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J.E. Schulte (Hrsg.

): Die SS, Himmler und die Wewelsburg 2010-1-083

Schulte, Jan Erik (Hrsg.): Die SS, Himmler Gesellschaft.


und die Wewelsburg. Paderborn u.a.: Ferdi- Anhand der Analyse der SS-
nand Schöningh Verlag 2009. ISBN: 978-3- Gruppenführerbesprechung auf der Wewels-
506-76374-7; XXXVI, 556 S. burg vom 12. bis 15. Juni 1941 nimmt Schulte
anschließend eine „historische Ortsbestim-
Rezensiert von: Thomas Köhler, Histori- mung“ zum zentralen Themenkomplex „SS,
sches Seminar der Westfälischen Wilhelms- Wewelsburg und nationalsozialistischer Ras-
Universität Münster senkrieg“ vor. In Himmlers mythologischen
und weltanschaulichen Vorstellungen stellten
Der methodische und inhaltliche Anspruch die Wewelsburg und das dazugehörige Dorf
des zu besprechenden voluminösen Sammel- in geographischer und kultureller Hinsicht
bandes „Die SS, Himmler und die Wewels- germanisches Kernland dar. Im September
burg“ ist ambitioniert: Fokussiert auf die von 1934 wurde der Komplex offiziell angemietet.
der SS umgestaltete Wewelsburg und das am Erste Bauarbeiten führte der Reichsarbeits-
Ortsrand errichtete Konzentrationslager Nie- dienst (RAD) durch, ab 1939 wurden dafür
derhagen soll mit Hilfe von insgesamt 27 Ein- Häftlinge eingesetzt, die im Konzentrati-
zelbeiträgen eine Verschränkung mit der Ge- onslager Niederhagen – dem zweitkleinsten
samtgeschichte der Schutzstaffel geschaffen KZ-Hauptlager – am Rande des Dorfes in-
und sollen darüber hinaus noch Kontinuitä- haftiert waren. Vom Nutzungskonzept her
ten nach 1945 in den Blick genommen wer- betrachtet fungierte die Burganlage nicht
den. Grundlage des Sammelbandes war eine als Massenschulungsstätte für untere und
wissenschaftliche Tagung aus dem Jahr 2005, mittlere SS-Dienstränge, sondern als elitäres
wobei der Sammelband lobenswerter Weise ideologisches Zentrum der SS-Führung.
nicht einfach eine schriftliche Zusammenfas- Himmler versuchte also auf Grundlage von
sung der Tagungsbeiträge darstellt, sondern germanischer Mystik und Rassenideologie
nun deutlich erweitert in sechs Großkapi- den Orden SS und den „Mythos Wewels-
teln („Strukturen“, „Radikalisierung“, „Welt- burg“ zu konstruieren. Insofern rief Heinrich
bilder und Selbstbilder“, „Hybris und Rea- Himmler kurz vor Beginn des sogenannten
lität“, „Ort des Terrors“ sowie „Kontinuitä- Barbarossa-Feldzuges die Führungsspitzen
ten“) die jeweiligen Fachbeiträge unter einer aus SS und Polizei (unter anderem Rein-
Leitthematik gebündelt werden. Tagung wie hard Heydrich, Kurt Daluege und Oswald
Sammelband dienen als Grundlage der Neu- Pohl) nicht im politischen Zentrum Berlin,
konzeption der Dauerausstellung, die 2010 sondern am vermeintlich dezentralen Ort
die ursprüngliche und mittlerweile veraltete Wewelsburg zusammen, um dort die Rah-
Präsentation ablösen soll. menbedingungen des Lebensraum- und
Jan Erik Schulte als Herausgeber des Ban- Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion
des schickt zwei einführende Beiträge voraus, abzustecken und die SS-Generäle weltan-
die den methodischen Aufbau des Bandes – schaulich auf den mörderischen Charakter
also die Verzahnung von Mikro- und Ma- des Unternehmens festzulegen. Es wurde
kroebene in Bezug auf die Wewelsburg und nach Schulte somit auf der Wewelsburg die
die überregionale SS-Geschichte – widerspie- gemeinschaftliche Basis geschaffen, „von der
geln. Zunächst gelingt ihm ein konziser Über- aus die Radikalisierung der verbrecherischen
blick zu den Erzähltraditionen und zum For- Praxis Raum greifen konnte“ (S. 20).
schungsstand der SS-Geschichte, aus dem zu- In den Beiträgen von Armin Nolzen zu
gleich die paradigmatischen Perspektivwech- Abgrenzungsstrategien der SS gegenüber der
sel in der Forschung zum NS-Staat insgesamt NSDAP und Michael Wildt, der in Anleh-
deutlich werden. Schwerpunkte setzt Schul- nung an seine Habilitationsschrift den pro-
te hier unter anderem bei den Themengebie- totypischen Charakter des Reichssicherheits-
ten Weltanschauung, Holocaustthesen, Täter- hauptamtes als dynamische und sich radi-
forschung zu SS und Polizei sowie bei Netz- kalisierende Terrorzentrale herausstellt, wird
werkbildungen nach 1945 sowie der Frage der überwiegend der Makrokosmos der struktu-
Integration der Täter in die bundesdeutsche rellen Voraussetzungen und Ausgestaltungen

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der SS in den Blick genommen. Ruth Bet- nem sehr dichten Beitrag Norbert Ellermanns
tina Birn unterstreicht zum Abschluss die- als auch als Konzentrationslager. Aus ver-
ser Sektion „Strukturen“ den Grundlagen- schiedenen Perspektiven werden Täter, Op-
charakter der Rassenlehre in der SS im dy- fer wie Zuschauer in den Blick genommen.
namischen Spannungsverhältnis zur kriegs- Konzentriert sich Kirsten John-Stucke auf die
technisch (vorübergehend) notwendigen und Zeugen Jehovas und deren Widerstandsver-
pragmatischen Einverleibung von sogenann- suche, weitet Andreas Neuwöhner den Blick-
ten „Fremdvölkischen“ in die SS. Sie unter- winkel auf Wandlungsprozesse in der Häft-
streicht somit erneut das aktuelle Forschungs- lingszusammensetzung zu Beginn der 1940er-
paradigma einer hohen Anpassungsfähigkeit Jahre aus. Die Verschränkung von Mikro- und
und Flexibilität nationalsozialistischer Macht- Makroebene verdeutlicht hier, dass auch das
politik. KZ Niederhagen-Wewelsburg im Analysefo-
Auch der Themenblock „Radikalisierung“ kus der Häftlingszusammensetzung Teil des
verharrt auf der Makroebene. Während Mat- dynamischen Gesamtsystems der national-
thias Hambrock versucht, Radikalisierungs- sozialistischen Konzentrationslager war. Do-
schübe und damit einhergehende Verbre- minierten bis 1942 deutsche Häftlinge und
chenskomplexe mit Hilfe eines SS-eigenen die Zeugen Jehovas die Häftlingsgesellschaft,
Opfernarrativs zu deuten, reflektieren Martin wurden während der Kriegsphase immer
Cüppers in Anlehnung an seine 2005 veröf- mehr osteuropäische Häftlinge interniert und
fentlichte Dissertation sowie Jan Erik Schul- als Zwangsarbeiter eingesetzt. Ein dramati-
te Entscheidungsprozesse hin zum Genozid. scher Anstieg der Todeszahlen verdeutlicht
Dazu gehen sie auf die Fallbeispiele des Kom- zudem Radikalisierungsprozesse auf Seiten
mandostabes Reichsführer-SS sowie des SS- des SS-Wachpersonals.
und Polizeiführers in Lublin, Otto Globocnik, Am biographischen Beispiel von Hans
zum Bau des Vernichtungslagers Belzec im Lau rekonstruiert Sabine Kritter exemplarisch
Rahmen der „Aktion Reinhardt“ zur Ermor- das Selbstbild und die Motivationsgrundla-
dung der polnischen Juden ein. ge des SS-Wachkompanieführers. Eine ge-
Eine engere thematische Verzahnung wei- festigte und zum Teil fanatische ideologi-
sen die Beiträge in den Kapiteln „Weltbilder sche Überzeugung, der Wunsch nach kame-
und Selbstbilder“, „Hybris und Realität“ und radschaftlicher Anerkennung sowie das Stre-
„Ort des Terrors“ auf, da die Forschungser- ben nach materiellem Vorteil waren die Ba-
gebnisse einen direkten Bezug zur geplan- sis seiner Handlungslegitimation, wobei Krit-
ten neuen Dauerausstellung aufweisen. Skiz- ter das weltanschauliche Moment vor allem in
ziert Christian Jansen zunächst die übergrei- der Kriegsendphase deutlich heraushebt. Dia-
fenden Tendenzen völkischer und rassischer na Schlegelmilch öffnet mit einer anspruchs-
Ideologeme in der deutschen Wissenschafts- vollen Analyse von Zeitzeugen-Interviews,
landschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahr- die einen (retrospektiven) Blick in Wahr-
hunderts, geben die Studien unter anderem nehmungsmuster der einheimischen Bevölke-
von Markus Moors, Beate Herring und Frank rung offenlegen, die Forschungsperspektive
Huismann Einblicke in die teils recht diffusen auf den bundesrepublikanischen Zeitraum.
Vorstellungen und Planungen zum ideologi- Im Schlusskapitel „Kontinuitäten“ sind die
schen Nutzungskonzept der Wewelsburg. Vor Beiträge von Wulff E. Brebeck zur konflikt-
allem anhand der Biographie des Archäolo- behafteten Geschichte der Gedenkpraxis an
gen Wilhelm Jordan werden aber auch Karrie- die Opfer des KZs Niederhagen sowie die
rewege zwischen der Wewelsburg und späte- Analyse von esoterischer und rechtsradika-
ren „wissenschaftlichen“ Einsatzaufgaben als ler Literatur und deren Einfluss auf das Ge-
„Wehrgeologe“ in den eroberten Ostgebieten schichtsbild der Wewelsburg durch Daniela
deutlich. Siepe hervorzuheben. Dagegen bleiben die
Die zwei letztgenannten Abschnitte neh- Beiträge Michael Okroys zum Wuppertaler
men dagegen das Lager Niederhagen in Bialystok-Prozess und Karsten Wilkes Aus-
den Blick, sowohl in der Nutzung als SS- führungen zum Netzwerk der „Hilfsgemein-
Umsiedlungslager für Volksdeutsche in ei- schaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen

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J.E. Schulte (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg 2010-1-083

der ehemaligen Waffen-SS“ etwas unverbun-


den im Raum stehen, zumal Karola Fings
übergreifende Einordnungen zur selektiven
bundesdeutschen Erinnerungskultur an das
Konzentrationslagersystem bereits den dis-
kursiven Rahmen gewohnt präzise abgesteckt
hatten.
Der Sammelband „Die SS, Himmler und
die Wewelsburg“ löst Karl Hüsers Dokumen-
tation aus dem Jahr 1982 als grundlegen-
des Werk zur Geschichte der Wewelsburg
ab. Durch den methodischen Ansatz, nicht
nur lokal- und regionalgeschichtlich zu ar-
beiten, sondern Mikro- und Makroebene mit-
einander in eine enge Beziehung zu setzen,
gelingt es, sowohl aktuelle Forschungsansät-
ze zur SS- und Konzentrationslagergeschich-
te auf den Themenkomplex zu übertragen, als
auch in einzelnen Beiträgen Impulse in den
überregionalen Forschungsdiskurs einzubrin-
gen. Wenn auch in den Kapiteln „Struktu-
ren“, „Radikalisierung“ und „Kontinuitäten“
eine noch stärkere Verzahnung zur Wewels-
burg hätten vorgegeben werden können, darf
schon mit Spannung auf die museale Um-
setzung des Forschungsprojektes am histori-
schen Ort gewartet werden.

HistLit 2010-1-083 / Thomas Köhler über


Schulte, Jan Erik (Hrsg.): Die SS, Himmler und
die Wewelsburg. Paderborn u.a. 2009, in: H-
Soz-u-Kult 03.02.2010.

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