22; Mark. 5, 23; 6, 56). Die sprachliche Herkunft eines Wortes (die Etymologie)
ist ja überhaupt nie schon entscheidend für den sinngemäßen Gebrauch und Begriffsumfang des
betreffenden Wortes. Wo von Krankenheilungen im Neuen Testament die Rede ist, wird in der
Regel ein ganz anderes Wort gebraucht (griech. therapeuein z. B. Matth. 4, 24; Mark. 3, 10,
zusammen über 35 mal in den Evangelien).
So bezeugen wir denn mit Ernst Moritz Arndt, dem bekannten Dichter der Freiheitskriege:
»Ich weiß, an wen ich glaube,
Ich weiß, was fest besteht,
Wenn alles hier im Staube
Wie Rauch und Staub verweht ...
Das ist das Licht der Höhe,
Mein Heiland Jesus Christ,
Der Fels, auf dem ich stehe,
Der unzerstörbar ist.«

2. Das neutestamentliche Priestertum.


Aber noch mehr. In der Schar dieser Himmelsmilliardäre des Glaubens ist jeder einzelne, nach
Gottes Berufung, ein Priester des Höchsten. »Er (Christus) hat uns gemacht zu einem
Königtume, zu Priestern seinem Gott und Vater« (Offb. 1, 6).
Was ist darin eingeschlossen?
Es gibt eine oberflächliche Art, vom allgemeinen Priestertum der Gemeinde zu sprechen, als ob
eine Ortsgemeinde das allgemeine Priestertum schon dann habe, wenn sie keinen besonders
beauftragten Diener am Wort hat. Wohin-gegen doch das Neue Testament an keiner einzigen
Stelle erklärt, daß das allgemeine Priestertum in irgend einer Form gottesdienstlicher Gestaltung
schon erfüllt sei!
Nein, eine Ortsgemeinde kann einen Prediger haben und doch zugleich das allgemeine
Priestertum im Wesenhaften besitzen. Eine Ortsgemeinde kann allgemeine Redefreiheit haben
und dennoch am allgemeinen Priestertum praktisch vorbeileben.
Der Ausdruck »allgemeines Priestertum« findet sich, in dieser seiner Zusammenstellung der
beiden Worte »allgemein« und »Priestertum«, nicht in der Schrift. Er entstammt der Reformation.
Die Bibel spricht vom »königlichen« Priestertum (1. Petr. 2, 9; 2. Mos. 19, 6) und vom »heiligen«
Priestertum (1. Petr. 2, 5).
Im Gegensatz zu der katholischen Einrichtung eines besonderen Priesterstandes betonten die
Reformatoren die geistliche und stellungsmäßige Gleichheit aller wahrhaft Christusgläubigen vor
Gott und in der Gemeinde. Darum ist der Ausdruck »allgemeines Priestertum« - wenn, seiner
Wortzusammenstellung nach, zwar auch nicht direkt in der Schrift enthalten -, so aber doch,
seinem Inhalt und Sinn nach, durchaus schriftgemäß.
Nur muß man sich hüten, ihn rein negativ, das heißt, lediglich den Klerikalismus verneinend, oder
vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Gottesdienstordnung und der Ausübung der
Wortverkündigung, aufzufassen. Etwa als ob das »allgemeine Priestertum«, seinem Wesen nach,
eben in der Verneinung eines besonderen Predigerdienstes und in der Bejahung einer
unterschiedslosen Gleichberechtigung aller männlichen Gemeindeglieder im Hinblick auf
Versammlungsdienst und Predigttätigkeit bestehe!
In Wahrheit sind im allgemeinen Priestertum, außer den gläubigen Männern, die gläubigen
Frauen desgleichen miteingeschlossen. Allerdings jeder im Rahmen seiner Beauftragung.
Sie alle aber sollen Priesterseelen sein. Daß sich dabei auch gewisse praktische Folgerungen für
die Gestaltung der Gemeindezusammenkünfte und die Ausübung des Dienstes am Wort
ergeben, ist selbstverständlich. Aber der Schwerpunkt liegt viel tiefer.
Allgemeines Priestertum wie auch Geistesleitung sind, nach dem eindeutigen Zeugnis sämtlicher
diesbezüglicher Stellen des Neuen Testaments (Röm. 8, 14; Gal. 5, 18; Joh. 16, 13), kein bloßes
Vorrecht der Gemeindezusammenkünfte, sondern des gesamten Lebens der Gemeindeglieder
von morgens bis abends, kein isolierter Sonderbezirk irgend eines Tageslaufs, sei es Sonntag
oder Alltag - etwa zeitlich begrenzt auf Anfang und Ende der Anbetungs-, Bibel- und
Gebetsstunden -, sondern den g e s a m t e n Menschen umfassend! In diesem Sinne ist das
ganze, neutestamentliche Gottesvolk »ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation« (2.
Mos. 19, 6; 1. Petr. 2, 5-9).
In der Gemeinde sollen sich dann, auf der Grundlage des allgemeinen Priestertums, die
»geistlichen Gaben« entfalten (1. Kor. 12-14). Dies soll, je nach der Beauftragung des einzelnen,
von Fall zu Fall unter der Leitung des Heiligen Geistes geschehen. Allgemeines Priestertum und
charismatische Geistesleitung sind darum zu unterscheiden (griech. charisma = Gnadengabe).
Das erstere umschließt, seinem Umfang nach, den größeren Kreis; das zweite ist in dem ersten
enthalten, ist aber nur ein Teil des ersten. Jeder wahrhaft Erlöste ist zum allgemeinen Priestertum
berufen. Aber nicht jeder neutestamentliche Priester Gottes ist Träger gottesdienstlicher
Geistesgaben. Und auch die Träger gottesdienstlicher Geistesgaben sind nicht in jedem Fall und
von vornherein mit der Ausübung der Wortverkündigung beauftragt, sondern alle stehen von Fall
zu Fall neu unter der anordnenden Leitung des Heiligen Geistes (1. Kor. 12, 4ff.; 14, 26).
Hierbei beginnt die Leitung des Geistes nicht etwa erst beim Versammlungsanfang. Sie ist nicht
magisch, sondern heilig-natürlich, nicht mechanisch, sondern individuell organisch, nicht
zeitbeschränkt, sondern total.
Die Verbindung der Worte »Geist« (griech. pneuma) und »leiten« (griech. ago, hodegeo) findet
sich nur dreimal im Neuen Testament und bezieht sich jedesmal auf das g e s a m t e Leben des
Christen (Röm. 8, 14; Gal. 5, 18; Joh. 16, 13). Sie wird nirgends in ausschließlicher, nicht einmal
vornehmlicher Beziehung auf die Grundsätze der Versammlungsgestaltung gebraucht. Daß
hierbei jedes Zusammenkommen der Gemeinde stets neu vom Geist Gottes geleitet werden soll,
ist selbstverständlich und in dem Totalitätscharakter der Geistesleitung mit eingeschlossen. Die
gesamte, »innergemeindliche« und »außergemeindliche« Zeit eines Christen soll unter der
Führung von oben und dem Zuspruch des Heiligen Geistes stehen. Daher ist es auch sehr wohl
in Übereinstimmung mit dem biblischen (!) Begriff von Geistesleitung, daß ein Verkündiger des
Wortes schon v o r einer Versammlung oder einem Gottesdienst sich vom Herrn einen Auftrag -
ein Bibelwort, ein Thema, ein Lied - schenken läßt und sich in der Stille unter Gebet und unter der
Leitung des Geistes auf einen Dienst in der Gemeinde »vorbereitet«. Dabei muß er allerdings
offen bleiben für weitere Leitung des Geistes.
Die Aufgabe des Priesters war eine fünffache: Opfern, Beten, Zeugen, Seelsorge, Segnen.
So darf der neutestamentliche Priesterdienst ein heiliger Opferdienst sein. Gewiß, das auf
Golgatha dargebrachte Opfer des Lammes Gottes ist einmalig und kann nie wiederholt werden
(Hebr. 10, 10-14). Aber die durch dies Opfer für Gott Erworbenen sollen selber nun in ihrem
ganzen Leben ein heiliges Opfer sein. »Ich heilige (weihe) mich selbst für sie, auf daß auch sie
Geheiligte (Geweihte) seien in Wahrheit« (Joh. 17,19).
In der Hingabe ihres Lebens: Röm. 12, 1; in dem Geheiligtsein ihrer Handlungen: 1. Petr. 2, 5; 9;
in Hilfsbereitschaft und Liebestätigkeit: Hebr. 13, 16; in opferfreudigen Missionsgaben: Phil. 4,18;
im Volleinsatz ihrer Persönlichkeit zur Ausbreitung des Evangeliums: Phil. 2, 17; 2. Tim. 4, 6; in
geistgewirkten Gebeten: Offb. 8, 3; 4; PS. 141, 1; 2; in jubelnder Anbetung: Hebr. 13,15 - kurz, in
dem Geweihtsein ihres ganzen Seins und Wirkens soll sich ihr priesterlicher Opferdienst heilig
bewähren.
Pflicht der Gemeinde. Es ist nicht in unser Belieben gestellt, ob wir unsere Ortsgemeinde oder die
Bestrebungen der Weltmission oder der Evangelisation »unterstützen« wollen oder nicht. Beitrag
zum Werk des Herrn - bis hin zum Ausmaß des persönlichen Opfers (!) - ist schlechthin unsere
Schuldigkeit. Es ist B e f e h 1 des erhöhten Herrn (1. Kor. 9, 14) und darum für jeden Erlösten
eine Frage des Gehorsams. Opfergaben für das Reich Gottes gehören darum in das Gebiet der
Heiligung. Wir können bei uns selbst daran erkennen, inwieweit wir überhaupt den
Herrschaftsanspruch Christi praktisch ernst nehmen.
Missionsopfer sind Ausdruck unserer Dankbarkeit für die empfangene Erlösung und den Dienst
Christi und Seiner Gemeinde an unserer Seele. Christus erhebt Anspruch darauf, und aller
Ungehorsam in dieser Hinsicht ist Geringschätzung Seiner Autorität, ja, Beraubung Gottes.
Zweifellos dürfen Opfer »nicht aus Zwang oder Verdruß» dargebracht werden, sondern von
einem jeden bereitwillig und gern, eben so, »wie es das Herz vorschreibt« (2. Kor. 9, 7). Aber
unser Herz soll und darf Christus und Sein Werk dankbar und tief l i e b e n, und dann ergibt sich
alles andere von selbst.
Sie sind Selbsteinzahlungen auf die Himmelsbank. Es ist »der Gewinn«, schreibt Paulus, »der für
e u r e Rechnung erwächst«, der sich auf e u r e m Konto vermehrt (Phil. 4,17), der als
»Guthaben« (Menge) auf euer (himmlisches) Konto gebucht wird. »Mein Gott wird euch nach
seinem Reichtum alles, was ihr bedürft, durch Christus Jesus in herrlicher Fülle geben« (Phil. 4,
19, Menge, Albr.). Vgl. Gal. 6,6.) Aber noch höher ist diese Verpflichtung der Gemeinde zu
bewerten. Sie trägt geradezu priesterlichen Charakter. Zuwendungen für Gemeinde und Mission
sind
Neutestamentliche Opfer und darum eine wesentliche Betätigung des »allgemeinen
Priestertums«. Sie sind, wenn in rechter Gesinnung und darum dann auch in entsprechendem,
äußeren Ausmaß dargebracht, »ein duftender Wohlgeruch, ein angenehmes O p f e r, Gott
wohlgefällig« (Phil. 4, 18). Dies ist jedenfalls die Beschreibung, mit der Paulus die Missionsgabe
der Philipper charakterisiert. An deiner Gebefreudigkeit für Reich Gottes und Weltmission kannst
du es vor dir selbst erkennen, wie weit du dich überhaupt eigen-persönlich in das allgemeine
Priestertum praktisch hineingestellt weißt. An der Stellung zum Geld waren im Alten Testament
die wahren und die falschen Propheten zu erkennen (Micha 3,11; 4.Mose 22,16). Dies war das
untrügliche Unterscheidungsmerkmal. An der Stellung zum Geld bewährt sich im Neuen
Testament auch die Echtheit wahren allgemeinen Priestertums. - Und zuletzt: Zuwendungen für
Gemeinde und Mission sind
V o r r e c h t u n d E h r u n g für die gebenden Mitarbeiter. »Machet euch Freunde mit dem
ungerechten Mammon, auf daß, wenn er zu Ende geht, man euch aufnehme in die ewigen
Hütten« (Luk. 16,9). Wie wird es einst sein, wenn in der Ewigkeit die Zusammenhänge vieler
Siege in Weltmission und Reichsgottesarbeit offenbar gemacht werden! Welche Freude und
welche Ehre, wenn uns dann im ewigen Licht gezeigt wird, wie auch unser persönliches
Missionsopfer vielleicht dazu beigetragen hat, eine Bibelverbreitung oder ein
Missionsunternehmen zu ermöglichen, wodurch Seelen zu Christus geführt wurden! Welch
beseligendes Glück, dann in Demut zu erkennen: Da haben andere gekämpft und gesiegt; aber i
c h w a r - obwohl vielleicht Tausende von Kilometern davon örtlich entfernt - durch Gottes Gnade
dennoch a u c h d a b e i ! Zu solchen Freuden und Ehren führt der praktische Opferdienst des
neutestamentlichen, allgemeinen Priestertums.
Bei dem Ganzen aber bleibt im Priestertum der Gemeinde das Gebetsleben die eigentliche,
innerste Mitte. Für den wahren, neutestamentlichen Priester ist Beten keine Pflicht, sondern
gottgeschenktes Vorrecht. Dann werden auch die Sünden der Umgebung nicht Gelegenheiten
zur Kritik, sondern Aufgaben liebender Fürbitte. Die Unheiligkeiten anderer werden heilig
behandelt. Sie werden nicht ins »Lager«, sondern ins »Heiligtum« gebracht. Und vom stillen
Gebetskämmerlein gehen Segensströme aus in Gemeinde und Haus, in Seelsorge und Mission
(Eph. 6,18; 19; Röm. 15, 30-32), ja, in Obrigkeit und Völkerwelt (1. Tim. 2, 1; 2).
Das Gebet ist der »Transformator«, die »Umschaltestation«, die den Strom aus der himmlischen
Kraftzentrale - Gott - in die einzelnen Haushaltungen und Betriebe unseres Lebens überleitet, ihn
zu Licht- und Kraftzwecken gleichsam »umschaltet«, »umformt« und verteilt. Ohne Gebetsleben -
kein Siegesleben! Ohne Leben i n Christus kein Wirken f ü r Ihn! Auch mitten im Andrang der
täglichen Pflichten darf unsere Gebetsverbindung mit dem Herrn niemals abreißen.
»Beten« allein tut's freilich auch noch nicht. Selbst bei Gläubigen gibt es ein ungläubiges
»Beten«, ein formenhaftes, gedankenloses, zweifelndes Scheingebet. »Solcher Mensch denke
nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde« (Jak. 1, 7). Nur das G l a u b e n s gebet
kann uns helfen, das vertrauensvolle Erwarten, daß der Herr uns nach Seinem Rat und zu Seiner
Zeit tatsächlich erhören wird.
Ein solches Beten ist dann priesterliche Reichsgottes a r b e i t. Es ist nicht eine Tätigkeit der
Seele, die etwa lediglich zu der Arbeit h i n z u käme, sondern ein Teil der Arbeit des Priesters
selber, ja die wichtigste Arbeit überhaupt! Nur der ist ein Reichsgottes a r b e i t e r, der ein
Reichsgottes b e t e r ist. Denn »Gebet ist Arbeit« (Kol. 4, 12; 13). Nur d i e Ortsgemeinde ist
geistlich stark, bei der die Gemeindegebetsstunde nicht ihre »schwache Seite« ist, bei der die
gemeinsamen Gebetszusammenkünfte Missionsmitarbeitsstunden sind, »Mission« in dem
doppelten Sinne von Evangeliumszeugnis draußen und Evangeliumszeugnis daheim. Die
Entscheidungsschlacht unseres Lebens wird im Kämmerlein geschlagen. Wie unser Gebet, so ist
unsere Arbeit. So ist unser Einfluß auf unsere Mitmenschen. So ist unsere Stellung zu allen
Fragen des Lebens.
Zur Bitte und Fürbitte kommt noch die Danksagung und die Anbetung hinzu. Anbetung ist gar
wohl von Danksagung zu unterscheiden. Diese geht aus von den G a b e n und einzelnen S e g n
u n g e n, die Gott dem Geschöpf zuteil werden läßt, jene von der P e r s o n und dem
allgemeinen W e s e n des Gebers selbst. Die Danksagung preist für alle T a t e n und E r w e i s
e Seiner Herrlichkeit. Die Anbetung aber schaut hin auf das Innere dieser Herrlichkeit, auf die G ö
t t l i c h k e i t s e 1 b s t.
Wohl spricht auch sie von den großen Tatsachen des Heils und der Erlösung; aber bei ihr steht
nicht, wie bei der Danksagung, der Nutzen und Segen im Vordergrund, den wir aus ihnen
gewinnen, und für den wir Gott preisen, sondern sie erblickt in ihnen Kundgebungen und
Offenbarungsweisen des inneren Wesens der Gottheit. Die Danksagung betont also besonders
das herrliche E r g e b n i s der göttlichen Heilstaten für das erlöste Geschöpf; die Anbetung aber
lobpreist ihren göttlichen Urgrund und Ursprung im Herzen des Schöpfers selbst.
In der Danksagung freut sich das Herz über das, was sein Heiland und Herr i h m p e r s ö n 1 i c
h geworden ist; in der Anbetung jubelt die Seele über das, was der heilige Gott aller Liebe und
Macht in Sich Selber ist.

Zum Priesterdienst gehört darum auch Zeugendienst. »Die Lippen des Priesters sollen
Erkenntnis bewahren, und das Gesetz s u c h t (!) man an seinem Munde« (Mal. 2, 7). Achten wir
darauf: Man e r w a r t e t etwas von uns, weil wir Priester Gottes sind! Oft ist es der Welt völlig
unbewußt. Ja, sie würde es sogar auf das energischste bestreiten, wenn man es ihr sagen wollte.
Und doch ist es der Fall! Und doch sind gerade w i r ihr die Antwort auf ihre tiefsten und
ungelösten Fragen schuldig. Denn wir sind die einzigen, die die Antwort h a b e n ! »Dieser Tag
ist ein Tag guter Botschaft; schweigen wir aber . . ., so wird uns Schuld treffen« (2. Kön. 1, 9).
»Wehe mir, wenn ich nicht . . . verkündige!« (1. Kor. 9, 16.) Neutestamentliches Priestertum und
Evangeliumsbezeugung gehören zusammen. Darum will Paulus »priesterlich dienen am
Evangelium Gottes, auf daß das Opfer der Nationen angenehm werde, geheiligt durch den
Heiligen Geist« (Röm. 15,16).
Damit aber wird die Gemeinde, als neutestamentliches Priestertum, zugleich auch Prophet
Christi. Sie ist Künder Seines Lebenswortes an die Welt. Sie ist Zeuge und Bekenner, also M i s s
i o n s - gemeinde ihrem innersten Wesen nach. Nichtausführung des Missionsbefehls beruht
darum auf Verkennung des allgemeinen Priestertums, ja des Wesens der Gemeinde überhaupt.
Denn zum Wesen der Ekklesia gehört, daß sie W o r t gemeinde ist: Sie lebt durch das Wort, sie
nährt sich vom Wort, sie wird gestärkt durch das Wort, sie richtet sich nach dem Wort, und so soll
sie in gewissem Sinne nun auch selber «Wort« sein. Die Gemeinde des Herrn lebt v o n Mission -
denn nur durch die Ausführung des Missionsauftrags ist das Evangelium zu uns gekommen -,
und darum muß die Gemeinde auch praktisch leben f ü r die Mission . »So sind wir denn
Gesandte für Christum. Christus »redet« durch uns, »als ob Gott durch uns ermahnte; wir bitten
an Christi statt: Laßt euch versöhnen mit Gott!« (2. Kor. 5, 20.)
Immer wieder ist seit den Tagen der Reformation die Frage nach der Berechtigung und
Möglichkeit der Missionsarbeit gestellt worden. Von vielen ist sie verneint, von den
heldenmütigen Pionieren des Gotteszeugnisses in der Völkerwelt mit Wort und Tat bejaht
worden. Männer wie Zinzendorf und Ziegenbalg und, im angelsächsischen Sprachgebiet, William
Carey, Robert Morrison, David Livingstone, Hudson Taylor waren Bahnbrecher und Bannerträger
der Missionsaufgabe der Gemeinde Gottes und bewiesen, daß sie nicht nur möglich, sondern
geradezu nötig ist.
In der Tat, der Missionsbefehl Jesu Christi ist niemals zurückgezogen worden. Im Gegenteil, er
ist unzertrennbar verbunden mit der Missionsverheißung: »Ich bin bei euch alle Tage bis an der
Welt Ende«. Missionsbefehl und Missionsverheißung gehören zusammen. Man kann das eine
nicht haben ohne das andere. Denn wenn die V e r h e i ß u n g »Ich bin bei euch alle Tage bis
an der Welt Ende« ihre Gültigkeit behält, dann auch der Missions b e f e h l : »Gehet hin in alle
Welt!«
Am 4. Dezember 1857 besuchte David Livingstone, der große Afrikaforscher und
Missionspionier, die Universität Cambridge. Bei dieser Gelegenheit forderte er die christlichen
Studenten auf, sich dem Werk des Herrn in Afrika zu weihen. Dabei sagte er unter anderem: »Ich
für mein Teil habe nie aufgehört, mich zu freuen, daß mir Gott diesen Dienst anvertraut hat. Man
spricht so viel von dem Opfer, das ich gebracht habe, indem ich Afrika mein Leben weihte. Aber
kann man das überhaupt Opfer nennen, wenn wir ein klein wenig von dem an Gott zurückgeben,
was wir Ihm schulden? Und unsere Schuld ist so groß, daß wir sie nie begleichen können. Ist das
ein Opfer, was uns selbst am tiefsten befriedigt, was unsere besten Kräfte zur Entfaltung bringt
und zu den größten Hoffnungen berechtigt? Hinweg mit diesem Wort! Hinweg mit solchen
Gedanken! Es ist alles andere als ein Opfer! Nennt es lieber V o r r e c h t ! Angst, Krankheit,
Leiden, Gefahr, das Aufgeben so vieler, uns scheinbar unentbehrlicher Bequemlichkeiten kann
uns vielleicht einen Augenblick zurückschrecken und entmutigen, aber nur einen Augenblick. Es
ist nichts im Vergleich mit der Herrlichkeit, die an uns und in uns soll offenbar werden. Ich habe
niemals ein Opfer gebracht.«
Solche Menschen braucht der Herr, Menschen, in deren Seele eine heilige Glut brennt, die nur e i
n e Hauptaufgabe für ihr Dasein hienieden kennen, und das ist die Bezeugung und
Verherrlichung der Person ihres Erlösers, die Verkündigung Seines Heilswerkes durch Wort und
Wandel, die Ausbreitung Seiner Herrschaft in der Nähe und in der Ferne. Solche Menschen sind
in Wahrheit Priester Gottes.
Als vor 160 Jahren, beim Beginn einer neuen Missionszeit, in einer Beratung über Indien ein
Diener des Herrn sagte: »Wir sehen, es gibt eine Goldgrube in Indien, aber so tief wie der
Mittelpunkt der Erde, und wer will es wagen, sie zu erforschen?«, da gab Carey, der spätere,
große Bahnbrecher der Heidenmission, die geradezu klassische Antwort: »Ich will es, ich will
hinuntersteigen; aber ihr dürft nicht vergessen, die Stricke gut zu halten.«
Darum, hinweg mit aller Trägheit! Hinweg mit aller kraftlosen, »frommen« Beschaulichkeit! Wir
dürfen keine tatenlosen Zuschauer der Taten Gottes sein! Der Trieb zur Ausbreitung ist dem
Evangelium in die Seele gelegt. Die Gelegenheiten zum Zeugnis und zum Einladen in die
Versammlungen müssen wir geradezu s u c h e n ! »S u c h e, vom Grabesrand Seelen zu
retten!«
Auch der Sohn Gottes kam auf die Erde, um zu »suchen«, was verloren ist. Suchst du? Oder
hältst du die Verteidigungsstellung für ausreichend, um den Sieg zu erringen, und meinst, auf das
andere verzichten zu dürfen?! Dann wäre es weit gefehlt mit deinem Christenleben und deiner
praktischen Verwirklichung des »allgemeinen Priestertums«!
Zum Aufbau der Gemeinde gehört aber nicht nur Rettung, sondern auch Weiterführung der
Seelen. Auch hier hat das neutestamentliche Priestertum, als Träger des göttlichen Wortes,
darum seine Aufgabe. Der »Zeuge« wird «Erzieher«, der «Bote« wird «Berater«. Darum gehört
Seelsorge zu den weiteren, besonderen Hauptaufgaben des neutestamentlichen, allgemeinen
Priestertums.
Priesterliche Seelen sind Seelsorger in der Gemeinde. Sie haben einen Blick für die Not anderer.
Sie haben sehende Augen. Sie betrachten ihre Umgebung nicht mit der Lupe scharfer Kritik,
sondern mit dem Blick eines mitempfindenden Herzens. Sie sehen das Gute im Leben und
Streben des anderen und benutzen es als Anknüpfungspunkt für ihre seelsorgerische Beratung.
Im Heiligtum Gottes empfangen sie das Weisheitswort für die praktische Seelenführung. Wohl
sehen auch sie die Unvollkommenheiten der anderen; aber sie haben - wie ihr himmlischer
Hoherpriester - zugleich Mitleiden mit ihren Schwachheiten (Hebr. 4, 15). Zugleich bleiben sie
sich, in geist-gewirkter Selbsterkenntnis, ihrer eigenen Unvollkommenheit bewußt.
Sie verallgemeinern nicht alles, sondern haben Verständnis für die jeweilige Sonderlage. Sie
interessieren sich für den anderen. Sie haben Seele und Wärme. Das Wohl der Einzelseele liegt
ihnen am Herzen. Sie haben ein Einfühlungsvermögen in deren persönliche, vielleicht anders
gelagerte Wesensart. In Gesprächen reden sie nicht nur, sondern verstehen zugleich die hohe
Kunst edlen Zuhörens. Sie lösen sich von ihrer eigenen Schau der Dinge, ihren ichbezogenen
Ausdrucksformen, ihren selbstbefangenen Gesichtspunkten, ihren mitgebrachten Meinungen,
ihren einseitigen Maßstäben. So gewinnen sie »Distanz« (Abstand) von sich selbst und
überwinden damit zugleich die Distanz, die sie vom anderen trennte. So treten sie heraus aus
ihrem eigenen Selbst und versetzen sich in den hinein, dem sie dienen wollen.
Auf diese Weise gelangt der wahre, priesterliche Seelsorger vom »Ich« zum »Du« und dadurch
zugleich zum gemeinsamen »Wir«, und in dieser Gemeinsamkeit geht er - vom Standort des
anderen aus und zusammen mit ihm - zu den jetzt beiden vom Herrn gewiesenen, nun
gemeinschaftlich erstrebten, höheren Zielen. Hierbei bestimmt die Marschmöglichkeit des
anderen das Tempo der Wanderung. Zur priesterlichen Seelsorge gehört ermahnender
Zuspruch.
Es gibt ein vierfaches Ermahnen:
Das hartherzige Ermahnen. Dies ist die unbarmherzige Strafrede, die gefühllos, zuweilen
geradezu roh dem anderen seine Verfehlungen vorhält, ihn erniedrigt und schlägt und ihn
hochmütig und richterlich herunterdonnert und verdammt. Solche seelenlose Seelsorge erreicht
meist nur eins: das Aufziehen einer Widerstandsfront im Herzen des anderen, einer
Widerstandsfront, die in dieser Weise zunächst vorher noch gar nicht da gewesen war! Solche
»Seelsorger« stehen vor verriegelten Türen. Sie haben sich die Herzenstüren selber
verschlossen. Sie schaffen Verhärtung und Verstockung. Sie bewirken Verbitterung und
Belastung. Sie sind nicht Priester, sondern Pharisäer. Sie sind S c h e i n - Seelsorger und in
Wahrheit nur eine »Sorge« für die »Seelen«!
Wider solche entartete Seelsorge hat Jesus in der Bergpredigt gestritten: »Wie darfst du sagen
zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, - und siehe, ein Balken
ist in deinem Auge? Du Heuchler, ziehe am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe
zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!« (Matth. 7, 4; 5.) Das zweite ist:
Das gesetzliche Ermahnen. Es gebietet und befiehlt. Es ordnet einfach an. Es tritt mit dem
kategorischen »Du sollst« auf. Es wendet sich an den »guten Willen«, das Ehrgefühl, die
moralische Eigenkraft des Menschen. Das Ergebnis ist im besten Fall das Fassen guter
Vorsätze, ein neuer, sittlicher Versuch, eine neue Zusammenraffung aller inneren Energien. Am
Schluß aber, trotz allem, stets nur - N i e d e r l a g e ! Denn durch Gesetz kommt wohl
»Erkenntnis«, nicht aber Überwindung der Sünde (Röm. 3, 20; 8, 3). Diese wird allein durch die
Gnade bewirkt. Dennoch steht das gesetzliche Ermahnen auf einer ungleich höheren Stufe als
das hartherzige, das in Wirklichkeit ja überhaupt gar kein »Ermahnen« gewesen war. Das dritte
ist:
Das vernünftige Ermahnen. Dies ist noch höher zu bewerten als das gesetzliche. Es ist auch
fruchtbringender. Schon das gesetzliche Ermahnen ist nicht ganz zu verwerfen. Es bringt zwar
nicht hindurch bis zum eigentlichen Ziel; aber es hat, wie in der Heilsgeschichte der Gesamtheit
(Mose!), so auch im Erziehungsweg des einzelnen einen gottgeordneten Platz. Der Vater
»befiehlt« seinem kleinen Sohn, auch wenn es oft gar nicht möglich ist, dem Kinde die Gründe
dafür zu erklären. Es muß einfach gehorchen, nur weil es der Vater gesagt hat. Und es tut recht
daran. Das vernünftige Ermahnen aber geht tiefer in die Innenwelt des zu Ermahnenden ein. Es
erklärt, w a r u m das Geforderte befohlen wird. Es ordnet nicht nur an, sondern überzeugt. Es
macht die Anordnung einleuchtend und verständlich. Der Angeredete wird höher bewertet, indem
er nicht nur äußerlich gehorchen, sondern zugleich innerlich begreifen soll. Das hebt seine
Persönlichkeit, macht ihn williger und freudiger, und sein Gehorsam kommt mehr aus dem
Inneren heraus, ist organischer und edler. Zum eigentlichen Ziel aber führt erst das vierte:
Das schöpferische, geistliche Ermahnen. Dies schließt das Anordnen und Erklären in sich ein,
übertrifft sie aber beide durch das Hinzukommen der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Auf diese
Weise kommt es zu Klärungen und Überführungen, zu Lösungen und Befreiungen, zu
geistgewirkten »Herzensentschlüssen« und Willensentscheidungen (Apg. 11, 23), zu Reinigung
und Wiedergutmachung, zu vermehrter Hingabe und Auslieferung des ganzen Menschen an den
Herrn. Aus dem Schmerz über die Sünde wird, nach Buße und Beugung, zugleich neuer Mut
gewonnen. Nicht nur Vergebung, sondern praktische Heiligung wird erreicht. Nicht nur neues
Denken, sondern neues Handeln ist die Frucht. Und mit doppelter Zuversicht geht der somit
wahrhaft seelsorgerisch Ermahnte seinen Weg freudig und ernst voran.
Darum ist schöpferisches Ermahnen immer zugleich ein Ermutigen. In der Sprache des Neuen
Testaments ist »Ermahnung« und »Ermutigung« sogar ein und dasselbe Wort (griech. paraklesis
von dem Zeitwort parakaleo). Wer nicht Mut machen kann, soll auch nicht ermahnen.
»Ermahnung« ohne Ermutigung ist niederdrückende Kritik. Zum schöpferischen Ermahnen
gehört der freudige Hinweis auf die neu machenden Kräfte des Heiligen Geistes. Nur in dieser
Gesinnung - in der Liebe und mit dem »Herzen« Jesu Christi (Phil. 1, 8) - kann der
neutestamentliche Priester Gottes fruchtbare Seelsorge treiben. Denn geisterfüllte Liebe ist die
Seele aller Seelsorge.
Allgemeines Priestertum und biblische Ortsgemeinde. Ebenso wie der einzelne, soll auch die
Ortsgemeinde das allgemeine Priestertum in diesem seinem tiefen und umfassenden Vollsinn
praktisch betätigen. Auch hier müssen wir es lernen, wieder mehr biblisch zu denken und zu
handeln. Eine Gemeinde, die nicht missionieren will, soll entweder Buße tun, oder sie wird eines
Tages »demissionieren« müssen! Entweder eingesetzt werden oder abgesetzt werden! Das ist
die Entscheidung, vor die der Herr jeden stellt. Entweder leuchten, oder der »Leuchter« der
Ortsgemeinde wird von seiner Stelle gestoßen (Offb. 2, 5)! Die Rebe, die nicht Frucht bringt, wird
»hinausgeworfen« (Joh. 15, 6).
Mission ist göttliches Muß. »Also . . . muß . . . in Seinem Namen Buße und Vergebung der
Sünden gepredigt werden allen Nationen« (Luk. 24, 47). Es ist nicht in unser Belieben gestellt, ob
wir der Welt die Botschaft vom Kreuz bringen wollen oder nicht. Der Befehl des erhöhten Christus
steht dahinter! Mit Petrus erklärt er: »Es ist uns unmöglich, von dem, was wir gesehen und gehört
haben, nicht zu reden« (Apg. 4,20). Mit Paulus bekennt er: »Eine Notwendigkeit liegt mir auf« (1.
Kor. 9, 16).
Als »Priestertum« hat die Gemeinde die Aufgabe, zu »verkünden«. »Ihr aber seid ein
auserwähltes Geschlecht, ein königliches P r i e s t e r t u m, eine heilige Nation . . ., d a m i t i h r
die Tugenden dessen v e r k ü n d i g t, der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem
wunderbaren Licht« (1. Petr.2, 9).
Biblische Ortsgemeinden sind keine Konservierungsstätten für christliche Heilswahrheit, sondern
Stätten, in denen »gebaut« wird! Und ein jeder sehe zu, w i e er baut! (1. Kor. 3, 10) Es gilt, die
Wahrheit nicht nur »festzuhalten«, sondern zugleich »hochzuhalten«, sie gleichsam als
Kriegspanier und Siegesbanner der streitenden Zeugenschar voranzutragen! Neutestamentliches
Priestertum und Prophetentum sind praktisch überhaupt nicht zu trennen.
Eine besondere Bedeutung haben hier die Gebetszusammenkünfte der Gläubigen.
Gemeindegebetsstunde und Weltmission gehören zusammen. Wenn je irgendwo die innere
Einheit der prophetisch-missionarischen Aufgabe der Gemeinde mit dem »allgemeinen
Priestertum« zu Tage tritt, dann hier. In einer gesund stehenden Ortsgemeinde muß das
priesterliche Gebet für die Mission einen breiten Raum einnehmen. (Röm. 15, 30-32).
Dies wird dann gleichzeitig zu einer Quelle der Belebung und des Segens für die Gemeinde
selbst werden. In einer solchen Ausübung des »allgemeinen Priestertums« erlebt die
Ortsgemeinde etwas von der Weltweite und Einheit der Gesamtgemeinde. Wenn in den Gebets-
oder Gemeindestunden Briefe vom Missionsfeld vorgelesen oder sonstige Mitteilungen aus der
Missionsarbeit öffentlich weitergegeben werden, werden die Gebetsstunden belebt. Die Gebete
werden konkreter, die Bitten vielseitiger, und alles wird direkter, persönlicher, lebendiger.
Dann wird auch der Dienst in den Zusammenkünften in heiliger Freiheit und Geistesleitung
geschehen können, in geistdurchdrungener Entfaltung der verschiedenen, vom Herrn selbst
ausgeteilten Geistesgaben (1. Kor. 12, 4-11; 14, 26), und priesterliche Anbetung wird
emporsteigen zum himmlischen Heiligtum aus der Mitte der am Tisch des Herrn versammelten,
das priesterliche Opfer von Golgatha priesterlich lobpreisenden, feiernden Gemeinde.

3. Das Königtum der Gemeinde.


Mit dem Priestertum verbindet die Schrift das Königtum, mit dem himmlischen Tempel den
himmlischen Thron (vgl. Jes. 6, 1-4!). So ist auch die Gemeinde nicht nur ein Priestervolk,
sondern zugleich ein Königtum (Offb. 1, 6; 1. Petr. 2, 9), ja geradezu ein »Königreich von
Priestern« (vgl. 2. Mose 19, 6). Diese gegenwärtige und zukünftige Herrschaftswürde gehört
ebenfalls zu ihrem »Erstgeburtsrecht«. Als die »Versammlung der Erstgeborenen« wird die
Gemeinde einst der »Regierungsstab« Christi, die »Herrschaftsaristokratie« im kommenden
Reich Gottes sein. »Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es hat eurem Vater wohlgefallen,
euch das Reich zu geben« (Luk. 12,32). »Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten
werden?« (1. Kor. 6, 2.) Ja, sogar über Engel werden die Erlösten einst richten. »Wer überwindet,
dem werde ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden und mich
mit meinem Vater gesetzt habe auf seinen Thron« (Offb. 3, 21). »Der Herr, Gott, wird über ihnen
leuchten, und sie werden herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit« (Offb. 22, 5).

III. Die ernste Gefahr.


Nicht aber eigentlich, um die Herrlichkeiten der Gemeinde zu zeigen, spricht der Hebräerbrief
vom Erstgeburtsrecht Esaus, sondern um zu w a r n e n ! Gerade auf dem Hintergrund solcher
hohen Ehrenstellung ist praktisches Versagen doppelt verwerflich. Hier gilt es, die Gefahren zu
sehen und sich entsprechend zu verhalten. Hier gilt es, die Kosten zu überschlagen, was Untreue
bedeuten würde! Denn der Preis solcher Sünde wäre nichts Geringeres als Verlust des
Vollbesitzes des Erstgeburtsrechts.
Zweifellos, Erstgeburtsrecht ist nicht dasselbe wie Kindschaft. Esau blieb Isaaks Sohn, auch
nachdem er seine Erstgeburtsstellung verschleudert hatte. Er erhielt sogar, trotz allem, eine Art
Neben-Segen (1. Mos. 27,38; 40b). »Durch Glauben segnete Isaak, in Bezug auf zukünftige
Dinge, den Jakob und den Esau« (Hebr. 11, 20). Aber ungemein groß war doch der Verlust. So
kann es in geistlicher Hinsicht auch den neutestamentlichen »Erstgeborenen« ergehen. Wohl
bleibt ihr Lebenszusammenhang mit dem himmlischen Vater bestehen - sie s i n d aus dem Tode
ins Leben hinübergegangen (1. Joh. 3,14) -; aber sehr große Himmelsgüter stehen dennoch auf
dem Spiel!
Reichtum, Priesterstellung, Herrschaftswürde sind die drei Heilsgüter des Erstgeburtsrechts.
Aber: Man kann, trotz des Reichtums, in Armut leben. Kein »Über-trömen« himmlischer Fülle ist
zu bemerken. Kein innerer Reichtum bricht hervor. Kein Glück seligen Erlöstseins strahlt
leuchtend auf. Bedrückt gehen Kinder der ewigen Freude umher und, anstatt ihre Wonne an
Christus zu haben, schauen sie begehrlich zurück auf die Scheinfreuden und Scheingüter dieser
Welt.
Man kann, trotz seiner Königsberufung, praktisch ein Knecht sein. Denn alle irdische Gesinnung
ist Verleugnung des Himmelsadels (Kol. 3, 1-3). Alles Haschen nach Geld und Gut macht den
»König« zum Bettler. Aller Sorgengeist ist unköniglich, alle Menschenfurcht unwürdig, alle
Empfindlichkeit und Verletztheit kleingeistig und armselig. Überhaupt aller Sündendienst macht
den berufenen Herrscher zum Sklaven, und die Sünde, die doch der Besiegte und Unterlegene
ist, gebärdet sich als Regent und Tyrann. In Wahrheit aber soll der Christ der Überlegene sein.
Und wie ernst werden die Auswirkungen für die Ewigkeit sein! Bei aller persönlichen Errettung,
wie groß der Verlust! Nach dem ausdrücklichen Wort Pauli, des Apostels der Gnade (!), wird der
»Tag Christi« für die Gemeinde »in Feuer« geoffenbart werden. »Und das Feuer wird erproben,
welcherlei das Werk eines jeden ist« (1. Kor. 3, 13). Da kann es dann geschehen, daß einem -
unter Umständen d i r ! - das ganze Lebenswerk verbrennt, daß du zwar errettet wirst, doch nur
wie ein Brand aus dem Feuer, das heißt, »wie einer, der bei einem Brande nur mit dem nackten
Leben davonkommt« (1. Kor. 3, 15). Die »Kindschaft« ist zwar unverlierbar, nicht aber die
Gesamtfülle des »Erstgeburtsrechts« !

IV. Der verhängnisvolle Irrtum


Welches aber war der verhängnisvolle Irrtum, den Esau beging und der uns als ein warnendes
Beispiel vor Augen gestellt wird? Er verkaufte für e i n e Speise sein Erstgeburtsrecht! Man spürt
geradezu seinen Worten die Unbeherrschtheit und Gier ab: »Laß mich doch essen von dem
Roten, von dem Roten da!« Und ebenso seine materialistische Gesinnung und Ichbezogenheit:
»Ich muß ja doch sterben! ... Wozu mir da das Erstgeburtsrecht?« (1. Mos. 25,30-32, Elb.).
Esau lebte dem Leiblich-Sichtbaren und verschleuderte das Geistige, also allein Wahre. Esau
»verachtete« Gottes Ehrengabe (1. Mos. 25, 34) und brachte sich damit selbst in Verachtung (1.
Mos. 27, 37). So lebte er seinem Ich und verschleuderte damit die Berufung seiner Familie. So
lebte er dem Augenblick und verschleuderte Werte der Ewigkeit! Durch dies alles bewies er, daß
er ein gottloser, profaner Mensch war, ein säkularisierter Patriarchensohn, d. h. ein verweltlichter
Nachkomme eines Trägers höchster Gottesverheißungen. Darum sagt Gott, der, kraft Seiner
Überzeitlichkeit, von vornherein alles gesehen hatte, schon vor der Geburt der beiden Brüder:
»Den Jakob habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehaßt« (Mal. 1, 2; 3; Röm. 9,13). Das ist
nicht feindseliger Haß, wohl aber Ablehnung und Verwerfung. Ohne jene seine Verschuldung
wäre das Erstgeburtsrecht bei i h m geblieben, und alle seine heilsgeschichtlichen
Folgeentwicklungen b i s h i n z u m M e s s i a s wären nicht über seinen Bruder Jakob
gegangen, sondern über ihn, Esau, über s e i n e Nachkommen, also nicht über »Israel«!
Nun aber konnte er weinen und wehklagen und seinen Vater flehentlich um den Segen bitten (1.
Mos. 27, 34): er konnte keine »Umstimmung« Isaaks erreichen. Für eine »Rückgängigmachung«
der unter der Inspiration des Geistes Gottes von Isaak getroffenen Entscheidung war »kein
Raum« mehr! Dies scheint der Sinn der Worte zu sein: Er fand keinen Raum für die
»Umänderung«, obwohl er sie mit Tränen suchte. Das griech. Wort metanoia, das sonst in der
Schrift »Buße« bedeutet, kann hier wohl kaum diesen Sinn haben. Denn wenn jemand die
»Buße« mit Tränen sucht, steht er eigentlich schon i n der Buße, und man kann von einem
solchen Menschen kaum sagen: Er fand keinen Raum für die Buße. Die eifrigen Tränen würden
ja beweisen, daß er die Buße (Sinnesänderung) hat! Esau fand keinen Raum für die
»Rückgängigmachung« der nun einmal zu Gunsten Jakobs bereits erfolgten Segenserteilung.
Hiermit stimmt auch der alttestamentliche Bericht überein, der nirgends davon spricht, daß Esau
unter heißen Tränen sich um eine innere Umwandlung bemüht hätte, der aber sehr wohl
erkennen läßt, daß er tatsächlich nichts anderes begehrte als den noch dazu recht äußerlich
verstandenen Segen (1. Mos. 23, 34; 38).
Und was hatte er dafür als Ersatz erhalten? - Ein Linsengericht!
So schlecht bezahlt die Sünde ihre Diener! Du aber, mein lieber Leser, lies die obigen Sätze noch
einmal und frage dich, ob sie nicht unter Umständen ein Spiegelbild d e i n e s Verhaltens sind!
Wenn vielleicht auch nicht immer, so aber möglicherweise doch erschütternd oft! Nimm darum
die Warnung des Hebräerbriefes ernst! Es steht viel auf dem Spiel: Ewiger Gewinn oder
unwiederbringlicher Verlust! »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und
nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Matth. 16, 26)
Was heißt »nach den Gesetzen des Kampfspieles kämpfen«? - Derjenige kämpft nicht nach den
Regeln des Wettspieles, der sich durch irgend einen Kunstgriff, einen »Kniff«, einen l e i c h t e n
Sieg zu verschaffen sucht - etwa versucht, an einer Kurve die vorgeschriebene Bahn abzukürzen
-, der sich also die Sache bequemer machen will, als sie in Wirklichkeit ist. Dann mag er vielleicht
in den irdischen Spielen sein Ziel wirklich früher erreichen als andere, aber der Kampfrichter wird
sein Tun dennoch nicht anerkennen. So suchen sich auch heute viele, die wahre Christen sein
wollen, den Kampf etwas leichter zu machen, als er in Wahrheit ist. Sie machen hier ein kleines
Zugeständnis oder schließen dort einen kleinen Kompromiß. Sie wollen zwar auch ans Ziel
gelangen, aber sie möchten sich den Preis doch etwas »billiger« machen. Lassen wir uns da
nicht täuschen! Christus, der Herr, erwartet eine g a n z e Hingabe! Fort mit allen Versuchen, den
schmalen Weg etwas breiter und gangbarer zu machen! Der Herr will unser ganzes Herz!
In Rom, im Mittelpunkt des verkehrsreichen Platzes Piazza del Popolo, sah ich einen großen,
höchst eindrucksvollen, 30 Meter hohen, altägyptischen Obelisken. Er hatte ursprünglich im
Circus Maximus gestanden, diesem riesigen, einst prachtvoll ausgebauten Sportstadion der
römischen Kaiserzeit, dessen Anfänge bis in die Zeiten vor Gründung der römischen Republik
zurückreichen (König Tarquinius Priscus, 500 v. Chr.). Von dort war er, jetzt vor 400 Jahren,
durch Papst Sixtus V. an seine jetzige Stelle versetzt worden. Er gehört zu den ältesten
Bauwerken, die Rom besitzt. Seine noch heute gut erkennbare, altägyptische
Hieroglypheninschrift besagt, daß er errichtetet worden war in der Zeit des großen Pharao
Ramses II. in der alten Sonnenstadt Heliopolis, - unweit des heutigen Kairo (ägypt. On, hebr.
Beth-Schemesch, Jer. 43, 13!), in der Patriarchenzeit die Heimatstadt des Schwiegervaters
Josephs, Potiphera, der dort Priester des Sonnengottes Ra war (1. Mos. 41, 45; 50; 46, 20) - also
im 13. bzw. 12. vorchristlichen Jahrhundert, das heißt, ungefähr 200-300 Jahre vor David und
Salomo. Im Jahre 10 v. Chr. hat ihn dann Kaiser Augustus von Ägypten nach Rom bringen
lassen und ihn zu Ehren des Sonnengottes Apoll in dem gewaltigen Circus Maximus aufgestellt.
Dort bildete er in der »Spina« (dem »Stachel«, der mit Standbildern geschmückten, mittleren
Schranke) dieses ungeheuren Sportstadions gleichsam den Schwerpunkt und Brennpunkt der
Kampfbahn.
Vom Palatin aus, dem Platz der altrömischen Kaiserpaläste - neben dem Forum, dem Marktplatz
des alten Rom - überblickte ich, unweit der Ruinenstätte des Palastes von Kaiser Augustus
stehend, die ausgedehnte Trümmerfläche dieses größten Sportstadions der Alten Welt. Nicht
weniger als 200 000 Zuschauer konnten seine Sitzreihen fassen.
Dieser altägyptische Sonnen-Obelisk war der Punkt, der von allen Wagenkämpfern und
Rennfahrern umfahren werden mußte. Eine Abkürzung der Kampfbahn war unmöglich. Jeder
Kämpfer, ob Wagenlenker oder Läufer, mußte die volle Länge der Kampfbahn durcheilen. Kein
einziger konnte sie sich abkürzen. Nicht einer konnte sich den Sieg durch Erleichterung
bequemer machen. Jeder mußte den Volleinsatz wagen und die volle Aufgabe auf sich nehmen.
Nur so hatte er Aussicht auf den Siegespreis!
Davon ist dieser altägyptische Obelisk für jeden, der seine Geschichte kennt, noch heute ein
beredtes Zeugnis. Lassen wir es uns ganz unzweideutig sagen: Es gibt keinen Sieg ohne
Einsatz, keinen Volltriumph ohne Aufgabe der Bequemlichkeit, kein wahres Ja zu Gott ohne
praktisches Nein zu Ich, Sünde und Welt! Wenn du irgendeine Gebundenheit der Sünde hast
oder irgend eine noch nicht geordnete Schuld der Vergangenheit, so räume diese Dinge in der
Kraft des Herrn hinweg, auch wenn es dir schwer fällt! Dies alles kostet zwar gewiß
Selbstverleugnung. Aber Selbst-verleugnung ist einfach unerläßlich (Matth. 16, 24; 25!).
»Keiner wird dereinst gekrönt,
Der im Kampf und Strauß,
In der Drangsal dieser Zeit,
Hält nicht standhaft aus.
Geist und Feuer brauchen wir,
Glut, die ewig brennt.
Drum betrübe nicht den Geist,
Wer den Herrn bekennt!«

V. Die Stunde der Entscheidung.


Zugleich sehen wir in Esau's Erfahrung etwas von der Taktik der Sünde. Sie benutzt die
»schwachen Stunden« im Leben eines Menschen, um ihn zu Fall zu bringen. Esau war »müde«,
als er seine große Fehlentscheidung traf (1. Mos. 25, 29). »Laß mich doch essen von dem Roten,
von dem Roten da; denn ich bin matt!« (Vers 30.) So kam es in seinem Leben zu jenem
unseligen »Heute« (1. Mos. 25, 31).
Das ist überhaupt die durchgehende Methode der Sünde. Sie erkennt die schwachen Punkte und
kritischen Augenblicke und ist jederzeit sprungbereit, sich auf ihr Opfer zu stürzen.
So hatte Kain seine »schwache Stunde«, als ihn der Neid packte und er zum Brudermörder
wurde (1. Mos. 4, 5-8).
David hatte seine »schwache Stunde« und fiel tief in die Sünde, die dann viel Leid über ihn und
das Haus Urias gebracht hat (2. Sam. 11, 2-5; 17; 26 ff.).
Petrus hatte seine »schwache Stunde«, als er seinen Meister am Lagerfeuer vor einer Magd
verleugnete (Mark. 14, 66-72).
Ananias und Saphira hatten ihre »schwache Stunde«, als sie größeren Missionseinsatz
heuchelten, als wie sie ihn in Wirklichkeit betätigt hatten, und wurden darum aus der Gemeinde
und dem Leben ausgelöscht (Apg. 5, 1-10).
Aber gerade diese »schwachen Stunden« sind die Stunden der Entscheidung. Hier wird offenbar,
was wir in Wirklichkeit eigentlich sind. Die Stärke einer Kette richtet sich nach dem schwächsten
Glied. Eine Schlachtfront ist durchstoßen, wenn ihre dünnste Stelle bricht.
Darum sind Niederlagen in »schwachen Stunden« niemals durch die schwierigen oder plötzlichen
Umstände zu entschuldigen. Was der Soldat wert ist, zeigt nicht der Parademarsch, sondern der
Schlachtengang. Wir sind eben nur das, was wir in Schwierigkeiten sind. Die» schwachen
Stunden« sind die Examina unseres Glaubenslebens. Die Umstände »stehen« nur »um -
herum«. Sie sind immer nur Kampffeld, nicht aber entscheidender Kampffaktor in unseren
Erprobungsstunden.
Die ersten Menschen sündigten im Paradiese. Sie fielen in einer Umgebung, die von vornherein
alle Bedingungen für ein gottgemäßes Leben zu gewährleisten schien. Umgekehrt lesen wir von
der Gemeinde in Pergamon: »Ich weiß, wo du wohnst, wo der Thron des Satans ist; und du hältst
fest an meinem Namen und hast den Glauben an mich . . . nicht verleugnet . . .,wo der Satan
wohnt« (Offb. 2, 13).
Achten wir auf dieses zweimalige: »Wo der Thron Satans ist« -»Wo der Satan wohnt«!
In Pergamon sprachen also alle Umstände w i d e r die Christen, und dennoch blieben sie treue
Bekenner! Man kann im Paradiese sein Paradies verlieren, und man kann da, wo der Satan
seinen Thron hat, den Namen Christi treu bekennen.
Niemals hängt der Zustand unserer I n n e n welt letzten Endes von unserer A u ß e n - und U m
welt ab, sondern einzig und allein von unserem Verhältnis zur himmlischen Ü b e r welt und dort
zum Thron Gottes und Dem, der auf dem Throne ist!
Das ist äußerst ernst im Hinblick auf alle Oberflächlichkeit, da es uns jede Möglichkeit zu leichter
Selbstentschuldigung nimmt, als ob beim Sündigen die schwierigen Umstände und weniger wir
selbst verantwortlich zu machen seien! Und zugleich ist es außerordentlich ermutigend, da wir
nun wissen, daß nichts u m uns herum eine Allgewalt besitzt, uns aus dem rechten Verhältnis zu
dem Herrn ü b e r uns herauszureißen.
»Ich bin überzeugt, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder
Gegenwärtiges noch Zukünfti-ges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein
anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus
ist, unserm Herrn« (Röm. 8, 38; 39).
Dasselbe gilt auch im Hinblick auf unseren Zeugendienst. Gar mancher entschuldigt seine
Zeugnislosigkeit mit der Ungunst der Verhältnisse. Er schweigt, wo er reden sollte, oder er gibt es
gar überhaupt auf, seiner Umgebung Christus zu bekennen, und er begründet dies mit dem
Hinweis auf den »harten Boden«, der jede Fruchtbarkeit seines Bekenntnisses ja sowieso
unmöglich mache. So werden gottgegebene, günstige Zeitpunkte verpaßt, und
Zeugnisgelegenheiten werden zu »schwachen Stunden« voller Niederlage. Ja, gerade dann,
wenn viele Widersacher gegen Gottes Werk anstürmen, sind oft in besonderem Maße, im Sinn
der Schrift, »offene Türen« da. Sagt doch der Apostel, der große Pioniermissionar Christi: »Eine
große und wirkungsvolle Tür ist mir aufgetan, und der Widersacher sind viele« (1. Kor. 16, 9).
Offene Türen und Widersacher gehören also oftmals zusammen.
Von der Welt bekämpft, aber doch nicht besiegt, vom Unglauben verneint, und doch nicht
widerlegt, von den Menschen in den Tod gegeben, und doch immer wieder lebensstark, also
gleichsam »gestorben, begraben und stets wieder auferstanden!«

Vl. Das Erstgeburtsrecht und der himmlische Kampfpreis.


Der warnende Hinweis auf Esau und den Verlust seines Erstgeburtsrechts wird im
Zusammenhang einer Botschaft gegeben, die mit der Forderung des Laufens in der Kampfbahn
des Glaubens beginnt. »Lasset uns laufen den vor uns liegenden Wettlauf!« (Hebr. 12, 1.) Es ist
eine Botschaft, die ein zielbewußtes Durchhalten im Rennen (Vers 1), eine Überwindung aller
Ermüdungserscheinungen (Vers 3-12), ein geistgewirktes, energievolles »Jagen« verlangt.
»Richtet auf die erschlafften Hände und die erlahmten Knie!« (V. 12.) »Tut feste Tritte mit euren
Füßen!« (V. 13.) »Jaget!« (V. 14.)
In diesem Zusammenhang nennt Gottes Wort große Gefahren, die ein Versagen im Kampf mit
sich bringen würde. Man kann, statt in der Kampfbahn zu »laufen«, »straucheln wie ein Lahmer«
(V. 13). Man kann, statt in der Fülle zu leben, »Mangel leiden an der Gnade« (V. 15). Man kann,
statt ein Segen zu sein, eine »Giftpflanze« werden zur Verunreinigung vieler (V. 15). Und
aufrüttelnd, ja in ihren Schlußworten geradezu erschütternd, klingt die ernste Ermahnung: »Jaget
dem Frieden nach mit allen und der Heiligung, ohne welche niemand den Herrn sehen wird!«
(V.14.) Der Kampfpreis wird eben nicht ohne weiteres gewährt, sondern setzt Glaubensenergie
und Treue voraus. Der Kampfpreis aber ist - im Zusammenhang unseres Kapitels - der Vollgenuß
des himmlischen Erstgeburtsrechts! Fünf Tatsachen sind es hier, die in ihrer gemeinsamen
Zusammenschau das Wesen des Kampfpreises erkennen lassen.
Der Kampfpreis ist nichts Selbstverständliches, sondern muß ernstlich errungen werden! Wohl ist
die Rechtfertigung ein Geschenk der freien Gnade; aber das Maß der Verherrlichung hängt von
dem Einsatz im »Lauf« ab. Da kann es geschehen, daß ein Gläubiger »unbewährt« ist, daß ihn
der Kampfrichter, »der Herr, der gerechte Richter« (2. Tim. 4, 8), bei der Kronenverteilung für
»disqualifiziert« erklärt (1. Kor. 9, 27). Er erhält keinen Siegeskranz. »Auf daß ich nicht, nachdem
ich anderen gepredigt habe, selbst verwerflich werde.« Das für »verwerflich« gebrauchte Wort
der Ursprache (griech. adokimos) bezeichnet hier einen Wettkämpfer, der die Prüfung durch den
Kampfrichter und Leiter des Wettkampfes nicht besteht und darum bei der Preisverteilung als
Ausgeschlossener dasteht. Das ist außerordentlich ernst.
Zugleich aber ist zu sagen:
Der Kampfpreis ist nicht gleichbedeutend mit ewigem Leben, sondern hängt mit der
Verherrlichung zusammen. Bei allem Ernst einer solchen Möglichkeit bedeutet dies aber nicht ein
unter Umständen vom Herrn verfügtes Verlorengehen des unbewährten Wettläufers. Auch bei
Esau blieb, trotz des Verlusts seines Erstgeburtsrechtes, sein Sohnesverhältnis bestehen. Wohl
spricht die Schrift in ungemein ernsten Ausdrücken von »Schaden« und »Verlust« (1. Kor. 3,15),
von »Verbrennung« des ganzen Lebenswerkes (V. 13), von »Beschämtwerden« vor Seinem
Angesicht (1. Joh. 2, 28), so daß einer schließlich nur gerettet wird wie ein Brand aus dem Feuer
(1. Kor. 3, 15b).
Aber sie bezeugt eben damit doch, daß er »errettet« wird. So verbindet sie beides: Gnade und
Lohn, und stellt beide in ihrer Zusammengehörigkeit und ihrem zugleich harmonischen
Gegensatz nebeneinander, wie die Pole einer Magnetnadel einen Gegensatz bilden und doch
zugleich unzertrennbar zusammengehören:
Errettung und Verherrlichung,Wiedergeburt und Vollendung, Begnadigung und Krönung, Eintritt
in die Kampfbahn und Preisverteilung am Schluß.Durch dies alles aber soll beides erreicht
werden: Freude und Ernst, Dankbarkeit und Verantwortlichkeit, Heilsgewißheit und Gottesfurcht.
Denn nur in diesem polaren Gegensatz gibt es praktische, biblische Heiligung.
Der Kampfpreis ist nicht für jeden gleich groß, sondern wird je nach der Treue bemessen.
Himmlische Segensfülle, priesterlicher Dienst, königliche Würde - das sind die drei Heilsgüter des
Erstgeburtsrechts. Vollgenuß des Erstgeburtsrechts aber ist der Kampfpreis. Je treuer nun ein
vom Herrn himmlisch Gesegneter seinen »Segensreichtum« verwaltet hat, je hingegebener ein
Priester Gottes das allgemeine »Priestertum« auf Erden betätigt hat, je »königlicher« ein Kind
des himmlischen Königs sich in seinem Erdenleben verhalten hat, je wahrer und echter also ein
Glied der »Gemeinde der Erstgeborenen« sein Erstgeburtsrecht im Leben praktisch verwirklicht
hat, desto reichlicher und umfassender wird ihm einst der Vollbesitz des himmlischen
Erstgeburtsrechts zuteil.
Der Kampfpreis ist nicht für die »Fertigen«, sondern für die angespannt Eilenden. Zum Vollbesitz
des »Kleinods« gelangt nicht ohne weiteres jedermann. Am allerwenigsten die, die sich dessen
sicher fühlen! Nicht umsonst sagt der Herr: »Selig sind die da hungert und dürstet nach der
Gerechtigkeit; denn sie, nur sie allein (!) - in der Ursprache ist das Wort . »sie« ganz stark
herausgestellt, um die Ausschließlichkeit hervorzuheben - sollen satt werden« (Matth. 5, 6). Und
Paulus erklärt: »Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle; aber nur e i
n e r erlangt das Kleinod?! Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!« (1.Kor. 9,24.) »So jemand auch
kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht!« (2. Tim. 2, 5.)
Bei diesem allen aber bleibt es ermutigende Wahrheit:
Der Kampfpreis wird nicht mit irdischen Mitteln erreicht, sondern mit den Kräften der Gnade
gewonnen. Unser eigenes Tun ist ohnmächtig und nichts. Auch unser allerbestes Wollen und
Streben bringt uns nicht ans Ziel. Dies vermag Christus allein. Darum schaut der Läufer in der
Kampfbahn auf Ihn, von dem alle Kraft kommt. Jeder Sieg über die Sünde, jedes Wachstum in
der Heiligung, jedes Vorwärtskommen im Lauf war durchaus ein Geschenk Seiner freien Gnade.
Da ist keine einzige, menschliche Leistung. Nur wer aus den Gaben der Gnade lebt, wird am
Ende das Vollziel erreichen können.
Was aber wird einst bei der Preisverteilung geschehen? - Vor Gott gilt nur Sein eigenes Werk. Er
selbst aber hat alles geschenkt. Und nun schenkt Er uns dann noch die ewige Ehrenstellung
dazu! Das heißt: Er beschenkt uns, die wir doch gar nichts geleistet und kein Heil verdient haben,
am Ziel der Kampfbahn einfach noch dafür, daß wir uns haben beschenken l a s s en! Darum
gehört Ihm aller Ruhm. Darum ist auch der Kampfpreis - der Vollgenuß des Erstgeburtsrechts -,
bei aller Bedingtheit durch den Glaubenseinsatz des zu Krönenden, ein unverdientes Geschenk
des frei gebenden Gottes. Er ist »Lohn« a u s »Gnade«.
Die »Krone der Gerechtigkeit« (2. Tim. 4, 8),
die »Krone des Lebens« (Offb. 2, 10),
die »Krone des Ruhmes« (1. Thess. 2, 19),
die »unvergängliche Krone« (1. Kor. 9, 25; 26),
die »Krone der Herrlichkeit« (1. Petr. 5, 3; 4)!
Wie verblaßt doch alles Irdische gegen die Herrlichkeit des Himmlischen! Wie sinkt es, im
Vergleich zum Ewigen und Göttlichen, geradezu zur Bedeutungslosigkeit herab! In der Tat, nicht
nur die Leiden, sondern auch die Herrlichkeiten dieser Welt sind nicht einmal wert, verglichen zu
werden mit der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll (Röm. 8, 18
Darum gilt es stets von neuem - mitten in der Kampfbahn des Glaubens: »Lasset uns aufsehen
auf Jesum!«

7. Kapitel. Hinhören! Gott spricht!

Hebr 12, 18 - 29 Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berg, den man anrühren konnte
und der mit Feuer brannte, und nicht in Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter und nicht zum
Schall der Posaune und zum Ertönen der Worte, bei denen die Hörer baten, daß ihnen keine
Worte mehr gesagt würden; denn sie konnten's nicht ertragen, was da gesagt wurde: »Und auch
wenn ein Tier den Berg anrührt, soll es gesteinigt werden.«
Und so schrecklich war die Erscheinung, daß Mose sprach: »Ich bin erschrocken und zittere.«
Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem
himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Versammlung und
Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter
über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes,
Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.
Seht zu, daß ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den
abwiesen, der auf Erden redete, wieviel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen,
der vom Himmel redet.
Seine Stimme hat zu jener Zeit die Erde erschüttert, jetzt aber verheißt er und spricht: »Noch
einmal will ich erschüttern nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel.«
Dieses »Noch einmal« aber zeigt an, daß das, was erschüttert werden kann, weil es geschaffen
ist, verwandelt werden soll, damit allein das bleibe, was nicht erschüttert werden kann.
Darum, weil wir ein unerschütterliches Reich empfangen, laßt uns dankbar sein und so Gott
dienen mit Scheu und Furcht, wie es ihm gefällt; denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.

Wenn Gott spricht, muß der Mensch hören! Jedesmal wenn Gottes Wort verkündet wird, sind wir
die von Gott selbst Angeredeten. Dann steht unser kleines Ich unmittelbar vor Seinem großen,
göttlichen Ich, und dann fällt jedes mal eine Entscheidung. Es ist die Entscheidung, ob wir
hinhören oder vorbeihören wollen, Gott gehorchen oder Gott ignorieren, uns verhärten oder
Seinen erlösenden Herrschaftsanspruch praktisch anerkennen.
Gewaltig ist die Einleitung des zweiten Teils des Buches des Propheten Jesaja, dieses
glaubenskühnen »Evangelisten des Alten Bundes«.
»S t i m m e eines Rufenden!« (Jes. 40, 3.) »S t i m m e eines Sprechenden!« (Jes. 40, 3.)
»Erhebe mit Macht deine Stimme!« (Jes. 40, 9.)
Sprich: »S i e h e, da, euer Gott!« (Jes. 40, 9.) »S i e h e, der Herr, Jehova, kommt!« (Jes. 40,
10). »S i e h e, sein Lohn ist bei ihm!« (Jes. 40, 10.)
Achten wir darauf: Dreimal: »Stimme, Stimme, Stimme!« Dreimal: »Siehe, siehe, siehe!«
Wie sechs gewaltige Fanfarenstöße klingen diese Worte an unser geistiges Ohr! Es gibt jetzt
etwas zu hören!
Oder, wie es siebenmal in den Sendschreiben der Offenbarung gesagt wird: »Wer ein Ohr hat,
höre, was der Geist den Gemeinden sagt!« (Offb. 2 und 3).
Wenn Gott spricht, muß der Mensch hören! Dann steht »Er Selbst« vor »dir selbst« und »du
selbst« vor »Ihm Selbst«, und dann fällt jedesmal eine Entscheidung!
Dies ist zugleich die besondere Botschaft des Schlußabschnitts von Hebräer 12. »Sehet zu, daß
ihr den nicht abweist, der da redet!« (Hebr. 12, 25.)
»Lasset uns aufsehen auf Jesus!« »Lasset uns h i n h ö r e n auf Jesus!«
Wie vier leuchtende Ausrufungszeichen stehen sie da, diesem neutestamentlichen
Warnungswort Nachdruck verleihend. Geradezu unüberhörbar! Und zugleich schaut der heilige
Text zurück in die alttestamentliche Vergangenheit und stellt fest: Wenn damals schon gehört
werden mußte, wieviel mehr dann erst recht jetzt! Wenn damals schon die alttestamentlichen
Heiligen, die doch erst in der heilsvorbereitenden Vorstufe lebten, zum Hinhören auf Gott und
zum praktischen Glaubensgehorsam verpflichtet gewesen waren, wieviel mehr dann doch erst
recht wir, die wir heute in der neutestamentlichen Erfüllungszeit leben!
Zuerst aber ist von dem Heilsreichtum die Rede, den die in dieser Weise vor Gott Verpflichteten
besitzen.

I. Vom himmlischen Reichtum der Gemeinde Jesu.


Drei herrliche Tatsachen leuchten uns hier entgegen; und zwar in dauernd sich steigerndem
Strahlenglanz.
1. Als Glaubende sind wir wahrhaft B e s i t z e n d e. Der Hebräerbrief sagt: »Ihr s e i d
gekommen zum Berge Zion« (Hebr. 12, 22). Es i s t also schon etwas geschehen! Eine
Gnadenstellung ist bereits eingenommen. Es ist der Standort am Fuß des himmlischen
Gottesberges. Wenn auch die Gipfelbesteigung erst in der Verherrlichung kommt, so ist dieser
Standort doch schon heute der uns in Gnaden geschenkte, mit der Ewigkeit fest verbundene
Ausgangspunkt unserer zukünftigen »Erhöhung«. Und in diesem Sinn ist jeder Glaubende ein
wahrhaft Besitzender.
Ja, mit Recht ist gesagt worden: Die Gläubigen sind »die e i n z i g besitzende Klasse in der
Welt«. Denn alles Irdische ist uns ja nur geliehen. Das Höchste ist, daß wir es bis zum Abschluß
unseres Erdenlaufs benutzen dürfen. Dann aber müssen wir es verlassen und gehen, was
irdische »Besitztümer« betrifft, genau so leer aus dieser Welt heraus, wie wir leer i n diese Welt
eingetreten sind.
Aber noch mehr: Auch w ä h r e n d der Zeitspanne, in der wir es gebrauchen dürfen, verbindet
es sich niemals mit unserem innersten Wesen. Auch während der Nutznießungszeit stehen sich
»Besitzer« und »Besitztum« als Subjekt und Objekt getrennt gegenüber. Kein irdisches Gut
verbindet sich geistig organisch mit der Zentralsubstanz der menschlichen Persönlichkeit. Darum
nennt Jesus alles Irdische geradezu das »Fremde« (Luk. 16,12). Erst das Ewige ist für den
Gläubigen das »Seine«. Das Irdische aber bleibt stets ein »Anderes«, als wir selbst sind. Hier
kommt es nie zu wahrem Einssein, sondern es bleibt stets bei einer Zweiheit.
Die himmlischen Güter aber gehen in unser Wesen ein. Darum haben wir nicht nur Licht
»empfangen«, sondern »sind« Licht »geworden«. (Eph. 5, 8). Darum haben wir nicht nur
Gerechtigkeit »erhalten«, sondern »sind« Gerechtigkeit »geworden« (2. Kor. 5, 21). Darum ist der
himmlische Heilsbesitz uns in Christus durch den Heiligen Geist personhaft eingepflanzt, und als
Glaubende sind wir wahrhaft Besitzende.
»Wir haben einen Felsen, der unbeweglich steht.
Wir haben eine Wahrheit, die niemals untergeht.
Wir haben Wehr und Waffen in jedem Kampf und Streit.
Wir haben eine Wolke von Gottes Herrlichkeit.
Wir haben hier die Fülle, seitdem der Heiland kam.
Wir haben dort ein Erbe, so reich und wundersam.
Wir haben Glück, das leuchtend und unbeschreiblich ist.
Wir haben alles, alles in Dir, Herr Jesu Christ.«

2. Als Besitzende haben wir schon heute die Güter der zukünftigen, himmlischen Welt. Der
»Zionsberg« ist's, zu dem wir gekommen s i n d, die »Stadt des lebendigen Gottes«, das
»himmlische Jerusalem«, »Myriaden von Engeln«, die »Festversammlung« in der Ewigkeit (Hebr.
12, 22; 23). Also wir s i n d schon da angelangt, wo wir ewig sein w e r d e n! Das Zukünftige ist
schon gegenwärtig. Wir sind schon mit Christus in die »himmlischen Örter« versetzt (Eph. 2, 6).
Wir sind nicht nur mit Ihm gekreuzigt, mitbegraben, mitauferstanden (Röm. 6, 3-6), sondern wir
haben durch den Heiligen Geist auch Seine Himmelfahrt schon miterlebt. Das »ewige Leben«
gehört uns schon mitten in dieser Zeit (Joh. 3,16; 36; 5,24)!
Der Ausdruck »die himmlischen (Örter)« kommt nur im Epheserbrief vor und zwar dort fünfmal.
Da - buchstäblich übersetzt - eigentlich nur dasteht: »in den himmlischen«, hat man dies, zum
Beispiel in Eph. 1, 3, in verschiedener Weise zu ergänzen versucht, so vor allem durch
»himmlische G ü t e r« oder» himmlisches W e s e n« : Gott hat uns gesegnet mit allerlei
geistlichem Segen »in himmlischen G ü t e r n durch Christum« (Luth.) oder »im himmlischen R e
i c h«. Aber das sonstige Vorkommen dieses Ausdrucks zeigt klar, daß er durchaus ö r t l i c h
verstanden werden will. Denn im gleichen Epheserbrief sagt Paulus - und er gebraucht dabei
genau dieselben Worte (griech. en tois epouraniois) -, daß Gott Christus in der Himmelfahrt
gesetzt habe »zu seiner Rechten in den himmlischen«, was nur heißen kann: »in den
himmlischen Ö r t e r n« (Eph. 1, 20), und in Kap. 2, 6 sagt er, daß Gott uns mit Christus habe
»mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen«, was ebenfalls nur heißen kann: »in
den himmlischen Örtern«.
In Kap. 3 spricht der Apostel von den »Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen«, die in
der Gemeinde die Weisheit Gottes erkennen sollen (Vers 10), und in Kap. 6 von den »geistlichen
Mächten der Bosheit in den himmlischen«, gegen die unser Kampf geht - alles Stellen, in denen
der Ausdruck »in den himmlischen« sinngemäß nur ergänzt werden kann durch: »himmlische
Örter, Gegenden, Sphären, Regionen«.
Der gewaltige Gedanke, der diesem allen zugrunde liegt, ist eben der: Der Christ ist durch die
Wiedergeburt zu einem himmlischen Leben gezeugt. Sein Bürgertum ist im Himmel. Sein
Lebensinhalt ist himmlisch bedingt. Sein Glück ist himmlischer Art. Sein Lebensziel ist der
Himmel selbst (Phil. 3, 20). So wie Christus, der letzte Adam, »der Himmlische« ist, so sind auch
wir, die Glieder Seines Leibes, der neuen Menschheit, »die Himmlischen« (1. Kor. 15,48).
Der Christ steht eben, solange er auf Erden lebt, in zwei Welten. Er gehört Himmel und Erde
zugleich an. Darin besteht sein Adel. Darin besteht aber auch die Spannung seines Daseins. Er
weiß: Christus, sein Heiland, ist der »Erhöhte« im Himmel (Phil. 2, 9; Eph. 4, 10) und doch
zugleich der in ihm Wohnende auf Erden (Eph. 3, 17), und er selbst, der Erlöste, lebt noch hier
unten auf Erden (Joh. 17, 11) und ist doch zugleich mit Christus versetzt in die himmlischen Örter
(Eph. 2,6). Die Verbindung von beiden aber ist der Geist. Denn der Geist kam von oben herab,
von dem »Christus über uns«, vom Himmel auf die Erde (Apg. 2, 33), und der Geist führt von
unten empor, als der »Christus in uns«, von der Erde in den Himmel (Kol. 1, 27; 2. Kor. 3,17; 18).
Erst von dieser Grundlage aus ist es auch möglich, eine himmlische Gesinnung praktisch zu
betätigen. Solange der Gläubige seine himmlische Stellung in Christus noch nicht verstanden hat,
wird er immer zwischen Weltlichkeit und Gesetzlichkeit schwanken. Denn entweder wird er
überhaupt seine Beziehung zum Herrn und zur himmlischen Welt vernachlässigen und sich von
den irdischen Dingen gefangen nehmen lassen und sinnen auf das, was u n t e n ist; oder aber er
wird versuchen, in eigener Kraft krampfhaft das Himmlische festzuhalten, dies jedoch - weil ihm
der Glaubensblick für die Stellung in Christus und die himmlischen Kraftquellen fehlt - in
gesetzlicher, unfreier, freudloser Weise tun und folglich ebenfalls nicht zu einem Siegesleben
gelangen. Nein, was wir brauchen, ist ein dankbares Anerkennen der uns in Christus
geschenkten Gnade, ein lebendiges Erfassen unserer, von Gott gewirkten, himmlischen Stellung,
ein mit Hingabe der Seele verbundenes Ergreifen der Gaben Gottes. Und von hier aus wird dann
wahre, himmlische Gesinnung alle Gebiete des Lebens nach allen Richtungen hin durchdringen.
Darum danke für die empfangene Erlösung. Wenn die Sünde dich anficht, so flehe nicht erst nur
um Sieg, sondern preise zugleich den Herrn, daß Er dich von der Sünde befreit h a t.
Als Josaphat gegen die Moabiter und Ammoniter zu Felde zog, bestellte er Sänger und
Harfenspieler schon v o r Beginn der Schlacht, die den Herrn preisen sollten in heiligem
Schmuck, und dann gab der Herr Seinem Volke den Sieg (2. Chron. 20,21; 22). So darf die
Freude am Herrn auch unsere Stärke sein, und eine große Hilfe im Kampf gegen die Sünde ist es
gewiß schon manchem gewesen, wenn er nach den Worten des Dichters gehandelt hat:
»Wenn mich die böse Lust anficht,
Dann dank ich Gott: ich brauch ja nicht!
Ich sprech' zur Lust, zum Stolz, zum Geiz:
Dafür hing ja mein Herr am Kreuz!«
3. Innerhalb und von dieser zukünftigen, himmlischen Welt besitzen wir die zentralsten Regionen
und Personen. Siebenfältig war die Schilderung des alttestamentlichen Sinaiberges. Jene
israelitischen Hörer waren gekommen
zu dem Berge, der betastet werden konnte,
zu dem entzündeten Feuer,
dem Dunkel, der Finsternis,
dem Sturm, dem Posaunenschall,
der Stimme der Worte, deren Gebot sie nicht ertragen konnten (Hebräer 12, 18 - 21).
Siebenfältig beziehungsweise achtfältig ist nun die Schilderung der neutestamentlichen Heils-
und Himmelshöhe. Ihr seid gekommen
zum Berge Zion, zur Stadt des lebendigen Gottes,
dem himmlischen Jerusalem,
zu Myriaden von Engeln,
der allgemeinen Versammlung,
zur Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind,
zu Gott, dem Richter aller,
zu den Geistern der vollendeten Gerechten, und ferner:
zu Jesu, dem Mittler eines neuen Bundes, zu dem Blute der Besprengung, das besser redet als
Abel (Hebr. 12, 22-24).
Wenn hier Gott als »der R i c h t e r aller« bezeichnet wird, so soll damit nicht etwa irgend etwas
Erschreckendes, die Freude angstvoll Erschütterndes ausgesprochen sein, als ob letzten Endes
dann doch vielleicht alles noch ungewiß sei, falls Gott als der Richter uns eines Tages doch noch
verstößt: Nein, es will sagen:
»Gerade das ist die große Gabe des Evangeliums, daß wir mit unserem Richter versöhnt sind
und in Seinem Wohlgefallen stehen. Das große Gemeinwesen, in das wir eingebürgert sind, ist
von Gerechtigkeit durchwaltet. Sein Haupt ist der Richter, der jedes Unrecht abstellt, allen, die
unterdrückt waren, Recht. schafft und jedem seine Stellung und Gabe nach Seiner heiligen
Rechtsordnung verleiht« (Schlatter).
Die »Gemeinde der Erstgeborenen«, die in den Himmeln angeschrieben sind, ist offenbar die in
der Jetztzeit noch auf Erden lebende Generation der Gläubigen. »Ekklesia« (Gemeinde) bedeutet
ja auch die diesseitige Gemeinschaftsgestalt der Erlösten. Dies beweist ferner der Beisatz, daß
sie »in den Himmeln angeschrieben sind«. Damit ist »die unsichtbare, jenseitige Seite, der
himmlische Adel der diesseitigen Gemeinde« bezeichnet. Sie »sind« eben noch nicht im Himmel,
aber sie sind bereits »angeschrieben« im Himmel. Sie haben aus Gnaden ein Anrecht auf den
Himmel. »Ihr Name, noch nicht ihre Person, ist im Himmel.« Aber sie haben im Himmel ihre
Heimat, im Himmel ihr Bürgerrecht, im Himmel ihr Ziel (Phil. 3,20).
In diesem Sinne spricht auch Paulus von »Mitarbeitern« am Evangelium, von Zeitgenossen
seines eigenen Lebens, also von Gliedern der Gemeinde Jesu, die noch auf E r d e n lebten, daß
»ihre Namen im Buch des Lebens sind« (Phil. 4,3). Und so hatte auch Jesus zu den von Ihm
ausgesandten Siebenzig gesagt, als diese in den Tagen Seines Erdenlebens in Seinem Auftrag
Wunder getan hatten und dann voller Freude zu Ihm zurückgekehrt waren: »Darüber freuet euch
nicht, daß euch die Geister untertan sind. Freuet euch aber, daß eure Namen in den Himmeln
angeschrieben sind« (Luk. 10, 20).
Wahre Gläubige gehören in der Wirklichkeit des Wesens schon jetzt in die Reihen und Bezirke
hinein, die Gottes und des Lammes Thron in der Mitte haben (Eph. 2,18; Phil. 3,20; Gal. 4,26).
Obwohl sie jetzt auch noch auf Erden sind und in der hinfälligen Leibeshütte wohnen, so sind sie
doch von dem Angesicht Gottes, von dem Genuß der Güter Seines Hauses und von der
Gesellschaft aller derer, die um Ihn sind, viel weniger entfernt oder geschieden als das Volk des
Alten Bundes, als es zu dem Berge, auf welchem die Herrlichkeit Gottes erschien, herzunahen
konnte, ihn aber doch, unter Androhung der Todesstrafe, nicht einmal anrühren durfte. Das aber
ist der herrliche Vorzug des Neuen Testaments, daß uns der Glaube wahren Zugang verschafft
und uns schon heute den Zutritt zu Gottes Welt öffnet.
In Verbindung mit diesem Gottesvolk auf Erden werden »die Geister der vollendeten Gerechten«
genannt (Hebr. 12,23). Es werden also die Vollendeten im Himmel mit der Gemeinde auf Erden
zusammengefaßt und Gottes Volk »droben« und Gottes Volk »unten« als Einheit verbunden
geschaut. Denn Gottes Reich verbindet sowohl Himmel und Erde als auch Vergangenheit und
Gegenwart. Selbst der Tod kann den Zusammenhang des Reiches Gottes nicht sprengen. Seine
»Räume« - Himmel und Erde -, seine »Zeiten« - Vergangenheit und Gegenwart - bilden einen
einheitlichen, Aeonen zusammenschließenden Heilsorganismus von Ewigkeit und Zeit.
Von Gnade und Heil sprechen schließlich die letzten beiden Glieder unserer großen, goldenen
Kette: Von Jesus, dem Mittler eines neuen Bundes, vom Blut der Besprengung, das besser redet
als Abel. Damit endet diese Schilderung des himmlischen Gottesberges mit dem Blick auf das
Sühnwerk des Welterlösers, und drei Berge stehen vor unserem geistigen Auge:
der flammende und donnernde Berg Sinai,
der strahlende Zionsberg des himmlischen Jerusalem und
der schlichte Hügel Golgatha.
Das aber ist das Wundersame an dem Heilsweg der Erlösung: Das Werk auf dem Hügel
Golgatha hat die, so daran glauben - unter Ausschaltung aller Werke des Berges Sinai - in
Verbindung gebracht mit dem Heil und der Herrlichkeit des himmlischen Zionsberges. »Der Weg
zum Paradiese geht über Golgatha.«
So ist nun der ganze Reichtum des Himmels erschlossen: die höchsten, himmlischen Regionen,
die höchsten, himmlischen Personen, die unerschöpflichen, himmlischen Gnaden- und
Heilsquellen – dies alles ist uns durch das Blut Jesu zugänglich gemacht. Das »Blut der
Besprengung, das besser redet als Abel«, eben das Blut des Erlösers, durch das Er, als unser
Stellvertreter und Bürge, »Mittler eines neuen Bundes« geworden ist.
Der bekannte Evangeliumsverkündiger Ch. H. Spurgeon, der Jahrzehnte hindurch in seinem
großen Tabernacle in London Sonntag für Sonntag vor Tausenden von Zuhörern die
Heilsbotschaft bezeugt hat, war zweifellos einer der begabtesten Diener Gottes, der sowohl
geistlich als auch geistig geradezu hervorragend hat wirken können. Was aber bezeugt er am
Ende seines Lebens? Als er, nach einem überaus fruchtbaren und vielseitigen Leben, auf dem
Sterbebett lag, da sagte er zu seinen Freunden, die ihn besuchten: »Meine Brüder, meine
Theologie ist sehr einfach geworden. Sie besteht aus vier Worten: Jesus starb für mich!«
Das ist die Grundmelodie aller Dankeslieder aller Erlösten in der himmlischen Herrlichkeit. In den
Jubelhymnen auf dem himmlischen Berge Zion wird das Leidenswerk auf dem Hügel Golgatha in
alle Äonen der Ewigkeit hinein das Thema aller Lobpreisung und Gottesanbetung bleiben.
»Und ich hörte die Stimme vieler Engel um den Thron her und um die lebendigen Wesen und die
Ältesten, und ihre Zahl war Zehntausende mal Zehntausende und Tausende mal Tausende, die
mit lauter Stimme sprachen: Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen
die Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segnung!«
(Offb. 5, 11; 12.)
Dies alles aber ist erst die e i n e Seite! Beachten wir, daß dieser ganze Abschnitt durch das
kleine Wörtchen »Denn« eingeleitet wird. »Denn ihr seid nicht gekommen (zu dem
alttestamentlichen Berge) . . ., sondern ihr seid gekommen (zum himmlischen Berge)« Hebr.
12,18-22.
Das Ganze ist also keine eigentlich selbständige, in sich geschlossene Gedankenkette, sondern
es ist eine B e g r ü n d u n g und als solche einem anderen Hauptgedanken untergeordnet,
dessen Richtigkeit durch dieses »Denn« nachgewiesen werden soll. Dieser Obergedanke aber
ist, im klaren Zusammenhang des Gesamttextes, die Forderung praktischer Heiligung. »Richtet
auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie ... Jaget dem Frieden nach mit jedermann und
der Heiligung, ohne welche niemand den Herrn sehen wird . . . D e n n ihr seid nicht gekommen
zum alttestamentlichen Gesetzesberg Sinai, sondern zum neutestamentlichen Heils- und
Herrlichkeitsberg Zion!«
Damit aber ist das eigentliche Anliegen des Schlußabschnitts von Hebräer 12 vor unser Auge
getreten. Mit dem Hinweis auf die Herrlichkeit des Gnadenstandes soll der Ernst der persönlichen
Verantwortung unterstrichen werden. Gerade w e i l wir in Christus so reich geworden sind und
der Kampfpreis so herrlich ist, sollen wir vollsten Einsatz beweisen.
»Lasset uns hinhören auf Jesus!«

II. Von der heiligen Verpflichtung der zur himmlischen Herrlichkeit Berufenen.
Auch hier erkennen wir ein Dreifaches:
1. Reichtum verpflichtet.
Gerade deshalb, weil wir so viel von Gott empfangen haben, wird von uns doppelte Hingabe und
Heiligung erwartet. Im irdischen Leben kommen Schulden meistens aus Armut; im geistlichen
aber muß gesagt werden: Aus unserem Reichtum kommen unsere »Schulden«! Paulus erklärt:
»Ich bin ein Schuldner« (Röm. 1, 14). Er spricht dabei von seiner missionarischen Beauftragung;
aber der Grundsatz gilt allgemein. Weil wir die Heilsbotschaft h a b e n, so sind wir »schuldig«,
sie weiterzugeben. Weil wir die Segensfülle h a b e n, sind wir »schuldig«, in geistlicher
Siegeskraft zu leben. Weil wir zu Königen g e w o r d e n s i n d, sind wir» schuldig«, nun auch
königlich zu wandeln. Je höher die Gnade, desto ernster die Verantwortung. »Wem viel gegeben
ist, von dem wird auch viel verlangt« (Luk. 12, 48).
Vier Gründe läßt der heilige Text für diese überaus ernste Forderung erkennen.
Hinhören! Gott spricht! Denn der neutestamentliche Heilsstand ist höher. Wenn schon die
alttestamentlichen Heiligen gehorsam sein mußten, wie erst recht doch dann wir! Wenn damals
schon aufgemerkt werden mußte auf die Stimme des Redenden, wie sollten dann doch wir noch
viel mehr Hinhörende und Gehorchende sein! Darum: »Sehet zu, daß ihr den nicht abweiset, der
da redet!« Jetzt, in der neutestamentlichen Heilszeit, muß hingehört und gehorcht werden, wie
noch nie je zuvor in der ganzen Offenbarungsgeschichte gehorcht worden ist! Die
neutestamentlichen Heiligen sollen an Hingabe und Weihe den Glaubensgehorsam aller
vorangegangenen Glaubensgenerationen übertreffen. Dies ist der Sinn der Gegenüberstellung
von Berg Sinai und himmlischem Zionsberg. Ihr sollt nach der Heiligung jagen; »denn« ihr seid
nicht zum Berg des Gesetzes, sondern zum himmlischen Berg göttlicher Heilsherrlichkeit
gekommen. Freiheit vom Gesetz macht nicht passiv, sondern umsomehr eifrig und heilig aktiv.
Das Neue Testament macht eben mit der Tatsache, daß wir »unter« der Gnade sind, voll Ernst.
Die Gnade steht »über« uns. Sie ist unsere Herrscherin geworden. Sie will »königlich« regieren
(Röm. 5,21).
Hinhören! Gott spricht! Denn der Standort des Redenden ist höher! Damals sprach Gott von einer
irdischen Bergeshöhe aus; jetzt aber spricht Er vom Himmel her, nämlich durch Christus, Seinen
Sohn, als den zum himmlischen Gottesthron Erhöhten...
Das bedeutet zugleich eine Erhöhung unserer Verantwortlichkeit im Vergleich zu den
alttestamentlichen Hörern. »Denn wenn jene nicht entgingen, die den abwiesen, der auf E r d e n
die göttlichen Aussprüche gab: wieviel mehr wir nicht, wenn wir uns von dem abwenden, der von
den H i m m e l n her redet!« (Hebr. 12, 25). Gott spricht in Christus durch den Heiligen Geist.
Jedesmal, wenn Gottes Wort verkündet wird, »kommt« Christus durch Sein Wort und Seinen
Heiligen Geist (Eph. 2, 17), und mitten im irdischen Versammlungssaal gilt es, Ihn selbst als den
vom Himmel her zu uns Redenden zu hören! Nicht Menschenwort wird verkündet - auch nicht
eigentlich glaubensvolle »Betrachtungen« über Gottes Wort -, sondern W o r t G o t t e s s e l b s
t. Das ist der hohe Adel, zugleich aber auch die ernste Verantwortlichkeit jeder Wortverkündigung
in der Gemeinde. »Wenn jemand redet, so rede er, als wenn es Aus-sprüche von Gott selbst
wären!« (1. Petr. 4, 11.) Vgl. auch 1. Thess. 2, 13; 2. Chron. 18, 13; Apg. 10, 33.
Unsere mündliche Verkündigung wird dann nicht nur Reden »über« Gottes Wort, sondern Wort
Gottes s e l b s t sein, wenn sie in sich trägt:
die Wahrheit der Botschaft Gottes,
die Liebe des Herzens Gottes,
den Takt der Weisheit Gottes,
die Leitung des Geistes Gottes,
die Vollmacht der Autorität Gottes und vor allem und in dem allen
die Gegenwart der Person Gottes in Christus durch den Heiligen Geist.
»In des Königs Wort ist Gewalt!« (Pred. 8, 4.) Aber in S e i n e m Wort allein! Nicht in den Worten
Seiner Diener, und wenn diese auch noch so erfahren und geheiligt wären! Nicht gelehrte
Vorträge und schöngeistig durchdachte Reden braucht die Welt - so wertvoll sie in sich sein
mögen -, sondern lebendigen, vom Geiste Gottes geleiteten und getragenen Zeugendienst.
»Gebt den Leuten Brot; denn Stroh wollen sie nicht, und Blumen essen sie auch nicht« (Prof.
Warneck). »Gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel herabfällt und nicht dahin
zurückkehrt, er habe denn die Erde getränkt und befruchtet und sie sprossen gemacht und dem
Sämann Samen gegeben und Brot dem Essenden: also wird M e i n Wort sein, das aus M e i n e
m Munde hervorgeht. Es wird nicht leer zu Mir zurückkehren, sondern es wird ausrichten, was Mir
gefällt, und durchführen, wozu Ich es gesandt habe« (Jes. 55, 10; 11).
Und wie vielseitig und allumfassend ist überhaupt das Reden des großen Gottes!
Er spricht durch
die Zeichensprache der Natur (Röm. 1, 19; 20; Ps. 19,1-3);
die Tatensprache der Erfahrung, sowohl im Einzel- wie im Völkerleben;
die Herzenssprache des Gewissens (Ps. 32,3; 4; Röm. 2,14;15);
die Zeugensprache der Gläubigen (2. Kor. 5,20);
die Buchsprache der Bibel (2. Tim. 3,16);
die Heilssprache des Sohnes (Hebr. 1, 1; Eph. 2, 17);
und Er wird zu den Menschen einst reden durch die Rechtssprache des Gerichts (Ps. 2, 5).
»Lasset uns hinhören auf Jesus!«
Und weiterhin beweist der Schreiber des Hebräerbriefes die höhere, neutestamentliche
Verantwortlichkeit durch den Vergleich des neutestamentlichen mit dem alttestamentlichen
Gotteswort.
3. Hinhören! Gott spricht! Denn der Wirkungsumfang des vom Himmel her gesprochenen Wortes
ist größer. In beiden Fällen sind Wirkungen auf Natur und allgemeine Schöpfung mit dem
Gotteswort verbunden. Aber die Naturwirkungen des alttestamentlichen Sinai-Wortes
beschränkten sich auf die E r d e - Feuer und Sturm, Dunkel und Finsternis, Erdbeben und
Posaunenhall -; die Naturwirkungen des neutestamentlichen Gotteswortes aber werden einst bis
in die H i m m e 1 hineinreichen. »Noch einmal werde ich nicht allein die Erde bewegen, sondern
auch den Himmel« (Hebr. 12, 26).
Und schließlich:
4. Hinhören! Gott spricht! Denn der Wirkungsinhalt des vom Himmel her geredeten Gotteswortes
ist gewaltiger. Am Sinai wurde die Erde nur »erschüttert« (V. 26), in der Endzeit aber werden
Himmel und Erde durch Gottes Wort »verwandelt« werden (Hebr. 12, 27). »Verwandlung« aber
geht tiefer und ist mehr als »Erschütterung«.
Darum noch einmal: Hinhören! Gott spricht! Menschen, die zu so hohen und himmlischen Zielen
berufen sind, die ein so »unerschütterliches«, ewiges Reich empfangen sollen, die von einer so
hocherhabenen Majestät selbst, vom Zentralquellpunkt des Universums, vom Thron Gottes als
dem Mittelpunkt und Allerheiligsten der Ewigkeit her, durch das Wort und den Heiligen Geist
angesprochen werden - solche Menschen müssen himmlisch gesinnt sein!
Sie sind, nach dem Willen des Herrn, wachende und wartende Christen, den Wanderstab in der
Hand, die Lampen geschmückt und brennend, bereit, dem Bräutigam entgegen zu gehen. Sie
sind Menschen, die in der Bereitschaft stehen (Luk. 12, 35), bei denen die »letzten Dinge« die e r
s t e n sind, die auf den wiederkommenden Herrn warten, die »immer in der elften Stunde leben«
(Sören Kierkegaard).
Gewiß, sie verrichten mit Sorgfalt ihre Pflichten hier auf Erden, doch ihr eigentliches Ziel ist der
Himmel. Sie sind im Irdischen Vorbilder an Gewissenhaftigkeit und Treue; aber sie warten
zugleich mit Frohlocken auf die Offenbarwerdung des Reiches Gottes. Sie wissen: »Unser
Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland
erwarten, der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe
der Herrlichkeit« (Phil.3,20;21). Darum: »Umgürtet die Lenden eurer Gesinnung, seid nüchtern
und hoffet völlig auf die Gnade, die euch gebracht wird bei der Offenbarung Jesu Christi!« (1.
Petr. 1, 13.)
In diesem allen aber ist es nicht einfach in unser Belieben gestellt, ob wir in der Kampfbahn des
Glaubens gehorchen wollen oder nicht. Nein, große und schwerwiegende Folgen sind damit
verbunden.
Wir stehen hier vor einer unausweichlichen Entscheidung, ob wir himmelan steigen wollen oder
absinken, gewinnen oder verlieren, festwerden oder wanken.
Denn das ist Grundgesetz alles geistlichen Lebens, daß es nur in der Verbindung mit der Quelle
gedeiht. In uns selbst liegen keine Garantien. Die Gewähr aller Bewahrung und Vollendung liegt
nur in Christus.

2. Reichtum garantiert nicht.


Du kannst im Segen begonnen haben und armselig weiterleben. Du kannst sonnige Siegeszeiten
gehabt haben und heute in dunkler Niederlage stecken. Du kannst in der Freude des Christus
gelebt haben und heute niedergedrückt und freudlos dahingehen. Das war ja der geschichtliche
Hintergrund unserer ganzen Hebräerstelle. Nur aus diesem Grunde ist der ganze Hebräerbrief
überhaupt geschrieben! Darum nimm dir diesen Gesamtzusammenhang auf das eindringlichste
zu Herzen und ins Gewissen: Reichtum garantiert nicht. Du kannst einst Sein Wort gelesen und
mit Freuden in dich aufgenommen haben, und heute ist es dir wie ein verschlossenes Buch. Du
kannst einst eine »Zierde« des Evangeliums gewesen sein (Tit. 2, 10) und heute so wandeln, daß
der Name des Herrn durch dich verlästert wird (vgl. Hes. 36, 22). Du kannst deine »erste Liebe«
verlassen haben! (Offb. 2, 4.)
Erfahrungen der Vergangenheit sind keine Garantien für gleiche Segensfülle und Kraft in
Gegenwart und Zukunft! Es ist niemals nur der »Christus gestern«, der dir hilft, sondern stets der
»Christus heute«! Nicht einseitig rückwärts darf dein Blick gerichtet sein, sondern aufwärts und
vorwärts! Deshalb, bei aller Heilsfülle, lebe in heiligem Ernst.
Diese beiden gehören zusammen: Heilsgewißheit und Gottesfurcht, Freude und Ernst. Freude
ohne Ernst wäre Oberflächlichkeit; Ernst ohne Freude wäre Schwarzseherei. Heilsgewißheit ohne
Gottesfurcht wird Pharisäertum; Gottesfurcht ohne Heilsgewißheit wird sklavische Angst. In
Wahrheit aber ist jedes dieser beiden nur dann gottgemäß da, wenn auch das andere da ist.
Entweder tragen wir beide in unserer Seele oder keines. Und das Maß des einen bedingt
zugleich das Maß des anderen. Es ist eine erschütternde Tatsache, daß in weiten kirchlichen und
freikirchlichen Gemeinden, Gemeinschafts- und Versammlungskreisen in hohem Maße die
Ehrfurcht fehlt. Alltagsgerede umrahmt die Zusammenkünfte. Nur mit Mühe tritt Ruhe beim
Beginn der Versammlungen ein. Innerlich unaufmerksam erklingen viele Gesänge. Manchmal
merkt der Singende kaum, daß sein Lied, in der Du-Anrede zu Gott, ein Gebet ist. Und nicht
selten ist der Dienst am Wort in Gefahr, in ein ehrfurchtloses, vielleicht sogar selbstgefälliges
Reden »über« Gottes Wort zu entarten, anstatt selber verantwortungsbewußte, geistgewirkte,
heilige Gottesbotschaft zu sein. - »Es predigt.« - - Aber nicht: »Gott spricht!« Wie ernst!
Und gar oft kommen am Schluß die »Vögel des Himmels«, in Form oberflächlicher Begrüßungen
und Gespräche, geschäftlicher Besprechungen, Unterhaltungen über Politik, Familienerlebnisse
und Alltag, und reißen den Samen hinweg, soweit er in das Herz gesät war (Matth. 13, 4; 19).
Wie kann da geholfen werden? Nur durch ein erneutes Hinhören auf Gott! Nur durch erneute
Anerkennung der Autorität Seines erlösenden Befehlswortes! Nur durch von neuem vollzogene,
bewußt gewollte Hingabe und Weihe an Ihn. Wahrlich, Reichtum garantiert nicht. A b e r C h r i s
t u s bewahrt!
»Lasset uns aufsehen auf Jesum!« - Lasset uns hinhören auf Sein Wort!

3. Reichtum muß verwirklicht werden.


»D e s h a l b, da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, laßt uns Gnade haben (oder:
Dankbarkeit hegen), durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und
Furcht« (Hebr. 12,28). Christsein heißt nicht nur: Segnungen empfangen haben, sondern: »Im
Empfangenen leben!« Dies geschieht praktisch durch dankbare Hingabe an den Herrn, der uns
so reich begnadigt hat.
Das griechische Wort für »Gnade« heißt zugleich »Dank« (charis), und es gibt Stellen, in denen
beide Übersetzungen einen guten Sinn haben. So auch hier. Die Grundbedeutung des Wortes ist
»etwas, was erfreut« (charis, wurzelverwandt mit griech. chara, Freude; chairein, sich freuen),
und da es für den Griechen kaum etwas gab, was ihm mehr Freude bereitete als Schönheit,
bekam das Wort die Bedeutung »Anmut, Lieblichkeit, Holdseligkeit«, so z. B. in Luk. 4, 22 (Luth.),
Eph. 4, 29 (Luth.).
Von dieser Grundbedeutung her bedeutet es auch die Haltung eines Menschen, der erfreut, also
»Wohlwollen, Gunstbezeugung, Geneigtheit«, - besonders bei hochgestellten Personen, am
meisten bei Königen - nur ihrem e i g e n e n Willensentschluß entsprang, also u n verdiente
Gabe, das heißt »Gnade« war, eine Gnade, die für den Beschenkten dann Fülle, Glanz, Freude
und Erhöhung mit sich brachte...
Das eine ist die Gunstbezeugung des Gebers zum Empfänger, das andere ist die Bezeugung der
Zuneigung des Empfängers zum Geber, und somit hat es einen tiefen Sinn, daß das
neutestamentliche Wort für »Gnade« zugleich auch das Wort für »Dank« ist. Danken heißt eben:
»von der Gabe aufsehen zum Geber, sich seiner Güte freuen und sich ihm hingeben mit den
Empfindungen des Herzens und den Taten des Lebens«.
In diesem Sinne ist nun b e i d e s wahr: Weil wir ein unerschütterliches Reich empfangen, wollen
wir Dankbarkeit beweisen und Ihm, der uns so unendlich reich beschenkt hat und beschenkt, in
Frömmigkeit und Gottesfurcht wohlgefällig dienen. Und ebenso: Weil wir ein unerschütterliches
Reich empfangen, wollen wir Ihm dienen und unser Leben Ihm weihen, und wir vermögen es nur
dank der Kraft, die Seine G n a d e uns schenkt.
Auf diese Weise gibt es eine freudige Heiligung. Heiligung und Freude gehören zusammen.
Mangel an Heiligung trübt unsere Freude; aber wahre Freude beflügelt die Heiligung.
Undankbaren Gläubigen jedoch gibt der Herr keine neuen Segnungen. Das Maß unseres
Gesegnetwerdens hängt, bei aller Willigkeit des göttlichen Gebers, von unserer praktischen
Dankbarkeit ab. Wie töricht darum, zu jammern, anstatt sich Gottes Güte zu erfreuen! Wie ist
doch Sorgengeist Selbstberaubung! Nein, wir wollen Ihn preisen, der so unendlich viel für uns
getan hat. Unser ganzes Leben soll ein praktisches, freudiges Dankopfer sein.
Und gewaltig ist der Rahmen, in den der Geist Gottes diese Seine ganze Aufforderung
hineingestellt hat. Er beginnt die Schilderung des neutestamentlichen Heilsreichtums mit Himmel
und Herrlichkeit und schließt sie mit dem Hinweis auf, unter Umständen, allerernstestes Gericht.
G o t t e s G n a d e a m Anfang, Gottes Feuereifer am Schluß, und dazwischen der Aufruf:
»Hinhören! Gott s p r i c h t !« Die Worte »himmlisches Jerusalem« (Vers 22) und »verzehrendes
Feuer« (Vers 29) rahmen diesen eindrucksvollen Befehl geradezu ein. »Denn auch unser Gott ist
ein verzehrendes Feuer«. Dies schreibt ein Mitarbeiter des Apostels Paulus (vgl. Hebr. 13, 23),
also des Apostels der Gnade (!), an judenchristliche Gläubige der Gemeindezeit. In der
Gemeinde aber ist, nach den wiederholten, ausdrücklichen, paulinischen Belehrungen, zwischen
den Gläubigen aus Israel und den Gläubigen aus den Nationen kein heilsgrundsätzlicher
Unterschied mehr (Eph. 2,13-22; 3,6; Apg. 28,28; vgl. Apg. 10, 47; 11, 12; 15, 9-11).
Brechen wir darum dem Schwert die Spitze nicht ab! Nehmen wir dies Gotteswort in seiner
ganzen Wucht! Allerdings glauben wir nicht, daß es die Möglichkeit eines Verlorengehens wahrer
Kinder Gottes aussagen will, wohl aber daß ungeahnte und ernsteste Folgen mit Untreue und
Ungehorsam eines Gläubigen verbunden sind.
Darum fort mit aller fleischlich-religiösen Selbstsicherheit! Laßt uns niemals die Wahrheit von der
ewigen Errettung der Wiedergeborenen zu einem Ruhekissen fleischlicher Gesinnung machen!
Wohl sind die, die an Christus im Sinne der Schrift glauben, aus dem Tode ins Leben
hinübergegangen; aber was die Verherrlichung betrifft, so gilt der Satz: »Befleißiget euch
umsomehr, eure Berufung und Erwählung festzumachen« (2. Petr.1,10). »Jaget nach der
Heiligung, ohne welche niemand den Herrn schauen wird« (Hebr. 12,14). »Wer zu stehen sich
dünkt, sehe zu, daß er nicht falle« (1. Kor. 10, 12).
Was wir brauchen, ist die dauernde Haltung des Glaubens, das stets fortgesetzte Ja zu Christus,
das stets praktisch erneuerte Nein zur Sünde, die lebendig praktische Gemeinschaft mit dem für
uns gestorbenen und auferstandenen Erlöser. »H a l t e t euch der Sünde für tot, Gott aber
lebend in Christo Jesu« (Röm. 6, 11).
In Christus aber ist Heil. In Ihm ist Leben und Sieg. Sein Wort ist nicht nur Befehl, sondern
zugleich schöpferische Kraftquelle. Es ist Gebot und Geschenk, Verordnung und Verheißung,
Sendung und Ausrüstung.
Ihn, diesen Erlöser, der Menschheit zu verkünden, - das ist die Aufgabe der Botschaft des Neuen
Bundes. Er selbst ist der eigentliche Inhalt von dem, was »Gott spricht« (2. Kor. 4, 5). Er ist der
Sieger, die personhafte Wahrheit, der Heiland der Welt. Er erleuchtet die Seelen, die in der
Finsternis schmachten. Er erfüllt ihre Sehnsucht, erquickt ihre Herzen, befreit sie von Sünden,
macht sie heilig und rein. Durch Ihn finden sie zurück zum verlorenen Paradiese. Ihre
Vergangenheit ist geordnet, ihre Gegenwart erleuchtet, ihre Zukunft gesichert. Darum spricht
Gott: »Siehe, das ist mein Knecht ... an welchem meine Seele Wohlgefallen hat . . . Ich, der Herr,
habe dich gerufen in Gerechtigkeit . . . und habe dich zum Bund unter das Volk gegeben, z u m L
i c h t d e r Heiden« (Jes. 42, 1; 6).
Und in der neutestamentlichen Zeit spricht der Vater bei der Verklärung des Menschgewordenen
auf dem heiligen Berge: »Dies ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe«
(Matth. 17,5). »Den sollt ihr hören!«
»Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude;
A und O, Anfang und Ende steht da.
Gottheit und Menschheit vereinen sich beide;
Schöpfer, wie kommst Du uns Menschen so nah!
Himmel und Erde, erzählet's den Heiden:
Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden!«

---

Jesus als Seelsorger

(1908) Von Prof. Karl Heim

Seelsorge im vollen Sinne des Wortes kann es weder in den Religionen geben, die auf ein
mystisches Verschwimmen und Aufgehen der Seele ins Unendliche ausgehen – in diesen
handelt es sich nicht um Seelenpflege, sondern um Seelenvernichtung – noch auch in den
entgegengesetzten religiösen Strömungen, bei denen die menschliche Individualität als Weltziel
erscheint und ein Kultus mit der Menschenseele getrieben wird; denn um ihre eigene Natur
auszuleben, bedarf die Seele keiner besonderen Leitung, man kann sie wie eine Feldblume wild
wachsen lassen. Seelsorge entsteht erst aus der eigentümlichen Spannung, die sich durch das
Lebenswerk Jesu hindurchzieht: einerseits, er ringt um die Seelen, es erfolgt ein „Ziehen des
Vaters zum Sohn“, die Menschen sollen erlöst werden aus ihrer Drehung um sich selber, aus den
Dornen, aus der Fremde, von den Trebern, aus allem, in was sie hineinkommen, wenn sie sich
selber ausleben, sie sollen hingezogen werden zum Vaterhaus, ins Sterben, in die Beugung
hinein. Andererseits erfolgt aber dieses Ziehen immer so, dass der Mensch jeden Schritt aus
eigenster Initiative und aus seiner innersten Organisation heraus tut, dass er dabei nur noch tiefer
seine eigene Individualität findet, dass sein Sterben Leben wird; daher Jesu heilige
Zurückhaltung den Seelen gegenüber. In diesem Doppelten liegt die ungeheure, die ganze
Menschengeschichte erfüllende Spannung des Werkes Christi, die das erzeugt, was man
Seelsorge nennt. Hierin liegen alle Probleme der Seelenpflege beschlossen. In diese Spannung
sehen wir hinein, wenn er über Jerusalem klagt: Wie oft habe ich deine Kinder versammeln
wollen wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel, aber ihr habt nicht gewollt. Wie leicht hätte
er nach Art eines Bar Kochba und anderer Messiasse durch suggestive Erregung eines national-
religiösen Rausches die Massen fortreißen können. Aber er darf sie nicht ziehen, wenn sie nicht
aus eigenstem Wollen heraus ihm entgegeneilen. Welche Sehnsucht, die Gebundenen zu
befreien, spricht aus den Worten, in denen Jesus in Nazareth das Programm seiner ganzen
Wirksamkeit zusammenfaßt: „Er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen,
zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und
den Blinden das Gesicht.“ Und doch, als er dem reichen Jüngling mit einem liebevollen Blick
seine Gebundenheit aufgedeckt hatte (Verkaufe alles, was du hast) und dieser traurig wegging,
lief ihm Jesus nicht nach, er ließ ihn mit heiliger Zurückhaltung gehen und überließ diese Seele
ihrer Einsamkeit und dem Sturm, den er in ihr entfesselt hatte.

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt den seelsorgerlichen Verkehr Jesu mit den
Menschen, so interessiert uns zunächst, wie er bei den Menschen anknüpfte, dann, wie er die
Angefaßten weiterführte, endlich, wie er die Hindernisse beseitigte, die die innere Entwicklung
hemmen.

Wenn wir fragen, wie es Jesus mit einer Seele anfing, um sie zum Erwachen zu bringen, wie er
„das Herz auftat“, so ist vielleicht die bedeutsamste Beobachtung, die wir machen können: er
hatte überhaupt keine Methode, sondern die größte individuelle Mannigfaltigkeit. Einem Skeptiker
wie Pilatus gegenüber lässt er die Wahrheit nur wie ferne, tiefe Glockenschläge erklingen: Mein
Königreich ist nicht von dieser Welt, … wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme. Er
lässt ihn die weltumspannende Macht ahnen, die auch ihn in der Gewalt hat, wenn er ihm sagt:
Du hättest keine Gewalt über mich, wäre sie dir nicht von oben gegeben. Und die skeptische
Antwort des Pilatus zeigt, dass er hier an eine Wunde gerührt hatte. Einem Suchenden wie
Nathanael greift er sofort mit einem unendlich persönlichen Wort ins Innerste, so dass er sich
völlig durchschaut und wie von einer überirdischen Helle umleuchtet fühlt: Als du unter dem
Feigenbaum warst, sah ich dich. Mit diesem einen Pfeilschuß hat er die Festung erobert. Wo ein
innerlicher Besitz da ist, wenn auch noch so erstarrt oder verschüttet, geht Jesus in vielen Fällen
auf diesen ein und zeigt die Stelle, wo der seitherige Besitz über sich hinausweist. Den
Schriftgelehrten, der ihn fragt: Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? fragt er: Was
steht im Gesetz geschrieben? und stellt ihn unter die Wucht der Forderung, die im höchsten
Gebot des Alten Bundes enthalten ist. Das aufgeschreckte Gewissen sucht einen Ausweg in der
Frage, wer sein Nächster sei. Aber Jesus gibt nicht die erwünschte kasuistische Definition, die
einen solchen Ausweg vielleicht gestattet hätte, sondern legt ihm durch eine einfache,
unvergeßliche Geschichte seinen Nächsten so anschaulich auf die Seele, dass er sich gefangen
geben muss. Ebenso weist er den reichen Jüngling auf das Halten der Gebote hin. Wo ein
schwacher Funke von Glauben ist, wenn auch nur als glimmender Docht, da löscht ihn Jesus
nicht aus, sondern knüpft daran an. Er lobt den Glauben des Hauptmanns (Matthäus 8, 10). Im
Gedränge der Hunderte fühlt er die Berührung des blutflüssigen Weibes, weil ein Funke von
Glauben in dieser Berührung lag, wenn auch in abergläubischer, fast fetischistischer Form, und
hebt ihn mit einem Wort über sich selbst hinaus, indem er dem zitternden Weibe sagt: Dein
Glaube hat dir geholfen. Wenn du glauben könntest, sagt Jesus zu dem Vater des Besessenen,
alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt, und das im Sturm hin- und herflackernde Licht des
Glaubens wird ruhig unter seinen Worten. Bei einfachen Menschen knüpft Jesus gern an das
Nächstliegende und Äußerliche an, um es durch eine überraschende und doch ganz ungesuchte
Wendung plötzlich zum Sinnbild des Innerlichsten zu machen, so bei der Samariterin mit der
Bitte: Gib mir zu trinken! Die Zisterne weckt die Sehnsucht nach der sprudelnden Quelle, diese
aber in ebenso natürlichem Fortschritt des Nachdenkens das Verlangen nach einem Wasser, das
nie wieder durstig werden lässt, sondern im Trinkenden selber zur ewig sprudelnden Quelle wird.
Die Netze, die im See Genezareth liegen, werden unter Jesu Worten mit einem Schlag zum Bilde
des großen göttlichen Fischzugs, der die Weltgeschichte erfüllt, indem er den erstaunten
Fischern sagt: Ich will euch zu Menschenfischern machen. Die überreiche Fischbeute lässt
Petrus die Gewalt und Gegenwart des göttlichen Fischers ahnen, so dass er zusammenbricht
und ausruft: Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch. Das macht ihn reif für
das persönliche Wort: „Von jetzt ab wirst du Menschen lebendig fangen.“ In anderen Fällen ist es
wieder, als ob Jesus durchaus keine Anknüpfung an den inneren Besitz der Seele suchte,
sondern sie unvermittelt in eine ihr noch völlig fremde neue Welt hineinversetzte. So bei
Nikodemus. Wie ein Meteorstein aus einer anderen Welt fällt in seine Gedankenwelt die Wahrheit
von der Wiedergeburt, die notwendig ist, um das Reich Gottes auch nur zu sehen. Wie kann ein
Mensch geboren werden, wenn er alt ist! Er kann sich nichts darunter vorstellen. Aber noch ehe
er sich in diesem scheinbaren Widersinn zurechtgefunden hat, geht Jesus schon einen Schritt
tiefer. So jemand nicht von neuem geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das
Reich Gottes gelangen. Erstaunt kann Nikodemus nur fragen: Wie kann solches zugehen? Seine
Rabbinerweisheit liegt vernichtet am Boden. Aber in Riesenschritten geht Jesus mit ihm weiter
wie in einem kühnen Geistesflug durch die Äonen. Der von himmlischen Dingen redet, muss ein
vom Himmel Herabgestiegener sein, ja einer, der im Himmel ist. Eine Gottesliebe muss sich
herabgesenkt haben im Sohn, dessen Erscheinen Weltrettung und Weltgericht zugleich ist. So
kann Jesus eine Seele, scheinbar ohne Anknüpfung an ihren bisherigen Besitz, unmittelbar auf
die höchsten Höhen führen.

Wenden wir uns nun weiter zu der Art, wie Jesus die Seelen weiterführt, die einmal unter
seinem Einfluß erwacht sind, so zeigt sich hier noch deutlicher die Spannung zwischen dem
Drang, möglichst viel zu geben, und der Scheu vor jedem gewaltsamen Eingriff in die innere
Entwicklung. Es handelt sich hier zunächst um die vielen ethischen Einzelfragen, die die
Gewissen beschweren und nach seelsorgerlichem Rat ausschauen lassen, Fragen auf dem
Gebiet des sozialen Zusammenlebens, des sexuellen Verkehrs, des Gebetsumgangs mit Gott.
Jeder Seelsorger weiß, dass solche ethischen Einzelfragen die innerlich Angefaßten am meisten
beschweren. Wir erleben eine eigentümliche Enttäuschung, wenn wir von unseren
Voraussetzungen aus mit derartigen Fragen zu Jesus kommen. Zweierlei ist es, was wir gerne
haben möchten und was wir bei Jesus nicht finden. Entweder wir wünschen kasuistische
Einzelregeln für den vorliegenden Fall, oder wir möchten allgemeine ethische Prinzipien haben,
aus denen wir mit logischer Sicherheit das Verhalten im Einzelfall ableiten könnten. Jesus gibt
weder das eine noch das andere, weder eine Ethik noch eine Kasuistik, sondern etwas Drittes. Er
greift irgendeinen sehr anschaulichen Fall heraus und gibt für diesen einen ganz radikalen,
extremen, beinahe unmöglich erscheinenden Imperativ, der sich ins Gewissen eingräbt, und lässt
uns mit diesem Eindruck allein. In diesem Stil sind die meisten sittlichen Weisungen Jesu
gehalten: Wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den anderen auch dar. Wer ein Weib
ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen. Gib dem, der dich bittet.
Segnet, die euch fluchen. Sorget nicht für den anderen Morgen. Ärgert dich dein rechtes Auge,
so reiß es aus und wirf es von dir. Wenn du ein Mahl machst, so rufe die Lahmen, die Krüppel,
die Blinden herein. Wer nicht haßt Vater, Mutter, Brüder, der kann nicht mein Jünger sein. Diese
Worte können nicht als Teile einer Kasuistik gemeint sein – dazu wären sie viel zu unvollständig
-, aber auch nicht als allgemeine ethische Grundsätze; denn so gefaßt würden sich Jesu
Weisungen vielfach gegenseitig widerstreiten und aufheben (z. B. Wenn dich jemand nötigt eine
Meile, so gehe mit ihm zwei; und: Laß die Toten ihre Toten begraben). Vielmehr wie ein großer
Künstler durch ein paar starke Farbentöne die Stimmung einer ganzen Landschaft wiedergibt, so
gibt uns Jesus hier durch wenige starke Farben und große Konturen eine Intuition von jenem
hohen, sorglosen Leben in Gott, in das er uns hineinziehen möchte. Ebenso gibt Jesus den
Jüngern, die er aussendet, weder allgemeine Missionsprinzipien, noch eine kasuistische
Missionsanweisung für alle möglichen Fälle, sondern typisch herausgegriffene Befehle, die ihnen
einen plastischen Eindruck von dem Geist geben, in dem sie hinausziehen sollen. Nehmt keine
Tasche, keinen Beutel. Wenn ihr in ein Haus kommt, so bleibt in diesem Hause, eßt und trinkt,
was euch vorgesetzt wird, heilt die Kranken und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist nahe
herbeigekommen. Ebenso wird die Frage: Wer ist mein Nächster? nicht durch eine
Begriffsdefinition oder Aufzählung der möglichen Einzelfälle beantwortet, sondern durch eine
typische Erzählung, die die Frage nicht beantwortet, sondern nur noch schwerer aufs Gewissen
legt. Offenbar will Jesus die Seele weder dem Zwang eines ethischen Systems, noch dem Zwang
kasuistischer Regeln unterwerfen, sondern in eine unmittelbare Abhängigkeit von ihm
hineinführen, die völlig frei macht und fähig, mit intuitiver Sicherheit den Willen des Vaters zu
treffen. Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei.

Ähnlich ist es mit den Anweisungen Jesu zum Gebet. Jesus tut alles, um die Seele in jene
Einsamkeit mit Gott hineinzuführen, in der sie von allen religiösen Regeln und Institutionen der
Menschen unabhängig wird und Gott nicht hier oder dort, sondern im Geist und in der Wahrheit
anbetet. Er weist uns ins „Kämmerlein“, ins „Tamiejon“, den einzigen von innen verschließbaren
Raum im orientalischen Hause, wo man sich vor allen Störungen durch Menschen sichern kann.
Er gebraucht die stärksten Mittel, um der verzagten Seele den Mut zum kühnen Bitten und
unbedingten Vertrauen zum Vater zu geben, so die absurd erscheinenden Gleichnisse von dem
zudringlichen Freund und dem gottlosen Richter, der die Witwe um ihres unverschämten
Begehrens willen erhört.

Dieselbe Tendenz, die Menschen niemals gewaltsam vorwärts zu drängen, sondern zu einem
selbständigen Eindringen in Gott zu führen, zeigt sich nun auch in der Art, wie Jesus denen, die
er in seine Schule nahm, das Verständnis seines eignen Wesens und Lebenswerks aufschloss.
Von jeher ist die eigentümliche Zurückhaltung aufgefallen, mit der er das „Geheimnis“ des
Reiches Gottes, das Geheimnis seiner Person und das Rätsel seines Todes behandelte. Warum
verbietet er den Dämonen, die ihn als Messias erkennen, zu reden? Warum redet er so wenig
von der künftigen Weltgestalt und weist alle Fragen der neugierigen Phantasie in Bezug auf das
Weltende ab? Vielleicht liegt auch hier jene heilige Zurückhaltung vor, die die Welt göttlicher
Geheimnisse den einzelnen immer nur so weit aufschließen will, als sie sie innerlich fassen
können, als sie dazu reif sind. Man versteht von hier aus, warum er so selten und nur
andeutungsweise das Geheimnis seiner Person aufdeckt, und immer nur einzelnen. Nach der
Erzählung bei Johannes konnte er dem Blindgeborenen, nachdem dieser seine Macht erfahren,
sagen: „Glaubst du an den Sohn Gottes? – Ich bin´s!“ und der Samariterin, nachdem er ihr ihre
Vergangenheit aufgedeckt hatte: „Ich bin´s, der mit dir redet“ (nämlich der Messias). Aber sonst
entlässt er die Menschen mit wenigen inhaltsschweren Worten, die auf das Innerste ihres
Seelenzustandes das Licht göttlichen Erbarmens fallen lassen. So sagt er zu dem sündigen Weib
nur: Dein Glaube hat dich gerettet, gehe hin in Frieden; zu dem Lahmen nach der Heilung: Du
bist gesund geworden, sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht Schlimmeres widerfahre; zu
Martha: Du hast viel Sorge und Mühe, eins aber ist not. Es ist meistens, was auch für unsere
Seelsorge vorbildlich ist, ein kurzes, unvergeßliches Wort, das die Seele mit in die Stille nimmt,
um daran weiter zu denken, oder eine unvergeßliche sich einprägende Geschichte (wie die vom
Wucherer und den zwei Schuldnern, die er dem Pharisäer Simeon erzählt), die die Seele in die
Einsamkeit verfolgt.

Die Weisheit und Zartheit, mit der Jesus der freien Entfaltung der Seele entgegenkommt, sie
leitend und doch nicht vergewaltigend, zeigt sich auch in der Behandlung der Hindernisse, die
sich dem aufkeimenden Glauben entgegenstellen. Es ist hier ein charakteristischer Unterschied
zwischen der Behandlung der sittlichen Hindernisse und der Behandlung des Zweifels. Wo das
eigene Ich, das fleischliche und seelische Element sich hemmend verdrängt, ist Jesus der
Gärtner, der mit scharfem Messerschnitt die Rebe am Weinstock von schlechten Trieben reinigt,
dass sie mehr Frucht bringt. Die schärfsten Worte Jesu richten sich gegen den, der einer Seele
Ärgernis gibt. Er verdient, dass ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er im Meer ertränkt
wird. Wie scharf schneidet Jesus den egoistischen Traum der Zebedaiden vom Sitzen zur
Rechten und Linken des Weltenthrons ab! Wie schroff schlägt er den fleischlichen Eliaseifer der
Jünger nieder, die feurige Rache auf die Städte niedergehen lassen wollen, ebenso das
aufkeimende Machtbewußtsein der siegreich von ihrer Mission zurückkehrenden Jünger
(„darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind“), die seelische
Todesbegeisterung, die sich in die Hingabe des Petrus mischt („der Hahn wird nicht zweimal
krähen, ehe du mich dreimal verleugnest“). Dem Nachfolger, der keinen ganzen Bruch mit seinen
bisherigen Verhältnissen vollziehen will, schneidet er mit den scharfen Worten den Rückzug ab:
Laß die Toten ihre Toten begraben! Ganz anders ist bei Jesus die Behandlung des Zweifels. Hier
beginnt er nicht mit dem Vorwurf, der gerade dem Zweifler so weh tut, sondern mit einer Tat, die
Gottes Macht spürbar macht, und dann erst kommt das Strafwort mit um so einschneidenderer
Wirkung. So bei der Stillung des Sturms nach Markus 4. Von den Wogen hin- und hergeworfen,
zweifeln sie an Gottes Führung: Herr, kümmert´s dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Er aber
erhebt ohne ein Wort des Vorwurfs die Gebieterhand über den See. Und dann erst, wie sie unter
dem Eindruck seiner Gewalt stehen, kommt das Strafwort: Was seid ihr so furchtsam, warum
habt ihr keinen Glauben? Ebenso wie der Täufer im Gefängnis zweifelt, lässt Jesus erst die Taten
reden: Geht hin und sagt Johannes, was ihr sehet und höret; und dann erst kommt der liebevolle
und gerade darum unendlich schwere Vorwurf: Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert. Thomas
lässt er erst die Tatsache mit Händen greifen, um ihm dann zu sagen: Selig sind, die nicht sehen
und doch glauben. Plastisch wird diese Behandlung des Zweifels durch die Geschichte vom
sinkenden Petrus veranschaulicht, den Jesus erst bei der Hand ergreift und heraufhebt, um ihm
dann zu sagen: Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

So zieht sich durch die ganze Lebensarbeit Jesu die Spannung hindurch zwischen dem Drang,
Seelen zu Gott zu führen, und der heiligen Zurückhaltung gegenüber ihrer freien inneren
Entfaltung. Die Vermeidung aller äußerlichen und innerlichen Gewaltmittel, die sich daraus ergab,
war schuld daran, dass sein Leben nicht mit einem Triumph, sondern am Kreuze endete. Im
Kreuzestod findet diese Spannung den höchsten Ausdruck. Hier lässt der Seelenhirte sein Leben
für seine Freunde. Und auch wir können nur dadurch Seelsorger werden, dass wir teilnehmen an
diesem seinen Tod, in dem wir in der Kraft Jesu unsere Seelen für die Seelen anderer einsetzen.

...

Märtyrer in 2009

Märtyrer - Ihre Sehnsucht gilt dem Leben, nicht dem Tod. Sie opfern ihr Leben, weil sie für
andere Menschen und Glaubensfreiheit eintreten,

von Dr. Wolfgang Huber

Es ist an der Zeit, dem Wort "Martyrium " seine Würde zurückzugeben. Es gibt eine erstaunliche
Unkenntnis, was des Wortes eigentliche Bedeutung ist. Muslimische Selbstmordattentäter
werden als Märtyrer bezeichnet. Man sagt von ihnen, mit ihrem mörderischen Handeln verbinde
sich die Sehnsucht nach dem Paradies. Doch es hat mit einem Martyrium im ursprünglichen Sinn
nichts zu tun, andere und mit ihnen auch sich selbst in den Tod zu reißen. Die Sehnsucht nach
dem Paradies kann keine Rechtfertigung für mörderische Gewalt sein - es gibt auch im Islam
selbst Kritik an dieser Vorstellung.

Im Nordjemen wurden eine Koreanerin und zwei Frauen aus Deutschland entführt und ermordet;
eine fünfköpfige Familie aus Deutschland und ein englischer Entwicklungshelfer befinden sich
dort seit vielen Wochen in der Hand von Entführern.

In manchen Medien wird ihnen ein Vorwurf daraus gemacht, dass sie ihren Glauben bezeugt
haben. Darüber hinaus werden sie auch noch mit sogenannten "Märtyrern“ verglichen. Sie
werden mit muslimischen Fundamentalisten auf eine Stufe gestellt. Das erfordert deutlichen
Widerspruch. Was ist mit Martyrium ursprünglich gemeint?

Sein Urbild liegt in dem inneren Kampf Jesu im Garten Gethsemane bei Jerusalem. Er betete:
"Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern
wie du willst." Kurz vor seinem Tod am Kreuz hat Jesus diese Worte gesprochen. Seitdem haben
immer wieder Menschen den Glauben an Gott und die Treue zum Evangelium höhergestellt als
ihr eigenes Leben.

Märtyrer sind Glaubenszeugen. Nicht Lebensverachtung, nicht Todessehnsucht, nicht Visionen


vom Paradies treiben sie in den Tod. Sie sterben durch die Gewalt derer, denen ihre
Überzeugung ein Dorn im Auge ist. Zu Tode kamen Christen im alten Rom, weil ge dem Kaiser
Anbetung verweigerten; im Mittelalter, weil sie ihrer Kirche das Evangelium vorhielten; in der
Kolonialzeit, weil sie sich weigerten, das Schwert der Eroberer zu segnen. Zu Tode kommen sie
bis heute, weil ihre Treue zu Gott und den Menschen der herrschenden religiösen oder
staatlichen Ideologie widerspricht.

Am Westportal der Londoner Westminster Abbey erinnert ein Fries an zehn Märtyrer des 2o.
Jahrhunderts. Unter ihnen sind Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und Oscar Romero. Sie
stehen für viele Namenlose, die ihre Treue zum Evangelium im Eintreten für die Rechte ihrer
Mitmenschen bezeugten. Nicht aus Selbstherrlichkeit taten sie das; oft wurden sie von Zweifeln
verfolgt.

"Wer bin ich?", fragte Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis Hitlers und vertraute dem Gedicht seine
bohrenden Fragen an. Seine Sehnsucht galt dem Leben, nicht dem Tod. An der Schwelle zu
einem neuen Jahr dichtete er:

"Doch willst du uns noch einmal Freude schenken


an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann woll'n wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz."

Im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, heißt es: "Sei getreu bis in den Tod, so
will ich dir die Krone des Lebens geben." Wenn Menschen heute aus Glaubenstreue in den
Krisengebieten unserer Welt Dienst tun, wenn sie sich in Krankenstationen und Flüchtlingslagern,
in Elendsvierteln und Notunterkünften für andere einsetzen, leuchtet diese Verheißung auf.

Das Martyrium ist nicht eine Verherrlichung des Todes. Es bezeugt das ja zum Leben. Wer so
das eigene Leben einsetzt, ist ein Märtyrer.

Prof. Dr. Wolfgang Huber ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische
Oberlausitz und Herausgeber des Magazins chrismon.

Entnommen dem Magazin chrismon, Ausgabe 11/2009

---

Erich Sauer

DER TRIUMPH DES GEKREUZIGTEN

- Ein Gang durch die neutestamentliche Offenbarungsgeschichte -

Erster Teil: Das Erscheinen des Welterlösers

Zweiter Teil: Die Gemeinde der Erstgeborenen

Dritter Teil: Das kommende Gottesreich

Vierter Teil: Weltvollendung und Himmlisches Jerusalem


- Hier Teil Zwei, mit ganz geringen Kürzungen. Die Hervorhebungen im Text habe ich
vorgenommen. Horst Koch, Herborn, im November 2009 -

Teil Zwei: DIE GEMEINDE DER ERSTGEBORENEN

I. Abschnitt Die Berufung der Gemeinde

1. Kapitel. DAS NEUE VOLK GOTTES

Durch die Welt schreitet die Botschaft vom Kreuz. Das gegenwärtige Zeitalter ist von besonderer
Bedeutung. Sein Zweck ist die Berufung der Gemeinde. Daraufhin ist alles in ihm angelegt.

I. Das Ziel der Berufung

Das Programm für die Jetztzeit ist nicht Umwandlung der Menschheit und Schaffung christlicher
Völker, - dies wird erst im sichtbaren, kommenden Gottesreich geschehen, Jes. 2, 3; 19, 21-25 -
sondern: »aus ihnen ein Volk zu nehmen für seinen Namen« (Apg. 15, 14 vgl. Tit. 2, 14; 1. Petr.
2, 9), nicht Christianisierung der Rassen, sondern Evangelisierung der Rassen zum Zweck der
Berufung eines übernationalen Gottesvolkes (Matth. 28, 19; Mark. 16, 15). »Da ist nicht Jude
noch Grieche, nicht Sklave noch Freier,. . . sondern allzumal einer in Christo Jesu (Gal. 3, 28;
Kol. 3, 11).

So aber entsteht, an Stelle der bisherigen Zweiteilung, eine Dreiteilung der Menschheit (1. Kor.
10, 32!), und zu Israel und den Weltvölkern tritt die Gemeinde als das »dritte Geschlecht« hinzu.
Fortan ist jeder, der nicht »Christ« ist im Sinne des Neuen Testaments (Apg. 11, 26), entweder
Jude oder Heide. Eine vierte Möglichkeit besteht nicht. - Eine allgemeine (Namen)-Christenheit
hat im Neuen Testament keine Berechtigung. Sie ist Abfall vom Christentum und überhaupt nur
eine »ungeheure Sinnestäuschung« (Kierkegaard). Vgl. Off. 3, 1; Jes. 29, 13.

Dies neu zu gewinnende Gottes»volk« nennt die Schrift »Ekklesia« (Eph. 1, 2-2; 3, 10). Es ist die
durch die »Heroldsbotschaft« des Evangeliums (1. Tim. 2, 7) aus Juden und Heiden (Eph. 2, 11-
22) »herausberufene« Schar der Erlösten, die, im Genuß des himmlischen Bürgerrechts (Phil.
3,20) dereinst die »gesetzausführende Versammlung« des Himmelreichs sein wird (1. Kor. 6, 2)
(Das griechische Wort »ecclesia« kommt sprachlich von »ek« (heraus) und »kaleo« (rufen) her.

Ihr Ziel ist ihre Erhöhung und Verherrlichung in Christo. Sie lebt vom Himmlischen, im
Himmlischen, zum Himmlischen hin; ihr Weg ist ewig, ihr Wesen Ewigkeit.

»Ekklesia« hatte im Alten Bunde schon Israel geheißen. Ungefähr einhundertmal kommt das
Wort in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, vor, also fast
genau so oft wie im Neuen Testament. Fast überall ist es die Wiedergabe des hebräischen
Wortes »kahal«. Dieses bedeutet zwar zunächst ganz allgemein jede Art von »Versammlung«,
hat aber einen besonderen Sinn durch seine Zuordnung zu Jahwe (Jehovah), dem Gott Israels,
erhalten. »Kahal Jahwe«, »Ekklesia Gottes«, ist Israel als berufenes, versammeltes
»Gottesvolk«. Seine anschaulichste Darstellung in diesem seinem Charakter findet es in der
Wüste. »Um die Stiftshütte herum liegen wohlgeordnet die Zelte des zwölfstämmigen Volkes. Auf
den >Ruf< der Herolde hin >versammelt< es sich auf dem Platz vor der Hütte. Hier steht es als
das Volk Gottes da, um die Befehle und den Segen seines Gottes zu empfangen«. Auch im
Neuen Testament wird Israel als »Ekklesia« bezeichnet (Apg. 7, 38). Es ist das Wort für die
ideale Einheit Israels als des auserwählten Volkes, auch wenn es räumlich als Kultgemeinschaft
nicht »versammelt« war (2. Mose -16, 3; 4. Mose 15, 15).

Aber Israel als nationale Gesamtheit beschritt gar zu bald den Weg des Abfalls. Es verlor seinen
praktischen Charakter als »Volk Gottes«. Es wurde »Lo Ammi«, das heißt, »Nicht-mein-Volk«
(Hos. 1, 9). Nur ein Bruchteil, die kleine Schar der Treuen, blieb ihrem Gott ergeben. Sie wurde
darum der heilsgeschichtliche Kern des Volkes, der Träger seiner Berufung, das eigentliche
Israel, das wahre Volk Gottes, die tatsächliche und wesenhafte Verkörperung des
alttestamentlichen Ekklesia-Gedankens. An sie richteten sich darum auch alle Verheißungen des
Gottesreiches.

Während die Gesamtheit des ungläubigen Israel dem Gerichtsurteil verfällt, wird die Schar der
Getreuen als »Überrest« aus den Gerichten gerettet. Zugleich wird sie zur Grundlage der
Durchführung und Vollendung des Planes eines Gottesvolkes. (Micha 2,12). »Überrest« ist
darum bei den Propheten geradezu die Sonderbezeichnung geworden für das Gottesvolk, die
Ecclesia der Endzeit (Jes. 10, 20). Als solches ist sie übrigbleibender »Wurzelstock«, »heiliger
Same«, aus dem neues Leben ersprießt (Jes. 6, 13), »kleine Herde«, die einst das große Reich
empfängt (Micha 2, 12; Luk. 12, 32). Die Existenz und Geschichte dieses wesenhaften Kerns der
alttestamentlichen »Ekklesia« ist darum die Voraussetzung und Vorbereitung eines endzeitlichen
Gottesvolkes.

Dieses endzeitliche Volk Gottes zu sein, behaupten die Christen. Sie sind das Ziel der
alttestamentlichen Geschichte (1. Kor. 10, 11) die messianische Gemeinde der Endzeit, die
Erretteten der »letzten Tage«. Und dies ist der Grund, warum sie sich nicht mit irgendeiner
andern, zur Verfügung stehenden religiösen Gemeinschaftsbezeichnung benannten, sondern
gerade mit dem Wort »Ekklesia«, also mit dem Namen der alttestamentlichen
Glaubensgemeinde, deren heilsgeschichtlicher Kern, Träger und Verkörperung der »Überrest«
der Getreuen war., Was damit ausgedrückt war, war nichts Geringeres als dies: Wir sind das
Gottesvolk der Endzeit, das im Alten Testament erstrebte Volk des »Überrests«, die endzeitliche
Rettungsgemeinde der Vollendung. - Die ersten Christen taten damit nicht mehr und nicht
weniger als Paulus, der von den Christen sagt, daß sie der Israel dem Geist nach, der Israel
Gottes (Gal, 6, 16 vgl, 1. Kor. 10, 18; Gal. 4, 29), die (wahre) Nachkommenschaft Abrahams
seien (Gal. 3, 29), als Petrus, der die Ehrentitel von 2. Mose 19, 6 und Jes. 43, 21 auf die
Christengemeinschaft überträgt und sie nennt: >auserwähltes Geschlecht, königliches
Priestertum, heilige Nation, Eigentumsvolk< (l. Petr. 2, 9) ... Das Tun des Herrn selbst mußte
seinen Jüngern diese Auffassung nahebringen. Denn die Auswahl von gerade zwölf Jüngern zu
Aposteln konnte von ihnen nicht anders gedeutet werden, als daß sie, wie einst die zwölf
Patriarchen, Stammväter eines neuen Volkes sein sollten. Das Abendmahl war, wie das Passah,
die große Volksmahlzeit und die Taufe die Parallele zum Durchzug durch das Rote Meer« (1.
Kor. 10,1).

Die Sammlung dieser Gemeinde, der »Gemeinde der Erstgeborenen« (Hebr. 12, 23), ist der
eigentliche Hauptzweck des gegenwärtigen Zeitalters. Sein Sinn ist kein geringerer als die
Schaffung einer Königsfamilie, der Herrschaftsaristokratie für die kommenden Reichsäonen (1.
Kor. 6, 2; 3). »Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch
das Reich zu geben« (Luk. 12, 32).

II. Der Beginn der Berufung

In den Erdentagen des HErrn Jesu war die Gemeinde im neutestamentlichen Vollsinn noch nicht
da. Darum spricht Christus von ihr als noch zukünftig und sagt: »Ich werde meine Gemeinde
bauen« (Matth. 16, 18). Erst zu Pfingsten wurden die Gläubigen »durch einen Geist zu einem
Leibe getauft« (1. Kor. 12, 13). Darum ist Pfingsten der Geburtstag der Gemeinde.

Dennoch geschah dieser Neuanfang zunächst auf durchaus jüdischem Volksboden. Nur
Israeliten waren die Empfänger des Geistes und nur Juden und Judengenossen (d.h. Prosely
ten) die Hörer ihrer Predigt (Apg. 2, 5-11). Auch in der Folgezeit waren es nur Angehörige der
israelitischen Nation und ganz oder teilweise zum Judentum übergetretene andere, die in die
Gemeinde aufgenommen wurden (Apg. 3, 12; 26; 6, 1; 8, 26-40). Eine eigentliche Heidenmission,
wo die Heiden als Vollheiden getauft werden konnten, gab es noch nicht. Alles geschah unter
Angliederung und Beiordnung an Israel. Darum ist Pfingsten noch nicht allseitig der Beginn des
gegenwärtigen Zeitalters. Ihm fehlt noch die weltumfassende Weite. Es liegt noch in der
Übergangszeit aus der alten in die neue Haushaltung.

Ja, noch nach Pfingsten vollzog Petrus sogar ein ausdrückliches Heilsangebot auf dem Boden
der israelitischen Nation. »So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden ausgetilgt
werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des HErrn und er den euch zuvor
verordneten Jesus Christus sende, welchen freilich der Himmel aufnehmen muß bis zu den
Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von welchen Gott durch den Mund seiner heiligen
Propheten von jeher geredet hat« (Apg. 3, 19-21). Hier also läßt Gott durch Petrus dem Volk
Israel verkünden, daß, falls sie noch jetzt Buße tun wollen, er ihnen den Messias vom Himmel
herabsenden würde und mit ihm die »Zeiten der Erquickung« und die »volle Verwirklichung« alles
dessen, wovon er im Alten Bunde geredet hatte, d. h. das sichtbare Gottesreich der Prophetie.
Also noch nach Pfingsten befindet sich die neutestamentliche Heilsbotschaft durchaus auf
israelitischem Volksboden, und die dann folgende Beiseitesetzung Israels kam nicht eigentlich
schon wegen der Verwerfung des Messias in den Tagen seines Erdenlebens zustande (vgl. Apg.
3, 17), sondern in endgültiger und entscheidender Weise erst wegen der Verwerfung des Heiligen
Geistes, der ihnen den gen Himmel gefahre nen und erhöhten Messias verklärt hatte (vgl. Matth.
12, 32).

Schließlich hat Israel sogar den »mit heiligem Geist erfüllten« Zeugen der Auferstehung (Apg. 7,
55; 6, 5; 8; 10), Stephanus, ermordet und damit selber das Wort dieses Blutzeugen bestätigt: »Ihr
Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren, ihr widerstrebet allezeit dem heiligen
Geist, wie eure Väter also auch ihr« (Apg. 7, 51).

Dann aber, seitdem Petrus dem unbeschnittenen Kornelius in Cäsarea die Tür des
Himmelreiches aufgeschlossen hatte (Apg. 10) und der Geist Gottes als die »gleiche Gabe«
(Apg. 11, 17) und »in derselben Weise« (Apg. 15, 11), ohne Unterschied auch auf die
glaubenden Vollheiden gekommen war, hatte Gott den heilsgeschichtlichen Unterschied
zwischen »Rein« und »Unrein« aufgehoben (Apg. 10, 11-16) und die trennende »Zwischenwand
der Umzäunung« zwischen Juden und Heiden auch geschichtlich hinweggetan.
Erst von da an waren die Heiden - auch ohne Angliederung an Israel - des gleichen Heiles voll
mitteilhaftig (Eph. 2, 16-22; Röm. 15, 27; Apg. 28, 28). Da aber nun gerade die Heidenberufung
zum Grundwesen der Ekklesia gehört, muß gesagt werden, daß die Haushaltung der Gemeinde
ihren allumfassenden Vollanfang nicht in Jerusalem (Apg. 2), sondern in Cäsarea (Apg. 10), noch
genauer im Hause Simons des Gerbers in Joppe, genommen hat. (Wo Petrus seine
grundlegende Offenbarung bekam (Apg. 10, 5). Abgeschlossen wurde diese Übergangszeit
zuletzt durch die Offenbarungen an Paulus, dem in besonderer Weise die lehrhafte Entfaltung
dieses Geheimnisses (Eph. 3, 1-7) und die evangelistische Verkündigung der Heilsbotschaft in
der Völkerwelt anvertraut war (Eph. 3, 8), »Den Juden zuerst« und dann auch die Griechen - das
war, wie die Missionspraxis des Paulus im einzelnen, so auch der allgemeine Gang der
Heilsgeschichte in der Gesamtheit (Röm. 1, 16; Apg. 13, 46).

Zugleich aber bedeutet die Gleichstellung der Heiden mit dem alttestamentlichen Bundesvolk die
Ausschaltung der jüdischen Vorrechtstellung und die Beiseitesetzung Israels als Nation (Röm.
11, 25). (Vom Standpunkt der nationalen Heilsgeschichte Israels aus gesehen ist das
gegenwärtige Zeitalter also eine »Einschaltung«).

Nun können die Heiden aus dem offenen Heilsbrunnen trinken, ohne vorher die jüdische
Schöpfberechtigung erlangt zu haben. Israel ist zum Teil »Verstockung« widerfahren (Röm. 11,
25), doch sein »Fall« ist der »Reichtum der Welt« (Röm. 11, 11). Die »Fernen« sind »nahe«
geworden (Eph. 2,11); die gläubigen Heiden sind gleichberechtigt mit den gläubigen Juden. Sie
sind »Miterben, Mitleib und Mitteilhaber der Verheißung« (Eph. 3, 6). Sie sind »Mitbürger der
Heiligen« (Eph. 2, 19), ihrer »geistlichen Güter mitteilhaftig« (Röm. 15, 27) und mit ihnen
zusammen der »eine neue Mensch«, der »Leib« Christi (Eph. 2, 16). In der Gemeinde aber
herrscht nun kein Unterschied mehr.

III. Das »Geheimnis« der Berufung

Kein alttestamentlicher Prophet hatte je diesen Wunderbau klar geschaut (1. Petr. 1, 10; Matth.
13, 17). Obwohl ewig »in Gott« beschlossen (Eph. 3, 9), war sein Aufbau »von den Äonen her«
als »Geheimnis« verschwiegen (Röm. 16, 25; Eph. 3, 5; 1. Kor. 2, 7). Nirgends ist darum auch im
Alten Testament die Gemeinde in ihrem neutestamentlichen Charakter unmittelbar zu finden. Erst
seit Pfingsten, seit der Sendung des Petrus nach Cäsarea und vor allem seit den unabhängig
davon gegebenen Offenbarungen an Paulus war das Geheimnis der neutestamentlichen
Zusammensetzung der Gemeinde, »den Menschenkindern kundgetan« (Eph. 3, 5). Von nun an
wird es durch »prophetische Schriften« bekanntgemacht (Röm. 16, 26; Eph. 2, 20), und die
Verkündiger des Evangeliums sind »Verwalter der Geheimnisse Gottes« (1. Kor. 4, 1).

Ihre Grundlage ist das Werk Christi.- »Das Geheimnis der Gottseligkeit« (1. Tim. 3, 16);
ihr Bau - die Gemeinde: »Das Geheimnis des Chri stus« (Eph. 3, 3; 4; 9; 2, 11-22)
ihr Genuß - seine Gemeinschaft: Das »große« Ge heimnis der Liebe (Eph. 5, 31)
ihre Kraft - seine Innewohnung: Das Geheimnis »Christus in euch« (Kol. 1, 26)
ihre Erwartung - die Verwandlung: Das »Geheimnis« der Entrückung (1. Kor. 15, 51).

Aber genau genommen ist das »Christusgeheimnis« von Eph. 3 nicht die Gemeinde an sich,
sondern die gleichberechtigte Zugehörigkeit der gläubigen Heiden innerhalb der Gemeinde: »Daß
die aus den Nationen mit den Gläubigen aus Israel Miterben seien und Mitleib und Mitteilhaber
seiner Verheißung in Christo Jesu« (Vers 6).

Paulus sagt, er habe dies Geheimnis soeben beschrieben, und schaut damit auf Eph. 2, 13-19
zurück. Auch dort hatte er von der Unterschiedslosigkeit zwischen Juden und Heiden hinsichtlich
der Heilszulassung und der Gleichberechtigung dieser beiden als geistlicher Einheit in dem »e i n
e n Leib« Christi, dem »e i n e n neuen Menschen«, gesprochen, so daß nunmehr, nach dem
»Abbrechen« des Gesetzes, dieser »Zwischenwand der Umzäunung«, die einst »fernen« Heiden
»nahegebracht« sind und, zusammen mit den »Nahen«, den christusgläubigen Israeliten, eine
organische Einheit untereinander und mit Christo bilden. Das »Christusmysterium« hier ist also
nicht die Existenz des mystischen »Christus« an sich, d. h. die Existenz des Organismus der
Ekklesia, auch nicht einmal die organische Einheit der »Glieder« untereinander und mit dem
»Haupt«, sondern die unterschiedslose Teilnahme der Heiden an dieser Ekklesia. Es bezieht sich
also weniger auf die gläubigen Juden als auf den heidenchristlichen Teil der Ekklesia. Daß die
Judenchristen mit dem Erlöser in einem organischen Lebensverhältnis sein würden, hatte
Christus selbst schon vorher gesagt mit dem Bild eines »Weinstocks« (Joh. 15, 1). Nicht aber auf
das Bild, sondern die übersinnliche, geistliche Realität kommt es an, und diese ist von Christus
klar ausgesprochen worden.

Ausgehend von der Stelle Eph. 5, 32 ist gelehrt worden, Paulus bezeichne die Gemeinde selbst
als »das große Geheimnis«. Dies ist, genau genommen, jedoch hier nicht der Fall. Das
»Geheimnis«, von dem der Apostel hier spricht, ist nicht die Gemeinde, sondern die
Liebesbeziehung zwischen der Gemeinde und Christus, die im Verhältnis der Ehe ihr
menschliches Abbild hat. »Deswegen wird ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen
und seinem Weibe anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein. D i e s e s Geheimnis ist
groß. Ich aber sage es in bezug auf Christus u n d die Gemeinde.« - Über die Frage, wieweit die
Planung der Existenz einer aus Judenchristen und Heidenchristen bestehenden Gemeinde im
Alten Testament verborgen gewesen war, spricht der Apostel an dieser Stelle nicht. -

Und wenn auch in der Gegenwart die Völkerwelt tobt, wenn in Israel das »Geheimnis« der
Verstockung« (Röm. 11, 25) und in den Nationen das »Geheimnis der Gesetzlosigkeit« wirkt (2.
Thess. 2, 7; Off. 17, 5): Das Ziel ist gewiß: Gott wird einst alles unter ein Haupt
zusammenbringen (Eph. 1, 9; 1. Kor. 15, 28). Dies ist das »Geheimnis seines Willens« (Eph. 1,
9), sein einst ewig triumphierendes Endziel (Phil. 2, 10).

Bis dahin aber predigen wir den gekreuzigten Christus und machen den »Geruch seiner
Erkenntnis« überall offenbar (2. Kor. 2, 14). Unsere Botschaft ist

ihrem Ursprung nach: »Geheimnis Gottes« (Kol. 2, 2),


ihrer Vermittlung nach: »Geheimnis Christi« (Kol. 4, 3),
ihrer Verkündigung nach: »Geheimnis des Evangeliums« (Eph. 6, 19),
ihrem Erlebnis nach: »Geheimnis des Glaubens« (1. Tim. 3,9).

Der Glaube aber ist der Schlüssel zu all diesen Geheimnissen Gottes. Für ihn sind die
»Geheimnisse« keine bloßen Verborgenheiten mehr; denn »der Geist erforscht alles, auch die
Tiefen der Gottheit« (1. Kor. 2, 10).

IV. Der Eintritt in die Berufung

Wunderbar ist die Erlösung. Wunderbar ist auch der Eintritt in das Heil. Der Sünder erlebt alle
drei Ämter des Erlösers in ihrer eigenen, geschichtlichen Reihenfolge:

das prophetische - in seiner Berufung und Erleuchtung,


das priesterliche - in seiner Bekehrung und Rechtfertigung,
das priesterlich-königliche - in seiner Heiligung und Verherrlichung.

Zuerst erlebt er das Prophetische:

1. Die Hinführung zum Heil, die Berufung durch sein Wort und die Erleuchtung durch seinen
Geist. »Der Glaube kommt aus der Predigt« (Röm. 10, 17). Der unter der Anklage des
aufgerufenen Gewissens erschrockene, unter dem Wort Gottes zusammengebrochene, sich
selbst verurteilende Mensch darf im Evangelium von Christo das Heilsangebot erkennen. Dann
kommt das Priesterliche, das Erlebnis von Golgatha.

2. Der Eintritt in das Heil durch Bekehrung und Wiedergeburt. Der Sünder empfängt die
Vergebung seiner Schuld auf der Grundlage des priesterlichen Opfers, wird erneuert (Tit. 3, 5)
und umgewandelt (1. Kor. 6, 11), »lebendig gemacht« (Eph. 2, 5) und »aus Gott geboren« (1.
Joh. 3, 9).

Wiedergeburt ist darum der eigentliche Eintritt in die Erlösung (Tit. 3, 5). Sie ist das Gegenstück
zur Menschwerdung Christi, die Mitteilung seines Lebens an uns, die Toten (Kol. 1, 27). Nur in ihr
werden wir »neue« Menschen (Eph. 4, 24; Kol. 3, 10).

Aber die Wiedergeburt ist unzertrennbar mit »Bekehrung« verbunden (Apg. 3, 19). Wiedergeburt
ist die göttliche, Bekehrung die menschliche Seite desselben Erlebens. Beides erlebt der Mensch
gleichzeitig; aber die Bekehrung ist die Bedingung der Wiedergeburt, und die Wiedergeburt ist die
göttliche Antwort auf die Bekehrung. Die Bekehrung ist gleichsam die letzte Tat des alten, die
Wiedergeburt die erste Erfahrung des neuen Menschen. Für die Bekehrung ist der Mensch
verantwortlich; die Wiedergeburt ist Gottes Werk.

Die Bekehrung ist in sich ein Doppeltes: Abkehr und Hinkehr, Buße und Glaube. Bei dem allem
aber ist die Bekehrung ein vornehmlich ein maliger Akt. Alle neutestamentlichen Bekehrungen
sind plötz liche und grundlegende. Der Mensch ist aus dem Tode ins Leben »hinübergegangen«
(Joh. 5, 24). Sein Leben kennt nun ein »Einst« und ein »Jetzt« (Eph. 2, 2). Sinnbildlich dargestellt
wird dieser Umbruch in der urchristlichen Taufe, dem Bekenntnis des Mitgestorbenseins und
Mitauferstandenseins des Gläubigen mit Christo (Röm. 6, 1-11).

Die Buße ist eine Dreieinheit:

im Verstand - Erkenntnis der Sünde,


im Gefühl – Schmerz und Trauer,
im Willen – Sinnesänderung (grch. metanoia) und Umkehr.

Als Ganzes ist sie ein Zur-Einsicht-Gelangen, eine Verzweiflung an sich selbst, eine Aufgabe
aller Selbsterlösung (Röm, 7, 24).

Auch der Glaube ist eine Dreieinigkeit:


im Verstand – das Überzeugtsein von der vollbrachten Erlösung,
im Gefühl - das Vertrauen auf die rettende Liebe,
im Willen - die Hingabe an den persönlichen Heiland.

So ist der Glaube die Hand des Menschen, die die Hand Gottes ergreift, keine Gefühlssteigerung,
keine Selbstzerquälung, kein Abbüßen der Schuld, sondern ein persönliches Verhältnis zu
Christus (Joh. 6, 29), ein bewußtes Annehmen seiner Gnade.

Erst dann, wenn dies alles vorhanden ist, kann das Erlebnis des königlichen Amtes beginnen:

3. Die Bewahrung und Weiterführung im Heil, die »Heiligung«. Wer »gerechtfertigt« ist, ist noch
nicht »fertig gerecht«. Die »Heiligen« Gottes müssen »geheiligt« werden. Der in der
Wiedergeburt eingepflanzte »neue« Mensch im Menschen soll als ein Ausgangs- und Keimpunkt
den ganzen Menschen erobern. Nur so kann der Erlöser die Verklärung vollenden.

Alle Seelen, die diese Heilsordnung erfahren, stehen im »Lebensbuch des Lammes«. Sie sind

zuvorerkannte Menschen - denn das Lebensbuch besteht »seit Grundlegung der Welt« (Off. 13,
8; 2. Mose 32, 32)

bluterkaufte Menschen - denn es ist das Buch des »Lam mes« (Off. 21, 27)
wiedergeborene Menschen - denn es ist das Buch des »Le bens« (Off. 20,:15)
glückselige Menschen - denn ihre Namen stehen im Him mel (Luk. 10, 20)
heilige Menschen - denn alle Eingeschriebenen werden »heilig« heißen (Jes. 4,3)
zeugenfrohe Menschen - denn sie trotzen selbst dem Anti christ (Phil. 4,3)
siegreiche Menschen - denn sie sind Über-winder (Off. 3, 5)
verherrlichte Menschen - denn sie gehen ein in die himmli sche Stadt (Off. 21, 27).

2. Kapitel. DER VÖLKERAPOSTEL

Von besonderer Bedeutung für die Berufung der Gemeinde war Paulus. Er war -
kirchengeschichtlich gesehen - bei aller Wertschätzung der anderen, »der Erste nach dem
Einen«. Jesus war der »Eine«, der Grundlegende, Unvergleichliche, Unübertreffbare. Paulus war
der »Erste«, der Herold, der Hauptbahnbrecher des Evangeliums in den Weiten der Völkerwelt.

I. Seine missionarische Sendung

Vier äußere Kennzeichen sind die besonders charakteristischen Merkmale seiner


Missionstätigkeit.

1. Paulus war Heidenmissionar. Das war er in harmonischem Unterschied zu den Aposteln der
Beschneidung (Gal. 2, 7-10; Apg. 15). Ihm war es in besonderer Weise gegeben, »den
unausforschlichen Reichtum Christi unter den Nationen zu verkündigen« (Eph. 3, 1; Kol. 1, 25 -
27).

2. Paulus war Pioniermissionar. Als solcher hatte er die Heilsbotschaft in immer neue Länder
einzuführen. Darum geht er vornehmlich dahin, wo das Evangelium noch nie vorher bezeugt
worden war. Die eigentliche evangelistische Durcharbeitung seiner Missionsgebiete überließ er
den neu gewonnenen Gläubigen. Seine Aufgabe bestand darin, Lichtzentren zu schaffen, das
heißt, missionarisch gesinnte Ortsgemeinden - meist in den Hauptstädten -, die das Licht des
Evangeliums hinauszustrahlen hatten in die sie umgebenden Landesteile. War ein solches
Zentrum entstanden, so zog Paulus weiter. Dann hatte er, trotz Hunderttausender umwohnender
Heiden, in dem betreffenden Land »nicht mehr Raum« (Röm. -15, 23), sondern hatte in ihm »das
Evangelium des Christus völlig verkündigt« (Röm. 15, 19). Alles andere war ihm, von dieser
seiner besonderen Dienstberufung aus, ein »Bauen auf eines andern Grunde« (Röm. -15, 20). Im
ganzen ist Paulus über 25 000 Kilometer gereist.

3. Paulus war Großstadtmissionar. Die Mittelpunkte seiner Missionstätigkeit waren die


hellenistischen, großen Kulturzentren. Namen wie Antiochia, Troas, Philippi, Thessalonich,
Athen, Korinth, Ephesus beweisen dies zur Genüge. Daher auch sein Streben nach Rom, der
»Versammlung des Erdkreises«, der Metropole des Weltreichs (Röm. 1, 11; 15, 23). - Während
Jesus, der die meisten seiner Reden unter freiem Himmel zu Bauern und Kleinstadtbewohnern
hielt, eine mehr ländliche Bildersprache gebraucht, hat Paulus, der Großstadtmissionar, in
ausgesprochenem Maße eine Großstadt-bildersprache. Er will nicht nur ganz allgemein »den
Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche« sein, sondern auch ganz insbesondere den
Großstädtern ein Großstädter.
Jesus spricht mehr von den Vögeln des Himmels, den Lilien auf dem Felde, dem Hirten, dem
Sämann, dem Erntefeld, Paulus aber mehr von dem Freispruch des Richters, dem Schuldenerlaß
des Gläubigers, der Waffenrüstung des Soldaten, ja, er zieht sogar Vergleiche aus dem Sport-
und Theaterleben heran (Phil. 3, 14). Alles soll ihm eben helfen, den Großstädtern das
Evangelium klarzumachen und ihre Herzen zu erreichen.

Daher seine zentralen Hauptbilderkreise, die alle dem Juristischen entstammen: der Freispruch,
der Loskauf, der Schuldenerlaß, die Adoption. Auch für die Weltanschauung, Dichtkunst und
Philosophie seiner nichtchristlichen Großstadtumgebung hat er ein offenes Auge (Apg. 17,
16-29), ja sogar für die örtlichen Besonderheiten an Religion und Kultur. So wie er in Athen zu
den Athenern von »ihrem« Altar spricht (Apg. 17, 23), so weist er die Korinther auf die bei Korinth
stattfindenden »Isthmischen Spiele« hin (l. Kor. 9, 24-27). Paulus war eben kein papierner
Dogmatiker, kein Büchergelehrter und weltfremder »Theologe«, sondern er war ein für seine Zeit
durchaus moderner Mensch, ein Mann aus der Großstadt (Tarsus, Apg. 21, 39).

4. Paulus war Hafenstadtmissionar. Überblickt man aber diese Großstädte genauer und
insbesondere ihre geographische Lage und Bedeutung, so erkennt man: In der Hauptsache ist
die Welt des Apostels da zu suchen, wo der Seewind weht. Besonders ist es der Ägäische
Bezirk, dessen rund herum liegende Hafenstädte von seiner Missionstätigkeit erfaßt wurden. Der
Grund war offensichtlich. Hafenstädte waren schneller zu erreichen als tief im Landinneren
gelegene Provinzstädte. Auf dem Seewege kam man rascher und zuverlässiger vorwärts. So fuhr
man z. B. in vier Tagen von Spanien, in zwei Tagen von Afrika nach Rom-Ostia (nach Plinius).
Zwischen Alexandria und Kleinasien bestand tägliche Schiffsverbindung.

Und in Hafenstädten war die griechische Weltverkehrssprache viel weiter verbreitet als sonst in
der Welt. Damit aber fiel für den Bahnbrechermissionar das zeitraubende Hemmnis des
Sprachenlernens fort, und der Siegeszug des Evangeliums konnte mehr als doppelt so schnell
vorwärtsgehen.

Von Hafenstadtgemeinden konnte sich das Evangelium auch später, nach der Weiterreise des
Apostels, viel schneller ausbreiten als von Gemeinden mehr innergelegener Landbezirke.
Durchreisende Kaufleute, Hafenbesucher, Seefahrer und sonstige Reisende, die bei einem
solchen Hafenstadtaufenthalt vom Evangelium erfaßt worden waren, konnten, gleichsam ganz
von selbst, auf ihrer Weiterreise oder nach ihrer Rückkehr in ihr Heimatland, zu immer neuen
Bahnbrechern der Heilsbotschaft in stets neuen Ländern und Gegenden der Welt werden.

5. Die paulinische »Missionsstrategie«. Mit Recht hat man geradezu von einer
»Missionsstrategie« des Apostels gesprochen. Alles ist so planmäßig, so grundsätzlich
zweckdienlich, so von vornherein auf schnellste und ausgedehnteste Ausbreitung des
Evangeliums angelegt, daß man eine zielbewußte Planung, die allen Missionsbewegungen des
Apostels zugrunde gelegen haben muß, gar nicht verkennen kann.

Bei dem allen aber war nicht Paulus der Planende, sondern der Herr, dem er diente.
Bezeichnend hierfür ist schon das Traumgesicht in Troas, durch das der Apostel, ohne eigenen
Antrieb und selbständige Erwägungen, nach Mazedonien und Griechenland gerufen wurde (Apg.
16, 8-11), so daß nunmehr, nur auf Grund göttlicher Weisung, nicht der Osten, sondern die
westliche Völkerwelt zum Hauptschauplatz der Wunder des Evangeliums gemacht wurde. Es
konnte aber auch geschehen und ist geschehen, daß Paulus gewisse Reisebewegungen geplant
hatte, aber: »der Geist Jesu erlaubte es nicht« (Apg. 16, 6), und Paulus folgte der göttlichen
Initiative. So ist es durchaus richtig, von einer Missionsstrategie im Leben des Paulus zu reden;
aber der Missionsstratege war nicht Paulus, sondern Christus, der Herr der Mission. Christus war
der Führende, Paulus der Ausführende; Christus war der Feldherr, Paulus sein Soldat (2. Tim. 2,
3; 4; 2. Kor. 6, 7; Eph. 6, 10-20).

Zu diesen mehr äußeren Kennzeichen seiner Missionstätigkeit treten noch innere Wesenszüge
seiner Lehrverkündigung.

II. Seine lehrmäßige Botschaft

1. Der heilsgeschichtliche Ausgangspunkt. Im Zentrum der Menschheitsgeschichte steht Jesus


Christus. Zwar in Israel geboren, war er doch »Heiland der Welt« (Joh. 4, 42). In ihm gelangt die
Abrahamsverheißung vom Segen für alle Völker zur Vollendung (1. Mose 12, 3). Der
vorübergehend eingeschaltete Nationalismus der alttestamentlichen Offenbarung wird durch
Christus und sein Werk zum Universalismus der neutestamentlichen Heilsbotschaft ausgeweitet.
Das Kreuz ist, als Erfüllung der alttestamentlichen Opfer, zugleich Abschaffung des Priestertums
und des Gesetzes (Hebr. 10, 10-14) und damit Aufhebung der trennenden »Zwischenwand«
zwischen Israel und den Weltvölkern. Jetzt ist das Heil für alle offen.

Diese weltumfassende Bedeutung des Kreuzes trat erst nach Pfingsten geschichtlich klar in die
Erscheinung. Das epochemachende Hauptereignis in dieser Entfaltung von Golgatha ist die
Sendung des Petrus zu Kornelius in Cäsarea. Darum ist es in der biblischen
Geschichtsdarstellung zugleich das am ausführlichsten geschilderte Geschehnis der ganzen
Apostelzeit. In den Ereignissen selbst ist eine auffallende Häufung übernatürlicher Geschehnisse:
das Gesicht des Kornelius, das dreiteilige Gesicht des Petrus, die Geistesausgießung und die
Bewirkung des den Geistesempfang begleitenden Sprachenredens. Dies alles zeigt, welch
großes Gewicht in diesen Ereignissen liegt und welche hohe Bedeutung der Geschichtsschreiber
in der Ausführlichkeit seiner Darstellung ihnen zuschreibt.

Hier wird zum allerersten Mal ein Vollheide ohne Gesetz und Beschneidung, das heißt, ohne
Anschluß an Israel, nur auf Grund seines Glaubens an das vollbrachte Werk Christi, des Heiligen
Geistes teilhaftig, getauft und in die Gemeinde aufgenommen. Damit wird das, was auf Golgatha
grundsätzlich eingeführt war, zum erstenmal geschichtliche Wirklichkeit. Damit ist die
Unterschiedslosigkeit zwischen Juden und Heiden vor Gott ausgesprochen, die Sonderstellung
Israels beiseitegesetzt und die Gemeinde statuiert. Das Gesicht des Petrus in Joppe und seine
Sendung zu Kornelius in Cäsarea sind also der Beginn eines vollständig neuen Typs des
Christentums, nämlich des völkerchristlichen, gesetzesfreien Typs, der nun ebenbürtig zu dem
judenchristlichen Urtypus hinzutritt. Damit ist gleichzeitig zum erstenmal die neue
Heilsgemeinschaft in dieser übernationalen, heilsgeschichtlich universalen Weite in Erscheinung
getreten. Hier zum erstenmal ist der Grundsatz geschichtlich bestätigt, daß Gott zwischen Juden
und Heiden »keinen Unterschied« macht (Apg. 15, 9) Dies beweist der Satz des Lukas: »Die
Apostel aber und die Brüder, die in Judäa waren, hörten, daß auch die Nationen das Wort Gottes
angenommen hätten« (Apg. 11, 1). Hier zeigt der Ausdruck »die Nationen«, daß man das
Ereignis sofort als ein Prinzip im Großen erkannte, das zugleich allen Heiden gelte. ...

Darstellung und Erweiterung dieses dem Petrus in klarer Form zum erstenmal geoffenbarten
Geheimnisses und der damit zusammenhängenden neu entstandenen heilsgeschichtlichen
Grundfragen war der lehrhafte Sonderauftrag des Paulus. Dazu kam noch Hinzufügung weiterer
auf das Wesen und die Vollendung dieser Gemeinde sich beziehender Einzeloffenbarungen. ...

So war Paulus zwar nicht der erste, dem das Geheimnis der Gemeinde in dieser ihrer
neutestamentlichen Zusammensetzung kundgetan ward; dennoch wurde es ihm später noch
durch direkte Sonderoffenbarung vom Herrn selbst mitgeteilt (Gal. 1, 11; Eph. 3, 3ff.). Dies war
notwendig um der Selbständigkeit seines Dienstes willen und der Autorität seines
Heidenapostolats. Dann aber hat er, unter der Leitung des Geistes, diese neue, große Wahrheit
viel weiter und tiefgehender beschrieben als alle anderen vor oder nach ihm und ist in diesem
Sinne nicht nur der Hauptherold Jesu Christi für die Völkerwelt, sondern zugleich auch der
Hauptlehrer und Prophet für die Gemeinde geworden.

2. Die Zentralwahrheiten der Paulusbriefe. Im Mittelpunkt der paulinischen Botschaft steht Jesus
Christus, und zwar er als der gekreuzigte und auferstandene Heiland. Sein Sühnwerk am Kreuz
bringt die Tilgung unserer Sünden. Sein Leben in der Herrlichkeit ist die Kraftquelle unserer Hei
ligung. Seine »Ankunft« (Parusie) und »Erscheinung« (Epiphanie) ist das Ziel unserer Erwartung.
Durch »Buße« und »Glau ben« tritt der Sünder in seine Gemeinschaft, wird geistlich
»auferweckt« und »lebendig gemacht«. Die Geschichte seines Heilands ist nun seine eigene
Geschichte. Er ist »mitgekreuzigt«, »mitbegraben«, »mitauferstanden« und »mit ihm ins
Himmlische versetzt« (Röm. 6; Eph. 2). So ist der erlöste Erdenmensch »im Himmel« (Phil. 3, 20)
Ein Christ ist ein »Mensch in Christo« (2. Kor. 12,2).

Das Kreuz ist für Paulus also keine bloße Geschichtstatsache der Vergangenheit, sondern stets
schaut er das Kreuz mit der Auferstehung zusammen. Ohne die Auferstehung ist das Kreuz für
ihn kraftlos und leer, ja, Zusammenbruch und Niedergang, ja, katastrophalste Tragödie (1. Kor.
15, 14-19). Nie hat er behauptet, daß er nur das »Kreuz« verkündige, wohl aber, daß er »den
Gekreuzigten« bringe. Ihn aber dann allerdings auch ganz allein: nicht ein Ereignis, sondern eine
Person, nicht rein Vergangenes, sondern einen ewig Gegenwärtigen, eben Christus, den
Erhöhten, der auch in der Herrlichkeit ewig mit seiner Kreuzeserfahrung zusammengeschaut wird
(vgl. Off. 5, 6).

Das ist paulinische Kreuzestheologie. Sie bewegt sich auf dem Boden der Auferstehung.
Karfreitag wird im Sonnenglanz des Ostermorgens geschaut.

Diese Sonne strahlt dann in alle Welt. »Wenn ich erhöht sein werde, will ich sie alle zu mir
ziehen« (Joh. 12, 32), hat Christus selber gesagt, das heißt »Juden und Heiden, ohne
Unterschied der Nation«. Damit ist die Tür geöffnet für die Weltmission des Evangeliums.

Zum erstenmal tritt dies in offensichtlicher Form im Haus des Vollheiden Kornelius geschichtlich
zu Tage. Das trennende Gesetz ist, als erfüllt, beiseitegetan.

Grundsätzlich ist also im Erlösungswerk Christi und der zu den Vorgängen im Haus des Kornelius
führenden Petrusoffenbarung die Aufhebung der Beschneidung und des Gesetzes enthalten.
Wenn aber seit Apostelgeschichte 10 Gesetz und Beschneidung tatsächlich nicht mehr
Bedingung zum Eintritt in das Heil und die Heilsgemeinschaft sind, so entstand ganz von selbst
die große Frage: »Wozu nun das Gesetz?« Da ist es Paulus gewesen - und zwar er unter allen
Aposteln und neutestamentlichen Schreibern vornehmlich -, der dies Problem behandelt und
lehrhaft aufgeklärt hat: Das Gesetz ist als Aufdecker der Sünde (Röm. 3, 20; 7, 7) ein
»Zuchtmeister auf Christus« hin (Gal. 3, 24), indem es dem Sünder seine Schlechtigkeit und
Ohnmacht und damit die Notwendigkeit eines göttlichen Erlösers zeigt. Mit Seinem Erscheinen
kann es darum verschwinden, und so folgt aus dem alttestamentlichen Zweck des Gesetzes die
neutestamentliche Gesetzesfreiheit. Christus ist, als das »Ziel« des Gesetzes, zugleich auch sein
»Ende« (Röm. 10, 4). Dies ist das Grundthema der Kernstücke des Römer- und Galaterbriefes,
besonders Römer 1 bis 8, und Galater 2 - 4.

Ferner lag in der praktischen Gleichberechtigung der Hei den seit Apostelgeschichte 10 die
tatsächliche Beiseitesetzung Israels als Nation. Von nun an hatten die Juden keine
heilsgeschichtliche Vorrangstellung mehr, und die Frage mußte sich notwendig ergeben: »Hat
Gott denn sein Volk nun verstoßen?« Auch dies ist von Paulus - und im Neuen Testament von
ihm allein - behandelt worden, und zwar in jenem heilsgeschichtlichen Mittelstück des
Römerbriefes (Römer 9 - 11), das uns in so einzigartiger Weise in Gottes Weltregierungspläne
hineinschauen läßt.

Gottes Handeln ist frei; darum hat Israel kein Recht, etwas von ihm zu erzwingen (Röm. 9).
Gottes Handeln ist gerecht; darum muß sich Israel wegen seiner Schuld unter sein Gericht
beugen (Röm. 10).
Gottes Handeln ist segenbringend; darum verwandelt er Israels Fall in Segen für die Welt und
einst in volles Heil für es selber. Er wird sein Volk wieder annehmen.

Und wenn weiter grundsätzlich durch Golgatha und praktisch in Apostelgeschichte 10 alle
menschlichen religiösen Leistungen als Voraussetzung für das Heilserleben ausgeschaltet
waren, so daß ein Vollheide ohne vorangegangene, offenbarungsgemäß geordnete
Gottesverehrung, allein durch den Glauben an Christus, zum Heil und zur Gemeinde gelangen
konnte, so war damit zugleich die Frage nach dem Wert alles mensch lichen, religiösen Tuns
überhaupt, aufgerollt. Und auch hier war es Paulus - wiederum er in erster Linie -, der die Antwort
gegeben hat. Dies geschieht in seiner Lehre von der freien Gnade, von der Rechtfertigung ohne
Gesetzeswerke, nur auf Grund des Opfers Christi, allein durch den Glauben. Dies ist das Herz
und das Zentrum der ganzen paulinischen Botschaft, das große Generalthema im Römer- und
Galaterbrief. »So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes
Werke, allein durch den Glauben« (Röm. 3, 28).

Die Art der Behandlung dieser Frage ist bei ihm mitbestimmt durch seine grundsätzliche Stellung
zum religiösen Judentum. Daher der scheinbare Widerspruch zu Jakobus (Röm. 3, 28 vgl. Jak. 2,
24). In Wirklichkeit handelt es sich nicht um einen Widerspruch, sondern einen harmonischen
Gegensatz. Dieser erklärt sich durch den Entwicklungsgang und die vorangegangene
Lebensführung beider Apostel. Paulus, der ehemalige, werkgerechte Pharisäer, sieht das Werk
und die Lehre Christi in ihrem großen Gegensatz zum Pharisäismus, das heißt, zum falschen J u
d e n t u m.

Jakobus dagegen, der Bruder des Herrn (Gal. 1, 19), also großgeworden im engsten Kreis der
Familie Jesu, das heißt, in einer Umgebung von echten Israeliten ohne Falsch, im Kreis des
messiasgläubigen, getreuen »Überrests«, stellt das Werk und die Lehre Christi dar als die
Vollendung des wahren Judentums. Daher betont Paulus bei der Rechtfertigungslehre ihre
Freiheit von allen toten, gesetzlichen Werken; Jakobus dagegen hebt hervor, daß wahre
Rechtfertigung zugleich neues Leben ist und sich daher durch lebendige Werke offenbart. Paulus
schaut also verneinend den Gegensatz zum falschen Judentum; Jakobus betont bejahend die
Verbindung mit dem wahren Judentum.
Daher spricht Paulus von der Freiheit vom Gesetz, Jakobus dagegen vom «Gesetz der Freiheit«
(Jak. 1, 25; 2, 12). Aber im Tiefsten betreiben beide dieselbe Wahrheit. Auch Paulus betont die
Notwendigkeit der Glaubenswerke (Gal. 5, 6; Tit. 2, 7; 3, 1; 1. Kor. 7, 19). Überhaupt, was Paulus
bekämpft, ist nicht so sehr die Ausübung alttestamentarischer Gesetzeseinrichtungen an sich, als
vielmehr das falsche Motiv dabei. Nur dann bekämpft er Beschneidung, Sabbatfeier usw., wenn
man darin Rechtfertigungs- oder Heiligungsmittel erblickt, also in den pharisäischen M i ß b r a u
c h des Gesetzes fällt (Gal. 5, 2; Kol. 2, 16ff. vgl. 1. Tim. 1,8). Sonst stellt der Apostel die
Sabbatfeier frei (Röm. 14, 5), ja kann sogar selber die Beschneidung ausüben (eben als jüdische,
nationale S i t t e, Apg. 16, 3) und mosaische Opfergesetze auf sich nehmen (Apg. 21, 26; 18,18),
wenn es gilt, damit ein Seelengewinnungsmittel zu schaffen (»um der Juden willen«, Apg. 16, 3;
21, 24b; 1. Kor. 9, 20).

Und schließlich: Wenn diese beiden, die Juden und die Hei den, in gleichberechtigte
Heilsgemeinschaft hineingestellt waren, so entstand notwendig die Frage nach ihrem Verhältnis
zueinander und ihrem gemeinsamen Verhältnis zu ihrem gemeinsamen Erlöser. Und auch hierin
ist Paulus der Hauptlehrer der Gemeinde. Er beschreibt diese Gemeinschaft unter dem Bilde
eines Leibes: Christus ist das »Haupt« und die Erlösten seine »Glieder«. Hierbei ist Paulus der
einzige Schreiber des Neuen Testaments, der dies Bild vom »Leib Christi« gebraucht. Er tut dies
am ausführlichsten im Epheser- und Kolosserbrief, aber auch im ersten Brief an die Korinther.

So ergeben sich aus Golgatha und der Petrusoffenbarung in Joppe vier neue, große
heilsgeschichtliche Grundfragen:

die Frage nach dem Zweck des Gesetzes,


der Beiseitesetzung und Hoffnung Israels,
der Rechtfertigung ohne Gesetzeswerke und
der organischen Einheit der neuen Heilsgemeinschaft,

und in allen diesen Fragen ist Paulus der eigentliche Lehrer der Gemeinde gewesen.

Die Krönung findet dies noch durch das Letzte. Dem Mann, dem in besonderer Weise die
Deutung des Anfangs der neutestamentlichen Gemeinde gegeben war, wird nun auch die Schau
in ihrer Vollendung geschenkt. Das gehört mit zur göttlichen Logik. So wird Paulus der Prophet
von der Hoffnung der Gemeinde:

Die Auferstehung der Gläubigen,


die Entrückung der Gemeinde,
der Richterstuhl Christi,
die Verklärung der Seinen,
ihre kommende Geistleiblichkeit

- das sind alles Grundfragen der christlichen Hoffnung, über die wir bei keinem anderen
neutestamentlichen Schreiber so deutliche und ausführliche Belehrung empfangen, wie
wiederum gerade bei Paulus. Das ist die Hauptbotschaft der beiden THESSALONICHERBRIEFE
und des Auferstehungskapitels 1. KORINTHER 15.

Durch dies alles wird Paulus der Prophet der Heilsgeschichte.

In Jahrtausende umfassender Völker und Zeiten umspannender Schau überblickt er Äonen und
Ökonomien. Er spricht von den Anfängen der heiligen Geschichte, von Adam, dem Stammvater
der Menschheit, dem Gegenstück zu Christus (Röm. 5). Er spricht von der Zeit der Patriarchen,
von Abraham, dem Vater und Urbild der Gläubigen (Röm, 4). Er deutet den Sinn der mosaischen
Haushaltung, die anderthalb Jahrtausende des alttestamentlichen Gesetzes (Röm. 7; Gal. 3). Er
spricht von der »Fülle der Zeit«, in der Christus erschien (Gal. 4, 4), von seinem Kreuz, seiner
Auferstehung, seiner Himmelfahrt und Erhöhung (Eph. 1, 20). Er lehrt die Grundsätze der
Gemeinde, ihre Berufung und Stellung, die Verherrlichung der Erlösten und ihr Offenbarwerden
vor Christus (2. Kor. 5, 10). Er weissagt das Kommen des Antichristen, sein Wesen und seine
Macht, seinen Sieg und seinen Sturz (2. Thess. 2). Und er erwartet das Erscheinen des Herrn
und die Aufrichtung seines Reiches (2. Thess. 2, 8; 1. Thess. 2, 12). Über dies alles aber geht
schließlich sein Blick hinaus in die Ewigkeit, zum Jerusalem droben (Gal. 4, 26), zum Kommen
der letzten Vollendung, zum Anbruch des Tages Gottes, »wo auch der Sohn selbst dem
unterworfen sein wird, der ihm alles unterworfen hat, auf daß Gott alles sei in allem« (1. Kor. 15,
28).

In dem Ganzen aber ist ihm Christus die strahlende Zentralsonne. Nur »in« Ihm, dem
Lebendigen, sind alle Lebensquellen offen. Das kleine Wörtchen »in Christo«, das in seinen
Briefen über 160 mal vorkommt, ist geradezu das Schlüssel- und Kernwort seiner ganzen
Heilserfahrung und Lehrverkündigung. Nur für Ihn will er leben. Nur ihn will er bezeugen, nur Ihn
als die größte Gottesgabe der Völkerwelt verkünden. Das ist seine Sendung. Als solcher ist er
der Lehrer der Nationen, der Hauptapostel der Gemeinde, der Prophet der Heilsgeschichte, der
Herold Jesu Christi, der Bannerträger des kommenden Königs.

II. Die Stellung der Gemeinde

1. Kapitel. DER GNADENHAUSHALT GOTTES

Vom hohen Stand der Ekklesia wollen wir reden. »Durch Herrlichkeit und Vollkommenheit
berufen«, hat sie die »größten« Verheißungen in Besitz (2. Petr. 1, 3; 4). Gerade in dem
»jetzigen« Zeitalter wird der »unausforschliche« Reichtum Christi verkündigt (Eph. 3, 8).

Zu »vielgestaltig« (Eph. 3, 10) sind die »himmlischen Segnungen« der Gemeinde (Eph. 1, 3), als
daß sie durch eine einzige Beschreibung ausgedrückt werden könnten. Daher gebraucht der
Geist Gottes die verschiedensten Bilder und Vergleiche, um so, wie durch ein Prisma, den
Sonnenglanz ihres Ewigkeitslichtes in seine Einzelstrahlen zu zerlegen.

Zu allen drei Überpersonen des göttlichen Wesens steht die Gemeinde in Beziehung, zum Vater,
zum Sohn und zum heiligen Geist. In ihrer Beziehung zu Gott ist sie ein »Haushalt«. Gott ist der
»Vater« (Gal. 4, 6), und die Erlösten sind seine »Hausgenossen« (Gal. 6, 10). In ihren Pflichten
sind sie seine »Sklaven« (1. Petr. 2, 16), in ihren Vorrechten seine »Söhne« (Röm. 8, 14)

I. Die Sklavenstellung der Erlösten

Durch das Blut Jesu Christi »für Gott erkauft« (Off. 5, 9), nicht mit Silber oder Gold (1. Petr. 1,
18), sondern »um den Preis« seines Lebens (1. Kor. 6, 20), das »Lösegeld« von Golgatha
(Matth. 20, 28; 1. Tim. 2, 6), sind die Erlösten nicht mehr ihrer selbst (1. Kor. 6, 19), sondern
Sklaven Gottes (Röm. 6, 22) und Christi (Eph. 6, 6). Sie sind ewig sein Besitz (Tit. 2, 14), seine
Werkzeuge, die er gebraucht.

II. Die Sohnesstellung der Erlösten

Aber noch höher geht Gottes Ratschluß des Heils. Die aus der Sklaverei der Sünde Befreiten
sollen nicht nur seine Diener sein, die, vom Verderben erlöst, nun Täter seines Wohlgefallens
sind; sondern er will sie zur Anteilnahme an ihm selber gelangen lassen, zum Teilhaftigwerden
seiner göttlichen Natur (2. Petr. 1, 4). Sie sollen Kinder (Römer 8, 21), und Söhne (Hebr. 12, 23)
sein.

1. »Kinder«. Dies und nichts Geringeres ist es, was die Heilige Schrift meint, wenn sie immer
wieder von dem Geborensein der Erlösten aus Gott spricht; denn die Erhebung der Begnadigten
in die Sohnesstellung ist nicht nur eine formelle Zu-Söhnen-Erklärung, eine rechtliche Erhöhung
und Ernennung, gewissermaßen eine juristische Adoption, sondern eine tatsächliche Zeugung
(Jak. 1, 18), ein wirkliches Umgeborenwerden, ein organisches Geborensein aus Gott (Joh. 3, 3;
1. Petr. 1, 23; Joh. 2, 29). »Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater bewiesen, daß wir Kinder
Gottes heißen sollen! Und wir sind es auch!« (l. Joh. 3, 1)

2. »Söhne«. Als solche aber sind sie zugleich »mündig«. Gerade dies ist der Hauptunterschied
zur alttestamentlichen Zeit. Denn wohl war die »Sohnschaft« schon ein israelitisches Gut (Röm.
9, 4; 5. Mose 14, 1). Gerade Israel war, offenbarungsgeschichtlich, Gottes »erstgeborener Sohn«
unter den Völkern (2. Mose 4, 22) Aber sie war damals noch im Zustande der Unmündigkeit und
unterschied sich in nichts von der Stellung eines Sklaven. Das Gläubigwerden bedeutet für einen
Israeliten sein Selbständigwerden vom »Erzieher«, das heißt seine Freiheit vom Gesetz (Gal. 4,
1-5); und da nun in der Gemeinde zwischen Juden und Heiden »kein Unterschied« mehr besteht,
sind auch die Gläubigen aus den Nationen derselben Freiheit teilhaftig.

2. Kapitel. DER UNAUSFOPSCHLICHE REICHTUM CHRISTI

Unendlich mannigfaltig sind die Beziehungen zwischen Christus und seiner Gemeinde,
besonders

1. Lehren und Lernen (Jüngerschaft, Schule),


2. Führen und Folgen (Herde),
3. Herrschen und Gehorchen (Staatswesen, Volk),
4. Lieben und Wiederlieben (Braut, Weib),
5. Beleben und Belebtsein (Weinstock, Leib),
6. Gründen und Aufbauen (geistliches Haus),
7. Segnen und ein Segen sein (Priestertum, Tempel).

I. Lehren und Lernen

Christus ist der Meister, und wir sind seine Schüler (Matth. 23, 8). Er sagt: »Lernet von mir« (Eph.
4, 20). Die Gemeinde ist eine Schule, eine Jüngerschaft.

II. Führen und Folgen

Christus ist der Hirt, und wir sind seine Herde. Aus der israelitischen »Hürde« und den Hürden
der Weltkultur hat er die Seinen zu »einer« Herde zusammengebracht (Joh. 10, 16).

Als der »gute« Hirte läßt er sein Leben für seine Schafe (Joh. 10, 12) und als der »große« Hirte
ist er der Auferstandene, kraft des Blutes des ewigen Bundes (Hebr. 13, 20)

III. Herrschen und Gehorchen

Christus ist der HErr, und wir sind seine »Diener«. Die Erlösten sind ein »Volk«. Die Gemeinde ist
ein Staatswesen. Ihr »Bürgertum« ist im Himmel (Phil. 3, 20). Das »Reich Gottes« soll sie
offenbar machen (Röm. 14, 17). Darum predigt sie das »Reich« (Apg. 20, 25; 28, 31) .

Zum Reich gehört ein Gesetz, zum »Reich des Sohnes« das »Gesetz Christi« (Gal. 6, 2). Darum
ist »Glauben« zugleich »Gehorchen«, und »Vertrauen« ist zugleich »Treue«. Gerade Paulus, der
Apostel der Freiheit, spricht vom »Halten der Gebote« (1. Kor. 7, 19). Unglaube ist ihm dasselbe
wie »Ungehorsam«. Die Bekehrung ist ihm ein Gehorsams- und Unterwerfungsakt (Apg. 26, 19),
die Evangeliumsverkündigung ein Buße-Gebieten (Apg. 17, 30)! Vom »Gesetz der Sünde und
des Todes« erlöst (Röm. 8, 1) und auch vom mosaischen Gesetz frei (Röm. 3, 21), ist der
Gläubige nun nicht etwa »ohne Gesetz« (Gal. 5, 13), sondern »Christo gesetzmäßig
unterworfen« (1. Kor. 9, 21). Er hat das »Gesetz Christi« zu erfüllen und im
»Glaubensgehorsam« zu wandeln.
Dieses neutestamentliche »Gesetz« ist

seinem Ursprung nach - Gesetz »Christi« (Gal. 6, 2),


seinem Wesen nach - Gesetz der »Freiheit« (Jak. 1, 25),
seinem Inhalt nach - Gesetz der »Liebe« (Röm. 13, 8-10)
seiner Kraft nach - Gesetz des »Geistes« (Röm. 8, 2),
seinem Wert nach - das »vollkommene Gesetz« (Jak. 1, 25),
seiner Würde nach - das »königliche Gesetz« (Jak. 2, 8).

Im Alten Testament stand der Mensch dem Gesetz Gottes als natürlicher Mensch gegenüber; er
war »im Fleische«; daher die Kraftlosigkeit des Gesetzes (Röm. 8, 3. Im Neuen Bund aber ist er
ein neuer Mensch; er ist »im Geiste«; daher sein Sieg (Röm. 8, 1-4).

Im Alten Bund trat das Gesetz an den Menschen von außen heran, auf »steinernen Tafeln«, als
Buchstabe, der da tötet (2. Kor. 3, 3). Im Neuen Bund ist es ihm in den Sinn gegeben (Hebr. 8,
10), geschrieben auf »fleischer ne Tafel des Herzens und mit dem Geist des lebendigen Gottes«.
So ist die Gemeinde ein wunderbares Volk, eine »heilige Nation« (1. Petr. 2, 9):

ihr Gebieter ist - der HErr Christus (Jud. 4),


ihr Gesetz - sein Wille (Gal. 6, 2),
ihr Reichtum - seine Herrlichkeit (Eph. 3, -16),
ihr Ruhm - seine Ehre (1. Kor. 1, 31),
ihre Volksgemeinschaft - seine Liebe (Joh. 13, 34),
ihr Gebiet - die ganze Erde (Röm. 10, 18),
ihre Hauptstadt - das himmlische Jerusalem (Gal. 4, 26).

IV. Lieben und Wiederlieben

Christus ist der Bräutigam, und die Gemeinde ist seine Braut (2. Kor. 11, 2). Christus ist der
Eheherr, und sie ist sein Weib (Eph. 5, 31). Als Braut hat sie die reine und wartende Liebe, als
Weib die besitzende und genießende Liebe. Wie Eva aus Adam war, als dieser von Gott in tiefen
Schlaf versenkt worden war (1. Mose 2, 21; 1. Kor. 11, 8), so kommt die Gemeinde von Christus
her, der als der Auferstandene den Todesschlaf überwunden hat.

Darum bezieht Paulus das Begrüßungswort des ersten Adam auf Christus, den letzten Adam,
und sagt: »Wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinem Gebein« (vgl. 1.
Mose 2, 23) »Um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter und seinem Weibe
anhangen und werden die zwei ein Fleisch sein (vgl. 1. Mose 2, 24!). Das Geheimnis ist groß. Ich
aber sage es in bezug auf Christus und die Gemeinde« (Eph. 5, 30-32).

Wie wenn ein orientalischer Fürst auf dem Sklavenmarkt ein Sklavenmädchen sieht und, von
plötzlicher Liebe entflammt, sie um teuren Preis kauft, um sie dann reinigen und in
Prachtgewänder einhüllen zu lassen (Esther 2, 3) und sie zuletzt als sein Weib auf den
königlichen Thron zu erheben: also auch Christus und die Gemeinde. Er hat sie »geliebt«, sie,
die einstige Sklavin der Sünde, hat sich dann selbst für sie als Kaufpreis »dahingegeben«,
»reinigt« sie nun durch die Waschung mit Wasser durch das Wort und wird sie dereinst »sich
selbst verherrlicht darstellen«, ohne Flecken und Runzeln, das heißt in Heiligkeit und ewiger
Jugendschönheit (Eph. 5, 25-27). So haben wir im Bilde der Ehe das ganze Werk Christi für
seine Gemeinde:

ihre Erwählung - durch seine Liebe (Eph. 5, 25a),


ihre Erlösung - durch seine Hingabe (Eph. 5, 25b),
ihre Heiligung - durch seine Herrschaft (Eph. 5, 26; 24; 33),
ihre Verherrlichung - durch seine Wiederkunft (Eph. 5, 27).
Wie schon Augustinus sagt: »Wen Gott verordnet hat vor der Welt, den hat er auch berufen von
der Welt, gerechtfertigt in der Welt und wird ihn verherrlichen nach der Welt«.

V. Einheit des Lebens

Der Urgrund von allem aber ist die organische Lebensgemeinschaft der Gemeinde mit Christus.
Schon im Bilde der Ehe deutet sie sich an: »Die zwei werden ein Fleisch sein ... ; ich aber sage
es in bezug auf Christus und die Gemeinde«. Auch hier hat das Neue Testament eine
reichhaltige Bildersprache:

Christus ist der »Weinstock« und wir sind die Reben (Joh. 15, 1-5). Christus ist das »Haupt«, und
wir sind die Glieder (Eph. 1, 22). Die Gemeinde ist ein Baum, »gewurzelt« in ihm (Kol. 2, 7). Der
einzelne ist eine Pflanze (1. Kor. 3, 6-9), mit ihm »zusammengepflanzt« (Röm. 6, 5). Sie alle sind
»in Christo«.

A. Die Beziehungen der Glieder zum Haupt

Das wichtigste Bild ist das des Leibes. Es wird ausschließlich von Paulus gebraucht. Es stellt, wie
kein anderes, die Segnungen der Christusgemeinschaft dar:

1. Zugehörigkeit zu Christo: Die Gemeinde ist »sein« Leib (Eph. 1, 23).

2. Abhängiger Dienst: In einem Leibe regiert nur ein Wille, und das Haupt ist der Wille des Leibes
(Kol. 1, 18).

3. Unmittelbare Gemeinschaft: Das einzelne Glied steht in direkter Beziehung zum Haupt. Kein
Mensch oder Engel steht dazwischen (1. Tim. 2, 5; Kol. 2, 18). Darum gilt es, in allem das Haupt
»festzuhalten« (Kol. 2, 19).

4. Liebe und Pflege: »Niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er nährt und
pflegt es, gleichwie auch Christus die Gemeinde« (Eph. 5, 29). »Er ist des Leibes Heiland« (Eph.
5, 23).

5. Belebung und Aufbau: Das Haupt ist für den Leib die Quelle der Selbstauferbauung. Schon im
irdischen Leib ist die Seele das leibbildende Element (Phrenologie). So wächst auch der Leib
Christi »aus« dem Haupt heraus sein gottgeordnetes Wachstum (Kol. 2, 19).

6. »Fülle« des Hauptes: Nicht als göttliche Person, wohl aber als »letzter Adam« wäre Christus
nicht »vollständig« ohne seinen »Leib«; das Weizenkorn ohne die Frucht wäre »allein« (Joh. 12,
24). Ein Erlöser ohne Erlöste wäre kein »Erlöser« mehr. So ist die Gemeinde »die Fülle dessen,
der alles in allem erfüllt«, das heißt »die volle Ausgestaltung von Ihm, der alles in allem zu voller
Ausgestaltung bringt« (Eph. 1, 23). Durch dies alles ist die Gemeinde

7. Das Offenbarungsmittel des Christuslebens. Schon im irdischen Leben ist der Leib das
Kundgebungsorgan des Geistes. So soll auch im Geistlichen durch die Gemeinde die gar
mannigfaltige Weisheit Gottes kundgemacht werden (Eph. 3, 10). Das erhöhte »Haupt« setzt
durch seinen »Leib« sein heiliges Leben hier unten fort. Die Gemeinde ist »der Lebensraum
Gottes in der Geschichte«, die Fortsetzung der Menschwerdung Christi auf Erden. Sie lebt durch
den Geist sein Leben hier unten weiter. Sie ist nicht nur »in Christo«, sondern Christus ist auch
»in« ihr (Kol. 1, 27). Er gewinnt in ihr Gestalt (Gal. 4, 19), drückt sein Wesen in ihr aus, und das
Haupt offenbart sich durch seine Glieder.

B. Die Beziehungen der Glieder untereinander


Auch hinsichtlich der Christengemeinschaft ist der »Leib« das vielsagendste Bild. (Siehe 1. Kor.
12). Die Erlösten sind eine

1. Einheit, viel tiefer als alle Volks- und viel weltweiter als alle Völkergemeinschaft (Gal. 6, 10).
Sie sahen sich nie, und sie kennen sich doch (2. Kor. 6, 9); sie sind sich ganz fremd, und - lieben
sich! (Kol. 2, 1). Denn »gleichwie der Leib einer ist, obwohl er viele Glieder hat, also auch der
Christus« (1. Kor. 12, 12). Er ist ein Organismus und keine Organisation, eine Schöpfung Gottes
und kein Werk der Menschen. Christus, das Haupt, ist die Einheit des Leibes; sein Leib ist der
»eine neue Mensch« (Eph. 2, 15).

Die Einheit der Gemeinde ist eine dreifache:

Die Einheit des Geistes »ist« da. Sie ist eine fertige Tatsache, die wir haben durch den Glauben
(Eph. 4, 3);

die Einheit der Gesinnung »soll« da sein; sie ist unsere Pflicht, die wir erfüllen durch die Liebe
(Phil. 1, 27; 2, 1-4).

die Einheit der Erkenntnis »wird« da sein. Sie ist unser Ziel, ein Teil unserer Hoffnung (Eph. 4,
13).

Die Einheit des Lebens ist die »Grundlage«, die zurückschaut auf die Vergangenheit, das Werk
von Golgatha;

die Einheit der Gesinnung - (d.h. Einheit der Absichten, nicht immer unbedingt Einheit der
Ansichten (Röm. 14, 1-7) - ist das, was wir haben sollen, die »Aufgabe«, die uns gestellt ist in
der Gegenwart;

die Einheit der Erkenntnis ist das, was wir haben werden, das »volle Maß« (Eph. 4, 13), das
erreicht sein wird in der Zukunft.

Für die Gegenwart aber gilt das Wort Augustins: »Im Notwendigen Einheit, im Zweifelhaften
Freiheit, in allem Liebe.«

2. Mannigfaltigkeit. »Auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Wenn der ganze Leib Auge
wäre, wo bliebe das Gehör? So er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch?« (1. Kor. 12). Wie
auf dem Brustschild des Hohenpriesters zwölf verschiedene Edelsteine glänzten, als
Darstellungen der zwölf Stämme Israels (2. Mose 28, 15), so werden auch die Glieder des neuen
Bundes auf der Brust des melchisedekschen Hohenpriesters getragen: Sie sind alle verschieden;
aber sie alle leuchten. Und die Einheit ihres Lichtes ist die Einheit der Sonne.

3. Gegenseitige Abhängigkeit. Jeder einzelne ist einseitig. Darum brauchen sie sich alle. »Es
kann nicht das Auge zu der Hand sagen: Ich bedarf deiner nicht; oder das Haupt zu den Füßen:
Ich bedarf euer nicht« (1. Kor. 12, 21). Nein, sie sind alle aufeinander angewiesen, auch der
Größte auf den Kleinsten, und gerade die Geringsten hat Gott mit besonderer Ehre bedacht,
»damit die Glieder einträchtig füreinander sorgen« (1. Kor. 12, 22 - 25).

4. Gegenseitiges Mitgefühl. »So ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit, und so ein Glied wird
herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit« (1. Kor. 12, 26).

5. Gemeinsamer Dienst. Jedes Glied dient dem anderen und sie alle der Gesamtheit; und so wird
der ganze Leib »durch die Gelenke und Bänder versorgt« (Kol. 2, 19) und »zusammengehalten
mit Hilfe aller Gelenke, die ihren Dienst verrichten nach der besonderen Tätigkeit, die jedem
Gliede zugewiesen ist« (Eph. 4, 16). Alle Glieder haben Aufgaben. Nicht ein einziges darf abseits
stehen. Reichsgottesgemeinschaft ist Arbeitsgemeinschaft. Nur dadurch wird sie auch
Siegesgemeinschaft.
6. Gemeinschaftliches Wachstum. Dies alles aber, »bis daß wir alle hingelangen zur Einheit des
Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur vollkommenen Mannesreife, zum Vollmaß
des Wuchses in der Fülle Christi« (Eph. 4, 13).

VI. Gründen und Aufbauen

Mit dem Bild des »Leibes« ist in der Schrift eng das Bild des »Hausbaues« verbunden. Beide
Bilder werden sogar ineinander verwoben: Das Haus »wächst« (Eph. 2, 21); der Leib wird
»gebaut« (Eph. 4, 12).

Christus ist der »Eckstein«, und wir sind der Aufbau (1. Petr. 2, 6). Die Gemeinde ist ein
Gotteshaus, ein Tempel. Dies Bild gilt in dreifacher Weise, in bezug auf die Gesamtgemeinde
(Eph. 2, 2-1; 22; 1. Petr. 2, 4; 5), die Ortsgemeinde (1. Kor. 3, 16; 17; 1. Tim. 3, :15), den
Einzelchrist (1. Kor. 6, 19; Kol. 1, 27; Eph. 3, 17).

1. Die Grundlage ist der HErr selbst. Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der
gelegt ist (1. Kor. 3).

Von ihm spricht das Zeugnis der ersten Generation. Darum ist alles, was darauf folgt, »aufgebaut
auf der Grundlage der Apostel und Propheten« (Eph. 2, 20). Die Wahrheit des
Petrusbekenntnisses ist der Felsengrund der Gemeinde: die übergeschichtliche
Gottessohnschaft und die heilsgeschichtliche Messiasschaft Jesu von Nazareth. »Du bist der
Christus (der Messias), der Sohn des lebendigen Gottes!« - »Auf diesen Felsen will ich meine
Gemeinde bauen« (Matth. 16, 16 - 18).

2. Die Steine. Sie kommen aus zwei »Steinbrüchen«, den Juden und Heiden (Eph. 2, 11), und
werden zu einem heiligen Tempel »zusammengefügt« (Eph. 2, 21). Sie kommen als tote Steine
zu ihm, dem Lebendigen, und werden durch den Geist seines Lebens lebendig gemacht (1. Petr.
2, 4)

3. Der Zweck dieses Hauses ist, ein »Tempel« zu sein. Es ist ein »geistliches« Haus (1. Petr. 2,
5), und die »Steine« in der Wand sind zugleich »Priester« am Altar (1. Petr. 2, 5; Hebr. 13, 10),
und die Führer sind »Säulen« in dem Tempel ihres Gottes (Gal. 2, 9; Off. 3, 12).

Damit ist zugleich das Letzte gesagt: Die Gemeinde ist ein Priestertum.

VII. Segnen und ein Segen sein

Christus ist der Hohepriester, und wir sind die Priester (Hebr. 8, 1; Off. 1, 6). Die Gemeinde ist ein
»heiliges« Volk (1. Petr. 2, 9). Als Priester haben ihre Glieder einen vierfachen Dienst:

1. Sie opfern.

Ihr Leben ist. - ein Schlachtopfer (Röm. 12,1),


Ihre Hingabe - ein Brandopfer (Mark. 12, 33),
Ihr Dienst - ein Trankopfer (2. Tim. 4, 6; Phil 2, 17),
Ihre Taten - geistliche Opfer (1. Petr. 2, 5; Hebr. 13, 16),
Ihre Gebete - ein Rauchopfer (Ps. 141, 2; Off. 8, 3; 4),
Ihre Anbetung - ein Lobopfer (Hebr. 13, 15).

2. Sie beten. Sie beten für andere; sie »danksagen« für andere (1. Tim. 2, 1); im stillen
Kämmerlein umspannen sie die ganze Welt, und im Himmel vertritt sie der Geist mit
unaussprechlichem Seufzen und verleiht ihren Gebeten gottgemäße Kraft (Röm. 8, 26).
3. Sie zeugen. »Die Lippen des Priesters sollen Erkenntnis bewahren, und das Gesetz sucht man
aus seinem Munde; denn er ist ein Bote des HErrn« (Mal. 2, 7)

4. Sie segnen: »Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr die Kinder Israel
segnen ... Sie sollen meinen Namen auf die Kinder Israel legen, und ich will sie segnen« (4.
Mose 6, 23-27). »Segnen« heißt also, »den Namen Gottes auf jemand legen«. Nur der ist ein
Segen, der andere Menschen durch Wort und Wandel mit Gott in Berührung bringt.

Im Neuen Bund aber gibt es ein allgemeines Priestertum (1. Petr. 2, 9; Off. 1, 6). Sie alle
genießen den Priesteranteil am Altar (Hebr. 13, 10). Sie sind alle, was Israel sein sollte, »ein
Königreich von Priestern« (2. Mose 19, 6), und so kann auch im Kleinsten von ihnen die
Verheißung erfüllt werden: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein« (1. Mose 12, 2).

3. Kapitel. DIE »NEUE« GOTTESSTIFTUNG

Alle Segnungen der Gemeinde, zusammengenommen, bilden den Höhepunkt des Heilsinhalts
des »Neuen Bundes« (Matth. 26, 28). Dieser ist die himmlische Berufung des Abrahamsbundes
(Hebr. 11, 10), der unausforschliche Reichtum Christi (Eph. 3, 8).

I. »Alter« und »Neuer« Bund

Aber »neu« ist er nur im Verhältnis zum »alten« Bunde (Hebr. 8, 13), und dieser war lediglich
Israel gegeben (Ps. 147, 20). Die Nationen waren »Fremdlinge betreffs der Bündnisse der
Verheißung« (Eph. 2,12). Der Name »Neuer Bund«, »Neues Testament« drückt also schon aus,
daß die Gemeinde vom alttestamentlichen Verheißungsboden nicht getrennt werden kann. »Das
Heil kommt aus den Juden« (Joh. 4,22; Röm. 9, 5).

»Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (Röm. 11, 18). Doch seitdem das
Reich Gottes auch den Heiden geöffnet ist, besteht im Genuß seiner Segnungen »kein
Unterschied« mehr (Apg. 15, 9; 11, 17; 10, 47), und die Gläubigen aus den Völkern sind genau
so wie die Gläubigen aus Israel teilhaftig der Heilsgüter des Neuen Bundes (vgl. Apg. 3, 25; 2,39)

Dem Inhalt nach ist das »Neue« unendlich viel größer als das »Alte«. Dies zeigt besonders der
Hebräerbrief. In siebenfacher Gegenüberstellung beweist er die Vortrefflichkeit des
neutestamentlichen Heils, und zwar in namentlichem Vergleich zu vier alttestamentlichen
Personen (bzw. Personengruppen) und drei alttestamentlichen Einrichtungen.

Christus ist größer

als die Engel - die himmlischen Vermittler des Alten Bundes


als Mose - der irdische Vermittler des Alten Bundes, der prophetische Führer,
als Josua - der Ruhebringer des Alten Bundes, der politische Führer,
als Aaron - der Hohepriester des Alten Bundes, der priesterliche Führer,
als die Stiftshütte - die Offenbarungsstätte des Alten Bundes,
als die Opfer - die Heilsvermittlung des Alten Bundes.

So ist er größer als alles, was der Alte Bund in sich schließt, und in seiner Kraft können wir auf
dem »neuen und lebendigen Wege« wandeln (Hebr. 10, 20), das heißt

im Glauben, der nach oben blickt (Kap. 11),


in der Hoffnung, die nach vorne sieht (Kap. 12),
in der Liebe, die nach allen Seiten schaut (Kap. 13).
II. Der Abrahamsbund und der Davidsbund

Der Hauptsache nach ist dieser neue Bund die Erfüllung von zwei alttestamentlichen
Bundesschließungen, dem Abrahamsbund und dem Davidsbund. Im Abrahamsbund lag die
Weite, der Segen für alle Völker (1. Mose 12, 3); im Davidsbund lag die Höhe, der Königsthron
des Messias (1. Chron. 17, 11-14).

III. »Bund« und »Testament«

Genau genommen ist er weniger »Bund« als »Testament«. Denn

1. Ein Bund ist zweiseitig, ein »Testament« nur eine einseiti ge Willensverfügung (»letzter Wille«).
Im Heil aber geht alles von einer Seite - Gott - aus, und der Glaube des Menschen ist keine
»Gegenleistung«, sondern einfach die Hand, die das Gebotene ergreift.

2. Ein »Bund« wird durch den Tod aufgelöst, ein »Testament« durch ihn erst rechtskräftig
gemacht. Das Heil ist aber durchaus ein »Testament«, eine »letztwillige Verfügung«. Erst durch
das Sterben des Gekreuzigten wird es wirksam und gültig (Hebr. 9, 15-18). Seine Voraussetzung
ist Christi »Tod«, sein Heilsgut das ewige »Erbe« und es selber eine heilige »Gottesstiftung«
(Luk. 1, 72).

IV. Bundesvolk und Welt

Nach außen hin ist das Bundesvolk der Zeuge der erfahrenen Bundesgnade. Erst ist es Produkt,
dann Organ, erst Gegenstand des Heils, dann Werkzeug des Heils. Diese Bezie hung der
Gemeinde zur Welt wird gerade in dem Kapitel am zusammenhängendsten zum Ausdruck
gebracht, das uns am allermeisten ins innerste, in das von der Welt Abgekehrte, ins Heiligtum,
führt: im Hohenpriesterlichen Gebet (Joh. 17). Hier nennt der HErr Jesus sieben
Hauptbezichungen: Die Sei nen sind

in ihrer Umgebung - lebend in der Welt (V. 11),


in ihrer Stellung -herausgenommen aus der Welt (V. 6),
in ihrer Gesinnung - geschieden von der Welt (V. 16),
in ihrem Zeugendienst- gesandt in die Welt (V. 18),
in ihrer Behandlung - gehaßt von der Welt (V. 14),
in ihrer Siegeskraft - bewahrt vor der Welt (V. 15;

Der Urgrund des Ganzen aber ist der Liebesplan Gottes vor Grundlegung der Welt.

Der Vater hat dem Sohn die Erlösten schon vor aller Zeit als Geschenk seiner Liebe »gegeben«,
und diese Liebe des Vaters zum Sohne vor Grundlegung der Welt ist das Fundament für die
Verklärung der Erlösten am Ende der Welt. »Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir
seien, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen. . ., denn du hast mich geliebt
vor Grundlegung der Welt« (Vers 24). So wölbt sich die vorzeitliche und nachzeitliche Liebe des
Höchstens wie ein Regenbogen über aller Zeit. Das Ende kehrt zum Anfang zurück, weil der
Anfang das Ende verbürgt (Röm. 11, 36).

In der Gegenwart aber sind die Erlösten die Boten Gottes an die Welt:

1. Der »Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit« (1. Tim. 3, 15),
2. Seine »Zeugen« (Apg. 1, 8),
3. Seine »Briefe« (2. Kor. 3, 1-3),
4. Seine »Gesandten« an die Welt (2. Kor. 5, 20),
5. Seine »Darstellungen vom Lebenswort« (Phil. 2, 16),
6. Seine »Sterne« in dunkler Nacht (Phil. 2, 15),
7. Seine »sieben goldenen Leuchter« mit ihm selbst in der Mitte (Off. 1, 12).

4. Kapitel. DAS GEGENWÄRTIGE, PERSÖNLICHE HEIL

Die Erlösung in Christo ist ein Sein und ein Werden zugleich. Der einzelne hat durch den
Glauben ein volles, freies, gegenwärtiges Heil und erlebt es dennoch zugleich nur in einer Reihe
höchst wirksamer, dramatischer Spannungen.

1. Ein volles, freies, gegenwärtiges Heil

Besonders Paulus schildert sein Christuserlebnis in immer neuen Farben. Seiner Vorliebe für das
juristische entsprechend beschreibt er es in fünf Hauptbilderkreisen, die sämtlich dem
Rechtsleben entnommen sind. Es ist ihm Rechtfertigung, Erlösung, Vergebung, Versöhnung,
Sohnesannahme. Seine Heilserfahrung ist dem Apostel wie eine helleuchtende Sonne mit dem
vollen Glanz - Christus - in ihr selber, aber mit fünf Hauptstrahlen, die von ihr ausgehen - nach
allen Seiten hin, unbegrenzt, unermeßbar.

1. In der Rechtfertigung steht der Sünder als »Angeklag ter« vor Gott und empfängt den
»Freispruch« (Röm. 8, 33)

2. In der Erlösung steht er als »Sklave« vor Gott und emp fängt den »Loskauf« (Röm. 6, 8-22;
Gal. 3,:13).

3. In der Vergebung steht er als »Schuldner« vor Gott und empfängt den »Schuldenerlaß« (Eph.
1, 7; 4, 32).

4. In der Versöhnung steht er als »Feind« vor Gott und wird zum »Frieden« geführt (2. Kor. 5,
18-20).

5. In der Sohnesannahme steht er als »Fremder« vor Gott und empfängt die »Sohnschaft« Eph.
1, 5).

Und doch! Obwohl alles geworden ist, ist - abgesehen von der Rechtfertigung - alles am Werden.
Bis zur Wiederkunft Christi steht der Gläubige - von ihm aus gesehen - unter einer Reihe höchst
wirksamer, kraftvoller

II. Spannungen

Zukunft und Gegenwart, Stellung und Zustand, Gottes Werk und unser Werk, Himmel und Erde,
Ewigkeit und Zeit, Geist und Leib - diese alle sind dauernd in ihm in lebendigem, noch nicht
ausgeglichenem Gegensatz.

1. Zukunft und Gegenwart.

Wir »haben« die Erlösung (Eph. 1, 7) und »erwarten« die Erlösung.


Wir »haben« ewiges Leben und »ergreifen« ewiges Leben.
Wir »sind« Söhne Gottes (Röm. 8, 14) und »erwarten« die Sohnschaft (Röm. 8, 23).
Wir »sind« schon im Reich (Kol. 1, 13) und »gehen« erst ins Reich (Apg. 14, 22).
Gott »hat« uns verherrlicht (Röm. 8, 30), und er »wird« uns verherrlichen (Röm. 8, 17).
Dies ist die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft. Wir genießen das »jetzt«, und doch ist
es zugleich ein »Noch-nicht« der Erfüllung. In Christus ist der neue Äon lebendig vorhanden, und
doch besteht der alte noch fort. Das Heil ist gegenwärtig und zukünftig zugleich; denn es ist ewig.

Alles, was wir haben, erwarten wir erst; und alles, was wir erwarten, das haben wir schon. Wir
sind »auf Hoffnung errettet« (Röm. 8, 24). Der Schwerpunkt liegt in der Vergangenheit
(Golgatha); der Gipfelpunkt liegt in der Zukunft (Erscheinung in Herrlichkeit). Aber gerade die
Zukunft ist der Hintergrund aller Gedanken des Neuen Testaments. Der Blick auf das Ziel ist der
Pulsschlag aller Heiligung und Heilsgeschichte. Denn Christus ist die leibhaftige Erfüllung und die
leibhaftige Verheißung zugleich.

Daher auch der Begriff des »Offenbarwerdens« im Neuen Testament (Kol. 3, 4). Denn
»geoffenbart« (enthüllt) werden kann nur etwas schon vorher Vorhandenes. Die Treue und
Überzeitlichkeit Gottes aber verbürgt uns das Zukünftige als schon gegenwärtig, ja als schon in
der Vergangenheit geschehen. »Er hat uns verherrlicht« (Röm. 8, 30).

Gerade die Größe unseres »Heute« läßt uns sehnsüchtig ausschauen nach dem noch größeren
»Morgen«.

2. Stellung und Zustand.

Wir sind gestorben (Kol. 3, 3) und »töten« unsere Glieder (Kol. 3, 5).

Wir sind »neue Menschen« (Eph. 4, 24) und werden »erneuert« (Kol. 3, 10).

Wir sind das Licht (1. Thess. 5, 5) und sollen leuchten als das Licht (Eph. 5, 9; Matth. 5, 16).

Wir sind »Heilige« Gottes (Kol. 3, 12) und wer den »geheiligt« (1. Thess. 5, 23; Hebr. 12,:14; 2.
Kor. 7,1).

Wir sind vollkommen (Kol. 2, 10) und »jagen« nach Voll kommenheit (Phil. 3, 12).

Christus wohnt in uns (Kol. 1, 27), und er soll in uns woh nen (Eph. 3, 17).

Dies ist die Spannung zwischen Stellung und Zustand, zwischen Würde und Verpflichtung,
zwischen Wirklichkeit und Verwirklichung, zwischen Gnadenstand und Charakter. Der
heruntergekommene Bettler wird, von seiner Elendshütte hinweg, unter die Fürsten gesetzt, dann
aber ermahnt, sich nun auch fürstlich zu benehmen. Der Adel muß »edel« sein. Stellung
verpflichtet. Hier setzt der Kampf zwischen »Fleisch« und »Geist«, zwischen dem »alten« und
»neuen« Menschen ein (Röm. 6, 6), die ununterbrochene Tat des Glaubens, die Heiligung.

Aber gerade hier erleben wir immer wieder die nun folgende Spannung. Diese bezieht sich auf
die Kraft.

3. Gottes Werk und unser Werk. Es ist Gott, der alles wirkt, und auch wir sind die Wirkenden. Es
ist alles »geschenkt«, und doch muß alles »errungen« werden (2. Petr. 1, 3). Die Heiligung ist
ganz seine Tat (1. Thess. 5, 23) und auch ganz meine Tat (Hebr. 12, 14), ganz Geschenk und
ganz Gebot, ganz Gabe und ganz Aufgabe. Bezüglich der Erwählung der Erlösten vor aller Zeit
(Eph. 1, 4), der Heiligung der Erwählten im Ablauf der Zeit und der Verherrlichung der Geheiligten
am Ende der Zeit gilt der gott-menschliche, harmonische Gegensatz: »Bewirket eure eigene
Seligkeit mit Furcht und Zittern; denn (!) Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch
das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen« (Phil. 2, 12). Alle menschlichen Deutungsversuche
sind hier unzulänglich. Sie zeigen nur, gerade wenn sie bis aufs Letzte durchdacht werden, daß
der Kern der Frage unerklärt blieb. Die Freiheit (Off. 22, 17) und Unfreiheit (Apg. 13, 48) des
menschlichen Willens ist ein gottmenschliches Geheimnis des Reiches Gottes. Es sind zwei
Parallelen, die sich erst in der Unendlichkeit schneiden. Der Glaube erlebt diese Spannung, ohne
sie deuten zu können. Ihm genügt ihr Vorhandensein. Es ist die Spannung zwischen Gnadenwahl
Gottes und Verantwortlichkeit des Menschen, zwischen Unfreiheit und Freiheit des
geschöpflichen Willens, zwischen Gnade und Lohn (Röm. 4, 2-6; 1. Kor. 3, 14; 4, 5; Kol. 3, 24; 2.
Kor. 5, 10).

Die nächste Spannung ist die zwischen

4. Himmel und Erde. Christus ist der »Erhöhte« (Phil. 2, 9) im Himmel (Eph. 1, 20) und doch zu
gleich der in uns Wohnende auf Erden (Eph. 31 17; Gal. 2, 20). Dies ist die
mystisch-transzendente Polarität zwischen Transzendenz und Immanenz Christi. Daher auch das
164malige »in Christo« bei Paulus, ebenso das 19malige »im Geist«, auch der paulinische
»genitivus mysticus« (z. B. Christusfriede: Kol. 3, 15; Christussegen: Röm. 15, 29;
Christusglaube: Röm. 3, 22.

Der Christ lebt hienieden auf Erden (Joh. 17, 11; Phil. 2, 15) und ist doch zugleich mitversetzt in
die »himmlischen Örter« (Eph. 2, 6; Hebr. 12, 22; Phil. 3, 20)

Die Verbindung von beiden ist der Geist. Der Geist kam von oben herab, von dem »Christus über
uns«, vom Himmel auf die Erde (Apg. 2, 33), und der Geist führt von unten empor, als der
»Christus in uns«, von der Erde in den Himmel (Kol. 1, 27; 2. Kor. 3, 17) .

Der Urgrund des Ganzen aber ist die Spannung zwischen

5. Ewigkeit und Zeit. Ewigkeit ist mehr als nur endlose Zeit. Sie ist nicht nur als Dauer, sondern
auch als Inhalt von allem Zeitlichen wesenhaft verschieden. Sie ist ein anderes, ein Höheres.
Darum ist »ewiges Leben« zwar zunächst »endloses Leben« (vgl. Matth. 25, 46), aber zugleich
mehr als Unsterblichkeit. Es ist göttliches Leben.

Der Glaube aber erlebt den ewigen Gott schon innerhalb der Schranke der Zeit. Gerade das ist
für ihn das Erhebende und Demütigende zugleich. Alle Gottesgemeinschaft, besonders das
Gebet, ist ein Teilnehmen am Leben Gottes. In ihr steht der Mensch, mitten in der Zeit, dennoch
im Zeitlosen. Mitten im Wandel und Wechsel kommt das Wandellose und Bleibende zum
Durchbruch. Das übergeschichtliche wird mit ten im Geschichtlichen, das jenseitige mitten im
Diesseits erlebt.

Dies ist es, was die Heilige Schrift meint, wenn sie lehrt, daß der Gläubige das ewige Leben
schon »hat«. Es beginnt nicht erst nach dem Tode, sondern schon heute auf Erden, in diesem
Leben. »Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben« (Joh. 3, 36).

6. Geist und Leib. Und dennoch geschieht dies alles in der Schranke der Zeit! Wir sind »in
Christo« und doch noch »in der Welt« (Joh. 17, 11); wir sind »im Geist« (Röm. 8, 9) und doch
noch »im Leibe« (2. Kor. 5, 6); wir sind todüberlegen und todverfallen zugleich (2. Kor. 4, 11).
Welch schwaches Organ - unsere Seele! Welch zerbrechliche »Hütte« - unser Leib!

So sind wir denn beides: »Fertige und Harrende, Ausruhende und Eilende (Phil. 3, 12), Gelöste
und Gespannte, Siegesjubelnde und Seufzende zugleich« (Röm. 8, 31 - 39). ...
Unser Schauen ist ein Emporschauen auf das Ewige als das Übergeschichtliche und ein
Vorwärtsschauen auf das Ewige als das Endgeschichtliche....
Zuletzt aber wird der Tag kommen, an dem sich dies alles entspannt. Die Wiederkunft Christi ist
die Lösung aller Spannungen. Die Grundspannung des gegenwärtigen Zeitalters ist die zwischen
der Offenkundigkeit des Reiches Satans und der Verborgenheit des Reiches Gottes, trotz des
Sieges von Golgatha! Dann aber, wenn Christus erscheint, wird dies alles gelöst. Dann kommt
mit seinem Offenbarwerden (Kol. 3, 4).

Das Offenbarwerden der Geistleiblichkeit und der Eintritt der Gemeinde aus der Zeit in die
Ewigkeit.

Dann wird die Gegenwart verklärt in die Zukunft hinein, und unser Zustand wird vollkommen
unsrer Stellung entsprechen, und sein göttliches Werk wird unser menschliches Werk in ihm
selber vollenden, und, von der Erde hinweg, werden wir emporgerückt werden in die
Himmelswelt.

III. Abschnitt

Die Hoffnung der Gemeinde

1. Kapitel. DIE ENTRÜCKUNG UND ERSTAUFERSTEHUNG.

»Marana tha! Unser Herr, komm!« 1. Kor. 16, 22.

Das gegenwärtige Zeitalter ist Osterzeit. Es beginnt mit der Auferstehung des Erlösers und endet
mit der Auferstehung der Erlösten. Dazwischen liegt die geistliche »Auferstehung« der zum
Leben Berufenen. So leben wir zwischen zwei Ostern, als Auferstandene zwischen zwei
Auferstehungen, als brennende und scheinende Lichter zwischen zwei »Erscheinungen«
(Epiphanien) des ewigen Lichts. Aber in der Kraft des ersten Ostern gehen wir dem letzten
Ostern entgegen. Die Auferstehung des »Hauptes« verbürgt die Auferstehung der »Glieder«. Der
Lebensbaum der Auferstehung treibt vollreife Früchte.

Die Hoffnung der Gemeinde umfaßt ein Vierfaches:

Die Entrückung und erste Auferstehung (1. Thess. 4, 13 -18)


den Richterstuhl Christi (2. Kor. 5, 10)
die Hochzeit des Lammes (Off. 19, 7; 8)
die kommende Weltherrschaft (1. Kor. 6, 2; 3).

I. Der Zeitpunkt der Entrückung

1. Die zwei Auferstehungen.

Eine allgemeine, gleichzeitige Auferstehung aller Toten und ein einziges, umfassendes End
gericht über Gerechte und Ungerechte lehrt die Heilige Schrift nicht. Sie spricht vielmehr von
einer »Auferstehung aus den Toten« (Luk. 20, 35), einer »ersten« Auferstehung (Off. 20, 6), ja,
einer »Ausauferstehung aus den Toten« (Phil. 3, 11 wörtl.). Sie spricht von »Abteilungen« und
»Ordnungen« innerhalb der Auferstehung (1. Kor. 15, 20-24) und betont, daß diese durch
zeitliche Zwischenräume voneinander getrennt sind: »Gleichwie sie in Adam alle sterben, also
werden sie in Christo alle lebendig gemacht werden. Ein jeglicher aber in seiner Ordnung: der
Erstling Christus, danach die Christo angehören, wenn er kommen wird, danach das Ende (d. h.
das Ende der Auferstehung, nämlich der übrigen Toten)« (1. Kor. 15, 22-24).
Zwar wurde im Alten Testament beides - die Auferstehung »zu ewigem Leben« und die
Auferstehung »zu ewiger Schmach und Schande« - in einem Bilde zusammengeschaut,
desgleichen in den Weissagungen des HErrn Jesu auf Erden (Vgl. Apg. 24, 15); aber beim
Fortschreiten der prophetischen Offenbarung (Joh. 16, 12) traten diese beiden als zwei
Haupthandlungen auseinander: die Auferstehung der Gerechten vor dem Beginn des
Messiasreiches und die allgemeine Auferstehung hinterher, am Ende der Welt. Der Schlüssel ist
Off. 20, 5: »Diese (die Priester Gottes und Christi) lebten und regierten mit Christo tausend Jahre.
Die andern Toten aber wurden nicht wieder lebendig, bis daß tausend Jahre vollendet wurden.
Dies ist die erste Auferstehung.« - »Es gehört eben mit zur Verherrlichung Christi als des
>Hauptes<, dag seinen >Gliedern< eine besondere Auferstehung zuteil wird, eine Auferstehung,
gleich der Seinigen, eine >Auferstehung aus den Toten<« (Mark, 9, 9; Luk. 20, 35).

Diese Auferstehung ist

ihrer Zeit nach - die »erste« Auferstehung (Off. 20, 5; 6),


ihrem Umfang nach - eine »Aus«auferstehung (Phil. 3, 11; Luk. 20, 35),
ihrem Charakter nach - eine Auferstehung der » Gerechten« (Luk. 14, 14),
ihrem Heilsgut nach - eine Auferstehung des »Lebens« (Joh 5, 29; Dan. 12, 2).
Darum: »Glückselig und heilig, wer teilhat an der ersten Auf erstehung!« (Off. 20, 6.)

2. Die Tage Gottes.

Mit Christi erstem Kommen beginnen im Kalender Gottes die »letzten Tage« (Apg. 2,17). Nach
urchristlicher Überzeugung beginnt mit der Menschwerdung Christi die »Endzeit« (Hebr. 1,1).
Denn Christus ist das Endziel, auf welches die äonenlange Vorgeschichte hinstrebte (Hebr. 9,
26). Sein erstes Erscheinen ist der Anfang des Endes, und mit seinem zweiten Erscheinen
beginnt das Ende des Endes. Darum sind auch in ihm nun auf uns, die wir in der messianischen
(christlichen) Zeit leben, die »Endpunkte« und »Zielpunkte« der vormessianischen
(vorchristlichen) Äonen gekommen (1. Kor. 10, 11) Die Christusgemeinde ist das Ziel der
Geschichte. Endgeschichte« im Sinne des Neuen Testaments ist also nicht etwa erst die
Geschichte der letzten Zukunft, sondern die ganze neutestamentliche Heilsgeschichte ist
stufenweise in die Vollendung eingehende Endgeschichte. In Christus ist der Anfang der
Vollendung erschienen. Darum ist alles seitdem bereits »eingetretene Endzeit«. Augenblicklich ist

a) Der »Tag des Heils« (2. Kor. 6, 2), das »Heute« der suchenden Gnade (Hebr. 4,7), die
»Stunde« der vollen Heilskundmachung (Joh. 16, 25), die »Stunde« der Anbetung des Vaters in
Geist und Wahrheit (Joh. 4, 21-23). Das Ziel ist

b) Der »Tag Gottes« (2. Petr. 3, 12), die Neuschöpfung von Himmel und Erde, der »Tag der
Ewigkeit« (2. Petr. 3, 18)

Dazwischen liegt

c) Der »Jüngste Tag«. Auch dieser ist eine lange Periode (vgl. 2. Petr. 3, 8). Er beginnt mit der
»Auferstehung der Gerechten« (Joh. 6, 39) und endet mit dem Gericht über die Verlorenen (Joh.
12, 48). Er umfaßt also - da zwischen diesen beiden das messianische Reich liegt (Off. 20, 5) -
eine Zeitspanne von mehr als einem Jahrtausend (Off. 4, 1 - 20). Er beginnt mit der Entrückung,
dem »Tag Jesu Christi« (Phil. 2, 16; 1, 6; 1. Kor. 1, 8; 2. Kor. 1, 14), der antichristlichen Trübsal,
dem »Tag des HErrn« (2. Thess. 2, 2 - 4), dem »Tage Jahwes« der alttestamentlichen Propheten
(Joel 2, l; 4, 14). Er setzt sich dann fort durch das Herrlichkeitsreich des Messias, durch »jene
Tage«, die Glanzzeit der alten Erde (Jer. 3, 16; Joel 3, 2; Sach. 8, 23), und er endet mit dem
»Tag des Gerichts« (Matth. 10, 15; 11, 22; 12, 36), der Vergeltung für Menschen und Engel (Jud.
6), der letzten Abrechnung vor dem Großen Weißen Thron (Off. 20, 11-15; 2. Petr. 2, 9; 3, 7;
Röm. 2, 5). So gleicht er einem Tage mit dem »Morgenstern« in der Frühe (2. Petr. 1, 19; Off. 22,
16), mit Gewittersturm am Vormittag (Off. 6 - 19), mit Sonnenglanz am Mittag und Nachmittag
(Mal. 3, 20, d.h. dem Tausendjährigen Reich) und mit zündendem Blitzstrahl gegen Abend, (Offb.
20, 9, d.h. Gog und Magog). Zuletzt aber geht von neuem die Sonne auf. »Um den Abend wird es
licht sein«, und aus dem Weltuntergang geht auf ewig die Weltverklärung hervor.

3. Die Vollendung des Zeitalters, die »Ankunft« und »Er scheinung« des HErrn. Der genaue
Zeitpunkt der Entrückung ist nicht zu ermitteln. »Es gebührt euch nicht zu wissen Zeit oder
Stunde« (Apg. 1, 7; Matth. 24, 36; Mark. 13,32).

Die biblische Prophetie ist mehr Wesens- als Geschichtsprophetie. Die Herrlichkeitszeit ist nahe;
denn der HErr spricht: »Siehe, ich komme bald« (Off. 22, 20; 2. Petr. 3, 8). Die Herrlichkeitszeit
ist fern; denn er sagt, daß der Bräutigam »verzog« (Matth. 25, 5). Der Edle, der das Reich
empfängt, zog weit über Land (Luk. 19, 11), und erst »nach langer Zeit« kommt er wieder, um mit
seinen Knechten Abrechnung zu halten (Matth. 25, 19 vgl. 24, 6 - 14) So verbindet sich in der
prophetischen Schau Fernsicht mit unaufgehobener Kurzsicht. Der Grund aber ist, daß wir
»wachen« sollen (Matth. 25, 13). Gott will bei uns Naherwartung und Ewigkeitsbereitschaft. »Die
>letzten< Dinge sollten bei uns immer die >ersten< sein.« »Lasset eure Lenden umgürtet sein
und eure Lichter brennen und seid gleich den Menschen, die auf ihren HErrn warten« (Luk. 12,
35).

In diesem Sinne schauen wir aus nach der letzten Zeit. Sie ist

in bezug auf die Weltregierung Christi die »Vollendung des Zeitalters«;


in bezug auf die Abwesenheit Christi seine königliche Ankunft (Parusie, Advent);
in bezug auf die Verborgenheit Christi (Kol. 3, 3) seine »Offenbarung« und Enthüllung
(Apokalypse);
in bezug auf die Lichtherrlichkeit Christi - seine glanzvolle »Erscheinung« (Epiphanie).

II. Das Wesen der Entrückung

»Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber
alle verwandelt werden« (1. Kor. 15, 51).
»Denn er selbst, der HErr, wird mit einem Feldgeschrei und der Stimme des Erzengels und mit
der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christo werden
auferstehen zuerst. Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen
hinangerückt werden in den Wolken, dem HErrn entgegen in der Luft, und werden also bei dem
HErrn sein allezeit« (1. Thess. 4, 16). Die Entrückung ist, ihrem Wesen nach, ein Fünffaches; sie
ist Wegrückung, Hinrückung, Verklärung, Triumph, Glück seligkeit.

1. Wegrückung. Sie ist eine Entrückung in dem buchstäblichsten Sinne des Wortes, eine
Hinwegrückung aus aller leiblichen und seelischen Not (2. Kor. 5, 2; 4; Phil. 3, 21), aus aller
Verfolgung und Drangsal durch die Feinde (2. Thess. 1, 5 - 10; Off. 12, 4), aus dem gesamten
Bereich der Sünde und des Todes. Als solche aber ist sie eine Tat der göttlichen Gnade und
Barmherzigkeit, eine Tat der göttlichen Allmacht, der Allmacht, die uns verklärt zur
Gleichförmigkeit mit dem Erlöser, und die uns in die verherrlichte Geistleiblichkeit erhebt. An
unserm Leibe wird sich einmal die Kraft betätigen, die das gesamte Weltall bewegt!
»Er wird unsern niedrigen Leib verwandeln, so daß er seinem Herrlichkeitsleibe gleichgestaltet
werde, vermöge der Kraft, mit der er vermag, sich die ganze Welt zu unterwerfen« (Phil. 3, 21).
Darum gebraucht Paulus für »entrücken« auch ein ganz besonders starkes Wort, ein Wort, das
eigentlich »rasch ergreifen, mit Gewalt an sich reißen« bedeutet. ... Darum beschreibt er die
Heimholung der Gemeinde auch durch eine Anhäufung starker, militärischer Bilder. Der HErr
selbst wird vom Himmel herniederkommen unter »Alarmsignalen« und »Kommandorufen«, unter
»Befehlswort« und »Feldgeschrei«, unter »Trompetenklängen« von »Gottesposaunen«, und
dann wird er seine irdische Streiterschar, begleitet von den Kriegsheeren des Himmels, auf ewig
mit ihm selber, dem königlichen Sieger, verbinden (1. Thess. 4, 16).

Gerade dies aber ist das Wichtigste; denn die Entrückung ist eine

2. Hinrückung, und zwar eine Hinrückung der Glieder zum Haupt; denn er »selbst« wird
herniederkommen, und bei ihm werden wir sein allezeit (1. Thess. 4, 16). »Ich komme wieder und
will euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seid« (Joh. 14, 2);
und die Entrückung ist eine Hinrückung der Glieder zueinander; denn die Lebenden werden
»zugleich mit« den Toten emporgerückt werden, und die Gemeinde aller Zeiten und aller Länder
wird zum allerersten Male beieinander sein. Als Ganzes wird die Gemeinde also zum ersten Male
nicht auf der Erde, sondern in der Luft existieren. Bis dahin gibt es nur »Gemeinden« in der
Mehrzahl (Off. 22, 16) und die jeweilig auf Erden lebende Gemeindegeneration. ...

Aber noch mehr. Die also Emporgehobenen werden auch ihre

3. Verklärung empfangen. »In einem Nu, in einem Augenblick, bei dem Schall der letzten
Posaune«, dann werden sie aus dem Niedrigkeitsleib in den Herrlichkeitsleib umgewandelt
werden (1. Kor. 15, 51; Phil. 3,21), und dieses Verwesliche wird Unverweslichkeit, dieses
Sterbliche Unsterblichkeit anziehen.

Dies alles aber gerade in der Luft! (1. Thess. 4, 17.) Welch ein

4. Triumph. Denn gerade die Luft ist die »Operationsbasis« des Feindes. Von der Luft aus wird
gegenwärtig die Welt von dämonischen Gewalten regiert. Darum heißt Satan der »Fürst der
Gewalt der Luft« (Eph. 2, 2 vgl. 6, -12). ... Christus hat völlig gesiegt; seine Gemeinde hat restlos
überwunden. Darum findet die Krönung der Verfolgten gerade in dem »Hauptquartier« ihres
niedergerungenen Verfolgers statt.

5. Glückseligkeit. Dies ist die »glückselige Hoffnung« der Erlösten (Tit. 2, 13). »Ich will euch
wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen«
(Joh. 16, 22).

III. Die kommende Geistleiblichkeit

1. Ihre Notwendigkeit. Aber warum gerade leibliche Auferstehung? Warum nicht schlechthin reine
Geistigkeit? - Weil der Leib nicht ein Kerker der Seele ist, sondern zum Wesen des Menschen
gehört. Ohne Leib ist der Mensch »nackt« (2. Kor. 5, 3). Weil der irdische Leib schon hienieden
zum »Tempel« des Geistes geadelt worden war und darum nicht wüste gelassen werden kann
(Röm. 8, 11; 1. Kor. 6, 19). Weil die Trennung der Geistseele vom Leibe durch die Sünde
zustandegekommen ist (1. Mose 2, 17) und folglich, ohne leibliche Auferstehung, in den Erlösten
etwas von den Wirkungen der Sünde zurückbleiben würde. Gott aber hat den Menschen als
Ganzes geschaffen; als Ganzes will er ihn darum auch erlösen. Bloße Fortdauer des Geistes als
»Unsterblichkeit« wäre jedoch nur eine teilweise Fortsetzung des Lebens, also nur eine teilweise
Erlösung. Gott aber ist ein »Gott nicht der Toten, sondern der Lebendigen« (Matth. 22, 32). Er
läßt nicht fahren die Werke seiner Hände; auch der Stoff ist ein Gedanke und ein Werk seiner
Schöpfermacht. Darum darf nichts von den Seinen im Tode bleiben. Nur so wird der Tod
»verschlungen in den Sieg« (1. Kor. 15, 55; 2. Kor. 5, 4; Jes. 25, 8; Ps. 49, 16). Es darf nicht eine
Erlösung vom Leibe, sondern muß eine »Erlösung des Leibes« sein (Röm. 8, 23). Darum sieht
Christus auch die Auferweckung der Toten als sein besonderes Heilandswerk an, ja, er selber ist
die leibhaftige »Auferstehung«. »Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe
der Vater; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage« (Joh. 6, 44). »Wer mein Fleisch
isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am
Jüngsten Tage« (Joh. 6, 54).

2. Ihre Tatsächlichkeit. Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes. Dies beweist am deutlichsten
der Auferstehungsleib Jesu. Er konnte mit den Augen »gesehen« (Luk. 24, 40) und mit den
Händen »betastet« werden (Luk. 24, 39; Joh. 20, 27). Er konnte Honig und Fisch essen, ja, hatte,
nach dem eigenen Zeugnis des HErrn, sogar »Fleisch und Bein«. »Sehet meine Hände und
meine Füße, daß ich es selbst bin. Betastet mich und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und
Bein, wie ihr sehet, daß ich habe« (Luk. 24, 39).

Der Auferstandene aber ist das Muster und Urbild aller Vollendeten am himmlischen Thron.
Seinem Herrlichkeitsleibe wird der unsere einst gleichgestaltet sein. Darum können wir an seinem
Leibe auch gewisse Grundzüge unseres eigenen, zukünftigen Leibes erkennen, und wenn sein
Leib zur äußeren Grundlage verklärte Stofflichkeit hat, so auch der unsere. Dagegen spricht auch
nicht 1. Kor. 15, 50; denn, wie der Zusammenhang zeigt, sagt Paulus dort nur von dem u n
verklärten »Fleisch und Blut«, daß er das Reich Gottes nicht ererben könne. Auch die Berufung
auf 1. Kor. 15, 44 ist nicht stichhaltig. Denn wohl wird dort der neue Leib ein »geistiger« Leib
genannt. Das bedeutet aber nicht, daß er etwa stofflos sei und rein »aus Geist« bestehe,
genauso wenig, wie der »seelische« (psychische) Leib, den wir jetzt haben, nur »aus Seele«
besteht! Vielmehr soll mit »seelisch« und »geistig« hier lediglich das G r u n d w e s e n beider
Leibarten bezeichnet werden. Im irdischen Leib hat die Seele, im himmlischen Leib hat der Geist
die Vorherrschaft. Die »Verwandlung« des einen in den anderen aber (l. Kor. 15, 51; Phil. 3, 21)
besteht nicht in einem Ausziehen des Stoffes, sondern, gerade umgekehrt, in einem »Anziehen«
(l. Kor. 15, 53; 54), nicht in einem Entkleidetwerden, sondern in einem »Überkleidetwerden«
dieses verweslichen Stoffes mit Unsterblichkeit und Unverweslichkeit (2. Kor. 5, 24). Das Wesen
dieser Verwandlung aber ist restlos unerklärbar; es ist ein Wunder, das genauso, wie auch die
Natur des himmlischen Stoffes, erst in der Ewigkeit erkannt werden wird.

Darum lehrt auch die Schrift eine Auferstehung der »Leiber« aus den »Gräbern«. »Es kommt die
Stunde, in welcher alle, die in den >Gräbern< sind, die Stimme des Menschensohnes hören
werden« (Joh. 5, 28). Dieser »Niedrigkeitsleib« wird verklärt, dieser »in Verwesung« gesäte Leib
wird in Unverweslichkeit und Unsterblichkeit auferstehen (1. Kor. l5, 42; vgl. Hiob 19, 25; 26).

Wenn es aber keine Geistleiblichkeit gäbe und keine unmittelbare Beziehung des jetzigen Leibes
zum zukünftigen, wozu dann das Auftun der Gräber? Wozu dann eine »Auferstehung«
überhaupt? Dann wäre der neue Leib ja ein ganz anderer, nicht aber derselbe, nicht »dieser« in
das Grab »gesäte« Leib! Nein, es muß ein Zusammenhang bestehen zwischen dem alten und
dem neuen Leibe, ein Zusammenhang nicht nur der Seele und der Persönlichkeit, sondern
gerade auch des Leibes. Zwar ist auch bei dem irdischen Leib nicht der Stoff das Entscheidende,
sondern die leibbildende Kraft der Seele; - (Im irdischen Leibe sind die Atome dauernd im Fluß.
Der Stoffwechsel vollzieht alle sieben Jahre eine völlige Umwandlung der ganzen stofflichen
Zusammensetzung des Leibes, so daß nach dem Ablauf dieser Zeit nicht ein einziges Atom von
dem früheren Stoff mehr in ihm vorhanden ist; und dennoch ist es »derselbe« Leib! Die Seele
baut eben in der Kraft, die ihr der Schöpfer gibt, aus dem Stoff ihrer Umwelt fort und fort einen
»neuen« Leib. Der Leib selbst aber ist der der Natur entnommene Stoff, den die Seele belebt und
durchwaltet und, ihrem Charakter entsprechend, zu einer höheren Natureinheit gestaltet). –

Dennoch muß schon in dem verwesenden, alten Leibe ein unzerstörbarer Keim des
Auferstehungsleibes vorhanden sein, der durch die Zeiten hindurch im Grabe bewahrt und dann
bei der Auferstehung und Verklärung mit der »Behausung vom Himmel her« bekleidet werden
wird (2. Kor. 5, 2). Erst so wird begreiflich, daß der alte Leib »auferstehen« muß und daß er als
»Samenkorn« des zukünftigen Leibes bezeichnet werden kann (1. Kor. 15, 35-37; 42-44). Worum
es sich handelt, ist eben Abbruch und Aufbau zugleich, Auflösung und Zusammenhang,
Neuschöpfung und Bewahrung in einem. Der neue Leib aber ist die Verbindung des
Auferstehungskeimes des alten Leibes mit den Lichtstoffen und Lebenskräften der ewigen,
himmlischen Welt.

Wie in der absterbenden Pflanze nur ein Keim zurückbleibt, welcher dann, neue Stoffe an sich
ziehend, unter dem Einfluß des Lichts und der Erde sich zu einem neuen Pflanzenleibe gestaltet,
der vermittels des Keimes derselbe ist mit dem erstorbenen und dennoch ein anderer, so bleibt
auch nach der Auflösung des Menschenleibes ein Keim für den neuen Leib zurück mit der
Möglichkeit neuer Gestaltung. Die Seele ist gleichsam der »Magnet« des Leibes, der den
geheimnisvollen Zusammenschluß der Millionen seiner Atome bewirkt. Im Tode verliert er seine
magnetische Kraft, und die Atome fallen auseinander; in der Auferstehung aber empfängt er sie
wieder zurück, und zwar nun in weit höherem, vollendeterem Maße. Darum zieht nunmehr die
Seele die himmlischen Lichtkräfte an und »umkleidet« sich (2. Kor. 5, 2-4) mit einem neuen,
vollkommenen Herrlichkeitsleibe. - Über den Z w i s c h e n z u s t a n d der Seele zwischen Tod
und Auf erstehung sagt die Heilige Schrift wenig. Gewiß ist, daß die Vollendung des einzelnen an
seine Auferstehung geknüpft ist, also nicht gleich beim Tode eintritt. Die Heilige Schrift aber blickt
zumeist gleich auf das Endziel und übergeht die Zwischenzeit mit nur wenigen Andeutungen, legt
ihr jedenfalls kein besonderes Gewicht bei. Wir sollen auf die Wiederkunft Christi warten und
nicht auf den Tod. Für den gläubig Gestorbenen ist es zunächst selige Wartezeit im »Paradiese«
(Luk. 23, 43), »bei Christo« (Phil. 1, 23; Apg. 7, 58), in »Abrahams Schoß« (Luk. 16, 22), wo es
»weit besser« ist als hier (Phil. 1, 23) ; für den unselig Gestorbenen beginnt gleich das »Feuer«
(Luk. 16, 22-24). Für den Gläubigen ist darum nicht erst die Entrückung, sondern schon vorher
ein Sterben »Gewinn« (Phil. 1, 21); für den Ungläubigen ist es ein schreckliches Erwarten des
gerechten Gerichts Gottes. Die Vollendung beider aber ist die Auferstehung des Lebens bzw. des
Gerichts (Joh. 5, 29). –

Von dem himmlischen »Stoff« aber fehlt uns jede Vorstellung. Nur Bildersprache ist möglich. Er
verhält sich zum irdischen Stoff wie der blitzende Diamant zum dunklen Kohlenstoff, aus dem er
besteht, wie der Lichtleib der Gasflamme zur finsteren Steinkohle, aus der er gemacht ist, wie der
strahlende Edelstein zum lichtlosen Erdreich, aus dem er genommen ist. So aber werden die
Friedhöfe der Menschheit zu »Saatfeldern der Auferstehung«, und das Leichenfeld des Volkes
Gottes wird durch himmlischen Tau zum Auferstehungsgefilde der Vollendung (Jes. 26, 19).

IV. Die siebenfache Herrlichkeit des Auferstehungsleibes

Unbeschreiblich ist das Wesen des neuen Leibes. Nur bildhafte Andeutungen gibt uns die Schrift.

1. Geistigkeit. Der Niedrigkeitsleib ist ein »seelischer« Leib; der Herrlichkeitsleib wird ein
»geistiger« sein (1. Kor. 15, 44-46); das heißt, im Niedrigkeitsleib herrscht die Seele, im
Herrlichkeitsleib herrscht der Geist vor.

2. Gefügigkeit. Der Niedrigkeitsleib ist oft Schranke und Hemmung; der Herrlichkeitsleib wird
ganz Dienstbarkeit sein. Der Niedrigkeitsleib hat als »seelischer« Leib eine gewisse
Selbständigkeit dem Geist gegenüber, eine Selbständigkeit, die sich gar oft steigert bis zum
Widerstreit zwischen Körper und Geist (Röm. 7, 5; 23; 1. Kor. 9, 27; Röm. 6, 6). Der
Herrlichkeitsleib aber wird vollständig vom Geiste durchwaltet sein. Er wird in restloser
Abhängigkeit dem Geist zur Ver fügung stehen und darum ein vollkommenes, über alle Raum-
und Zeitgrenzen erhabenes Werkzeug des Vollendungslebens sein.

In bezug auf die Natur aber waltet das umgekehrte Verhältnis.

3. Freiheit. Der Niedrigkeitsleib, der dem Geist gegenüber selbständig ist, ist der Natur
gegenüber abhängig und unfrei;

der Herrlichkeitsleib, der dem Geist gegenüber abhängig ist, ist der Natur gegenüber selbständig
und frei. Daher bei ersterem die Notwendigkeit der Nahrung und die Gefahren an Krankheit und
Unglück, bei letzterem jedoch seine königliche Freiheit und die Erhabenheit über Stoff, Raum und
Zeit.

So kann er zwar essen, doch ohne es zu müssen (Luk. 24, 41-43) - Freiheit vom Stoff;

so kann er im Innern bei verschlossenen Türen erscheinen (Joh. 20, 19; vgl. Luk. 24, 31; 36) -
Freiheit vom Raum;

so ist er unsterblich in Ewigkeit (1. Kor. 15, 54; 42) - Freiheit von aller Begrenzung durch die Zeit.

4. Hoheit. Der Niedrigkeitsleib ist als »Niedrichkeitsleib« (Phil. 3, 21) ein Leib der »Unehre« (1.
Kor. 15, 43). Der Herrlichkeitsleib aber wird ein Hoheitsleib sein. Das Demütigende des jetzigen
Leibes beweisen Krankheit und Tod, sowie Zeugung, Geburt und die Art seiner Ernährung (1.
Kor. 6, 13); zur Würde des zukünftigen Leibes gehört darum ihre Aufhebung. »In der
Auferstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern sind wie die Engel Gottes
im Himmel« (Matth. 22, 30; Luk. 20,35).- (Das heißt aber nicht: »Sie werden Engel selbst«,
sondern nur in diesem Punkt »wie die Engel«. Kein Mensch wird ein Engel, wenn er stirbt. Wohl
werden wir in Gemeinschaft mit den Engeln sein (Hebr. 12, 22; Luk. 16, 22); aber wir sollen mehr
werden als die Engel (l. Kor. 6, 2; 3). Wir sind »Erstlinge seiner Kreaturen« (Jak. 1, 18) und
»Söhne Gottes« (Röm. 8, 14).

5. Seligkeit. Der Niedrigkeitsleib geht durch Kummer und Schmerz (2. Kor. 5, 2) - der
Herrlichkeitsleib wird voll Seligkeit sein. »Sie wird weder hungern noch dürsten« (Jes. 49, 10; Off.
7, 16). »Weder Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen«
(Off. 21, 4). »Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in
Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen
in Kraft« (1. Kor. 15, 42).

6. Klarheit. Der Niedrigkeitsleib ist eine armselige Hütte, der Herrlichkeitsleib ein lichtstrahlender
Palast. »Die Gerechten werden ... leuchten in ihres Vaters Reich« (Matth. 13, 43):

wie blendend weißer Schnee (Mark. 9,3; Phil. 3, 21),


wie lichtstrahlender Tau (Jes. 26, 19),
wie der Mond und die Sterne (Dan. 12, 3; 1. Kor. 15, 41),
wie die Sonne in ihrer Macht (Matth. 13, 43; Off. 1, 16),
wie der Herr Christus selber in seiner Lichtherrlichkeit (Phil. 3, 21; 1. Joh. 3, 2; 2. Kor. 3, 18).

Dies ist die Schönheit, auf die wir warten. Zu ihr verhält sich der irdische Leib wie ein Samenkorn
zur voll entfalteten Blüte. Sowenig man einem Mohnkörnlein ansieht, daß eine so leuchtende
Pflanze darin enthalten ist, sowenig die Eichel den gewaltigen Eichbaum, der Apfelkern den
Apfelbaum erkennen läßt, so wenig sieht man dem gegenwärtigen Leib die Herrlichkeit des
zukünftigen an.

7. Gleichförmigkeit mit Christo. Das Herrlichste aber ist, daß die Erlösten ihm gleichgestaltet sein
werden.
»Wir werden ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1. Joh. 3, 2).
Wir werden verwandelt werden »zur Gleichförmigkeit mit seinem Herrlichkeitsleibe« (Phil. 3, 2:1).
Wir werden sein »Bild« an uns tragen, »auf daß er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern«
(Röm. 8, 29; Kol. 1, 18).
»Der erste Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch ist vom Himmel. Wie aber der
von Staub ist, so sind auch die, welche vom Staube sind; und wie der Himmlische, so sind auch
die Himmlischen. Und wie wir das Bild dessen vom Staube getragen haben, so werden wir auch
das Bild des Himmlischen tragen« (1. Kor. 15, 47-49).

2. Kapitel. DER RICHTERSTUHL CHRISTI

Die Wiederkunft Christi ist »die glückselige Hoffnung« der Gemeinde (Tit. 2, 13). Dennoch ist sie
nicht nur mit himmlischen Vorrechten, sondern auch mit heiliger Verantwortung verbunden. »Wir
müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nach
dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse« (2. Kor. 5, 10). Ebenso wie die
Entrückung erquickend ist für das Herz, so ist der Richterstuhl Christi anspornend für das
Gewissen.

Sieben Tatsachen sind es, die uns die Heilige Schrift hierüber besonders erkennen läßt:

1. Die Zeit - der »Tag Christi« (1. Kor. 1, 8),


2. Der Richter - Christus selbst (2. Tim 4, 8),
3. Die Personen - »wir alle« (2. Kor. 5, -10),
4. Die Strenge - sein Feuer (1. Kor. 3, 13),
5. Der Maßstab - unsere Treue (1. Kor. 4, 1-5),
6. Das Ergebnis - Lohn oder Verlust (1. Kor. 3, 14),
7. Das Endziel - Herrlichkeit (1. Petr- 5, 4).

I. Die Zeit ist der »Tag Christi«, »jener Tag« (2. Tim. 4,8), das heißt - nach dem Zeugnis des
ganzen Neuen Testaments - die Zeit vor der Aufrichtung des sichtbaren Herrlichkeitsreiches, also
vor dem Tausendjährigen Reich.

Der »Richterstuhl Christi« ist folglich von dem »Großen Weißen Thron« zu unterscheiden. Dieser
wird erst nach dem sichtbaren Herrlichkeitsreich der alten Erde, ja, nach dem Untergang der
ganzen, alten Welt aufgerichtet werden (Off. 20, 11). Er ist aber auch von dem Gericht am
Anfang des Tausendjährigen Reiches zu unterscheiden (Matth. 25, 31-46; Off. 20, 4). Denn dort
werden, nach der Wiederkunft Christi, die dann lebenden Nationen gerichtet. Der »Jüngste Tag«,
als der »Tag des Gerichts« (1. Joh. 4, 17), umfaßt also drei zeitlich zu unterscheidende Gerichte:

a) das Gericht über die Gemeinde, d. h. die Entrückten: vor dem »Richterstuhl Christi«, vor dem
Tausendjährigen Reich,

b) das Gericht über die Völker, d. h. über die dann Lebenden: vor dem »Thron seiner
Herrlichkeit«, zu Beginn des Tausendjährigen Reiches (Matth. 25, 31) und

c) das Gericht über die Allgemeinheit, d. h. über die Toten (Off. 20, 12). vor dem »Großen
Weißen Thron«, nach dem Tausendjährigen Reich.

II. Der Richter ist Christus, »der HErr, der gerechte Richter« (2. Tim. 4, 8). Denn alles Gericht hat
der Vater dem Sohne gegeben (Joh. 5, 22). Darum ist es auch vor dem Tausendjährigen Reich
sowohl der »Richterstuhl Christi« (2. Kor. 5, 10) als auch der »Richterstuhl Gottes« (Röm. 14,
10).

III. Die Personen sind »wir alle« (2. Kor. 5, 10), die »Einheimischen« und die »Ausheimischen«,
alle Erlösten, die dann Lebenden und die schon Entschlafenen. Wohl ist, wer an den Sohn
glaubt, von dem Endgericht befreit (Joh. 5, 24; Hebr. 10, 14) (denn es gibt »keine Verdammnis
für die, welche in Christo Jesu sind«, Röm. 8, 1); aber die Frage der Treue (1. Kor. 4, 2-5) und die
Festsetzung des »Lohnes« (1. Kor. 3, 14; Kol. 3, 24) oder auch des »Verlustes« (1. Joh. 2, 28)
erfordert einen besonderen »Gerichtstag« (1. Joh. 4, 17) auch für die Gläubigen! Hier handelt es
sich dann nicht mehr um die Frage der Errettung, wohl aber um das Maß des Lohnes der Gnade.

IV. Die Strenge. »Der HErr wird sein Volk richten« (Hebr. 10, 30). Auch für die Seinen wird der
Tag »im Feuer geoffenbart« werden (1. Kor. 3, 13). Darum spricht Paulus gerade in Verbindung
mit dem Richterstuhl Christi (!) von einem »Schrecken des HErrn« (2. Kor. 5, 11)! »Schaden« und
»Verlust« (1. Kor. 3, 15; 2. Joh. 8), »Beschämung« von seinem Angesicht her (1. Joh. 2, 28),
»Verbrennung« des ganzen Lebenswerkes (1. Kor. 3, 13), selber gerettet werden, doch nur wie
ein Brand aus dem Feuer, »wie einer, der bei einem Brande nur mit dem nackten Leben
davonkommt« (1. Kor, 3, 15) - das sind Möglichkeiten, denen wir ins Auge sehen müssen!
Brechen wir darum dem Schwert die Spitze nicht ab (Hebr. 4, 12)! Bei aller Gewißheit der
Errettung und aller Alleinigkeit des göttlichen Tuns gilt das Wort: »Bewirket eure eigene Seligkeit
mit Furcht und Zittern!« (Phil. 2, 12.)

V. Der Maßstab ist die Treue (1. Kor, 4, 1-5; Matth. 25, 21), das Ganze unseres Lebens, das
Ergebnis unseres Gewordenseins. Nicht nur unsere Taten, sondern auch unsere Möglichkeiten,
nicht nur, was wir waren, sondern auch, was wir hätten sein können, nicht nur unsere
Handlungen, sondern auch unsere Unterlassungen (Jak. 4, 17); nicht die Arbeit, sondern der
Arbeiter, nicht die Menge, sondern das Gewicht unserer Taten (1. Sam. 2, 3), nicht nur, was wir
erreichten, sondern auch, was wir erstrebten. Von unseren Werken gelten vor allem die Opfer,
von unserer Gesinnung nur selbstlose Liebe, von unserm Besitz nur, was wir in den Dienst
stellten. Von unsern Sünden aber gilt der Satz: Was wir gerichtet haben, wird er nicht mehr
richten (1. Kor. -11, 3-1); was wir aufgedeckt haben, wird er zudecken (1. Joh. 1, 9; Hebr. 8, 12);
was wir aber zugedeckt haben, wird er aufdecken (Luk. 12, 2)! In dem allen aber wird er auf das
Innerste schauen, auf die Triebkräfte und Beweggründe, auf die Ratschläge der Herzen, auf die
im Dunkeln verborgenen Geheimnisse der Seele (1. Kor. 4, 5; 1. Sam. 16, 7; Hebr. 4, 13; Psalm
139).

Vl. Das Ergebnis wird sehr verschieden sein. Auch den Sei nen gegenüber ist der HErr »der
gerechte Richter« (2. Tim. 4, 8).
Die einen haben Heu, Stroh und Stoppeln gebaut - ihr Werk wird verbrennen; die andern haben
Gold, Silber und kostbare Steine gebaut - ihr Werk wird das Feuer bewähren (1. Kor. 3, 12-15).

Die einen haben in Treue gedient - sie werden groß sein im Reiche der Himmel (Matth. 5, 19;
Luk. 19, 17); die andern haben auf das Fleisch gesät - sie werden das Verderben ihres
Lebenswerkes ernten (Gal. 6, 6-8).

Die einen sind »lauter«, »tadellos« und »unanstößig« (Phil. 1, 10; 1. Kor. 1, 8) - sie werden den
»Kampfpreis« gewinnen (Phil. 3, 14); die andern sind arm (Off. 3, 17) und »unbewährt« (1. Kor.
9, 27) - sie werden »Verlust« erleiden (1. Kor, 3, 15; 2. Joh. 8; 2. Tim. 2, 5).

Die einen haben »Freimütigkeit« am Tage des Gerichts (1. Joh. 4, 17); den andern wird
»Beschämung« zuteil (1. Joh. 2, 28).

So empfängt jeder, was ihm zusteht (Hebr. 6, 10; 1. Kor. 4, 5; 2. Tim. 4, 8), »ohne Ansehen der
Person« (1. Petr. 1, 17), je »nach dem er gehandelt hat bei Leibes Leben, es sei gut oder böse«
(2. Kor. 5, 10; Kol. 3, 24; 25). Die »Errettung« hängt mit dem Glauben zusammen, der »Lohn« mit
der Treue. Als »Söhne« empfangen wir sein Leben, als Diener seine Belohnung. »Siehe, ich
komme bald, und mein Lohn mit mir« (Off. 22,12).

Aber alle werden errettet, und alle werden leuchten, wenn auch verschieden an Herrlichkeit und
Glanz (1. Kor. 15, 40 42). Es wird »große« und »kleine« Gefäße dereinst geben; aber alle werden
gefüllt sein. Es wird Grade und Stufen der Herrlichkeit geben (Matth. 25, 14-30), aber
unterschiedslose Glückseligkeit (Matth. 20, 1-16)! Denn der Diener und der Dienste sind viele,
aber der HErr ist nur einer.

Die Getreuen aber werden besonders gekrönt:


die siegreichen Kämpfer - mit der »Krone der Gerechtigkeit« (2. Tim. 4, 8);
die zielbewußten Wettläufer - mit der »unvergänglichen Krone« (1. Kor. 9, 25);
die bis zum Tode Getreuen - mit der »Krone des Lebens« (Off. 2, 10; Jak. 1, 12);
die selbstlosen Arbeiter - mit der »Krone des Ruhmes« (1. Thess. 2, 19 Vgl. 3-6; Phil. 4, 1);
die Vorbilder der Herde - mit der »Krone der Herrlichkeit« (1. Petr. 5, 3).

VII. Die Herrlichkeit.

Durch dies alles wird für die Gemeinde die Vollendung kommen. »Und ich hörte wie eine Stimme
einer großen Volksmenge und wie ein Rauschen vieler Wasser und wie ein Rollen starker
Donner, welche sprachen: Halleluja! Denn der HErr, unser Gott, der Allmächtige hat das Reich
eingenommen. Lasset uns fröhlich sein und frohlocken und ihm die Ehre geben; denn die
Hochzeit des Lammes ist gekommen und sein Weib hat sich bereitet . . . Glückselig, die geladen
sind zum Hochzeitsmahl des Lammes« (Off. 19, 6-9).

Gleichzeitig ist aber auch der große Tag angebrochen, an dem der HErr das Heer der Höhe in
der Höhe und die Könige der Erde auf der Erde heimsuchen wird (Jes. 24, 2-1), und an dem es
ihm wohlgefällt, das große Reich der Macht und Herr lichkeit seiner »kleinen Herde« zu geben
(Luk. 12, 32). »Ich sah Throne, und sie saßen darauf, und es wurde ihnen gegeben, Gericht zu
halten« (Off. 20, 4). »Die Heiligen des Höchsten werden das Reich einnehmen« (Dan. 7, 18; Off.
1, 6; 5, 10). Die vor dem Preisrichterstuhl Christi Gerichteten werden zu den Richtern der Welt
gemacht werden. Sie werden die Herrschaftsaristokratie im ewigen Himmelreich sein.

Und weil sie »ein Leib« sind, darf der einzelne nicht vor der Gesamtheit verherrlicht werden (1.
Thess. 4, 15). Das Ganze ist ein »Erbe der Heiligen im Licht«, und der einzelne hat nur einen
»Anteil« daran (Kol. 1, 12). Sie alle zusammen sind ein »Königreich«, ein »Königtum« (Off. 1, 6;
5,10), und die einzelnen sind darin »Priester und Könige«. Das Ganze ist dem einzelnen
übergeordnet. Der einzelne ist eingereiht in den Gesamtverlauf des Ganzen. Der einzelne kann
darum seine Vollendung nicht haben in seiner Vereinzelung, sondern nur in persönlichem
Lebenszusammenhang mit der vollendeten Gesamtheit.

Daher das Warten der Entschlafenen auf die Vollendung der kommenden Generationen (Hebr.
11, 40; Off. 6, 10).

Daher noch nicht gleich beim Tode die Umkleidung der »Seelen« (Off. 6, 9; Hebr. 12, 23) mit
dem kommenden Herrlichkeitsleibe . - (Dies geschieht erst »bei seiner Ankunft« (l. Kor. 15, 23).
Das Erscheinen von Mose und Elia bei der Verklärung (Matth. 17, 3) und die Auferstehung vieler
alttestamentlicher Heiligen bei der Auferstehung Jesu (Matth. 27, 52) sind Ausnahmen um der
persönlichen Herrlichkeit Jesu willen und des Triumphes seines Werkes von Golgatha). -

Daher das zeitliche Zusammenfallen der Auferstehung der Toten in Christo mit der
»Überkleidung« (2. Kor. 5, 2-4) der dann Lebenden bei der Entrückung (1. Thess. 4, 15). Denn
das Endziel des Ganzen ist ein Organismus, nicht nur Errettung des einzelnen, sondern
Verherrlichung der Gesamtheit, nicht nur persönliches Seligwerden, sondern das »Reich Gottes«
(Matth. 6, 10).

Und gleichwie jetzt Gottes kosmisch-universaler Weltenstaat unter der Verwaltung von
Engelbezirksfürsten steht (vgl. Dan. 10, 13; 20), so wird dann die Schar der Erlösten über
Sonnen und Welten mit Christo, ihrem Haupte, königlich regieren (Off. 22, 5). »Wisset ihr nicht,
daß die Heiligen die Welt richten werden? Wisset ihr nicht, daß wir Engel richten werden?« (1.
Kor. 6, 2) Darum: »Wer überwindet, dem werde ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen,
wie auch ich überwunden und mich mit meinem Vater gesetzt habe auf seinen Thron« (Off. 3, 21

---

Das könnte Ihnen auch gefallen