Schulte, Jan Erik (Hrsg.): Die SS, Himmler Gesellschaft.
und die Wewelsburg. Paderborn u.a.: Ferdi- Anhand der Analyse der SS- nand Schöningh Verlag 2009. ISBN: 978-3- Gruppenführerbesprechung auf der Wewels- 506-76374-7; XXXVI, 556 S. burg vom 12. bis 15. Juni 1941 nimmt Schulte anschließend eine „historische Ortsbestim- Rezensiert von: Thomas Köhler, Histori- mung“ zum zentralen Themenkomplex „SS, sches Seminar der Westfälischen Wilhelms- Wewelsburg und nationalsozialistischer Ras- Universität Münster senkrieg“ vor. In Himmlers mythologischen und weltanschaulichen Vorstellungen stellten Der methodische und inhaltliche Anspruch die Wewelsburg und das dazugehörige Dorf des zu besprechenden voluminösen Sammel- in geographischer und kultureller Hinsicht bandes „Die SS, Himmler und die Wewels- germanisches Kernland dar. Im September burg“ ist ambitioniert: Fokussiert auf die von 1934 wurde der Komplex offiziell angemietet. der SS umgestaltete Wewelsburg und das am Erste Bauarbeiten führte der Reichsarbeits- Ortsrand errichtete Konzentrationslager Nie- dienst (RAD) durch, ab 1939 wurden dafür derhagen soll mit Hilfe von insgesamt 27 Ein- Häftlinge eingesetzt, die im Konzentrati- zelbeiträgen eine Verschränkung mit der Ge- onslager Niederhagen – dem zweitkleinsten samtgeschichte der Schutzstaffel geschaffen KZ-Hauptlager – am Rande des Dorfes in- und sollen darüber hinaus noch Kontinuitä- haftiert waren. Vom Nutzungskonzept her ten nach 1945 in den Blick genommen wer- betrachtet fungierte die Burganlage nicht den. Grundlage des Sammelbandes war eine als Massenschulungsstätte für untere und wissenschaftliche Tagung aus dem Jahr 2005, mittlere SS-Dienstränge, sondern als elitäres wobei der Sammelband lobenswerter Weise ideologisches Zentrum der SS-Führung. nicht einfach eine schriftliche Zusammenfas- Himmler versuchte also auf Grundlage von sung der Tagungsbeiträge darstellt, sondern germanischer Mystik und Rassenideologie nun deutlich erweitert in sechs Großkapi- den Orden SS und den „Mythos Wewels- teln („Strukturen“, „Radikalisierung“, „Welt- burg“ zu konstruieren. Insofern rief Heinrich bilder und Selbstbilder“, „Hybris und Rea- Himmler kurz vor Beginn des sogenannten lität“, „Ort des Terrors“ sowie „Kontinuitä- Barbarossa-Feldzuges die Führungsspitzen ten“) die jeweiligen Fachbeiträge unter einer aus SS und Polizei (unter anderem Rein- Leitthematik gebündelt werden. Tagung wie hard Heydrich, Kurt Daluege und Oswald Sammelband dienen als Grundlage der Neu- Pohl) nicht im politischen Zentrum Berlin, konzeption der Dauerausstellung, die 2010 sondern am vermeintlich dezentralen Ort die ursprüngliche und mittlerweile veraltete Wewelsburg zusammen, um dort die Rah- Präsentation ablösen soll. menbedingungen des Lebensraum- und Jan Erik Schulte als Herausgeber des Ban- Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion des schickt zwei einführende Beiträge voraus, abzustecken und die SS-Generäle weltan- die den methodischen Aufbau des Bandes – schaulich auf den mörderischen Charakter also die Verzahnung von Mikro- und Ma- des Unternehmens festzulegen. Es wurde kroebene in Bezug auf die Wewelsburg und nach Schulte somit auf der Wewelsburg die die überregionale SS-Geschichte – widerspie- gemeinschaftliche Basis geschaffen, „von der geln. Zunächst gelingt ihm ein konziser Über- aus die Radikalisierung der verbrecherischen blick zu den Erzähltraditionen und zum For- Praxis Raum greifen konnte“ (S. 20). schungsstand der SS-Geschichte, aus dem zu- In den Beiträgen von Armin Nolzen zu gleich die paradigmatischen Perspektivwech- Abgrenzungsstrategien der SS gegenüber der sel in der Forschung zum NS-Staat insgesamt NSDAP und Michael Wildt, der in Anleh- deutlich werden. Schwerpunkte setzt Schul- nung an seine Habilitationsschrift den pro- te hier unter anderem bei den Themengebie- totypischen Charakter des Reichssicherheits- ten Weltanschauung, Holocaustthesen, Täter- hauptamtes als dynamische und sich radi- forschung zu SS und Polizei sowie bei Netz- kalisierende Terrorzentrale herausstellt, wird werkbildungen nach 1945 sowie der Frage der überwiegend der Makrokosmos der struktu- Integration der Täter in die bundesdeutsche rellen Voraussetzungen und Ausgestaltungen
der SS in den Blick genommen. Ruth Bet- nem sehr dichten Beitrag Norbert Ellermanns tina Birn unterstreicht zum Abschluss die- als auch als Konzentrationslager. Aus ver- ser Sektion „Strukturen“ den Grundlagen- schiedenen Perspektiven werden Täter, Op- charakter der Rassenlehre in der SS im dy- fer wie Zuschauer in den Blick genommen. namischen Spannungsverhältnis zur kriegs- Konzentriert sich Kirsten John-Stucke auf die technisch (vorübergehend) notwendigen und Zeugen Jehovas und deren Widerstandsver- pragmatischen Einverleibung von sogenann- suche, weitet Andreas Neuwöhner den Blick- ten „Fremdvölkischen“ in die SS. Sie unter- winkel auf Wandlungsprozesse in der Häft- streicht somit erneut das aktuelle Forschungs- lingszusammensetzung zu Beginn der 1940er- paradigma einer hohen Anpassungsfähigkeit Jahre aus. Die Verschränkung von Mikro- und und Flexibilität nationalsozialistischer Macht- Makroebene verdeutlicht hier, dass auch das politik. KZ Niederhagen-Wewelsburg im Analysefo- Auch der Themenblock „Radikalisierung“ kus der Häftlingszusammensetzung Teil des verharrt auf der Makroebene. Während Mat- dynamischen Gesamtsystems der national- thias Hambrock versucht, Radikalisierungs- sozialistischen Konzentrationslager war. Do- schübe und damit einhergehende Verbre- minierten bis 1942 deutsche Häftlinge und chenskomplexe mit Hilfe eines SS-eigenen die Zeugen Jehovas die Häftlingsgesellschaft, Opfernarrativs zu deuten, reflektieren Martin wurden während der Kriegsphase immer Cüppers in Anlehnung an seine 2005 veröf- mehr osteuropäische Häftlinge interniert und fentlichte Dissertation sowie Jan Erik Schul- als Zwangsarbeiter eingesetzt. Ein dramati- te Entscheidungsprozesse hin zum Genozid. scher Anstieg der Todeszahlen verdeutlicht Dazu gehen sie auf die Fallbeispiele des Kom- zudem Radikalisierungsprozesse auf Seiten mandostabes Reichsführer-SS sowie des SS- des SS-Wachpersonals. und Polizeiführers in Lublin, Otto Globocnik, Am biographischen Beispiel von Hans zum Bau des Vernichtungslagers Belzec im Lau rekonstruiert Sabine Kritter exemplarisch Rahmen der „Aktion Reinhardt“ zur Ermor- das Selbstbild und die Motivationsgrundla- dung der polnischen Juden ein. ge des SS-Wachkompanieführers. Eine ge- Eine engere thematische Verzahnung wei- festigte und zum Teil fanatische ideologi- sen die Beiträge in den Kapiteln „Weltbilder sche Überzeugung, der Wunsch nach kame- und Selbstbilder“, „Hybris und Realität“ und radschaftlicher Anerkennung sowie das Stre- „Ort des Terrors“ auf, da die Forschungser- ben nach materiellem Vorteil waren die Ba- gebnisse einen direkten Bezug zur geplan- sis seiner Handlungslegitimation, wobei Krit- ten neuen Dauerausstellung aufweisen. Skiz- ter das weltanschauliche Moment vor allem in ziert Christian Jansen zunächst die übergrei- der Kriegsendphase deutlich heraushebt. Dia- fenden Tendenzen völkischer und rassischer na Schlegelmilch öffnet mit einer anspruchs- Ideologeme in der deutschen Wissenschafts- vollen Analyse von Zeitzeugen-Interviews, landschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahr- die einen (retrospektiven) Blick in Wahr- hunderts, geben die Studien unter anderem nehmungsmuster der einheimischen Bevölke- von Markus Moors, Beate Herring und Frank rung offenlegen, die Forschungsperspektive Huismann Einblicke in die teils recht diffusen auf den bundesrepublikanischen Zeitraum. Vorstellungen und Planungen zum ideologi- Im Schlusskapitel „Kontinuitäten“ sind die schen Nutzungskonzept der Wewelsburg. Vor Beiträge von Wulff E. Brebeck zur konflikt- allem anhand der Biographie des Archäolo- behafteten Geschichte der Gedenkpraxis an gen Wilhelm Jordan werden aber auch Karrie- die Opfer des KZs Niederhagen sowie die rewege zwischen der Wewelsburg und späte- Analyse von esoterischer und rechtsradika- ren „wissenschaftlichen“ Einsatzaufgaben als ler Literatur und deren Einfluss auf das Ge- „Wehrgeologe“ in den eroberten Ostgebieten schichtsbild der Wewelsburg durch Daniela deutlich. Siepe hervorzuheben. Dagegen bleiben die Die zwei letztgenannten Abschnitte neh- Beiträge Michael Okroys zum Wuppertaler men dagegen das Lager Niederhagen in Bialystok-Prozess und Karsten Wilkes Aus- den Blick, sowohl in der Nutzung als SS- führungen zum Netzwerk der „Hilfsgemein- Umsiedlungslager für Volksdeutsche in ei- schaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen
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der ehemaligen Waffen-SS“ etwas unverbun-
den im Raum stehen, zumal Karola Fings übergreifende Einordnungen zur selektiven bundesdeutschen Erinnerungskultur an das Konzentrationslagersystem bereits den dis- kursiven Rahmen gewohnt präzise abgesteckt hatten. Der Sammelband „Die SS, Himmler und die Wewelsburg“ löst Karl Hüsers Dokumen- tation aus dem Jahr 1982 als grundlegen- des Werk zur Geschichte der Wewelsburg ab. Durch den methodischen Ansatz, nicht nur lokal- und regionalgeschichtlich zu ar- beiten, sondern Mikro- und Makroebene mit- einander in eine enge Beziehung zu setzen, gelingt es, sowohl aktuelle Forschungsansät- ze zur SS- und Konzentrationslagergeschich- te auf den Themenkomplex zu übertragen, als auch in einzelnen Beiträgen Impulse in den überregionalen Forschungsdiskurs einzubrin- gen. Wenn auch in den Kapiteln „Struktu- ren“, „Radikalisierung“ und „Kontinuitäten“ eine noch stärkere Verzahnung zur Wewels- burg hätten vorgegeben werden können, darf schon mit Spannung auf die museale Um- setzung des Forschungsprojektes am histori- schen Ort gewartet werden.
HistLit 2010-1-083 / Thomas Köhler über
Schulte, Jan Erik (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg. Paderborn u.a. 2009, in: H- Soz-u-Kult 03.02.2010.