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Inhalt

Inhalt ................................................................................................................................................................. 1
Ricardo Semler: Das Semco System ................................................................................................................ 3
Orig. Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................................. 5
Vorwort zur deutschen Ausgabe .................................................................................................................... 6
Danksagung................................................................................................................................................... 7
TEIL EINS ...................................................................................................................................................... 8
Kapitel 1: Ein ganz natürliches Unternehmen ............................................................................................ 8
Kapitel 2: In die Pflicht genommen ........................................................................................................... 11
Kapitel 3: Dr. Dickie .................................................................................................................................. 14
Kapitel 4: Fehlstart ................................................................................................................................... 18
Kapitel 5: Was kostet die Welt? ................................................................................................................ 22
Kapitel 6: Drei Dämpfer ............................................................................................................................ 24
Kapitel 7: Noch eine Eroberung ............................................................................................................... 25
Kapitel 8: So kann es nicht weitergehen .................................................................................................. 28
TEIL ZWEI ................................................................................................................................................... 32
Kapitel 9: Die Kehrtwende ........................................................................................................................ 32
Kapitel 10: Ein demokratisches Unternehmen ......................................................................................... 37
Kapitel 11: Eine Veränderung kommt selten allein ................................................................................... 40
Kapitel 12: Der Ärger mit den Vorschriften ............................................................................................... 44
Kapitel 13: Als die Bananen die Affen fraßen ........................................................................................... 48
TEIL DREI.................................................................................................................................................... 52
Kapitel 14: Was nützt es uns, daß wir so groß sind .................................................................................. 52
Kapitel 15: Teile und gedeihe ................................................................................................................... 56
Kapitel 16: Die Irren übernehmen die Anstalt ........................................................................................... 59
Kapitel 17: Den Reichtum verteilen .......................................................................................................... 62
Kapitel 18: Aktenberge ............................................................................................................................. 65
Kapitel 19: Starke Frauen ......................................................................................................................... 68
Kapitel 20: Flexible Arbeitsplätze ............................................................................................................. 70
Kapitel 21: Problemfälle ........................................................................................................................... 73
Kapitel 22: Auch Bosse kann man einstellen und feuern ......................................................................... 76
Kapitel 23: Mehr als ein Job ..................................................................................................................... 80
TEIL VIER .................................................................................................................................................... 84
Kapitel 24: Die runde Pyramide ................................................................................................................ 84
Kapitel 25: Nennen Sie Ihren Preis .......................................................................................................... 88
Kapitel 26: Vom Unternehmer zum Bestsellerautor.................................................................................. 91
Kapitel 27: Das Maultier ohne Kopf .......................................................................................................... 94
Kapitel 28: Ehrlich währt am längsten ...................................................................................................... 96
Kapitel 29: Denken als Job ....................................................................................................................... 99
Kapitel 30: Gleitzeit ................................................................................................................................ 101
TEIL FÜNF................................................................................................................................................. 104
Kapitel 31: Zusammenbruch .................................................................................................................. 104
Kapitel 32: Startrampe für Satelliten ....................................................................................................... 108
Kapitel 33: Wiedergeburt ........................................................................................................................ 111
Kapitel 34: Wer braucht schon eine Nummer eins? ............................................................................... 115
Kapitel 35: Ein Modell für die ganze Welt? ............................................................................................. 118
Kapitel 36: Moderne Zeiten .................................................................................................................... 122
Anhang ...................................................................................................................................................... 127
Anhang A: Von unten gesehen - Wie Semco-Mitarbeiter ihre Vorgesetzten bewerten........................... 127
Anhang B: Die Semco-Kur gegen die Zeit-Krankheit ............................................................................. 129
Anhang C: Ein Semco-Wörterbuch ........................................................................................................ 130
Anhang D: Das Überlebens-Handbuch .................................................................................................. 132
Ricardo Semler: Das Semco System
RICARDO SEMLER
SYSTEM
SEMCO

MANAGEMENT OHNE MANAGER


DAS NEUE REVOLUTIONÄRE FÜHRUNGSMODELL
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Maverick: The Success Story Behind The World’s Most Unusual Workplace
Ins Deutsche übertragen von Michael Schmidt

Copyright © 1993 by Ricardo Semler


Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Schlotterer & Duffek, München
Satz: (1605) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Druck und Bindung: Mohndruck, Gütersloh
Printed in Germany
ISBN 3-453-06916-1
Orig. Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe


TEIL EINS ...................................................................... U
1. Ein ganz natürliches Unternehmen .......................... 15
2. In die Pflicht genommen.......................................... 24
3. Dr. Dickie ................................................................ 31
4. Fehlstart ................................................................... 43
5. Was kostet die Welt? ............................................... 52
6. Drei Dämpfer ........................................................... 58
7. Noch eine Eroberung ............................................... 63
8. So kann es nicht weitergehen ................................. 69
TEIL ZWEI ................................................................... 79
9. Die Kehrtwende ....................................................... 83
10. Ein demokratisches Unternehmen ........................... 98
11. Eine Veränderung kommt selten allein ................. 107
12. Der Ärger mit den Vorschriften ............................. 118
13. Als die Bananen die Affen fraßen.......................... 127
TEIL DREI .................................................................. 137
14. Was nützt es uns, daß wir so groß sind .................. 141
15. Teile und gedeihe ................................................... 152
16. Die Irren übernehmen die Anstalt .......................... 160
17. Den Reichtum verteilen ........................................ 168
18. Aktenberge ............................................................. 176
19. Starke Frauen ........................................................ 185
20. Flexible Arbeitsplätze ........................................... 192
21. Problemfälle ......................................................... 198
22. Auch Bosse kann man einstellen und feuern . . 208
23. Mehr als ein Job .................................................... 219
TEIL VIER ............................................................... 227
24. Die runde Pyramide ............................................. 231
25. Nennen Sie Ihren Preis ......................................... 243
26. Vom Unternehmer zum Bestsellerautor ............... 252
27. Das Maultier ohne Kopf ....................................... 258
28. Ehrlich währt am längsten .................................... 265
29. Denken als Job ...................................................... 273
30. Gleitzeit ................................................................. 280
TEIL FÜNF ............................................................... 287
31. Zusammenbruch ................................................... 291
32. Startrampe für Satelliten ....................................... 302
33. Wiedergeburt ........................................................ 311
34. Wer braucht schon eine Nummer eins? ................ 321
35. Ein Modell für die ganze Welt? ............................ 331
36. Moderne Zeiten ..................................................... 341
Anhang A Von unten gesehen - Wie Semco-Mitarbeiter ihre Vorgesetzten bewerten . 353
Anhang B Die Semco-Kur gegen die Zeit-Krankheit 358
Anhang C Ein Semco-Wörterbuch ............................. 362
Anhang D Das Überlebens-Handbuch ....................... 367
Vorwort zur deutschen Ausgabe

Deutschland steht gegenwärtig an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Die stillschweigende Annahme, die ehemalige DDR und
alles, wofür sie stand, lasse sich allmählich in eine Gesellschaft verwandeln, die Schritt für Schritt alles Positive aus dem Westen
übernimmt, erweist sich zunehmend als unrealistisch. Doch gibt es immerhin noch die Chance, daß bei der Vereinigung der beiden
Teile Deutschlands etwas kulturell Neues herauskommt - wobei »kulturell« hier im weiten Sinne gefaßt ist und auch die Arbeitswelt
einschließt. Wer annimmt, der westdeutsche Weg sei der einzig mögliche, kann genausogut daran glauben, daß die USA und der
Kapitalismus die Sowjetunion und den Sozialismus besiegt hätten. Doch damit hätte er sein Weltbild dergestalt verengt, daß darin
nur noch kapitalistisch bestimmte Organisationen Platz finden. Diese Sicht der Dinge ist wahrscheinlich unhaltbar.
Ich glaube indes fest daran, daß Teil der grundlegenden Umformung Deutschlands letztlich auch eine Neugestaltung der
Arbeitswelt sein wird. Viele Konzepte des Sozialismus sind nützlich und notwendig, während die Fehler des lupenreinen
Kapitalismus ebenso ins Auge stechen. Den Arbeitern am Arbeitsplatz eine starke Stimme zu sichern, ist in der Tat höchst
wünschenswert. Wer sich davon überzeugen will, braucht nur weltweit Rentner und Pensionäre zu befragen, ob sie das Gefühl
haben, daß ihr Arbeitsleben ihnen etwas gegeben hat - vor allem Befriedigung und innere Erfüllung -, und ob sie selbst dabei alles
geben konnten, das in ihnen steckte. Wenn man sich die Antworten ansieht, die vor allem in den westlich-kapitalistischen
Gesellschaften auf solche Fragen gegeben werden, kann man nur sorgenvoll die Stirn runzeln.
In Deutschland gibt es offizielle gewerkschaftliche Mitbestimmungsmodelle (besonders auf Druck der IG Metall). Doch obgleich
man sich bemüht hat, auf diese Weise die Mitspracherechte der Arbeiter im Unternehmen zu verankern, hat man auch hier immer
noch kein System gefunden, das den Arbeitern echte Befriedigung verschaffen kann. Das ist natürlich kein Fehler der Deutschen.
Gerade sie haben schließlich mit Fleiß, Disziplin und Qualitätsbewußtsein ihrem Land eine wirtschaftlich führende Stellung
erarbeitet. Doch das höchste Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sich freies Unternehmertum und Demokratie am Arbeitsplatz
vereinigen, liegt auch in Deutschland noch in weiter Ferne. Durch die Wiedervereinigung ist die Herausforderung sogar noch größer
geworden, denn die ersatzlose Abschaffung der sozialistischen Staatsphilosophie ist als einzige Antwort natürlich nicht ausreichend.
Auch eine rein symbolische Mitbestimmung der Arbeiter in Komitees ohne wirkliche Entscheidungsbefugnis scheidet als
langfristige Lösung aus.
Hinzu kommt natürlich noch, daß Europa irgendwie mit dem drängenden Problem fertig werden muß, viele sehr
unterschiedliche Kulturen auf einen Nenner zu bringen. Mit Einwanderungswellen werden diese Länder noch lange zu tun haben,
und der Trend zu mehr Minderheitenschutz wird vor allem am Arbeitsplatz seine Bewährungsprobe bestehen müssen. Hier gilt es,
die Menschen konstruktiv zu integrieren. Gastarbeiter wird man kaum in Deutsche verwandeln können, doch ist es praktisch auch
undurchführbar, die Grenzen einer so großen Volkswirtschaft wirklich dichtzumachen.
Vielleicht liegt die Lösung ja darin, den Arbeitsplatz Schritt für Schritt wirklich demokratisch zu gestalten und so eine
Demokratie entstehen zu lassen, wie es sie bisher fast nirgends auf der Welt gegeben hat. Die Erfahrungen, die wir bei Semco in den
letzten 14 Jahren gemacht haben, sind durchaus nur eine mögliche Antwort auf die hier skizzierten Fragen. Doch vielleicht können
sie zeigen, was alles möglich ist, wenn Menschen die Möglichkeit erhalten, ihren Arbeitsplatz nach demokratischen Prinzipien zu
gestalten.
Ricardo Semler
Danksagung

Mein Dank gilt zuerst und vor allem Rick Levine, der heute schon gar nicht mehr weiß, wie viele schlaflose Nächte ihm dieses Buch
bereitet hat. Danken möchte ich aber auch Suzanne Gluck bei ICM, die naiv genug war zu glauben, wir könnten dafür auch noch
einen Verleger finden; ferner Rick Horgan, Maureen Egen sowie ihren Kolleginnen und Kollegen bei Warner Books; Gail Rebuk bei
Random House, England - und all den anderen Verlegern auf der ganzen Welt, die an dieses Buch glauben. Nicht vergessen werden
sollen auch die resoluten Agentinnen Esther Newberg, Heather Schroder und ihre kompetenten Kolleginnen bei der Agentur
Rogers, Coleridge & White in London. Und natürlich gilt mein ganz besonderer Dank den 65 Mitarbeitern bei Semco, die sich von
mir so viele Stunden lang befragen ließen, und den anderen Angehörigen unseres Unternehmens, die diese Geschichte - und viele
unserer Träume - Wirklichkeit werden ließen.
Für Antonio Curt, dessen Seele in der Zentrale stets gegenwärtig ist,
und für Sofia, die mein Herz auf ewig in Gewahrsam hält.
TEIL EINS
Dies ist kein Wirtschaftsbuch im üblichen Sinne. Es ist ein Buch über Arbeitsbedingungen und darüber, wie man sie
verbessern kann. Es basiert auf den Erfahrungen eines Unternehmens namens Semco, dem es gelungen ist, Geld zu
verdienen und den Menschen, die für diese Firma arbeiten, zu einem besseren Leben zu verhelfen. Manche Leute
behaupten, Semco sei nichts weiter als ein verrücktes Laboratorium, das von ein paar dreisten und ketzerischen
Managern betrieben wird. Das sei nicht die wirkliche Welt, meinen sie. Sondern eben Brasilien. Inzwischen kenne ich all
die anderen Argumente auch - wir seien zu weit gegangen, wir seien zu schnell vorangegangen, wir seien zu groß, wir
seien zu klein, wir seien zu sehr auf High-Tech abgefahren, wir seien nicht genug High-Tech-orientiert.
Aber ein paar Leute, die möglicherweise leichter zu begeistern oder zu beeindrucken, vielleicht auch nur
aufgeschlossener sind als andere, werden in der Geschichte dieses - zugegebenermaßen merkwürdigen - Unternehmens
und seiner Menschen einen neuen Weg sehen, wie man ein Unternehmen führen kann. Dieser Weg ist weder
sozialistisch, wie einige unserer Kritiker behaupten, noch rein kapitalistisch. Es ist eben ein neuer Weg. Ein dritter Weg.
Ein Weg, der humaner, vertrauensvoller, produktiver, anregender und in jeder Hinsicht lohnender ist als andere.
Kapitel 1: Ein ganz natürliches Unternehmen

An jedem Mittwochnachmittag strömen Dutzende von Männern und Frauen zum Haupteingang herein - auf dem Weg zu einem
Konferenzraum im dritten Stock bei Semco, dem Unternehmen, das ich in Sao Paulo in Brasilien leite. Der Pförtner erwartet sie
schon. Schon seit Jahren begeben sich inzwischen leitende Mitarbeiter von einigen der größten und bekanntesten Unternehmen der
Welt - IBM, General Motors, Ford, Kodak, Bayer, Nestlé, Goodyear, Firestone, Pirelli, Alcoa, BASF, Chase Manhattan, Siemens,
Dow Chemical, Mercedes-Benz, Yashica u. a. - auf eine merkwürdige Pilgerschaft zu unserem unscheinbaren Industriekomplex
außerhalb der Stadt.
Semco stellt eine beeindruckend vielseitige Produktpalette her - zum Beispiel Pumpen, die einen Öltanker über Nacht entleeren
können; Geschirrspülmaschinen, die pro Stunde 4100 Teller waschen; Kühlaggregate für Klimaanlagen, die in riesigen Bürotürmen
selbst bei glühendster Hitze für angenehme Arbeitsbedingungen sorgen; Mischanlagen, die alles mixen, von Raketentreibstoffen bis
zur Kaugummimasse; und ganze Keksfabriken, mit 6000 einzelnen Komponenten und zig Kabelkilometern. Aber nicht, was Semco
macht, veranlaßt leitende Angestellte und Managementexperten aus der ganzen Welt, monatelang auf die Gelegenheit zu warten,
unsere Werke und Büros zu besichtigen. Es ist die Art und Weise, wie wir das bei Semco machen.
Als ich Semco vor zwölf Jahren von meinem Vater übernahm, war die Firma in jeder Hinsicht ein traditionelles Unternehmen,
mit einer pyramidenförmigen Hierarchie und Vorschriften für jede Kleinigkeit. Heutzutage aber setzen unsere Fabrikarbeiter
zuweilen ihre eigenen Produktionsquoten fest und erfüllen sie sogar nach eigenen Arbeitszeitplänen, ohne vom Management dazu
angetrieben werden

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zu müssen oder sich für Überstunden bezahlen zu lassen. Sie sind beteiligt an der Überarbeitung der Produkte, die sie herstellen,
und an der Formulierung der Marketingpläne. Ihre Bosse wiederum können unsere Unternehmenseinheiten mit außergewöhnlicher
Freiheit leiten und Unternehmensstrategien beschließen, ohne daß man ihnen von oben hineinredet. Sie setzen sogar ihre eigenen
Gehälter fest, ohne an bestimmte Bedingungen gebunden zu sein. Es weiß aber auch jeder, wie hoch sie sind, denn bei Semco
werden alle Finanzdaten offengelegt. Unsere Arbeiter haben wirklich unbegrenzten Zugang zu unseren Büchern (und wir haben
keine »doppelte« Buchführung). Und um zu zeigen, daß wir das auch ernst meinen, bieten wir bei Semco, zusammen mit den
Gewerkschaften, die unsere Arbeiter vertreten, eine Kurs an, bei dem jeder - sogar die Boten und das Reinigungspersonal - lernen
kann, wie man Bilanzen und Cash-Flow-Berichte liest.
Bei allen wirklich großen Entscheidungen, etwa dem Kauf eines anderen Unternehmens, bekommt jeder bei Semco ein
Stimmrecht. Als wir vor ein paar Jahren einen neuen Standort für eine Fabrik suchten, haben wir für einen Tag dichtgemacht und
alle Mitarbeiter in Bussen zu drei möglichen neuen Standorten gefahren. Und dann haben die Arbeiter entschieden. Ihre Wahl hat
uns nicht gerade begeistert, denn dieser Standort befand sich in der Nähe eines Unternehmens, das häufig bestreikt wurde. Doch
obgleich in unserem Management niemand Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Management aus nächster Nähe
miterleben wollte, sind wir dann doch dorthin gezogen.
In der Lobby unserer Zentrale, einem ganz normalen Bürogebäude mit vier Etagen aus Stahl und Glas, gibt es zwar einen Empfang,
aber keine Empfangsdamen. Daran sieht man als erstes, daß wir anders sind: Wir haben keine Empfangsdamen. Wir glauben
nämlich, daß wir sie gar nicht brauchen - trotz all der vielen Besucher. Wir haben auch keine Sekretärinnen oder persönliche
Assistentinnen. Wir wollen unsere Gehaltsliste nicht mit unbefriedigenden Jobs ohne Aufstiegsmöglichkeiten überfrachten. Jeder
bei Semco, selbst ein Topmanager, holt Gäste ab, bedient Fotokopierer, schickt Faxe ab, schreibt seine eigenen Briefe und bedient
das Telefon. Wir haben

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keine Kasinos für leitende Angestellte, und beim Parken gilt die Regel: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Das gehört einfach alles
dazu, wenn man ein »natürliches Unternehmen« führen will. Bei Semco haben wir uns die überflüssigen Vergünstigungen und
Privilegien abgeschminkt, die das Ego kitzeln, aber die Bilanz belasten und die alle von den wesentlichen Unternehmensaufgaben
ablenken, nämlich zu produzieren, zu verkaufen, Rechnungen auszustellen und zu kassieren.
In unseren Büros gibt es nicht einmal die üblichen Wände. Statt dessen werden in unseren Arbeitsbereichen die Schreibtische,
Computer und Reißbretter durch einen Wald aus lauter Pflanzen voneinander getrennt. Hier herrscht eine informelle Atmosphäre:
Die einen tragen Anzüge und Krawatten oder Kleider, andere Jeans und Turnschuhe. Wenn jemand Nadelstreifenanzüge und
Button-Down-Hemden tragen will - bitteschön. Aber Rollkragenpullis und T-Shirts sind auch okay. Und ich habe nichts dagegen,
wenn unsere Leute ihre Füße auf den Schreibtisch legen, genau wie ich. Ich erzähle gern davon, daß es immer wieder mal
vorkommt, daß eine Gruppe von Semco-Managern von Leuten gestört wird, die in ihrem Konferenzraum gerade eine
Geburtstagsparty abhalten wollen. Es macht mir Spaß, wenn ich sehe, wie Vizepräsidenten Kuchen von kleinen Tellern löffeln, die
mit Mickey und Minnie Mouse verziert sind.
Bei uns gibt es einen Verkaufsleiter - Rubin Agater heißt er -, der stundenlang dasitzen und Zeitung lesen kann und sich dabei
nicht einmal die Mühe macht, beschäftigt auszusehen. Ich bin überzeugt, das wird einige unserer Besucher verblüffen. Die meisten
modernen Manager würden das nicht dulden. Aber wenn eine Semco-Pumpe auf einem Öltanker auf der anderen Seite der Erde
versagt und Millionen Liter Öl ins Meer zu strömen drohen, dann schießt Rubin aus den Startlöchern. Er weiß einfach alles, was
man über unsere Pumpen wissen muß und wie man sie repariert. Und genau dann verdient er sein Gehalt. Ob er die übrige Zeit
beschäftigt aussieht, interessiert niemanden.
Mein Büro befindet sich in der vierten Etage - zumindest war es noch dort, als ich zum letztenmal vorbeigeschaut habe. Ich
benutze es nämlich nicht so oft wie andere Unternehmensinhaber. Meist arbeite ich morgens zu Hause. Dort kann ich mich besser
konzentrie-

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ren, auch wenn unsere beiden Schäferhunde am liebsten gerade dann bellen, wenn ich mit einem wichtigen Kunden telefoniere. Ich
bestärke sogar andere Semco-Manager darin, zu Hause zu arbeiten. Außerdem nehme ich mir mindestens zwei Monate frei, um zu
verreisen - und ich mag Fernreisen. In meinem Büro gibt es Fotos von meinen beiden letzten Expeditionen: einer Ballonsafari in
Tansania und einer Trekkingtour am Khaiberpaß in Afghanistan. Ich hinterlasse niemals eine Nummer, wo man mich erreichen
kann, wenn ich nicht da bin, und ich rufe auch nicht im Büro an. Ich möchte, daß jeder bei Semco selbständig ist. Das Unternehmen
ist so organisiert - na ja, vielleicht ist das nicht ganz das richtige Wort für uns -, daß es nicht allzusehr von einem einzelnen abhängt,
besonders nicht von mir. Ich bin ganz stolz darauf, daß ich schon zweimal nach meinen langen Reisen ein anderes Büro bekommen
habe - und jedesmal war es kleiner. Meine Rolle besteht darin, eine Art Katalysator zu sein. Ich versuche, ein Milieu zu schaffen, in
dem andere Entscheidungen treffen können. Erfolg zu haben bedeutet nicht, daß ich sie selbst treffen muß.
Eine meiner ersten Aktivitäten bei Semco bestand darin, daß ich die Vorschriften über Bord geworfen habe. Alle Unternehmen
haben Richtlinien-Bibeln. Einige sind so umfangreich wie ein Konversationslexikon. Wer braucht das eigentlich alles? Diese
Regelwerke verhindern Flexibilität und sind reiner Selbstzweck. Bei Semco hüten wir uns vor fixen Formeln und versuchen,
unseren Geist offen zu halten. Ich wußte sofort, wie nutzlos unser Regelbuch war, als ich einmal testhalber einige Ergänzungsblätter
dafür verteilte. Ich bat ein paar Manager, die neuen Abschnitte zu lesen und mir zu sagen, was sie davon hielten. Fast jeder sagte, sie
wären in Ordnung. Das Dumme war nur, daß ich die Blätter zusammengeheftet hatte, so daß man sie zum Lesen erst mühsam
auseinanderreißen mußte. Komisch, daß das niemand erwähnt hatte. Heute bekommen neue Mitarbeiter bei Semco nichts weiter
als eine 2Oseitige Broschüre, die wir Das Überlebens-Handbuch nennen. Darin gibt es eine Menge Cartoons, aber nicht viele Worte.
Nach dem Grundsatz: Gebrauchen Sie Ihren gesunden Menschenverstand.
Wenn Sie es nicht inzwischen selbst mitbekommen haben: Die

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Unternehmenspolitik von Semco besteht darin, keine Politik zu haben. Manche Unternehmen beschäftigen ganze Abteilungen
damit, Papierberge auszustoßen, mit denen sie ihre Mitarbeiter unter Kontrolle halten wollen. Nehmen Sie nur die Reisetätigkeit.
Da gibt es Vorschriften, die regeln, wieviel jemand in jeder nur denkbaren Situation jeweils ausgeben darf. Bei Semco sollen unsere
Leute soviel ausgeben, wie ihrer Meinung nach nötig ist. Bei uns gibt es dafür keine eigene Abteilung, keine Vorschriften, keine
Bücherrevisionen. Wenn wir Angst davor haben, Menschen selbst darüber entscheiden zu lassen, in welcher Klasse sie fliegen
wollen oder wie viele Sterne ihr Hotel haben muß, sollten wir sie eigentlich nicht losschicken, damit sie Geschäfte in unserem
Namen machen, nicht wahr?
Wir haben absolutes Vertrauen in unsere Mitarbeiter. Eigentlich sind wir ihre Partner. Weil wir davon ausgehen, daß eine
kapitalistische Gesellschaft auch für alle ihre Mitglieder kapitalistisch sein muß, gibt es bei Semco einen Gewinnverteilungsplan -
allerdings mit einem Unterschied. Normalerweise verteilen Unternehmen diese Pläne so huldvoll, wie Gott einst Moses die Zehn
Gebote übergab. Die Inhaber befinden darüber, wer was wann zu bekommen hat. Bei Semco gibt es eine Gewinnbeteiligung auf
demokratischer Basis. Wir haben mit unseren Mitarbeitern über den zu verteilenden Grundanteil verhandelt - etwa ein Viertel
unseres Unternehmensgewinns, wie sich herausstellte -, und sie haben auf Versammlungen den Aufteilungsmodus beschlossen.
Dieser ist also allein ihre Angelegenheit. Unser Gewinnbeteiligungsmodell hat bisher so gut funktioniert, daß bei den
Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag ein Gewerkschaftsführer einmal meinte, bei einer zu kräftigen Lohnerhöhung würde
sich das Unternehmen finanziell übernehmen.
Man hat die Semco-Philosophie gelegentlich mit dem Sozialismus im Osten verglichen. Nonsenskaja. Ich glaube nämlich, wir
haben den Beweis erbracht, daß eine Beteiligung der Mitarbeiter nicht gleichbedeutend ist mit einem Machtverlust der Bosse. Wir
haben nichts anderes beseitigt als das blinde, irrational autoritäre Gehabe, das sich produktivitätsmindernd auswirkt. Es freut uns,
daß sich unsere Mitarbeiter selbstverantwortlich verwalten und organisieren. Es bedeutet nichts anderes, als daß sie sich für ihre
Jobs und für ihr Unternehmen engagieren, und das ist gut für uns alle.

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Bei der Umstrukturierung von Semco haben wir aus vielen Systemen das Beste übernommen. Vom Kapitalismus zum Beispiel
die Ideale der persönlichen Freiheit, des Individualismus und des Wettbewerbs. Aus der Theorie des Sozialismus - nicht aus seiner
Praxis! - haben wir gelernt, die Habgier unter Kontrolle zu bekommen und Wissen und Macht mit allen zu teilen. Die Japaner
haben uns beigebracht, wie wertvoll Flexibilität ist; aber von ihren familienähnlichen Bindungen an ihr Unternehmen und von ihrer
automatischen Verehrung der Alten wollen wir nichts wissen. Wir wollen, daß die Menschen aufgrund ihrer Kompetenz
vorankommen, nicht weil sie schon so lange in der Firma sind oder weil sie sich angepaßt haben.
Wenn man ein starres Denken und hierarchische Strukturen aufgibt, entsteht gewöhnlich ein fürchterliches Durcheinander - und
genauso sieht es in unseren Fabriken auch aus. Statt daß die Maschinen so ordentlich in langen, geraden Reihen ausgerichtet sind,
wie es Henry Ford immer gewollt hat, sind sie kreuz und quer und an allen möglichen und unmöglichen Stellen plaziert. Unsere
Arbeiter arbeiten nämlich normalerweise in Gruppen oder Teams und bauen ein komplettes Produkt zusammen und nicht bloß
einzelne Komponenten. Dadurch bekommen sie mehr Kontrolle und Verantwortung, was sie glücklicher macht - und unsere
Produkte besser. Fast alle unsere Arbeiter beherrschen mehrere Jobs. Sie fahren sogar Gabelstapler, um ihre Teamkollegen mit
Rohmaterialien und Ersatzteilen zu versorgen, die sie sich selbst bei Zulieferern zu beschaffen wissen.
Die Metallarbeitergewerkschaft war anfangs gegen diese Flexibilität. Vor langer Zeit mußten gewerkschaftlich organisierte
Arbeiter auf immer engeren Arbeitsplatzbeschreibungen bestehen, damit sie sich gegen die Bestrebungen von Großunternehmen
zur Wehr setzen konnten, mit immer härterem Druck höhere Produktivität und Profite zu erzielen. Schließlich erkannten die
Gewerkschaften aber, daß sie das System auch gegen dessen Erfinder, die Unternehmer, kehren konnten, indem sie sich weigerten,
irgendeine Abweichung von den Vorschriften ohne Extrabezahlung zuzulassen. Im Laufe der Zeit kam das System so der
Arbeiterschaft mehr zugute als der Unternehmensführung - in Wirklichkeit aber hatten beide Seiten nichts davon.

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Als die Gewerkschaft erkannte, daß Semco nicht an ihrer Macht rütteln wollte, daß von unseren Fabriken erwirtschaftete höhere
Gewinne auch höhere Löhne für ihre Mitglieder abwerfen würden und daß wir unseren Arbeitern ein sinnvolles Mitspracherecht in
unserem Unternehmen einräumen wollten, ließ ihre Obstruktionspolitik nach. Wir durften innovativ sein - damit unsere
Mitarbeiter innovativ sein konnten. Nun haben wir alle mehr Freiheit.
Unsere Fabrikarbeiter beispielsweise können jederzeit zwischen 7 und 9 Uhr morgens anfangen. Es liegt bei ihnen, nicht bei
uns. Was aber, wenn der eine Arbeiter um 7 Uhr anfangen will, sein Teamkollege aber erst um 9 Uhr kommt? Wird dadurch nicht
die Produktion gestört? Diese Bedenken hatten wir auch, also haben wir eine Sondereinheit gebildet, die bei allen Problemen
vermittelnd eingreifen soll. Dazu bestand bisher kein Anlaß. Unsere Arbeiter wußten genau, daß die Produktion darunter zu leiden
hätte, wenn sie ihre Arbeitspläne nicht koordinierten - und genau das haben sie daraufhin getan.
Bei Semco denken wir eigentlich nicht einmal so gern in Begriffen wie Arbeiter oder Boss. Wir sprechen lieber von Kollegen und
Koordinator. Und wir fordern jeden auf, mit allen anderen Umgang zu pflegen, ganz gleich welchen Job jeder hat. In unseren
Büroetagen mischen sich die Abteilungen Einkauf und Technik, so daß alle beieinandersitzen, in der Nähe der Fabrik. Der Gedanke
dabei ist, daß wir alle voneinander lernen können. Unsere Büros sind alles andere als elegant, und gelegentlich ist der Boden schon
mal ruß- und ölverschmiert. Niemand außer mir hat sich daran gestört, und da ich inzwischen keine schicken italienischen Slipper
mit diesen papierdünnen Sohlen mehr trage, macht es mir auch nichts mehr aus.
Und was halten die Bosse von alldem? werde ich oft gefragt. Nun, wir haben längst nicht mehr so viele Bosse wie früher. Als die
Arbeiter ihre Jobs besser unter Kontrolle bekamen und sich stimmkräftiger an unserer Politik beteiligten, brauchten wir immer
weniger Vorarbeiter und Aufpasser. Auch unsere Unternehmensstabsebene, die unseren Produktionseinheiten mit ihrem
juristischen, buchhalterischen und Marketing-Fach wissen zur Seite steht, konnten wir um über 75 Prozent verkleinern. Es gibt bei
uns auch keine für Datenverarbeitung

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oder Ausbildung zuständigen Abteilungen mehr. Jeder bürgt für seine eigene Arbeit, also brauchen wir auch keine Abteilung für
Qualitätskontrolle mehr. Nachdem wir uns sorgfältig unter die Lupe genommen hatten, haben wir unseren Apparat von zwölf
Managementschichten auf drei reduziert und eine neue Struktur eingeführt, die auf dem Prinzip konzentrischer Kreise basiert und
welche die traditionelle, einengende Unternehmenspyramide abgelöst hat.
Neu ist auch die Art und Weise, wie unsere einzelnen Abteilungen geschäftlich miteinander umgehen. Wenn eine Abteilung
nicht die Dienstleistungen einer anderen kaufen will, steht es ihr frei, sie bei jemand anderem außerhalb des Unternehmens zu
erwerben. Der Wettbewerbsdruck hält uns alle auf Trab. Vor einiger Zeit haben wir unseren Mitarbeitern den Start eigener
Unternehmen erleichtert, indem wir ihnen Maschinen von Semco zu günstigen Leasingbedingungen zur Verfügung stellten. Wir
kaufen natürlich von unseren ehemaligen Angestellten, aber sie können ihre Produkte auch an andere verkaufen - sogar an unsere
Konkurrenz. Durch dieses Programm sind wir schlanker und beweglicher geworden, und sie können ganz allein über ihr
Arbeitsleben entscheiden. Aus Mitarbeitern werden Unternehmer.
Das ist natürlich ein Extremfall, aber bei Semco versuchen wir, die Möglichkeiten eines jeden zu maximieren und die Kontrolle
über ihn zu minimieren. Das bedeutet nicht, daß es bei uns keine Verantwortlichkeit gibt. Ehe wir jemanden einstellen oder in eine
führende Position befördern, wird er von allen, die mit ihm Zusammenarbeiten werden, befragt und in seiner neuen Position
bestätigt. Und alle sechs Monate werden die Manager von ihren »Untergebenen« bewertet. Die Ergebnisse werden öffentlich
ausgehängt, so daß jeder sie sehen kann. Bedeutet das, daß Arbeiter ihre Bosse feuern können? Ich denke schon, denn wer ständig
nur schlechte Noten bekommt, wird normalerweise Semco so oder so verlassen.
Wir sind nicht das einzige Unternehmen, das mit dem Prinzip des partizipativen Managements herumexperimentiert. Es ist ein
gewisser Trend geworden. Aber viele Bemühungen um mehr Demokratie am Arbeitsplatz sind nichts weiter als heiße Luft. Dabei
sind die Absichten nicht schlecht, aber es ist doch viel einfacher, über Mitbe-

---OP 23---

Stimmung zu reden, als sie einzuführen. Wir haben Semco auseinandergenommen und setzen das Unternehmen seit rund einem
Dutzend Jahren wieder zusammen - was uns gerade erst zu 30 Prozent gelungen ist. Dennoch hat sich das bereits erstaunlich
gelohnt.
Wir haben ein marodes Unternehmen übernommen und es wieder zum Blühen gebracht, und zwar hauptsächlich deshalb, weil
wir uns geweigert haben, unsere wichtigste Ressource zu vergeuden - die Menschen. Semco ist inzwischen sechsmal größer
geworden, und das trotz fürchterlicher Rezessionen, einer atemberaubenden Inflation und einer chaotischen Wirtschaftspolitik in
unserem Land. Die Produktivität hat sich nahezu versiebenfacht. Die Gewinne sind um ein Fünffaches gestiegen. Und wir haben
Zeiten erlebt, in denen uns bis zu 14 Monate hintereinander kein einziger Arbeiter verlassen hat. Bei uns haben sich über 2000
Bewerbungen angestaut, und Hunderte davon sind von Menschen, die jeden Job übernehmen würden, nur um bei Semco zu sein.
Tatsächlich hat unsere letzte Stellenanzeige einen Rücklauf von über 1400 Bewerbungen in der ersten Woche gehabt. Und die
Umfrage einer führenden brasilianischen Zeitschrift unter frischgebackenen Hochschulabsolventen hat ergeben, daß 25 Prozent der
Männer und 13 Prozent der Frauen erklärt haben, Semco sei das Unternehmen, in dem sie am liebsten arbeiten würden.
Vor kurzem wollte die Frau eines unserer Arbeiter mit einem Mitarbeiter unserer Personalabteilung sprechen. Sie war völlig
perplex über das Verhalten ihres Mannes. Er würde die Kinder nicht mehr anbrüllen, sagte sie, und frage jeden, was er am
Wochenende machen wolle. Er sei nicht mehr dieser autoritäre Brummbär wie früher.
Die Frau war beunruhigt: Was hatten wir nur mit ihrem Mann gemacht?
Wir kamen dahinter: Seit es mit Semco aufwärts ging, hatte auch er sich positiv verändert.

---OP 24---

Kapitel 2: In die Pflicht genommen

Im Heimkinofilm gibt es einen abrupten Schwenk: Wir sehen eine enge, schmutzige Straße in den Außenbezirken von Sao Paulo, in
den späten fünfziger Jahren. Die Kamera geht näher heran, wackelt fürchterlich, wie das nun einmal bei Amateurfilmen vorkommt,
und dann geraten drei Männer und ein Lastwagen ins Bild. Auf der Ladefläche liegt eine Drehbank, ein einfaches Gerät zum
Schneiden von Metall. Nach dem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck des hageren, sonnengebräunten Mannes zur Linken zu schließen,
müßte dieses Werkzeug eigentlich aus Gold sein.
Die kleine Szene verrät, was es heißt, sich selbständig zu machen. Für meinen Vater, jenen hageren Mann im Film, hat es im
Leben nur selten so erfreuliche Momente gegeben wie damals, als die erste Maschine an sein neues Werk geliefert wurde.
Antonio Curt Semler wurde 1912 in Wien geboren, am kläglichen Ende eines ruhmreichen Kaiserreiches. Nach dem Willen
seines Vaters, eines erfolgreichen Zahnarztes, sollte Antonio Arzt werden. Aber er wollte unbedingt Ingenieur werden und studierte
statt dessen an der Wiener Technischen Hochschule. Da ihm klar war, daß es mit den beruflichen Aussichten in Österreich zwischen
den beiden Weltkriegen nicht weit her war, sah er sich nach einer interessanten Aufgabe in Übersee um. 1937 antwortete Curt auf
eine Stellenanzeige von DuPont, und bald darauf nahm er eine Stellung als Betriebsingenieur in den Chemie- und Textilwerken des
Konzerns in Argentinien an, überstand die politischen Unruhen zur Zeit des Peronismus und wurde schließlich Werksleiter.
1952 besuchte Curt Brasilien und war fasziniert von den Möglichkeiten, die dieses riesige, unentwickelte Land bot. Damals
arbeitete er gerade an einem Patent für eine Zentrifuge, mit der man Schmieröl

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aus Pflanzen gewinnen konnte, und er hoffte, daß er mit Hilfe dieses Geräts seine eigene Firma gründen würde. Zunächst schien
ihm Rio de Janeiro der geeignete Standort dafür zu sein. Aber als er von einem Hügel aus einen großartigen Blick auf die Stadt Sao
Paulo hatte, änderte er seine Meinung. Das war genau der richtige Ort für einen Unternehmer. An diesem Ort lernte der 42jährige
Junggeselle auch eine andere österreichische Emigrantin kennen: Renee Weinmann - er heiratete sie und gründete mit ihr eine
Familie. Mein Großvater mütterlicherseits war zunächst mit seiner Familie nach China gegangen und hatte ein ertragreiches
Exportgeschäft für Textilien und Porzellan in Shanghai gegründet. Die Weinmanns lebten ein behütetes Leben, zusammen mit
Tausenden anderer Europäer, für die die englischen und französischen Viertel von Shanghai Inseln in einem Ozean des Elends
darstellten. Aber als es mit der Armut der Chinesen immer schlimmer wurde, verschärfte sich die Feindseligkeit gegenüber den
Ausländern. Mein Großvater starb kurz vor der Machtübernahme durch die Kommunisten, und meine Großmutter und ihr einziges
Kind wurden praktisch von Mao Tse-tung vertrieben und verließen China auf einem Frachter. Nach einer einmonatigen Fahrt übers
Meer landeten sie im Hafen von Santos, im Süden von Brasilien. Schon bald gab meine Mutter wohlhabenden Bürgern von Sao
Paulo Englischunterricht, und einer von ihnen machte sie mit meinem Vater bekannt.
Auf dem Eßtisch in ihrer kleinen Dreizimmerwohnung in der Stadtmitte entwarf mein Vater seine Pläne für Semco - das war
der Name für die künftige Firma Semler & Company. Er arbeitete unermüdlich an diesen strategischen Plänen und überließ meiner
Mutter den Tisch nur, damit sie daran essen konnten. Anschließend arbeitete er wieder bis in die Nacht hinein.
Curt wollte unbedingt Kinder haben, denn er machte sich bereits Gedanken über seinen künftigen Nachfolger. Meine Mutter
hatte drei Fehlgeburten, ehe meine Schwester Susan geboren wurde. Aber mein Vater konnte sich kaum vorstellen, daß eine Frau
einen so harten und chaotischen Betrieb wie Semco leiten sollte. Elf Monate später kam ich zur Welt, als ahnungsloser Erbe eines
Unternehmens, das kaum älter war als ich.
Die Firma Semco und ihr Inhaber waren schon recht obskur - ge-

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nauso wie die Ölabscheidemaschine, für die mein Vater nun das Patent bekommen hatte. Aber Brasilien war ein Land der
unbegrenzten Möglichkeiten und begierig auf alle nur denkbaren neuen Produkte. Es dauerte nicht lange, da war die Semco-
Zentrifuge marktführend, und drei brasilianische Partner waren dem Unternehmen beigetreten, die dringend benötigtes Kapital
mitbrachten und das Land kannten. Mein Vater schuftete sich weiterhin ab, und in den fünfziger und sechziger Jahren kam dann
der Aufschwung der Firma. Das war die Zeit des brasilianischen Wirtschaftswunders, als es ein unglaubliches Wachstum von sieben
Prozent jährlich gab. Semco, vor ein paar Jahren noch nichts weiter als eine Hinterhofwerkstatt, mauserte sich zu einer etablierten
Herstellungsfirma, die etwa 110 Leute beschäftigte und zwei Millionen Dollar im Jahr einnahm.
Die brasilianischen Militärdiktatoren waren zwar ausgesprochene Kapitalisten, aber irgendwie müssen sie von Stalin angetan
gewesen sein: Sie liebten Fünfjahrespläne. In den späten sechziger Jahren beschlossen sie, daß das Land eine Schiffsbauindustrie
brauchte, und auf einmal gab es einen Nationalen Fünfjahres-Schiffsbauplan. Mein Vater witterte seine Chance, tat sich mit zwei
englischen Pumpenherstellern zusammen, und Semco wurde ein Hauptlieferant von Schiffspumpen in Brasilien - eine Produktlinie,
für die wir noch heute bekannt sind.
Es ist das erklärte Ziel von Unternehmern auf der ganzen Welt, daß sie das Unternehmen eines Tages an die nächste Generation
übergeben - obwohl einem das irgendwie nicht einleuchtet, wenn man darüber nachdenkt. Haben Sie schon mal was von Einsteins
Sohn gehört? Oder von Churchills Tochter? Gehen Sie davon aus, daß eines Tages Ulrich Wickerts Sohn die »Tagesthemen«
moderieren wird? Warum hält man normalerweise den Nachwuchs von Industriellen für natürlich begabte Unternehmer? Zuweilen
kann der Sohn oder die Tochter eines Unternehmers ja durchaus ein hervorragender Manager oder eine glänzende
Geschäftsführerin sein, wie sich bei Thomas Watson jr. von IBM in den sechziger und siebziger Jahren gezeigt hat. Aber wer
entschiedet darüber? Doch ausnahmlos der Vater. Und seien wir doch ehrlich: So ganz unvoreingenommen ist er ja auch nicht.

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»Ich will, daß die Firma im Schoße der Familie bleibt«, erklären die Industriemagnaten. Soundso »ist der einzige, dem ich
vertrauen kann«. Aber ist es denn besser, wenn das Unternehmen in vertrauenswürdigen Händen langsam untergeht, als wenn es
dank der Bemühungen von Außenstehenden gedeiht?
Ich jedenfalls war alles andere als vertrauenerweckend. Als Kind konnte ich mich auf so viele Dinge gleichzeitig konzentrieren,
daß ich es für ganz normal gehalten habe, meine Mathematikhausaufgaben zu machen, während im Fernsehen Comicfilme liefen.
Meine Mutter kann es noch heute nicht fassen, daß sie mich mit so vielen Vieren und Fünfen haben studieren lassen - ganz zu
schweigen davon, daß mein Vater und sie so häufig in die Sprechstunden meiner Lehrer gebeten wurden, weil die unter anderem
wissen wollten, warum ich unbedingt der Ansicht sei, daß Sandwiches mit Erdnußbutter und Marmelade normalerweise an der
Decke der Schulcafeteria kleben müßten.
Als ich älter wurde, habe ich mich dann doch wegen meines unstillbaren Drangs, ständig im Mittelpunkt zu stehen, fürchterlich
geschämt. Aber irgendeine unwiderstehliche Macht hat mich auch weiterhin in jede Situation hineingesogen, die mir die
Möglichkeit bot, die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und die Führung zu übernehmen. Auf der Schule habe ich mich
um viele Positionen bemüht und sie auch bekommen: Klassensprecher, Kapitän des Leichtathletikteams, Bildredakteur des
Jahrbuchs. Ich habe sogar den Pausenimbißstand geführt, für den die Unterstufe die Konzession hatte, um Geld für den
Klassenausflug im kommenden Jahr zu sammeln. Hier zeigte sich zum erstenmal meine geschäftliche Ader. Ich hörte damit auf, wie
meine Vorgänger am Imbißstand Gratisrunden zu schmeißen, verlängerte die Öffnungszeiten und spielte Lieferanten wie Coke,
Pepsi, Kellogg und Fritolay gegeneinander aus, um bessere Preise für unser Geschäft zu erzielen. Ich würde nicht gerade sagen, daß
sie sich um den Auftrag für unseren Imbißstand gerissen haben, aber immerhin schnellten unsere Einnahmen in die Höhe. Dann
habe ich den Gewinn an der Börse investiert, und im darauffolgenden Jahr hatte ich genug verdient, damit die ganze Klasse in die
Ferien fliegen konnte. »Auf der Schule dachte er nur ans Geschäft«, schrieben meine Klassenkameraden über mich ins Jahrbuch.

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Aber dieser Instinkt des angehenden Kapitalisten bedeutete mir nichts neben meinem sehnlichsten Wunsch, perfekt Gitarre
spielen zu können, insbesondere eine Gibson Les Paul. Ich war ganz verrückt nach Rock ’n’ Roll - den Stones, Led Zeppelin, Pink
Floyd, Uriah Heep. Damals hieß Diversifikation für mich nichts anderes, als daß ich auch noch Baß und Schlagzeug spielen lernen
wollte. All dies beunruhigte meinen Vater natürlich, der inständig darauf wartete, daß diese vermeintliche »Phase« zu Ende ginge,
um mit mir allmählich über meinen Einstieg ins Unternehmen sprechen zu können.
Als ich 16 war, jobbte ich in den Sommerferien in der Einkaufsabteilung von Semco, wo ich mich mit den Spezifikationen von
halbzölligen Stahlplatten für Meerwasserpumpen befassen mußte. Spaß machte mir das Ganze nur, als mir ein Lkw-Fahrer das
Fahren beibrachte. Ich war der einzige Junge in unserem Block, der hinter das Lenkrad eines Mercedes rutschen durfte - auch wenn
es nicht ein 560 SEL Kabrio war, sondern ein Zehntonner.
Nach diesem Sommer hockte ich mich wieder zu meiner Gitarre, und mein verzweifelter Vater überlegte schon, ob er später
nicht die Firma verkaufen müßte. Allerdings merkte ich bald, daß meine musikalischen Fähigkeiten doch deprimierend begrenzt
waren. Da sich mein Vater nun mal unbedingt einen Nachfolger wünschte und ich mich als knauseriger Imbißstandmogul nicht
schlecht geschlagen hatte, schien es mir eigentlich ganz vernünftig, ins Geschäft einzusteigen.
Es gab da allerdings ein kleines Problem: In Brasilien müssen alle gesunden jungen Männer für mindestens ein Jahr ihren
Militärdienst leisten, wenn sie 18 werden.
Da ich die Geduld meines Vaters auf eine so harte Probe gestellt hatte, meinte er, daß mir das nur guttun würde. Da würde man
mich auf Vordermann bringen; und wenn ich vielleicht auch nicht gerade zum begeisterten Frühaufsteher werden würde, so würde
ich doch zumindest vorübergehend die Erfahrung machen, daß Morgenstund Gold im Mund hat. Ich bin nie dahintergekommen, ob
er es mir nur schwermachen wollte oder ob er es wirklich so meinte. Für alle Fälle begann ich mich bei meiner Mutter lieb Kind zu
machen. Ich hielt mich streng an die Mahlzeiten, meine Noten wurden besser, und re-

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gelmäßig war mein Bett auf eine wundersame Weise gemacht. Die Wochenenden fingen fortan damit an, daß ich frühmorgens
aufstand, mit Hilfe zweier Wecker, die ich beide am anderen Ende meines Zimmers aufgestellt hatte.
Väter durchschauen ein derartiges Verhalten, und meiner sah mich immer so an, als wollte er sagen: Mich kannst du nicht
austricksen, mein Sohn. Doch bei Müttern ist das gottlob etwas anderes.
»Curt«, sagte sie immer wieder, »Dickie kann doch nicht ein Jahr seines Lebens beim Militär vergeuden.«
Hinter dem Rücken meines Vaters nickte ich heftig.
»Da wird endlich mal ein Mann aus ihm«, gab mein Vater dann zurück. »Schließlich war ich auch beim Militär, wie du weißt.«
Meine Mutter und ich lehnten uns zurück und hörten uns (zum wiederholten Male) die alten Geschichten über Märsche im Schnee,
kalte Duschen und das Polieren von Stiefeln und Gürtelschnallen an.
Bald danach wurde ich zur Musterung in das örtliche Einberufungsamt befohlen, und so brach ich mitten in der Nacht auf und
saß dann in einer Reihe mit all den anderen Jungen. Sie unterhielten sich über alle wichtigen körperlichen oder geistigen
Gebrechen, und ich sah zu, wie mehrere von ihnen übten, Plattfüße, Nervenzusammenbrüche und verschiedene andere Defekte zu
simulieren. Dazu fehlte mir allerdings der Mut. Die Einberufungsoffiziere mochten meine Größe, waren von meinem Gewicht
beeindruckt und stellten ganz allgemein fest, daß ich durchaus ihren strengen Qualifikationsmaßstäben entsprach, also zum
Beispiel zwei Beine und zwei Arme hatte.
Zwei Wochen später sollte ich meinen militärisch für gut befundenen Körper in einer anderen Dienststelle zu einer
gründlicheren medizinischen Untersuchung präsentieren. Meine Freunde hatten mir Horrorgeschichten darüber erzählt.
Traditionsgemäß würden alle, die freigestellt wurden, aufgefordert (und zwar von einem Soldaten, um dessen Körper ihn Sylvester
Stallone beneiden würde), Blut für das Militärkrankenhaus zu spenden. Ein Sanitäter würde einem eine riesige Nadel in den
Unterarm rammen, eine Zwei-Liter-Flasche in die Hand drücken und sich dann das nächste Opfer vornehmen. Da ich fast jedesmal
umgefallen war, wenn ich nur das kleinste bißchen Blut gesehen hatte, konnte ich mir das lebhaft ausmalen: wie es mir

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langsam vor den Augen schwarz wurde, mein Körper nach vorn sackte, wie ich gerade noch das Klirren von zerbrechendem Glas
hörte und dann nur noch die Sandstrände am Südpazifik vor mir sah - und wie sich schließlich ein schwerer Kopf und viele Soldaten
stirnrunzelnd von ganz oben über mich beugten.
Na schön, wenn das der Preis der Freiheit war...
Wieder brach ich vor dem Morgengrauen auf, und nach der üblichen fünfstündigen Wartezeit stand ich in einer Reihe mit
Hunderten von nackten jungen Männern und beantwortete Fragen über Kinderkrankheiten, Jugendkrankheiten und speziell über
Geschlechtskrankheiten. Ein Bursche zog eine Riesenshow ab, als ob er seine Zunge verschluckt hätte, und kam sofort in die
Arrestzelle. Wieder bestand ich die Musterung. Aber wenigstens brauchte ich kein Blut zu spenden, sagte ich mir.
Einen Monat später mußte ich zur schriftlichen Prüfung. Diesmal stand ich mühelos um vier Uhr morgens auf, da ich sowieso
nicht schlafen konnte. Der Test war lang und kompliziert. Ich tat mein Bestes, möglichst schlecht abzuschneiden, und ging nach
Hause, high und down zugleich. Drei Tage später erfuhr ich dann, daß ich schon wieder bestanden hatte.
Ich steckte bereits in Uniform, samt Mütze und Stiefeln, als ich in das Büro des diensthabenden Offiziers gerufen wurde.
Nachdem ich zweieinhalb Stunden gewartet und dann dargelegt hatte, warum ich es für unsinnig hielte, in der Armee eines Landes
zu dienen, das noch nie einen Krieg ausgetragen und auch nicht die geringste Chance hatte, diesen Rekord zu brechen, wurde ich
endlich aus der Armee entlassen.
Statt Betriebswirtschaft zu studieren, schrieb ich mich an der juristischen Fakultät von Sao Paulo ein, an der angesehensten
Universität des Landes, die schon viele brasilianische Präsidenten hervorgebracht hat. Ich war überzeugt, daß mir diese
humanistischere Geisteshaltung mehr Zusagen würde. Aber ich wurstelte mich dann doch mehr schlecht als recht durch; und das
lag teilweise daran, daß ich wieder bei Semco zu arbeiten begonnen hatte, kurz nachdem ich mich eingeschrieben hatte.
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Kapitel 3: Dr. Dickie

Meine ersten Erlebnisse auf der Chefetage waren ziemlich deprimierend. Alle waren sie hier so steif wie ihre Hemden. Dabei habe
ich mich wirklich bemüht, mich anzupassen. Ich ging sogar in eine modische Herrenboutique und erstand ein komplettes
Unternehmer-Outfit: marineblauer Anzug mit weißen Nadelstreifen, weißes Hemd mit Umschlagmanschetten, schwarze Schuhe.
Ich habe den Anzug nicht getragen - der Anzug trug mich.
Ich hatte kaum angefangen, da ließ mich mein Vater in sein Büro kommen und erklärte mir, ich solle mich nicht von jedem bei
meinem Kosenamen Dickie anreden lassen. Dann hätte man keinen Respekt vor mir, sagte er streng. Ich sollte für die anderen nur
Dr. Ricardo sein, ein Titel, den College-Absolventen wie ich in Brasilien automatisch bekommen. Ihm war es völlig egal, daß ich
längst alle gebeten hatte, mich Dickie zu nennen. Das Ergebnis war, daß viele Mitarbeiter im Unternehmen so
durcheinanderkamen, daß ich heute noch immer Memos bekomme, die an Dr. Dickie gerichtet sind.
Wie die meisten Selfmademen war mein Vater erzkonservativ. Er behandelte seine Angestellten wie ein Patriarch und hielt
Streiks und Arbeitskämpfe für Attacken gegen ihn persönlich. Er konnte nie vergessen, daß er Semco an einem Eßtisch gegründet
hatte.
Jeden Morgen stand er präzise um 6.30 Uhr auf und absolvierte einen Tagesablauf, der so starr war wie ein Doppel-T-Träger.
Am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag spielte er eine frühmorgendliche Runde Golf, bevor er ins Werk ging; das Mittagessen
nahm er zu Hause ein, wonach er sich eine Viertelstunde aufs Ohr legte, ehe er wieder ins Büro ging. Zum Abendessen erschien er
präzise um 19.45 Uhr. Am Freitag verzichtete er aufs Golfspielen und nahm am Lunch im Rotary Club teil.

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Seine Sekretärin Fernande, eine gedrungene, stämmige und humorlose Frau, war bereits seit 15 Jahren bei ihm, als ich in die
Firma kam, obwohl ich das nie verstanden habe, da sie sich ständig übereinander beklagten. Wenn Fernande sechs Minuten zu spät
kam, raunzte mein Vater sie unweigerlich an. Und wenn er einen Fehler in einem Brief mit dem Füller statt mit dem Bleistift
korrigierte, fauchte sie ihn an.
Fernande stürmte oft aus dem Büro meines Vaters und knallte die Tür hinter sich zu, was ich nur zu gut verstehen konnte. Er
war ein eleganter Mann mit einem imponierenden Habitus - er hatte früher einmal zur österreichischen Olympia-Skimannschaft
gehört und gab sich noch immer wie ein Sportler, mit herausgedrückter Brust und straffen Schultern; er verlangte von allen Respekt
und hatte nicht selten etwas Furchterweckendes. Der strenge Blick war sein besonderes Kennzeichen. In meiner Kindheit
verabschiedeten sich meine Freunde schon an der Haustür von mir, weil sie eine Begegnung mit dem alten Herrn lieber nicht
riskieren wollten. Im Büro ließen seine Angestellten eine Münze darüber entscheiden, wer ihm seine Papiere vorlegen und sich
womöglich seinen Zorn zuziehen sollte, denn er ließ seinen Frust oft an jedem aus, der zufällig bei ihm war.
Als mein Büro unmittelbar neben seinem eingerichtet wurde, mußte unbedingt eine Schiebetür zwischen uns eingebaut werden.
Und immer dann, wenn ich mich mitten im Gespräch mit einem Kunden befand, ging - rrrums! - diese Tür auf, und er platzte
einfach herein.
Meine Angewohnheit, die Füße auf den Schreibtisch zu legen, paßte meinem Vater natürlich ganz und gar nicht. Er mochte es
auch nicht, daß ich lieber zu Hause arbeiten wollte. Und er ärgerte sich darüber, daß ich mich bemühte, Beruf und Privatleben zu
trennen. Wenn ich etwas für meinen Eigenbedarf fotokopierte, habe ich stets dafür bezahlt. Wenn ich ein Telex an ein Hotel
schicken mußte, in dem ich meinen Urlaub verbringen wollte, bezahlte ich auch das. Für meinen Vater waren dagegen Geschäft und
Familie untrennbar miteinander verbunden.
Uns trennten fast 50 Jahre, und so sehr wir uns auch bemühten, diesen Abstand zu überbrücken, ließen sich unser jeweiliger
Lebensstil und unsere Ideen immer weniger miteinander vereinbaren. Mir

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war klar, daß der Übergang vom Vater auf den Sohn nicht glatt vonstatten gehen würde. Und allmählich wurde auch ihm das klar.
Die Spannungen zwischen meinem Vater und mir verschärften sich, als die Wirtschaft in die Rezession geriet. Trotz des
Fünfjahresplans der Generäle gehörte die brasilianische Schiffbauindustrie zu den am härtesten betroffenen Branchen. Das wirkte
sich für Semco verheerend aus, denn 1980 beruhte unser Geschäft zu 90 Prozent auf Schiffszubehör wie Pumpen, Teilen für
Schiffsschrauben und Wasser-Öl-Abscheidern für Schiffsmotoren. Die einzigen Gewinne erzielte Semco aus Kapitalanlagen von
Geldreserven, die rapide dahinschwanden.
Semco war seit über einem Jahrzehnt von einer Gruppe von Managern geleitet worden, die beste Kontakte zur Seefahrtindustrie
hatten.
Als sich nun die Wirtschaftskrise verschärfte, war ich überzeugt, daß Semco nur eine einzige Überlebenchance hatte: die
Produktpalette zu erweitern und vom Geschäft mit der Seefahrt unabhängiger zu werden. Es war Zeit, wie Monty Python und seine
Leute zu sagen pflegten, daß sich etwas grundlegend änderte. Aber sobald ich das Thema Diversifikation aufs Tapet brachte, kamen
unsere Manager damit, daß Semco ein hochspezialisiertes Unternehmen sei; und wenn wir unsere speziellen Fähigkeiten aufgäben,
würden wir alles verlieren. Die alte Garde wurde nicht müde, meinem Vater einzureden, daß Semco diese Talsohle durchstehen
könne, daß es demnächst einen neuen Schiffbauplan geben würde und daß wir dann wieder stark im Kommen wären.
Semco war gerade dabei, einen Finanzierungskredit über eine Million Dollar aufzunehmen, um ein neues Werk mit
computergesteuerten Maschinen für den Zusammenbau von Schiffspumpengehäusen und Schiffsschrauben zu errichten. Früher
wäre ich über eine so moderne Fabrik begeistert gewesen, aber als es mit der Wirtschaft bergab ging, machte ich mir Sorgen über
eine derart hohe Investition. Wenn wir schon mehr Schulden machen müßten, dann doch wenigstens für den Einstieg in einen
gesunden Industriezweig. Aber ich war erst 20, und trotz meines Nachnamens und des aufgeblasenen Titels auf meiner Visitenkarte
- Vorstandsassistent - hatte ich nicht viel zu sa-

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gen. Immer wenn eine wichtige Entscheidung anstand, wurde ich auf einen sinnlosen Trip zu einem weit entfernt angesiedelten
Kunden geschickt und auf diese Weise vom Büro ferngehalten, bis sie herausgefunden hatten, was zu tun war.
Ich war sicher, daß ich Geschäftsmann werden wollte - die Les-Paul-Gitarre hatte ich weit weggeräumt -, aber ich fragte mich,
ob es unbedingt Semco sein mußte, wo ich meine unternehmerischen Ambitionen befriedigte. Auf mein Drängen hin hatten die von
der Firma Price Waterhouse bestellten Buchprüfer von Semco ein paar Unternehmen aufgetan, an deren Kauf wir ihrer Meinung
nach interessiert sein könnten. Aber nur eines davon fiel mir ins Auge - bei den anderen versprach ich mir nur geringe
Synergieeffekte für Semco. Profaner hätte dieses Unternehmen kaum sein können: Es stellte Leitern her, alle möglichen Arten von
Leitern. Es war von einem Schreiner gegründet worden, hatte sich rasch zum größten Leiterhersteller in Brasilien entwickelt und
beschäftigte mehr Leute als Semco. Der Gründer hatte seine Buchführung längst nicht mehr im Griff, weil er seine privaten
Finanzen und die des Unternehmens nicht auseinanderhielt. Sein Haus, seine Farm und sein Privatauto liefen über die Firma, und
was er an Geld brauchte, holte er sich aus der Geschäftskasse. Die Buchführung war derart chaotisch, daß man sich bei Price
Waterhouse weigerte, für die Zahlen bei der vorläufigen Bewertung des Unternehmens zu garantieren.
Ich ließ mich dadurch aber nicht entmutigen und begann mir darüber Gedanken zu machen, ob ich Semco nicht verlassen und
ins Leitergeschäft einsteigen sollte. Ich suchte den Leiterhersteller fast jeden Tag auf, lernte das Unternehmen kennen und handelte
den Preis herunter, den der Inhaber verlangte und der anfangs bei weit über einer Million Dollar lag, obwohl das Unternehmen fast
pleite war.
Aber es dauerte nicht lange, und dann ging er mit dem Preis herunter, und ich versuchte meinen Vater dazu zu bewegen, mir
das Geld zu leihen.
»Ich werd’s mir überlegen«, sagte er. »Zeig mir die Bilanz.« Das tat ich, aber er warf keinen Blick darauf. Er mauerte. Das hatte
natürlich nichts mit den Leitern zu tun. Er wollte einfach nicht, daß ich ging.

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Ich verbrachte fast ein Jahr damit, das Leiterunternehmen zu studieren, und das erwies sich als eine weitaus bessere wirtschaftliche
Ausbildung, als ich sie in irgendeiner Schule erhalten hätte. Ich sprach mit den Gläubigern der Firma. Ich unterhielt mich mit ihren
Lieferanten. Ich holte aus Price Waterhouse alle strategischen Überlegungen heraus, die ich bekommen konnte.
Dann hatte ich einen genialen Einfall. Ich gab eine Anzeige in der Zeitung auf, in Englisch, in der ich nach einem
Geschäftsführer für mein künftiges Unternehmen suchte, und schrieb darin, es solle jemand sein, der bereits eine brasilianische
Tochtergesellschaft eines multinationalen Konzerns geleitet habe.
Ich wurde mit Angeboten überschwemmt, vielleicht weil ich durchblicken ließ, daß ich bereit wäre, mich von einigen Anteilen
am Unternehmen zu trennen. Dann traf ich mich mit etwa 30 der interessantesten Kandidaten. Ich ging mit ihnen die Zahlen durch
und forderte sie dann auf, mir zu sagen, wie sie das Unternehmen wieder auf Vordermann bringen würden. Als ich diese
Vorstellungsgespräche hinter mir hatte, hatte ich nicht nur einen Geschäftsführer gefunden - einen Bolivianer, der Präsident von
Black and Decker Brasilien war -, sondern war auch ein ganzes Stück schlauer geworden.
Die Leiterverkäufe befanden sich inzwischen noch mehr auf dem absteigenden Ast, und der Preis für das Unternehmen war
schließlich bei einem Betrag angelangt, den ich mir leisten konnte: einen Dollar. Der Firmengründer wollte eigentlich nur noch
jemanden haben, der seine Schulden übernahm. Seine Lieferanten waren bereit, mir einen zusätzlichen Kredit einzuräumen - nicht
jedoch ihm. Ich war zwar jung, hatte aber etwas mit einem bekannten Unternehmen zu tun. Vielleicht glaubten sie, daß Semco
hinter diesem Deal steckte, und irgendwie kam ich nicht dazu, ihnen diese Vermutung auszureden.
Wir setzten einen äußerst komplizierten Vertrag auf, womit mir meine Anwälte signalisieren wollten, daß sie das Ganze für ein
höchst riskantes Unterfangen hielten. Aber ich sagte mir, wenn ich schon pleite ginge, dann doch lieber mit Mitte Zwanzig als mit
Vierzig, wenn ich vielleicht auch noch für meine eigenen Sprößlinge verantwortlich wäre. Und dank all jener Vorstellungsgespräche
hatte ich auch schon einen Plan. Ich wollte nämlich fast die Hälfte der Pro-

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dukte des Unternehmens einstellen, während mir die neuen Lieferantenkredite genug Zeit lassen würden, die Firma durch die
Konzentration auf die noch immer gewinnträchtigen Posten umzustrukturieren.
Und genau an dem Tag, als wir endlich soweit waren, den Vertrag abzuschließen, ließ mich mein Vater in sein Büro kommen.
»Ich will noch mal mit dir über diese Angelegenheit reden«, sagte er.
»Zu spät«, erwiderte ich. »Ich bin an der Sache schon seit einem Jahr dran.«
Ich wußte, was in ihm vorging, und versuchte, seine Bedenken zu zerstreuen. Ich erklärte, daß ich dem Vorstand von Semco
beitreten würde und ins Büro käme, wann immer er wolle. »Aber es hat keinen Sinn, daß ich hierbleibe«, fügte ich hinzu. »Wir
werden uns ja doch nur streiten. Wir haben verschiedene Ansichten darüber, wie dieses Unternehmen geführt werden soll, und du
hast ja noch all diese Leute hier, denen du vertraust. Es hat mal eine Zeit gegeben, da dachte ich, du würdest mir mehr Macht
abgeben, aber inzwischen weiß ich, daß du dazu nicht bereit bist.«
Und da sagte mein Vater endlich, er wolle mit mir über eine Neuregelung der Besitzverhältnisse reden, bei der ich die
Aktienmehrheit bei Semco bekäme und damit auch die Vollmacht, all die Veränderungen herbeizuführen, die meines Erachtens
erforderlich wären, wenn das Unternehmen überleben wolle. Er war auch bereit, die 30000 Dollar zu zahlen, die im Vertrag mit
dem Leiterunternehmen festgelegt waren, falls ich aus ihm wieder aussteigen wollte. (Das Unternehmen konnte sich noch eine
Zeitlang halten, zweifellos weil der Inhaber einige Produkte eliminiert hatte, die auch ich abgeschafft hätte. Aber am Ende ging das
Unternehmen dann doch in Konkurs. Und was meinen künftigen Geschäftsführer betraf: Er wurde Direktor der brasilianischen
Tochtergesellschaft von DuPont.)
»Und wer soll Semco leiten?« fragte ich meinen Vater. Ich wollte es einfach von ihm selbst hören.
Ich schwieg. Er schwieg.
Schließlich sagte er: »Mach deine Fehler lieber, solange ich noch am Leben bin.«
Tatsächlich machte ich dann auch alle möglichen Fehler genau vor seiner Nase. So ist das eben mit Fehlern - man bemerkt sie
erst,

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wenn man sie gemacht hat. Und es gab eine Entscheidung, die zwar kein Fehler war, aber fürchterlich riskant. Entweder versuchte
ich weiterhin die alteingesessenen Manager davon zu überzeugen, daß sich bei Semco einiges ändern mußte, wobei sie mich
weiterhin behindern würden - oder ich mußte diese Veränderungen ohne sie durchziehen. Diese Manager glaubten noch immer,
daß es einen neuen Fünfjahresplan für den Schiffbau geben würde, und warteten in aller Ruhe darauf, während sie die ganze Zeit
ihre angenehmen Gehälter einstrichen. Also mußte ich den zweiten Weg einschlagen.
»Ich verreise für zwei, drei Wochen«, sagte mein Vater am Ende unserer schwierigen Unterredung. »Welche Veränderungen
auch immer du in der Firma vorhast - führe sie jetzt durch.«
Ich zog in das Büro um, in dem mein Vater bislang gesessen hatte, und studierte den gelben Notizblock, der vor mir lag. Darauf
hatte ich die Namen aller leitenden Angestellten geschrieben: insgesamt etwa 15 Namen. Es war ein Freitag, und ich hatte mit jedem
einen persönlichen Termin - zuerst mit Waldemar Margonni, einem stattlichen Mann mit durchdringendem Blick. Er begrüßte
mich eisig, und seine Augen durchbohrten meinen jungen Schädel. Ich kam mir wie ein Student vor, der eine Semesterarbeit drei
Tage zu spät abgab.
»Hallo, Waldemar«, stammelte ich.
»Dickie, was kann ich für dich tun?« sagte Waldemar von oben herab.
Los, Dickie. Sag’s ihm. Sag's ihm!
»Ja..., weißt du, Waldemar, ich meine, wir sollten hier einiges verändern.«
Keine Reaktion.
»Du weißt, ich will schon seit einiger Zeit, daß wir bei Semco diversifizieren.«
Noch immer keine Reaktion.
»Und ich glaube«, fuhr ich fort, »daß wir auch im Management einiges ändern müssen, damit dieser Diversifikationsprozeß
funktionieren kann.«
Schweigen. Ich beschloß, ihm die bisherige Entwicklung noch einmal vor Augen zu führen. Mit Sicherheit würde er mir am
Ende beipflichten, und wir könnten in gutem Einvernehmen auseinanderge-

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hen, wenn auch vielleicht nicht als gute Freunde. Also begann ich mit Schwung einen historischen Überblick, kam auf die Anfänge
von Semco zu sprechen und rühmte die Verdienste, die sich Waldemar in den 15 Jahren, die er hier war, erworben hatte. Nach einer
Weile merkte ich, daß ich lauter gute Gründe für eine Beförderung vorbrachte - aber nicht für eine Entlassung. Abrupt änderte ich
die Richtung, machte einen Sprung in die letzten paar Jahre und konzentrierte mich auf die düsteren Aussichten von Semco und die
Notwendigkeit, neue Produkte auf den Markt zu bringen.
»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Waldemar schließlich. Aha, wir kamen voran. Aber nein, er hat doch nicht vor, mir
zuzustimmen.
»Wir haben bereits damit begonnen, uns mit dem Thema Diversifikation zu befassen«, fuhr Waldemar fort. »Ich selbst werde
im nächsten Monat in Deutschland und England sein, um mit ein paar Unternehmen zu sprechen.«
»Aber Waldemar, das hast du doch schon so oft gesagt - und nichts ist bis jetzt passiert.«
»Diesmal wird das anders sein.«
Es hatte keinen Sinn. Es waren bereits anderthalb Stunden vergangen. Mir blieben nur noch drei Stunden am Nachmittag, in
denen ich eine ganze Reihe von Managern feuern mußte.
»Machen wir’s kurz, Waldemar. Ich will diese Diversifikation selbst durchziehen und kann mir nicht vorstellen, daß wir das
unter einer doppelt besetzten Führung tun können.«
Na also. Geschafft.
»Kein Problem«, erwiderte Waldemar zu meinem Verdruß. »Wir werden ein großartiges Team sein.«
Ich spürte, wie ich in Panik geriet, wie ich verkrampfte und dann frustriert war. Würden etwa alle Gespräche so verlaufen? Und
was würde passieren, wenn ich die Liste an diesem Nachmittag nicht schaffen würde? Die übrigen würden sich mit Sicherheit übers
Wochenende zusammentun.
»Waldemar, laß es mich ohne Umschweife sagen: Ich muß das ganz allein machen.«
Das Schweigen lastete schwer auf uns - wie eine dicke Wolldecke an einem heißen Sommertag. Wir saßen da, während die
Klimaan-

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lage im Hintergrund summte, und starrten einander an. »Willst du damit sagen, daß ich entlassen bin?« sagte Waldemar endlich.
Ich räusperte mich und sagte gefaßt: »Ja, Waldemar, genau das will ich sagen. Es ist die einzige Möglichkeit.«
Wieder herrschte Schweigen. Dann kam die unvermeidliche Frage: »Weiß dein Vater davon?«
»Ja... ja. Gewissermaßen. Ja. Er weiß es. /o.«
»Ich verstehe«, sagte Waldemar. Endlich eine körperliche Reaktion: Er wurde blaß, dann weiß wie die Wand. Ich fragte mich,
wie ich aussah. Vermutlich noch schlimmer.
Waldemar erhob sich. »Schön, ich werde am Montag morgen wieder in meinem Büro sein. Im Laufe der nächsten Woche
können wir uns dann über die Übergabe unterhalten.«
»Ach, Moment mal, Waldemar«, warf ich schnell dazwischen und stand ebenfalls auf. »Weißt du, ich denke eigentlich an eine
schnelle Übergabe. «
»Und was wäre das? Sechs Monate?«
»Äh, nein... nein«, stotterte ich.
»Also drei Monate?« Waldemar stand schon an der Tür.
»Tja, nein, weniger... ich... ich...«
»Du meinst doch nicht etwa, daß du mich innerhalb eines Monats los werden willst?« Seine Augen verengten sich, als sie in
meine starrten.
»Nun, eigentlich ja.«
»Und wann soll ich deiner Ansicht nach das Unternehmen verlassen?«
Nur Mut.
»Waldemar, ich möchte, daß du deine Sachen schon heute mit nach Hause nimmst. Sollte ich am Montag etwas von dir
brauchen, werde ich dich anrufen.«
Waldemar ging hinaus, wandte sich noch einmal um, machte dann auf dem Absatz kehrt und warf die Tür zu. Ich sank aufs
Sofa.
Die übrigen Gespräche waren im Nu vorbei. Um 18 Uhr hatte ich 60 Prozent der Top-Manager von Semco gefeuert. Ich hatte
noch nie jemanden eingestellt, geschweige denn so viele Existenzen in einer einzigen, mafiaähnlichen Säuberungsaktion zerstört.
Aber sie hatten meine Vorschläge zur Diversifizierung des Unternehmens ignoriert.

---OP 40---

Semco hatte keine Zeit für einen langsamen, natürlichen Genesungsprozeß - hier war ein sofortiger Aderlaß unerläßlich.
Mit gemischten Gefühlen, erleichtert und besorgt zugleich, ging ich zu meinem Wagen, verließ das Firmengelände und fuhr
nach Hause ins Wochenende.
Ich hatte das Ganze auf einen Freitag gelegt, weil ich gehofft hatte, die Unruhe im Unternehmen würde sich über das Wochenende
wieder legen. Bis zum Montag mußte noch eine Menge geregelt werden. Ich hatte zwar keine Erfahrung als Manager, aber dafür
hatte ich bereits jemanden bereitstehen, der sie hatte. Meine neue rechte Hand hieß Ernesto Gabriele. Ernesto war ein
ausgesprochen hagerer Mann in den Vierzigern und besaß genug Energie für einen ganzen Vorstand (und das sollte zunächst auch
seine Rolle sein). Er war als Sohn italienischer Einwanderer in Sorocaba, einer Kleinstadt im Landesinnern des Staates Sao Paulo,
geboren und hatte in seiner Jugend ständig davon geträumt, eines Tages in Amerika zu studieren. Er sprach zwar kein Wort
Englisch und hatte nicht einmal das Geld für ein Flugticket, geschweige denn die nötige schulische Vorbildung. Aber er war fest
entschlossen, und das genügte.
In der Nähe seiner Heimatstadt befand sich das brasilianische Tochterunternehmen des Reifenmultis Firestone, und in einer
Schule in Sorocaba fand Ernesto Bewerbungsunterlagen für die Universität von Akron, wo die Zentrale des Gummigiganten lag.
Ernesto hatte sein Schulabschlußzeugnis, füllte ein Formular aus, in dem er sich um ein Stipendium bewarb, und versprach,
Englisch zu lernen. An der Hochschule war gerade ein Platz für einen ausländischen Studenten frei, und Ernesto wurde zugelassen.
Er sammelte bei seinen Nachbarn und Mitbürgern Spenden für das Flugticket, büffelte lange genug Englisch, um sich seine
Vermutung zu bestätigen, er könne fremde Sprachen quasi über Nacht aufschnappen, und im Juli flog er bereits nach Ohio.
Vier Jahre später hatte er sein Studium an der Universität von Akron abgeschlossen und nebenan einen Ausbildungsplatz bei
Firestone bekommen. Er stieg rasch auf und kehrte bald als junger Manager nach Brasilien zurück. Aber das war noch nicht alles:
Mit 29 wurde er der jüngste Vizepräsident bei Firestone.

---OP 41---

Ernesto war ein As in der Verwaltung, auf dem Finanzsektor - und beim Stellenwechsel. Er war sehr moralisch, aber
ungeduldig, und so war er leicht beleidigt oder legte sich mit Kollegen an, was stets damit endete, daß er kündigte. Er wurde
Vizepräsident von J. I. Case, einem Traktorenhersteller, und ging dann zur Tochtergesellschaft eines deutschen Multis, wo er
Deutsch lernte. Sein nächstes Gastspiel gab er bei einem französischen Unternehmen, wo er Französisch lernte. Dann wurde er
Assistent des Präsidenten im japanischen Elektronikkonzern Sharp, nahm aber auch dort seinen Hut, nachdem er bei einer
Konferenz auf japanisch »Alles nur Blabla!« gebrüllt hatte. Anschließend arbeitete er in Rio als Vizepräsident der Verwaltung von
Xerox; aber nachdem er in einem Jahr elfmal in die USA fliegen mußte, beschloß er, ein weniger hektisches Leben zu führen. Als er
eines Sonntags in seiner Wohnung in Rio in der Zeitung blätterte, fiel ihm eine Anzeige auf englisch ins Auge. Gesucht wurde ein
Geschäftsführer für ein Leiterunternehmen in Sao Paulo.
Ernestos Lebenslauf machte mich neugierig - kein Wunder, denn er hatte sämtliche Unternehmen aufgelistet, für die er bisher
gearbeitet hatte, einschließlich derjenigen Firmen, bei denen er nur ein paar Monate gewesen war, dazu hatte er noch die Zeugnisse
von all diesen Unternehmen beigelegt. Ich war beeindruckt: von seiner Offenheit über diesen ständigen Wechsel genauso wie von
den Empfehlungen seiner früheren Arbeitgeber. Er war früh steil aufgestiegen, hatte aber bislang nicht das gefunden, was er suchte.
Er war offenkundig ganz hervorragend, ein leidenschaftlicher Organisator - er hatte jedoch auch einen starken Charakter und hielt
es nirgendwo lange aus. Einen solchen Mann konnte ich beim Leiterunternehmen nicht brauchen, wohl aber bei Semco. Wir wollten
in unbekannte Gewässer vorstoßen, und mir war von vornherein klar, daß wir noch oft den Kurs wechseln mußten. Ein
herkömmlicher Manager würde vor dieser Aufgabe zurückschrecken oder sich als unflexibel erweisen.
Ich hatte mich mit Ernesto mehrmals vor der Großen Säuberung getroffen und stellte ihn am Samstag danach ein. Nun hatte
ich also ein Alter ego, genauso dickköpfig und verrückt wie ich - aber er wußte wenigstens, wie man ein Unternehmen führt.
Am Montag wurde mir erst so richtig klar, was ich mit meiner Aktion ausgelöst hatte. Da riefen Kunden an und fragten nach
einer be-

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stimmten Person, und wir mußten ihnen erklären, der Betreffende wäre nicht mehr bei uns. Sie fragten nach jemand anderem, und
dann mußten wir ihnen sagen, daß auch der nicht mehr da sei. Nach dem vierten oder fünften Anlauf schnappten sie hörbar nach
Luft.
Unsere ehemaligen Manager, soviel war mir klar, hatten sich zu Hütern von vielen unserer Geschäftsgeheimnisse gemacht,
zweifellos um sich ihre Anstellung zu sichern. Sie hatten nicht damit gerechnet, daß jemand wie ich ihnen so spontan einen Strich
durch die Rechnung machen würde - aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß ich von so vielen Geheimnisträgern umgeben war.
Wir mußten ihre Schreibtischschubladen und Aktenschränke systematisch durchkämmen, um all die heimlichen Deals und
Absprachen aufzudecken, die sie mit unseren Kunden getroffen hatten.
Natürlich versuchten einige dieser Kunden uns dazu zu bewegen, diese Manager wieder einzustellen. Ein deutsches
Unternehmen, das uns die Lizenz zur Herstellung mehrerer Arten von Schiffspumpen erteilt hatte, schickte sogar zwei
Repräsentanten bis nach Brasilien herüber, die mich persönlich dringend darum bitten wollten, meinen Platz zu räumen und den
alten Managern wieder das Ruder zu überlassen. Sie suchten mir unmißverständlich klarzumachen, daß wir ihrer Ansicht nach
ohne sie nicht weiterexistieren könnten.
Ich war mir da auch nicht so sicher. Aber wir wollten es wenigstens versuchen.

---OP 43---

Kapitel 4: Fehlstart

Wir verbrachten den Rest des Jahres 1980 damit, von Bank zu Bank zu japsen und Geld zusammenzukratzen. Wir überlegten uns
sogar, ob wir nicht den Immobilienbesitz des Unternehmens verkaufen sollten. Es war durchaus nicht lustig,
Lieferantenrechnungen im voraus bezahlen oder unsere Produkte auf einem Markt verkaufen zu müssen, wo die wildesten Gerüchte
über Semco kursierten. Aber schon bald ließ Ernesto seinen ganzen multinationalen Zauber spielen, und unsere Kunden merkten,
daß wir nicht pleite gehen würden, zumindest noch nicht gleich.
Ernesto führte Dutzende neuer Maßnahmen und Verfahren ein, und fast täglich fiel ihm ein neues Formular ein. Unser
Hexenmeister im Management brachte unsere Verkäufer dazu, Berichte über Kundenbesuche zu schreiben und Statistiken zu
führen, mit deren Hilfe man die Zahl der tatsächlichen Aufträge mit der Zahl der Kostenvoranschläge vergleichen konnte. Im
ganzen Unternehmen wurden völlig neue Ablagesysteme eingeführt. Die Taschen und Autos unserer Mitarbeiter wurden nach
einem Zufallssystem durchsucht. Jeder bekam einen Mitarbeiterausweis aus Plastik und wurde verpflichtet, ihn bei sich zu tragen.
Produktionspläne wurden an Tafeln in unserer neuen Planungs- und Controlling-Abteilung ausgehängt. Die Mitarbeiter unserer
neuen Zeitplan- und Arbeitsmethoden-Abteilung sollten Möglichkeiten ausfindig machen, wie man unsere Arbeiter zu noch
schnellerer Arbeit bewegen konnte.
Wie genial. Wie kapitalistisch. Was Xerox konnte, konnte Semco schon lange. Okay - die Xerox-Leute verkauften tatsächlich
ihre Produkte, und wir hatten nur den statistischen Beweis dafür, daß sich unsere noch immer im Lager befanden. Ein unwichtiges
Detail, meinten wir, das sich jeden Tag korrigieren ließ.

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Wir beförderten viele alte Hasen bei Semco, und einige sind noch immer bei uns. Aber was uns wirklich fehlte, war ein
aggressiver Leiter unserer Verkaufsabteilung. Um die Wahrheit zu sagen: In unserer Verkaufsabteilung fehlte es an allen Ecken und
Enden. Die brasilianischen Fünfjahrespläne mit ihren langatmigen Abwicklungen hatten uns sorglos gemacht. Wir hatten es
offenbar nicht nötig gehabt, überhaupt etwas zu verkaufen - wir brauchten bloß Aufträge entgegenzunehmen, das war alles. Darum
haben wir 1980 Pumpen ausgeliefert, die wir bereits 1975 verkauft hatten.
Also setzte ich eine Anzeige in die Zeitung und suchte einen Verkaufsleiter. (Kommt Ihnen bekannt vor, nicht wahr?) Und so
lernte ich Harro Heyde kennen.
Harro war ein verrücktes Huhn. Er war sehr groß, hatte schütteres Haar und trug eine Brille, deren Gläser so dick waren wie der
Boden einer Cola-Flasche. Er besaß keinen einzigen Anzug, und seine Kleidung schien er willkürlich aus den Tiefen eines dunklen,
feuchten Schranks geklaubt zu haben. Bei unserem ersten Gespräch erzählte er mir, er sei ein passionierter Koch (seine Spezialität
war coq au vin) und lebe mit seiner Frau, die, nebenbei bemerkt, Ausbilderin für Fallschirmspringer war, und seinen beiden kleinen
Kinder in einem Landhaus im bayerischen Stil in einem Nobelvorort, wo sie Brot buken und (na, was wohl?) Hühner hielten.
Harro war der Beste seines Semesters am Institut für Luftfahrttechnik gewesen, dem M.I.T. von Brasilien. Er sprach Englisch,
Französisch und Deutsch, und er hatte schon eine ganze Reihe von Jobs gehabt - unter anderem war er Wartungschef bei einem
großen Bergbauunternehmen im Amazonasgebiet und Bauleiter für die französische Firma Fichet in Algerien gewesen. Seine
Referenzen schienen verrückt genug für den Mann, der mir vorschwebte: jemand, der unsere Verkaufsabteilung wieder auf Zack
bringen sollte.
Harro war einverstanden. Wie Ernesto mußte auch er seine Nische erst noch finden.
Harro hat an seinem ersten Tag bei Semco mit dem Verkaufen begonnen und seither nicht wieder aufgehört. Wenn er am
Schreibtisch eines Verkäufers vorbeikam, fragte er ihn nach dem aktuellen Stand eines bestimmten Angebots. Der Verkäufer
erklärte ihm dann, daß der Kunde es prüfe. Harro schlug ihm einen Besuch vor, und der Ver-

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käufer sagte, er würde versuchen, einen Termin in der nächsten Woche zu bekommen. Darauf Harro: Nicht nächste Woche, jetzt
gleich. Der Verkäufer begann sich zu winden: Unmöglich. Doch Harro packte ihn am Arm, schnappte sich einen Packen
Zeitschriften aus unserem Empfangsraum und begab sich mit dem Verkäufer schnurstracks zum Büro des betreffenden Kunden. Er
ließ sich anmelden, und dann warteten sie eine, zwei, sogar drei Stunden - so lange jedenfalls, bis sie empfangen wurden. In der
Zwischenzeit unterhielt sich Harro mit der Empfangsdame über das Unternehmen, quetschte seinen Verkäufer über dessen andere
Kunden aus oder las die Zeitschriften, die er mitgebracht hatte.
Ich habe jedenfalls mein Bestes getan, damit er immer mit genügend Lesefutter versorgt war. Ein paar Tage, nachdem Harro bei
Semco eingetreten war, unterschrieben wir einen Lizenzvertrag mit einer norwegischen Firma über die Herstellung einer neuen Art
von Pumpen. Wir wußten zwar kaum etwas über die technischen Einzelheiten dieser Pumpen, sollten aber trotzdem bereits in ein
paar Tagen zu einer größeren Präsentation der Pumpen bei Petrobras antreten, der staatlichen Erdölgesellschaft, die zu den größten
Erdölunternehmen der Welt gehört. Ich schaute in Harros Büro vorbei und fragte ihn, ob er sich das Material mal ansehen wollte.
Kein Problem, meinte er. Bevor er es sich anders überlegen konnte, übergab ich ihm ein äußerst unterhaltsames, 600 Seiten starkes
Handbuch über Hydraulik. Nebenbei sagte ich ihm, er möchte doch vor den Petrobras-Ingenieuren einen Vortrag halten. Harro
grinste mich bloß an, als wollte er sagen: Überlaß das ruhig mir, mein Junge.
Er beschäftigte sich tage- und nächtelang mit dem Zeug, sprach öfter mit den Norwegern, veranstaltete dann eine Präsentation
bei den Petrobras-Leuten und kam mit einem stattlichen Auftrag wieder.
Und dann zogen Harro und ich los. In zwei Jahren waren wir in 16 Ländern unterwegs und nahmen mit über 60 Unternehmen
Kontakt auf, um Aufträge zu akquirieren. Jeden Monat waren wir in einem, manchmal sogar in zwei Dutzend Städten. Damit wir
nicht zusammenklappten, lautete unsere Regel: ein Flug pro Tag. Wir haben sie oft gebrochen. Auf einem dieser unvergeßlich
neurotischen Trips schlangen wir zum Abendessen marinierten Lachs in Oslo hinunter,

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in einem Gartenlokal, wo sich die Mitternachtssonne im Tafelsilber spiegelte; dann nahmen wir den ersten Flieger nach New York,
wo wir zum Lunch mit Managern vom Crane-Konzern zusammensaßen; dann ging’s zum Dinner in Cincinnati weiter, mit
Vertretern der Day Mixing Company; und schließlich übernachteten wir (diesmal im Dunkeln) in San Francisco, wo wir am
nächsten Morgen mit Leuten von Pacific Pumps, Inc. verabredet waren.
In dieser Zeit habe ich Harros deftige Scherze zu schätzen und seinen Appetit zu bewundern gelernt. Einmal fuhren wir nach
Linz in Österreich, um ein Pumpenunternehmen namens Ochsner aufzusuchen. Herr Ochsner wollte uns persönlich empfangen,
aber irgendwas ging schief, und wir waren erst kurz vor Mitternacht im Hotel - mit sechs Stunden Verspätung. Harro begab sich
sogleich ins Restaurant, wo er unbedingt sein österreichisches Lieblingsessen haben wollte: Knödel. Der Ober bedauerte, ihm nicht
mehr damit dienen zu können, aber wir mußten Österreich am nächsten Morgen schon wieder verlassen - und so leicht ließ sich
Harro etwas nicht ausreden. Er lief in die Küche und brachte den Küchenchef nicht nur dazu, daß er ihm versprach, seinen Wunsch
zu erfüllen, sondern daß er ihm auch bei der Zubereitung zuschauen durfte.
Auf diesen Reisen hofften wir genügend Unternehmen dazu bewegen zu können, uns die Lizenz zur Herstellung ihrer Pumpen
und Mischgeräte für Brasilien zu überlassen, wobei wir unseren jämmerlichen Cash-Flow vermehren und Zeit gewinnen wollten.
Aber die Verhandlungen erwiesen sich als schwierig - die vertrackte Wirtschaftslage in Brasilien und die restriktiven staatlichen
Vorschriften waren schon schlimm genug, und die Tatsache, daß Semco ein relativ unbekanntes Unternehmen war, machte uns
unsere Aufgabe auch nicht gerade leichter. Bei unserem Tanz am Rande des Abgrunds gerieten wir ganz schön ins Schleudern, aber
irgendwer da droben hielt die Hand über uns, denn immerhin gelang es uns, sieben Lizenzvereinbarungen zu ergattern, zur
Herstellung von Suppenmixern, Ölfiltern, Flüssigkeitsrührwerken für Mineralöltanks, Kompressoren und anderen Geräten für die
Industrie und zur Nahrungsmittelherstellung. Danach machten die Schiffsgeräte nur noch 60 Prozent unserer Produktion aus. Und
wir hatten immer noch Luft zum Atmen.

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Anfang 1981 verkündete der Alcoa-Konzern, man plane, ein neues Aluminiumwerk in Nordbrasilien zu errichten. Es war eines der
wenigen großen Bauprojekte, mit dem wir während der Rezession rechnen konnten. Semco gab ein Angebot für die bei diesem
Projekt benötigten 200 hydraulischen Pumpen ab, einen Auftrag über drei Millionen Dollar. Ein Auftrag in dieser Größenordnung
konnte unserem Unternehmen neue Hoffnung geben, denn normalerweise hatten wir ein Auftragspolster von zehn Monaten gehabt,
das inzwischen auf zweieinhalb Monate geschrumpft war. Wir hatten Alcoa schon früher beliefert und glaubten gute Chancen zu
haben, den Auftrag zu bekommen. Aber an einem Freitag erfuhren wir am späten Nachmittag, daß uns ein australischer
Konkurrent, Warman Pumps, unterboten hatte.
Als wir uns (soweit das möglich war) von unserer Enttäuschung erholt hatten, setzten wir unsere letzte Hoffnung auf einen
Auftrag für Schiffspumpen, und zwar für zwei einheimische Werften - Caneco und Emaq -, die gerade drei Tanker für Petrobras
bauten. Beide Werften gaben uns zu verstehen, sie würden lieber bei Semco kaufen, wie bisher auch schon. Das Problem war nur,
daß einer unserer Konkurrenten, Sulzer Brothers, von seiner Schweizer Mutter die Anweisung bekommen hatte, den Auftrag um
jeden Preis zu akquirieren, und einen Rabatt von 18 Prozent geboten hatte. Auch sie befanden sich in einer verzweifelten Lage.
Wir standen mit dem Rücken zur Wand - und boten 20 Prozent. Bei diesem Auftrag würde kein großer Gewinn herausspringen,
aber das Geld würde uns über Wasser halten, bis wir wieder wußten, was wir als nächstes tun sollten. Ich weiß noch, wie zufrieden
ich von Rio heimflog.
Am Ende der Woche teilte uns die Werft mit, unsere Konkurrenz habe 35 Prozent Rabatt geboten - inklusive kostenloser
Wartungen, Versicherung und Lieferung. Kennen Sie den medizinischen Ausdruck »Nullinie«? Er paßte genau auf uns. Hätte es in
unserem Konferenzraum ein Elektrokardiogrammgerät gegeben, dann hätte es keinen einzigen Herzschlag mehr registriert.
Wir nahmen natürlich das nächste Flugzeug nach Rio, um mit dem Angebot gleichzuziehen. Es blieb uns gar keine andere Wahl.
Das war mit Sicherheit der letzte Auftrag in diesem Jahr, und dabei war es

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erst März. Der Preis war Nebensache - wir mußten so lange über die Runden kommen, bis wir Semco im Griff hatten. Auch wir
boten 35 Prozent Rabatt, und die Werften gaben uns ihr Wort, daß der Auftrag uns gehörte. Unser Herz begann wieder zu schlagen.
Ein paar Tage später hatten wir eine Konferenz. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber ich erinnere mich noch genau daran,
wie nervös wir waren. Ein abergläubischer Mitarbeiter entdeckte, daß 13 Leute um den Tisch saßen. Und genau in diesem
Augenblick kam ein dringender Anruf für mich. Ich nahm den Hörer ab und erfuhr, daß der Caneco-Werft von unserem
Konkurrenten weitere sieben Prozent Rabatt angeboten worden waren und daß die Werft dieses Angebot angenommen hatte. Emaq
würde mitziehen, da Petrobras wünschte, daß alle sechs Schiffe gleich ausgestattet sein sollten.
Wir waren am Boden zerstört. Nur Harro nicht. Er hatte wieder dieses Funkeln in seinen Augen. Auf sein Drängen hin hatten
wir beschlossen, unseren Überlebenskampf an einer anderen Front zu führen. Wir würden den Alcoa-Auftrag doch noch an Land
ziehen.
Alcoa hatte bereits mit fast allen Zulieferfirmen Verträge für den Bau des neuen Werks abgeschlossen. Als einziges stand noch
der Auftrag über die riesigen Rührwerke aus, die sich langsam am Boden der Tanks drehen, damit das Aluminium dort nicht
aushärtet. Wir wußten nur wenig über diese Maschinen, außer daß die Arme fünf Meter lang waren und die Antriebswellen drei
Stockwerke hoch. Wir fragten bei Alcoa an, ob man auch ein Angebot von Semco in Erwägung ziehen würde. Das sollten wir lieber
vergessen, erklärte man uns, da der Auftrag schon in 10 Tagen vergeben würde.
Am nächsten Tag flogen Harro und ich nachmittags nach King of Prussia in Pennsylvania, dem Sitz des größten
Rührwerkeherstellers der Welt, der Philadelphia Gear Corporation. Wir brauchten ihre Sachkenntnis, um den Auftrag an Land
ziehen zu können, und sie brauchten Semco, denn nach unserem Handelsrecht mußten diese Maschinen in Brasilien hergestellt
werden. Wir wurden ins Büro des Präsidenten geleitet, der uns unverblümt seine Meinung über Brasilien an den Kopf warf.
Philadelphia Gear hatte einmal ein brasilianisches Unternehmen erwerben wollen, war aber völlig frustriert von dem entsetzlichen
amtlichen Papierkrieg. Seitdem wollte er nichts mehr mit Brasilien oder Brasilianern zu tun haben.

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Als ich auf Alcoa zu sprechen kam, besänftigte sich sein Zorn. Philadelphia Gear machte zwar Geschäfte mit den größten
Aluminiumherstellern, aber nicht mit Alcoa. Für ihn eröffnete sich plötzlich die Chance, durch eine Hintertür in Südamerika in
geschäftliche Beziehungen mit dem Aluminiumgiganten treten zu können. Auf einmal konnte er sogar lächeln, aber dann wurde er
gleich wieder blaß, als wir ihm klarmachten, daß die erforderlichen Rührwerke größer wären als alle, die sein Unternehmen bislang
hergestellt habe. Und als wir ihm auch noch erklärten, daß wir nur ein paar Tage Zeit hätten, die technischen Vorbereitungen
abzuschließen, den Vertrag auszuhandeln und die Lizenzvereinbarung zu unterzeichnen, kehrte sein finsterer Gesichtsausdruck
zurück. Aber nachdem er sich mit seinem Vorstand beraten hatte, entschied er, daß wir das Ganze durchziehen sollten.
Als wir wieder in Brasilien waren, richtete Harro sich im Empfangsbereich des imposanten Alcoa-Verwaltungsgebäudes
häuslich ein. Der Beschaffungsmanager Victor Barruzzi war ein harter Brocken, der am Austausch von Höflichkeiten nicht
interessiert war. Da er auch noch ein Frühaufsteher war, machte Harro es sich zur Gewohnheit, vor seinem Büro schon um sechs
Uhr morgens aufzukreuzen. Barruzzi ging an ihm vorbei und hatte kaum ein Nicken für ihn übrig. Harro ließ sich etwa jede Stunde
bei ihm anmelden und saß einfach da und las die Jahresberichte von Alcoa und irgendwelche Bergbauzeitschriften. Schließlich gab
Barruzzi nach und empfing ihn - aber nur um ihm zu sagen, daß Semco keine Chance hätte, den Auftrag an Land zu ziehen.
Irgendwie gelang es Harro, einen zweiten Termin bei Barruzzi zu bekommen, für uns beide, und nachdem wir zwei Stunden
gewartet hatten, wurden wir empfangen. Wir bearbeiteten Barruzzi so lange, bis er weich wurde und unser Angebot entgegennahm.
Und so kam es schließlich, daß das neue Alcoa-Werk in Brasilien stolzer Besitzer von 26 Semco-Philadelphia-Rührwerken wurde,
darunter auch vier, die zu den größten Maschinen dieser Art auf der Welt gehören.
In dieser Gewinnsträhne beschlossen wir, auch das Petrobras-Problem zu packen. Ein einziger Mann, der Präsident Shigeaki Ueki,
traf letztlich die wichtigen Entscheidungen in dieser Erdölgesellschaft.

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Nach zahllosen Anläufen bekamen wir schließlich einen Termin bei ihm, an einem Freitagnachmittag. Wir erklärten ihm, wir seien
überzeugt, daß unser Konkurrent ein Dumpingangebot abgegeben habe und seine Pumpen mit Verlust verkaufen würde, um sich
auf den brasilianischen Markt zu drängeln. Wenn wir das beweisen könnten, sagte er, bekämen wir den Auftrag. Aber wir hätten
nicht mehr viel Zeit, warnte er uns noch.
Das Elektrokardiogramm zeigte wieder Ausschläge. Dann fiel uns siedendheiß ein, daß es schon fast Dienstschluß war und wir
uns noch eine Kopie der Bilanz unseres Konkurrenten von der Verwaltungsregistratur besorgen mußten. Die Beamtin, die uns
empfing, wollte offensichtlich nicht die letzte halbe Stunde ihrer Arbeitswoche damit verbringen, in modrigen Akten
herumzuwühlen, aber irgendwie schien sie die kindliche Verzweiflung in meinem Gesicht zu rühren. Sie suchte die Bilanz heraus,
und ich ging sie beklommen durch. Und wenn nun ein kreativer Buchhalter die Verluste verschleiert hatte? Er könnte ja beim
Inventar manipulieren, oder mit künftigen Erträgen. Wie konnte ich das wissen? Meine Finger fuhren die Zahlenkolonnen entlang.
Erträge, Erträge - wo waren bloß die verdammten Erträge? Aha, da waren sie. Hübsche, dicke Zahlen, in Klammern. Mein Verdacht
bestätigte sich: ein Verlust von drei Millionen Dollar.
Am Ende spielte Dr. Ueki Salomon und verteilte den Pumpenauftrag auf zwei Firmen. Semco würde einen Vertrag für drei von
den Schiffen bekommen.
Als ob wir endlich kapieren sollten, daß die Welt sich zwar immer weiter dreht, am Ende aber dort anlangt, wo sie begann,
wurde dieser Auftrag, den wir für lebensnotwendig hielten, mehrere Male verschoben. Dann ging die Werft pleite, ehe sie uns
auszahlen konnte.
Aber das war viel später. Im Augenblick hatte sich die Schlinge ein wenig gelockert.
1981 kam und ging. Auch 1982. Dank der Lizenzverträge, die Harro und ich akquiriert hatten, befand sich Semco in der
ungewohnten Lage, Geld zu verdienen. Eine Menge Geld. Na schön, jedenfalls für uns. Wir hatten sogar noch etwas Kleingeld übrig,
nachdem wir unsere Schulden abbezahlt hatten. Da Ernestos neue Unternehmens-

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Steuerungsmaßnahmen funktionierten und unsere Produktpalette erheblich erweitert war, schwammen wir auf einer Erfolgswelle,
während es mit Brasilien immer weiter bergab ging.
Ich hätte mit der neuen, verbesserten, diversifizierten Firma Semco nicht zufriedener sein können. Alles schien so professionell
zu sein. Niemand konnte unser Werk ohne einen Ausweis betreten oder verlassen. Selbst ich wurde von den Wachmannschaften
aufgehalten. Bei uns gab es spezielle Formulare für Überstunden, Telefonrechnungen, Kopiererquittungen - einfach alles.
Unser ganzer Stolz war unser neues Budget-System. Am fünften Arbeitstag jedes Monats lagen die Zahlen vor, in farbig
gekennzeichneten Mappen. Wie groß war der Kaffeeverbrauch der Arbeiter in einer Unterabteilung der Leichtbauproduktion III?
Hier steht es, in Tabelle Nr. 112, Seite 67. Ernesto verpaßte uns das Image von Firestone, Xerox und Sharp.
Wenn ich mit Managern in anderen Unternehmen über unser System sprach, erzählte ich ihnen gern die Geschichte, wie der
Präsident von Allis-Chalmers aus den USA zu Besuch kam. Er wollte wissen, ob wir das Pumpenwerk seines Unternehmens in
Brasilien übernehmen würden. Der Vertrag kam zwar nicht zustande, aber wir zeigten ihm dennoch unsere Fabrik. Er blätterte in
einigen unserer Budget-Mappen und bekam so leuchtende Augen wie ein Kind bei seinem ersten Zirkusbesuch. Er hätte nicht
gedacht, daß ein lateinamerikanisches Unternehmen derart effizient - meinte er zwangsneurotisch? - arbeiten würde. Und dann
erklärte er uns, daß er seine brasilianische Tochtergesellschaft (die um ein Vielfaches größer war als Semco) anweisen würde, sofort
ein ähnliches System einzurichten. Wir liefen wochenlang mit stolzgeschwellter Brust herum.
Nicht lange danach begann Allis Chalmers Marktanteile zu verlieren und dann auch noch Geld. Inzwischen ist der Konzern
aufgelöst und Stück für Stück verkauft worden.
Eines Tages sollten wir selbst daraus auch unsere Lehren ziehen. Aber vorerst waren wir bemüht, die Welt an den Segnungen
unserer neuen Managementkultur teilnehmen zu lassen. Es war an der Zeit, daß Semco auszog und einige Unternehmen aufkaufte.

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Kapitel 5: Was kostet die Welt?

Ich hatte den dringenden Verdacht, daß man uns nicht ernst nahm, als Ray Krinker, Seniorpartner von Price Waterhouse in
Brasilien, mich über den Tisch hinweg angrinste. »Ein Tante-Emma-Laden in der Nähe meines Hauses«, sagte er dann. »Das wäre
das Beste, was Sie in Ihrer Preislage kaufen könnten.«
Wir schrieben das Jahr 1983. In unserer typischen großkotzigen Art hatten wir Krinker zu uns gebeten, einen Spezialisten für
Unternehmensfusionen und -aufkäufe, und ihm erklärt, wir würden gern eine halbe Million Dollar anlegen. Wir wollten ein
Unternehmen kaufen. An einen Tante-Emma-Laden hatte ich dabei eigentlich nicht gedacht.
Ich erinnerte mich an eine gewisse Leiterfirma, die ich für einen Dollar hätte kaufen können, und beschwor Krinker und seine
Leute, weiterzusuchen. Das taten sie dann auch, und während der nächsten paar Monate sichtete ich ganze Stapel von Unterlagen
über Zweigstellen und Tochtergesellschaften, die unter den Hammer kommen sollten. Wir stellten drei Bedingungen: Das
Unternehmen mußte auf seinem Markt die Nummer 1 oder die Nummer 2 sein, etwas mit unserem eigenen Geschäft zu tun haben
und technisch auf dem neuesten Stand sein. Es mußte auch gute Gründe geben, die für seinen Verkauf sprachen - es gab entweder
keinen Nachfolger für den Unternehmensgründer, das gegenwärtige Management taugte nichts, oder das Mutterunternehmen hatte
kein Interesse mehr an der Tochter. Auf keinen Fall suchten wir nach Firmen, die Produkte von zweifelhafter Qualität herstellten
oder große Kapitalspritzen benötigten, die wir natürlich nicht bieten konnten.
Krinker, ein freimütiger Mann, dessen Augen abwechselnd blitzten und starrten, war bei unserer Suche von unschätzbarem
Wert.

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Und er konnte uns auf den Boden der Tatsachen zurückholen. »Auch ein kleines Loch genügt«, erklärte er mir gern, »damit ein
großes Schiff sinkt.«
Wir waren nun wirklich nicht gerade ein großes Schiff, aber wir suchten wie der Teufel nach vielen kleinen Löchern. Die
Unternehmen, die damals zum Verkauf anstanden - wir befanden uns ja noch immer in einer Rezession -, waren nicht sehr gesund.
Den meisten fehlte entweder Kapital oder ein Markt. Und manche hatten beides nicht. Ray sorgte dafür, daß wir uns damit gar nicht
abgaben. Aber es blieben noch genügend Kandidaten übrig. Wir verbrachten ganze Nachmittage damit, uns durch hohe Stapel von
Jahresberichten durchzuarbeiten. Wir zogen einen heraus, lasen die Angaben über die Produktpalette, sahen uns die Zahlen an und
entschieden dann darüber, ob er auf den kleinen Haufen von interessanten Vorschlägen gehörte oder auf den viel größeren Stapel
der abzulehnenden Projekte.
Kein Unternehmen, das eine halbe Million Dollar flüssig hatte, dürfte sich mächtiger vorgekommen sein als wir. Hier harrten
Firmen mit jährlichen Umsätzen in Höhe von fünf Millionen, zehn Millionen, ja zwanzig Millionen Dollar auf unsere Entscheidung.
Wir bekamen sogar Unterlagen von einem Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 150 Millionen Dollar und von einem anderen
mit 4500 Mitarbeitern.
Natürlich dachten wir nicht im Traum daran, an derart Große heranzutreten. Aber selbst dann hatten wir keinen blassen
Schimmer, wie anmaßend wir waren zu glauben, wir würden über die nötige Erfahrung verfügen, um noch andere Unternehmen
neben unserem eigenen zu leiten. Wir waren in unseren Augen längst legendär. Wer würde es schon wagen, das Schicksal daran zu
hindern, uns zu einem multinationalen Konzern zu machen?
An diese Zeit sollte ich Jahre später noch zurückdenken, als ich über die jungen Finanzgenies in der Wall Street las, die das
gleiche Spiel spielten: Unternehmen kauften, verkauften und miteinander fusionierten und sich dabei einen Dreck um die
reichhaltige, komplexe Geschichte dieser Firmen kümmerten. Diese Yuppies in ihren Armani-Outfits und BMWs wußten alles
besser, sie zertrümmerten um kurzfristiger Profite willen ganze Unternehmen und brachen da-

---OP 54---

bei die Herzen jener Männer, deren Träume einst in diesen Unternehmen Wirklichkeit geworden waren. Aber in ihrer Welt gab es
keinen Platz für Sentimentalitäten oder Tradition oder Mitarbeitermotivation. »Was bleibt unterm Strich?« kläfften sie in ihre
Autotelefone. Und auch ich war in dieser Denkweise befangen und bildete mir törichterweise ein, die Macht zu haben, über Leben
und Tod jener Unternehmen entscheiden zu können, deren lebenswichtige Statistiken sich in den Mappen auf unserem
Konferenztisch befanden. Ray Krinker hatte recht gehabt. Wir hätten es langsamer angehen sollen. Wir hätten vorsichtiger
weitermachen müssen. Aber da wir ungeduldig waren, taten wir genau das nicht.
Wir wählten 15 Unternehmen aus, die wir aufsuchen wollten, verhandelten mit sechs und entschieden uns dann für ein
einziges: die Tochtergesellschaft einer schwedischen Klimaanlagen-Firma, die man heute unter dem Namen Asea Brown Boveri-
Gruppe kennt. Flakt, ihr brasilianischer Ableger, verkaufte Kühlanlagen für Schiffe und Offshore-Bohrplattformen sowie
Entlüftungssysteme für Schiffsmaschinenräume.
Die Verhandlungen gingen zügig voran. Der Vertrag sah vor, daß wir den brasilianischen Schiffahrtsbereich übernahmen und in
Semco eingliederten. Der Preis betrug rund 300000 Dollar, und das konnten wir locker aufbringen. (Okay, viel mehr hatten wir
eigentlich nicht.) Die Unterzeichnung sollte in Stockholm erfolgen.
Ich düste los und besichtigte unterwegs andere Flakt-Betriebe. Da ich Angst hatte und unter Jet-Lag litt, war es wohl nicht
weiter überraschend, daß ich auf dieser Reise zum erstenmal Bekanntschaft mit dem staatlichen Gesundheitswesen machte. Seit
Monaten war mein Hals beim Erwachen so stark entzündet, daß ich bis zum späten Vormittag nicht einmal Flüssigkeiten
hinunterschlucken konnte. Außerdem hatte ich fürchterliche Kopfschmerzen und Gastritis. Und um das klägliche Bild abzurunden,
hatte ich noch 50 Pfund Übergewicht. Seit über fünf Jahren hatte ich keinen Sport mehr getrieben, wenn man davon absieht, daß
ich die drei Treppen zu meinem Büro hochkeuchte.
Am Abend vor der Konferenz, die am nächsten Morgen um acht Uhr angesetzt war, traf ich in Göteborg ein. Mein
Gesprächspartner rief an und sagte, mein Hotel sei nur sechs Minuten zu Fuß von sei-

---OP 55---

nem Büro entfernt, also würde er mich sechs Minuten vor acht in der Halle erwarten. Ich nahm ein leichtes Abendessen auf dem
Zimmer zu mir und reihte die Tabletten (zwei blaue, drei rotweiße und eine weiße) vor mir auf, die mir die Ärzte verschrieben
hatten. Ich schluckte sie - natürlich tat mir der Hals dabei weh -, stellte den Wecker und beauftragte die Rezeption, mich um sieben
Uhr zu wecken, für alle Fälle. Dann ging ich schlafen.
Mitten in einem Traum vernahm ich das ferne Läuten eines Telefons. Ich nahm in meinem Traum den Hörer ab, aber es läutete
weiter. Im nächsten Augenblick wurde mir entsetzlicherweise klar, daß es bereits sechs Minuten vor acht war und das Telefon neben
meinem Bett noch immer läutete. Ich angelte nach dem Hörer.
»Guten Morgen, Mr. Seniler«, hörte ich jemanden frisch und munter sagen. »Ich bin in der Halle.«
»Ja... äh... richtig«, stotterte ich. Eine Ausrede. Ich brauchte eine Ausrede. Ich glaubte, clever zu sein, und behauptete, ich käme
erst etwas später, weil ich noch einen überaus wichtigen geschäftlichen Anruf aus Brasilien erwartete. Ich ging ins Bad und
schüttete mir etwas kaltes, schwedisches Wasser ins Gesicht - und dann wurde mir klar, daß es in Südamerika erst drei Uhr
morgens war.
An diesem Tag besichtigte ich eine Fabrik von Asea Brown Boveri. Während ich durch das Werk ging, fühlte ich mich
zunehmend schlechter. Und dann wurde mir plötzlich schwarz vor den Augen. Ich war ohnmächtig geworden. Man brachte mich
auf die Krankenstation, und nach einer Stunde oder so ging es mir wieder einigermaßen gut, so daß wir die Besichtigung fortsetzen
konnten. Am nächsten Abend war ich wohlauf, als ich an einem Essen in der Stockholmer Zentrale teilnahm und unseren Vertrag
unterzeichnete.
Wir übernahmen sofort das dreistöckige Fabrikgebäude von Flakt am Rande von Rio de Janeiro sowie die Hälfte des Personals von
60 Mitarbeitern. Aber wir verstanden von diesem Geschäft viel weniger, als wir gedacht hatten, und verloren im Laufe der nächsten
vier Jahre über eine Million Dollar, bevor dieser Zweig Gewinne machte.
Damals allerdings hielten wir uns für scharf. Und so naiv selbstgefällig, wie wir nun einmal waren, gingen wir weiter auf die
Jagd nach neuen Unternehmen.

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Wir pirschten uns an einen weiteren Betrieb auf dem gleichen Gebiet wie Flakt heran: Baltimore Aircoil (BAC), eine
Tochtergesellschaft von Merck, Sharp & Dohme, dem riesigen Pharmakonzern, erfuhren aber, daß wir zu spät kämen. Der Vertrag
sei schon fast fertig - das Unternehmen sollte an den größten Klimaanlagenhersteller in Brasilien gehen.
Wir schätzten die Merck-Tochter auf zwei bis drei Millionen Dollar, hatten aber nur 200000. Doch Reden kostet ja nicht viel,
und so schickten wir ein Telex an Merck und schlugen ein Gespräch mit ihren Leuten vor. Sie waren einverstanden.
Merck teilte uns mit, daß das vorliegende Angebot den Vorstellungen des Konzerns schon sehr nahekomme, und fragte uns, ob
wir es überbieten wollten. Da wir nicht sehr liquide waren, boten wir Merck eine Art Vorauszahlung an - das Geld in der Kasse ihrer
eigenen Tochtergesellschaft - und schlugen vor, den restlichen Kaufpreis in fünf Jahresraten abzuzahlen, und zwar jeweils einen
fixen Betrag plus 25 Prozent des Gewinns, den das Unternehmen machte. Ein Merck-Manager - ein großer, drahtiger Bursche mit
den kalten, harten Augen eines Finanzchefs - gab ein kurzes, zynisches Lachen von sich. Aber dann fiel mir auf, daß ein anderer
Merck-Mann nachdenklich vor sich hin sah. Ich bildete mir sogar ein zu sehen, wie sich ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel
kräuselte. Wie sich herausstellte, waren einige Leute bei Merck längst zu dem Schluß gekommen, daß sie mit diesen dreisten jungen
Senkrechtstartern bei Semco besser dran wären.
Nach ausgiebigen Verhandlungen wurde schließlich ein komplizierter Vertrag aufgesetzt, der in der Kanzlei der Merck-Anwälte
im Geschäftsviertel von Sao Paulo unterzeichnet wurde. Während wir noch auf die letzte Fassung der Dokumente warteten, drang
ein unglaublicher Lärm von der Straße herauf. Vom Fenster aus sahen wir, wie eine riesige Menschenmenge gegen die
Wirtschaftspolitik der Regierung demonstrierte. Plötzlich trafen mehrere Hundertschaften der Polizei ein und begannen mit
Tränengaspatronen um sich zu schießen. Die Demonstranten liefen wild durcheinander, als sich der ätzende Nebel ausbreitete. Die
Amerikaner sahen einander an. »Wieso dauert das mit diesen Papieren so lange?« rief der eine aufgeregt.

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Am darauffolgenden Tag übernahmen wir das BAC-Werk in der Nachbarstadt Diadema. Es war eine große, blitzblanke Fabrik,
über deren Eingangstor Fahnen flatterten. Von den 90 Menschen, die dort beschäftigt waren, würden wir mehr als 60
weiterbeschäftigen.
Da das Unternehmen gutging, ließen wir das alte Management weitermachen und setzten nur einen Rechnungsprüfer ein. Der
Mann, den wir für diesen Job einstellten, Antonio Carlos Iotti, war ein rundlicher kleiner Mann mit einer dicken Brille, die er, wie er
mir sagte, sogar unter der Dusche trug. Bei seinem letzten Arbeitgeber, einer großen Nähmaschinenfirma, hatte Iotti von einem
Vorgesetzten den Auftrag bekommen, eine Bestandsliste nochmals zu überarbeiten. Er weigerte sich. Als er ein ärgerliches Memo
bekam, mit dem sein Boss die neuen Zahlen von ihm verlangte, antwortete er mit einer noch giftigeren Aktennotiz. Der Boss suchte
Iotti sogleich auf und war auf eine lautstarke Auseinandersetzung eingestellt. Er war mindestens dreißig Zentimeter größer als sein
unverschämter Untergebener, aber als er von oben auf ihn hinunterstarrte, sah er, wie der kleine Iotti die Hände in die Hüften
stemmte, zurückstarrte und es offenbar darauf ankommen lassen wollte. Iotti war genau der richtige Mann für uns, dachte ich.

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Kapitel 6: Drei Dämpfer

Mit zwei Deals hatten wir unseren gesamten 500000-Dollar-Notgroschen ausgegeben, unser Personal fast verdoppelt und die Zahl
der Fabriken verdreifacht. Aber dank unseres neuen Finanzcontrolling bildeten wir uns ein, daß unsere Manager alles schaffen
würden. Semco ging es so gut, daß ich es eigentlich hätte wissen müssen: Wir würden noch einen Dämpfer bekommen.
Genaugenommen waren es drei Dämpfer. Der erste hatte etwas mit Ernesto zu tun.
Vor Jahren hatte mein Vater zwei ausländischen Unternehmen angeboten, sich an Semco zu beteiligen, jedes mit 24,5 Prozent.
(Er behielt die Mehrheit und damit das Sagen.) Semco hatte das Recht, ihre Produkte herzustellen, und die beiden Unternehmen
hatten Vertreter in unserem Vorstand sitzen.
Mit dem einen dieser Unternehmen kam mein Vater gut zurecht, mit dem anderen hatte er nichts als Ärger. Dort warf man ihm
- völlig zu Unrecht - beispielsweise vor, er würde private Ausgaben dem Unternehmen anlasten und sich selbst ein viel zu üppiges
Gehalt bewilligen, damit er nicht so hohe Dividenden zahlen müsse.
Während Ernesto das Unternehmen professionell organisierte, bemühte er sich um jeden Preis, absolut unparteiisch zu sein.
Das hieß unter anderem, daß er den Minderheitsaktionären von Semco - also auch den unliebsamen - genauso viele Informationen
zukommen ließ wie meiner Familie. Nach unserer zweiten Akquisition beschloß Ernesto, allen einen Brief zu schicken, in dem er
seine Ansicht über unsere finanzielle Gesamtsituation kundtat. Ausführlich erörterte er unsere Investitions- und Produktionspläne.
Dabei handelte es sich zwar um keine besonders heiklen Informationen, aber er hatte vorher nicht mit meinem Vater darüber
gesprochen, und der fühlte sich so hintergangen, daß er fortan kein Wort mehr mit Ernesto sprach.

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Ich ergriff die Partei meines Vaters, obwohl ich bald dahinterkommen sollte, daß meine familiäre Loyalität nichts weiter als
meine berufliche Unreife verriet. Ich denke, daß Semco damals noch ein ausgesprochenes Familienunternehmen war.
Ich ließ Ernesto zu mir kommen und sagte ihm die Meinung. In seiner hitzköpfigen Art erwiderte er, daß es für ihn keine andere
Möglichkeit gäbe, als sofort zu gehen. Er stürmte hinaus, holte seine Sachen aus seinem Büro und raste die Treppen hinunter. Ich
stand am Fenster und sah, wie er durchs Werkstor ging - er nahm nicht mal seinen Dienstwagen, um damit heimzufahren. Ich
rannte zum Parkplatz, sprang in meinen Wagen und fuhr ihm nach. Als ich Ernesto eingeholt hatte, sah ich, daß er weinte. Ich
öffnete die Beifahrertür, und er stieg ein. Wir schwiegen beide, als ich ihn heimfuhr. Das war einer der traurigsten Augenblicke in
meinem Leben - und dabei war es nur das Vorspiel zu einer wahren Tragödie, denn wenig später kam Ernesto bei einem
Motorradunfall ums Leben.
Ernestos Nachfolger war ein kleiner, schmächtiger junger Mann namens Fernando Lotamorro. Auch Fernando war ein
Selfmademan. Er hatte als Vertreter angefangen und sich, ehe er dreißig war, zum Spitzenmanager in einer großen brasilianischen
Firma emporgearbeitet.
Er war dafür bekannt, daß er als erster kam und als letzter ging. Er führte ein exaktes Finanzcontrolling ein und war damit der
ideale Mann, Ernestos gute Arbeit fortzusetzen und auszubauen. Zumindest dachten wir damals, daß es eine gute Arbeit gewesen
war.
Der zweite Dämpfer betraf Harro. Er mochte zwar die Geschäftigkeit von Sao Paulo, aber er liebte das Landleben über alles. Er
wollte nur an einem Ort leben, wo er auch Hühner halten konnte, und das hieß, daß er jeden Tag zweimal eineinhalb Stunden durch
den dichtesten Verkehr zum Werk pendeln mußte.
Als sich seine großartigen Leistungen herumzusprechen begannen, bekam Harro Angebote von anderen Unternehmen. Er
nahm sie nicht weiter ernst, bis er eines Tages einen Anruf von einem französisch-brasilianischen Elektrogerätehersteller erhielt,
von Merlin-Gerin, die ihn als Leiter ihres Werks im ländlichen Staat Santa Catarina haben wollten. Er würde in einer kleinen Stadt
leben und arbeiten

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können, wo sich ein Verkehrsstau nur dann bildete, wenn die Kühe gerade über die Straße liefen, und wo er genug Platz für alle
Hühner dieser Welt hätte und 5000 Rosen in seinem Garten.
Harro fragte mich, was ich davon hielte. Ich mußte zugeben, daß Angebot war so gut, daß er es sich nicht entgehen lassen sollte.
Er blieb noch ein paar Monate länger bei Semco, ehe er in den Süden zog. (PS: Wir blieben in Verbindung, und zehn Jahre später
kam Harro gewissermaßen zu uns zurück - er übernahm 25 Prozent der Anteile einer neuen Ersatzteil- und Wartungsfirma, die wir
gemeinsam gründeten, und arbeitet seitdem wieder in unserer Zentrale, wo auch dieser Unternehmenszweig seinen Sitz hat.)
Niemand konnte Harro ersetzen - aber manchmal gibt es so etwas wie einen gerechten Ausgleich. Etwa um die Zeit, da Harro ging,
kam ein neuer Mann zu uns, der sich bald als eine treibende Kraft hinter den erstaunlichen Veränderungen bei Semco erweisen
sollte.
Mir war klargeworden, daß unser neues, mit aller Härte auf Effizienz bedachtes und auf allen möglichen Statistiken basierendes
unternehmerisches Konzept, zusammen mit unseren Akquisitionen und all den neuen Mitarbeitern, jede Menge Streß mit sich
brachte. Normalerweise wäre es für ein Unternehmen unserer Größenordnung völlig idiotisch, einen Personalchef zu haben, aber
ich war überzeugt, wir brauchten einen. Also beauftragte ich einen »Kopfjäger« , sah mir Dutzende von Lebensläufen an und
unterhielt mich mit den zehn aussichtsreichsten Kandidaten. Sie kamen alle aus viel größeren Unternehmen - und keiner schien mir
der Richtige zu sein.
Und dann kam ein Seiteneinsteiger: Clovis Bojikian. Der Sohn armenischer Einwanderer war ein Idealist, der als Lehrer im
Schuldienst begonnen hatte. Als Anhänger der fortschrittlichen Erziehungsmethoden à la Summerhill wurde er dann Berater an
einer Lehrerausbildungsschule für Junglehrer, die gerade die Universität von Sao Paulo absolviert hatten, und schließlich ihr
Direktor. Seine Amtszeit war von seiner unermüdlichen Innovationslust geprägt: Er brachte seinen Studenten bei, zu denken, statt
nur auswendig zu lernen; er ermutigte sie, alles in Frage zu stellen; sie durften ihre Arbeitszeit selbst bestimmen, sich kleiden, wie
sie wollten, und ihren eigenen Lehrplan aufstellen.

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Aber Brasilien wurde noch immer von den Generälen regiert, und die hielten die Arbeit von Clovis für subversiv. Bei ihm
herrschte nicht nur ein verdächtiger Mangel an Disziplin, sondern er brachte auch den Kindern bei, den Geschichtsbüchern zu
mißtrauen, die die Heldentaten eben dieser Militärdiktatoren verherrlichten. 1984 beriefen die Generäle ein Sondertribunal an der
Universität ein, und Clovis wurde 46 Stunden lang durch die Mangel gedreht. Dann wurde er fristlos entlassen.
Die Studenten besetzten sofort die Schule und forderten die Wiedereinstellung von Clovis. Sie waren mit Besenstilen und
einigen Molotowcocktails bewaffnet, ernährten sich von Büchsennahrung und standen über eine Woche auf den Barrikaden und in
den Schlagzeilen. Die Generäle schäumten und ließen schließlich die Armee das Schulgebäude stürmen. Die Demonstranten wurden
um Mitternacht von Soldaten mit vorgehaltener Maschinenpistole zusammengetrieben und sangen die Nationalhymne, während sie
hinausmarschierten.
Clovis ging zur Ford Motor Company in Sao Paulo, wo er in der Personalabteilung und als Ausbilder arbeitete. Nach 18
Berufsjahren hatte er es bis zum Leiter der Personalabteilung bei den brasilianischen Ford-Werken gebracht, aber letzten Endes bot
ein derartiger Megakonzern nicht genug Möglichkeiten für Innovationen. Clovis wechselte in gleicher Position zu KSB-Pumpen,
einer Firma, die hydraulische Wasserpumpen herstellt und einer von Semcos Konkurrenten ist. Auch hier konnte er sich nicht
richtig entfalten.
Und nun beginnt die Geschichte fast ein wenig übersinnlich zu werden. Einer der Spitzenmanager aus der alten Garde meines
Vaters war zu KSB gegangen und mochte dort Clovis von Anfang an nicht. So hatte dieser frühere Semco-Manager die
Headhunterfirma, die ihm seinen eigenen Job verschafft hatte, beauftragt, jetzt für Clovis woanders eine neue Position zu finden.
Und genau dieser Firma hatte ich den Auftrag erteilt, für Semco einen Leiter der Personalabteilung zu suchen.
Ich verabredete mich mit Clovis in meinem Büro. Headhunter haben es gern, wenn ihre Kandidaten blaue Anzüge, weiße
Hemden und elegante Krawatten tragen und ordentlich rasiert sind. Aber ich stand einem entsetzlich dürren Mann Ende Vierzig
gegenüber, der

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einen häßlichen braunen Anzug, ein beigefarbenes Hemd und einen weißen Schnurrbart trug, der wie bei Kaiser Wilhelm nach oben
gezwirbelt war. (Immerhin hatte er eine Krawatte um.)
Ich mochte ihn auf den ersten Blick.
Clovis hat mir später gestanden, daß er mich anfangs kaum beachtete. Schließlich war er zu einem Bewerbungsgespräch mit
dem Präsidenten von Semco erschienen, und ich war genauso alt wie sein jüngster Sohn. Und selbst als ich mich setzte und mich
mit ihm zu unterhalten begann, dachte er, ich würde ihm nur Gesellschaft leisten, bis der richtige Präsident aufkreuzte.
Wir sprachen beinahe drei Stunden miteinander und verstanden uns von Anfang an großartig. Und wir waren uns auf der Stelle
einig, daß Clovis am nächsten Montag bereits seine Stelle als unser neuer Personalchef antrat. Es dauerte etwa eine Woche, bis wir
beide dahinterkamen, daß wir noch gar nicht über sein Gehalt gesprochen hatten.
Und der dritte Dämpfer? Etwa ein Jahr nachdem Clovis zu uns gekommen war, wurde ihm die Position des Vizepräsidenten eines
der größten brasilianischen Finanzunternehmen angeboten, wo er Hunderte von Mitarbeitern haben und fast dreimal soviel wie bei
uns verdienen würde. Wie es bei Harro der Fall gewesen war, sprachen wir miteinander über dieses Angebot. Es war verlockend,
und das sagte ich Clovis auch. Ich sagte auch zu ihm, daß er gern wieder zu uns zurückkommen könnte, wenn ihm der Job nicht
gefiele.
Ich suchte fast ein Jahr lang nach einem Nachfolger für ihn, aber ohne Erfolg. Dann hörte ich auf, mich weiter umzuschauen,
und wartete einfach. Und nicht lange danach war Clovis wieder bei Semco - für sein altes Gehalt.
Heute bekommt er dauernd neue Angebote, und das ist nicht weiter überraschend, wenn man bedenkt, was wir alles erreicht
haben. Aber Gott sei Dank läßt er sich nicht rumkriegen.

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Kapitel 7: Noch eine Eroberung


1984 waren wir wieder einmal bereit - Sie haben es wohl schon erraten -, ein weiteres Unternehmen zu kaufen. Damals hatten wir
uns mehr oder weniger von unseren ersten, fürchterlichen Jahren erholt, und unsere Diversifikation funktionierte. Wir standen bei
der Bank nicht mehr in der Kreide, hatten sogar noch etwas Geld in der Kasse (es reichte auf jeden Fall als Betriebskapital) und
waren sogar schon dabei, ein wenig zu expandieren. Finanziell gesehen, waren wir ein solides Unternehmen.
Wir hatten erfahren, daß Booz Allen & Hamilton, die internationale Unternehmensberatungsfirma, beauftragt worden war,
Hobart Brazil zu verkaufen, einen Zulieferer des amerikanischen Konzerns Dart & Kraft, der Geschirrspülmaschinen,
Fleischschneidemaschinen und andere Geräte zur Verarbeitung von Lebensmitteln herstellte. Dieses brasilianische Unternehmen,
das über eine 7000 Quadratmeter große Fabrik und 150 Mitarbeiter verfügte, war für uns eine Nummer zu groß. Gleichwohl
forderten wir die Akquisitionsunterlagen an, und man sagte uns, wir sollten uns beeilen. Das schien so üblich zu sein.
Als wir das Informationsmaterial durchgingen, stießen wir auch auf den Jahresbericht von Dart & Kraft. Ich bin noch immer
überzeugt, daß wir die einzigen potentiellen Bieter waren, die ihn gelesen hatten. Denn zwischen all den bunten Bildern der
Produkte des Konzerns - Duracell-Batterien, Tupperware-Behälter und zig Sorten Käse - fanden sich auch Andeutungen, denen wir
entnehmen konnten, daß der geschäftliche Erfolg von Hobart auf der Marketingsynergie seiner Geschirrspülmaschinen, Friteusen,
Waagen, Schneidemaschinen und ähnlicher Geräte beruhte. Es war leichter, die ganze Produktlinie zu verkaufen, als einzelne
Produkte vertreiben zu wollen -

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das ging schon damit los, daß die Firma mit ihrer gesamten Produktpalette bei den Händlern mehr Platz in den Regalen bekommen
würde. Die anderen Mitbieter wollten allerdings nur Teile des gesamten Unternehmens erwerben: die einen die
Geschirrspülmaschinen, andere die Waagen. Semco war der einzige Bieter, der alles kaufen und damit die Synergie aufrechterhalten
wollte.
Die Summe der anderen Gebote entsprach etwa dem Preis, den Dart & Kraft gefordert hatte. Unser Vorschlag belief sich auf
etwas mehr als die Hälfte dieses Betrags, und weil wir nicht liquide genug waren, wollten wir ihn über sechs Jahre hin abstottern.
Aber wie sich herausstellte, war man bei Dart & Kraft mehr an der Wahrung des Images von Hobart interessiert, denn dieser Name
würde ja weiterhin auf den Geräten stehen, die der Konzern in anderen Ländern weiterhin verkaufen wollte. Wenn das
brasilianische Unternehmen auf diese Weise intakt blieb, statt in seine einzelnen Produktbereiche zerlegt zu werden, hatte das
durchaus etwas für sich.
Wir saßen bei unseren Vertragsverhandlungen an einem langen Konferenztisch im brasilianischen Büro von Price Waterhouse.
Es galt noch eine Reihe von Fragen zu klären, etwa den Preis der einzelnen Aktiva, die Zahl der Raten und die Zinssätze. Wir
erklärten, das einzige, was wir gern vergrößern würden, sei der zeitliche Abstand zwischen unseren Zahlungen. (Ha, ha, ha.)
Der Geschäftsführer von Dart & Kraft hörte uns aufmerksam zu. Als wir unsere Präsentation beendet hatten, herrschte zunächst
Schweigen. Alle schauten den Big Boss erwartungsvoll an. Er dachte noch eine Zeitlang nach, dann erklärte er: »Ich mag zwar dick
sein und rosige Backen haben, aber ich habe keinen roten Mantel an, und es ist leider auch nicht Weihnachten.«
Nachdem das Lachen sich wieder gelegt hatte, verbrachten wir die nächsten sieben Stunden damit, zu verhandeln - mit dem
Ergebnis, daß die Zahlungszeiträume verkürzt und die einzelnen Raten, die wir zu zahlen hatten, erhöht wurden. Dann besiegelten
wir den Deal per Handschlag.
Die brasilianischen Hobart-Werke in Ipiranga bei Sao Paulo hinterließen ein umfangreiches, aber alles andere als glorreiches Erbe,
das von einer müden Schar von Mitarbeitern getragen wurde, die zum

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Teil über 45 Jahre ihres Lebens darin investiert hatten. Das Werk hatte eine lange - zu lange? - Geschichte, so daß die
Veränderungen, die wir schließlich noch erleben sollten, um so überraschender waren.
Es war eine jener schauerlich düsteren, in den dreißiger Jahren erbauten Fabriken mit hohen Decken und winzigen Fenstern,
wie man ihnen normalerweise im englischen Sheffield oder in Pittsburgh, Pennsylvania, begegnete. Ich weiß nicht, welches
Unternehmen sie einst errichtet hatte - 1939 jedenfalls gehörte sie den Gebrüdern Hobart, die eine erfolgreiche Firma für
Restaurantausstattungen in Ohio besaßen. Damals waren die mechanischen Waagen, die in dieser Fabrik gefertigt wurden, die
beliebtesten Waagen in Brasilien, trotz einer beachtlichen Konkurrenz von 30 heimischen Waagenherstellern. Aber im Laufe der
Jahre wurden so viele unterschiedliche Manager von Ohio hierhergeschickt, von denen nur ganz wenige mit dem hiesigen Markt
vertraut waren, daß der Erfolg bald schwand. Die leitenden Mitarbeiter von Hobart galten als öffentlichkeitsscheue Eigenbrötler, die
nicht daran interessiert waren, mit den Händlern überall in unserem riesigen Land zum Essen zu gehen. Sie kamen einfach aus
Ohio nicht heraus und konnten selbst unbedeutende Entscheidungen nur von der Zentrale aus treffen, was sie in ihrer
Reaktionsschnelligkeit beeinträchtigte und weniger flexibel machte, als sie hätten sein sollen.
Am meisten profitierte von diesen Schwächen Hobarts schärfster Konkurrent Filizola, eine Firma, die zwar von italienischen
Einwanderern gegründet worden war, aber beste Kontakte mit Händlern in ganz Brasilien unterhielt. Filizola machte immer
größere Umsätze, und in den siebziger Jahren wirkte sich das auf die Bilanz von Hobart aus. Die Bosse in Ohio hatten zwei
Möglichkeiten: entweder eine Menge Geld in die brasilianische Filiale zu stecken und sie nach dem neuesten Stand auszustatten,
damit schließlich die Kosten und Preise gesenkt werden konnten, oder den Konkurrenzkampf mit den vorhandenen Mitteln
auszufechten und zu hoffen, daß es irgendwie gutgehen werde. Hobart entschloß sich für die billigere Strategie - und Filizolas
Marktanteil vergrößerte sich weiterhin.
Ende der siebziger Jahre wurde Keith Rae, ein einheimischer Hobart-Manager, zum Generaldirektor befördert. Rae gehörte
dem Un-

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ternehmen seit über zwanzig Jahren an, wobei er sich die meiste Zeit als Verkäufer in den abenteuerlichsten Gegenden von
Brasilien herumgetrieben hatte. Er war ein grundehrlicher Mann mit einem unbezwinglichen Sinn für Humor, und irgendwie
gelang es ihm, das Unternehmen über Wasser zu halten. Er flog ständig nach Ohio, um seinen Bossen Bericht zu erstatten, und
verbrachte jedes Jahr zwei Monate damit, ein Budget aufzustellen und durchzuboxen. Das kostete ihn genau die Zeit, die er
eigentlich brauchte, um neue Kunden zu gewinnen und die Produkte zu verbessern.
Das brasilianische Abenteuer von Hobart ging schließlich zu Ende, als die elektronische Waage auf den Markt kam. Ende der
siebziger Jahre ließen sich in den USA kaum noch mechanische Waagen verkaufen. Dennoch glaubte man in der Hobart-Zentrale,
in den Entwicklungsländern gäbe es noch einen Markt für die primitiveren Modelle, so daß man keinen Grund sah, das
brasilianische Werk umzurüsten. Am Ende gelang es Rae dann doch, das Management davon zu überzeugen, daß man selbst in
Südamerika nicht an der elektronischen Waage vorbeikam. Stolz kündigte Hobart Brasilien das neue Produkt an - aber dann wurde
es nicht rechtzeitig ausgeliefert. Inzwischen hatte Filizola seine eigene elektronische Waage auf den Markt gebracht, behauptete
seinen technischen Vorsprung und beherrschte praktisch den Markt.
Um diese Zeit etwa entschloß sich die Familie Hobart dazu, an Dart & Kraft zu verkaufen. Das bedeutete, daß sich das
brasilianische Tochterunternehmen nicht mehr auf Familienmitglieder verlassen konnte, die eine lange Firmengeschichte mit
Südamerika verband. Nun würde das Geschäft von kalten, unpersönlichen Parametern beherrscht werden. Dart & Kraft hatten
genügend Kapital, würden es aber nur dann investieren, wenn sich das von den Produkten und vom Markt her rentierte. Das schien
bei Hobart Brasilien freilich nicht der Fall zu sein - das Unternehmen war in seinem Marktsektor auf die fünfte Stelle abgerutscht.
Bei Dart & Kraft beschloß man, die neun Büros und Fabriken von Hobart Brasilien bis auf zwei zu schließen. Das Werk bei
Ipiranga durfte weiter produzieren, aber der klassische Teufelskreis - weniger Verkäufe, geringere Investitionen und damit noch
weniger Verkäufe - war nicht mehr aufzuhalten.

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Außer Waagen produzierte das Werk noch die meisten anderen Hobart-Produkte - Fleischwölfe und -Schneidemaschinen, die
sich anständig, aber keineswegs überragend verkauften - sowie Geschirrspülmaschinen, die in Hotels, Restaurants und Cafeterias
noch immer marktführend waren. Aber als das verschlankte Unternehmen Hobart Brasilien nach ein paar Jahren auch nicht
erfolgreicher war als zuvor, bot Dart & Kraft es zum Verkauf an. Keith Rae und seine Leute waren bestürzt und erleichtert zugleich.
Ein neuer Inhaber würde sie vielleicht nicht mehr haben wollen - aber möglicherweise würde er auch das so dringend benötigte
Kapital investieren und den Schleier des Versagens zerreißen, der nun über der Firma hing.
Am Montag nach dem Vertragsabschluß waren Fernando, Clovis und ich in unserem neuen Werk für Systemgastronomiegeräte. Die
gedrückte Stimmung der Belegschaft war einer besorgten Neugier gewichen. Jeder wollte wissen, wie die neuen Bosse waren.
Als erstes erklärten wir ihnen unsere Unternehmensphilosophie, die wir uns bei unseren ersten Akquisitionen zu eigen gemacht
hatten: nichts zu ändern, was wir nicht verstanden, und den Leuten vor Ort eine Chance zu geben, bevor wir sie durch Leute von
außen ersetzten. Es ist so leicht, es den Managern anzulasten, wenn ein Geschäft schlecht läuft, aber oft hat ihnen die nötige
Entscheidungsfreiheit gefehlt oder die Motivation, so zu handeln, als ob es ihr Unternehmen wäre.
Keith Rae, der bereits über sechzig war, wurde zum Vizepräsidenten ernannt. (Leider starb er bereits ein Jahr nach unserer
Übernahme von Hobart.) Wir setzten auch hohe Erwartungen in Joao Vendramin, einen Ingenieur bei Hobart, der von Haus aus
Betriebswirt war. Wir glaubten, daß dieser zurückhaltende und nachdenkliche Mann einen hervorragenden Werksleiter abgeben
würde. Joao Martins, ein weiterer alter Hase, war während seiner 42 Jahre bei Hobart Brasilien Chefingenieur, Werksleiter und
Marketingleiter gewesen, aber die Bosse in Ohio waren der Meinung, er wäre zu alt, um noch irgend etwas zu leiten, und hatten ihm
einen niedrigeren Job in der Ausbildung gegeben. Wir holten ihn wieder in eine leitende Position zurück.
Aber als nach ein paar Monaten sich noch immer nicht viel im

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Werk rührte, begann Fernando die Geduld zu verlieren. Bei Hobart seien drastische Maßnahmen fällig, ereiferte er sich. Schon bald
führte er sich wie ein Deutscher Schäferhund auf, der keine zehn Meter von einer läufigen Colliehündin entfernt an der Kette liegt.
»Immer mit der Ruhe«, beschwor ich ihn. »Gib ihnen noch etwas Zeit.«
Aber er schob mir einfach ständig Packen von handschriftlichen Berechnungen zu, die seiner Meinung nach zeigten, daß es mit
dem Werk bergab ging. Er beharrte darauf, daß er auch als Semcos Verwaltungs- und Finanzchef noch immer genügend Zeit habe,
bei Ipiranga das Ruder herumzuwerfen.
Clovis und ich diskutierten immer wieder darüber, und am Ende gaben wir Fernando recht. Sein rauher Umgangston und sein
Mangel an Erfahrung als Generaldirektor bereiteten uns zwar Kopfzerbrechen, aber Fernando besaß den aggressiven Biß, der
damals unserer Meinung nach zur erfolgreichen Führung eines Unternehmens gehörte, besonders wenn es sich in einer schweren
Krise befand.
An einem sonnigen Nachmittag zeigten wir ihm, wo es nach Ipiranga ging, ließen ihn von der Leine und sahen zu, wie er
kläffend losjagte.
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Kapitel 8: So kann es nicht weitergehen

Fernando war überzeugt, dem Hobart-Werk fehle nichts weiter als eine gute Organisation, der Ehrgeiz und eine straffe Führung,
und er schickte sich an, dies alles ganz allein aufzubieten. Er kam jeden Tag um halb acht - und war dann allein im Büro, bis gegen
neun schließlich seine Leute allmählich einzutrudeln begannen und erst einmal in aller Ruhe ihren Kaffee tranken und Zeitung
lasen, bevor sie sich an die Arbeit begaben. Und abends um halb sechs fuhren sie wieder nach Hause und ließen Fernando noch bis
neun, zehn, ja manchmal sogar bis elf Uhr schuften. Das gefiel ihm ganz und gar nicht, und bald bekam jeder das auch mit.
Ich war zwar nicht ganz so umtriebig wie Fernando, aber ihm in gewisser Weise ähnlich. Wir kamen oft um acht Uhr abends
zusammen und verließen das Büro erst nach Mitternacht. Im Unterschied zu ihm allerdings erwartete ich nicht von allen anderen,
auch so lange dazubleiben. Ich mag vielleicht ein wenig gereizt gewesen sein, wenn ich um 18 Uhr erfuhr, daß jemand, den ich
dringend sprechen mußte, gerade gegangen sei, aber ich war genauso überrascht, wenn ich einen Kollegen abends um acht noch
antraf. Fernando aber verlangte das geradezu.
Iotti, Clovis und viele andere Mitarbeiter bei Semco arbeiteten ebenfalls recht lange, und ihre Familien begannen schon bald,
sich zu beklagen. Iotti wohnte etwa eine Stunde vom Werk entfernt und kam fast jede Nacht erst dann nach Hause, wenn seine
Leute längst schliefen. Am nächsten Morgen brach er bereits auf, als sie noch nicht wach waren. Wenn ich auf diese Zeit
zurückblicke, muß ich immer wieder darüber staunen, daß keine Ehe in die Brüche ging. Ich vermute, das lag hauptsächlich daran,
daß wir alle überzeugt waren, diese Überstunden seien nur etwas Vorübergehendes und alles

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würde normal laufen, sobald wir unsere Akquisitionen verkraftet hätten und bei Semco mit der jährlichen Wachstumsrate von 100
Prozent zurechtgekommen wären. Wir brauchten fast ein Jahrzehnt, um dahinterzukommen, daß wir unseren Streß selbst
produziert hatten - er beruhte auf einer unreifen Unternehmensstruktur und infantilen Zielen.
In den ersten paar Monaten krempelte Fernando im Hobart-Werk alles um. Handelsvertreter und andere Mitarbeiter wurden
gefeuert, weil es ihnen an der nötigen Motivation oder Kompetenz fehlte, Produkte wurden überholt, Preise geändert. Einige
Maschinen in der Produktion wurden ausrangiert, andere dafür angeschafft. Das alte Hobart-Werk war ständig in Bewegung. Aber
ich sollte mich schon bald fragen müssen, ob es sich auch in der richtigen Richtung bewegte.
In Ipiranga wie in dem gesamten neuen, verbesserten und riesengroßen Unternehmen Semco konnten wir praktisch jeden
Aspekt unserer Organisation mit großartiger Präzision verfolgen - von den Verkaufszahlen bis zu den Wartungsdaten unserer
zahllosen Schweißgeräte. Wir konnten fast im Handumdrehen alle möglichen neuen Berichte erstellen, zusammen mit
eindrucksvollen Diagrammen und Grafiken. Wir waren von unseren statistischen Möglichkeiten so geblendet, daß wir eine ganze
Weile brauchten, um dahinterzukommen, daß uns dieses ganze Zahlenwerk nicht sehr guttat. Wir waren doch besser organisiert,
professioneller, disziplinierter, effizienter als andere Unternehmen - aber wie kam es dann, fragten wir uns mit einem gewissen
Unbehagen, daß wir ständig mit Verspätung auslieferten?
Die meisten unserer Manager waren wie Fernando: Befürworter der klassischen autoritären Methoden, strenger Kontrollen und
einer langen, strapaziösen Arbeitszeit. Aber ein paar von uns begannen allmählich an der Effektivität dieser Einstellung zu zweifeln.
Ich war besonders bekümmert über das schlechte Betriebsklima, das in unseren Fabriken - in der alten wie in den neuen -
herrschte. Die Arbeiter hatten einfach keine Lust mehr.
Als ich so darüber nachdachte, kam ich dahinter, daß die harten Burschen die Macht übernommen hatten. Und während ich
anfangs ganz begeistert von der Vorstellung gewesen war, daß ein diszipli-

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niertes, hart arbeitendes Unternehmen von aggressiven Managern auf der Grundlage zahlloser Statistiken geführt wurde, begann
ich die Dinge auf einmal in einem anderen Licht zu sehen. Arbeite hart oder du wirst gefeuert. Das war die Devise der neuen Semco.
Die Leute wurden angetrieben. Dabei ist es doch viel besser, Mitarbeiter zu haben, die sich selbst antreiben.
In jener Zeit mußte ich oft an eine Parabel denken, die ich einmal gehört hatte. Drei Steinmetzen wurden gefragt, was für eine
Arbeit sie verrichteten. Der erste sagte, er werde dafür bezahlt, Steine zu behauen. Der zweite erwiderte, er gestalte mit Hilfe einer
besonderen Technik Steine auf eine ungewöhnliche Weise, und dann begann er seine handwerklichen Fähigkeiten vorzuführen. Der
dritte Steinmetz lächelte nur und meinte: »Ich baue Kathedralen.«
Als ich mich bei Semco so umsah, hatte ich das Gefühl, daß wir viel mehr Steinhauer als Kunsthandwerker hatten. Was mir
natürlich vorschwebte, war ein Unternehmen voller Kathedralenbaumeister, und davon hatten wir kaum einen.
In den folgenden paar Monaten vertiefte sich allerdings die Kluft zwischen den harten Burschen und den verständnisvolleren
Seelen. Aber ich machte mir deswegen keine Gedanken. Ich war sicher, wir würden schon eine Kompromißlösung finden und
Semco würde endlich in Gang kommen und durchstarten.
Dann ging mir nach einem Vorfall während unserer Jahresversammlung ein Licht auf. Jedes Jahr flog ich mit unseren
wichtigsten 45 leitenden Angestellten und ihren Ehefrauen in ein sündteures Seebad, wo wir uns vier Tage lang Zeit nahmen, uns
wieder »aufzuladen« und es uns gutgehen zu lassen. An den letzten beiden Tagen von einer dieser Lustbarkeiten passierte es dann.
Als die Manager nach dem Mittagessen in den Konferenzraum strömten, erblickten sie die Karikatur auf dem Ständer für die Flip-
Charts. Sie zeigte einen Schnitter Tod, der eine Sense trug und der Scharen von kleinen Menschen, die sich in den Ecken drängten,
bluten ließ. Es war unverkennbar, wen er darstellte. War Fernando wirklich so dominant und tyrannisch? Machte er mit seinen
selbstherrlichen Methoden das Leben im Unternehmen so blutleer?
»Dick, kann ich dich mal sprechen?« fragte mich Renato Bern-

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hoeft, unser Berater für Unternehmenskultur, der die Jahresversammlung organisierte.


»Das hört sich ja ganz so an, als gäbe es Ärger, Renato«, sagte ich, nachdem wir uns in eine abgelegene Ecke in der Halle
zurückgezogen hatten.
»Darauf kannst du Gift nehmen«, erwiderte Renato und paffte an seiner Pfeife. »Aber vielleicht ist das die Gelegenheit für dich,
Farbe zu bekennen.«
»Ich kapier’ das nicht. An den ersten beiden Tagen dieser Konferenz lief es doch so gut - keine offenen
Meinungsverschiedenheiten, keine Feindseligkeit.«
»Offen ist genau das Stichwort. Du hast zwei Cliquen hier, Dick, und die bleiben unter sich. Sie haben einfach nichts
miteinander zu tun.« Renato nahm erneut einen tiefen Zug. »Aber machen wir uns doch nichts vor. Diese Burschen bekämpfen sich
bis aufs Blut. Die Falken gegen die Tauben. Die Rechten gegen die Linken.« Renato hielt inne und nuckelte an seiner Pfeife, wie
Pfeifenraucher das gern tun, wenn sie einem Argument besonderes Gewicht verleihen wollen. »Es wird Zeit, daß du auf diesen
Konflikt eingehst. Semco muß seine eigene Kultur bekommen. Eine einzige Kultur. Und zwar sofort, denn so kann es nicht
weitergehen.«
»Was soll ich denn tun?«
»Hast du schon mal eine Gruppentherapiesitzung erlebt?«
»Mit einer Gruppe von 45 wild gewordenen Managern? Ausgeschlossen.«
»Ich meine, dir bleibt keine andere Wahl.« Und dann sagte mir Renato, was er vorhatte.
Was dann kam, kann man nur als schieren Terror bezeichnen. Ich ging in den Konferenzraum zurück, wo die Manager ganz
versteinert und stumm dasaßen. Einige rauchten in der Nichtraucher-Ecke - ein ausgesprochen feindseliger Akt. Ich ging zum
Podium und versuchte mich verzweifelt an entsprechende Passagen aus den psychologischen Handbüchern von Jung und Laing zu
erinnern, selbst als ich merkte, daß ich hier mit Reich weiterkommen würde. Schließlich war der ja einer der Väter der
Körpertherapie; und das beste schien zu sein, daß wir uns mit allen möglichen Dingen gegenseitig bewarfen.

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»Könnten Sie alle bitte Ihre Stühle nehmen und näher zu mir heranrücken?«
»Wieso?« schossen sofort zwei oder drei Manager zurück.
»Bitte tun Sie es einfach«, sagte ich mit möglichst fester Stimme. »Stellen Sie Ihre Stühle im Halbkreis vor mir auf.«
Ich wollte, daß meine Zuhörer näher an mich heran und zueinander rückten. Allerdings bemerkte ich, wie sorgsam sie sich
bewegten und wie sie ihre Stühle zu Leuten hinstellten, zu denen sie hielten.
Als das Stühlerücken beendet war, erklärte ich ihnen, es sei Zeit, daß wir uns einmal ganz offen über unsere wahren Probleme
unterhielten. Ich sprach eine Weile davon, wie eng wir alle miteinander Zusammenarbeiten müßten, und zwar auf eine möglichst
harmonische Weise - all die üblichen Phrasen also. Wenigstens Renato nickte.
»Moment mal«, bellte Fernando. »Das ist doch nur billiges Gerede. Natürlich wollen wir alle miteinander klarkommen. Aber
zuallererst geht es doch darum, Respekt voreinander zu haben.«
»Klar, da sind wir uns doch alle einig«, wagte ich ihm im beruhigenden Tonfall eines Psychiaters zu erwidern, der einen
rabiaten Patienten auffordert, sich ruhig zurückzulegen und alles zu sagen, was ihm gerade einfällt.
»Ich will damit sagen, jemand soll sich erst für das hier entschuldigen« - und damit wies Fernando auf die Karikatur-, »bevor
wir uns über irgendwas anderes unterhalten.«
Allgemeines Schweigen.
»Fernando, du siehst doch sicher auch ein, daß es nicht sehr produktiv wäre, in dieser Richtung weiterzumachen«, beschwor ich
ihn.
»Noch schlimmer wäre es, dieses Machwerk als Diskussionsgrundlage zu akzeptieren.«
»Laß uns doch einfach diese Zeichnung vergessen, Fernando. Hier will doch wohl jemand auf seine Art seine Gefühle
ausdrücken.«
»Ach ja? Und wenn ich nun meine Gefühl dadurch ausdrücken würde, daß ich demjenigen, der das gemacht hat, eins in die
Fresse haue?«
Renato hörte auf zu nicken.
»Das würdest du doch nie tun, Fernando, nicht wahr?« säuselte ich wie eine erfahrene Kindergärtnerin.

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»Er hat nichts anderes verdient.«


Und genau in diesem Augenblick stand Oswaldo, unser Chefingenieur, auf. Alle wußten, daß die Karikatur von ihm stammte. Er
war berühmt für seine Karikaturen; allerdings waren sie normalerweise lustig, nicht so bitter wie diese hier. Aber er hatte sie
gezeichnet, weil er der Ansicht war, daß Fernando mit viel zu harter Hand regierte, und es war klar, daß auch andere in diesem
Raum seiner Meinung waren.
Bevor er sich zu seinem Kunstwerk bekennen konnte, winkte ich ihm zu, sich wieder zu setzen, und sagte, es spiele überhaupt
keine Rolle, von wem diese Zeichnung stamme. Das Problem war auf dem Tisch, und es wurde Zeit, daß wir uns damit
auseinandersetzten.
Vier Stunden später war alles gesagt. Aber noch immer gab es einen tiefen Graben zwischen denen, die in erster Linie an die
Allmacht von Gesetz, Ordnung und Organisation glaubten, und denen, die meinten, daß Menschen, die durch das Gefühl des
Einbezogenseins motiviert waren, jede Hürde schaffen würden. Es war eine Frage der »Weltanschauung«, wie die Deutschen das
nennen. Die Autokraten bei Semco waren überzeugt, daß nichts passieren würde, wenn sie es nicht selbst machten oder ihre
Untergebenen antrieben, es zu tun. Die Aufgaben in einem Unternehmen waren für sie so etwas wie für Eltern die Hausaufgaben
ihrer Sprößlinge: lästig, aber unumgänglich. Die »Tauben« hingegen vertrauten darauf, daß es einen besseren Weg gebe - sie
müßten nur auf ihre Macht verzichten. Hier stand also Waterloo gegen Woodstock, und mir war nicht klar, wie man unsere
Napoleons und unsere Timothy Learys jemals miteinander versöhnen könnte.
Als die Versammlung auseinanderging und wir uns anschickten, wieder heimzufliegen, wußte ich, daß ich handeln mußte. Das »
Alle-Mann-in-einem-Boot«-Gefühl der Gabriele-Harro-Jahre gab es längst nicht mehr, und die langen Arbeitstage, die uns damals
so fröhlich und ekstatisch erschienen waren, kamen uns nun langweilig vor. Semco war so sehr in zwei Lager aufgespalten, daß
nichts mehr richtig lief. Selbst kleine Probleme ließen sich nur mit Mühe lösen - große erwiesen sich als unüberwindliche Hürden.
Als ich mich mit klassischen Wirtschaftstheorien beschäftigte, erfuhr ich, daß wir gerade die »Bürokratiephase« oder die
»Jugend-

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phase« durchmachten, je nachdem, bei welchem Autor ich nachschlug. Das ist eine Zeit, in der ein Unternehmen, das expandiert
hat, Wachstumsschmerzen bekommt. Fernando hatte darauf reagiert, indem er das Unbehagen durch die Einführung bewährter
Techniken der Disziplinierung und Kontrolle radikal zu beseitigen versuchte. Sein Ziel war es, seinen Mitarbeitern ein Gefühl für
Organisation zu vermitteln und zu wissen, was um ihn herum vor sich ging - oder zumindest sich einbilden zu können, er wisse es.
Die leitenden Angestellten, die sich geschlossen hinter ihn stellten, interessierten sich nicht dafür, ob unsere Mitarbeiter ihre Arbeit
ängstlich oder voller Sorgen verrichteten, solange sie taten, was ihnen befohlen wurde.
Das führte unter anderem dazu, daß einige von uns, die die Dinge anders sahen, alle Hände voll zu tun hatten, immer neue
Wellen von Unzufriedenheit und Problemen im Personal zu bewältigen. Was konnte ich nur tun, damit das ein für allemal aufhörte?
Während sich mein Geist noch mit diesem Konflikt abmühte, machte mir mein Körper unmißverständlich klar, daß sich etwas
ändern mußte.
Ich besichtigte gerade eine Pumpenfabrik in Baldwinsville im Staate New York, als mir plötzlich schwindlig wurde und ich
wieder einmal ohnmächtig auf den Boden einer Werkshalle sank. Ich wurde zu einem Arzt in der Stadt gebracht und ruhte mich in
seiner Praxis für ein paar Minuten aus. Er war ein altmodischer Hausarzt - ein Doktor, der gern mit seinen Patienten spricht. Er
machte sich große Sorgen um mich und riet mir, erst eine Reihe von Untersuchungen vornehmen zu lassen, bevor ich meine Reise
fortsetzte. Er schlug mir vor, die Mayo-Klinik in Rochester, Minnesota, oder die Lahey-Klinik in Boston aufzusuchen. Da ich
sowieso nach Boston mußte, entschied ich mich für die Lahey-Klinik.
Ich rief im voraus dort an und vereinbarte mit einem Internisten meine Untersuchungstermine.
»Nun, was fehlt Ihnen denn?« fragte mich der grauhaarige Arzt, als ich ihn drei Tage später aufsuchte.
»Ich habe eine chronische Halsentzündung, die auch durch Antibiotika nicht mehr wegzubringen ist«, begann ich. »Deshalb
kann ich feste Nahrung nicht vor dem Mittagessen zu mir nehmen, und darum

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leide ich auch unter chronischer Blutarmut. Außerdem habe ich hin und wieder Ohnmachtsanfälle, wie Sie inzwischen wissen. Ich
nehme Pillen gegen Bluthochdruck und gegen Migräne. Ich habe Gastritis und trinke wegen meines Sodbrennens mehrmals am Tag
Milch. Ach ja, und dann bekomme ich noch Ausschlag am Rücken, wenn ich angespannt bin.«
Ich sah, wie er alles aufschrieb.
»Treiben Sie Sport? Jogging? Spaziergänge?«
»Nur ein paar Treppen zu meinem Büro hoch, und dann muß ich mich für ein paar Minuten an die Wand lehnen.«
Ich sah, wie sich ein Lächeln um seine Mundwinkel kräuselte, während er schrieb.
»Wie viele Stunden arbeiten Sie täglich?«
»Zehn. Oder zwölf.«
»Gelegentlich mehr?«
»Na ja. Manchmal komme ich schon um halb acht und gehe erst nach Mitternacht heim.«
»Das sind aber mehr als zehn oder zwölf Stunden.«
»Ja, aber das kommt nicht jeden Tag vor. Meist gehe ich gegen neun oder zehn nach Hause.«
»Arbeiten Sie auch am Wochenende?«
»Ein paar Stunden am Samstag und noch ein paar am Sonntag.« Ich mußte an die verzweifelten Blicke meiner Freunde denken,
wenn ich vor einer Fahrt ans Meer erst einen Koffer voll Telexe, Memoranden und Wirtschaftszeitschriften im Auto verstaute.
»Was essen Sie?«
»Ich kann nicht frühstücken, wegen meines Halses, also trinke ich nur Orangensaft. Zum Lunch ein Sandwich am Schreibtisch.
Am Abend esse ich das, was sich gerade im Kühlschrank befindet - dann bin ich meistens schon so müde, daß ich nicht mehr viel
Appetit habe.«
Der Arzt hatte sich alles aufgeschrieben und bat mich nun, mich in einen Raum nebenan zu begeben, mich auszuziehen und
mich auf den Untersuchungstisch zu setzen. Ein schwacher Äthergeruch drang durch die Tür, und ich fühlte mich ein wenig
benommen.
»Sie sind ja ganz blaß, Ricardo«, sagte der Arzt, als er sein Stethoskop auf mein Herz setzte.

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Als mich das kalte Metall berührte, passierte es. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in Zeitlupe über ein Bergdorf fliegen. All
diese winzig kleinen Häuser - wie Spielzeuge. »Tief atmen, tief atmen«, hörte ich den Arzt sagen, als er langsam wieder aus dem
Nebel auftauchte.
Die Korridore dieses Krankenhauses wurden mir sehr vertraut in diesen drei Tagen, während ich hier war und dabei die Kosten
für alle Maschinen amortisierte, die der Arzt hatte. Ich kippte auch wieder um, als er mir ein Kontrastmittel in die Vene spritzte, um
alle meine inneren Organe zu röntgen, die ich hier nicht im einzelnen aufzählen will. Jedenfalls wurde ich auf mehr als nur auf Herz
und Nieren untersucht.
Schließlich kam der Tag der Abrechnung. Der freundliche Arzt hatte einen Stapel gelber Umschläge vor sich, die meine Befunde
enthielten. Nachdem ich jahrelang allen möglichen Ärzten mein Leid geklagt hatte, ohne daß sie etwas bei mir fanden, glaubte ich
nun endlich zu erfahren, was mir fehlte. Ich war nervös, aber auch erleichtert. Ich war sicher, er würde mir verordnen, ein paar Tage
- oder vielleicht ein, zwei Wochen - in der Klinik zu bleiben, wo ich alle möglichen Spritzen und Medikamente bekäme. Jedenfalls
rechnete ich fest damit und würde kurz bei meinen Eltern und in der Firma anrufen, damit sie wußten, daß ich für eine Weile nicht
da wäre. Ich würde mir ein paar Krimis kaufen und mich entspannen. Wenn ich den ersten Urlaub, den ich seit Jahren hatte, in
einem weißen Gewand verbringen sollte - meinetwegen. Ich sah zu, wie der Arzt die letzte Röntgenaufnahme in den Umschlag
steckte, und dann schaute er mich an.
»Ihnen fehlt überhaupt nichts, Ricardo.«
Wie bitte? dachte ich und starrte ihn an. Hatte er vielleicht meine Befunde mit denen von jemand anderem verwechselt?
»Sind Sie sicher?« brachte ich schließlich hervor.
»Ganz sicher«, sagte er. »Ihre Befunde sind alle negativ. Aber Sie leiden unter einem ganz schön fortgeschrittenen Stadium von
Streß. So etwas ist mir bisher bei einem Fünfundzwanzigjährigen noch nie vorgekommen.«
»Und was geschieht nun?«
»Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder machen Sie so weiter

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wie bisher, dann werden wir uns bald Wiedersehen. Oder Sie ändern sich.«
»Ändern? Aber wie denn?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie Ihr Leben völlig ändern müssen. Ich empfehle Ihnen,
achtmal täglich zwei Aspirin zu nehmen. Diese sechzehn Tabletten werden zwar kaum etwas bewirken - außer daß sie Sie
regelmäßig daran erinnern werden, daß Sie ein gewaltiges Problem haben und es lösen müssen.«
Dann zeigte er mir, wo es zur Kasse ging.
TEIL ZWEI
Wir bei Semco glauben einfach nicht, daß unsere Mitarbeiter ein Interesse daran haben, zu spät zu kommen, zu früh zu
gehen und so wenig wie möglich für so viel Geld zu tun, wie ihre Gewerkschaft bei uns herausholen kann. Schließlich
ziehen diese Menschen ja auch Kinder auf, gehen in den Elternbeirat, wählen Bürgermeister, Gouverneure, Senatoren
und Präsidenten. Es sind erwachsene Menschen. Bei Semco behandeln wir sie deshalb auch wie Erwachsene. Wir
vertrauen ihnen. Wir verlangen nicht von unseren Mitarbeitern, daß sie um Erlaubnis bitten, wenn sie mal austreten
wollen, und wir lassen sie auch nicht vom Sicherheitsdienst durchsuchen, bevor sie heimgehen. Wir stehen ihnen nicht
im Weg, und wir lassen sie ihre Arbeit tun.
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Kapitel 9: Die Kehrtwende

Ich nahm die 16 Aspirin nur einen Tag lang. Dann begann ich mit den Veränderungen. Und eines war mir klar: Ehe ich mich mit
dem Dilemma von Semco befassen konnte, mußte ich erst meine eigene körperliche und geistige Krise bewältigen. Bevor ich also
das Unternehmen umorganisieren konnte, mußte ich mich selbst neu organisieren.
Ich nahm mir fest vor, abends stets um 19 Uhr das Büro zu verlassen, egal was gerade anstand. Ich würde dann ins Kino gehen,
ein Buch lesen (aber keine Wirtschaftsbücher) - kurz, alles mögliche tun, nur nicht arbeiten. Auch Wochenendarbeit war in Zukunft
tabu. Und nach jeder Geschäftsreise würde ich eine Woche lang nur zum eigenen Vergnügen verreisen.
Ich würde wie ein Verrückter zu delegieren beginnen, meinen ganzen Mut zusammennehmen und alle möglichen Papiere
wegwerfen, damit sie meinen Schreibtisch oder mein Denken nicht mehr blockieren konnten. Ich würde mehr meiner Intuition
nachgeben und weniger auf Experten hören.
Ja, ich wollte mein Problem direkt angehen. Und dabei ging es im Grunde gar nicht so sehr um die Organisation eines
Unternehmens, sondern um die Organisation von Zeit. Denn das gemeinsame Grundproblem aller Manager ist, daß 24 Stunden pro
Tag einfach nicht ausreichen, alles zu erledigen, was getan werden müßte, und trotzdem noch etwas eigene Zeit übrig zu behalten.
In den Wochen nach meinem Aufenthalt in der Lahey-Klinik dachte ich ausgiebig und intensiv über die Zeit nach. Ich kam darauf,
daß ich zuerst die Ursachen für meine »Zeit-Krankheit« herausfinden mußte, bevor ich sie ein für allemal heilen konnte.

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Ursache Nr. 1: Der Glaube, daß harte Arbeit und das Ergebnis direkt proportional zueinander sind.
»Ordnung und Fortschritt« steht auf der brasilianischen Flagge geschrieben. »Ordnung oder Fortschritt« müßte es richtiger
heißen, denn normalerweise trifft beides nicht zusammen. Im Geschäftsleben werden Arbeitsanstrengungen und Leistung zu oft mit
dem Ergebnis verwechselt. Der Verkaufsleiter, der im Gespräch mit seinen Kunden vor Charme nur so sprüht und der nach einem
Verkaufsabschluß den Rest des Tages frei nimmt und feiert, gilt als glücklicher Faulpelz, aber nicht als begabter
Vertriebsangestellter.
Wenn man Unternehmer nach der Ursache für ihren Erfolg fragt, erklären sie gern: »Eine Menge harter Arbeit.« Klingt doch
gut, nicht wahr? Es macht sich auch gut zu Hause, in der Familie, die man jahrelang vernachlässigt hat. Aber wenn bedeutende
Unternehmer eine ehrliche Antwort auf diese Frage gäben, würden die meisten vermutlich Faktoren anführen wie: ein Gefühl für
den richtigen Zeitpunkt, die Fähigkeit, eine Chance zu erkennen, Freunde an den richtigen Stellen, ein gelegentliches kleines
Vergehen oder einfach Glück. Der Romanschriftsteller Horatio Alger, der mit seinen Erzählungen vom großen Erfolg Millionen
strebsamer Bürger Mut machte, möge mir vergeben, aber Fleiß und Arbeit allein reichen nicht aus. Wenn es möglich wäre, ein
Unternehmen erfolgreich zu führen, indem man einfach früh kommt und spät geht, dann könnte ja jeder Briefträger ein Howard
Hughes werden. Hartnäckig hält sich die Überzeugung, daß Erfolg nun einmal mit Schweißvergießen verbunden sei und daß ein
Manager mit jedem weiteren Tropfen dem Himmel der Finanzwelt ein wenig näherkommt. Ich mußte mich von dieser Maxime frei
machen. Sie ist nicht gesund. Ja, sie ist nicht einmal wahr.
Ursache Nummer 2: Die Doktrin, bei der Arbeit sei die Quantität wichtiger als die Qualität.
Das ist eine Variation des gleichen Themas. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hatte Max Weber erkannt, daß das von der
protestantischen Ethik aufgestellte Prinzip der harten Arbeit die Geschäftswelt völlig durchdrungen hatte. Heutzutage ist es sogar
ein noch entscheidenderer Faktor geworden. Manager glauben sich von ihren Chefs unter Druck gesetzt, mehr zu arbeiten als ihre
Kollegen und damit ihr

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Image und ihre Karriere aufzubauen. Nach dieser Logik erweist sich als wahrer Held, wer wegen seiner Arbeit einen Herzinfarkt
bekommt oder gar im Büro zusammenklappt - ein Zeichen, wie ein Calvinist vielleicht sagen würde, daß man zu den Erwählten
gehört.
Wer mit seiner Zeit auskommt, macht sich oft verdächtig. Und wenn er gern ins Theater geht, keine vollen Aktentaschen nach
Hause schleppt, das Wochenende mit der Familie verbringt und gelegentlich sogar die Kinder von der Schule zum Mittagessen
abholt, dann ist er bereits auf ein fortgeschrittenes Stadium der Faulheit abgesunken.
Der Manager, der seine Leistung nach Stunden bemißt, wird sich irgendwann einmal so oder ähnlich beklagen: »Jeder weiß
doch, wie unfair es war, daß sie mich nicht befördert haben. Jeder weiß doch, daß ich hier schon um acht Uhr morgens sitze und um
acht Uhr abends immer noch da bin.« Oder: »Meine Tochter muß mit mir einen Termin vereinbaren, wenn sie mich sprechen will.«
Ursache Nummer 3: »Im Büro geht es im A ugenb/ick ein wenig drunter und drüber. Ich muß einfach ein bißchen länger arbeiten,
bis sich das wieder gelegt hat.«
Es gibt kaum eine überzeugendere Ausrede, als zu sagen: »Wir machen gerade eine... durch.« Man setze ein: Veränderung an
der Spitze, Umstrukturierung, Kurzarbeitsphase, Expansion. Fast jede Veränderung kann als Ausrede dafür herhalten, daß man mit
seiner Zeit nicht klarkommt. Wer zuläßt, daß derartige Dinge den Arbeitstag bestimmen, muß sich nicht wundern, wenn er hilflos
wie ein Korken auf dem Meer herumtreibt.
Ursache Nummer 4: Die Angst vor dem Delegieren - und ihre Cousine: die Angst, ersetzbar zu sein.
Damit haben wir einen Nerv getroffen. Die Angst vor dem Delegieren beruht auf dem Glauben, daß kein anderer ein Problem so
kompetent lösen könne wie man selbst. Diese Denkweise (die zuweilen sogar gerechtfertigt sein mag) geht gewöhnlich auf die
Annahme zurück, daß irgendwelche Aufgaben unweigerlich schlampig ausgeführt werden, wenn sie nicht fähigen Händen
anvertraut werden - den eigenen natürlich. Aber wie oft wird damit eigentlich nichts wei-

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ter als die Angst verschleiert, daß auch andere etwas fertigbringen, wozu man einst nur selbst imstande zu sein glaubte?
Und das wiederum führt zur Angst, ersetzbar und austauschbar zu sein. Darum verschiebt man seinen Urlaub oder nimmt ihn
zwar, hinterläßt aber alle möglichen Telefonnummern, unter denen man morgens, mittags und nachts zu erreichen sei - nur um
dann enttäuscht zu sein, daß niemand einen gebraucht hat, während man weg war.
Ich habe noch mehr über die Zeit-Krankheit und über die Möglichkeiten, sie zu heilen, nachgedacht. Mehr darüber später, in
Anhang B. Inzwischen habe ich mich jedenfalls von meiner Zeit-Kranheit so gründlich erholt, daß ich nicht einmal mehr eine
Armbanduhr trage. Das habe ich kurz nach einem Konzert von Magdalena Tagliaferro, der berühmtesten Pianistin Brasiliens,
aufgegeben. Als ich ihr lauschte, wie sie Sibelius spielte, mußte ich daran denken, daß sie zur Welt gekommen war, als Brasilien
noch eine Monarchie war, daß sie die Erfindung des Automobils und des Flugzeugs sowie zwei Weltkriege erlebt hatte und noch
immer auftrat. Mir kam der Gedanke, daß man die Zeit nach Jahren und Jahrzehnten messen sollte, nicht nach Minuten und
Stunden. Man kann unmöglich begreifen, wie das Leben in all seiner Größe und Komplexität vergeht, wenn man ständig auf einen
Minutenzähler schaut.
Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Also mußte Fernando gehen - daran führte kein Weg vorbei. Ich bewunderte zwar seine
Aggressivität, seine Energie und sein Engagement, aber er brauchte das rüde Klima der Einschüchterung, damit seine Magie
funktionierte. Wenn es überhaupt Magie war. Nach meinem Aufenthalt in der Lahey-Klinik war ich mir da nicht mehr so sicher.
Sobald wir uns von Fernando getrennt hatten, kamen wir dahinter, daß das Buchhaltungssystem, das er und Ernesto
eingerichtet hatten, uns im Grunde nur schadete. Wir hatten inzwischen zum Beispiel eine Buchhaltung voller Leute, die pausenlos
Zahlen ausspuckten und diese Tätigkeit nur dann unterbrachen, wenn sie mal eben ihren Gehaltsscheck abholten. Und wir hatten
so verdammt viele Zahlen, in so verdammt vielen Mappen, daß fast niemand mehr sich diese

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Zahlen ansah. Aber keiner wollte es zugeben. Jeder bluffte einfach bei den Konferenzen und tat so, als ob er mit dem kleinsten
Detail vertraut sei. Wenn wir heute zurückblicken, wissen wir, daß wir gerade damals am schlechtesten über das informiert waren,
was bei Semco wirklich vorging. Es war das klassische Phänomen: Wir sahen den Wald vor lauter Bäume nicht.
Also vereinfachten wir unser Budget-System, verringerten die Zahl der »Kostenstellen« radikal von 400 auf 50 und verzichteten
auf Hunderte von Buchhaltungspositionen und Dutzende von Budget-Abteilungen. Wir reduzierten auch die Anzahl der
Dokumente, die in Umlauf gingen, sowie die Zahl der Unterschriften, die darunter gesetzt werden mußten. Unser neues System war
einfacher und wies zwar weniger, aber dafür nur wichtige Daten auf.
Was unsere tatsächliche Finanzplanung betraf, so entwickelten wir schließlich zwei Budgets: einen Fünfjahresplan und einen
Halbjahresbericht. Ja, ja, ich kenne das klassische Argument, das gegen Fünfjahrespläne vorgebracht wird: Stalin hat sie
angewendet - und man weiß ja, was dabei herausgekommen ist. Und selbst in fünf Jahren ändern sich die grundlegenden Kriterien
eines Unternehmens eigentlich nicht. Doch wenn wir fünf Jahre vorausschauen, können wir uns immerhin fragen, ob wir auf einem
bestimmten Markt vertreten sein wollen, ob wir ein Produkt aufgeben sollten oder ob wir eine neue Fabrik brauchen - und ähnliches
mehr. Darum ist ein derartiger Ausblick auf die kommenden fünf Jahre ganz wichtig.
Im Gegensatz dazu halten wir an einer betriebswirtschaftlichen Ergebniskontrolle nach sechs Monaten fest; denn wir haben
festgestellt, daß man bei einem konventionellen Einjahresplan unweigerlich glaubt, die Bedingungen würden sich im Laufe des
Jahres gerade so weit zum Besseren wenden, daß die Probleme, die in der ersten Jahreshälfte unweigerlich auftauchen, noch
abgefangen werden können. Oder umgekehrt.
Bei beiden Plänen versuchen wir praktisch, gedanklich »bei Null« anzufangen. Eigentlich sollten Budgets immer auf einem
derartigen gedanklichen Neuansatz des Unternehmens beruhen - meist allerdings stellen sie nicht viel mehr dar als eine
Hochrechnung der Zahlen des letzten Jahres, und damit sind sie etwa genauso gut wie aufgewärmter Kaffee um zwei Uhr morgens.

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In unserem Unternehmen können sich alle immer wieder darüber amüsieren, daß ich ständig darauf bestehe, nur die großen
Zahlen sehen zu wollen. Die Finanzfachleute erklären mir dann geduldig, sie kommen sowieso nur auf die großen Zahlen, wenn sie
all die kleinen zusammenzählen. Also, argumentieren sie weiter, macht ein Budget, das nur die »großen Zahlen« enthält, tatsächlich
mehr Arbeit als eines, das jedes kleine Detail enthält. Das ist natürlich ein kostspieliger Trugschluß, den man aber nur schwer
ausmerzen kann.
Noch ein Wort über Budgets. Es genügt nicht einfach, nüchterne Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie ganz aktuell
und korrekt sind. Man muß nämlich die Zahlen, die wir jeden Monat bekommen, nicht nur mit dem Budget vergleichen, sondern
vor allem mit den Erwartungen des Betreffenden, der davon Gebrauch machen will. Bei Semco haben wir deshalb ein Programm
eingeführt, demzufolge jeder Abteilungsleiter am Monatsende jeweils eine fundierte Schätzung der Einnahmen, Kosten und
Gewinne seiner Abteilung abgeben muß. Ein paar Tage später wird der offizielle Bericht verteilt. Der Vergleich zwischen Schätzung
und Bericht vermittelt jedem ein Gefühl dafür, wie gut ein Manager seinen Bereich tatsächlich kennt.
Natürlich hat die Vereinfachung des Finanzwesens nicht all unsere Probleme gelöst. Aber zumindest hat sie uns geholfen, die
Probleme klarer zu erkennen.
Bei der Auslieferung gab es noch immer Verzögerungen. Genehmigungen liefen noch tagelang zwischen verschiedenen Leuten
hin und her - sie hatten einfach Angst, ihren Namen unter irgend etwas zu setzen, weil sie dann vielleicht beim nächsten
Buchhaltungsbericht auffallen würden. Am schlimmsten aber war der Umstand, daß Semco eine Ansammlung quasi-feudaler
Lehensbereiche war: Jede Abteilung verteidigte das eigene Territorium um jeden Preis. Die Leute vom Verkauf glaubten, die
Marketingleute würden auf dem Mond leben. Die Marketingfritzen meinten, die Verkaufsmenschen würden nichts weiter als
Nabelschau betreiben. Die Finanzleute dachten, die Werksleiter würden die Lager am liebsten bis zur Decke mit Inventar füllen. Im
Einkauf war man überzeugt, daß die Leute in der Verwaltung keinen blassen Schimmer davon hätten, wie un-

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wirsch Zulieferer werden können, wenn sie erst auf sieben Unterschriften warten müssen, bevor sie ihren Scheck bekommen. Und
bei der Produktion unterstellte man den Leuten im Verkauf, sie würden sich wohl einbilden, in Japan zu leben, wo man von heute
auf morgen ausliefern könne.
Meine Kollegen und ich probierten verschiedene Möglichkeiten aus, wie man auf die Schnelle unserer dahindümpelnden
Organisation auf die Sprünge helfen könnte - von Kästen für Verbesserungsvorschläge über Führungsseminare bis zu
Qualitätszirkeln im japanischen Stil, in denen sich eine Reihe von Leuten aus dem gleichen Unternehmensbereich, vom
Hausmeister bis zum Manager, zusammensetzten, um gemeinsam nach Lösungen für ganz gewöhnliche Probleme zu suchen. Ich
versuchte es mit allen vorgefertigten Ideen, die ich auftreiben konnte, wobei ich all diese Wirtschaftsbücher durchkämmte, deren
Titel entweder mit »Wie...« begann oder die Begriffe »System« und »Methode« enthielt. Ich las Alfred Sloans Buch Meine Jahre bei
General Motors ebenso wie Tom Peters’ Auf der Suche nach Spitzenleistungen. Ich studierte die Bücher von so populären
Wirtschaftsautoren wie John Naisbitt, Peter Drucker, Alvin Toffler und Robert Townsend sowie von Wissenschaftlern wie Kenichi
Ohmae und Henry Mintzberg. Ich hatte zwei Bücherregale, die vom Boden bis zur Decke voller Wirtschaftsbücher waren. Ich zog
auch Kollegen in anderen Unternehmen zu Rate, die ich beim Mittagessen über Management-Methoden ausquetschte. Ich
sammelte jede Menge Ideen und Techniken, aber es gelang mir einfach nicht, sie erfolgreich in unseren Büros und Fabriken
umzusetzen. Unsere Leute waren eine Zeitlang motiviert, fielen dann aber wieder in den alten Trott zurück. Mir kam der Verdacht,
daß die Probleme von Semco tiefer reichten, als ich ahnte.
Als ich zum allerersten Mal bei Semco arbeitete, war ich schockiert, wieviel Unterdrückung ich hier antraf. Da ich in meiner
Jugend nicht viel mehr getan hatte, als Rock ’n’ Roll zu spielen, war ich von diesen ganzen Vorschriften und Verfahrensweisen bei
Semco ganz benommen. Dennoch bemühte ich mich, das Musterbeispiel eines traditionellen Managers zu werden - und ich dachte,
das wäre mir auch gelungen. Ich trug die richtigen Anzüge. Ich hatte die richtigen Gedanken. Ich war so stolz, als ich ein
Säumnisabzugsprogramm ein-

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führte, bei dem jedem Mitarbeiter das Gehalt gekürzt wurde, wenn er ein paar Minuten zu spät kam. Ich war ein harter Bursche.
Jetzt aber hatte ich eine andere Theorie. Bei Semco gab es allem Anschein nach eine hochentwickelte Organisation, hier
herrschte auch durchaus Disziplin - und dennoch konnten wir unsere Leute nicht zu den gewünschten Leistungen bewegen oder
dafür sorgen, daß ihnen ihre Arbeit Spaß machte. Es gab einfach nicht genug Kathedralenbaumeister. Wenn ich diese Struktur doch
nur ein wenig aufbrechen könnte, dachte ich, dann würde ich vielleicht erkennen, was so viele unserer Leute entfremdete. Ständig
ging mir der Gedanke im Kopf herum, daß Semco auch ganz anders geführt werden könnte - ohne daß wir alles in Zahlen
umsetzten, ohne jedem alles vorzuschreiben, ohne darüber Buch zu führen, ob die Leute auch pünktlich kamen, ohne all diese
Zahlen und Vorschriften. Und wenn wir all diesen künstlichen Unsinn sein ließen, diesen ganzen Management-Hokuspokus? Wenn
wir das Unternehmen auf einfachere, natürlichere Weise führten? Genau das war es, was ich wollte: ein natürliches Unternehmen.
Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, daß sich das gesamte Unternehmen ändern mußte.
Dabei hatte ich gar keinen großartigen Plan. Es gab keine blitzartige Erleuchtung - ich hatte nur so ein Gefühl, daß Semco seltsam
leblos war, daß es hier an Begeisterung fehlte und ein allgemeines Unbehagen vorherrschte und daß ich das grundlegend ändern
mußte. Die Leute waren mit ihrer Arbeit nicht zufrieden und schienen sich von ihr oft unterdrückt zu fühlen. Die herkömmliche
Einstellung gegenüber Arbeitern bestand darin, daß man ihnen nicht trauen konnte. Daß man Systeme brauchte, mit denen man sie
kontrollieren konnte. Doch unser System entmutigte und demotivierte sie. Also mußten wir zunächst einmal einige der sichtbarsten
Symbole unternehmerischer Unterdrückung beseitigen.
Ich hatte mir schon immer so meine Gedanken über die Sicherheitskontrolle gemacht, der sich unsere Leute beim Verlassen des
Werksgeländes unterziehen mußten. Es ärgerte mich, daß wir sogar altgediente Arbeiter so behandelten. Als ich noch nicht lange im
Unternehmen war, sprach ich mit einem leitenden Angestellten darüber.

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»Das macht doch jeder«, belehrte er mich von oben herab. »Die klauen doch wie die Raben, und darum müssen wir sie alle
kontrollieren, jeden Tag. Da können wir einfach keine Ausnahme machen.«
Ich kam mir vor ihm so naiv vor, weil ich der Meinung war, ein Unternehmen könne auf einer Vertrauensbasis geführt werden,
daß ich ihn gar nicht erst nach den Stechuhren zu fragen wagte oder nach den stämmigen Wächtern, die sich vor ihnen drohend
aufgebaut hatten und darauf achteten, daß die Arbeiter am Einlaß nicht mogelten und auch noch die Karte eines anderen
abstempelten.
Fast jedes größere Unternehmen hat sein FBI - manche haben sogar ihren eigenen J. Edgar Hoover. Und doch versuchen diese
Unternehmen ihren Mitarbeitern zugleich weiszumachen, sie seine ja alle Angehörige einer einzigen großen, glücklichen Familie.
Wie können sie bloß derart heuchlerische Sentimentalitäten mit der Tatsache vereinbaren, daß sie ihre Arbeiter vor dem Verlassen
der Fabrik filzen? Oder daß sie ihnen Urlaubstage abziehen, wenn jemand zehn Minuten zu spät kommt? Oder daß sie die
Portokasse von jemandem überprüfen, der bereits seit zwanzig Jahren im Unternehmen ist? Daß sie Vorhängeschlösser an die
Lagertore hängen, um »Unberechtigten« den Zutritt zu verwehren? In welcher Familie werden die Angehörigen nach silbernen
Löffeln durchsucht, wenn sie vom Eßtisch aufstehen?
Arbeiter sind erwachsene Menschen; aber sobald sie das Werkstor passiert haben, verwandelt das Unternehmen sie in kleine
Kinder, zwingt sie, Namensschilder zu tragen, sich in einer Reihe zum Essen anzustellen, den Vorarbeiter um Erlaubnis zu bitten,
wenn sie mal austreten müssen, ein ärztliches Attest vorzulegen, wenn sie krank waren, und blindlings allen Anweisungen zu
gehorchen, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.
Also beschloß ich, die Durchsuchungen bei Semco einzustellen. Das war gar nicht so schwer: Ich ließ einfach eine Tafel am Tor
anbringen, auf der stand: »Bitte überzeugen Sie sich vor dem Verlassen des Firmengeländes davon, daß Sie nicht versehentlich
etwas mitgenommen haben, was Ihnen nicht gehört.«
Ich wußte, einige Manager würden entsetzt sein. Allerdings hatte ich nicht vorausgesehen, daß sich die Vertrauensleute bei mir
beklagten. Einige Arbeiter, erklärten sie, fürchteten, man würde ihnen

---OP 92---

die Schuld geben, wenn irgendein Werkzeug verschwinden würde, was schließlich immer wieder vorkäme. »Unsere Leute wollen
diese Durchsuchungen«, beschworen mich die Gewerkschafter. »Jeder soll wissen, daß sie keine Werkzeuge mitgehen lassen.« Und
als tatsächlich einmal zwei Handbohrmaschinen aus dem Hobart-Werk verschwunden waren, verlangten so viele Arbeiter, die
Durchsuchung wieder einzuführen, daß wir eine Betriebsversammlung abhalten mußten, um alle wieder zu beruhigen.
Man stelle sich das nur vor - Arbeiter wollen, daß man sie durchsucht, um ihre Unschuld zu beweisen. Wir versuchten ihnen
klarzumachen, daß sie auf ihr Recht auf Glaubwürdigkeit verzichten wollten. Unschuldigen passiere doch nichts, solange ihnen
nichts nachgewiesen werden könne. Nur wegen einzelner Diebstähle sollten sie auf dieses Recht doch nicht verzichten.
Ich machte mir durchaus keine Illusionen: Die Abschaffung der Durchsuchungen war nicht gleichbedeutend mit einer
Abschaffung der Diebstähle. Ich bin überzeugt, daß durchschnittlich zwei oder drei Prozent der Belegschaft das Vertrauen des
Arbeitgebers ausnutzen. Aber ist das ein triftiger Grund, die anderen 97 Prozent einem täglichen Ritual der Erniedrigung
auszusetzen? Ja, natürlich wird es hier und da Diebstähle und Unterschlagungen geben, aber das geschieht auch in jedem
Unternehmen mit umfangreichen Sicherheitsund Überwachungsabteilungen. Das gehört nun einmal zu den laufenden Kosten eines
Unternehmens. Mir ist es lieber, wenn hin und wieder ein Diebstahl vorkommt, als daß ich alle einem System unterwerfe, das auf
Mißtrauen basiert.
Und da ich schon einmal dabei war, ließ ich auch die große Stechuhr am Werkstor entfernen und überall im Werk und in den
Büros kleine Stechuhren anbringen. Dann gaben wir allen zu verstehen, daß es nicht gern gesehen würde, wenn sie für ihre Kollegen
an der Stechuhr mitstempeln würden, und beließen es dabei. Heute sind die Stechuhren nur noch dazu da, damit unsere Mitarbeiter
wissen, wie viele Stunden sie gearbeitet haben.
Haben Diebstähle und Betrugsmanöver mit der Stechkarte bei uns zu- oder abgenommen? Ich weiß es nicht, und ich will es
auch gar nicht wissen. Es bringt mir nichts, ein Unternehmen zu haben, in dem man den Leuten nicht traut, mit denen man
zusammenarbeitet.

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Nichts kommt mir so mittelalterlich vor wie eine Kleiderordnung. Das Büropersonal soll in Anzug und Krawatte oder in Kleid oder
Kostüm herumlaufen; aber wer weiß eigentlich noch, warum? Das kommt daher, weil... es ist eben nun mal so.
Die Empfangsdame ist die Visitenkarte des Unternehmens - ist das nicht idiotisch? Welcher Kunde, Zulieferer oder Banker
würde denn einen Vertrag stornieren, wenn er eine leger gekleidete Empfangsdame erblickte? Welcher Einkäufer verzichtet darauf,
mit einem Unternehmen Geschäfte zu machen, nur weil der Vertreter nicht nach der neuesten Mode gekleidet ist?
Kleiderordnungen sind nichts weiter als Formen der Anpassung. Die Menschen möchten sich sicher fühlen, und eine
Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht darin, sich wie alle anderen anzuziehen. Wenn bei IBM jeder blaue Anzüge und weiße
Hemden trägt, dann wird sich selbst ein Lehrling als Teil des Unternehmens fühlen, wenn er sich genauso kleidet. Aber wie alles hat
auch dies zwei Seiten: Diese Menschen werden auch noch von anderen Formen verordneter Einheitlichkeit abhängig sein - von
einer uniformen Sprache, einem uniformen Verhalten und vielleicht sogar von einem uniformen Denken. Im schlimmsten Fall
verwandelt sich das Unternehmen in einen Apparat à la Orwell, und jede Kreativität und Freiheit wird durch die Disziplin und den
Druck gemeinsamer Erwartungshaltungen zugedeckt. Natürlich lassen es nur wenige Unternehmen so weit kommen, aber selbst in
Firmen, in denen es relativ zwanglos zugeht, gibt es ungeschriebene Verhaltenskodizes. Je ausgeklügelter sie sind, desto schlechter
ist es um die Flexibilität und letztlich auch um die Gewinne bestellt.
Natürlich gibt es Leute, die sagen, daß sie Anzüge und Kleider mögen. Clovis beispielsweise kommt immer mit Anzug und
Krawatte zur Arbeit. Harro hingegen war einfach zum Schreien komisch, wenn er aus den unergründlichen Tiefen seines
Kleiderschranks einen Anzug herausholte und ihn für eine Besprechung mit einem wichtigen Kunden anzog. Wenn es überhaupt
noch eines Beweises dafür bedurfte, wie lächerlich jede Kleiderordnung war, dann brauchte ich nur daran zu denken, wie unser
alter Freund Ernesto Gabriele eines Tages seine alten Krawatten von zu Hause mitbrachte und sie den Buchhaltern schenkte, die
selber keine besaßen. Das war

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ein weiteres Beispiel dafür, wie Ernesto um jeden Preis versuchte, für ein Erscheinungsbild zu sorgen, das eines multinationalen
Konzerns würdig gewesen wäre - aber bei den Buchhaltern saß der Knoten nicht richtig, und das Hemd hing ihnen aus der Hose, so
daß sie aussahen, als wollten sie auf eine Karnevalsparty gehen.
Woran liegt es eigentlich, daß sich die Menschen immer ganz leger kleiden, wenn sie am Wochenende ins Büro gehen? Weil sie
sich wohler fühlen. Ja, aber warum sollten sie sich dann eigentlich nicht jeden Tag wohler fühlen? Also sagten wir unseren
Büroangestellten und Managern, sie könnten sich so anziehen, wie sie wollten. Einfach so. Und die meisten tragen statt Anzügen
und Krawatten oder Kleidern lieber Jeans oder an heißen Tagen Shorts. Natürlich gibt es Anlässe, bei denen eine förmlichere
Kleidung angemessen ist, etwa Vorstandssitzungen und Präsentationen vor wichtigen Kunden. Aber jeder selbständige Mensch
weiß schließlich, wie er sich bei diesen Gelegenheiten korrekt anzuziehen hat. Mit dieser neuen Unternehmenskultur hatten wir
eigentlich nur wenig Probleme - so wurde einmal einer von unseren Klimaanlagen-Wartungsleuten nicht in das Gebäude der
Citibank in Sao Paulo eingelassen, weil er zu leger gekleidet war. Um eine Klimaanlage zu reparieren! Er ging heim, zog sich um und
kam wieder. Das war’s denn schon.
Wir hofften, wenn wir die Kleiderordnung abschafften, würden wir dafür sorgen, daß in unserem Unternehmen die Bürotüren
kaum verschlossen wären und daß es für unsere Leute ganz normal wäre, hineinzugehen, sich auf den Schreibtisch eines Kollegen
zu setzen und bei einer Konferenz zuzuhören, die nichts mit ihnen zu tun hatte. Heute bin ich ein begeisterter Anhänger des
»MDH« - des Management durch Herumwandern. Bekannt geworden ist es durch Hewlett Packard, und es bedeutet nichts anderes,
als daß man sich einmal in der Woche die Zeit nimmt, einfach so im Unternehmen herumzuwandern, ohne sein Ziel zu kennen, wie
es Bob Dylan einmal formuliert hat. Dabei kann man sich ansehen, wie neue Projekte laufen, irgendein Problem in der Fabrik oder
in der Verwaltung lösen oder einfach mit jemandem in der Halle plaudern, den man lange nicht gesehen hat.
Manchmal allerdings kann man Mauern nur überwinden, wenn man sie buchstäblich niederreißt. Also bat ich eines Tages jeden
ein-

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zelnen im dritten Stock zu mir und fragte ihn, ob er bereit sei, auf sein eigenes Büro zu verzichten und in einem großen, durch
Pflanzen und Blumen untergliederten Gemeinschaftsraum zu arbeiten. Wir bildeten ein Komitee, und bald tauchten die Bauarbeiter
auf. Ich stellte mir vor, daß jeder seinen Schreibtisch dort hinstellen konnte, wo er wollte, was die ganze Angelegenheit natürlich
ziemlich kompliziert machte. Aber da alle mit anpackten, waren wir in einem Monat fertig.
Mein eigener Arbeitsbereich wurde übrigens viel kleiner. Und noch immer kann ich mein Sofa nicht finden, das ich früher
einmal hatte.
Noch komplizierter aber als die Kleiderordnung im Büro war die der Arbeiter in den Fabrikhallen. Ich erinnere mich noch an eine
Konferenz mit Topmanagern, auf der mehrere größere Investitionen in ein paar Minuten abgehakt worden waren. Dann kamen wir
darauf zu sprechen, welche Arbeitskleidung wir an Stelle der himmelblauen Anzüge unserer Fabrikarbeiter einführen sollten. Wir
verbrachten über eine Stunde damit, über die unterschiedlichen Vorzüge verschiedener Farben zu diskutieren (welche war
gedeckter, welche anregender, auf welcher war Schmutz weniger zu erkennen?), ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Jeder hatte
Gelegenheit, seine Meinung über die Arbeitskleidung zum Ausdruck zu bringen, dachte ich - außer den Leuten, auf deren Meinung
es eigentlich am meisten ankommen sollte: die Arbeiter, die sie tragen würden.
Clovis erriet wie immer meine Gedanken. »Wie wäre es denn, wenn wir eine Umfrage unter den Arbeitern machten, um
herauszufinden, welche Farbe sie bevorzugen würden?« schlug er vor.
»Um Himmels willen!« bekam er von allen Seiten zu hören. »Sie wollen bestimmt Gelb, Orange, Weiß haben -der reinste
Alptraum.«
Was könne man schon von Arbeitern erwarten, argumentierten die Manager also. Doch wohl nicht, daß Arbeiter begriffen, wie
Farben Motivation und Produktivität beeinflussen können. Wer könne denn überdies erwarten, daß solche Leute praktisch denken?
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Wir sprachen doch eigentlich über nichts anderes als über die Farbe von
Arbeitskleidung. Im Sinne unseres neuen Denkens - zumindest Clovis’ und meines

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neuen Denkens - ließen wir über die Idee mit der Umfrage abstimmen, und schließlich waren die Neinsager am Tisch widerstrebend
damit einverstanden - zweifellos waren sie überzeugt, daß die Arbeiter unpraktische Farben haben wollten, und dann würden sie
dem Boß wieder einmal sagen können, das hätten sie ja gleich gewußt.
Wir befragten die Arbeiter in drei von unseren vier Fabriken, wobei sie die Auswahl zwischen allen Farben des Regenbogens
und ein paar typischen Kunststoffarben hatten. Die Umfrage endete unentschieden - es gab gleich viele Stimmen für Hellblau und
ein sogenanntes petrolfarbenes Blaugrau. Wir mußten also eine zweite Umfrage veranstalten - und mit dem Spott unserer
besserwisserischen Direktoren leben, die es sich kaum verkneifen konnten zu sagen: Inzwischen hätten wir alles längst eingekauft
und verteilt.
Diesmal entschied sich die überwältigende Mehrheit für Petrolblau. Selbst unsere Kritiker mußten zugeben, daß es praktischer
war als unser altes Himmelblau, weil Fettflecke darauf nicht so leicht zu sehen waren. Wir sagten uns, daß sich die Stunden gelohnt
hatten, die wir auf die zweimalige Ausgabe und das Aus werten der Umfragebögen verwendet hatten.
Das machte mir Mut, als nächstes ein wirklich ernstes Problem anzupacken. Großes Kopfzerbrechen bereitete uns bei Semco
nämlich das Parkproblem. Wir hatten nicht im entferntesten genug Parkraum in unserer Zentrale in Sao Paulo. Nach langen
Diskussionen mit unseren Managern lösten wir das Problem auf demokratische Weise: Wir schafften die reservierten Plätze für die
»großen Tiere« ab und teilten jeder Abteilung eine Anzahl von Parkplätzen zu, die ihrer Größe entsprach. Am Ende bekamen die
Direktoren und Manager 8 Plätze, die Verwaltung hatte 10, die Buchhalter und andere Büroangestellten 10, Maschinisten 15 und so
weiter. Innerhalb jeder Abteilung konnten alle Plätze nach dem Prinzip »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« belegt werden. Erst
nachdem ein paar leitende Angestellte gezwungen waren, ihre Autos außerhalb des Werksgeländes zu parken, und zu ihrem
Erstaunen feststellten, daß ihre Anweisungen auch weiterhin von den Arbeitern befolgt wurden, die ihre Autos auf dem Gelände
geparkt hatten, kamen sie dahinter, daß Respekt

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nicht von der Entfernung zwischen Autotür und Werkstor abhängig ist.
In den nächsten paar Monaten schafften wir bei Semco schicke und teure geprägte Visitenkarten ab und ersetzten sie durch
preiswerte Standardkarten; außerdem baten wir die Manager, sich ein Sekretariat zu teilen (darüber später mehr), beseitigten
exklusive Kasinos und gestatteten es Managern auf der gleichen Ebene, unterschiedliche Ausführungen von Schreibtischen und
Stühlen und verschieden große Büros zu haben. Man würde also den Status eines Mitarbeiters nicht mehr an der Qualität und
Maserung seiner Büromöbel oder an seinen flauschigen Teppichen ablesen können.
Demokratie macht eine Menge Arbeit, sagte ich mir immer wieder und allen, die mir zuhörten. Man muß sie mit Überzeugung
betreiben und ohne alle Tricks und Ausnahmen. Und sie beginnt bei so kleinen Dingen wie Krawatten, Stechuhren, Parkplätzen und
petrolfarbener Arbeitskleidung.

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Kapitel 10: Ein demokratisches Unternehmen

Kurz nachdem Fernando zu Semco gekommen war, hätte ich eigentlich durch einen Vorfall gewarnt sein sollen, daß es eines Tages
zwischen uns Ärger geben mußte. Ich hatte ihn dazu überredet, mich zu einer Verhandlung in der Zentrale der
Metallarbeitergewerkschaft von Sao Paulo zu begleiten. Das war ein ungewöhnlicher Besuch, denn in Brasilien lassen Unternehmen
die Gewerkschaften stets zu sich kommen.
Das Gebäude der Gewerkschaft war nicht zu übersehen. Dutzende von großen, stämmigen Arbeitern in Overalls und Blue Jeans
standen auf beiden Seiten des Ganges herum. Wie sollten wir an all diesen zornig dreinblickenden Männern vorbeikommen?
Fernando ging nicht langsamer, und ich auch nicht. Als wir näher kamen, sahen die Arbeiter noch bedrohlicher aus. Einige
stießen sich von der Wand ab, an die sie sich gelehnt hatten, und stellten sich breitbeinig hin. Wir konnten uns nicht einfach diskret
an ihnen vorbeischleichen. Fernando und ich waren nicht nur über einen Meter achtzig groß, sondern wir trugen auch beide einen
grauen Flanellanzug mit dezent gestreifter Krawatte.
Die Arbeiter begannen miteinander leise zu reden. »Das sind sie«, zischte einer von ihnen.
Wir gingen weiter und sahen uns plötzlich von ihnen umringt. »Das sind sie, die Bosse«, sagte ein anderer.
Alle sahen uns drohend an. Gewalt lag in der Luft. Doch gerade als ich ihnen erklären wollte, wer wir seien und was wir wollten,
tauchte der Gewerkschaftsführer auf.
»Immer mit der Ruhe, Jungs«, sagte er. »Die beiden hier sind nicht von Taurus.«
Die Rüstungsfabrik Taurus hatte gerade ihre Arbeiter entlassen,

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weil sie gestreikt hatten. Die Gewerkschaftsmitglieder erwarteten eine Abordnung vom Management und nahmen an, wir seien das.
Darum diese Begrüßung.
Fernando und ich atmeten tief durch, und die Arbeiter benahmen sich nun etwas freundlicher. Einige grinsten sogar. Ich grinste
fröhlich zurück. Aber Fernando ging einfach weiter und hatte die Hände noch immer zu Fäusten geballt.
Die Gewerkschaftsführer waren es nicht gewöhnt, jemanden wie uns zu empfangen, und erklärten, sie fühlten sich durch
unseren Besuch geehrt. Walter Schiavon, der Gewerkschaftsleiter für unsere Region, erklärte uns sogar, daß die meisten
Unternehmen alles täten, um die Gewerkschaftsführer zu demütigen und einzuschüchtern, was schon damit beginne, daß man sie
zunächst einmal warten lasse, wenn sie zu einer Verhandlung erschienen.
»Sie vermitteln uns das Gefühl, unwichtig zu sein; als ob die Manager so beschäftigt wären, daß sie kaum eine Minute Zeit für
uns haben«, erzählte uns Walter. »So werden wir ungeduldig und sind gereizt und nicht mehr so aufmerksam, wenn die
Verhandlungen beginnen.«
»Ach«, sagte Fernando und sah mich an, »das müssen wir uns merken, Dickie.«
Ich rutschte ein wenig unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Fernando hatte das natürlich halb im Scherz gesagt - aber mich
beunruhigte die andere Hälfte. Ich hatte mir überlegt, unseren harten Kurs gegenüber der Gewerkschaft ein wenig zu entschärfen.
Fernando war ganz offensichtlich nicht meiner Meinung.
»Aber das ist noch lange nicht alles«, fuhr Walter fort. »Sie lassen uns direkt gegenüber dem Fenster Platz nehmen, so daß uns
das Licht ins Gesicht fällt. Sie sitzen dagegen im Schatten, so daß man ihre Reaktionen nicht so leicht erkennt.«
»Und manchmal ist an unseren Stühlen ein Bein etwas kürzer als die anderen, so daß wir uns nicht sicher fühlen«, ergänzte ein
anderer Gewerkschafter. »Und unsere Stühle sind niedriger als ihre, so daß wir zu ihnen aufschauen müssen«, fügte Walter hinzu.
Ich sah Fernando an. Er lächelte still in sich hinein.

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Einst waren alle Dinge von Hand gemacht und teuer. Dann errichtete Henry Ford seine Fließbänder. Die Industrie begann die neu
sich bildende Mittelschicht zu versorgen, wobei sie den Ausstoß erhöhte, die Kosten senkte und die Massen mit Waren versorgte.
Aber während die Handwerker des 18. und 19. Jahrhunderts ihre höchst kunstvollen Arbeiten fast oder ganz ohne Aufsicht
ausführten, mußten Fords Fabrikarbeiter, die praktisch nichts gelernt hatten, von Vorarbeitern beaufsichtigt werden. Und diese
Vorarbeiter waren nichts weiter als etwas gehobenere Arbeiter, die ihrerseits beaufsichtigt werden mußten. Und deren Vorgesetzte
brauchten Abteilungsleiter, und die Abteilungsleiter brauchten Vizepräsidenten. Auf diese Weise brachte die Massenproduktion
eine riesige Bürokratie hervor.
Den Industriellen und ihren Aktionären hätte nichts Besseres einfallen können. Undenkbar, daß ein DuPont unter einer Brücke
leben würde oder daß einem ein Henry Ford III leid tun mußte, auch wenn Lee Iacocca etwas anderes sagt. Nach und nach
allerdings begannen sich die Arbeiter Gedanken darüber zu machen, daß sie das schlechtere Los gezogen hatten. Fabrikarbeiter,
besonders in den USA und in Europa, stellten auf einmal die Frage, ob es sich lohne, physisch und psychisch vor die Hunde zu
gehen, während sie sich in einer ungesunden Umwelt abschufteten. Im Unterschied zu den Handwerkern hatten sie praktisch nichts
zu sagen und damit keinen Einfluß auf die Bedingungen, unter denen sie arbeiteten. Selbst in den größten Unternehmen
entscheiden selten mehr als ein halbes Dutzend Menschen über die Strategie des Unternehmens und das Los ihrer Mitarbeiter.
Angesichts einer derart brutalen Machtkonzentration kommen sich Arbeiter klein und unbedeutend vor.
Als sie lange genug von Hitze, Rauch und endloser Monotonie ihrer Arbeit müde und ausgebrannt waren, dazu noch von
Minderwertigkeitsgefühlen deprimiert, bildeten die Arbeiter Gewerkschaften; und diese sorgten schon bald dafür, daß die Löhne
erhöht wurden. Schließlich legten sie den Unternehmen eine Zwangsjacke von Vorschriften an, wodurch ihre Mitglieder ein bißchen
mehr Kontrolle über ihr eigenes Leben erhalten sollten. Es kam zu Auseinandersetzungen - mit dem Ergebnis, daß alles zunehmend
ineffizienter wurde.
Seit ein paar Jahren haben einige Unternehmen einen Ausweg aus

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diesem Dilemma gefunden - meist sind es jüngere Firmen, die noch nicht in einer traditionellen Denkweise befangen sind. Sie
wenden neue Rezepte an, wie sie mit ihren Mitarbeitern in Frieden leben und sie stärker in das Unternehmen und seine
Zielsetzungen einbeziehen können. Und genau ein solches Unternehmen wollte ich aus Semco machen. Aber mir war klar, daß wir
die Feindseligkeit und das Mißtrauen, die sich im Laufe der Jahre gebildet hatten, erst dann abbauen konnten, wenn wir die
Kommunikation mit der Basis im Werk verbesserten. Jede Information wurde nämlich durch die Bürokratie gefiltert und damit
eingeschränkt und entstellt.
Ich hielt die Zeit für eine grundlegende Veränderung für gekommen, als wir so weit gegangen waren, Spezialisten für Zeitnahme
und Arbeitsabläufe damit zu beauftragen, die Arbeitsweise unserer Arbeiter zu analysieren. Wir glaubten im Ernst, mit Hilfe dieser
Experten könnten wir die Produktivität unserer Arbeiter steigern. Später haben diese uns dann gestanden, sie seien schnell
dahintergekommen, wie sie die Stoppuhren der Analytiker manipulieren konnten, so daß sich die ganze Studie als Reinfall erwies.
Wir brauchten einfach einen neuen Denkansatz. Fernandos Skepsis zum Trotz machte ich einen Anfang, indem ich die
Mitarbeiter in unseren vier Unternehmenseinheiten aufforderte, Komitees zu bilden, die aus Vertretern aller Betriebsbereiche
bestanden - außer dem Management. Maschinisten, Mechaniker, Büroangestellte, Serviceleute, Lagerarbeiter, technische Zeichner -
jede Gruppe sollte einen Delegierten in diese Komitees entsenden, die regelmäßig mit den Topmanagern in jedem Werk
Zusammenkommen würden.
Nur eine Handvoll Unternehmen in Brasilien hatte solche Werkskomitees, die sich normalerweise aus den aufmüpfigsten,
unkooperativsten Arbeitern zusammensetzten. Fast alle diese Gruppen waren dem Management von den Gewerkschaften
aufgezwungen worden - als Gegenleistung für die Beendigung eines Streiks. Ein Werkskomitee hatte in einer Fabrik von General
Motors sogar einmal einen zweiwöchigen Streik angezettelt, bei dem man das Haupttor mit Lastwagen verbarrikadierte, Manager
als Geiseln in einem Bürogebäude festhielt, teilweise fertiggestellte Autos auf dem Fließband verbrannte und die Polizei mit
Molotowcocktails bewarf.
Wir hofften inständig, daß unsere Komitees mit uns freundlicher

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umgehen würden. Aber wir verliehen ihnen ein umfassendes Mandat und sagten ihnen, sie müßten sich um die Interessen der
Arbeiter kümmern. Die Mitglieder dieser Komitees würden sogar bezahlte arbeitsfreie Zeit bekommen, damit sie sich ihrer neuen
Aufgabe widmen konnten, wobei wir durchaus erwarteten, daß das zu Forderungen nach kürzerer Arbeitszeit, höheren Löhnen,
verbesserten Arbeitsbedingungen und vielleicht sogar nach besserem Essen in unseren Kantinen führen würde.
Da wir nicht wollten, daß die Gewerkschaften glaubten, diese Komitees sollten sie ersetzen, handelten wir ihre Satzungen mit
den Gewerkschaftsführern aus und gaben ihnen in jedem Komitee auch einen Sitz.
Eigentlich hätten wir ja damit rechnen müssen: Die brasilianische Wirtschaft reagierte feindselig auf die Gründung unserer
Komitees. Besonders verärgert war der Industrieverband, in dem die Industriellenaristokratie der Nation vertreten war. Auch die
Wirtschaftspresse zog über uns her und gab den entsprechenden Beiträgen Überschriften wie »Diese Kerle leiten die Fabrik ihres
Bosses«.
All diesen Unkenrufen zum Trotz stellten unsere Werkskomitees kaum eine Bedrohung dar. Zunächst einmal existierten sie ja noch
gar nicht richtig. Altgediente Arbeiter wollten dabei nicht mitmachen, weil es ihnen unangenehm war, sich an etwas zu beteiligen,
was sie für die Rolle des Bosses hielten. Sie hatten unter dem traditionellen System seit einem, zwei oder sogar drei Jahrzehnten
gearbeitet, und immer war ihnen gesagt worden, was, wie und wann sie etwas zu tun hätten, und so sollte es auch bleiben. Aber
auch einige jüngere Arbeiter interessierten sich nicht für die Komitees. Vielleicht trauten sie uns nicht über den Weg. Oder die
Aussicht, bei stärkerer Beteiligung mehr Verantwortung übernehmen zu müssen, schreckte sie ab. Möglicherweise wollten sie
einfach nicht mit unseren Topmanagern an einem Tisch sitzen.
»Ich habe die Bosse immer gehaßt«, erzählte mir Demerval Mattos später einmal; er war Dreher in der Schiffspumpenabteilung
unseres Werks in Santo Amaro. »Die Unternehmer waren meine Todfeinde. Ich hatte keine Lust, mich mit ihnen
zusammenzusetzen und mit ihnen zu reden.«

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Dennoch trat Demerval einem Werkskomitee bei. Ebenso Joao Soares, ein Schweißer in der Geschirrspülerabteilung des
Hobart-Werks. Bei der ersten, verkrampften Konferenz brachten Joao und seine Kollegen keinen Ton heraus. »Drei oder vier
Minuten lang sagte überhaupt niemand etwas, und keiner wußte, wie er anfangen sollte«, sagte mir Soares später. »Jeder war
nervös. Einige waren so verängstigt, daß sie nie den Mund auftaten, obwohl die Konferenz sich über mehrere Stunden hinzog.«
Zu seinem Verdruß wurde Soares zum Sprecher seines Komitees gewählt, was ihn nicht gerade begeisterte. Am Ende aber
fanden sie, daß die Arbeit in diesen Komitees eine der lohnendsten Erfahrungen in ihrem Arbeitsleben gewesen war. »Da saß ich
mit den Topmanagern an einem Tisch, und sie hörten sich an, was wir zu sagen hatten, und waren bereit, etwas dafür zu tun«,
berichtete Soares. »Ich kapierte, daß dies eine Gelegenheit war, wo die Mitarbeiter sich weiterentwickeln konnten und auch das
Unternehmen davon profitieren konnte. «
Typisch zum Beispiel die Entwicklung von Oseas da Silva, einem anderen Schweißer in der Schiffspumpenabteilung. »Ich war
ein sehr gewalttätiger Mensch«, sagt er, »ein ganz Radikaler. Aber als ich beim Komitee war, bin ich draufgekommen, daß man mit
Reden seine Ziele erreichen kann.«
Als Semco 1989 einen Nationalpreis für die vorbildlichen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bekam,
beschloß ich - da die Ehre eigentlich den Werkskomitees gebührte -, daß ein Komiteemitglied ihn entgegennehmen sollte, auch
wenn das vielleicht gegen das offizielle Protokoll verstieß. So kam es, daß der ehemalige Radikale Oseas da Silva auf dem Podium
neben dem Staatspräsidenten saß.
Aber das war erst viel später. Als sie ihre Sprache gefunden hatten, konzentrierten sich die Komiteemitglieder zunächst einmal
auf drei Themen: Geld, Geld und nochmals Geld. Allerdings waren die meisten in dieser Hinsicht ganz vernünftig. Sie forderten uns
auf, uns in anderen Unternehmen umzuhören und herauszufinden, was deren Arbeiter bekamen, und als sich herausstelle, daß
Semco unter dem Durchschnittslohn in der Industrie lag, ließen uns die Komitees Zeit, die Löhne entsprechend anzupassen.

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Ein anderer wichtiger Punkt war die Sicherung der Arbeitsplätze. Die Komiteemitglieder hatten keine Lust, ihren Bossen an
einem Tisch gegenüberzusitzen und frei zu sprechen, wenn sie entlassen werden konnten, weil sie eine Lippe riskiert hatten. Das
war ein vernünftiges Argument, also garantierten wir ihnen, daß sie in der Zeit, in der sie im Komitee saßen, sowie ein Jahr lang
danach nicht rausgeschmissen würden.
Und damit kamen die Dinge in Bewegung. Schon bald wurden wir mit Vorschlägen und Forderungen überschüttet. Ein Komitee
stellte eine Liste mit 23 Punkten zusammen - unter anderem wollten sie mit Bussen zur Arbeit geholt und wieder nach Hause
gebracht werden sowie eine erstklassige Krankenversicherung. (Letztere bekamen sie schließlich auch, ersteres nicht.) Die Komitees
waren auch scharf auf die Vergünstigungen der Bosse. »Sie hatten alle Autos«, sagte Soares, »sie waren alle in Clubs, sie führten alle
ein angenehmes Leben.«
Auch unsere Jahresversammlung erregte ihre Neugier, besonders als ich einmal eine Besprechung mit einem Werkskomitee
absagen mußte, weil sie mit einem unserer Ausflüge zusammenfiel. »Gut, daß Sie das erwähnen«, sagte ein Arbeitervertreter. »Was
wird denn dieser Ausflug kosten?«
Wir sagten ihnen die Wahrheit - diese Treffen verschlangen stets einen fünfstelligen Betrag.
»Was für eine Verschwendung«, murrte der Arbeiter. Er wollte wissen, warum wir in einem so kostspieligen Hotel
Zusammenkommen, warum unsere Frauen dabeisein mußten und was wir dort überhaupt taten. Inzwischen haben wir viel
preiswertere Jahresversammlungen, bei denen weniger Manager dabei sind und wir viel weniger Spaß haben.
In den zurückliegenden Jahren, die durch üppiges Wachstum, schmerzhafte Einsparungen und unvorhersehbare
Umstrukturierungen geprägt waren, ebenso wie bei Akquisitionen und Initiativen übernahmen diese Komitees, die anfangs so
bedrohlich schienen, unglaublich viel unternehmerische Verantwortung und trugen so erheblich zum Erfolg von Semco bei.
Sie begannen ganz konservativ, gründeten Unterkomitees zur Modernisierung von Umkleide- und Waschräumen, kauften ihre
Ar-

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beitsmaterialien selbst ein und schickten uns die Rechnung. Einige Komitees wählten eine Art Bürgermeister für die Fabriken, der
sich um Gemeinschaftsbereiche wie Gärten und Empfangsräume kümmern, die Beleuchtung warten und sogar neue Möbel
besorgen sollte. Werkskomitees organisierten Teams, die Büros und Maschinen neu anstrichen und »Baumpatenschaften«
einführten, um unsere Werkstätten zu begrünen. In Santo Amaro bat das Komitee Tomie Ohtake, eine der bekanntesten
brasilianischen Malerinnen, ein neues Dekor für das Innere des Werks zu entwerfen, und die Arbeiter wollen ihre lebhaften
geometrischen Muster ausführen, wenn das Geschäft die zusätzlichen Ausgaben für die Farbe abwirft.
Schließlich beteiligten sich die Komitees an allem möglichen und mischten sich sogar in unser Geschäft ein - die Leitung
ebendieses Geschäfts. Sie wiesen uns auf Manager hin, die überflüssig waren, wobei sie vor allem Leute mit Titeln wie Strategischer
Planungsmanager, Datenverarbeitunsmanager, ja sogar Marketingmanager auf dem Kieker hatten. Ständig stellten sie Ausgaben in
Frage, die leitende Angestellte für vernünftig hielten, vom Landschaftsgärtner (der in einer Woche mehr verdiente als ein Pförtner
in einem ganzen Monat) bis zur Miete für unsere Fabrikgebäude. Sie übernahmen die Werkskantinen, legten Produktionsziele fest
und schlugen wichtige Änderungen bei den Produkten vor.
Ich weiß noch, wie ich eine Lunch-Sitzung mit dem Komitee in Santo Amaro einberief, um mit ihnen über die Aussichten beim
Verkauf und bei den Einnahmen zu reden. Ohne mir etwas davon zu sagen, hatten sie am Morgen dieses Tages eine Delegation in
unsere Verkaufs- und Einkaufsabteilungen geschickt, um sich sachkundig zu machen. Als die Sitzung begann, wußten sie mehr über
den aktuellen Stand der Dinge als ich.
Wenn bestimmte Werke schwere Zeiten durchmachten, übernahmen ihre Werkskomitees die Initiative und senkten die Löhne
oder verlängerten die Arbeitszeit, womit sie Geld sparten und ihre Arbeitsplätze sicherten. Waren Kurzarbeit und Entlassungen
unvermeidlich, beteiligten sich die Komitees an der heiklen und undankbaren Aufgabe zu entscheiden, wer gehen mußte.
Zusammen versuchten wir das Ganze so sozial gerecht wie möglich abzuwickeln, indem wir Faktoren einbezogen wie die Jahre, die
ein Arbeiter im

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Unternehmen schon verbracht hatte, Loyalität, die Möglichkeit, einen neuen Job zu finden, und die Familienverhältnisse. Ein
Arbeiter beispielsweise, der sieben Kinder hatte oder dessen Frau gerade im Krankenhaus lag, wurde jemandem vorgezogen, der
gerade die Schule absolviert und keine Verpflichtungen hatte. Unabhängig davon mußte die Entlassung eines Semco-Mitarbeiters,
der bei uns länger als drei Jahre gewesen oder über 50 war, von einer ganzen Reihe von Leuten eigens gebilligt werden.
Aber es kam auch vor, daß die Komiteemitglieder sich darüber beklagten, wir würden in unserem Bemühen, gerecht zu sein,
den Vorgang hinziehen, zuviel reden, uns zu lange den Kopf zerbrechen und das Ganze damit nur noch schmerzhafter machen. Nun,
vielleicht ist das ein unvermeidlicher Preis.

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Kapitel 11: Eine Veränderung kommt selten allein

Fernando, unser letzter Attila, war der erste Topmanager, den das neue Unternehmen Semco in die Wüste schickte. Er war ein
überaus cleverer und fähiger Mann, aber eben auch unerträglich autokratisch. Nachdem er Hobart verlassen hatte, wollten wir es
nicht riskieren, für diesen Unternehmensbereich, der bereits einen zu starken »Kulturschock« erlebt hatte, einen neuen Leiter
einzustellen. Ich wollte unbedingt demonstrieren, daß Leistungssteigerung und ein einfühlsamer Führungsstil einander nicht
ausschlossen. Dafür war dies jedenfalls eine gute Gelegenheit.
Ich ließ Fernandos Büro neu streichen, ersetzte seine düsteren Ölgemälde durch moderne Poster - eines zeigte zum Beispiel eine
Neonleiter, die an einer der Wände zu lehnen schien -, und an einem Montag zog ich frühmorgens ein. Aber der neue
Generaldirektor hielt sich hier nicht lange auf. Ich begann nämlich sofort herumzuwandern.
Als erstes machte ich in der Verkaufsabteilung halt. Ich wollte mit Mara Mantovani sprechen, unserer Marketingleiterin. Diese
schlanke, hübsche Frau galt als schwierig. Sie hatte sich ständig mit Fernando angelegt und äußerte sich angeblich abfällig über die
Werksleitung.
Sie sah überrascht hinter ihrem Schreibtisch zu mir auf. »Ich wollte gerade zu Ihnen kommen«, sagte sie.
»Wir können uns ja gleich hier unterhalten«, erwiderte ich und setzte mich.
Sie sah sich besorgt um, als ob es ihr leid täte, daß sie nicht aufgeräumt hatte, bevor ich zu ihr gekommen war.
»Erzählen Sie mir doch einfach mal, was Sie am meisten bei Semco ärgert.«

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»Ach, eine Menge«, sagte sie und rutschte auf ihrem Stuhl herum.
»Nennen Sie mir doch die drei oder vier schlimmsten Dinge.«
»Na schön, ich darf zum Beispiel nicht eigenverantwortlich Prospekte drucken lassen, Messen organisieren, Mailing-Aktionen
machen. Ich mußte Fernando bei allem um Erlaubnis bitten. Und das hat lang gedauert.«
»Ab heute, Mara, werden wir jeden Montag um neun eine Besprechung für alle leitenden Mitarbeiter haben. Dort tragen Sie
einfach Ihre Vorschläge vor und versuchen die anderen davon zu überzeugen. Wenn wir uns nicht einigen können, stimmen wir
ab.« Ich hielt einen Moment inne, damit sie sich mit dieser Idee anfreunden konnte. »Und was haben Sie sonst noch für
Probleme?«
»Oh, eine Menge. Manchmal muß ich einem Vertreter klarmachen, welche Spesen er bei uns abrechnen darf, und auch das darf
ich nicht selbständig entscheiden.«
»Das ist doch die gleiche Art von Problemen wie die eben genannten, nicht wahr?«
»Ja, vielleicht. Etwas für die wöchentliche Besprechung, stimmt’s?«
»Genau.«
»Wie steht’s mit Personal? Ich brauche noch eine Assistentin, aber ich bekomme keine.« Mara zog die Augenbrauen hoch, als
hoffte sie, ich würde ihr sofort eine bewilligen.
»Die wöchentliche Besprechung«, wiederholte ich. »Dort werden wir das Budget zusammenstellen. Was noch?«
»Ich vermute, alles, was mir noch einfällt, wird bei dieser Besprechung entschieden, nicht wahr?«
»Sie haben es erfaßt. Sie müssen sich schon als Lobbyistin in eigener Sache betätigen, Mara. Und da ich nur eine Stimme habe,
werde ich eine Menge für meine eigene Lobby tun.« Ich lächelte sie strahlend an, als ich aufstand, um zu gehen. »Wir sehen uns im
Kongreß.«
Ich verbrachte den Vormittag damit, die gleiche Unterhaltung mit den anderen Spitzenmanagern im Systemgastronomie-Werk
zu führen (so nannten wir das Hobart-Werk jetzt firmenintern). Dann kehrte ich in mein Büro zurück, das ich zum
Besprechungszimmer des Werks erklärte, das allen zur Verfügung stehe. (Und schon bald mußte ich mich daran gewöhnen, daß ich
ins Büro kam und bereits

---OP 109---

jemand auf meinem Stuhl saß, telefonierte oder eine Besprechung mit jemand anderem hatte. Ich setzte mich einfach neben den
Besucher und wartete so lange, bis sie fertig waren.)
Diese wöchentlichen Sitzungen, die gleich am ersten Tag begannen, veränderten rasch die Unternehmenskultur des Werks.
Statt mit dem Boß irgendwelche Guerillakriege wegen einer Gehaltsaufbesserung, einer neuen Assistentin oder einer selbständigen
Entscheidung zu führen, legten sich die Manager nun ihre Argumente für die Besprechung zurecht. Zuerst waren die
Tagesordnungen für diese Sitzungen endlos lang, aber im Laufe der Zeit schrumpften sie zusammen, da jeder mehr Entscheidungen
selbst zu treffen begann. Die Leute trugen nur noch Punkte vor, über die sie sich wirklich nicht sicher waren. Und selbst diese
Probleme wurden von der Gruppe letzten Endes oft wieder an den zurückgegeben, der sie vorgetragen hatte. Mara zum Beispiel
bekam zu hören, sie solle ihre Prospekte doch in allen Farben drucken lassen, die sie haben wollte, mit welchem Layout auch
immer, und so viele Hilfskräfte einstellen, wie es das Budget erlaubte.
»Aber was ist, wenn ich eine Mailing-Aktion mache, die den Vertretern nicht gefällt?« fragte sie.
»Es liegt ganz bei Ihnen, ob Sie die Vertreter fragen, bevor Sie loslegen«, erklärte ich ihr. »Wenn Sie sich sicher sind, dann
machen Sie die Aktion. Wenn sie den Vertretern nicht gefällt, werden Sie das schon in Ihrer Bewertung als Marketingleiterin
spüren; und beim nächstenmal werden Sie sie sicher zu Rate ziehen. Wir haben hier nichts gegen Fehler. Wenn Sie nicht
irgendwelche Fehler machen, dann riskieren Sie vermutlich auch nicht viel.«
»Aber was ist, wenn ihnen meine Arbeit nicht gefällt?« beharrte Mara.
»Da gibt es zwei Möglichkeiten: Wenn die Verkäufe anziehen, werden sie daraus lernen, sich auf Ihr Urteil zu verlassen.« Ich
hielt inne, um dieses Argument wirken zu lassen. »Wenn sie nachlassen, wird das nicht der Fall sein.«
»Und dann?« bohrte Mara weiter.
»Nun, diese Gruppe stellt das Budget zusammen, und Sie gehören nur dann dazu, wenn die anderen der Meinung sind, daß Sie
eine gute Investition darstellen.«

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Wenn ich so zurückblicke, fällt mir keine einzige Entscheidung ein, die ich in dieser Zeit getroffen habe. Und das war auch gut
so, denn ich bin am besten, wenn ich nichts tue.
Ich muß immer lächeln, wenn ich höre, wie Manager damit angeben, wie »partizipativ« sie seien. »Ich möchte, daß sich jeder
einbezogen fühlt«, heißt es dann immer. »Also lasse ich alle zu mir kommen, höre mir in aller Ruhe an, was sie Vorhaben, und
entscheide erst dann.«
Dieses »partizipative Management« ist gewöhnlich nichts weiter als ein »konsultatives« Management. Und das ist nichts
Neues. Manager haben ihre Mitarbeiter doch schon seit Ewigkeiten um Rat gefragt. Wie fortschrittlich muß man denn schon sein,
um jemanden nach seiner Meinung zu fragen? Auf diese Meinung auch zu hören - damit fängt es doch erst an. Aber nur wenn die
Bosse aufhören, Entscheidungen ganz allein zu treffen, und ihre Mitarbeiter selbständig entscheiden lassen, besteht doch die
Möglichkeit, daß ein Unternehmen von Arbeitern und Managern gemeinsam geführt wird. Und das ist dann wirklich partizipatives
Management und nicht bloß ein Lippenbekenntnis.
Alle paar Wochen sprachen die Manager des Hobart-Werks in einer Mittagspause mit den Arbeitern, die sich in der Kantine
versammelten, 200 Mann hoch, und dann redete man über alles, was man auf dem Herzen hatte. Da war kein Thema tabu:
Gehälter, Gewinne, neue Produkte, Einstellungen und Entlassungen - alles konnte aufs Tapet gebracht werden. Bei diesen
Sitzungen versuchten wir sie davon zu überzeugen, daß jeder in der Systemgastronomie-Einheit mehrere Entscheidungen treffen
und sich mehr im Unternehmen engagieren sollte. Jeder von ihnen könne ein Kathedralenbaumeister sein.
Schon bald ging es rund, und es dauerte nicht lange, da war das alte Hobart-Werk nicht mehr wiederzuerkennen. Nicht so sehr
äußerlich natürlich, aber organisatorisch und, wenn ich das mal so sagen darf, auch geistig. Arbeiter, die seit Jahren oder gar seit
Jahrzehnten ins Werk zur Arbeit kamen und sofort innerlich abschalteten, wurden mündige Bürger eines Industrieunternehmens,
trafen Entscheidungen, die nicht nur ihren Job betrafen, sondern auch die Produkte, die sie herstellten, ja sogar ihr Unternehmen.

---OP 111---

Aber zunächst fing es ganz bescheiden an. Eine Gruppe von Frauen beschloß, etwas mit den Umkleideräumen der Männer
anzustellen, die stets in einem furchtbaren Zustand waren. Wenn den Männern beigebracht werden könnte, sich mehr um ihren
eigenen Bereich zu kümmern, dachten die Frauen, dann wären sie vielleicht auch sonst im Werk weniger schlampig. Eines
Freitagabends, nachdem die Männer alle gegangen waren, schlichen sich die Frauen in den Umkleideraum und mußten feststellen,
daß es hier sogar noch schlimmer war, als sie es sich vorgestellt hatten. Überall lagen Handtücher, Unterwäsche und Klopapier
herum. Schmutzige Kleidungsstücke quollen aus den Spinden. Mit Filzschreibern versahen die Eindringlinge auf Zettelchen die
verstreuten Sachen mit Bemerkungen wie: »Ich bin hier fehl am Platz«, »Ich will in meinen Spind zurück«, »Wann darf ich endlich
baden?«
Sehr witzig, was? Aber als die Männer am Montag kamen, kapierten sie das schnell. Und seitdem war das ganze Werk viel
sauberer. Bald wurden neue Duschen und Spinde eingebaut. Dann strichen einige Männer einen unbenutzten Produktionsbereich
neu und machten daraus einen Spieleraum, in dem es nach dem Mittagessen und nach der Arbeit hoch herging. Sie machten
sämtliche Umbauarbeiten selbst und luden die Manager zur Eröffnungsparty ein.
Bald sprossen auch alle möglichen exotischen Pflanzen zwischen den Maschinen in den Werkshallen, so wie das Grünzeug
bereits zuvor in unseren Büros aufgetaucht war. Dann beschlossen einige Fließbandarbeiter, die Fabrik anzumalen. Jeder suchte
sich eine Farbe für die nächste Säule aus, während die Wände hinter jeder Gruppe von fünf oder sechs Arbeitern in einem von allen
ausgewählten Farbton gehalten wurden. Ein altgedienter Manager machte sich in einem Buch über Farbpsychologie kundig und
wies uns darauf hin, daß manche Farbtöne, die die Arbeiter bevorzugten, das Werk düster und damit deprimierend und vielleicht
sogar gefährlich machen würden. Wir sollten doch die Auswahl begrenzen, empfahl er. Besser noch: die Farben für sie aussuchen.
Ich mußte wieder an das Getue wegen der Arbeitskleidung denken und sagte ihm, nach unserer Philosophie sollten wir
derartige Entscheidungen doch lieber denen überlassen, die mit den Folgen zu leben hätten. Als eine Gruppe von Arbeitern sich für
Waldgrün ent-

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schied, zuckte unser Hausfarbenpsychologe entsetzt zusammen. Eine andere Gruppe wollte Braun. Wir hielten den Mund. Das
Werk wurde für einen Nachmittag geschlossen, als die Arbeiter mit Pinseln und Rollen anrückten und es in ein Kunstwerk aus
vielen Farben verwandelten - und dann waren auch in der Industrie kaum vertretene Farben wie Pink und Magentarot dabei. Das
mag vielleicht chaotisch aussehen, ist aber tatsächlich ein Symbol unseres Bestrebens, unsere Arbeiter ihr Schicksal selbst in die
Hand nehmen zu lassen.
Die Büroangestellten verfolgten all diese Aktivitäten eifersüchtig. Warum sollten sie eigentlich nicht selbst über ihre eigenen
Wände bestimmen dürfen? Bitte sehr! Also kamen sie an einem Freitag alle in Jeans und Overalls, und nach dem Mittagessen
wurden Dutzende von Farbeimern auf dem Boden verteilt. Es gab natürlich auch Kofferradios, und es wurde gesungen, während
Manager und Angestellte einträchtig die Wände mit doppelt soviel Farbe vollkleisterten, als es nach Meinung unseres Experten
nötig gewesen wäre. Jeder, der die Büros betrat, hätte diese Malerarbeiten kaum für das Werk von Amateuren gehalten - und jeder,
der sich an die frischgestrichenen Wände lehnte, bekam prompt einen Rüffel.
Vielleicht war das Essen in der Werkskantine wirklich so schlecht wie sonst nur im Gefängnis. Jedenfalls bildeten die
Mitarbeiter ein Kantinenkomitee, das zuständig war für die Auswahl des Lieferanten, die Qualitätskontrolle und die Festlegung der
Preise. Jair Pinto, ein Buchhalter, der schon seit 25 Jahren bei uns war, wurde zum Vorsitzenden gewählt. Jair war für seine
Hartnäckigkeit bekannt. Er ließ bei Kunden, die mit der Bezahlung ihrer Rechnungen im Rückstand waren, nicht mehr locker - so
wie sich ein Deutscher Schäferhund um Mitternacht in einen ungebetenen Besucher verbeißt. Aber dennoch meinten einige
Arbeiter, daß er sich beim Essen noch ein wenig mehr ins Zeug legen könnte. Als er eines Tages die Kantine betrat, kam ein
unzufriedenes Murren an den langen Eßtischen auf. Es galt dem Nachtisch, einer Masse, die man kaum als Pudding bezeichnen
konnte. Zweifellos fragte sich Jair, was hier los war, als er zu essen begann. Ein Arbeiter an seinem Tisch stand auf, kippte lässig
seinen Pudding auf Jairs Tablett und ging wortlos hinaus. Wenige Augenblicke später folgte ein anderer Arbeiter seinem Beispiel.
Dann noch

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einer. Innerhalb von zehn Minuten türmte sich auf Jairs Tablett ein Berg aus Pudding.
Am nächsten Tag begann Jair die Steaks nachzuwiegen - er wollte sichergehen, daß sie auch wirklich dem vertraglich
vereinbarten Gewicht von 125 Gramm entsprachen. Dann knöpfte er sich das Küchenpersonal vor. Und bald war an der Qualität des
Essens nichts mehr auszusetzen.
Allerdings gab es noch immer Probleme mit der Kantine. Bei Semco gab es einen Essenszuschuß von 70 Prozent. Aber nachdem
sie sich mit Clovis und ein paar anderen Managern beraten hatten, initiierten die Fabrikarbeiter einen »Robin-Hood-Essensplan«,
nach dem die Mitarbeiter je nach Höhe ihres Einkommens unterschiedlich viel für das Essen bezahlten. Manager und Ingenieure
beispielsweise sollten 95 Prozent der Kosten ihres Essens selbst tragen, das Reinigungspersonal hingegen nur fünf Prozent.
Ein paar Vorarbeiter fühlten sich ungerecht behandelt und brachten aus Trotz ihr Mittagessen von zu Hause mit. Die übrigen
Mitarbeiter beschlossen, nichts dagegen zu unternehmen, weil sie hofften, die Vorarbeiter würden schon noch dahinterkommen,
daß es billiger war, 95 statt 100 Prozent zu bezahlen, was sie denn auch nach vier Wochen taten. Inzwischen stehen jene Vorarbeiter
voll hinter dem »Robin-Hood-Plan«. Sie haben eingesehen, was er für ihre Kollegen bringt, die weniger als sie verdienen.
Es kam, wie wir es uns gedacht hatten: Kleine Veränderungen führten letzten Endes zu größeren. Nachdem sie sich um
Topfpflanzen und Wandfarbe, schmutzige Spinde und Essenszuschüsse gekümmert hatten, gingen die Arbeiter dazu über, sich für
wesentlichere Probleme im Zusammenhang mit ihrer Arbeit und ihrem Werk zu interessieren. Im Werkskomitee bildeten sich
Gruppen, die die Firmenprodukte und ihre Herstellung untersuchten und dabei nach Möglichkeiten Ausschau hielten, wie man Zeit
sparen und beides verbessern konnte. Diese Teams waren nicht vom Semco-Management geschaffen worden, sondern hatten sich
spontan gebildet, als der frische Wind der Demokratie durch die Systemgastronomie-Einheit fegte, und sie setzten sich oft nach
Feierabend oder während der Mittagspause zusammen.

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Eine Gruppe organisierte die Herstellung von Geschirrspülmaschinen neu, indem sie die herkömmliche Fließbandfertigung
durch ein Gruppenfertigungskonzept ersetzte, bei dem jeweils zwei oder drei Geschirrspülmaschinen von Arbeitsteams
zusammengebaut werden, die verschiedene Aufgaben ausführen und in der Zeit zwischen den einzelnen Fertigungsschüben die
Komponenten vorfertigen, die sie anschließend benötigen. Sie erfanden auch ein System, nach dem alle Einzelteile für die
Geschirrspüler in offenen Regalen zentral in der Fabrik gelagert wurden. An jedem Regal hingen Blechschilder, die auf der einen
Seite grün und auf der anderen rot waren und die von den Arbeitern auf die rote Seite gedreht wurden, wenn sie sahen, daß die
entsprechenden Teile nachbestellt werden mußten, so daß für einen ständigen Nachschub gesorgt war. Das stellte eine gewaltige
Verbesserung der herkömmlichen Fließbandarbeit dar, bei der die zu Robotern degradierten Arbeiter keine Rolle bei
Entscheidungen spielen, die den Produktionsablauf betreffen. Sie verrichten nur ihre präzise choreographierten Handgriffe, und
wenn es keine Bolzen mehr gibt, hören sie einfach auf zu arbeiten (was sie gern tun). Bei unserem System waren die Arbeiter in den
Produktionsprozeß aktiv einbezogen und sorgten schon rechtzeitig genug für Nachschub, wenn irgendein Teil auszugehen drohte.
So wurde die Produktion nicht unterbrochen, es sei denn, es gab ein Problem mit einem Zulieferer.
Ein anderes Mitarbeiterteam ersetzte das Stahlgehäuse unseres Fleischwolfs durch Glasfaser, so daß es einfacher zu reinigen
war, moderner aussah und billiger in der Herstellung war. Eine weitere Gruppe dachte sich eine neuartige Methode aus, wie die
Grundplatte unserer Waage vorgeschweißt werden konnte und damit 27 Dollar pro Einheit gespart wurden. Und wieder eine andere
Gruppe nahm sich die Schneidemaschinen für Fleisch und Wurstaufschnitt vor. Bei Hobart wurden diese Schneidemaschinen seit
Jahren hergestellt, nach einer uralten Konstruktion, und inzwischen waren sie so wenig begehrt, daß nur noch ein paar Dutzend
Geräte im Monat verkauft wurden.
Die Arbeiter kamen darauf, daß die Schneidemaschinen sowohl attraktiver wie auch hygienischer wären, wenn man statt
Gußstahl nichtrostenden Stahl verwendete. Aber auf nichtrostendem Stahl

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sieht man jeden Fingerabdruck, und man konnte es den Kunden nicht zumuten, ihre Maschinen alle paar Stunden zu polieren. Eine
mattierte Oberflächenschicht wäre die Lösung gewesen, aber ein Wirtschaftsingenieur im Team rechnete aus, daß dafür sechs
Arbeitsgänge und fünf Arbeitsstunden zusätzlich erforderlich gewesen wären. Damit würde die Schneidemaschine entschieden zu
teuer werden.
Die Gruppe ärgerte sich über dieses Problem und ging zusammen zum Essen. Aber ein Arbeiter hatte eine Idee - er schloß sich
den anderen nicht an und trug auf eine Schneidemaschine eine mattierte Oberflächenschicht in nur vier Arbeitsgängen auf. Als
seine Kollegen zurückkamen, erfuhren sie zu ihrem Erstaunen, daß die neue Methode weniger als eine zusätzliche Arbeitsstunde bei
der Fertigung erforderte. Damit hatten wir eine neue Schneidemaschine bekommen, und die Verkäufe kletterten auf mehrere
hundert Stück pro Monat.
Die Stärke dieser Gruppen beruhte darauf, daß sie aus den verschiedensten Mitarbeitern bestand: Fabrikarbeitern, Ingenieuren,
Büroangestellten, Vertretern und Managern. Sie hatten keinen offiziellen Leiter - wer die größten Führungsqualitäten aufwies,
bekam den Job, rief die anderen zu Besprechungen zusammen und moderierte die Diskussionen. Es gab nicht nur eine Gruppe, in
der ein einfacher Arbeiter Fachleute auf diese Weise führte. Diese Gruppen wurden also nicht durch irgendein hierarchisches
System oder Kästchen in einem Organigramm, das Macht verlieh, zusammengehalten, sondern schlicht durch eine ganz natürliche
Achtung vor den Kollegen.
Dieses System ähnelt durchaus in gewisser Hinsicht der Art und Weise, wie Japaner Herstellungsbetriebe organisieren, aber es
gibt auch wesentliche Unterschiede. In unseren Gruppen gehorchen die jüngeren Mitglieder nicht automatisch den älteren. Und
wenn ein Team eine Sache beschlossen hatte, dann blieb es auch dabei - da mußte nicht irgendeine Genehmigung für eine
Veränderung eingeholt werden. Außerdem gab es keine besonderen Belohnungen für neue Ideen. Es war ein spontaner Prozeß - die
Leute nahmen daran nur teil, wenn sie es auch wirklich wollten.

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Schon bald hingen in jeder Abteilung des Hobart-Werks riesige Planungstafeln in den Werkshallen, auf denen der aktuelle
Produktionsstand im Vergleich zum monatlichen Soll dargestellt wurde, das sich die Arbeiter selbst gesetzt hatten. Nicht die
Manager hatten diese Tafeln aufgehängt, sondern die Arbeiter. Sie hatten sogar eine Master-Tafel in der Kantine hängen, auf der
der tägliche Output aller Produkte des gesamten Werks ausgewiesen wurde.
Zunächst fühlten sich einige Arbeiter nicht wohl dabei, als Sollziele aufgestellt wurden und die Produktion überwacht wurde -
sie waren daran gewöhnt, das Nichterreichen der vom Management aufgestellten Quoten damit zu erklären, daß die Manager eben
nicht korrekt geplant hatten. Nun konnten die Arbeiter sich nicht mehr gedankenlos über die Führung der Fabrik beklagen, da sie
sie selbst mit führten.
Auch hier ging das Schneidemaschinen-Team mit gutem Beispiel voran. Seine Mitglieder beschlossen, daß sie künftig 210
Schneidemaschinen pro Monat zusammenbauen würden. Keine 200 und keine 220. Sie setzten in ihre Kalkulation die Faktoren
Arbeitszeit, Leistung und Materialbeschaffung ein und kamen zu dem Ergebnis, daß 210 genau die richtige Anzahl war.
Im ersten Monat sahen wir uns das natürlich genau an, denn wir wollten doch wissen, wie sie damit zurechtkamen. Sie
begannen mächtig loszulegen und kamen auf einen Tagesschnitt von acht Schneidemaschinen - sie lagen also genau im Soll. Aber
eine Lieferung von Trennscheiben verspätete sich, und im Werk gab es keinen Vorrat mehr. Zwei Mitglieder der Gruppe suchten
den Zulieferer auf (und umgingen damit ihre Kollegen im Einkauf) und besprachen das Problem mit einigen Fabrikarbeitern der
Zulieferfirma (die damit ihre Kollegen im Verkauf umgingen).
Zwei Tage vor Monatsende trafen die Scheiben ein. Allerdings waren um diese Zeit die Motoren ausgegangen, die von einer 500
Kilometer entfernten Firma kamen. Die Auslieferung wurde zwar täglich zugesagt, aber diese Zusagen wurden genausowenig
eingehalten. Teammitglieder nervten den Zulieferer ständig, und schließlich wurden ihre Beschwerden von einem mitfühlenden
Manager erhört. Die Motoren trafen am letzten Tag des Monats ein.
Es blieben ihnen nur noch ein paar Stunden, und das reichte bei

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weitem nicht, um die Motoren einzubauen. Aber dann traf das Schneidemaschinen-Team eine kollektive Entscheidung: Jeder von
ihnen stempelte am Ende der Arbeitszeit seine Stechkarte ab, kehrte dann in die Fertigungshalle zurück - in seiner Freizeit! - und
arbeitete bis 4.50 Uhr. Und dann hatte das Team 210 Schneidemaschinen fertiggestellt. Kein Stück mehr, keins weniger.

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Kapitel 12: Der Ärger mit den Vorschriften

Bei aller Debattiererei auf Vorstandsebene wie in den Umkleideräumen waren die meisten Veränderungen, die wir bis dahin
herbeigeführt hatten, nichts weiter als symbolische Handlungen. Aber Ende 1985 hatte die Angst, die im mittleren Management von
Semco umging, ein gefährliches Ausmaß erreicht. Fernando war zwar nicht mehr da, aber seine Falken-Philosophie war noch
immer gegenwärtig, wenn auch in Frage gestellt.
»Sie haben mir meine Macht genommen«, beklagten sich die Abteilungsleiter, wenn ich ihnen in den Werkshallen über den
Weg lief. »Ich weiß nicht mal mehr, ob meine Leute rechtzeitig kommen.« Oder: »Wie soll ich denn das Vertriebsziel dieses Monats
erreichen, wenn ich nichts mehr unter Kontrolle habe?«
Sie sagten mir, daß sie nichts mehr begriffen. Ich sollte ihnen die Politik von Semco erklären. Und ich blieb dabei: Das war
genau das, was falsch war - es gab zuviel Politik bei Semco, und es wurde zu wenig gedacht, selbständig geurteilt und zuwenig
Gebrauch gemacht vom gesunden Menschenverstand. Aber ich verstand, warum unsere Manager Angst hatten.
Wenn es eine Gruppe gab, die für unseren neuen Plan ein Problem darstellte, dann waren es diese Manager auf der mittleren
Ebene. Ich wurde nicht müde, ihnen immer wieder zu erklären, daß sie mehr als ich oder meine Kollegen im Topmanagement die
größten Befürworter - oder die größten Verhinderer - unserer Bemühungen sein könnten, aus Semco ein demokratischeres und
freieres Unternehmen zu machen.
Moderne Unternehmen sind normalerweise pyramidenförmig strukturiert: An der Spitze befinden sich die höchstrangigen
leitenden Angestellten, und je weiter man sich in der Hierarchie nach un-
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ten bewegt, desto größer werden die Gruppen von Managern. Einige dieser Pyramiden sind ganz steil, wie eine Bordeauxflasche.
Andere - die effizienteren - sind flacher, wie ein fränkischer Bocksbeutel oder eine portugiesische Roséweinflasche. Immer aber gibt
es dabei eine Gruppe von Aufsehern, Abteilungsleitern und anderen Managern auf der mittleren Ebene, die keine Arbeiter mehr
sind, aber noch keine Miteigentümer oder Aktionäre. Und es ist durchaus nicht ungewöhnlich, daß diese mittleren Manager sich
viel mehr an Autorität klammern (und dabei mit dem Geld des Unternehmens geizen) als die Manager an der Spitze.
Wir erkannten, daß unser mittleres Management jede Menge Streicheleinheiten brauchte, wenn wir Erfolg haben wollten bei
dem, was ich für ein großartiges Experiment zu halten begann. Sie waren wie die Cäsaren in einem römischen Amphitheater:
Daumen rauf, und schon würden wir mit unseren Bemühungen um eine größere Beteiligung der Semco-Arbeiter durchkommen.
Daumen runter, und wir würden den Löwen zum Fraß vorgeworfen.
Unsere mittleren Manager hatten in Studium und Ausbildung noch die traditionelle organisatorische Disziplin gelernt und
damit die zentrale Bedeutung von Strukturen und Überwachungen. Sie waren im Konkurrenzdenken groß geworden und darauf
ausgerichtet, Symbole der Macht auf sich zu vereinen, wie Parkplätze in der Nähe des Tors und geprägte Visitenkarten. Sie liebten
Sprüche wie: »Siehst du diesen viertürigen Wagen dort drüben, den mit der graphitgrauen Metalliclackierung? Das ist mein
Dienstwagen.« Aber Demokratie läßt sich nun einmal nicht mit teuren und überflüssigen Ikonen in Einklang bringen, zumal nicht
mit solchen mit Gürtelreifen. Aber der Verlust von Macht und Privilegien war nicht der einzige Horror für unsere Aufseher - sie
waren auch über das Wachstum von Semco beunruhigt. Mit den Firmenaufkäufen mußten auch Dutzende von neuen Managern und
Hunderte von neuen Arbeitern in unsere Organisation integriert werden. Diese Leute arbeiteten nicht in unserem alten Stil,
geschweige denn in unserem neuen.
Ich beschloß, eine große Versammlung abzuhalten, auf der unsere mittleren Manager ihre Sorgen und Nöte loswerden konnten.
Sie begann an einem Freitagnachmittag um vier Uhr. Etwa 40 Manager waren erschienen. Wir fingen damit an, daß wir sie
aufforderten, die

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Themen zu nennen, über die sie reden wollten, und bevor wir uns versahen, gab es vierzig Wortmeldungen. Bei vielen ging es um
die Autorität - sie wollten sie wieder zurück haben: Arbeiter beispielsweise fürs Zuspätkommen und bei unentschuldigter
Abwesenheit bestrafen oder selbst bestimmen zu können, welche Untergebenen eine Beförderung oder einen Bonus verdienten.
»Sie müssen selbst entscheiden, was Sie lieber wollen«, meinte ein Produktionsleiter bei der Systemgastronomie-Einheit.
»Wenn die Verkaufszahlen und die Bilanzen stimmen sollen, dann müssen Sie uns unsere Leute kontrollieren lassen. Sie fangen
nämlich an zu glauben, daß sie uns nicht mehr folgen müssen, weil sie kommen und gehen können, wie sie wollen, und weil sie
wissen, daß wir sie deshalb nicht rausschmeißen können.«
»Sie meinen, Ihre Macht, jemanden feuern zu können, weil er oft zu spät kommt, hat entscheidenden Einfluß auf den
monatlichen Ausstoß Ihrer Abteilung?« fragte Clovis.
»Darauf können Sie Gift nehmen«, schoß der Produktionsleiter zurück. »Ihr Problem, Clovis, ist es, daß Sie mit diesen
Burschen da unten nichts zu tun haben müssen. Geben Sie ihnen einen kleinen Finger, und dann nehmen sie nicht bloß Ihren Arm,
sondern wollen Sie mit Haut und Haar!«
Die versammelten Manager nickten eifrig. Das ist der Fehler von den Bossen, dachte ich bei mir. Viele von ihnen sind eher
darauf aus, bei anderen Fehler zu suchen und sie zu kritisieren, statt sich mit ihnen gemeinsam um eine Sache zu bemühen. Der
Boß zu sein - das ist es, was für die meisten Bosse zählt. Sie verwechseln Autorität mit autoritärem Verhalten. Sie haben kein
Vertrauen zu ihren Untergebenen.
»Ihr Burschen seid doch nicht imstande, euch an das Budget zu halten, das ihr selbst aufgestellt habt, und nun bringt ihr das als
Ausrede vor«, sagte Paulo Pereira, ein großer, schlacksiger junger Mann, der mit Clovis zu Semco gekommen war und der bei ihm
als unser Personalleiter arbeitete. Im Unterschied zu seinem sanftmütigen Mentor stand er in dem Ruf, unverblümt seine Meinung
zu äußern.
»Quatsch!« schrie ein Produktionsplanungsmanager von der harten Sorte. »All dieses Gelaber ist doch Quatsch.«
»Genau!« brüllte ein Verkaufsleiter. »Und wo kommt all dieser

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Quatsch her? Aus unserer Personalabteilung, die das Geld ausgibt, für das wir uns so abschuften.«
Und so ging es endlos weiter, wobei viele nur mit den Zähnen knirschten und unverständliches Zeug vor sich hin brabbelten.
Die Manager wollten einfach die Spielregeln kennen. Und wir sagten immer wieder: »Gut, sprechen wir darüber. Wir wollen uns
untereinander abstimmen.« Aber ich sah, daß sie das nur noch besorgter machte.
Wir hatten zwar die Kleiderordnung abgeschafft, aber bei dieser Versammlung waren fast alle in Anzug und Krawatte
erschienen. (Frauen waren nicht dabei.) Das war schon ein konservativer Haufen - sie klammerten sich sogar dann noch an eine
starre Hierarchie, als sie ihrem Herzen Luft machten. Als erstes durften die Ranghöchsten sprechen, dann kamen die direkt unter
ihnen Stehenden, die unweigerlich ihren Vorgesetzten recht gaben.
Ich gebe zu, daß ich mehr als nur ein bißchen an diesem »Jasager-Syndrom« schuld war. Das Unternehmen Semco war dafür
bekannt gewesen, daß es seine Manager hart ’rannahm und ohne lange zu fackeln diejenigen feuerte, die ihre vorgegebenen Ziele
nicht erreichten. Ich selbst hatte ja die ganze Chefetage an einem einzigen Nachmittag entlassen - das hatte niemand vergessen.
Also konnte ihnen keiner einen Vorwurf machen, daß sie jetzt zornig, verwirrt und ängstlich waren.
Ich vermutete, daß vielleicht nur 20 Prozent der mittleren Manager tatsächlich meine Bemühungen guthießen, unsere Fabriken
und Verwaltungsbüros demokratischer zu gestalten. Ich hatte den Verdacht, daß weitere 20 Prozent nur Hohn und Spott dafür
übrig hatten, weil sie mich für einen Rebellen im gemachten Nest hielten, der sich solche Mätzchen ja leisten konnte. Es kam also
ganz auf die restlichen 60 Prozent an, ob ich damit Erfolg haben würde.
Wir beschlossen, in der darauffolgenden Woche eine weitere Versammlung für die mittleren Manager abzuhalten. Und noch eine
die Woche danach. Dann wurde sie zu einer allwöchentlichen Einrichtung. Die Tagesordnung war einfach: Wir sprachen nur über
die Politik und Philosophie des Unternehmens. Von innerbetrieblichen Problemen war nicht mehr die Rede. Die Hardliner, die
diese Sitzungen

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für unnütz hielten, sprachen bald vom »Wölkenkuckucksheim«. Aber mir gefiel diese Formulierung, und von da an verwendete ich
sie auch offiziell.
Nachdem das eine Zeitlang so weitergegangen war, wurde klar, daß wir zwei Möglichkeiten hatten: Entweder konnten wir ein
vollständig neues Handbuch schreiben, das unsere ganze neue Politik enthielt und die dahinterstehende Philosophie artikulierte.
Oder wir konnten das alte Handbuch einfach ersatzlos abschaffen. Auf diese Weise würden wir die Leute zwingen, Entscheidungen
nach dem gesunden Menschenverstand zu treffen. Raten Sie mal, was wir taten.
Falsch.
Wir versuchten neue Vorschriften und Regeln festzuschreiben. Wir haben es wirklich gemacht. Aber jedesmal verzettelten wir
uns mit Kleinigkeiten. Nehmen wir zum Beispiel unseren Wagenpark. Um die Kosten zu senken, richteten wir eine Zentralwerkstatt
ein, die sich um die Reparaturen kümmerte, den Kilometerstand verfolgte und den Leuten ein Memo schickte, wenn es Zeit für
einen Reifenwechsel war oder wenn die Zulassung erneuert werden mußte. Aber schon bald geriet diese neue Abteilung in die
Bredouille. Wenn die Dienstwagen nicht mehr funktionierten, riefen die Leute in der Werkstatt an, um sich zu beschweren. Oder es
kam jemand in die Garage, der seinen Wagen dringend brauchte, und stellte fest, daß keine anderen Fahrzeuge zur Verfügung
standen. Abteilungsleiter erhielten Servicerechnungen für ihre Wagen, entdeckten, daß sie diese Kosten in ihrem Budget nicht
entsprechend berücksichtigt hatten, und dann verbreiteten sie überall, daß die Fuhrparkabteilung ineffizient wäre, oder sie ließen
sich sogar von habgierigen ortsansässigen Mechanikern bestechen, die die Reparaturen ausführten.
Daraus zogen wir rasch den Schluß, daß es besser gewesen wäre, gewisse Abteilungen lieber nicht einzurichten und bestimmte
Vorschriften nicht zu erlassen. Am besten wäre eben doch mit Abstand der gesunde Menschenverstand. Aber wir waren vorsichtig.
Wir wollten eine Mannschaft, die ohnehin schon nervös war, nicht noch mehr durcheinanderbringen. Also hängten wir unsere
Entscheidung nicht an die große Glocke. Im Laufe der nächsten drei, vier Monate sammelten wir einfach alle Betriebshandbücher
ein. (Viele Monate später taten wir das gleiche mit unserem Organigramm, von dem wir

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allerdings kaum Gebrauch gemacht hatten.) Von Zeit zu Zeit fragten uns Leute, wann denn die neuen Handbücher fertig wären.
Schließlich kam einigen der Verdacht, daß eine Neufassung gar nicht erscheinen würde, und sie fragten uns nach dem Grund. Erst
dann gaben wir offen zu, was wir uns ausgedacht hatten - daß wir künftig auf fixierte Vorschriften zugunsten des gesunden
Menschenverstands verzichten wollten.
Und das ist das System, das wir heute haben und das eigentlich kaum ein System ist. Wenn Sie bei Semco einen Dienstwagen
bekommen, können Sie damit machen, was Sie wollen. Wenn Sie einen Freund haben, der Mechaniker ist, dann soll er sich darum
kümmern. Wir möchten, daß unsere Mitarbeiter mit den Autos von Semco genauso umgehen wie mit ihren Privatautos. Wir fahren
ganz gut damit, daß sie auf unser Auto genauso achten wie auf ihr eigenes.
Aber einige unserer Leute hatten am Anfang schrecklichen Bammel davor. Wir mußten sie erst ganz behutsam dazu bringen.
Angestellte in unserer Finanzabteilung beispielsweise fühlten sich gar nicht wohl bei dem Gedanken, darüber entscheiden zu
müssen, wie hoch der Mindestsaldo auf den Kostenstellen bei Semco sein sollte. »Tun Sie einfach so, als wäre es Ihr eigenes Konto«,
sagte ich.
»Aber Semco hat so viele Kostenstellen«, erwiderten sie. »Was passiert, wenn wir in einer unerwarteten Situation dringend
Bargeld brauchen?«
Und dann holte ich tief Luft und flehte sie an, einfach ihren gesunden Menschenverstand zu gebrauchen.
Woher kamen eigentlich überhaupt all diese Vorschriften? Ich vermute, sie waren das unglückliche Nebenprodukt bei der
Expansion eines Unternehmens. Wie agiert ein Industriegigant, wenn er wächst? Zunächst kommt das Management zu dem Schluß,
daß ein Unternehmen nicht von einzelnen Menschen abhängig sein kann. Schließlich haben sie eine bestimmte Persönlichkeit und
eine begrenzte Lebenserwartung. Ein Unternehmen sollte doch unpersönlich sein und ewig existieren.
Als nächstes, wie wir alle wissen, spucken Ausschüsse und Sondergremien und Arbeitsgruppen Verfahrensweisen und
Vorschriften aus und tilgen jede Individualität und Spontaneität.

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Auf der Suche nach Gesetz, Ordnung, Stabilität und Vorhersehbarkeit stellen Unternehmen Regeln für jeden nur denkbaren
Fall auf. Betriebshandbücher beruhen auf der Vorstellung, daß ein Unternehmen rationaler und objektiver ist, wenn es alles
schriftlich festhält. Die Normierung von Methoden und ihrer Durchführung bietet neuen Mitarbeitern einen verläßlichen Leitfaden
und sorgt dafür, daß das gesamte Unternehmen ein einziges geschlossenes Image hat. Und so kam es, daß große Unternehmen ohne
Hunderte oder Tausende oder Zehntausende von Regeln und Vorschriften nicht mehr funktionieren konnten.
Klingt doch vernünftig, nicht wahr? Und bei einer Armee oder einem Gefängnis funktioniert das ja auch ganz gut. Aber nicht,
wie ich meine, in einem Unternehmen. Und erst recht nicht in einem Unternehmen, das von seinen Leuten erwartet, daß sie
denken, innovativ sind und möglichst wie menschliche Wesen handeln. All diese Vorschriften jedoch führen nur dazu, Mitarbeiter
vergessen zu lassen, daß ein Unternehmen kreativ und anpassungsfähig sein muß, wenn es überleben will. Vorschriften halten es
nur auf.
Bei Semco gab es besonders komplizierte Vorschriften bei den Reisespesen. Unsere Buchprüfer konnten sich oft stundenlang
darüber ergehen, ob jemand nach einer Geschäftsreise das Geld für Kinokarten zurückerstatten sollte. Na schön, aber was ist mit
Theaterkarten? Was würden wir tun, wenn ein Angestellter in ein Konzert für 45 Dollar gehen würde? Oder 100 Dollar? Und was ist
mit den Anrufen zu Hause? Wie oft sollte das Unternehmen dafür aufkommen? Hielt sich ein Fünf-Minuten-Gespräch noch im
Rahmen? Was ist, wenn ein Mitarbeiter, sagen wir, vier Kinder hat? Genügen 75 Sekunden pro Kind?
Sehen Sie, was ich meine?
Ohne Vorschriften weiß der gesunde Menschenverstand auf all diese Fragen eine Antwort. Nein, ich kann nicht definieren, was
ich unter gesundem Menschenverstand verstehe, aber ich weiß es, wenn ich diese Antworten höre. Einige von unseren Leuten
steigen in Vier-Sterne-Hotels ab, andere, die zuweilen viel mehr verdienen, begnügen sich mit bescheideneren Herbergen. Einige
Leute geben 200 Dollar pro Tag fürs Essen aus, andere kommen mit weniger als der Hälfte aus. Um es auf den Punkt zu bringen:
Wenn wir uns nicht darauf ver-

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lassen können, daß ein Manager in solchen Dingen vernünftig entscheidet, dann sollten wir ihn in drei Teufels Namen auch nicht
los schicken, damit er in unserem Namen Geschäfte macht.
Ein Unternehmen produziert, verkauft, stellt Rechnungen aus und nimmt ein, so Gott will. Es muß nicht wissen, ob die
Taxirechnung, die ein Manager einreicht, sich auf eine Dienstfahrt bezog. Oder ob ein anderer Manager nicht auch in einem Hotel
mit drei statt mit vier Sternen hätte absteigen können. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bewirken Regeln und Vorschriften nur
folgendes:
1. Sie lenken von den Unternehmenszielen ab.
2. Sie bieten leitenden Angestellten nur ein falsches Sicherheitsgefühl.
3. Sie sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Erbsenzähler.
4. Sie bringen Menschen bei, wie man Dinosaurier mit Steinen erlegt und Feuer mit Stöckchen anzündet.
Die Sehnsucht nach Vorschriften und das Bedürfnis nach Innovation sind meiner Ansicht nach unvereinbar. (Sie erinnern sich:
Ordnung oder Fortschritt.) Vorschriften frieren Unternehmen in einem Gletscher ein - Innovation läßt sie darauf Schlitten fahren.
Wir haben herausgefunden, daß wir nahezu auf jede Vorschrift verzichten können, die diese Hauptfeldwebel erlassen, die man
Controller nennt. Das bedeutet nicht, daß nicht irgendwelche Anweisungen von wem auch immer ergehen, der meint, darauf nicht
verzichten zu können - aber unsere Leute haben keine Angst, Richtlinien zu ignorieren, die im jeweiligen Fall nicht anzuwenden
oder unvernünftig sind. Bei Semco gibt es keine absoluten Wahrheiten, noch sind wir darauf aus, daß jeder auf die gleiche Weise wie
andere verfährt.
Die Abschaffung von Regelwerken macht sich noch auf eine andere, wenn auch nicht so offenkundige Weise bezahlt: Die Leute
treffen mehr Entscheidungen selbständig, und zwar Entscheidungen, für die sie gewöhnlich besser qualifiziert sind als ihre
Vorgesetzten.
Wie steht es denn mit wirtschaftlichen Erwägungen? werde ich oft gefragt. Wenn wir bei Semco beispielsweise die Reifen für
unseren gesamten Wagenpark auf einmal kaufen würden, dann würden wir

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doch einen besseren Preis bekommen, als wenn jeder Angestellte die Reifen für sich selbst kauft. Vermutlich schon. Aber wenn
dann unsere Wagenabteilung gewissenhaft und blindlings die allzu konservativen Empfehlungen des Herstellers hinsichtlich des
Reifenaustauschs befolgen würde, so würden wir zweifellos sehr viel mehr Reifen kaufen als jetzt, da wir die Entscheidung unseren
Mitarbeitern überlassen, wann sie einen Reifenwechsel benötigen. Und ich möchte wetten, daß dies auch für viele andere Dinge gilt,
die wir zuvor als Unternehmen eingekauft haben und die nun individuell erworben werden.
Natürlich weiß ich das nicht mit absoluter Sicherheit, da wir diese Einkäufe in unserem nicht mehr so zwangsneurotischen
Budgetsystem nicht im einzelnen verfolgen. Aber wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann holen Sie tief Luft, nehmen Sie
Ihren ganzen Mut zusammen und stecken Sie Ihr Betriebshandbuch Blatt für Blatt in den Reißwolf. Unternehmen sollten sich von
Lebensklugheit leiten lassen, die von Fabrik zu Fabrik, von Arbeiter zu Arbeiter anders sein kann. Andernfalls wird jenen
hartgesottenen Controllern nur das angenehme Gefühl vermittelt, daß das Unternehmen organisiert ist, und Dutzenden von
gestörten Seelen Arbeit verschafft, die besser für irgendeinen sinnvollen Zweck umgeschult werden sollten.
Anfangs war es hart für uns. Aber dank einer gehörigen Portion von Mitgefühl und Beratung ließ der Schock der Gesetzlosigkeit
nach, und unsere mittleren Manager begannen ihren Panzer abzulegen.
Ich erzählte ihnen gern, daß eine Schildkröte Hunderte von Jahren leben könne, weil sie durch ihren Panzer so gut geschützt sei
- aber sie bewege sich nur vorwärts, wenn sie ihren Kopf herausstrecke.

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Kapitel 13: Als die Bananen die Affen fraßen

Sie waren schon seit Stunden hier, an diesem trägen, feuchtwarmen Nachmittag in Brasilien. An einer Seite des langen Holztischs in
der Kantine befanden sich zwei Gewerkschaftsführer und drei Werksarbeiter. Ihnen gegenüber saßen drei leitende Angestellte von
Semco. Sie versuchten alle, einen wochenlangen Streik beizulegen, bei dem es - wie bei den meisten Arbeitsauseinandersetzungen -
um nichts anderes als Geld ging. Aber wie es sich nun einmal für ein Unternehmen gehört, in dem traditionelle unternehmerische
Grundsätze über Bord geworfen werden und die Unberechenbarkeit den Lebensstil bestimmt: Zu diesem Ausstand war es
gekommen, als wir bei Semco freiwillig ein Programm verabschiedet hatten, unseren Arbeitern eine Lohnerhöhung zu bewilligen,
die sie weder verlangt hatten noch erwarteten.
In den drei Jahren, seit uns die Hobart-Werke gehörten, hatten wir voller Stolz festgestellt, wie die Arbeiter sich immer mehr
mit der Rolle identifizierten, darüber zu entscheiden, wie die Firma geführt werden sollte. Sie legten ihre eigenen
Produktionsquoten fest und überarbeiteten die Konstruktion der Schneide-, Schäl- und Knetmaschinen, die sie herstellten. Nun
schwebte die Angespanntheit über dem Verhandlungsort wie ein Geier, der darauf wartete, daß der Löwe seine Mahlzeit beendet.
Das lastende Schweigen am Tisch ließ erkennen, daß beide Seiten noch weit auseinander waren.
Dieser Streik war der achte bei uns in sieben Jahren, aber alle waren so kurz gewesen, daß wir darüber kaum zu Experten
geworden waren, wenn es darum ging, sie beizulegen. Clovis war unser Hauptrepräsentant am Verhandlungstisch, und seine
dreißigjährige Erfahrung als Manager sagte ihm, was in den Köpfen der Männer auf der anderen Seite des Tisches vorging. Die
Arbeiter waren praktisch da-

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mit aufgewachsen, jedem zu mißtrauen, der Geld repräsentierte - selbst jemandem wie Clovis, der damit Karriere gemacht hatte,
daß er versuchte, derartige Gefühle auszuräumen. Wir waren damit in Ipiranga sehr weit gekommen, aber in Zeiten voller Streß
brechen jene frühen, bitteren Gefühle offenbar einfach wieder durch. Clovis lehnte sich zurück, strich sich über den Schnurrbart
und sah seine Gesprächspartner auf der anderen Seite des Tisches an. Was braucht es denn noch, dachte er, um Vertrauen
herzustellen, wenn alles, was wir hier geschaffen hatten, das nicht bewirken konnte? Und welche Ironie des Schicksals, daß der
Streik sich ausgerechnet an unseren Bemühungen entzündet hatte, sicherzustellen, daß wir gerechte Löhne zahlten.
Clovis’ Hauptgegner war der Leiter des Werkskomitees, Joao Soares. Joao war sich seines Charismas zwar durchaus bewußt,
aber noch immer teilte er die Vertreter der Arbeiterschaft in erbitterte Gegner des Kapitalismus und leidenschaftliche
Führernaturen ein. Er selbst fühlte sich keinem von beidem zugehörig. Er hatte schon eine ganze Reihe harter Fabrikjobs hinter
sich und einiges durchgemacht, aber nach ein paar Jahren bei Semco hatte er allmählich geglaubt, ein Unternehmen gefunden zu
haben, das ihm seine Würde und sogar seine Hoffnungen beließ. Als er nun Clovis gegenübersaß, war sich Joao da nicht mehr so
sicher.
Angesichts der heftigen Inflationsschübe der brasilianischen Wirtschaft waren wir uns nicht mehr im klaren, ob unsere Löhne noch
über dem Durchschnitt lagen, wo wir sie halten wollten, damit unsere Belegschaft stabil blieb. Also begannen wir mit einem
Programm zur Neueinstufung der Löhne und Gehälter, und zwar auf allen Ebenen bei Semco. Indem wir uns eine Geschäftseinheit
nach der anderen Vornahmen, glaubten wir, das gesamte Unternehmen in zwei Jahren an das neue Niveau angepaßt zu haben.
Die meisten brasilianischen Unternehmen legten ihre Löhne und Gehälter nach orthodoxen Lohnmodellen fest, wie sie in den
USA und in Europa entwickelt worden waren. Bestenfalls wurden diese unpersönlichen Statistiken von Pseudoexperten angewandt,
die selbst bei ihren gelegentlichen Besuchen in den Unternehmen nur selten auf die Mitarbeiter hörten. Aber sogar der
komplizierteste Plan

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war weit davon entfernt, unser Mitbestimmungsmodell oder unsere besondere Unternehmenskultur in Betracht zu ziehen. Doch wir
mochten diese Tarifpläne aus einem viel simpleren Grund nicht: Sie waren einseitig. Wir wollten unsere Leute in den
Entscheidungsprozeß einbeziehen. Schließlich war es ja ihre Gehaltsanweisung.
Also wandten wir uns an Paulo Pereira, unseren hauseigenen Lohnexperten, und der wartete, wie nicht anders zu erwarten, mit
einer radikalen Schlußfolgerung auf. Die einzig wirklich korrekte Bezahlung, behauptete er, sei der Mittelwert zwischen dem, was
ein Arbeiter seiner Meinung nach bekommen müßte, und dem, was ein Unternehmen sich leisten konnte zu bezahlen. Er wußte
selbst, daß man sich so etwas nur an einer Wirtschaftshochschule ausdenken, aber nicht in einer Fabrik realisieren konnte. Aber
Paulo, ein unerschütterlicher Idealist, machte sich daran, diesen Wert zu ermitteln.
Im typischen Semco-Stil bat er als erstes etwa 30 Fabrikarbeiter und Büroangestellte, andere Herstellungsfirmen aufzusuchen,
die etwa genauso groß wie Semco waren. Dort sollten sie ihre entsprechenden Kollegen befragen und dabei die jeweiligen
Fähigkeiten, Verantwortlichkeiten und Löhne miteinander vergleichen. Es hört sich doch eigentlich völlig vernünftig an, Arbeiter zu
bitten, dies zu tun, aber es ist eben leichter gesagt als getan. Zunächst nämlich hatten wir Mühe, einige Unternehmen dazu zu
bewegen, unsere Arbeiter überhaupt zu empfangen. Aber schließlich hatten unsere Leute dann doch noch vergleichbare Daten über
jeden Job bei Semco zusammenbekommen, vom Generaldirektor bis zum Hausmeister. Und tatsächlich lagen wir hinter den
anderen, zweifellos weil es bei uns eine so geringe Fluktuation gab.
Das Schiffsgerätewerk in Santo Amaro sollte als erstes angepaßt werden, weil es unserer Meinung nach am weitesten
hinterherhinkte. Gleich danach wäre die Systemgastronomie-Einheit an der Reihe.
An jedem Monatsende gab es in Ipiranga für alle Mitarbeiter ein Grillfest. Der Zufall wollte es, daß ein Arbeiter aus Santo
Amaro an diesem Grillnachmittag teilnahm, wo er seinen neuen Kollegen stolz verkündete, er hätte gerade eine vierzigprozentige
Lohnerhöhung erhalten. Fast jeder in Santo Amaro hat eine bekommen, sagte er.
Als er so seine Runde drehte, machte sich Entrüstung breit. Und

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als die Party vorbei war, blieben kleine Gruppen zorniger Arbeiter zurück, die über diesen Skandal miteinander debattierten. Wie
konnten Arbeiter in Santo Amaro eine vierzigprozentige Lohnerhöhung empfangen haben, und die in Ipiranga bekamen nichts?
Ja, wieso eigentlich?
Am nächsten Tag, einem Samstag, war Ultimo. Dutzende von Arbeitern waren im Ipiranga-Werk, um ihre Produktionsquoten zu
erfüllen. Es wäre gewaltig untertrieben zu sagen, daß ihre gewöhnliche Begeisterung durch den neuen Wohlstand in Santo Amaro
einen Dämpfer erlitten hätte. Da die Arbeiter keine Aufsicht brauchten, war niemand vom Management da, der ihnen die ganze
Geschichte von dieser Lohnanpassung hätte erzählen können.
Nachdem er sich das Murren angehört hatte, pinnte Soares eine Notiz an das zentrale Weiße Brett. »Wir sind gelinkt worden«,
stand darauf. »In Santo Amaro haben sie vierzig Prozent mehr Lohn bekommen, aber wir nicht. Wir müssen sofort in den Streik
treten, bis wir gerecht behandelt werden.«
Als die Manager am Montag einträfen, war der Streik in vollem Gange. Es spielte keine Rolle, daß die Fakten
durcheinandergeraten waren - daß nämlich die durchschnittliche Lohnerhöhung in Santo Amaro nur acht Prozent statt vierzig
Prozent betrug und daß jede Erhöhung über 15 Prozent nur schrittweise erfolgen sollte. Genausowenig war es von Belang, daß die
Systemgastronomie-Einheit bei dieser Lohnanpassung als nächste an der Reihe war.
Soares sprach mit dem regionalen Gewerkschaftsführer Geraldo Mello, der sich zufällig an diesem Morgen im Werk befand, und
Mello war darüber noch mehr entrüstet als Joao. »Sie können doch nicht einfach ihre anderen Arbeiter bevorzugen und die Leute
bei Hobart übergehen«, erklärte er Joao. »Denen werden wir es zeigen.«
Als einige von den leitenden Angestellten im Werk davon hörten, gab es die klassische Reaktion: Sie wollten den Streikenden
das Leben so schwer wie möglich machen. Sie schlugen vor, wir sollten die Löhne so belassen, wie sie in der Zeit vor dem Streik
waren, und die Tore schließen, so daß die Arbeiter nicht einfach im Werk herumsitzen konnten, wie sie es gerade alle taten. Sie
wollten sogar, daß wir die Krankenversicherungszuschüsse aussetzten. Aber kühlere Köpfe

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waren der Meinung, wir sollten den gewohnten Semco-Stil beibehalten, ganz gleich, wie man uns provozieren würde, und zu meiner
Erleichterung konnten sie sich durchsetzen.
Ich war längst zu der Ansicht gelangt, daß Gewerkschaften mehr als ein notwendiges Übel waren, nämlich eine der wenigen
legitimen Institutionen, die für Veränderungen am Arbeitsplatz sorgten. Es sind durchaus nicht alle Gewerkschaftsführer
vernünftig, noch ist jede Position der Gewerkschaften akzeptabel. Aber so zu tun, als ob es keine Gewerkschaft gäbe, oder ihr bei
jeder Gelegenheit, mit allen Mitteln und um jeden Preis eins auswischen zu wollen, ist schwerlich als Strategie zu bezeichnen.
Manager in den USA, die angesichts der rapiden Zunahme von gewerkschaftlich nicht organisierten Betrieben Befriedigung
empfinden, sind kurzsichtig. Wer klug ist, fährt alle Antennen aus. Der Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, hat ein größeres
Problem als nur ein beschränktes Gesichtsfeld: Sein Hinterteil ist ein hervorragendes Ziel.
Wir alle kennen die üblichen Methoden, einen Streik zu bekämpfen:
1. Seinen Standpunkt vertreten. Flagge zeigen.
Nicht klein beigeben.
2. Garantieren, daß jeder, der will, auch arbeiten kann-selbst wenn das bedeutet, daß man die Polizei holen muß.
3. Das Eigentum des Unternehmens schützen, notfalls mit Gewalt.
4. Es den Arbeitern schwermachen, indem man das Werk schließt und Vergünstigungen aussetzt.
5. Die Streikenden zu entzweien und herumzukriegen suchen.
6. Wenn alles vorbei ist, die Rädelsführer und wen man sonst noch loswerden will, entlassen und so die anderen einschüchtern.
Doch diese Empfehlungen sind kurzsichtig und kostspielig. Unruhestifter werden wie Unkraut immer wieder nachwachsen, weil das
Management durch seine Methoden gründlich dafür sorgt.
Wenn wir ein Unternehmen übernehmen oder eine neue Fabrik eröffnen, laden wir als erstes die örtlichen Gewerkschaftsführer
ein, uns zu besuchen. Das alte Hobart-Werk hatte dem Himmel gedankt, daß es nicht von den Gewerkschaften entdeckt worden
war, aber wir

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baten die Metallarbeitergewerkschaft, die den Ruf genießt, besonders kämpferisch zu sein, das Werk zu organisieren und dem
Werkskomitee beizutreten.
Die Existenz von Gewerkschaften zu akzeptieren heißt noch lange nicht, daß man automatisch mit ihnen einig sein muß. Wir
haben Gewerkschaftskomitees höflich empfangen - nur um dann auf ihre 19 Forderungen 18mal nein zu sagen. Aber wir wissen um
die Erneuerungskraft der Gewerkschaften und darum, wie wichtig es ist, keine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben. Wer die
Gewerkschaft aus seiner Firma draußen haben will, muß sich bald warm anziehen.
Während eines Streiks halten wir uns an folgende Regeln:
1. Behandle alle wie erwachsene Menschen.
2. Erkläre den Streikenden, daß niemand bestraft wird, wenn sie die Arbeit wiederaufnehmen. Dann bestrafe auch niemanden.
3. Halte nicht fest, wer zur Arbeit kam und wer die Rädelsführer waren.
4. Hole nie die Polizei und versuche auch nie, eine Streikpostenkette zu durchbrechen.
5. Behalte alle Vergünstigungen bei.
6. Verwehre den Arbeitern nicht den Zugang zur Fabrik oder den Gewerkschaftsvertretern den Zugang zu den Arbeitern. Bestehe
aber darauf, daß Gewerkschaftsführer die Entscheidung jener respektieren, die arbeiten wollen, genauso wie das Unternehmen die
Entscheidung jener respektiert, die nicht arbeiten wollen.
7. Feuere niemanden während oder nach einem Streik, aber mach jedem klar, daß ein Streik eine aggressive Handlung darstellt.
Nein, ich bin durchaus kein Absolvent des Patrice-Lumumba-Instituts in Moskau, und um Ihnen das zu beweisen, sage ich Ihnen
bloß, daß Semco zur Zeit des Ipiranga-Streiks nur eine bedingungslose Rückkehr zur Arbeit akzeptiert hat. Wir hielten zwar so viel
vom Dialog wie kein anderes Unternehmen, aber wir haben während eines Streiks niemals mit uns handeln lassen.
Unsere Philosophie war es stets: Fast alle Unternehmen, die sich nach den zuerst genannten Hardliner-Spielregeln richten,
müssen am Ende unter Druck verhandeln und Konzessionen machen, die sie

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später bereuen. Mit anderen Worten: Sie fangen an wie Arnold Schwarzenegger und sind am Ende wie Woody Allen. Bei unserem
Verfahren konnte ein Streik nur auf eine bestimmte Art und Weise beendet werden: Jeder kehrte an die Arbeit zurück, ohne einen
Pfennig für ausgefallene Stunden zu bekommen und ohne daß während des Ausstands irgendwelche Zugeständnisse gemacht
wurden. Erst wenn die Arbeiter wieder zurückkommen, nehmen wir die Verhandlungen auf.
Also erlaubten wir den streikenden Mitarbeitern, das Werk zu betreten und die Kantine für Versammlungen zu benützen.
Frühstück und Mittagessen wurden wie üblich serviert und ebenfalls wie üblich bezuschußt. Gesundheitsfürsorge und andere
Zuwendungen gab es auch weiterhin. Aber wir ließen nicht mit uns handeln.
Während sich der Streik hinzog, verwickelten Manager Arbeiter in der Kantine in inoffizielle Gespräche und versuchten, sie auf ihre
Seite zu ziehen. Jeder, der sich ins Werk hineingetraut hätte, wäre der Meinung gewesen, daß uns nur die Rohstoffe ausgegangen
wären. Die Leute saßen herum, spielten Karten und unterhielten sich. Es gab keine Anzeichen von Feindseligkeit. Einige Arbeiter
wollten ihre Arbeit wiederaufnehmen und glaubten uns, als wir ihnen sagten, wir hätten vor, ihre Löhne bald anzuheben. Die
meisten wollten weiterstreiken.
Dann hielt Mello, der regionale Gewerkschaftsboß, die Zeit für reif, mehr Druck zu machen. Ohne Soares oder die anderen
Mitglieder des Werkskomitees zu fragen, verklagte er uns wegen Diskriminierung. Er war überzeugt, irgendein Richter würde
Semco zwingen, irgendeiner Lohnerhöhung zuzustimmen, und damit würden die Arbeiter und die Gewerkschaft einen Sieg
erringen.
Bevor sich die Angelegenheit herumgesprochen hatte, war bereits ein Gerichtstermin anberaumt worden. Soares schämte sich.
Der Streik war doch bisher so professionell und sogar höflich abgelaufen, und daß die Gerichte angerufen worden waren, wurde als
eine viel zu extreme Taktik empfunden. Ja, vor Gericht kann schließlich alles passieren. Oder, wie wir in Brasilien sagen: Niemand
kann wissen, was aus dem Hintern eines Babys oder aus dem Kopf eines Richters herauskommt.

---OP 134---

»Laß uns doch einen Deal machen, Clovis«, schlug der Gewerkschaftsführer Mello vor, als er wieder vom Gericht ins Werk
zurückkehrte.
»Das Unternehmen wird sich jeder Entscheidung fügen, die das Gericht trifft«, erwiderte Clovis kurz angebunden. Seine
Erfahrung und sein Wissen um das, was im Werk vorging, sagten ihm, daß viele Arbeiter inzwischen bereit waren, eine
fünfprozentige Erhöhung zu akzeptieren - von den 40 Prozent, die sie ursprünglich gefordert hatten, waren sie längst abgekommen.
Immerhin riskierten wir, daß das Gericht eine größere Lohnerhöhung als fünf Prozent anordnen würde, aber wir wollten es darauf
ankommen lassen.
Also sahen wir uns alle vor Gericht wieder. Nach dreistündiger Beratung entschied es, daß der Streik illegal war. Aber auch
wenn die Gewerkschaft nun verloren hatte, hieß das noch lange nicht, daß wir gewonnen hatten - die Arbeiter dachten gar nicht
daran, wieder zu arbeiten.
Am nächsten Tag herrschte im Werk eine ziemlich trübe Stimmung. Am späten Nachmittag suchten mehrere Arbeiter Joao auf
und baten ihn, mit dem Management über eine Bezahlung für die Tage zu sprechen, in denen nicht gearbeitet worden war. Das
lehnten wir zwar ab, gaben aber den Streikenden die Chance, die verlorene Zeit durch Überstunden wieder einzuarbeiten, so daß
ihre nächste Lohnauszahlung nicht geringer als sonst ausfallen würde. Das akzeptierten sie, und damit war der Streik vorbei.
Gegen Ende der Woche schlug Clovis vor, daß sich die Manager und die Streikführer zusammensetzten, um den Ausstand zu
analysieren. Diese Sitzung, die vier Stunden dauerte, hieß später die Versammlung, bei der »die Bananen die Affen fraßen«. Wir
erklärten, daß wir unsere starre Haltung bedauerten. Zum Beweis dafür gaben wir unsere Politik auf, während eines Streiks nicht zu
verhandeln. Joao und seine Leute räumten ein, daß die Notiz am Weißen Brett ein Fehler gewesen war, weil den Arbeitern gar
nichts anderes übriggeblieben war, als zu streiken. Hätte ein Fremder den Raum betreten, er hätte glauben müssen, daß die
Manager Overalls trügen und die Arbeiter Anzüge und Krawatten.
Aus diesem Streik lernten beide Seiten eine ganze Menge. Wir merkten, daß es nicht genügte, partizipativ zu sein. Wir würden
1er-

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nen müssen, besser zu kommunizieren, denn durch nichts werden Streiks so leicht ausgelöst wie durch das, was die Leute
wahrnehmen. Die Arbeiter wiederum erkannten, daß Streiks kaum eine effektive Methode zur Lösung von Problemen darstellen,
und seitdem kommen sie bei Semco auch nur noch selten vor.
Ein paar Monate nach dem Streik wurde übrigens das neue Lohn- und Gehaltsschema bei der Systemgastronomie-Einheit
eingeführt. Die durchschnittliche Erhöhung betrug 18 Prozent. Kein Wunder, daß die Arbeiter ganz aus dem Häuschen waren.
TEIL DREI

Fast alle Unternehmen glauben, daß ihre Mitarbeiter engagiert und an der Firma interessiert und somit ihr größter
Aktivposten seien.
Fast alle Mitarbeiter glauben, daß man ihnen zu wenig Aufmerksamkeit und Achtung erweise und daß sie nicht
sagen könnten, was sie wirklich denken.
Wie kann man diese beiden Positionen miteinander in Einklang bringen?
Die traurige Wahrheit: Mitarbeiter in modernen Unternehmen haben nur wenig Ursache, mit ihrem Job zufrieden zu
sein, geschweige denn, darin Erfüllung zu finden. Die Unternehmen haben weder Zeit noch Interesse, ihnen zuzuhören,
und überdies fehlen Mittel oder Programme, die Mitarbeiter so auszubilden, daß sie beruflich weiterkommen. Die
Unternehmen stellen eine ganze Reihe von Anforderungen, für die sie die Mitarbeiter mit Gehältern entschädigen, die oft
als unangemessen empfunden werden. Darüber hinaus neigen Unternehmen dazu, Arbeiter unerbittlich zu entlassen,
wenn diese älter werden oder in ihrer Leistungsfähigkeit vorübergehend nachlassen; und sie schicken Leute früher in
den Ruhestand, als diese selbst wollen. Dann bleibt bei den Betroffenen das Gefühl, sie hätten noch viel mehr leisten
können, wenn man sie nur gelassen hätte.
Das Zeitalter, in dem man Menschen als Produktionswerkzeuge benutzt hat, geht seinem Ende entgegen. Echte
Teilhabe der Mitarbeiter ist in der Praxis unendlich viel komplizierter als die konventionelle unternehmerische
Einseitigkeit, genauso wie die Demokratie viel mühseliger
---OP 140---

ist als die Diktatur. Aber in Zukunft wird es nur noch wenige Unternehmen geben, die es sich leisten können, beides zu
ignorieren: Partizipation und Demokratie.
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Kapitel 14: Was nützt es uns, daß wir so groß sind

»Ein großes Unternehmen«, hat Henry Ford einmal gesagt, »ist eigentlich zu groß, um noch menschlich zu sein.«
Da staunen Sie, was? Old Henry war doch so stolz auf Ford-Fabriken wie River Rouge, in denen das Fließband anscheinend
überhaupt kein Ende nehmen wollte. Heute sind solche Giganten gefährdet, wenn nicht längst schon obsolet geworden. Riesige
Unternehmen »fahren zurück«, so schnell sie können. Sie sind dahintergekommen, daß die Wirtschaftlichkeit der Größe, die ihr
Wachstum unterstützt hat, nicht ewig besteht. Wenn Sie zu groß werden, erleben Sie ganz schnell die Unwirtschaftlichkeit der
Größe.
Große, zentral gesteuerte Unternehmen fördern die Entfremdung, so wie sich in stillstehenden Gewässern Algen bilden. In
riesigen Konzernen kennt ein Mitarbeiter nur wenige seiner Kollegen. Jeder ist Teil einer gigantischen, unpersönlichen
Maschinerie, und man kann sich unmöglich motiviert fühlen, wenn man den Eindruck hat, nur ein Rädchen in einem großen
Getriebe zu sein. Der Mensch braucht nun einmal Anerkennung. Ohne sie ist für ihn alles sinnlos, und dann wird er unzufrieden,
unruhig und unproduktiv. Stalin hat das gewußt. Die Gefangenen in seinen Gulags mußten gewaltige Löcher in den Schnee graben
und sie dann wieder auffüllen. Das hat sie zerbrochen.
Als Semco wuchs, litten wir bereits unter einigen Symptomen des Gigantismus, auch wenn wir das damals nicht erkannten.
Unsere Vertreter beispielsweise mußten unbedingt jedesmal, wenn sie einen Auftrag erhielten, komplizierte Formulare ausfüllen,
wobei sie genau vereinbaren mußten, was der Kunde wollte, statt einfach den Auftrag und seine Besonderheiten unseren
Ingenieuren, Einkäufern und Herstellern zu erläutern. Das war im Grunde nicht falsch, außer

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daß es einen gewaltigen Papierkrieg auslöste. Aber die Leute im Vertrieb bildeten sich nun einmal ein, ihre Abteilung wäre besser
abgesichert, wenn man schriftlich nachweisen könne, daß der Kunde nicht genau das bekommen hatte, was er wollte. Dann
beschloß unser Konstruktionsbüro, sich die Beschwerden der Werksarbeiter nur noch an Dienstagen und Donnerstagen zwischen 14
und 16 Uhr anzuhören, statt einfach mit den Arbeitern zu reden, wann immer sie einem über den Weg liefen. Das Teamwork, das im
Systemgastronomie-Werk so gut funktionierte, wollte anderswo im Unternehmen einfach nicht klappen. Tatsächlich bildeten sich
unter den Managern gewisse Cliquen, und die meiste Zeit ging es bei Semco erschreckenderweise wie in einer staatlichen Behörde
zu. Wir ließen sogar Gäste an Fabriktoren und in Empfangshallen warten.
Wir reagierten darauf, indem wir genau das taten, was die klassische Betriebswirtschaft in solchen Fällen vorschreibt.
Die Struktur von Semco war ein Funktionssystem, wie Professoren an Wirtschaftsakademien das nennen. Somit waren die
Produktionsleiter in unseren Fabriken dem Produktionsdirektor in unserer Zentrale unterstellt, die Vertriebsleute dem
Marketingdirektor, die Verwaltungsangestellten dem Finanzdirektor und so weiter. Das hört sich doch eigentlich ganz ordentlich
an, aber jeder, der schon einmal in einem diversifizierten Unternehmen mit vielen Fabriken gearbeitet hat, weiß, daß die
Entscheidungen, die in derart umständlichen Organisationsstrukturen getroffen werden, zu einem hohen Prozentsatz schlicht und
einfach falsch sind und außerdem zu viel Zeit brauchen. Es ist ein feudales System, das die Technik vom Verkauf und den Verkauf
von der Finanzabteilung trennt und das Lösungen und Strategien hervorbringt, die nur einer Abteilung auf Kosten einer anderen
etwas nutzen.
Zweifellos aus diesem Grund bevorzugen europäische Unternehmen offenbar eine Organisationsstruktur, die auf einem
Matrixsystem beruht. Weil man erkannt hat, daß ein Computerprogammierer in einem anderswo gelegenen Werk seine
Anweisungen, soll er effizient arbeiten, nicht nur aus dem Büro des Verwaltungsdirektors in der Zentrale erhalten kann, muß der
Glückliche zwei Herren dienen, das heißt, er ist auch seinem Werksleiter vor Ort unterstellt. Das Ma-

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trixsystem bietet einem Manager zwei Informationsquellen, zweierlei Sachverstand, zwei Ansichten zu einem bestimmten Problem
oder Ziel. So wird ein vollständiges Bild ermöglicht. Aber was ist, wenn die Zentrale etwas verlangt, was der Werksleiter vor Ort für
überflüssig hält? Man multipliziere diesen Konflikt mit Hunderten oder Tausenden von Mitarbeitern, und schon wird klar, warum
die Leute in Matrixorganisationen zwar gewiefte Diplomaten sind, aber nicht unbedingt auch große Unternehmer. Sie haben
gelernt, sich in einem Milieu zu behaupten, das den Vereinten Nationen ähnelt, indem sie sich ständig extrem vorsichtig verhalten.
Natürlich kann man keine neuen Ideen ausprobieren, ohne ein Risiko einzugehen oder Fehler zu machen - Leute in Unternehmen,
die nach dem Matrixsystem organisiert sind, tun das im allgemeinen nicht.
Ich weiß das aus eigener leidvoller Erfahrung. Nachdem wir mit dem Matrixsystem geliebäugelt hatten, versuchten wir es 1986
bei Semco mit einem weiteren Organisationsschema: autonomen Unternehmenseinheiten. Wir teilten das Unternehmen in
getrennte Divisionen auf, und jede bekam einen eigenen Generaldirektor. Theoretisch würden all diese Einheiten unabhängig sein.
Das würde unvermeidlich zu Konkurrenzverhalten zwischen ihnen führen, aber wir glaubten, es würde eine gesunde Konkurrenz
sein, die nichts mit einem Krieg zwischen den einzelnen Abteilungen zu tun hatte.
In der Praxis allerdings warf uns dieses autonome System wieder auf eine funktionale Organisation zurück. Die autonomen
Unternehmenseinheiten brauchten nämlich irgendeine Form der internen Koordination, und sie entschieden sich für eine Art von
Funktionssystem im kleinen, bei dem die Manager innerhalb jeder Unternehmenseinheit dem Generaldirektor unterstellt waren.
Und was passierte dann? Es dauerte nicht lange, da beschäftigten sich unsere Manager mit Matrixsystemen, um die
Spannungen abzubauen.
Wir drehten uns im Kreis, und niemand wußte, wo das enden würde.
Doch halt - schließlich hatte ja das Computer-Zeitalter begonnen. Vielleicht konnte uns das Mikrochip-Management helfen.
Bereits im Jahre 1980 hatte Semco erstmals mit Computern gelieb-

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äugelt, als Harro und ich nach New York flogen und einen IBM-PC bestellten. Wir mußten drei Monate warten, bis er geliefert
wurde, und dann die Befehle auf Basic lernen, damit er lief. Und dennoch waren wir bald zu dem Schluß gekommen, daß uns keine
andere Wahl blieb, als das Ganze auf Computer umzustellen, und zwar schnellstens.
Das Problem war nur, daß uns unsere Computerspezialisten überzeugt hatten, wir müßten unbedingt leistungsfähige
Maschinen kaufen, die miteinander kommunizieren konnten - und wir müßten auch hoch bezahlte, schwer zu bekommende und
noch schwerer zu haltende Datenverarbeitungsmanager einstellen, die sie bedienten. Wir spielten sogar mit dem Gedanken, einen
System-Vizepräsidenten zu engagieren, der diese Datengurus koordinieren sollte - den Papst der Prozessoren. Wir liefen doch
tatsächlich einem Burschen namens Osiris nach und versuchten ihn verzweifelt mit allen möglichen Versprechungen bei einem
französischen Unternehmen abzuwerben. Als wir unsere Verhandlungen abgeschlossen hatten, sollte er ein Gehalt bekommen, das
meinem verflixt nahe kam, und auch sonst wäre er geradezu auf Rosen gebettet gewesen. Gott sei Dank nahm er unser Angebot
nicht an. Wir kauften, leasten, mieteten und stahlen fast alles, was uns die Vertreter von IBM, Bull, Fujitsu und Hewlett Packard
vorführten. Aber damals machten wir einfach alles, was im Trend lag. Wir hatten sogar einen Japaner als
Strategieplanungsmanager.
Ein Hunderte von Seiten umfassender Masterplan wurde aufgestellt, der die Hardware und Software aufführte, die wir
brauchten. Kein Zweifel, unsere Datenverarbeitungsabteilung würde das Gehirn des Unternehmens sein. Wir stellten Analytiker,
Organisatoren und Programmierer ein. Wir kauften die tollsten Workstations ein, die wir auftreiben konnten, und klinkten sie in
ein zentrales Datenverarbeitungsnetz ein, das alle unsere Werke miteinander verbinden sollte. Leute, die bis dahin
Lagerkarteikarten mit dem Bleistift auf den neuesten Stand gebracht hatten, wenn neue Lieferungen kamen, würden nun
irgendwelche Codes in Computerterminals eingeben. Oder vielleicht doch nicht? Um sicherzugehen, veranstalteten wir
Gehirnwäschekurse, die aus unseren Buchhaltern Apparatschiks des 21. Jahrhunderts machen sollten.

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Im Nullkommanichts waren unsere alten Systeme außer Betrieb. Das Dumme war nur, daß unsere neuen elektronischen
Systeme noch nicht in Betrieb waren. Wir warteten einen Monat, zwei Monate, ein Jahr. Immer gab es irgendwelche Ausreden: Das
Ausbildungsprogramm war noch nicht abgeschlossen, die Hardware hatte Fehlschaltungen, die Software Viren. Wir brauchten
einfach zu lange, bis wir merkten, daß wir uns auf dem Holzweg befanden.
Ich weiß noch, wie ich die Datenverarbeitungsanlage im Ipiranga-Werk besichtigen wollte, als ich dort zu tun hatte.
»Wir sind kurz davor, loszulegen«, erklärte mir unser dortiger Computer-Jockey Wilmar Fagundes stolz. »Sie wissen ja, daß wir
erst letzten Monat Verstärkung bekommen haben. Wir haben vier Programmierer, drei Systemanalytiker und zwei Organisatoren
gebraucht - aber einer fehlte uns noch. Um das MRPS zum Laufen zu bringen. Das Manufacturing Resources and Planning System.«
Ich nickte bloß.
»Aber nun hängen wir an einem IBM 3090, und zwölf Terminals müssen noch installiert werden«, fuhr Wilmar fort. »Hier sind
die Production Planning Trees.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Schauen Sie, hier«, sagte er und breitete einen Haufen gewaltiger weißer Papierbögen aus, die mit Hunderten winziger
Kästchen bedeckt waren. Wilmar arbeitete noch immer an dem System, so daß der Plan erst von Hand angelegt werden mußte,
bevor er in die Maschine eingegeben werden konnte. »Jeder Posten in der Produktion zerfällt in Teilmengen. Hier ist ein einfaches
Beispiel: ein Geschirrspüler. Wir haben 15 Größen von Geschirrspülern, und von jeder gibt es 11 Varianten. Jede besteht aus etwa
300 Komponenten.«
»Und das ist ein einfaches Beispiel?« wagte ich einzuwerfen.
»Aber ja. Im Werk von Santo Amaro, wo wir das System demnächst installieren werden, gibt es Produkte wie zum Beispiel die
Keksbackanlage. Sie besteht aus 12 000 Komponenten, bei 80 Varianten von 25 verschiedenen Größen. Okay, nehmen wir also zum
Beispiel einen AM-12-Geschirrspüler. Hier ist er« - Wilmar zeigte auf die Liste -, »und hier sind sämtliche Teilmengen. Wie Äste an
einem Baum, klar? Jeder Ast hat wieder eigene Äste, die Komponenten. Und die Komponenten unterteilen sich in einzelne Zweige.

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Hier ist zum Beispiel ein Sprüharm. Sie wissen schon - das drehbare Metallrohr, welches das heiße Wasser aufs Geschirr sprüht.
Wir haben dieses Rohr in verschiedenen Arten von Metall. Sehen Sie, dieser Zweig ist das Edelstahlrohr.« Ich folgte seinem Finger,
wie er über den Plan fuhr. »Dieser Edelstahlarm hat einen Code. Er sagt uns, ob dieser Arm hier hergestellt oder von einem
Zulieferer gekauft wird, oder ob er teilweise hier hergestellt und teilweise von einem Zulieferer gekauft wird. Dieser Arm gehört
übrigens zur dritten Kategorie. Schauen wir uns doch mal den Produktionsablauf an, den er durchläuft - gleich hier auf Bogen
Nummer 257. Äh... 256, 258. Wo ist denn 257?«
Wilmar unterdrückte einen Fluch, als der wohlgeordnete Stapel weißer Bögen auf dem Tisch durcheinandergeriet.
Ich hielt mich dreieinhalb Stunden bei Wilmar auf. Ich sah, wie der Edelstahlarm per Computer bestellt wurde, wie
unbearbeitete Materialien beiseite gelegt wurden - wenn sie vorhanden waren - oder nachbestellt wurden. Wie für das
Bestellverfahren drei verschiedene Kostenvoranschläge erforderlich waren. Wie das günstigste Angebot durch den Vergleich
statistischer Daten hinsichtlich der Lieferung, des Preis-Leistungs-Verhältnisses und der Zahlungsbedingungen ermittelt wurde.
Wie Lagerbestandsposten in verschiedene Kategorien eingeteilt wurden, je nach Gewicht, Kosten und Lagerraum, den sie
beanspruchten. Wie die Muttern und Unterlegscheiben, mit denen der Arm zusammengehalten wurde, aus Stahlplatten hergestellt
wurden, die zunächst auf dem Lagerplatz zusammengetragen und dann per Computer durch sieben verschiedene Bereiche der
Fabrik und drei Produktionsverfahren bewegt wurden: Schneiden, Lochen und Schmieden.
Was für eine mühsame Art, Geld zu verdienen!
Ich bin überzeugt, daß die Leute, die dieses System ausgetüftelt hatten, sich eine automatische, maschinenbetriebene Fabrik
vorstellten, in der Stahlplatten anmutig durch die Hintertür hereinschwebten und elegant verpackte Geschirrspüler zum
Vorderausgang hinausrollten. Nur geht das leider niemals so einfach. Ich habe noch nie eine Fabrik gesehen, in der es nicht zu viele
Muttern für zu wenig Schrauben gibt oder in der keine Regale voller Einzelteile für ein Produkt herumstehen, das gar nicht mehr
hergestellt wird. Selbst

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in Fabriken, die leidlich gut funktionieren, werden die Arbeiter zu Sklaven des Produktionsdrachen, der mit Tonnen von
Einzelteilen gefüttert wird und fertige Produkte ausspuckt. Dieser Drache lächelt nur, wenn man ihn nicht stört oder um Himmels
willen nur ja nicht versucht, neue Verfahren auszuprobieren. Das könnte von Henry Ford aus dem Jahre 1908 stammen, nicht
wahr?
Als die Computer auftauchten, wurden sie zunächst meist für Aufgaben herangezogen, bei denen riesige Datenmengen bewältigt
werden mußten wie bei der Durchführung einer Volkszählung, beim Verfolgen militärischer Bewegungen oder bei der ordentlichen
Abwicklung großer staatlicher Fürsorgeprogramme. Inzwischen ist die Entwicklung auf diesem Gebiet so weit vorangeschritten, daß
eine Maschine, die früher ein ganzes Zimmer einnahm, heute auf einen Schoß oder gar in die Tasche paßt, und diese Maschinchen
haben praktisch in jedem Wirtschaftsbereich Eingang gefunden. Die Menschen können schon gar nicht mehr denken, ohne die
Finger auf einem Keyboard oder einen Bildschirm vor der Nase zu haben. Aber da ist etwas Merkwürdiges passiert: Von Computern
geschaffene Daten, die eigentlich Mittel zu einem Zweck sein sollten, sind zum Selbstzweck geworden. Statt daß sie uns dabei
helfen, Daten zu organisieren, ertränken uns die Computer darin.
Die Explosion der computererzeugten Daten setzte zu einer Zeit ein, als die Unternehmen noch von Managern geleitet wurden,
die nicht dem Computerzeitalter entstammten und die darum von Computerprofis um den Finger gewickelt werden konnten, die ihr
Spezialwissen zu einer Art von Priesterweihe aufmotzten, indem sie sich Zauberworte und heilige Gesänge ausdachten: die mit
Hardware und Software Leute bombardierten, die sich bei Tupperware wohler fühlten; und die dafür sorgten, daß sich die meisten
von uns wie Blödmänner vorkamen. Ältere Manager, die besonders eingeschüchtert waren, dachten bei sich: »Ich werde dieses
Zeug aufhalten, solange ich kann, und wenn das nicht mehr geht, dann tu ich so, als ob ich alles kapiere, was sie sagen, und kaufe so
viel davon ein, wie ich kann.«
Das Ergebnis war der absolut überzogene Einsatz dieser außergewöhnlichen Maschinen. Berichte werden mit Tabellen und
Graphiken und Tausenden von Zahlen aufgebläht, wobei das meiste davon

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unnötig ist und nicht zur Kenntnis genommen wird. Alles ist übertrieben kompliziert und verwirrend geworden - und genau das
sollten Computer uns doch eigentlich ersparen. Ich schäme mich durchaus nicht zu sagen, daß Semco auf der Elektronikwelle
mitschwamm und innerhalb von ein paar Jahren von der Steinzeit ins Raumfahrtzeitalter gelangte. Aber je mehr ich über das
Mikrochip-Management mitbekam, desto mehr begann ich mich davor zu fürchten.
Einmal habe ich eine unserer kleinen Unternehmenseinheiten drei Tage vor Monatsende aufgesucht.
»Wie wird das Ergebnis für diesen Monat Ihrer Meinung nach ausfallen?« fragte ich ganz unschuldig den dortigen
Computerfritzen.
»Das wissen wir bereits. Wir haben die Zahl hier, im Terminal.«
»Wie das denn? Der Monat hat doch noch drei Tage.«
»Nicht für uns - wir hören mit dem Fakturieren vier Arbeitstage vor Monatsende auf.«
Ich war schockiert. Das hieß, daß die Lagerbestände länger zurückgehalten wurden, als es nötig war, wodurch sich die
Zinskosten erhöhten; auch würden bestellte Maschinen tagelang herumstehen, bevor sie das Werk verließen, wodurch die
Frustration bei den Kunden zunahm. Man stelle sich nur einmal vor, Federal Express würde ein paar Tage im Monat nichts weiter
tun, als die Computer zu füttern.
»Nun, wir müssen doch erst das Rechnungsformular ausfüllen, es an die Zentralbuchhaltung schicken, das Batch-Processing
am Zentralcomputer abwarten...«
»Stop!« unterbrach ich ihn. »Warum können Sie nicht einfach die Rechnungen an Ihrem eigenen Terminal bearbeiten?«
»Weil sie dann nicht automatisch im Zentralprogramm der Buchhaltung aufgezeichnet würden, in dem alle ausstehenden
Rechnungen mit Querverweisen versehen werden.«
»Ich verstehe«, sagte ich, obwohl es nicht stimmte. »Fahren Sie fort.«
»Nachdem sämtliche Rechnungen von allen unseren Einheiten gesammelt worden sind - wir führen sie aus steuerlichen
Gründen in numerischer Reihenfolge -, werden sie batch-proc... äh, schubweise verarbeitet, und dann kriegen wir unsere
Rechnungen wieder zurück. Und erst dann können wir unsere Produkte ausliefern.«
»Und wie haben Sie das alles früher gemacht?«

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»Ach, das war sehr primitiv. Wir haben bis zur letzten Minute gewartet und dann die Rechnung ausgeschrieben. Manchmal
waren wir noch spätabends hier und bearbeiteten Rechnungen, damit die monatlichen Verkaufszahlen höher waren.«
»Wie viele Rechnungen haben Sie damals ausgestellt?«
»Etwa 150.«
»Und jetzt?«
»Etwa 120.«
Zwei Tage später lief die Einheit nicht mehr über den Computer und war zum primitiven manuellen System zurückgekehrt. Und
schon bald verzeichnete das Rechnungswesen einen Zuwachs um 15 Prozent, da die Mitarbeiter wieder in letzter Minute
auslieferten und sich mit ganzer Kraft dafür einsetzten, daß fertige Produkte das Werk noch verließen. Innerhalb eines Monats
waren alle anderen Computerterminals in unseren Unternehmenseinheiten wieder an die Zentrale zurückgegangen, und unser
Hauptcomputer dort wurde abgeschaltet. All diese Programmierer oder Keyboardjongleure gibt es bei uns nicht mehr - wir haben
unsere EDV-Abteilung aufgelöst und unseren Systems Master Plan weggeworfen. Wir haben all unseren Technikfreaks eine Chance
gegeben, sich ihren ehrlichen Lebensunterhalt anderswo zu verdienen, und dann haben wir uns aufseufzend zurückgelehnt und uns
entspannt. Typischer Semco-Stil: Wer meint, daß er einen Computer braucht, legt sich einen zu. Alles, was jemand für nötig hält,
bekommt er bei uns auch. Es gibt nur einen Haken dabei: Er muß lernen, selbst damit umzugehen. Wir machen uns längst keine
Gedanken mehr darüber, ob ein Computer mit einem anderen kompatibel ist. Jeder Mikroprozessor genügt sich selbst - zum Teufel
mit diesen wirtschaftlichen Großbestellungen.
Soviel war uns jetzt klar: Entweder übernahm man raffinierte, komplexe Systeme, um mit den Komplikationen fertig zu werden,
oder man vereinfachte alles.
Am Ende entschieden wir uns für letzteres.
Und dafür hatten wir den richtigen Mann: Joao Vendramin, unseren kahlköpfigen, bebrillten Betriebswirt und Tausendsassa -
was für ein unglaubliches Glück, daß wir ihn von den alten Hobart-Werken geerbt hatten. Joao war trotz seiner gelegentlichen
Ausbrüche ge-

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wohnlich ein zurückhaltender und grüblerischer Mensch. Auf jeden Fall wirkte er entspannt, nachdem er sich von seinen Anzügen
und Krawatten getrennt hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie alles kicherte, als Joao sich an unseren Konferenztisch
setzte und die Füße auf die polierte Mahagoniplatte legte. Da er einen Heidenrespekt vor teuren Möbeln hatte, zog er vorher immer
die Schuhe aus. Joao lehnte sich gewöhnlich schweigend zurück. Aber plötzlich mischte er sich ein, zitierte Aristoteles oder
Machiavelli oder gab seine eigene unkonventionelle Meinung zum besten. Das ging so weit, daß die Leute die Stimmung auf unseren
Konferenzen entkrampften, indem sie Sprüche losließen wie: »Wie Joao über unsere Produktionspläne sagen würde - du kannst
nicht mit dem Fahrrad in den Wolken fliegen.« Und er lächelte nur dazu.
Es gab keinen Besseren als Joao, den man in der Welt herumschicken konnte - nur er konnte Unternehmen aufsuchen, welche
die etablierten Regeln brachen oder sie abschafften und sich auf sich selbst verließen. Denn genau das waren die Unternehmen, die
uns unserer Meinung nach helfen konnten, unsere organisatorischen Probleme zu lösen.
Also flog Joao nach Schweden, wo er Fließbandarbeitern bei Volvo zusah, die nicht nur eine einzige Aufgabe hatten, sondern in
kleinen Teams arbeiteten und einen ganzen Wagen zusammenbauten. (Jahre später wurde dieses System fallengelassen, aber
hauptsächlich wegen der Probleme zwischen Gewerkschaften und Management, nicht weil Teamarbeit nicht mehr gefragt war.) In
Delaware besichtigte er W. L. Gore, ein Unternehmen, das die konventionellen Organigramme abgeschafft und eine sogenannte
»Gitterorganisation« eingeführt hatte, bei der es zwischen den einzelnen Arbeitsbereichen keine hierarchischen Beziehungen mehr
gab. Gore hatte die Titel von den Visitenkarten der Manager entfernt und ein System aufgestellt, bei dem das Einkommen der
monatlichen Leistung entsprach und von Mitarbeitergruppen festgelegt wurde, die die Möglichkeit hatten, die Bezahlung eines
einzelnen Mitarbeiters bis auf Null zu reduzieren (was laut Bill Gore, der kürzlich verstarb, dazu führte, daß der Betreffende für
diese Gruppe dann gar nicht mehr arbeitete). Bei Samsung in Südkorea wie bei Toyota, Kyocera, Sharp und TDK in Japan begegnete
Joao anderen Formen der Verbindung von modernen

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Produktionsmethoden und der Einbeziehung von Arbeitern, auch wenn diese Systeme auf kulturell bedingten Eigenheiten wie
Gehorsam und Ehrfurcht vor dem Unternehmen beruhten.
»Mitarbeiter kann man nur dann wie verantwortliche und anständige Erwachsene behandeln, wenn man zuläßt, daß sie wissen,
was um sie herum vorgeht, und daß sie Einfluß darauf nehmen«, erklärte uns Vendramin, als er von seiner Weltreise zurückgekehrt
war. »Und sie beteiligen sich nur dann an den Entscheidungen, die sie selbst betreffen, wenn es in dem Werk, in dem sie arbeiten,
nicht zu viele Leute gibt.
Natürlich gibt es gewisse Methoden, wie man den Leuten weismachen kann, daß es auf sie ankommt, aber sie funktionieren
nicht lange. Irgendwann kommen die Arbeiter darauf, daß sie bei den wirklich wichtigen Entscheidungen nie zu Rate gezogen
werden. Es gibt nur eine Möglichkeit der Veränderung: Man muß jede Unternehmenseinheit so klein halten, daß die Leute
verstehen, was läuft, und das Ihre dazu beitragen.«
Nach Vendramins Diagnose litt Semco bereits unter einem akuten Fall von Übergröße, der durch unsere Akquisitionen und
unseren Erfolg ausgelöst worden war. Die Heilmethode war logisch, wenn auch altmodisch in einem Zeitalter, in dem
Firmenaufkäufe und Konglomerationen an der Tagesordnung waren. Fabriken, die einfach zu groß geworden waren, sollten in so
kleine Einheiten aufgebrochen werden, daß die Leute, die darin arbeiteten, sich wirklich wieder als Menschen fühlen konnten. In
einer kleinen Fabrik ist es möglich, sich mit jedem Kollegen zu duzen, mit den anderen über Pläne und Strategien zu diskutieren,
sich einbezogen zu fühlen. Dazuzugehören.
Vendramins Vorschlag sah vor, daß Semco sich selbst wie eine Amöbe durch Teilung kopieren sollte. Also waren wir bereit, uns
zu teilen.

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Kapitel 15: Teile und gedeihe

»Larifari«, meinte Henrique Pinto naserümpfend. Der dunkelhaarige, schnurrbärtige Generaldirektor unseres Werks in Santo
Amaro war einer von rund einem Dutzend Managern, die sich in einem Konferenzraum in der dritten Etage versammelt hatten.
Ich sah ihn erstaunt an. »Larifari?«
»Die Vorteile, die Sie auf der Tafel aufgeführt haben, sind nicht meßbar, aber die Nachteile sind ganz konkret. Und kostspielig.
Das nenne ich Larifari.«
»Er hat recht«, meinte Clovis. »Was die Verdoppelung von Wachpersonal, Empfangsdamen, Sekretärinnen und so weiter
kosten wird, läßt sich leicht ausrechnen. Motivation und das Gefühl, dazuzugehören, kann man nicht quantifizieren.« Er hielt inne.
»Aber das heißt noch lange nicht, daß der mit den leicht meßbaren Dingen verbundene Geldwert höher ist.«
»Wie sollen wir dann wissen, ob wir die richtigen Entscheidungen treffen?« wandte Henrique ein.
»Überhaupt nicht«, erklärte ich. »Es ist wirklich ein Sprung ins Ungewisse.«
»Wir haben schon früher solche Sprünge getan und sind auf die Schnauze gefallen«, warf Henrique ein. »Nehmen wir nur die
Investition bei Flakt. Vor drei Jahren haben wir sie gekauft, und wir brauchen noch mindestens fünf Jahre, bis wir einen Gewinn
sehen werden.«
»Schon recht, Henrique«, sagte Vendramin, der am Konferenztisch saß, seine unbeschuhten Füße daraufgelegt hatte (wie
immer) und aus dem Fenster sah (wie immer). »Aber die gleiche Entscheidung haben wir bei den Keksbackanlagen gemacht. Wir
haben Hunderttausende von Dollars ausgegeben, ehe sie einen Ertrag abwarfen. Aber dann haben wir alles in einem einzigen Jahr
hereingeholt.«

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»Also was nun?« beharrte Henrique. »Werden wir nun einfach alle Werke teilen, ohne Rücksicht auf die Kosten? Wie haben Sie
das genannt, Joao?«
»Die Amöben-Methode«, sagte Vendramin lächelnd.
Wir hatten über die Amöben-Methode wochenlang diskutiert, ohne einen Schritt weiterzukommen. Die Ingenieure und andere
technokratische Seelen wie Pinto waren skeptisch, ob wir dabei etwas gewinnen würden, selbst wenn durch die Verkleinerung
unserer Betriebe unsere Arbeiter irgendwie produktiver würden.
Aber unsere Probleme - die Konferenzen, die zu lange dauerten, die Machtkämpfe zwischen einzelnen Gruppen von Managern,
die Unmöglichkeit, jedem in einem Werk das Gefühl zu vermitteln, er sei Teil eines Ganzen, die Entfremdung, die ich noch überall
bei Semco bemerkte, das Fehlen von Kathedralenbaumeistern - würden sich nicht von selbst lösen. Sie waren, wie ich glaubte, auf
unsere Größe zurückzuführen, und dafür gab es eine einfache, wenn auch vielleicht kostspielige Abhilfe. Wir würden uns wie eine
Amöbe teilen - und, hoffentlich, gedeihen.
In einigen Fällen würde das bedeuten, daß wir einen Teil der Belegschaft in eine neue Fabrik verlegen müßten. Andere Werke
würden einfach mittendurch geteilt werden - wie das Motelzimmer, das Clark Gable und Claudette Colbert in Es geschah eines
Nachts miteinander teilten. Auf jeden Fall würden die neuen Einheiten genauso wie die, aus denen sie entstanden waren, völlig
autonom sein. Manager konnten im Semco-Stil schalten und walten, wie sie wollten. Unsere zentrale Stabsebene würde sie in
Bereichen wie Buchhaltung und Personalwesen unterstützen und sie, falls gewünscht, in strategischer Hinsicht beraten. Aber wenn
eine Einheit die Leute in der Zentrale nicht brauchte, dann sollte uns das auch recht sein. Wenn ein Werk die Leistung brachte, die
wir alle erwarteten, dann könnten durchaus Monate vergehen, bevor es von irgendeinem aus der Zentrale Besuch erhielte. Wir
würden sie mit unserer huldvollen Mißachtung eher belohnen.
Die anderen Zahlenfetischisten wurden natürlich nicht müde, uns darauf hinzuweisen, daß Vendramins Amöben-Plan mit
gewaltigen Kosten verbunden war. Eine Fabrik, die jetzt noch ungeteilt war, würde künftig alles doppelt haben müssen - vom
Hauspersonal bis

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zur Laderampe und von der EDV-Abteilung bis zum Parkplatz. Die beiden neuen Werke würden auch eine größere Lagerhaltung
mit sich bringen - in zwei Lagerhallen. Und dann wären da noch die besonders aufwendigen Posten wie die Kosten für zusätzliche
Maschinen und der Kauf oder das Leasen neuer Gebäude.
Manchmal hielt sogar ich diese Idee für verrückt. Und dennoch machten wir uns daran, sie umzusetzen, wobei unsere
Entscheidung auf zwei Gefühlen beruhte, auf die Unternehmensmanager normalerweise nicht zu setzen wagen: Intuition und
Glaube.
1986 erlebte Brasilien eine drastische wirtschaftliche Wende. Mit einer neuen Wirtschaftspolitik wurden die Preise eingefroren und
die Inflation von monatlich 25 Prozent auf Null zurückgefahren. Der Finanzminister, ein hagerer, ernsthafter Idealist namens
Dilson Funaro, war fest entschlossen, ein inflationäres Verhalten unter Kontrolle zu bekommen: Jeder hob nämlich die Preise an,
um künftige Preissteigerungen vorwegzunehmen - eine endlose Spirale. Funaro war unheilbar krank - er litt an Lymphdrüsenkrebs
-, und er wußte das auch. Die Inflationsbekämpfung war seine Chance, Geschichte zu machen, und er war entschlossen, sie zu
nutzen, selbst wenn das bedeutete, daß Unternehmen hohe Geldbußen hinnehmen oder schließen mußten und Manager eingesperrt
würden, sobald sie auch nur einen Centavo auf ihre Produkte aufschlügen.
Es spielte keine Rolle, daß die monatliche Inflationsrate nach einem Jahr wieder zweistellig war oder daß ein paar Zulieferer
Mittel und Wege fanden, die Vorschriften zu umgehen, weil sie entweder Rohmaterialien importierten, deren Preise auf frei
gehandelte Dollars lauteten, oder weil sie sich besondere »Frachtkosten« und andere neue Gebühren einfallen ließen oder - noch
besser - ein Monopol auf dem Markt hatten. Aber eine Zeitlang funktionierte der Plan, Funaro war ein Held, und die Nachfrage
nach Produkten aus diesem euphorischen Land stieg.
Unser Werk in Ipiranga hatte sich auf zwei unterschiedliche Produktlinien verlegt: mechanische und elektronische Produkte.
Erstere umfaßte Geschirrspüler, mechanische Waagen, Fleischwölfe, Teigrühr- und -knetmaschinen und Wurstschneidemaschinen;
letztere elektronische Waagen und damit verbundene Drucker, wie sie

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von den Einzelhändlern verwendet wurden. Die elektronischen Produkte stellten uns vor ein Problem. Wir kauften viele
Komponenten von Importeuren, so daß unsere Kosten weiter stiegen. Aber da der Preis für unsere Waagen ohnehin schon
rekordverdächtig war, würden sich die Kunden sofort beschweren, wenn wir unsere Preise anhöben. Uns waren einfach die Hände
gebunden.
Vor dem Wirtschaftsplan hatten wir im Monat bis zu 300 Waagen verkauft und rund drei Millionen Dollar im Jahr
eingenommen. Nach der Einführung des Plans kletterten unsere Verkäufe auf 500, 700 und schließlich 1200 Waagen pro Monat,
aber da unser Preis im Gegensatz zu dem des Zulieferers fest war, verloren wir bei jedem Verkauf Geld. Und das war noch nicht
alles. Das Werk konnte mit der Nachfrage nicht Schritt halten; während sich die Aufträge stapelten, geriet unser Warenbestand
durcheinander - Hunderte von Waagen standen im Produktionsbereich herum und warteten auf einen einzigen Mikrochip, der
einfach nicht kam, so sehr wir auch unseren Lieferanten anflehten. Und das Schlimmste war, daß auch noch zehn Prozent unserer
Waagen ans Werk zurückgeschickt wurden - wegen mangelnder Qualität. Die Kunden schlossen sie in ihren Läden an, die Hunderte
oder Tausende Kilometer weit weg waren, und mußten erleben, wie die Waagen den Geist aufgaben.
Ergebnis; Wir verloren rapide die Kontrolle über das Unternehmen. Damit war das Ipiranga-Werk der ideale Kandidat für die
Amöben-Kur. Wir beschlossen, den Elektronikbereich auszugliedern, und verlegten ihn in ein neues Werk bei Jabaquara, das etwa
15 Kilometer von Ipiranga entfernt war. Die Leitung der neuen Einheit, die wir DBData nannten, sollte ein Mann namens Jose Joao
Fiasco übernehmen. (Lachen Sie nicht - er hieß wirklich so.)
Fiasco war ein schwerer, gut gekleideter Mann mit einem hohen IQ und tadellosen Manieren. Er stammte aus einer Familie der
oberen Mittelschicht und hatte sowohl Maschinenbau wie Betriebswirtschaft studiert. Bisher war er ein erfolgreicher
Vertriebsmanager in Santo Amaro gewesen, hatte aber weder Erfahrungen in der Führung eines Unternehmens vorzuweisen noch
direkten Kontakt mit Arbeitern gehabt. Immerhin war er ein überzeugter Anhänger der Semco-Politik, den Mitarbeitern zu
vertrauen.
Sein Statthalter war Rogerio Ottolia. Ich hatte Rogerio vor zwei

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Jahren kennengelernt, als er noch ein Werk leitete, das Clovis und ich eventuell kaufen wollten. Rogerio beeindruckte uns damit,
daß er unsere hartnäckigen Fragen über Technik, Finanzen und Vertriebsprobleme ebenso engagiert wie gelassen beantwortete. Die
Übernahme kam zwar nicht zustande, aber wir stellten Rogerio bei der erstbesten Gelegenheit ein. Er war von seiner Ausbildung
her Elektronikingenieur, hatte einen beschwingten Gang und leuchtende, dunkle Augen. Und er war ein Mann, der nie um einen
neuen Einfall verlegen war.
Und nun packten sie die Maschinen und das Lager ein und übersiedelten mit 30 anderen Mitarbeitern in ihre neue, 1350
Quadratmeter große Werkshalle. Sobald sie sich dort eingenistet hatten, führte die zum größten Teil noch junge Belegschaft, unter
der sich auch einige Elektronikfachleute befanden, eine völlig neue Unternehmenskultur ein. Die Kids, wie man sie bald nannte,
stellten das Ersatzteillager auf den Kopf und entdeckten unter anderem teure integrierte Schaltkreise, die drei Jahre für Waagen
gereicht hätten, die nicht mehr produziert wurden, mehrere hundert Displays, die nicht zum Gehäuse der Waagen paßten, die sie
herstellten, sowie Hunderte von Transistoren, die bei keiner Waage funktionierten, aber aus irgendeinem Grund nie an den
Zulieferer zurückgeschickt worden waren. Der Schuldige war unser MRPS-Programm gewesen, das einige Teile doppelt und dreimal
soviel wie nötig bestellt hatte. Da die Kids etwas Derartiges nicht mehr erleben wollten, richteten sie ein auf den aktuellen Bedarf
zugeschnittenes Lagersystem ein und installierten ein Kanban-System nach brasilianischer Art, das auf jenem japanischen System
beruhte, bei dem die Komponenten und Rohmaterialien je nach ihrer Verwendung im Fertigungsprozeß farbig codiert und in der
Nähe der Maschinen gelagert werden, so daß die Arbeiter sofort sehen, was ihnen auszugehen droht.
Schon bald waren die Verkäufe bei der neuen Einheit der Fertigungskapazität angepaßt, und die defekten Waagen wurden
zurückgerufen und repariert. Nach ein paar Monaten bereits war DBData Semcos Flaggschiff - die Produktivität war doppelt so
hoch wie bei der Systemgastronomie-Einheit, die Lagerbestände waren um 40 Prozent reduziert, und die Reklamationen machten
weniger als ein Prozent aus.

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Wie kam es zu diesem Erfolg? Die Kids hatten alles von Grund auf neu gemacht. Jeder Tag begann mit einer kurzen
Versammlung, bei der sich alle Mitarbeiter einfanden, die im japanischen Stil weiße Overalls trugen. Die Finanzdaten wurden
regelmäßig am Weißen Brett bekanntgegeben, und offene Büros sorgten dafür, daß jeder zu jedem leicht Zutritt hatte. Meine liebste
Neuerung war ein Brett am Werkseingang, auf dem der Name jeden Mitarbeiters stand, neben dem sich ein hölzerner Haken
befand. Wer morgens kam, hängte eine von drei Metallmarken an den Haken: Eine grüne Marke stand für »Gute Laune«, eine gelbe
für »Vorsichtig!« und eine rote für »Heute nicht - bitte«. Vielleicht war es nur ein Gag, aber die Kids nahmen das ernst, überlegten
sich genau, welche Marke sie hinhängten, und beachteten die der anderen.
Normalerweise dominierten übrigens die grünen Marken.
Die übrigen Mitarbeiter in Ipiranga wurden auf zwei Einheiten verteilt: Die einen stellten Geschirrspüler her, die anderen die
Schneide- und Schälmaschinen und weitere Geräte zur Verarbeitung von Nahrungsmitteln. Auch dort hob sich die Stimmung,
besonders bei der Geschirrspülereinheit, wo die Fließbandarbeiter einen Schritt weiter gingen als das Schneidemaschinen-Team:
Sie veränderten das Produktionssystem, indem sie die Komponenten in der Werkshalle lagerten und in Teams arbeiteten, die sich je
nach Bedarf an verschiedenen Stellen des Werks aufhielten, statt an ein und demselben Platz zu verharren. Ein Schweißer baute
vielleicht an einem Tag Maschinen zusammen, während er am nächsten einen Gabelstapler fuhr. Genauso wanderten
Maschinenschlosser von Gerät zu Gerät, je nachdem, wo sie gebraucht wurden.
Die Skeptiker hatten stets behauptet, daß wir viel mehr Leute und Maschinen brauchen würden, wenn die Werke einmal geteilt
wären. In der Tat hatte jedes unserer drei neuen Zweigwerke sein eigenes Management, seine Vertriebsleute und seine
Finanzabteilung. Aber was die Belegschaft betraf, erlebten wir eine Überraschung. Wir hatten jeden der drei Generaldirektoren
aufgefordert, sich die Leute auszusuchen, die sie in ihren Einheiten haben wollten - so wie Kinder Mannschaften für ein Spiel
bilden. Iotti, der die Geschirrspülereinheit übernahm, und Wilmar Fagundes, unser Computer-Jockey, der

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nun die Einheit für die mechanischen Produkte leiten sollte, stellten ihre Wunschlisten auf. Wir zählten beide zusammen, nahmen
noch die Leute dazu, die mit Fiasco bei DBData arbeiteten - und stellten erstaunt fest, daß es noch immer rund ein Dutzend Arbeiter
gab, die nirgendwo eingeteilt waren. Jeder Manager hatte vor, mehr Subunternehmer von draußen einzusetzen und seinen
Mitarbeitern verschiedene Aufgaben zu übertragen, so daß sie effizienter arbeiten würden. (Die überzähligen Leute wurden meist
für andere Jobs umgeschult.)
Wie bei DBData verbesserte sich in den beiden Ipiranga-Divisionen die Qualität. Und alle drei Einheiten begannen schließlich
ihre Produkte einen Tag nach Auftragseingang auszuliefern, was es weder in der Geschichte der Hobart-Werke noch bei Semco
jemals gegeben hatte.
Statt durch die Teilung unserer Werke Ausschuß zu produzieren, bauten wir ihn ab. Ich vermute, als Ipiranga größer und
komplexer wurde, hatten sich mehr Nischen und Winkel gebildet, in denen sich unwichtige oder unproduktive Mitarbeiter
verstecken konnten. Es wurden auch viel zu viele überflüssige Papierkriege geführt.
Wann ist etwas Großes zu groß? Der englische Autor Anthony Jay hat uns in seinem Buch The Corporation Man daran erinnert,
daß wir fünf Millionen Jahre lang Jäger und Sammler und fast 300 Generationen lang Ackerbauern und Viehzüchter gewesen
waren, während unser Industriezeitalter demgegenüber nur einen Wimpernschlag gewährt hat. Praktisch seit es Menschen gibt,
haben wir immer kleinen Gruppen von normalerweise fünf bis fünfzehn Leuten angehört. Wie kann ein Unternehmen nur eine so
uralte Erfahrung ignorieren und erwarten, daß sich seine Mitarbeiter an Gruppen von 1000, geschweige denn 10000 Menschen
anpassen?
Selbstverständlich sollten Sie 10000 Arbeiter einstellen, wenn Sie die entsprechenden Produkte und Märkte haben. Nur sollten
Sie sie in kleinen Unternehmenseinheiten zusammenfassen. Ein Unternehmen kann mit seinen 1000 Mitarbeitern geradezu
gigantisch sein, wenn sie alle unter demselben Dach arbeiten. Umgekehrt gibt es kleine Unternehmen mit über 50000 Arbeitern,
aber hier arbeiten nicht mehr als ein paar hundert Menschen miteinander. Tatsächlich

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gibt es bei Semco kein Programm, das nicht auch in einem Unternehmen mit 5000,10000 oder 100 000 Mitarbeitern funktionieren
würde - solange es nicht zu Gigantismus kommt, weil man die Belegschaft auf kleine Einheiten verteilt hat.
Wann ist etwas Kleines klein genug? Für manche Unternehmen lautet die magische Zahl 500. Für andere mag das Maximum
ein paar Dutzend betragen. Normalerweise allerdings werden Menschen ihr Leistungspotential nur dann ausschöpfen, wenn sie fast
jeden in ihrer Umgebung kennen, und das ist im allgemeinen bei nicht mehr als 150 Menschen der Fall. Jedenfalls nach unserer
Erfahrung. Auf der anderen Seite hatten wir nicht mehr als 200 Mitarbeiter, ehe wir die Fabrik in Ipiranga aufteilten - aber die
Hauspost brauchte zwei Tage, um von einer Abteilung zur anderen zu gelangen, und das bei einer Entfernung von weniger als 300
Metern. Da war er wieder, der Gigantismus.
Gewiß, manche Fabriken sind schwerer zu teilen als andere. Man kann nicht einfach einen Teil eines Autofließbands nehmen
und ihn auf die andere Seite der Stadt verlegen. Es kommt ganz darauf an, die richtigen Kriterien für eine Teilung herauszufinden -
an Hand der Produkte, der Märkte, der Maschinen, von was auch immer. Und wenn es unmöglich ist, die Anlage zu verlegen, dann
teilen Sie eben die bestehende Fabrik in zwei Einheiten, aber sorgen Sie dafür, daß in jeder Einheit andere Leute für Bereiche wie
Vertrieb, Marketing, Herstellung, Finanzen, Personalwesen und alles übrige zuständig sind.
In Zeiten eines kräftigen Wirtschaftswachstums haben wir die Erfahrung gemacht, daß unsere geteilten Werke mehr
eingebracht haben als in entsprechenden Zeiten zuvor, als sie noch größer waren. Und wir haben auch festgestellt, daß kleinere
Fabriken sich in schlechten Zeiten oder in einer Krise viel schneller erholen als größere.
Nach all dem bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß das Wirtschaften im großen Maßstab eines der am meisten überschätzten
unternehmerischen Konzepte ist. Es besteht natürlich auch weiterhin, aber es führt viel eher zur Mißwirtschaft, als den meisten
Menschen klar ist.

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Kapitel 16: Die Irren übernehmen die Anstalt

Der nächste Kandidat für eine Teilung war das Werk in Santo Amaro. Wir entschieden, daß die Abteilung für Schiffsprodukte mit
ihrem gesunden Auftragspolster über ihren angestammten Platz hinausgewachsen war und sich einen neuen Standort suchen
mußte. Wir begannen die Suche auf die übliche Art, indem wir alles dem Generaldirektor des Werks überließen und unsere Pläne
geheimhielten, damit keine Unruhe unter den Mitarbeitern aufkam. Der Manager nahm Kontakt zu mehreren Immobilienmaklern
auf, und schon bald hatten sie mehrere interessante Gebäude gefunden. Das Dumme war nur, daß sie sich an Orten befanden, bis zu
denen viele von unseren Arbeitern - besonders diejenigen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen waren - eine Ewigkeit
brauchen würden, so daß wir Gefahr liefen, eine Menge von ihnen zu verlieren.
Dann merkten wir, daß wir diese Suche auf eine Art und Weise durchführten, die im Gegensatz zu unseren neuen Prinzipien
stand. Wir handelten nicht partizipativ. Also beriefen wir eine Versammlung aller 120 Mitarbeiter der Einheit ein und legten ihnen
sämtliche relevanten Fakten dar: den Grund für die Verlegung, das Budget für den neuen Standort und alles andere, was uns dazu
einfiel. Dann wurden Suchkomitees gebildet, und am darauffolgenden Montag warteten die Arbeiter mit Dutzenden von
Vorschlägen für einen Standort auf.
Ein paar Wochen später machten wir das Werk für einen Tag dicht und karrten alle mit Bussen an die drei Orte, die am ehesten
in Frage kamen. Und nach einer Reihe von Versammlungen suchten sich die Arbeiter ihren nächsten Arbeitsplatz aus: eine
leerstehende Fabrik, nicht weit vom Werk von Santo Amaro, an einer Straße, die Nacoes Unidas (Vereinte Nationen) hieß.

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Es war in jeder Hinsicht eine ausgezeichnete Wahl - fast in jeder Hinsicht: Die Fabrik befand sich in der Nähe einer Firma, die
häufig bestreikt wurde. Niemand im Management wollte bei diesem schrecklichen Krieg zwischen Arbeiter und Managern in der
ersten Reihe sitzen, aber wir zogen dennoch um. Wir dachten nie daran, uns über die Entscheidung unserer Arbeiter
hinwegzusetzen, denn sonst wäre unsere Glaubwürdigkeit zum Teufel gewesen.
Nachdem sie ihr neues Werk gefunden hatten, gab es für unsere Arbeiter kein Halten mehr. Sie organisierten ihre Arbeit auch neu,
und dabei brachten sie uns alle einen riesigen Schritt weiter.
Statt eine Reihe von Drehbänken aufzustellen, dann eine Reihe von Schweißapparaten und so weiter - alles an einem langen
Fließband à la Henry Ford -, bildeten die Arbeiter kleine Gruppen mit verschiedenen Maschinen. Dahinter stand die Idee, daß jede
dieser Gruppen ein Team darstellte, dessen Angehörige ein Produkt von Anfang bis Ende gestalten und damit auch die
Verantwortung für die Produktqualität übernehmen würden und die nicht zuletzt durch die gewaltige Befriedigung belohnt würden,
die mit der Bewältigung einer Aufgabe verbunden ist. Mehr noch: Diese Arbeiter würden alle wissen, wie jede Maschine in ihrer
Gruppe, nicht nur eine einzelne, zu bedienen war, und sie würden auch alles andere mit erledigen - sogar ihre Materialien mit dem
Gabelstapler aus dem Lagerraum holen. Diese Art der Organisation, eine sogenannte Fertigungszelle, war zuerst von den Arbeitern
an der Geschirrspül-Fertigungsstraße im Ipiranga-Werk eingeführt worden.
Frederick Winslow Taylor wäre damit ganz und gar nicht einverstanden gewesen. Ehe es einen Henry Ford gab, gab es einen
Frederick Winslow Taylor. Ja, ohne einen Frederick Winslow Taylor hätte es keinen Henry Ford gegeben. Er war, mehr als jeder
andere, der Pate der modernen Fabrik, in der Tausende namenloser, gesichtsloser Robotergnadenlos stereotype Aufgaben unter den
stets wachsamen Augen von Aufsehern verrichten. Taylor war überzeugt, daß Arbeiter dann am effizientesten waren, wenn ihre
Tätigkeit aus einer kleinen Zahl verschiedener Bewegungen bestand, die alle wissenschaftlich ausgetüftelt waren und ihrer
Anatomie entsprachen. Taylor zerlegte komplizierte Fertigungsprozesse in zahlreiche solcher Aufgaben, die

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jeweils einer Gruppe von Arbeitern übertragen wurden. Diese Segmentierung und Spezialisierung der Arbeit, sorgfältig in starren
Arbeitsplatzbeschreibungen festgehalten, war, wie Taylor behauptete, der unbestreitbare Schlüssel zu maximaler Produktivität. Und
so schaufelte denn ein Arbeiter Kohle aus einem Kasten auf einen Haufen, ein anderer nahm eine Schaufel Kohle vom Haufen, trug
sie ein paar Schritte und ließ sie auf einen anderen Haufen fallen, und wieder ein anderer schaufelte die Kohle von diesem zweiten
Haufen auf ein Förderband. Und alle drei schufteten sich unter den wachsamen Augen eines Vorarbeiters ab. Man multipliziere
diese finstere kleine Szene mit Hunderten oder gar Tausenden von Arbeitern, und schon hat man die heutigen gigantischen Tempel
der Massenproduktion vor sich.
Dabei sind die reinen Lehren des Taylorismus keineswegs auf Fabriken beschränkt. Vor ein paar Jahren wurde die unbeweint
dahingeschiedene Eastern Airlines an Texas Air verkauft - ein vielfach kleineres Unternehmen. Was hat zu dieser merkwürdigen
Umkehrung geführt? Ich meine: Taylor und seine Arbeitsplatzbeschreibungen. Jahrelang beherrschte die Eastern viele der besten
Routen an der Ostküste der USA. Die Fluggesellschaft verzeichnete ein stetiges Wachstum, aber nun wollten ihre Piloten,
Stewardessen und ihr Bodenpersonal unbedingt genau detaillierte Arbeitsplatzbeschreibungen. Unterstützt von ihren
Gewerkschaften, hielten sich die Angestellten der Fluggesellschaft strikt an das, was in diesen Beschreibungen vorgegeben war, und
weigerten sich, etwas anderes zu tun. Wenn ein Gepäckmann gerade nichts zu tun hatte, sprang er keineswegs am Flugschalter oder
bei der Wartungsmannschaft ein, wenn Not am Mann war. Eastern mußte mehr Mitarbeiter einstellen, während Arbeiter, die
bereits auf der Lohnliste standen, nicht ständig beschäftigt waren.
Im Gegensatz dazu stellte Texas Air gewerkschaftlich nicht organisierte Mitarbeiter ein, die bereit waren, alle möglichen
Aufgaben zu übernehmen. An seinen freien Tagen konnte ein Pilot durchaus Flugscheine verkaufen; in Stoßzeiten konnte ein
Flugbegleiter das Gepäck versorgen. Texas Air überflügelte Eastern und schluckte schließlich den viel größeren Konkurrenten, der
ineffizient geworden war und viel zu viele Mitarbeiter hatte. (Ich will damit nicht sa-

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gen, daß Texas Air nicht auch Probleme hatte, die meines Erachtens hauptsächlich darauf zurückzuführen waren, daß man den
Mitarbeitern zu wenig das Gefühl vermittelte, in das Unternehmen einbezogen zu sein.)
Immer wenn ich mich in einer konventionellen Fabrik befinde, muß ich daran denken, wie wenig Fortschritte wir doch seit
Taylor gemacht haben. Noch immer vermag er Studenten an Managementakademien einzuschüchtern. (Ob es an seinem
eindrucksvollen Namen liegt? Vielleicht würde man es sich leichter herausnehmen, seine Lehren in Frage zu stellen, wenn man sich
daran erinnerte, daß er weder am M.I.T. noch an der Stanford Business School studiert hat.) Ich glaube, Taylors präzise
Arbeitsplatzbeschreibungen schränken das Potential der Arbeiter ein, verhindern, daß die Arbeit auch Spaß machen kann, und
dämpfen damit die Motivation. Wieviel besser könnten doch Arbeitsplatzbeschreibungen sein, wenn sie nicht einfach nur das
enthielten, was Mitarbeiter zu tun haben, sondern auch das, was sie tun wollen.
»Werter Herr«, würde Taylor nun zweifellos fragen, wenn er könnte, »ist Ihre Fabrik nicht auf dem besten Wege, ein
ungeheures Chaos zu werden?«
In der Welt, mit der Taylor vertraut war, vermutlich schon. Niemals hätte er ein System geduldet, in dem - je nachdem, was an
Arbeit anfällt - ein Arbeiter eine Drehbank oder eine Schleifmaschine bedienen, das fertige Produkt zusammenbauen, die
Maschinen warten, einen mit Ersatzteilen beladenen Gabelstapler fahren, den Arbeitsbereich mit aufräumen oder sogar die Wände
in seiner Ecke im Werk streichen könnte. Taylor wäre entsetzt, wenn Arbeiter damit begännen, ganz von sich aus erst Ding A zu
produzieren und dann Ding B zusammenzuschrauben. Oder wenn sie dahinterkämen, daß es nicht verboten ist, Vorschläge zu
machen, Neuerungen einzuführen oder einfach bei der Arbeit zu pfeifen.
In einem solchen System sind Motivation und echtes Interesse statt im voraus festgelegter Routineabläufe und brutaler
Vorarbeiter die wahren Triebfedern der Produktivität. Das ist der Unterschied zwischen Taylorismus und Semcos Fertigungszellen.
Wir glauben nicht an diese Art von Arbeitsteilung. Unsere Arbeiter sollen wissen, daß sie Teil eines Ganzen sind. Und wir wollen,
daß sie selbst her-

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ausfinden, wie sie ihre Arbeit am besten tun können. Vermutlich werden sie dabei effizientere Formen entdecken, als es Taylor und
seinen Anhängern je möglich gewesen wäre.
Von unserer Systemgastronomie-Einheit und unserer Abteilung für Schiffsprodukte ausgehend, breiteten sich die Fertigungszellen
im ganzen Semco-Konzern aus. Ich nehme an, diese Formen sind vom Werkskomitee in Zusammenarbeit mit unserem
Konstruktionsbüro entwickelt worden. Aber ich bin mir da nicht sicher. Es ist jedenfalls ein spontaner Prozeß, der in jedem Werk
anders abläuft.
Aber während diese Zellen unsere Arbeiter glücklich gemacht haben, riefen sie bei einigen unserer Finanzgenies Sodbrennen
hervor. Die Zellen sägten nämlich den Ast ab, auf dem diese Verfechter der Lohnsysteme hockten, und verurteilten sie zu hundert
Jahren Einsamkeit. Topmanager ziehen nämlich fast immer die Ruhe traditioneller Methoden dem Risiko offenkundiger
Desorganisation vor, das jedes Unternehmen eingeht, welches seine Mitarbeiter langsam von Arbeitsbedingungen befreit, die auf zu
schmalspurig definierten Parametern beruhen.
Mit ihrer Mäkelei unterschieden sich unsere Manager durchaus nicht von einigen Gewerkschaftsführern, die nicht lange
fackelten und uns daran erinnerten, daß die Arbeiter ja alle Arbeitsplatzbeschreibungen hätten, denen zufolge ihr Lohn genau
festgelegt sei. (Ich vermute, damit sind auch sie Tayloristen.) Was würden denn diese »mehrdimensionalen« Arbeiter bei Semco
bekommen? Würden sie wie Schweißer oder Gabelstaplerfahrer oder Maschinenschlosser bezahlt werden? Natürlich hätten es die
Gewerkschaften am liebsten gehabt, wenn wir sie so bezahlten, als würden sie die ganze Zeit in der lukrativsten Kategorie arbeiten.
Also wenn jemand nur dreißig Prozent seiner Arbeitszeit als Maschinenschlosser arbeitete und die übrige Zeit einen Gabelstapler
fuhr, dann würde er trotzdem als höher bezahlter Maschinenschlosser gelten.
Damit waren wir natürlich nicht einverstanden. Aber es kam genausowenig in Frage, daß wir Buch darüber führten, was ein
Arbeiter in jeder Minute tat. Statt dessen entwickelten wir eine »Arbeitskorb-Methode«: Jedes Jahr stellen unsere Arbeiter fest,
welche verschiedenen Arbeiten sie verrichtet und wieviel Zeit sie in etwa darauf ver-

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wendet haben. Dann brauchen sie nur eine Lohntabelle zu Rate zu ziehen und sich auszurechnen, was sie zu bekommen haben.
Sobald sich ihre Arbeit und ihre Tätigkeiten ändern, ändert sich auch ihre jeweilige Lohnformel.
Einigen Managern bereiteten die Zellen einen ganz besonderen Kummer. Wenn wir unsere Arbeiter ihre Fabriken übernehmen
ließen, fürchteten sie, dann würden sie uns niemals irgendwelche Maschinen einführen lassen, die Arbeitsplätze vernichten würden.
Aber unsere Arbeiter wußten ganz genau, wie sehr uns arbeitssparende Maschinen konkurrenzfähig machten, und es ist immer
wieder vorgekommen, daß ein Werkskomitee tatsächlich eine neue Maschine befürwortete, die wir nach Meinung der Arbeiter
brauchten, selbst wenn dabei einige Arbeitsplätze verlorengingen.
Darüber hinaus organisieren die Arbeiter in unseren Zellen immer mehr den Herstellungsprozeß. Sie übernehmen die
Qualitätskontrolle. Bislang hatten wir in jeder Einheit eine eigene Abteilung, die unsere Produkte prüfte und beurteilte. Aber im
Laufe der Zeit übernahmen unsere Arbeiter diese Aufgabe, so daß wir diese Jobs einsparen konnten. Die Arbeiter kümmern sich
auch darum, neue Mitglieder für ihre Teams zu gewinnen oder abzulehnen. Heutzutage muß jeder, der sich bei Semco
beispielsweise als Maschinenschlosser bewirbt, ein Vorstellungsgespräch mit einer Gruppe von Maschinenschlossern bestehen -
nicht mit einem Manager; das ist so ziemlich das Schlimmste, was ihm passieren kann: Mit einem Manager könnte er ja vielleicht
noch klarkommen, aber an Leuten, die ihren Job ganz genau kennen und vielleicht eines Tages seine Kollegen sind, kommt er nicht
so leicht vorbei. Wenn die ja sagen, dann bekommt der Betreffende auch seinen Job. Mir ist jedenfalls kein Fall bei uns bekannt,
daß die Arbeiter gegen jemanden waren, während sich ein Manager darüber hinweggesetzt und ihn eingestellt hat. Ich kann mir
auch nicht vorstellen, daß ein Semco-Manager ein derartiges Risiko eingeht. Umgekehrt ist es auch noch nicht vorgekommen, daß
jemand von sämtlichen Arbeitern für gut befunden, aber vom Manager abgelehnt wurde. In unserem System ist es eben einfach
nicht möglich, daß eine einzige Person alle andern überstimmt.
Kann ich definitiv sagen, daß unsere Fertigungszellen Semco mehr Profit gebracht haben? In mancher Hinsicht ist es gar nicht
so

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einfach, die Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Tatsächlich haben unsere Fertigungszellen für die sogenannte
Wirtschaftlichkeit im großen Maßstab nicht viel übrig. Statt daß wir beispielsweise 20 Maschinengehäuse auf einmal kaufen, kaufen
wir davon im allgemeinen nur kleinere Mengen ein, da viele Teile direkt in der Zelle gelagert werden, wo es keinen Platz für
Reserven gibt. Das ist natürlich teurer als ein Großeinkauf.
Auf der anderen Seite können große Lagerbestände von Gehäusen Kapital binden. Unsere Lagerkapazitäten sind mit der
Einführung der Zellen unglaublich geschrumpft, und jedes Jahr schaffen wir immer mehr Lagerräume ab. In einigen unserer
Einheiten werden die Lagerbestände bis zu 17mal im Jahr komplett umgesetzt-gegenüber durchschnittlich knapp über drei solcher
Rotationen in den meisten Industriebetrieben.
In einigen Fällen dauert die Herstellung eines Produkts in den Zellen länger als an einem herkömmlichen Fließband. Dafür
werden die Lieferzeiten immer kürzer. Und wir können uns all diese Abteilungen für die Qualitätskontrolle sparen.
Vor allem aber haben die Arbeiter in unseren Zellen viel interessantere Jobs als ihre Kollegen anderswo, die den ganzen Tag
immer nur die gleichen, simplen Handgriffe wiederholen. Und diese Zellen haben die Menschen einander auch viel näher gebracht,
so daß das Betriebsklima in unseren Werken viel besser ist. Und das wirkt sich eben auch in höherer Produktivität aus.
Inzwischen ging es auch in Santo Amaro aufwärts. Henrique Pinto und die Mitarbeiter in seiner Mixereinheit hatten das Werk nun
ganz für sich und wurden im Laufe der Zeit immer besser organisiert und produktiver.
Bei den Bestellungen für die Keksbackanlage, die sie herstellten, hatten sie mittlerweile ein Auftragspolster für zwei Jahre. Wir
hatten immerhin schon vier Jahre und weit über eine halbe Million Dollar gebraucht, um in diesen Markt hineinzukommen, und
nun begann sich diese Investition auszuzahlen - sehr zur Enttäuschung derer, die unseren Einstieg in diesen Unternehmensbereich
für einen Fehler gehalten hatten.
Die Einheit brauchte mehr Büroräume, eine bessere Entlüftungs-

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anlage und eine neue Küche. Angesichts der rosigen Cash-Flow-Aussichten schien es nur vernünftig, mehr in dieses Werk zu
investieren. Allerdings wären diese Kosten noch viel höher gewesen, wenn unsere Arbeiter nicht einen Großteil der erforderlichen
Arbeiten selbst in die Hand genommen hätten. Die Entlüftungsanlage war von den Ingenieuren bei Semco-Flakt konstruiert und
eingebaut worden. Die Küche war im großen ganzen von der Hobart-Division geliefert und von einem ihrer Partnerunternehmen
installiert worden. Und die meisten Bau- und Malerarbeiten waren von den Arbeitern im Santo-Amaro-Werk ausgeführt worden.
Ein weiteres Beispiel dafür, was alles passieren kann, wenn man nichts vom Taylorismus hält.

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Kapitel 17: Den Reichtum verteilen

Wir waren bereit, auszusteigen. Oder noch besser: Berater zu werden. Wir glaubten, es verdient zu haben. Wir hatten eine
außerordentliche Kraft entfaltet und waren von den Ergebnissen überwältigt. Als man die Preise in ganz Brasilien in den Griff
bekam, war 1986 für Semco ein gutes Jahr gewesen. Und 1987 war sogar noch besser. Unsere Werke waren geteilt: autonome
Einheiten, die einen kräftigen Aufschwung erlebten; es herrschte Arbeitsfrieden, und unsere Arbeiter engagierten sich mehr in
ihren Jobs als je zuvor.
Unsere Systemgastronomie-Einheit lief wie geschmiert, besonders die neue, von den Arbeitern organisierte Fertigungsstraße
für Geschirrspüler. Nicht minder beeindruckend waren die Kids bei DBData in ihren weißen Uniformen. Santo Amaro beherrschte
80 Prozent des Marktes für Keksbackmaschinen. Und in all unseren Werken hatten uns die Werkskomitees, die in anderen
Unternehmen für ihre Sturheit berüchtigt waren, bei der drastischen Reduzierung der Kosten nachhaltig unterstützt.
Aus all diesen Gründen machte Semco Gewinn: 2,2 Millionen Dollar in 18 Monaten. Mir war klar, daß es höchste Zeit war, alle
an dem zusätzlichen Reichtum, den sie erwirtschaftet hatten, teilhaben zu lassen. Es war Zeit für eine Gewinnbeteiligung. Damals
gab es bei höchstens einem halben Dutzend Firmen in Brasilien so etwas wie eine Gewinnbeteiligung, und alle hatten nur eine Art
von Genußscheinplan eingeführt, bei dem die Ausschüttung einseitig und willkürlich je nach Maßgabe (oder Laune) des
Topmanagements erfolgte. Diese Unternehmen wollten zwar ihre Arbeiter motivieren, behielten sich aber zur gleichen Zeit vor,
einige Mitarbeiter besser als andere zu behandeln. Das ist genau das richtige Rezept für Ressentiments und eine Spaltung der
Belegschaft.

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Demgegenüber wollten wir eine neue Art von Gewinnbeteiligungsplan - er sollte für unsere Arbeiter nicht nur absolut
verständlich sein, sondern auch von ihnen kontrolliert werden.
Bevor wir unseren neuen Reichtum jedoch mit ihnen teilen konnten, war uns klar, daß wir etwas noch Wertvolleres mit ihnen
teilen mußten: Wissen.
Keiner kann erwarten, daß Engagement und Partnerschaft gedeihen, wenn selbst dem bescheidensten Mitarbeiter nicht ein
reichliches Maß an Wissen zur Verfügung steht. Ich kenne sämtliche Einwände gegen eine Politik der absoluten Offenheit. Die
Mitarbeiter gebrauchen die Zahlen als Argument für Lohnerhöhungen in guten Zeiten, während sie in schlechten Zeiten Angst
bekommen, wenn sie die Zahlen kennen. Schlimmer noch: Geschäftsgeheimnisse werden an die Konkurrenz weitergegeben.
Schon möglich. Aber die Vorteile von Offenheit und Aufrichtigkeit überwiegen doch bei weitem die Nachteile. Und ein
Unternehmen, das nicht über alles informiert, wenn die Zeiten gut sind, verliert das Recht, in schlechten Zeiten Solidarität und
Zugeständnisse zu verlangen.
Die Geheimniskrämerei in Unternehmen kann auf die Unsicherheit von leitenden Mitarbeitern zurückgeführt werden, die zwar
das technische Können besitzen, in der Unternehmenspyramide nach oben zu klettern, die aber nicht reif genug sind, mit der Höhe
fertig zu werden, wenn sie oben sind. Sie wollen sich deutlich von denen abheben, die es nicht bis zu ihrer Stufe geschafft haben.
Indem sie ihre Gehälter geheimhalten, meinen sie, daß sie sich damit von den anderen absondern. Und wenn sie schon ein
Geheimnis haben, dann können sie natürlich ganz leicht anderen suggerieren, daß sie noch mehr Geheimnisse haben und somit
noch mächtiger sind, da in modernen Unternehmen mit Wissen Macht verbunden ist.
Geheimnisse sind insofern problematisch, weil die Menschen dahinter gewöhnlich Extreme vermuten, egal ob es sich dabei um
Gewinne oder Gehälter handelt. Woher ich das weiß? Vor ein paar Jahren haben wir bei Semco eine Umfrage veranstaltet, wobei
wir alle Mitarbeiter fragten, welche Gewinne das Unternehmen ihrer Meinung nach machte. Damals gab es viele Neuerungen bei
uns noch

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nicht, und unsere Mitarbeiter waren offenbar der Meinung, wir wären ungeheuer habgierig. Denn wie sonst könnte man die
weitverbreitete Ansicht erklären, daß sich unsere Gewinne zwischen 20 und 30 Prozent unserer Einnahmen bewegten? (Die meisten
Unternehmen wären froh, wenn sie einen Gewinn von sieben oder acht Prozent hätten.) Nach dieser Umfrage war mir klar, daß es
für uns alle besser wäre, wenn unsere Mitarbeiter die ganze Wahrheit erführen.
Als wir unseren Managern erklärten, wir wollten unsere Arbeiter über unsere finanzielle Situation in Kenntnis setzen, waren
viele beunruhigt. Sie glaubten, die Mitarbeiter würden als erstes wissen wollen, wieviel sie verdienten. Also hielten wir unsere erste
Konferenz ab, auf der wir die monatlichen Betriebsergebnisse mit ein paar Dutzend Delegierten der Werkskomitees besprachen -
und welche Frage stellten sie uns als erstes? Wieviel Geld verdient ein Spitzenmanager bei Semco? Wahrheitsgemäß antworteten
wir: zwischen 50000 und 100000 Dollar pro Jahr, einschließlich Prämien. Sie waren sichtlich schockiert. Schließlich betrug das
Mindesteinkommen in diesem Land 1 500 Dollar im Jahr - auch wenn keiner von unseren Leuten weniger als viermal soviel
verdiente. Von diesem Tag an jedenfalls galten unsere Manager bei den Fabrikarbeitern als Maharadschas. (Übrigens hat sich
seitdem der Abstand zwischen den am schlechtesten und den am höchsten bezahlten Mitarbeitern bei Semco erheblich verringert.)
Die Wahrheit mag unangenehm und nicht leicht zu erklären sein, aber es ist immer besser, wenn sie auf den Tisch kommt. Wir
pinnen natürlich keine Gehaltslisten ans Weiße Brett, aber wer danach fragt, bekommt meist eine Auskunft. Ja, mehrere leitende
Mitarbeiter bestanden darauf, daß ihre Gehälter vertraulich behandelt wurden, und wir respektierten das, weil uns auch ihre
Privatsphäre wichtig ist. Aber das spielte keine Rolle, da genügend Gehälter bekannt waren, so daß jeder eine recht genaue
Vorstellung davon hatte, wieviel auf allen Ebenen des Unternehmens gezahlt wurde.
Schon bald war klar, daß sich unsere leitenden Mitarbeiter nur deshalb ihrer Gehälter schämten, weil sie vielleicht das Gefühl
hatten, sie würden sie eigentlich nicht verdienen - andernfalls könnten sie ja ohne weiteres ihren Wert nachweisen, sofern er auf
speziellen Kenntnissen, Erfahrungen, einer besonderen Ausbildung oder der

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souveränen Führung einer großen Abteilung mit einem hohen Budget und vielen Mitarbeitern beruhte. Leitende Angestellte sollten
stolz darauf sein, daß sie viel verdienen, und ihre Gehälter sollten für jeden einen Anreiz darstellen, aufzusteigen.
Mit der Zeit akzeptierten unsere Arbeiter die Gehälter der leitenden Angestellten bei Semco und versuchten uns nicht dazu zu
bewegen, sie zu verringern, wie man uns warnend vorgehalten hatte. Aber sie gaben uns auch ohne Scheu zu verstehen, wenn sie
das Gefühl hatten, daß bei uns zu viele hoch bezahlte leitende Angestellte herumschwirrten.
Neben den Gehältern machten wir schon bald auch alle möglichen anderen finanziellen Informationen allgemein zugänglich.
Natürlich wurden sie nicht von allen verstanden. Manche Arbeiter wußten nicht, daß es einen Unterschied gibt zwischen Gewinnen
und Einnahmen. Also richteten wir mit Hilfe der Gewerkschaft Kurse ein, um ihnen beizubringen, wie man Bilanzen, Cash-flow-
Statements und andere Papiere liest. Ich kenne kein anderes Unternehmen, daß derartige Kurse anbietet.
Clovis nahm an der ersten Sitzung teil und erzählte mir brühwarm die erste frage. »Wir wollen wissen«, habe ein Arbeiter
gesagt, »wie das Unternehmen die Bücher frisiert.«
Tief verwurzelt ist das unternehmerische Credo, daß die Gewinne denen gehören, die das Kapital investieren. Das ist ein
ungeschriebenes Gesetz selbst in Unternehmen, deren Gründer ursprünglich sehr wenig investiert hat und die weitgehend dank der
Energie und der Fähigkeiten der Mitarbeiter groß geworden sind. Unternehmer sind eben nicht dumm.
Aber einige Unternehmen, die nach neuen Möglichkeiten zur Motivierung ihrer Mitarbeiter Ausschau hielten, haben längst
damit begonnen, sie an den Gewinnen zu beteiligen. Das ist kaum ein sozialistischer Einfall - es gibt nur wenige Ideen, die so
kapitalistisch sind wie die Gewinnbeteiligung, bei der die Mitarbeiter, die zur Erzeugung dieses willkommenen Überschusses
beigetragen haben, mit einem Teil der Einkünfte des Unternehmens belohnt werden. Das ist auch nichts Neues - eine Jahresprämie
ist schließlich nichts weiter als eine Form der Gewinnbeteiligung.

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Bei einigen frühen Gewinnbeteiligungsplänen wurde ein Teil der Einkünfte ausgeschüttet, die aufgrund von Vorschlägen der
Mitarbeiter entstanden waren. Von hier aus war es nur ein Katzensprung zu Plänen, die eine Beteiligung am Gesamtgewinn
vorsehen. Aus einer guten Idee wurde ein Trend, aus dem Trend eine Masche und aus der Masche eine ganze Bewegung: ein schnell
wirkendes Allheilmittel für Unternehmen, die eine desinteressierte Belegschaft motivieren wollten. Aber viele schütteten nur das
Geld aus, ohne die Mitarbeiter darüber aufzuklären, wie sich diese Summen zusammensetzten. Damit wurde die Effizienz dieser
Modelle konterkariert, und neuere Untersuchungen haben in der Tat herausgefunden, daß die Gewinnbeteiligung in den meisten
Fällen nicht funktioniert.
1986 sponserte Semco ein Seminar, bei dem die Führer einiger Unternehmen mit Gewinnbeteiligungsplänen vor 300 leitenden
Mitarbeitern, Unternehmensberatern und Arbeiterführern miteinander diskutierten. Ergebnis dieser Podiumsdiskussion:
Gewinnbeteiligung ist offenbar nur schwer in den Griff zu bekommen.
Tatsächlich bewirkt die Gewinnbeteiligung nicht ein Engagement der Mitarbeiter, sondern setzt es voraus. Sie funktioniert nur
als Krönung eines breitangelegten und umfassenden Programms der Beteiligung. Semco hatte kein Interesse daran, daß ein paar
leitende Mitarbeiter darüber entschieden, wer was zu bekommen hätte. Wir wollten, daß diese Entscheidungen von den
Begünstigten selbst getroffen wurden.
Aber welche Begünstigten? Inzwischen gab es bei Semco acht autonome Unternehmenseinheiten, die in vier Werken Dutzende
von Produkten für drei Bereiche der Wirtschaft herstellten. Die Lieferzeiten für unsere Produkte reichten von einem Tag, für eine
Digitalwaage, bis zu zwei Jahren - für eine schlüsselfertige Gebäckfabrik. Wir sind eben ein ziemlich komplexer Laden. Sollte diese
spezielle Gewinnausschüttung an unsere Arbeiter also auf dem Gesamtgewinn des gesamten Unternehmens beruhen, auf dem
Gewinn jedes einzelnen Werks, jeder unabhängigen Unternehmenseinheit oder gar auf dem Gewinn, den jedes einzelne
Arbeiterteam innerhalb dieser Einheiten erwirtschaftete? Wie würde sich ein Mitarbeiter aus einer Einheit fühlen, die keinen
Gewinn machte und darum keine Sonderzahlungen ausschüttete, wenn er im selben Werk wie jemand ar-

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beitete, der einen großen Extralohn bekam, weil seine Einheit Erfolg hatte? Sollte bei der Verteilungsformel das Grundeinkommen,
die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder die Leistung mit berücksichtigt werden? Aber vergrößern Bezahlungen, die vom
Grundeinkommen eines Arbeiters abhängig sind, nicht den Abstand zwischen den am niedrigsten und am höchsten bezahlten
Mitarbeitern? Ja, stellt die Verteilung von Gewinnen nicht zwar eine riesige Menge Geld für das Unternehmen an sich dar, aber für
jeden einzelnen nur ein bescheidenes Sümmchen, sobald dieses Geld unter Tausenden von Arbeitern aufgeteilt wird? Lohnt sich das
Ganze überhaupt?
Jedenfalls mußten wir bestimmte Entscheidungen treffen, und besonders ich befürchtete, daß wir durch einen unsachgemäß
eingeführten Gewinnbeteiligungsplan längst gewonnenen Boden wieder verlieren würden. Also ignorierten wir auch diesmal, wie es
unsere Politik war, geltende Regeln und Modellbeispiele und gingen von unserer Praxis aus - in den folgenden eineinhalb Jahren
veranstalteten wir Diskussionen mit den Arbeitern und besprachen uns mit den Werkskomitees und mit Gewerkschaftsführern.
Unser Ausgangspunkt: Wieviel würden wir von unseren Gewinnen an jene zurückgeben, die sie mit erarbeitet hatten? Wir
hatten nicht vor, irgendeine Zahl aus der Luft zu greifen oder das unseren Arbeitern zu überlassen. Also verhandelten wir
miteinander. Zunächst ermittelten wir die Gesamtgewinne von Semco, also die Erträge minus der Kosten. Dann kamen wir überein,
daß davon wiederum 40 Prozent für Steuern abzuziehen wären, 25 Prozent für Dividenden an unsere Aktionäre und weitere 12
Prozent für Reinvestitionen - das war das Minimum, damit das Unternehmen weiterhin florieren konnte. Damit blieben 23 Prozent
übrig.
Dann setzten sich die Arbeiter zusammen und diskutierten das Problem der richtigen Verteilung untereinander aus. Ein
Buchhalter namens Claudio, der das Werkskomitee von Santo Amaro, damals eines unserer gewinnträchtigsten Werke, vertrat, kam
gleich bei einer der ersten Besprechungen auf den entscheidenden Knackpunkt zu sprechen: »Warum sollen wir eigentlich unseren
Gewinn mit Fabriken teilen, die nichts verdient haben?« meinte er. »Das ist doch nicht gerecht.«
Nun wurde des langen und breiten darüber diskutiert, was denn

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gerecht sei. Schließlich entschieden die Mitarbeiter, daß das Semco-Gewinnbeteiligungsprogramm (kurz SemcoPar)
folgendermaßen funktionieren sollte: In jedem Quartal wird der Gewinn, den jede selbständige Einheit gemacht hat, errechnet, und
von dieser Summe werden 23 Prozent an die Mitarbeiter dieser betreffenden Einheit ausgeschüttet. (Natürlich können wir aufgrund
der Wirtschaftsentwicklung in Brasilien nicht immer Gewinne ausschütten, und Trostpreise wollen wir ja auch nicht vergeben.) Was
danach mit diesem Geld passiert, ist allein deren Sache. Sie können selbst entscheiden, ob es einfach pro Mann und Nase verteilt
wird oder ob dabei die Jahre der Betriebszugehörigkeit, das Grundgehalt oder andere Kriterien eine Rolle spielen. Statt das Geld zu
verteilen, können sie es auch für irgendeinen anderen Zweck verwenden, etwa für Darlehen, damit sich die Arbeiter ein Haus kaufen
können. Aber wofür auch immer sie sich entscheiden: Es gilt nur für dieses eine Quartal. Drei Monate später müssen sie eine neue
Entscheidung treffen.
Das ist freilich graue Theorie. In Wirklichkeit hat jede Semco-Einheit stets beschlossen, das Geld gleichmäßig zu verteilen -
jeder bekommt also die gleiche Summe. Nicht den gleichen prozentualen Anteil, sondern die gleiche Summe. Jemand, der 10000
Dollar im Jahr verdient, bekommt also den gleichen Gewinnbeteiligungsscheck wie jemand, der ein Jahresgehalt von 100000
Dollar hat.
Das entspricht natürlich nicht dem üblichen Gewinnbeteiligungsmodell. Viele Unternehmen gehen einfach von einem
prozentualen Anteil aus und beziehen ihn auf das jeweilige Einkommen der Mitarbeiter, so daß sich diese Art der
Gewinnbeteiligung für die Leute an der Spitze mehr lohnt. Unsere Mitarbeiter haben dieses System umgedreht, und das ist uns auch
recht. Jetzt trägt nämlich die Gewinnbeteiligung dazu bei, daß unsere Lohn- und Gehaltsstruktur ausgeglichener wird, und
außerdem sind wir in der Lage, jene Mitarbeiter zu würdigen und zu belohnen, die auch ohne irgendwelche großartigen Titel jeden
Tag zehn Stunden lang ihr Bestes geben.
Als Hauptaktionär - und Schirmherr - von SemcoPar muß ich allerdings zugeben, daß ich anfangs geglaubt habe, 23 Prozent
wären schrecklich viel. In anderen Unternehmen liegt dieser Anteil zwischen acht und zwölf Prozent. Aber dann habe ich mir immer
gesagt, daß ich gemeinsam mit einer motivierten Belegschaft mindestens so-

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viel Geld verdiene wie als alleiniger Nutznießer der Ergebnisse we niger inspirierter Arbeiter. Was wollen Sie lieber - den Schwanz ei
nes Elefanten oder eine ganze Ameise?

Kapitel 18: Aktenberge

Wir befanden uns wieder einmal in irgendeiner Besprechung und ackerten eine Tagesordnung von lauter kleinen bürokratischen
Angelegenheiten durch - wie Unkraut in einem zugewachsenen Garten -, als wir auf einen Posten von 50 000 Dollar stießen - für
den Einkauf von Aktenschränken. Mehrere Abteilungen hatten schon seit Monaten auf diese Schränke gewartet und in ihrer
Verzweiflung ihre Anforderungen gebündelt. Ich nehme an, sie glaubten, uns damit mehr von ihrer Notlage überzeugen zu können.
Die Diskussion drehte sich gerade um verschiedene Lieferanten und Preise, als irgend jemand am Tisch meinte: »Was, zum
Teufel, steht eigentlich in all diesen Akten?«
Wir baten die anderen um ihre Meinung, und jeder schien seine eigene Erklärung für den unersättlichen Aktenhunger zu
haben. »Aber natürlich nimmt man nichts zu den Akten, was nicht in die Akten gehört« - so die Mehrheit. Ich war da nicht so
sicher.
An diesem Tag haben wir jedenfalls keinen einzigen neuen Aktenschrank gekauft. Statt dessen beschlossen wir, den Betrieb für
einen halben Tag ruhen zu lassen und die erste Semco-Akten-Zweijahresinspektion-und-Säuberung abzuhalten. Nur auf diese
Weise konnten wir mit Sicherheit herausbekommen, was all diese Schränke enthielten.
Unsere Anweisungen waren ganz einfach: Jeder sollte in sämtliche Aktenordner hineinschauen und alle unwichtigen Papiere
daraus entfernen. Sie mußten sich immer die Frage stellen, für die Alfred Sloan von General Motors berühmt geworden ist: »Was
kann schlimmstenfalls passieren, wenn ich das wegwerfe?«
Am vereinbarten Tag erschienen unsere Büroangestellten in Jeans und Overalls, bereit, in unsere stickigen, staubigen Archive
einzu-

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steigen. Ich wurde nicht müde, allen ans Herz zu legen, sie sollten sich bloß keine Sorgen darüber machen, was passieren würde,
wenn sie ein Dokument zuviel vernichteten. Wenn es wirklich wichtig wäre, dann hätte mit Sicherheit ein Kunde oder ein Lieferant
oder sonstwer eine Kopie.
Ich wußte, wie ihnen zumute war. Mir ging es nicht anders. Ich war einer der größten Aktenhorter bei Semco - mir gehörten
bereits vier große Aktenschränke, und zwei weitere hatte ich angefordert. Ganz zu schweigen von den zweieinhalb Schränken, die
jede meiner drei Sekretärinnen hatte.
Nach unserer Säuberungsaktion hatte ich dieses Arsenal auf einen einzigen Schrank reduziert, und so ähnlich ging es fast allen
in der Firma. Die Leute konnten nur lachen, als sie auf sechs Jahre alte Telexe stießen, auf uralte Kataloge, Visitenkarten von
Leuten, an die sie sich nicht mehr erinnerten, und von Unternehmen, von denen sie noch nie etwas gehört hatten. Es fielen ihnen
auch jede Menge Papiere in die Hände, die sie noch ein paar Monate zuvor verzweifelt gesucht, aber einfach nicht gefunden hatten.
Diese Aktion war ein so großer Erfolg, daß Semco am Ende Dutzende überzähliger Aktenschränke versteigern konnte.
Das veranlaßte uns, einmal gründlicher über unseren zwanghaften Sammeleifer nachzudenken. Wir kamen dahinter, daß wir
jede Menge Dokumente zu den Akten nahmen, für deren Aufbewahrung es keinen vernünftigen Grund gab, so daß wir uns mehr
Arbeit aufhalsten, als ein natürliches Unternehmen erforderte. Und dann fragten wir uns, wieviel von unserer Bürotätigkeit sonst
noch unnötig war.
Im Laufe dieser Überlegungen begannen wir uns auf unsere sogenannten Hilfskräfte zu konzentrieren. Ich mußte immer wieder
an die Geschichte denken, wie sich einmal eine Hilfskassiererin bei Semco um Arbeit beworben hatte. Beim Bewerbungsgespräch
wurde sie gebeten, ihren gegenwärtigen Job zu beschreiben. »Ich stemple die rosa Kopien ab und übergebe sie einem anderen
Mädchen«, erklärte sie. Als unser Personalberater nachfaßte, erfuhr er, daß die Frau nichts weiter über ihren Arbeitgeber wußte, als
daß er sie dafür bezahlte, die rosa Kopien abzustempeln und sie dem anderen Mädchen zu übergeben.

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Kein Wunder, daß Chaplins Moderne Zeiten einer meiner Lieblingsfilme ist. So etwas gibt es auch heute noch. Können
Menschen tatsächlich befriedigt sein von einer rein mechanischen Bürotätigkeit, die sie ausüben, ohne zu Wissen, wofür? Wieviel
davon ist wirklich notwendig? Und wenn wir nun all diese Jobs ohne jede Aufstiegschance eliminieren und nur die Positionen
beibehalten könnten, die den Menschen die Möglichkeit bieten, Befriedigung zu empfinden? Könnten wir unser Unternehmen ohne
Sekretärinnen, Empfangsdamen und persönliche Assistenten weiterbetreiben? Meine Antworten auf diese Fragen können Sie sich
ja wohl denken.
Natürlich war ich überzeugt, daß unsere leitenden Angestellten mir nicht glauben würden. Also demonstrierte ich es ihnen an
einem Beispiel: Ich schickte einen zehnseitigen Beitrag aus der Harvard Business Review an Clovis, dessen Büro sich neben
meinem befand. Nichts leichter als das, meinen Sie? Nicht ganz. Als erstes gab ich den Artikel Irene Tubertini, einer meiner
Sekretärinnen, und bat sie, ihn zu kopieren, ihn mir wiederzugeben, damit ich einen kurzen Kommentar auf die Kopie schreiben
konnte, und diese dann an Clovis weiterzuleiten. Aber da es sich um einen langen Artikel handelte, mußte er zuerst in unsere
zentrale Poststelle gebracht werden, damit er von einer Kontoristin kopiert wurde, die sich um umfangreiche Dokumente kümmert.
Die Hauspost wird nur zweimal am Tag eingesammelt: zwischen neun und zehn Uhr morgens und zwischen vier und fünf Uhr
nachmittags. Da ich mit meinem Test um elf begann, lag der Artikel fast den ganzen ersten Tag in Irenes Ausgangskorb. Bis er in die
Poststelle gelangte, war die Kontoristin inzwischen gegangen, so daß er erst am nächsten Morgen kopiert wurde. Dabei kam er nicht
mehr in die Morgenpost und blieb somit fast den ganzen Tag in der Poststelle liegen. Verstehen Sie nun, was ich meine? Es war
wirklich nicht so einfach: Es dauerte 22 Arbeitsstunden, bis der Artikel von meinem Büro in das drei Meter davon entfernte Büro
von Clovis gelangt war.
Meine Idee bestand darin, daß wir bestimmte Bürojobs abschafften, wobei wir die damit verbundenen notwendigen Funktionen
an alle anderen delegierten. Als ersten Schritt regten wir an, die Sekretärinnen effizienter einzusetzen: Sie sollten nicht mehr ihre
Chefs bedienen, ihnen Kaffee servieren, ihre privaten Rechnungen beglei-

---OP 179---

chen und ihre Telefongespräche führen. (Bei letzterem hatten wir noch einen beachtlichen Nebeneffekt im Auge: endlich Schluß zu
machen mit diesen neurotischen kleinen Telefonkriegen, bei denen der Anrufer zu beweisen versucht, wie wichtig er ist, indem er
das Gespräch so lange nicht übernehmen will, bis der Angerufene drauf und dran ist, aufzulegen.)
Ich weiß noch, wie ich mich mit einer Gruppe von etwa 30 Sekretärinnen zusammensetzte. Ich erklärte ihnen, daß wir ihre Jobs
in ein oder zwei Jahren abschaffen wollten, und forderte sie auf, doch einmal darüber nachzudenken, was sie in fünf Jahren bei
Semco gern machen würden. Dann versuchten wir sie in der entsprechenden Richtung weiterzubringen, indem wir ihnen freie
Stellen anboten und manchmal auch neue Jobs für sie schufen.
So nach und nach stiegen ein paar Empfangsdamen, Pförtner und Sekretärinnen um und übernahmen Jobs im Marketing, im
Vertrieb und sogar in der Technik. Ein Botenjunge wurde einer unserer besten technischen Zeichner. Irene Tubertini stellte die
Semco-Stiftung mit auf die Beine und arbeitete mit einer anderen ehemaligen Sekretärin aus der Personalabteilung an der
Entwicklung möglicher Stiftungsprojekte. (Wir haben uns schließlich dafür entschieden, intelligenten, aber armen brasilianischen
Kindern eine angemessene Schulbildung zu ermöglichen.)
Am Ende haben vielleicht 40 Prozent unserer Bürokräfte auf andere, anspruchsvollere Jobs bei Semco umgesattelt. Einige aber
waren gern Sekretärinnen oder Empfangsdamen und fanden entsprechende Positionen anderswo. Ein paar erklärten uns, sie
wollten keine anspruchsvollere Arbeit haben, weil sie dann zu wenig Zeit für ihre Familie hätten. Für sie haben wir ein
Teilzeitprogramm geschaffen, bei dem sich zwei Leute einen einzigen Job teilen und so, wie wir alle hoffen, das Beste aus ihrem
Berufs- und Privatleben machen können.
Während die Sekretärinnen und Empfangsdamen auf meinen Plan mit gemischten Gefühlen reagierten, herrschte unter unseren
leitenden Angestellten eine einmütige Stimmung. Die Aussicht, ihre Kopien selbst machen, selber telefonieren und nach unten
gehen zu müssen, um ihre Besucher am Empfang zu begrüßen, gefiel ihnen gar

---OP 180---

nicht. Einige dachten, wir wollten bloß die Kosten reduzieren, und erklärten, wir würden damit nur am falschen Ende sparen.
»Das wird Sie verdammt viel mehr kosten, wenn ein so hochbezahlter Bursche wie ich seine eigene Ablage machen soll«,
meckerten sie.
Ein Manager suchte mich auf und brachte gleich seinen Taschenrechner mit. »Meine Sekretärin hat mir gesagt, daß sie 30
Prozent ihrer Arbeit für die Ablage aufwendet«, erklärte er und fummelte an der winzigen Tastatur herum. »Sagen wir also mal, daß
ich 30 Prozent effizienter als sie bin.« (Erging darüber hinweg, daß sie immerhin wußte, wie man eine Aktenablage betrieb, und er
nicht.) »Das macht aber dann immer noch mindestens 21 Prozent meiner Zeit aus. Im Laufe eines Jahres bedeutet das also, daß
dem Unternehmen 12 000 Dollar an zusätzlichen Kosten entstehen. Und ich spreche im Augenblick nur von der Ablage.«
Ich ließ nicht locker. »Laßt es uns doch einfach mal probieren«, beschwor ich sie. Aber am besten war es noch immer, selbst mit
gutem Beispiel voranzugehen. Wieder einmal.
Schon bald nachdem ich die Führung des Unternehmens übernommen hatte, hatte ich mir meine zweite und meine dritte
Sekretärin zugelegt und es auch mühelos geschafft, sie zu beschäftigen. Aber womit? Natürlich mit der Ablage von Papieren, mit
denen ich niemals wieder das geringste anfangen konnte. Also reduzierte ich meinen Arbeitsbereich, von drei auf zwei und dann auf
eine Sekretärin, bis ich schließlich gar keine mehr hatte. Ich machte meine eigene Ablage, was nichts anderes bedeutete, als daß ich
weniger Papiere ablegte - statt 50 oder 60 Dokumente pro Woche legte ich nun nur noch zwei oder drei pro Monat zu den Akten.
Ich merkte, daß man mit seinen eigenen Papieren mehr riskieren kann als jeder andere.
Als ich mich von den Zwängen dieses Papierkrams größtenteils befreit hatte, begann ich, mehr zu Hause zu arbeiten - mit Hilfe
eines Anrufbeantworters, eines Personal Computers und später eines Faxgeräts. Ich ermutigte auch andere, zu Hause zu arbeiten.
»Ich muß doch hier sein«, protestierten manche. Aber sobald sie es einmal ausprobiert und dabei herausgefunden hatten, wieviel
effizienter sie ohne all die Ablenkungen im Büro waren, wurden auch sie Verkünder meines Evangeliums der Heimarbeit.

---OP 181---

Wie sich herausstellte, lohnte es sich, in einem Büro ohne Sekretärinnen erst nachzudenken, bevor man etwas in die Ablage tat.
Wir machen zwar noch immer zusätzliche Kopien, wenn die Gefahr besteht, daß sich jemand übergangen fühlt. (Wenn wir übrigens
ein Memo verteilen, listen wir alle Empfänger in alphabetischer Reihenfolge auf, damit nicht irgendwelche albernen Ratespielchen
über Status und Prestige angestellt werden.) Im allgemeinen aber gilt die Regel: Je weniger Kopien, desto besser. Und wir denken
dreimal nach, ehe wir irgend etwas ablegen. Lesen, verstehen, ausführen und wegwerfen - das ist inzwischen unser Motto für
Memos.
Dabei ist das gar nicht so einfach, wie es klingt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir ein neuer Manager einen
wunderschön eingebundenen Bericht brachte, in dem er beredt und überzeugend den Bau eines neuen Hochdruckkompressors für
eine Erdölfabrik als nicht machbar bezeichnete. Ich war von seiner Analyse beeindruckt, und nachdem ich darin geblättert und
seine Empfehlung gelesen hatte, sah ich ihn an, um ihm das zu sagen, während ich seinen Bericht lässig in den Papierkorb unter
meinem Schreibtisch warf. »Sie haben völlig recht, es lohnt sich nicht«, sagte ich und sah, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
Er hatte 15 Jahre lang in einem multinationalen Konzern gearbeitet und war es nicht gewöhnt, daß das Ergebnis tagelanger Arbeit
schon nach kurzem Überlegen einfach weggeworfen wurde.
Ich fragte ihn, warum er glaubte, sein Bericht sollte zu den Akten genommen werden. Schließlich war ich doch seiner Meinung.
Er sah mich ein paar Augenblicke lang verblüfft an, dann gab er mit einem Seufzer zu, daß der Bericht seinen Zweck erfüllt hätte
und nur Platz verschwenden würde. Von diesem Tag an beantwortete er Memos nur noch mit knappen handschriftlichen
Randbemerkungen.
Ein anderes Mal wurden Dutzende von Kugellagern im Wert von vielen tausend Dollars im Ausland bestellt, aber als sie dann
bei uns eintrafen, stellte sich heraus, daß sie viel zu groß waren. Und der Zulieferer wollte sie nicht mehr zurücknehmen. Ein teurer
Fehler - aber welche Abteilung war letztlich dafür verantwortlich: der Einkauf, die Herstellung oder das Konstruktionsbüro? Die
drei Abteilungsleiter begannen sich mit Aktennotizen zu bombardieren, bis das Ganze eskalierte. Nach ein paar Wochen dieses
Guerillapapierkriegs bat ich

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die drei in mein Büro. Unübersehbar lag auf meinem Schreibtisch die Akte dieses Vorfalls: immerhin schon Dutzende von Seiten,
Berichten und Memos, die alle von einer riesigen Büroklammer zusammengehalten wurden. Ich habe diese Klammer noch immer,
aber nicht mehr die Berichte, denn die warf ich mit großartiger Geste in den Papierkorb, ehe noch einer meiner Besucher ein Wort
sagen konnte.
Damit waren die Papierkriege bei Semco zwar nicht ein für allemal vorbei, aber so leicht kommt es mit Sicherheit nicht mehr
dazu. Wer will schon noch eine erbitterte, belastende Aktennotiz schreiben, nachdem er Stunden mit der Lektüre von Akten und mit
ausführlichen Befragungen verbracht hat, wenn er weiß, daß sie ja doch nur in den Reißwolf wandert?
Leider war ich mir natürlich im klaren, daß wir diese Aktennotizen nie ganz abschaffen könnten. Aber ich habe eine Möglichkeit
gefunden, wie sie lesbarer und effektiver wurden und weniger Zeit verschwendeten.
Eines Tages, nachdem wir bei einer Besprechung endlos lange über das Problem dieses überhand nehmenden Papierkrams
debattiert hatten, führte ich mit einer Gruppe von Spitzenmanagern ein Experiment durch. Ich begann damit, daß ich die folgende
Liste vorlas:
Schulbus
Bürgermeister
zerbrochenes Glas
Kinder schlagen
Dann bat ich die Anwesenden, kleine Gruppen zu bilden und einen Zeitungsbericht zu schreiben, der auf diesen Begriffen basierte,
einschließlich einer Schlagzeile. Es gab keine Einschränkungen hinsichtlich des Stils oder der Länge.
Dreißig Minuten später trugen alle ihre Artikel vor. Sie waren natürlich völlig unterschiedlich ausgefallen. Das ging schon aus
den Schlagzeilen hervor:

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»Schulkinder auf der Fahrt zum Bürgermeister verletzt«


»Stau verzögert Ansprache des Bürgermeisters«
»Bürgermeister wirft Kind aus Schulbus«
»Bürgermeister tauft Schulbus mit Champagnerflasche«
Der entscheidende Punkt: Fakten spielen fast keine Rolle. Es kommt in erster Linie darauf an, wie sie dargeboten werden.
Nehmen wir mal an, die Marketingabteilung wird aufgefordert, zu beurteilen, ob ein neues Produkt einen Gewinn abwerfen
wird. In einem traditionellen Unternehmen würden die Marketingleute einen hundertseitigen Bericht verfassen - mit
Marktuntersuchungen, demographischen Hochrechnungen, ökonomischen Szenarien, Konkurrenzvergleichen, Herstellungsdetails
und vielem mehr, und all das wäre im visuellen Zeitalter mit entsprechenden Computer-Software-Angeboten (»Nur was man sieht,
kann man verstehen«) reichhaltig mit Graphiken und Tabellen illustriert.
Das Dumme ist nur, daß dieser Bericht noch immer auf so viele verschiedene Weisen gelesen werden kann, wie es Leser gibt -
was die Geschichte mit dem Bürgermeister und dem Schulbus beweist.
Wenn Sie wollen, daß jemand die Aussichten eines Projekts wirklich einschätzt, dann gestehen Sie ihm nur eine einzige Seite zu
- und lassen Sie ihn eine Schlagzeile schreiben, die das Ganze auf den Punkt bringt, wie in einer Zeitung. Nichts ist so
unmißverständlich wie die Schlußfolgerung eines Memos, das mit den Worten beginnt: »Neuer Toaster läßt sich mit 20000
Einheiten verkaufen - Gewinn 2 Millionen Dollar.«
Und damit war das Schlagzeilen-Memo von Semco geboren. Ganz oben auf der Seite steht die wichtigste Information. Wenn
man mehr wissen will, liest man ein oder zwei Absätze. Aber es gibt keine zweite Seite. Sämtliche Memos, Protokolle, Briefe,
Berichte, selbst Marktuntersuchungen dürfen bei uns nicht länger als eine Seite sein.
Damit haben wir nicht nur unnötigen Papierkram reduziert, sondern das bewahrt uns auch vor Besprechungen, die oft nötig
waren, um vieldeutige Memos zu klären. Kürze lohnt die Investition. Je länger die Botschaft, desto größer die Gefahr der
Fehlinterpretation.
Natürlich muß man sich an solche Memos von einer Seite erst ge-

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wohnen. Unsere Leute mußten sie manchmal fünf- oder zehnmal schreiben, bevor es ihnen gelang, ihre Gedanken auf den Punkt zu
bringen.
Mark Twain hätte das nicht weiter überrascht: Er hat sich einmal dafür entschuldigt, daß er einen langen Brief geschrieben
habe, weil er keine Zeit hatte, einen kurzen zu schreiben.

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Kapitel 19: Starke Frauen

An dem Tag, als Laura de Barros ihren Job in unserer Personalabteilung antrat, fand gerade eine Versammlung von Arbeitern,
Managern und Gewerkschaftsführern auf unserem Fabrikhof in Santo Amaro statt, ln den neun Jahren, in denen sich Laura in
anderen Firmen mit Sozialleistungen, Ausbildung, Einstellungen und Personalbewertungen befaßt hatte, war sie zu der Ansicht
gelangt, Gewerkschaftsfunktionäre seien siebenköpfige Ungeheuer und Arbeiter, die irgend etwas mit ihnen zu tun hatten, müßten
sofort gefeuert werden. Aber schließlich hatte sie bislang nur für konventionelle Unternehmen gearbeitet. Und nun arbeitete sie für
einen Chef, der Gewerkschaftsführer in seine Fabrik einlud und sich dann mit ihnen zusammensetzte und mit ihnen redete. Ich
habe einen guten Job aufgegeben, um weniger Geld bei Semco zu verdienen, muß sie sich damals gedacht haben. Und: Hier arbeite
ich für einen Anarchisten und nicht für einen Unternehmer.
Aber schon bald war klar, daß auch Laura etwas von einer Rebellin in sich hatte. Es dauerte gar nicht lange, da arbeitete sie als
Managerin unserer Personalabteilung bestens mit Clovis zusammen, trieb Veränderungen voran und unterstützte kühne Initiativen
wie zum Beispiel das Programm, das wir »Die Semco-Frau« nannten.
Die Idee stammte von mir. Eines Tages im Jahre 1986, ein Jahr nachdem Laura zu Semco gekommen war, legte ich ihr einen
meiner berühmten Zettel auf den Schreibtisch. »Was halten Sie von einem Projekt für Frauen?« stand darauf. »Wir sollten darüber
nach meinem Urlaub sprechen.«
Etwaige Vorurteile kann man nicht pauschal den Unternehmen zur Last legen, denn sie werden auch in Familie und Schule,
vermutlich sogar überall geprägt - lange, bevor jemand ins Berufsleben ein-

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tritt. Trotzdem haben Unternehmen die verantwortungsvolle Aufgabe, Voreingenommenheit zu bekämpfen und zu korrigieren. Wie
Schulen und Eltern bilden auch sie junge Menschen aus. Sie kümmern sich um ihr Fortkommen. Und damit haben sie eine Chance,
Fehlleistungen der Vergangenheit wiedergutzumachen.
Normalerweise läßt sich unschwer erkennen, wie es um den Gerechtigkeitssinn eines Unternehmens steht. Dazu braucht man
weder Dokumentationen noch Statistiken - es genügt oft ein Blick in die Büros: Wenn fast alle Mitarbeiterinnen weiß oder attraktiv
sind, können Sie wetten, daß dieses Unternehmen voreingenommen ist.
Unternehmen müssen ständig und unmißverständlich Gerechtigkeit demonstrieren, und ich glaube, daß Ausnahmen teuer zu
stehen kommen können. Wenn es auch nur das geringste Anzeichen dafür gibt, daß eine Einstellung oder Beförderung unverdient
ist, dann ist die Glaubwürdigkeit der Firma bei den Arbeitern in Gefahr. Selbst wenn nur einer von zehn Mitarbeitern
ungerechtfertigterweise eingestellt oder befördert worden ist - über wen werden die Leute Ihrer Meinung nach reden? Gerechtigkeit
hat für die Mitarbeiter denselben Stellenwert wie Qualität für die Kunden: Es dauert Jahre, bis sie etabliert ist, aber ein Vorfall
genügt, und sie ist beim Teufel.
Ehe ich aus dem Urlaub zurück war, hatte Laura mit ihrer Kollegin Flor Bassanello bereits die Keimzelle zu einem
entsprechenden Programm entwickelt und in jeder unserer Unternehmenseinheiten Frauengruppen gebildet. Es war kaum ein
Problem, sie dazu zu bringen, ihre Beschwerden zu artikulieren. Sie wollten natürlich mehr Geld - genau so viel, wie Männer in
ähnlichen Jobs verdienten. Sie wollten zumindest Anerkennung dafür, daß sie in zwei Schichten arbeiteten, weil sie sich noch um
die Familie kümmern mußten, wenn sie von der Arbeit nach Hause kamen. (Ich muß Ihnen ja wohl nichts über lateinamerikanische
Machos erzählen.)
Zunächst kamen diese Gruppen in der Mittagspause zusammen. Diskriminierung, fehlende Aufstiegschancen, Beziehungen zu
Kollegen, Probleme zu Hause - all das war Wasser auf ihre Mühlen. Schon bald bestanden diese Gruppen aus etwa 75
Teilnehmerinnen: von der analphabetischen Putzfrau bis zur Managerin mit einem stolzen Titel. Hinter den geschlechtsspezifischen
Problemen traten diese Unterschiede völlig zurück.
---OP 187---

Es gibt einen typisch brasilianischen Ausdruck: daß jemand »Raum hat«, was soviel bedeutet, daß er oder sie sich Achtung
verschafft hat, einen Platz im Unternehmen, die Aufmerksamkeit der andern. Laura hoffte, daß die Frauen bei Semco mehr
erreichen wollten, als was ihnen traditionell möglich war, wenn sie ihnen »Raum schuf«. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis
die Frauen ihre erste Forderung stellten: Sie wollten, daß die Umkleideräume und die Toiletten bei Semco modernisiert wurden,
einschließlich des Einbaus von Bidets. Dieser Punkt, der auch in den Protokollen ihrer Zusammenkünfte stand, die nach typischer
Semco-Art an den Weißen Brettern überall im Unternehmen ausgehängt waren, provozierte einige Männer zu schallendem
Gelächter. Aber die Frauen kamen weiterhin zusammen, und ihre Zahl nahm zu. Sie meinten es ernst, und es dauerte nicht lange,
da wußte das fast jeder.
Die erste Semco-Frauenkonferenz fand im Dezember 1986 statt. Etwa hundert Frauen bestiegen Busse und zogen sich für einen
Arbeitstag in ein Hotel bei Sao Paulo zurück.
Clovis und ich eröffneten die Sitzung. Wir erklärten den Frauen, zuweilen sei es nötig, selbst zu diskriminieren, wenn man
Diskriminierung abschaffen wolle. Daher könnten sie damit rechnen, von Semco unterstützt zu werden, zumindest eine Zeitlang.
Das Unternehmen würde ihnen auch weiterhin ein vernünftiges Maß an Zeit für ihre Zusammenkünfte einräumen. Aber wenn sie
Macht haben wollten, sagten wir, dann müßten sie schon selbst die Initiative ergreifen und selbständig weiteragieren. Dann gingen
wir.
Später hat Laura mir erzählt, daß die Frauen zunächst zurückhaltend gewesen seien und sich nicht wohl gefühlt hätten. Das war
verständlich. Nur wenige von ihnen waren jemals bei einem Kongreß gewesen, einige noch nie in einem Hotel, und mehrere von
ihnen hatten wegen ihrer Teilnahme Ärger mit ihrem Mann, ihrem Verlobten, ihren Eltern oder ihrem Chef gehabt. (Sie lebten
schließlich in Brasilien.)
Laura ließ die Frauen eine Reihe tanzähnlicher Übungen ausführen. Das Licht war gedimmt, die Musik sanft und rhythmisch.
Die Frauen bewegten sich vor und zurück, sprachen nichts, waren ganz in sich vertieft. Ich weiß, das hört sich furchtbar betulich an.
Aber

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nach und nach konnten sich auch die zurückhaltendsten Teilnehmerinnen dieser Stimmung nicht entziehen, und dann lachten die
Frauen, weinten und umarmten einander, alles auf einmal.
Dann improvisierten sie ein Stück über die traditionellen Rollen von Männern und Frauen am Arbeitsplatz. Es ging darum zu
zeigen, wie unterwürfig die meisten Frauen sind und wie anmaßend die meisten Männer, besonders die Chefs, die von Frauen mit
geschminkten Bärten und Kissenbäuchen gespielt wurden.
Das war alles, was Laura mir über die Konferenz berichtete. Aber den Frauen gelang es ganz offensichtlich, einander zu
überzeugen, daß mehr getan werden mußte, denn seitdem kam ihre Bewegung an. Ja, sie fing vielleicht sogar Feuer. Bei ihren
Treffen in der Mittagspause gab es nur noch Stehplätze, trotz aller Anstrengungen männlicher Abteilungsleiter, denen zuweilen
ausgerechnet dann eine »dringende« Aufgabe für eine Untergebene einfiel, wenn eine Sitzung gerade anfing.
Seinerzeit waren die Toiletten bereits umgebaut worden, nach langwierigen Verhandlungen über die alarmierenden Kosten für
diese ganzen neuen Installationen. Die nächste Forderung der Frauen war gewichtiger. Nach brasilianischem Recht stand Müttern
ein zusätzliches Pflegegeld für ihre Neugeborenen nur sechs Monate lang zu. Dann waren sie auf sich allein gestellt. Es gab nur
wenige Unternehmen in Brasilien, die bereit waren, mehr zu zahlen, aber davon ließen sich unsere Frauen nicht entmutigen - sie
erarbeiteten ein Programm und verkauften es uns. Inzwischen kommt Semco für alle Pflegekosten im ersten Lebensjahr des Kindes
auf, im zweiten wird etwas weniger gezahlt, noch weniger im dritten und so weiter - bis zum sechsten Lebensjahr, wenn die Kinder
ganztags in der Schule sind.
Dieser Plan gefällt uns allen, genauso wie den Leuten in den vielen Unternehmen, die ihn übernommen haben.
Der zweite Frauenkongreß ließ nicht lange auf sich warten - eine zweitägige Veranstaltung, die für manche Ehemänner und Chefs
sicher viel schwerer zu akzeptieren war. Aber über hundert Frauen nahmen daran teil, unter anderem auch eine Frau, die der
Gewerkschaft beitreten wollte.

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Es begann mit einer Übung, die »Die Klagemauer« hieß und bei der die Frauen Graffiti an eine Saalwand kritzelten, die dafür
eigens präpariert worden war. Das Ziel war, alles herauszulassen. Weiß der Himmel, was sie da alles hingeschrieben haben - mir hat
niemand etwas davon erzählt. Es wurde auch wie im Vorjahr getanzt und gesungen, aber die Stimmung bei diesem Kongreß war
geschäftlicher als beim ersten. Um diese Zeit hatte Semco damit begonnen, ßürojobs abzuschaffen, die keinen zusätzlichen Anreiz
boten, und darum verbrachten die Frauen einen Teil der Sitzung damit, Ausbildungsprogramme für die Übergangsphase zu
entwickeln. Und nach ihrer Rückkehr begannen sie damit, alle Managerposten, die frei wurden, daraufhin zu bewerten, ob Frauen
dafür qualifiziert waren. Sie wollten durchaus nicht bevorzugt werden, sondern einfach nur dafür sorgen, daß sie mit berücksichtigt
wurden.
Einige Frauen stiegen tatsächlich auf. Eine wurde Planungsingenieurin, die mit schweren Maschinen wie Schiffspumpen und
großen Mischsystemen zu tun hatte. Eine andere, ebenfalls eine Ingenieurin, verkaufte Kühltürme. Und mehrere Frauen drangen in
die Schiffsindustrie vor, traditionellerweise eine männliche Domäne, und verkauften Ersatzteile im Hafen.
Aber zu meiner Überraschung ließ das Interesse an den Mittagspausentreffen nach. Und etwa zur gleichen Zeit geriet die
brasilianische Wirtschaft in eine Flaute, und wir mußten Entlassungen vornehmen, was besonders die Frauen, von denen wir viele
zuletzt eingestellt hatten, hart traf. Ich begann zu glauben, daß das Projekt ein Fehlschlag gewesen sei.
Doch Laura war anderer Meinung. Sie meinte, die Bewegung habe weitgehend ihre Anliegen verwirklicht, und es gebe eben
nicht mehr so viel, was man mit einer gemeinsamen Anstrengung erreichen könnte. Nun lag es an jeder einzelnen Frau, die
Initiative zu ergreifen und weiterzukommen.
»Keine Angst«, sagte Laura, »wenn ein Problem auftaucht, das kollektives Handeln erfordert, dann werden auch die Frauen
dazu bereit sein.«
Etwa ein Jahr später kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei konkurrierenden Gewerkschaften. Die eine hatte zu einem
Ge-

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neralstreik im ganzen Land aufgerufen, und wenn der erfolgreich verlief, dann wäre das nicht nur für die betroffenen Unternehmen,
sondern auch für die Konkurrenzgewerkschaft ein schwerer Schlag. Also beschloß diese, zuerst zu streiken, und schickte
Organisatoren von Werk zu Werk, die um Unterstützung werben sollten.
Semco war ein bevorzugtes Zielobjekt. Da wir immer wieder von uns reden machten, würde ein Ausstand in einer unserer
Fabriken eine Menge Publicity bedeuten. Die zweite Gewerkschaft schickte einen ihrer besten (schlimmsten?) Männer zu uns:
Horatio Pinipa, einen Radikalen, den unsere Arbeiter eher fürchteten als bewunderten. Horatio mochte auch Semco nicht - er fühlte
sich von den Verhandlungen unserer Werkskomitees ausgeschlossen. Wenn er uns eins auswischen wollte, dann war dies seine
Chance.
Bis heute können sich viele Semco-Mitarbeiter nicht erklären, warum sie sich von Horatio dazu überreden ließen, in den Streik
zu treten. (Sie gehörten nicht zu den Arbeitern im Hobart-Werk.) Pinipa stand auf einem Lastwagen, der mit einem dröhnenden
Lautsprechersystem versehen war, redete wild drauflos, beschimpfte mich und versuchte die Fabrikarbeiter gegen die
Büroangestellten aufzuhetzen, die sich dem Ausstand widersetzten. Dann wurde es einem Ingenieur namens Alberto zu bunt. Er
ging zum Lastwagen und wollte das Mikrophon haben. Pinipa hätte ihn fast geschlagen, dann fing er wieder mit seinen
Beschimpfungen an - bis er überzog. »Diese Bande von Weibern bei Semco, die machen doch nichts Vernünftiges«, höhnte er. »Die
gehen doch nur mit den Managern ins Bett.«
Im Nu schlossen sich etwa 40 Frauen in einem Konferenzraum im ersten Stock zu einem wütenden Gremium zusammen. Dann
drängten sie auf den Hof und umringten Pinipa. Sie zeigten mit den Fingern auf ihn und schrien, er solle das sofort zurücknehmen.
Pinipa brüllte zurück, er werde einen Scheißdreck zurücknehmen.
Da versuchte Lia Guerra, eine reizbare Chilenin, ihm eine runterzuhauen. Sie wurde zwar von ein paar anderen Frauen
zurückgehalten, schrie aber weiterhin auf Pinipa ein, er solle doch von seinem Lastwagen herunterkommen und mit ihr kämpfen.
In diesem Augenblick verlor unsere Telefonistin Iracema wirklich die Beherrschung. Sie ging zu ihrem Wagen und nahm die
Pistole heraus, die sie in ihrem Handschuhfach aufbewahrte. (Sie mußte je-

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den Abend durch die schlimmsten Viertel der Stadt heimfahren, und mit der Pistole fühlte sie sich einfach sicherer.)
Glücklicherweise konnte Flor sie dazu bewegen, sie wieder zurückzulegen.
Pinipa, der sich inzwischen in der Fahrerkabine zusammengeduckt hatte, ließ uns wissen, er sei bereit, den Streik zu beenden,
und wir garantierten ihm sicheren Zugang zum dritten Stock, damit er den Friedensvertrag unterzeichnen konnte. Als er das getan
hatte, sagte Laura, sie solle ihm etwas ausrichten.
»Horatio, einige Ihrer Mitglieder wollen sich jetzt mit Ihnen treffen.«
»Warum?« fragte der schockierte Gewerkschaftsmann.
»Ich glaube, sie wollen sich ein wenig mit Ihnen unterhalten.«
»Sagen Sie ihnen, ich kann nicht. Ich habe noch eine Menge zu tun, wenn ich von hier weggehe.«
Und damit stürzte dieser tapfere, radikale Gewerkschaftsführer die Treppe hinunter, vorbei an den Frauen, die sich am Tor
versammelt hatten.
Laura hatte recht: Diese Bewegung wartete nur ab.

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Kapitel 20: Flexible Arbeitsplätze

Wir brauchten Jahre, bis wir Marcio Batoni engagieren konnten. Das erste Vorstellungsgespräch fand bereits 1983 statt, als er noch
ein junger Produktionsingenieur bei der Nähmaschinenfirma Vigorelli war, eine geniale neue Fräsmaschine entwickelte und dabei
viele Komponenten verwendete, die das Unternehmen bereits auf Lager hatte.
Zu unserer Enttäuschung nahm Marcio damals jedoch einen anderen Job an - er wurde Herstellungsleiter bei einem deutschen
Unternehmen namens Cyklop, das Verpackungsmaschinen herstellt.
Gleich zu Beginn des darauffolgenden Jahres warfen wir erneut ein Auge auf ihn. Er besuchte uns, kurz bevor er für einen
Monat nach Deutschland ging, um dort auf Kosten von Cyklop ausgebildet zu werden. Aus diesem Grund hielt er es für
unmoralisch, nach seiner Rückkehr zu kündigen.
Aber hartnäckig, wie wir nun einmal sind, versuchten wir im August des folgenden Jahres erneut, ihn zu uns zu holen (wobei
Clovis und ich entschieden hatten, das dies der dritte und letzte Versuch sein würde).
Nach langem Hin und Her beschloß Marcio endlich, zu uns zu kommen. Aber er wollte Cyklop nicht Knall auf Fall verlassen,
sondern bat uns, noch vier Monate Geduld zu haben. Das paßte uns zwar gar nicht, aber als wir darüber nachdachten, war uns klar,
daß wir es auch gern hätten, wenn er sich uns gegenüber so verhielte, falls er uns verließe.
Als er schließlich da war, ernannten wir ihn sofort zum Werksleiter von Santo Amaro. Kurze Zeit später übernahm er auch die
Materialverwaltung und den Materialeinkauf bei Semco. Dann wurde er unser Chefingenieur. 1988 war Batoni Generaldirektor
unserer Kühl-

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Systemeinheit, wo er trotz der verheerenden Wirtschaftslage Zuwächse im Verkauf und bei den Gewinnen erzielen konnte. (Als wir
diese Einheit von den Amerikanern kauften, machte sie gerade 1,2 Millionen Dollar Jahresumsatz; Batoni erhöhte ihn auf knapp
vier Millionen Dollar, mit einer Gewinnmarge von 10 Prozent nach Steuern.)
Doch wir geben uns nie damit zufrieden, wenn etwas gut genug ist. Während Marcio das Werk in Santo Amaro geleitet hatte,
konnte er Erfahrungen mit unseren Schiffahrtsprodukten machen, und damit schien er der richtige Mann für das Nacoes-Unidas-
Werk zu sein, wo diese Produkte inzwischen hergestellt wurden.
Diese Art von Versetzungspolitik, die manchem als hektisch und verwirrend Vorkommen mag, gehört zum Lebensstil bei
Semco. Ja, derart »chaotische« Karrieren wie die von Marcio haben wir in einem Arbeitsplatz-Rotationsprogramm geradezu
institutionalisiert, bei dem zwischen 20 und 25 Prozent unserer Manager in jedem Jahr einen Wechsel vornehmen. Ich möchte
wetten, daß weniger als ein Drittel unserer Leute noch nie rotiert haben.
Der Mensch ist von Natur aus rastlos. Wenn er sich zu lange an einer Stelle aufhält, ist kaum zu vermeiden, daß er sich
langweilt, die Motivation verliert und unproduktiv wird. Die Abhilfe bestand meiner Ansicht nach darin, unsere Manager zu
ermutigen, ihre Jobs untereinander auszutauschen. Jemand in der Buchhaltung tauscht beispielsweise seinen Job mit jemandem
im Verkauf. Beide beginnen damit, daß sie diesen Wechsel etwa ein Jahr im voraus planen, damit jeder Zeit hat, die Aufgaben des
andern kennenzulernen, und damit der Übergang reibungslos vollzogen wird. Aber wie bei anderen Semco-Programmen wollen wir,
daß unsere Mitarbeiter die Initiative selbst übernehmen. Wir sehen nicht ein, daß wir in der Firmenleitung entscheiden sollen, wer
mit wem tauscht.
Nach unserem Gefühl ist ein Minimum von zwei Jahren und ein Maximum von fünf Jahren in einem Job sinnvoll. Wer seinen
Job allerdings länger behalten will, kann das durchaus - vorausgesetzt, er findet ständig neue Herausforderungen für sich selbst.
Sonst muß er oder sie beim Bäumchen-wechsle-dich-Spiel mitmachen.

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Inzwischen haben wir - zum Entsetzen eingefleischter Traditionalisten - mehrere derartige unternehmerische Transplantationen
erlebt, und zwar mit Erfolg. Eine unserer bestgeführten Einheiten, die Geschirrspülerdivision, bei der ständig schwierige
Entscheidungen beim Marketing und in der Produktion erforderlich sind, wird derzeit von einem Buchhalter geleitet, der über viele
Jahre unser Buchprüfer war. Unsere Elektronikeinheit für Hardware und Software, die Waagen herstellt, wird von einem
Maschinenbauingenieur geführt. Unser derzeitiger Controller war bis vor kurzem noch Vertriebsleiter. Oder denken Sie an Batoni,
dem bislang drei verschiedene Unternehmenseinheiten bei Semco unterstellt waren.
Wir möchten nicht, daß unsere Leute das Gefühl haben, durch ihr Studium oder ihre Berufslaufbahn endgültig festgelegt zu
sein. Ebenso lassen wir nicht zu, daß eine mangelhafte Schulbildung jemanden an seiner freien Entfaltung hindert. Wir haben schon
mal einen Finanzchef und einen Technischen Direktor gehabt, die beide nur die High School besucht hatten. Ein anderer
Technischer Direktor hatte praktisch überhaupt keine Schulbildung, aber das hielt ihn nicht davon ab, ein Team von Ingenieuren zu
leiten, die die bedeutendsten Hochschulen Brasiliens absolviert hatten. Wenn ein Waagenbauer Systemanalytiker werden möchte,
dann versuchen wir, ihm das zu ermöglichen. Wenn eine Sekretärin Vertriebsingenieurin werden will, dann gewähren wir ihr eine
Studienbeihilfe.
Die Arbeitsplatzrotation weist so viele Vorzüge auf, und zwar für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer, daß es mich eigentlich
wundert, warum so wenige Unternehmen sich dafür einsetzen. So werden die Menschen dazu gebracht, sich neue Fähigkeiten
anzueignen, und das macht ihr Leben interessanter. Auf diese Weise wird auch die Bildung von Machtbereichen und Machtkartellen
behindert, denn wenn die Menschen alle paar Jahre ihre Sachen packen und neue Aufgaben übernehmen, können sich keine
verkrusteten Machtstrukturen herausbilden. Die Rotation verschafft den Leuten einen weiteren Horizont im Hinblick auf das
gesamte Unternehmen: Ein Finanzcontroller, der einem Verkäufer wegen irgendwelcher Zahlungsbedingungen dauernd in den
Ohren liegt, wird das bereuen, wenn er seinen Job wechselt und dahinterkommt, wie schwierig es ist, mit einem echten, lebendigen
Kunden umzugehen.

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Die Rotation zwingt ein Unternehmen, mehr als eine Person für einen Job einzuarbeiten: ein ausgezeichnetes Verfahren für die
unternehmerische Disziplin und eine zusätzliche Chance für all jene, die sonst in der Mitte der Pyramide festsäßen. Sie fördert die
Verbreitung unterschiedlicher Persönlichkeiten, Ansichten, Hintergründe und Techniken und versorgt das ganze Unternehmen mit
neuem Blut und frischen Visionen. Sie macht auch Schluß mit dem Persönlichkeitskult: Kunden und Zulieferer haben eine
Beziehung zum Unternehmen, nicht zu Mr. Frankenheim. Und sie verringert die üblichen Traumata, wenn jemand eine Abteilung
oder gar das Unternehmen verläßt, besonders, wenn der oder die Betreffende so gearbeitet hat, als sei er oder sie unersetzbar. Dann
handelt es sich nämlich um den bewußten Versuch, sicherzustellen, daß man - sei es aufgrund der eigenen Unfähigkeit zu
delegieren, sei es wegen anderer Defizite - alles absolut im Griff hat. Niemand will schließlich, wenn er am Rotationssystem
teilnimmt, eine schlechte organisierte Abteilung abgeben oder als Diktator beziehungsweise als jemand gelten, der nicht die
richtigen Leute einstellen kann.
Natürlich muß man bei der Rotation besonders sorgfältig Vorgehen, damit nicht etwa Fachleute dort verlorengehen, wo sie
dringend gebraucht werden. Aber heute ist das bei Semco kein so großes Problem mehr wie früher, da uns die Rotation zwingt, in
vielen Bereichen mehr als einen Experten heranzubilden.
Und wenn nun jemand mit einem einzigartigen Talent zur falschen Zeit meint, er brauche einen Wechsel? Nun, wenn er diesen
Wechsel wirklich will, dann wird er notfalls auch die Firma wechseln, egal was wir tun, und dann steht er uns überhaupt nicht mehr
zur Verfügung. So behalten wir ihn lieber, damit er uns weiterhin beraten kann, auch wenn er in einer anderen Abteilung ist.
Außerdem haben wir noch nie erlebt, daß jemand mit wertvollen Fähigkeiten in eine andere Position überwechseln wollte, ohne sich
verantwortungsbewußt um einen passenden Ersatz zu kümmern, selbst wenn dessen Ausbildung ein paar Jahre dauerte, bis er auf
Vordermann war. Normalerweise heißt es: »Schauen Sie, ich habe da einen Burschen, der ist bei mir schon seit drei Jahren, und in
zwei Jahren ist er soweit, daß er mich ersetzen kann.«
Und dann warten wir alle einfach ab.

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Ob mit oder ohne Rotation: Bei Semco geht es jedenfalls ganz schön rund. Ich bin überzeugt, daß sich unsere Manager weniger
sicher fühlen, als sie es etwa in vergleichbarer Position im Zweigunternehmen eines großen Multis wären. Sichern Sie sich in einem
großen Konzern einen passenden Job, halten Sie sich an die allgemein bekannten Regeln, und sie werden prächtig schlafen können.
Semco-Manager müssen dagegen die ganze Zeit damit rechnen, mit irgendwelchen schwierigen Situationen konfrontiert zu werden.
Langeweile kennen wir jedenfalls nicht.
Bisweilen ist Semco vielleicht zu interessant. Unsere Mitarbeiter beklagen sich ständig darüber, daß es bei uns zu viele und zu
rasche Veränderungen gibt. Dauernd haben wir neue Programme eingeführt - und ich war stets enttäuscht, wenn meine Ideen nicht
innerhalb einer Woche in die Tat umgesetzt werden konnten. Aber schließlich war ich immer schon zu stürmisch. Ich weiß noch gut,
wie ich als Mittelstreckenläufer in der High School an einem wichtigen Rennen auf Landesebene teilnahm. Ich hatte hart trainiert,
war meiner Sache sicher und zog die Innenbahn. Nach dem Startschuß sprintete ich sofort los und lag ungefährdet in Führung. Als
ich die letzte Kurve umrundete, lief mein Kopf zwar voraus über die Ziellinie, aber meine Beine wurden weich und weigerten sich,
mir weiter zu gehorchen. Ich weiß nur noch, wie ich auf der Aschenbahn lag, nach Luft rang und Zusehen mußte, wie meine Gegner
die Ziellinie überquerten. Ich erkannte damals, daß es keine Kunst ist, an die Spitze zu gehen - es bis zur Ziellinie in einem Zug zu
schaffen, darin liegt die Schwierigkeit.
Bei Semco ist der Druck auch größer, weil wir wirklich an den Markt glauben. Wir schützen niemanden vor dem Auf und Ab des
Geschäftslebens oder der verrückten brasilianischen Wirtschaft. Das ist nichts für jedermann - mit Sicherheit nichts für Bürokraten,
deren Laufbahn darin besteht, daß sie sich wie Soldaten in Schützengräben einbuddeln.
Wegen dieses Drucks glauben wir auch an die Nützlichkeit des beruflichen Recyclings, auch Sabbatical, Freisemester oder
Bildungsurlaub genannt. Wir nennen es unseren Hepatitis-Urlaub: Wenn unsere Leute sagen, sie hätten keine Zeit mehr zum
Denken, dann fordern wir sie auf, sich doch einmal vorzustellen, was passieren

---OP 197---

würde, wenn sie plötzlich Hepatitis bekämen und gezwungen wären, drei Monate im Bett zu verbringen. Und dann raten wir ihnen,
eine Zeitlang von der Bildfläche zu verschwinden.
Unsere Mitarbeiter - bislang ist dieses Programm auf die Jobs der mittleren oder höheren Ebene beschränkt - könne alle ein
oder zwei Jahre ein paar Wochen oder sogar ein paar Monate ihre üblichen Pflichten ruhen lassen. Sie können diese Zeit damit
verbringen, daß sie Bücher oder Zeitschriftenartikel lesen, sich neue Fähigkeiten aneignen oder ihren Job neu gestalten. Oder sie
können einfach nur nachdenken. Denn darauf kommt es eigentlich beim Hepatitis-Urlaub an. Er ist keine Kur gegen Überarbeitung.
Vielmehr soll er eine Unterbrechung im Berufsleben darstellen, damit unsere Leute innehalten und ihr Arbeitsleben wie ihre Ziele
neu überdenken können. Es ist ein Punkt, an dem sie vorausplanen, ihre Prioritäten klären und gestärkt wieder zurückkommen
können, um ihre Ziele in Angriff zu nehmen. Und wenn ihre Erholungszeit zu Ende ist, dann kommen sie schon von selbst wieder.
Aber manchmal spielt uns unsere Flexibilität auch einen Streich. Wir haben einmal über zehn Monate damit verbracht, einen
leitenden Angestellten auf seine neue Position als Produktionsleiter vorzubereiten. Dann erfuhren wir aus seinem Fragebogen unter
Rubrik »Was möchten Sie in 10 Jahren sein«, daß ersieh mehr für Marketing interessierte. Also bezahlten wir auch seine
Weiterbildung auf diesem Gebiet und schickten ihn auf die bedeutendste Wirtschaftsakademie des Landes. Auf diese Weise wurde
er Leiter unseres Werks für Schiffahrtsprodukte.

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Kapitel 21: Problemfälle

Der Brief kam mir schon seltsam vor, als ich den Absender sah. Denn ich war mir sicher, daß es in dieser Gegend der Stadt keine
Wohnhäuser gab.
Und richtig, die Botschaft war in Buchstaben abgefaßt, die aus einer Zeitschrift ausgeschnitten waren, wie ein Erpresserbrief in
einem Krimi. Sie enthüllte Details einer angeblichen Mauschelei zwischen zwei leitenden Semco-Angestellten und einem Zulieferer
von Stahlplatten und war, wie der anonyme Verfasser erklärte, geschrieben worden, um eine Dankesschuld gegenüber meinem
Vater abzutragen.
Der Brief kam mit meiner Privatpost, kurz nachdem wir dem genannten Zulieferer einen Auftrag in Höhe von über 50000
Dollar erteilt hatten. Da wir mit dieser Firma bislang keine Geschäfte gemacht hatten und keine anderen Angebote eingeholt
worden waren, wäre es wohl unser gutes Recht gewesen, die betreffenden Manager ins Gebet zu nehmen. Aber wir hatten bei Semco
gerade ein neues Zeitalter des Vertrauens begonnen, und in diesem Sinne schien es nur logisch, Beschuldigungen abzutun, für die
keine Beweise mitgeliefert wurden, ganz zu schweigen von der Anonymität des Verfassers.
Statt uns also die beiden leitenden Mitarbeiter vorzunehmen, beschlossen Clovis und ich, den Verleumder herauszufinden. Falls
diese Behauptungen falsch waren, dann sollte dieser Kerl natürlich nicht mehr für uns arbeiten. Wenn sie aber stimmten, dann
würden wir schon die entsprechenden Schritte tun, doch wir wollten auch wissen, warum es nötig war, das Ganze auf so
hinterhältige Weise zu enthüllen.
Der Absender war mit der Hand geschrieben, und Clovis beauftragte einen Polizeigraphologen, das Gekritzel unter die Lupe zu

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nehmen. Bei seiner Untersuchung ging dieser Experte auch unsere Akten durch. Eine Woche später hatten wir seinen Bericht
vorliegen und waren froh, daß wir die Angelegenheit so diskret behandelt hatten. Unser Handschriftenfachmann war sicher, daß der
Autor derselbe Mitarbeiter war, der bereits vor einem Jahr einen ähnlichen Brief geschrieben hatte, seinerzeit unter seinem Namen.
Wir hatten diesen Brief ignoriert, weil der Betreffende dafür bekannt war, daß er gegen Vorgesetzte unbegründete Beschuldigungen
erhob. Es war kein Geheimnis, daß er das Gefühl hatte, bei anstehenden Beförderungen ungerechterweise übergangen worden zu
sein.
Damit waren die beiden leitenden Mitarbeiter entlastet, und der Verleumder wurde entlassen. Und erst dann erfuhren alle von
dieser Angelegenheit.
Aber bevor Sie den Eindruck bekommen, wir würden die Dinge auf die leichte Schulter nehmen, möchte ich schnell einen
anderen Fall erzählen. Ein paar Monate nachdem wir die Hobart-Fabrik übernommen hatten, bemerkte ein Arbeiter, daß drei
Mitarbeiter aus der Ersatzteil- und Service-Abteilung oft aus unerfindlichen Gründen Überstunden machten. Eines Abends blieb er
da, versteckte sich in einer kleinen Kammer und wartete. Durch ein winziges Loch in der Tür konnte er sehen, wie das Trio heimlich
Ersatzteile zu ihren Autos schaffte. Die Diebe wurden geschnappt, entlassen und eingesperrt. Sie hatten uns schon seit etwa einem
Monat bestohlen. Nicht auszudenken, wie lange das noch so gegangen wäre, wenn dieser Arbeiter nicht aufgepaßt hätte.
Ich glaube, diese beiden Fälle veranschaulichen ganz gut, wie sich Verbrechen und ihre Bestrafung im Semco-Stil abspielen. Wir
erstatten immer Anzeige, wenn wir glauben, daß jemand ein kriminelles Delikt begangen hat. Immer. Aber unterhalb der
tatsächlichen Kriminalitätsschwelle - oder in Fällen, in denen Zweifel angebracht sind - sind wir extrem zurückhaltend, uns
einzumischen. Wir verzichten auf schriftliche Abmahnungen, auf Suspendierungen von Leuten, auf Lohnkürzungen oder ähnliches.
Wir wollen schließlich keine Schulmeister sein. Wir sprechen über alles, was uns stört, unternehmen aber im allgemeinen keine
offiziellen Schritte. Doch wenn wir das Gefühl haben, daß jemand wirklich als Mitarbeiter nicht zu uns paßt, dann sagen wir es ihm
auch. Und wenn er sich nicht ändert,

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werfen wir ihn schließlich raus. Aber wir klopfen ihm nicht auf die Finger.
Wie so vieles an unserem Denken sind auch unsere Ansichten über Disziplin von der Überzeugung geprägt, daß unsere
Mitarbeiter Erwachsene sind und stets als solche behandelt werden sollten. Als Semco sich veränderte, stellten wir zwei
Verhaltensregeln auf: Nummer eins - jeder Mitarbeiter ist verantwortlich für das, was er tut; und Nummer zwei - was unsere Leute
in ihrer Freizeit tun, ist ihre Sache. Wir kümmern uns nur um die Arbeit eines Mitarbeiters, nicht um sein Privatleben, solange es
seine Leistung am Arbeitsplatz nicht beeinträchtigt.
Bei einem dieser Grillfeste, die unsere Fabriken veranstalten, wenn sie ihr Monatsziel erreicht haben, haben einmal ein paar
Arbeiter angefangen, Marihuana zu rauchen. Bei vielen Unternehmen wären sie sofort rausgeflogen, aber nicht bei Semco. Wir
beriefen eine Besprechung mit dem Werkskomitee ein und erklärten, daß das Rauchen von Marihuana auf dem Firmengelände
schlicht verboten sei. Wir kannten die Leute, um die es ging, nannten ihre Namen aber nicht. Wir wollten sie nicht bestrafen,
sondern einfach dafür sorgen, daß dies nicht wieder vorkam.
So wenig wir uns durch die Fehler und Schwächen unserer Mitarbeiter gefährdet sehen, so wenig fühlen wir uns andererseits für sie
verantwortlich. Wenn ein Arbeiter Alkoholiker ist, dann ist es nicht die Aufgabe von Semco, ihn zum Abstinenzler zu machen.
Darum sollen sich die Anonymen Alkoholiker kümmern. Ist er ein Kettenraucher, dann gehört es nicht zu unseren
unternehmerischen Pflichten, seine Lunge zu säubern. Wenn er kokainabhängig ist und sich in medizinische oder psychiatrische
Behandlung begeben will, dann sind wir zwar bereit, ihm dazu zu verhelfen, aber - und das ist eines dieser wichtigen Aber - er selbst
muß den ersten Schritt tun.
Das mag manchem herzlos oder gar altmodisch Vorkommen in einer Zeit, in der viele Unternehmen glauben - nein,
proklamieren -, daß es ihre Pflicht sei, ihre Mitarbeiter im Kampf gegen Drogen oder Alkohol oder bei privaten Problemen zu
unterstützen. Ich bin sicher, sie meinen es gut. Aber wir wollen aus unseren Managern keine Vaterfiguren machen, auch wenn es
ihnen innerlich noch so wohl tun

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sollte. Wir wollen keine große, glückliche Familie sein. Wir wollen ein Unternehmen sein. Fahren Sie bloß nicht auf dieses Gerede
von »Wir sind alle eine Familie« ab. Fragen Sie mal jemanden, der in Rente geht und drei Tage später schon nicht mehr durchs
Werktor gelassen wird. Selbst ein Arbeiter, der krank wird, ist schon vergessen, wenn er nicht bald genug wieder in die Fabrik
zurückkehrt. Am Anfang werden vielleicht noch ein paar Kumpels aus der Firma bei ihm vorbeischauen, und jeden Monat bekommt
er seinen Lohnscheck, aber in dieser traurigen Situation merken die Menschen bald, daß kein Unternehmen eine Familie ist.
Genauso wie alle anderen Menschen wollen auch Geschäftsleute gern in den Himmel kommen. Und wie findet man mit
Sicherheit ewigen Frieden, wenn nicht durch gute Taten auf Erden? Doch das Problem bei der unternehmerischen Fürsorge besteht
ja darin, daß der Chef zwar mit einer Hand streichelt, aber oft mit der anderen zuschlägt.
Der Inhaber eines in unserem Industriebereich tätigen Unternehmens gilt als einer der großzügigsten Bosse im ganzen Land.
Als der Sohn eines Arbeiters an einer schweren Krankheit litt, die nur im Ausland behandelt werden konnte, übernahm dieser Boß
sämtliche Kosten, die mehreren Jahreslöhnen des Vaters entsprachen - eine Summe, die er nie würde zurückzahlen können. Und
das mußte er ja auch nicht, denn es war ein Geschenk und kein Darlehen. Aber wenn sich dieser wunderbare, fürsorgliche,
großzügige Inhaber in seiner Firma umsah und entdeckte, daß jemand etwas tat, was er nicht mochte, dann warf er ihn auf der
Stelle hinaus (mit einer großzügigen Abfindung, versteht sich). Das ist die Kehrseite der Fürsorge. Die Mitarbeiter verkaufen
solchen Unternehmen ihre Seele für die Dauer ihres Arbeitslebens, und das kann sie teuer zu stehen kommen.
Einen derartigen Pakt wollen wir bei Semco nicht schließen. Aber das heißt noch lange nicht, daß unsere Leute ihren Kollegen
nicht helfen können. Wir haben nichts gegen Mitgefühl, wir wollen nur, daß es spontan ist, freiwillig und von Herzen kommt. Als
ein Mann aus unserer Putzkolonne beispielsweise im relativ fortgeschrittenen Alter von 50 Jahren erfuhr, daß seine schwangere
Frau Zwillinge erwartete, ging Lia aus unserer Personalabteilung durch Fabrikhallen und Büros und sammelte Geldspenden und
Kinderkleidung. Nie-

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mand hatte sie dazu aufgefordert - sie tat es ganz von sich aus. Und fast jeder im Unternehmen gab ihr etwas, worauf wir viel stolzer
waren, als wenn unser Kassierer einfach einen Scheck geschickt hätte.
Gelegentlich leiht Semco seinen Mitarbeitern auch Geld, aber nur in unerwarteten Notfällen, etwa wenn das Haus eines
Arbeiters vom Hochwasser beschädigt oder seine Frau krank wird. Solange wir den Eindruck haben, daß ein Mitarbeiter uns das
Geld zurückerstatten kann, dann tun wir fast alles, damit er das Darlehen bekommt, das er benötigt - und wenn er es ein, zwei oder
sogar drei Jahre lang abzahlen muß. In diesem Fall werden wir vielleicht 20 oder 30 Prozent seines Lohns abziehen, bis wir wieder
quitt sind. Aber wenn ein Arbeiter die Möglichkeit hat, das Haus zu kaufen, in dem er wohnt, oder ein Auto, das sein Schwager
abstoßen will, dann leihen wir ihm keinen Cent. Wir wollen uns nicht in sein Finanzleben einkaufen oder an seinen Träumen
teilhaben. Vielleicht bieten wir ihm einen Kurs über Finanzplanung an oder wir errechnen ihm die Höhe der Hypothek, die er sich
maximal leisten kann, aber das ist auch schon alles. Die Liebe und Fürsorge, die wir ihm bieten, werden ihm von unseren Leuten,
nicht von unserer Firmenpolitik gewährt.
Sie werden auch keine Aschenbahn, keinen Swimmingpool, keinen Fitneßraum bei Semco entdecken. Viele Unternehmen legen
sich derartige Einrichtungen zu, um ihren Mitarbeitern dabei zu helfen, mit dem Streß fertig zu werden. Bei Semco bemühen wir
uns zunächst darum, daß es gar nicht erst zu Streß kommt.
Soll das nun heißen, daß Unternehmen alle Vergünstigungen abschaffen und die menschlichen Ressourcen, die sie verbrauchen,
in zusätzliche Zahlungen umwandeln sollten? Natürlich nicht. Die entsprechenden Summen würden nicht ausreichen, damit sich
die Mitarbeiter die gleichen Vergünstigungen selber kaufen könnten. (Das ist einer jener Fälle, in denen sich der Großeinkauf als
wirtschaftlich erweist.) Also gehen wir einen Kompromiß ein, indem wir unseren Mitarbeitern Vergünstigungen wie eine
Krankenversicherung zukommen lassen. Das heißt, das Unternehmen steuert das Geld bei, aber die Mitarbeiter entscheiden
darüber, wie es angelegt wird.
Es ist gar nicht so einfach, unseren Laisser-faire-Idealen gerecht zu werden. Da fällt mir beispielsweise die Geschichte von Celso
Violin

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ein, einem Mitarbeiter in unserer Personalabteilung. Eines Tages bat er Jose Fernandes, einen Arbeiter vom
Büroreinigungspersonal, ein paar vertrauliche Akten - Gehaltslisten, die auch Angaben über ein paar leitende Mitarbeiter
enthielten, die ihr Gehalt noch immer nicht offenlegen wollten - in unseren Reißwolf zu geben, der so laut ist, daß er in irgendeiner
entlegenen Ecke in der Halle steht. Jose begann die Maschine mit den Papieren zu füttern, mußte aber für ein paar Minuten weg,
um irgendwelchen Müll einzusammeln. Schon nach wenigen Augenblicken stürzte ein Kollege in Celsos Büro. »Los, komm, und
schau dir das an da draußen!« rief er atemlos.
Celso raste in die Halle und sah, wie sich ein Wachmann über den Reißwolf beugte und die Papiere las. Dieser Bursche war ein
Problemfall: Er benützte seinen Sonderstatus als Mitglied des Werkskomitees dazu, uns allen möglichen Ärger zu machen. Er war
einer von jener Sorte Arbeiter, die daran schuld waren, daß die Komitees einen schlechten Ruf hatten.
»Was tun Sie da?« schrie Celso, der die Antwort zwar kannte, aber dem nichts Besseres einfiel.
»Lesen«, erwiderte der Wachmann lässig.
»Das dürfen Sie nicht«, sagte Celso. »Das sind vertrauliche Papiere.«
Der Wachmann murmelte giftig vor sich hin und trollte sich. Später rief ihn Paulo Pereira in sein Büro und fragte ihn, warum er
da herumspioniert habe. Der Wachmann sagte immer wieder, er habe es nicht böse gemeint. Aber Paulo wußte genau, was er im
Schilde geführt hatte: Er versuchte nachzuweisen, daß einige Manager viel mehr verdienten, als sie offiziell angegeben hatten. Und
Paulo machte dem Wachmann klar, daß er das auch wußte. Dann fragte er ihn, was Semco nun seiner Meinung nach tun solle. Ich
bin sicher, daß ihn diese Frage überrascht hat. Aber der Wachmann hatte auch für Paulo eine überraschende Antwort parat: Da er
nichts Böses im Schilde geführt habe, als er sich die Papiere ansah, könne er seiner Meinung nach auch nicht dafür belangt werden.
Ich möchte wetten, daß die meisten Unternehmen den Wachmann augenblicklich gefeuert hätten. Wenn Mitarbeiter wichtige
Regeln verletzen, versuchen Unternehmen normalerweise ein Exempel an ihnen zu statuieren, zur Abschreckung. Aber Semco ist
ein partizipa-

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tives Unternehmen, und wir stellen keine Fragen, wenn wir nicht auf die Antwort gefaßt sind. Wir hielten uns an die Empfehlung
des Wachmanns und taten nichts - das heißt, wir erklärten ihm immerhin, daß wir das, was er getan hatte, nicht für richtig hielten.
Bei Semco kommt es nur selten vor, daß jemandem aus einem schwerwiegenden Grund gekündigt wird, aber wenn dies der Fall ist,
dann hängen wir keine Erklärung ans Weiße Brett, in der wir behaupten: »Herr Kiemmundklau scheidet zu unserem großen
Bedauern aus gesundheitlichen Gründen auf eigenen Wunsch aus unserem Unternehmen aus.« Wenn ein Mitarbeiter unser
Vertrauen enttäuscht hat, dann sagen wir das auch. Wenn er uns wegen eines besseren Jobs verlassen hat, dann sagen wir auch das,
wünschen ihm alles Gute und geben gelegentlich der Hoffnung Ausdruck, daß er eines Tages zurückkehren möge.
Wir versuchen jedenfalls immer die Wahrheit zu sagen - die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Und wenn - was selten
vorkommt - die Wahrheit aus irgendeinem besonderen Grund nicht gesagt werden kann, dann sagen wir lieber gar nichts. Wir
glauben nämlich, daß eins ganz wichtig ist: Alles, was ein Unternehmen verlautbart, besonders gegenüber den Arbeitern oder der
Öffentlichkeit, muß absolut aufrichtig sein. Wir halten uns an diese Politik sogar gegenüber Journalisten. Alle Fernsehsender und
alle großen Zeitungen und Zeitschriften in Brasilien können mit jedem bei Semco sprechen, egal was sie früher über uns berichtet
haben oder noch berichten werden. Und unsere Leute können ihre Meinung frei äußern, ohne Angst haben zu müssen.
Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter, um sicherzustellen, daß die Kommunikation bei Semco auch funktioniert. Zwei- oder
dreimal im Jahr verteilen wir einen Fragebogen unter dem Motto: »Was denkt das Unternehmen?« Damit geben wir den Arbeitern
wieder einmal Gelegenheit, uns zu sagen, ob sie mit ihrem Lohn zufrieden sind, ob es irgendeinen Grund für sie gibt, das
Unternehmen zu verlassen, ob sie für einen Streik wären, ob sie Vertrauen ins Management haben usw. Die Ergebnisse werden
(natürlich) für jedermann zugänglich ausgehängt, und sie ermöglichen uns, unsere Glaubwürdigkeit zu überprüfen, ebenso wie ihre
Sorgen kennenzulernen.

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Wir ermutigen sogar zu zivilem Ungehorsam im Unternehmen, auch wenn wir das möglichst geschickt tun. Wenn
beispielsweise die Anforderung für irgendein Teil vom Einkauf verschlampt worden ist, dann wissen unsere Mitarbeiter, daß sie es
notfalls selbst kaufen und uns dann die Rechnung schicken können. Die Arbeiter haben auch schon in unseren Kantinen
Protestversammlungen abgehalten, weil sie der Meinung waren, wir sollten ihre Mahlzeiten zu 100 Prozent subventionieren und
nicht bloß zu 70 Prozent. Einige haben sich geweigert, eine Uniform zu tragen. Unsere einzige Reaktion besteht darin, daß wir
erklären, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Wenn wir nicht mehr miteinander klarkommen, dann werden unsere Rebellen
entweder irgendwann freiwillig gehen oder langsam und behutsam vom System ausgeschieden werden. Aber wir haben auch Leute
bei uns, die nur wenig von dem halten, was wir denken, und die trotzdem noch immer bei uns sind - uneinsichtig, aber frei. Was
soil’s auch: Solange sie ihren Job tun, müssen sie ja nicht unbedingt ihre Uniform tragen.
Eine gewisse Prise zivilen Ungehorsams ist einfach notwendig, damit ein Unternehmen mitbekommt, daß nicht alles in Ordnung ist.
Statt Angst vor unseren Thoreaus und Bakunins zu haben, lassen wir sie ihre Meinungen frei äußern, auch wenn sie oft ein Stachel
in unserem Fleisch sind.
Einer der spitzeren Stacheln war ein Schweißer in unserer Kühlsystemfabrik, in der wir Kühltürme herstellen. In Brasilien
bekommen Menschen, die unter als gefährlich geltenden Bedingungen arbeiten, einen Lohnzuschlag - 20, 30 oder 40 Prozent mehr,
je nach Risiko. Unser Schweißer und einige seiner Kollegen ersuchten das Werkskomitee, eine Gefahrenzulage für das heiße
Schweißen zu fordern. Aber wann ist heiß zu heiß? Wir erklärten den Arbeitern, wir würden eine Gruppe von Semco-Technikern
beauftragen, ihre Arbeitsbedingungen zu untersuchen, und dann die Bezahlung entsprechend anpassen.
Damit schienen sich alle zufriedenzugeben - außer besagtem Rebellen, der erklärte, Unternehmenstechniker wären seiner
Meinung nach nicht fair. Wir ignorierten seine Einwände, und die Techniker kamen zu dem Ergebnis, daß die Arbeitsbedingungen
tatsächlich ge-

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fährlich seien und damit eine 30-prozentige Zulage rechtfertigten. Wir gingen sofort darauf ein und zahlten die neuen Löhne sogar
rückwirkend für die Zeit, seit die Schweißer zum erstenmal auf das Problem zu sprechen gekommen waren. Aber unser Rebell
glaubte natürlich, daß ihm und seinen Kollegen die volle Prämie von 40 Prozent zustände.
Ein paar Wochen später erreichte einer dieser Schweißer - der Mann, der am längsten dem Unternehmen angehörte - das in
Brasilien für Ganztagsarbeitskräfte vorgeschriebene Rentenalter. Er war schon seit vielen Jahren bei uns und hatte darum ein hohes
Einkommen. Aber er war ein guter Mitarbeiter, und wir beschlossen, ihn als Berater wieder einzustellen, womit wir ganz legal die
Rentenbestimmungen umgehen konnten. Und natürlich zahlten wir ihm das gleiche wie vorher.
Dann meldete sich wieder unser Rebell zu Wort. Als nächstdienstältester Schweißer hatte er gehofft, nun das Gehalt seines
älteren Kollegen zu bekommen. Wir erklärten ihm, das sei eine Ausnahme gewesen, aber damit gab er sich nicht zufrieden. Er
wandte sich an die Gewerkschaft, die ihm jedoch klarmachte, daß er das selbst durchboxen müßte. Und das tat er denn auch - vor
Gericht. Und weil er schon einmal dabei war, verklagte er uns auch gleich noch wegen der Gefahrenzulage.
Darüber waren wir zwar nicht gerade erfreut, aber wenn uns ein Arbeiter verklagen will, dann ist das sein gutes Recht.
Ungefähr einen Monat später sahen wir uns alle vor Gericht wieder. Der Richter begann damit - wie er es in derartigen Fällen
vermutlich immer tat -, daß er die Frage stellte, ob der Kläger die korrekte Abfindung erhalten hätte, als er Semco verließ.
»Ich habe sie nicht bekommen«, erklärte der Schweißer.
Der Richter wandte sich an Paulo Pereira, der das Unternehmen vertrat, drohte ihm mit dem Finger und fragte barsch: »Ja,
warum hat er sie denn noch nicht bekommen?«
»Weil er noch immer unser Mitarbeiter ist«, erwiderte Paulo gelassen.
»Noch Ihr Mitarbeiter?« Der Richter konnte es nicht glauben. »Jeder, der ein Unternehmen verklagt, wird doch entlassen oder
geht freiwillig.«

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Nein, machte ihm Paulo klar, der Schweißer hätte sich zwar mit uns nicht einigen können und beschlossen, vor Gericht zu
gehen, aber er sei noch immer unser Mitarbeiter.
Zur allgemeinen Überraschung unterbrach der Richter die Verhandlung und gratulierte Semco dazu, daß es die Rechte seiner
Mitarbeiter achte.
Dann ging der Prozeß weiter und zog sich über sechs Monate hin. Am Ende aber hatte Semco in beiden Fällen obsiegt. Und der
Schweißer? Er ist noch immer bei uns - und der gleiche Scharfmacher wie früher.

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Kapitel 22: Auch Bosse kann man einstellen und feuern

Anatoly Timoshenko betrat die Arena, in der die Löwen hungrig auf ihn warteten. In einem Konferenzraum in Santo Amaro war
eine Gruppe von Menschen versammelt, die ihm so feindselig gegenübersaßen, wie dies in Friedenszeiten nur möglich war. Wenn er
Glück hatte, würden dies seine künftigen Untergebenen sein.
Timoshenko, ein großer Mann mit sanfter Stimme und einem angegrauten Bart, hatte mit allen Topleuten bei Semco
gesprochen, und wir hatten ihm Glück gewünscht. Aber wir hatten ihm auch unmißverständlich klargemacht, daß wir keinen Finger
für ihn rühren würden. Es war allein seine Sache.
Schon einige Jahre zuvor hatten wir Timoshenko eingestellt, nachdem er sich auf eine Stellenanzeige hin gemeldet hatte.
Damals suchten wir einen Manager, der mit den juristischen Komplikationen von Kaufverträgen vertraut war und der Erfahrung
mit der Auslieferung großer Aufträge sowie im Umgang mit Personal hatte. Außerdem sollte es jemand mit praktischen Kenntnissen
in Planung, Montage, Qualitätskontrolle, Kostenkontrolle, Finanzen und Marketing sein.
Warum ein derart umfassendes und heterogenes Qualitätsprofil? Das Projekt, das wir im Auge hatten, umfaßte den Bau
kompletter Gebäckfabriken - von denen jede aus Teigrührmaschinen, Teigschneidern, Backöfen, Förderbändern, elektronischen
Steuerungen und anderen Geräten im Wert zwischen drei und vier Millionen Dollar bestand. Die dafür erforderlichen Tausende von
Komponenten sollten in unserem Werk in Santo Amaro hergestellt und dann an jeden Ort der Welt transportiert und dort
zusammengebaut werden. Unsere Kunden - Nabisco, Sunshine Biscuits und ähnliche Firmen - würden einfach einen Schalter
umlegen, und schon produzierten sie Ritz Cracker und Oreos.

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Unserer Meinung nach gab es niemand bei Semco, der für diesen Job in Frage kam. Auf unsere Anzeige hin meldeten sich dann
drei Bewerber, von denen Timoshenko mit Abstand der beste zu sein schien. Er hatte bei der Citibank Erfahrungen im Bereich
Finanzen und bei mehreren anderen Unternehmen Erfahrungen in der Produktion gesammelt. Er war auch ganz begeistert, bis wir
ihm sagten, so etwas wie ein Einstellungsverfahren bei Semco habe er sicher noch nie erlebt.
Im Zeitalter des Schlagworts von der neuen Weltordnung glaubt fast jeder, daß alle Menschen ein Recht darauf haben, die zu
wählen, welche sie führen sollen, zumindest im öffentlichen Bereich. Aber noch hat die Demokratie nicht Einzug in der Arbeitswelt
gehalten. Noch immer können in den Büros und Fabriken auf der ganzen Welt Diktatoren und Despoten schalten und walten.
Die meisten Unternehmen und Mitarbeiter nehmen dies als unwandelbares Naturgesetz hin. Aber wir waren ganz und gar nicht
der Ansicht, daß auch bei Semco ein System fortbestehen müsse, demzufolge eine Person eingestellt wird, die zwar ihren künftigen
Boß beeindruckt, hingegen nicht die Achtung der Untergebenen genießt. Und wir hatten auch kein Verständnis dafür, warum wir
einen Abteilungsleiter oder Vorarbeiter behalten sollten, der bei denen, die ihm folgen sollten, nicht besonders gut angeschrieben
war. Also entwickelten wir ein Programm, um sicherzustellen, daß die Bosse von den Leuten, die unter ihnen arbeiteten, bestätigt
würden.
Wie bei so vielen Neuerungen bei Semco weiß ich auch in diesem Falle nicht mehr ganz genau, wie alles begann. Zunächst
wollten wir einfach wissen, warum manche Leute nicht so viel Erfolg hatten, wie wir annahmen, als wir sie einstellten, und so
fragten wir selbstverständlich diejenigen, die unter ihnen arbeiteten. Das führte dazu, daß wir ein Formular entwickelten, das
inzwischen Untergebene dazu benutzen, ihre Manager zweimal im Jahr zu bewerten. Es besteht aus einem Multiple-Choice-Katalog
von etwa drei Dutzend Fragen, mit denen man das technische Können, die Kompetenz, die Führungsqualitäten und andere Aspekte
ermitteln kann, die bei einem Vorgesetzten eine Rolle spielen. Hier einige Beispiele:

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Der/die Betreffende reagiert auf Kritik


a) schlecht - ignoriert sie
b) schlecht - lehnt sie ab
c) einigermaßen gut
d) gut - akzeptiert sie
Wenn die Abteilung des/der Betreffenden einen hohen Produktivitätsstandard erreicht, wird er/sie normalerweise
a) den Erfolg anderer Leute sich selbst zuschreiben
b) diejenigen anerkennen, die die Arbeit gemacht haben
c) das Team als ganzes anerkennen
Der/die Betreffende vermittelt dem Team
a) Angst und Unsicherheit
b) Gleichgültigkeit
c) Sicherheit und Ruhe
Der/die Betreffende
a) macht ständig allen klar daß er/sie der Boß ist
b) macht gelegentlich allen klar, daß er/sie der Boß ist
c) macht nur selten Aufhebens davon, daß er/sie der Boß ist.
Der Fragebogen wird anonym ausgefüllt, so daß niemand Angst davor haben muß, aufrichtig zu sein. Wir bewerten die Fragen und
Antworten nach ihrer Wichtigkeit und errechnen eine Punktzahl, die öffentlich bekannt gemacht wird, so daß jeder weiß, wie er
dasteht. 70 Prozent der maximalen Punktzahl gelten als bestanden, aber die meisten Manager erreichen zwischen 80 und 85
Prozent. Manager, die unter 70 Prozent liegen, werden nicht automatisch entlassen; aber eine niedrige Punktzahl führt
normalerweise dazu, daß erheblicher Druck auf den Betreffenden ausgeübt wird, sich zu ändern. Am liebsten sehen wir es, wenn
sich unsere Leute von Jahr zu Jahr steigern. Vorgesetzte setzen sich mit ihren Untergebenen zusammen und besprechen ihre Noten,
so daß der Prozeß der Veränderung ganz schnell in Gang kommt.
Diese Mitarbeiter-Zensuren bauen auf eine der größten Stärken von Semco: unsere Transparenz. In unserem Unternehmen
können

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die Leute immer sagen, was sie auf dem Herzen haben, sogar gegenüber ihren Bossen - und selbst wenn es dabei um ihre Bosse
geht. Es gehört einfach zu unserer Unternehmenskultur, daß jeder bereit ist, zuzuhören, und zugibt, wenn er sich irrt.
Ursprünglich hatten wir diesen Fragebogen entwickelt, um herauszufinden, warum manche Manager versagten. Aber es kam
auch vor, daß Manager, die wir schätzten - und immer wieder beförderten -, so niedrige Punktzahlen erreichten, daß wir uns
fragten, warum wir so danebenlagen. Es gab einmal bei uns einen Mann, der eine große Abteilung außerordentlich gut führte -
zumindest dachten wir das. Bei seiner ersten Bewertung kam er gerade auf 40 Prozent. Nachdem wir uns den Fragebogen genauer
angesehen hatten, kamen wir zu dem Schluß, daß seine Untergebenen recht hatten: Er war ein großartiger Verkäufer, aber ein
schrecklicher Führer, und seine Leute hatten trotzdem Erfolg. Lösung: Wir machten ihn zum Boß einer Einmann-
Verkaufsabteilung, und seitdem macht er sich glänzend. Und mit einem neuen Leiter lief seine ehemalige Abteilung sogar noch
besser. Damit war alles klar.
Aber derart dramatische Veränderungen kommen selten vor. Viel öfter hilft der Bewertungsprozeß den Leuten, sich zu ändern.
Ich kann da nur aus Erfahrung sprechen. Meine erste Bewertung wurde von zwei Vizepräsidenten und von meiner Sekretärin Irene
Tubertini vorgenommen. »Ich habe eine Liste von allen schlimmen Dingen zusammengestellt, über die ich mich beschweren
möchte«, warnte mich Irene, ehe sie mir erklärte, ich würde sie oft darüber im unklaren lassen, was ich zuerst erledigt haben wollte,
und dann würde ich mich gleich aufregen, wenn sie nicht das Richtige tat. Aufgrund ihrer Klagen entwickelte ich ein bestimmtes
System, indem ich mit verschiedenfarbigen Aufklebern die Priorität einer Arbeit kenntlich machte: Rot stand für äußerst dringend,
Gelb für dringend, Grün für Dinge, die etwas Zeit hatten. (Diese Idee habe ich von den »Stimmungsmarken« in der Fabrik für
elektronische Waagen geklaut.)
Unser nächster Schritt war so naheliegend wie radikal. Ein Manager, der von oben eingesetzt wird, hat zunächst alle gegen sich.
Warum also sollten die Leute nicht ihren Boß selbst wählen? In einem Werk, in dem jeder finanziell vom Erfolg abhängt, ist der
Gedanke, die Un-

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tergebenen aufzufordern, ihre zukünftigen Bosse selbst auszusuchen, eine äußerst vernünftige Möglichkeit, Schlimmes zu
verhindern, bevor der Job vergeben wird. Eigentlich erstaunlich, daß das nicht öfter praktiziert wird.
Also bauten wir unser Bewertungssystem so aus, daß es auch Beförderungen und Einstellungen bei höheren Positionen mit
abdeckte, und zwar mit Hilfe eines anderen Fragebogens, der von Angehörigen des mittleren Managements sowie von Vorarbeitern
ausgefüllt wurde. Aber da diese Untergebenen ja noch nicht für den Bewerber gearbeitet hatten, ergänzten wir das Verfahren um
eine weitere Stufe: ein Gruppen-Vorstellungsgespräch. Oder besser: Gespräche, denn Bewerber werden oft aufgefordert, sich vier-
oder fünfmal zu präsentieren. Mit Sicherheit wird dadurch ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, aber sie bekommen auch
Gelegenheit, unser Unternehmen und unsere Unternehmenskultur kennenzulernen. Und damit haben sie wie wir eine echte Chance
herauszufinden, ob wir wirklich füreinander geschaffen sind, ehe wir vor den Altar treten.
Marcio Batoni erläuterte Timoshenko unser seltsames Einstellungsritual. Batoni war irgendwie verantwortlich für diese freie Stelle.
Ich sage bewußt »irgendwie«, denn das ist typisch Semco - in diesem Unternehmen geht nichts einfach und direkt, und ein
einzelner kann hier nicht darüber entscheiden, ob es eine neue Stelle gibt. Ein leitender Mitarbeiter kann den Entstehungsprozeß
für eine neue Stelle in Gang setzen, indem er seine Kollegen davon zu überzeugen versucht, daß seine Unternehmenseinheit
Verstärkung braucht. Wenn es einen Konsens gibt, eine solche neue Stelle zu schaffen, dann soll derjenige, der an dieser Idee am
meisten interessiert ist (das können auch mehrere Leute sein), ein Profil des idealen Kandidaten erarbeiten, also alle wichtigen
Qualitäten und Anforderungen - Erfahrung, Führungsqualitäten, Beherrschung von Fremdsprachen - auflisten und sie einzeln
bewerten. Es gehört zu unserer Unternehmenskultur, daß Faktoren wie akademischer Background und persönliche Erscheinung
ignoriert werden. Bei Semco gibt es jede Menge Leute, die keine illustren Titel oder italienischen Anzüge tragen, aber dennoch
erstklassige Mitarbeiter sind.
Das Profil und eine allgemeine Stellenbeschreibung werden an al-

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ien Weißen Brettern ausgehängt, so daß unsere Mitarbeiter die erste Chance bekommen, sich zu bewerben. Ich weiß, was Sie nun
denken: Machen das nicht viele Unternehmen so? Richtig, aber bei uns läuft das eben doch anders: Nach einem Programm, das wir
»Das Familiensilber« nennen, wird ein Mitarbeiter, der den Anforderungen für eine Stelle zu 70 Prozent entspricht, einem
Außenseiter vorgezogen. Mit anderen Worten: Unsere Leute bekommen 30 Prozent Rabatt für einen neuen Job, einfach deshalb,
weil sie bei uns sind. Weil wir an die Kraft der kulturellen Anpassung glauben, sind wir bereit darauf zu setzen, daß jemand, der den
entsprechenden Anforderungen zu 70 Prozent entspricht, sich rasch zu einem hundertprozentigen Mitarbeiter entwickeln wird.
Nur wenn sich keine qualifizierten internen Kandidaten melden, kommen Außenseiter in Betracht. Aber nicht alle Außenseiter
sind gleich vor uns: Wir legen Wert darauf, ehemaligen Semco-Mitarbeitern - »Waisen«, wie Laura de Barros sie nennt - eine
Chance zu geben. Bisher haben nur wenige Ihr Glück bei anderen Unternehmen zu machen gesucht oder sich selbständig gemacht,
aber viele von ihnen sind wieder zurückgekommen, und wir haben sie mit offenen Armen aufgenommen.
Wir bevorzugen auch Freunde und Bekannte unserer Mitarbeiter, weil kein verantwortungsbewußter Mensch bei Semco sein
Ansehen aufs Spiel setzen würde, indem er jemanden empfiehlt, der unseren Maßstäben nicht entspräche. Aber Familienmitglieder
sind ausgeschlossen - nur ferne Verwandte dürfen für das Unternehmen arbeiten, und auch dann nur in einem anderen Werk.
Und erst, wenn uns all das nicht den richtigen Kandidaten beschert, greifen wir auf Anzeigen oder Personalberater zurück. Wir
haben am liebsten drei Bewerber für eine freie Stelle, aber zur Not begnügen wir uns auch mit zweien.
»Wir stellen die Backöfen, Förderbänder und Teigrührgeräte her, transportieren sie zum Kunden und installieren sie an Ort
und Stelle«, erklärte Batoni Timoshenko bei ihrem ersten Gespräch. »Der Kunde hat nichts weiter zu tun, als den Teig und die
Süßungsmittel zuzugeben und auf den Knopf zu drücken. Wir brauchen jemanden, der dafür sorgt, daß jede der Tausende von
Komponenten, jede der Hunderte von Einzellieferungen, jede der Dutzende von wichtigen

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technischen Entscheidungen korrekt funktioniert. Und zwar termingerecht. Der Manager dieser Unternehmenseinheit wird ständig
in der Schußlinie stehen.« Er sah Timoshenko an. »Glauben Sie, Sie schaffen das?«
Timoshenko dachte einen Augenblick lang nach. Dann sagte er: »Ja.« Aber er hatte noch eine Frage - sie betraf unser
merkwürdiges Einstellungsverfahren: Liefen wir nicht Gefahr, Leute einzustellen, die sympathisch, aber nicht hart genug waren?
Batoni konnte ihm versichern, daß dies nicht der Fall war. In der zugegebenermaßen kurzen Zeit, seit Semco den Mitarbeitern eine
entscheidende Rolle bei der Einstellung ihrer Bosse anvertraut hatte, hatten sie wiederholt feststellen müssen, daß ihre ureigenen
Interessen identisch waren mit denen des Unternehmens. Ein angenehmer Chef mochte ihnen kurzfristig das Leben leichtmachen,
aber sie wußten ganz genau: Nur der Erfolg ihrer Abteilung würde dafür sorgen, daß sie auch weiterhin am Gewinn beteiligt wurden
oder auch nur ihren normalen Lohn erhielten.
Um Timoshenko zu beruhigen, erzählte ihm Batoni, wie wir drei Monate zuvor die Stelle unseres Finanzvorstands neu besetzt
hatten. Die Stelle wurde an den Weißen Brettern ausgeschrieben, aber es gab keine internen Bewerber. Clovis hatte einen Freund,
den er für ideal hielt: einen 50 Jahre alten Finanzchef in einem Unternehmen, das etwa so groß war wie wir. Er hieß Mario Fontes.
Aber mehrere Leute, die in unserer Finanzabteilung arbeiteten, empfahlen Gil Ostolin, einen 30jährigen ehemaligen Semco-
Buchhalter, der inzwischen mit seinem Bruder Autos verkaufte. Als »Waise« hatte Ostolin automatisch Vorrang. Vor allem war er
bei vielen beliebt, die das Bewerbungsgespräch mit ihm führen sollten.
Mehrere Topmanager von Semco setzten sich mit beiden Männern zusammen und machten sich dann für Mario stark. Aber
angesichts von Gils Beliebtheit glaubten sie nicht, daß Mario eine Chance hätte. Man sprach sogar davon, wir sollten auf unser
partizipatives Einstellungsverfahren nur dieses eine Mal verzichten - es war doch ein so wichtiger Job -, aber uns war klar, daß wir
damit unsere ganzen Bemühungen, Semco zu demokratisieren, in Frage stellen würden.
Beide Bewerber wurden eingeladen, ihre potentiellen Untergebenen kennenzulernen, und zwar an ein und demselben Tag. Die
Jury -

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etwa ein Dutzend Leute aus der Finanzabteilung - kam überein, wenn keiner von beiden mehr als 80 Prozent erhielte, würden sie
sich weiter umschauen.
Gil kam als erster. Clovis sah, wie er die Männer umarmte und die Frauen küßte. Was für ein Auftritt, dachte Clovis, als er in
sein Büro zurückging, um das Ergebnis abzuwarten.
Jedes Bewerbungsgespräch dauerte zwei Stunden. Nachdem die beiden Kandidaten gegangen waren, wurden die Fragebögen
ausgefüllt und bewertet.
Am Ende hatte Gil alle Zuneigung und Vertrautheit nichts genützt - Mario gewann, wenn auch ganz knapp.
Nach alldem muß Timoshenkos Vorstellungsgespräch eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Er kam auf 84 Prozent und trat fast
sofort seine Stelle an - aber vermutlich begann er auch gleich, etliche Punkte zu verlieren. Das Projekt stellte hohe Anforderungen,
und der ständige Druck, mit den engen Terminen klarzukommen, machte aus Timoshenko einen erstklassigen Leuteschinder.
Semcos erste Gebäckfabrik wurde rechtzeitig ausgeliefert, er hielt sich an den vorgegebenen Kostenrahmen und übertraf sogar
noch die geforderten Spezifikationen. Und das war erst der Anfang. Die Unternehmenseinheit produzierte weitere Gebäckfabriken,
wobei jede eine gesunde Gewinnmarge von 12 bis 15 Prozent nach Steuern erbrachte.
Schon bald beschlossen wir, diese Unternehmenseinheit als Division selbständig zu machen. Damit könnte sie ihren Kurs
weitgehend selbst bestimmen und sicherstellen, daß sie klein genug und damit effizient blieb. Natürlich wollten wir, daß
Timoshenko sie leitete. Aber das bedeutete, daß wir ihn zum Generaldirektor befördern mußten, was nach unseren Spielregeln hieß,
daß er sich zuerst seinen künftigen Untergebenen stellen mußte - darunter einer Menge Leute, die er bis aufs Blut geschunden hatte.
Was für eine Gelegenheit, es ihm heimzuzahlen!
Und das war noch nicht das Schlimmste. Wir erklärten Timoshenko, wenn er nicht akzeptiert würde, dann würden wir
versuchen, für ihn eine andere Stelle zu finden - vorausgesetzt, wir hatten eine frei. Wenn nicht, würde er gehen müssen, da wir
nichts davon

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hielten, begabte Leute auf Halde zu legen. Die Menschen werden unglücklich, wenn sie auf ihren Einsatz warten müssen.
Unternehmen und begabte Leute sind dynamisch, und Bedürfnisse und Interessen können sich ändern. Es ist wie mit der Butter:
Wenn man sie nicht im Kühlschrank aufbewahrt, dann ist sie meistens weich, wenn man sie braucht.
Daher rührt auch unsere Politik, »Waisen« den Vorzug zu geben, die zu Semco zurückkehren wollen: Wir glauben nämlich, daß
es für Menschen gesünder ist, frische Luft auf dem Arbeitsmarkt zu schnuppern, als in irgendeinen internen Winterschlaf geschickt
zu werden.
Als Timoshenko nun den Raum betrat, hörten die paar Dutzend Menschen, die darin versammelt waren, schlagartig auf,
miteinander zu reden. In den verschiedenen Bereichen des Konferenzraums saßen drei verschiedene Lager. Auf der Fensterseite
befanden sich die Ingenieure und Techniker, unter ihnen auch Almir Vieira und Carlos Okamoto, die Führer der Opposition. Sie
waren der Meinung, daß Timoshenko nicht nur zu hart gewesen sei, sondern auch den Mikromanager gespielt hatte, was bei Semco
streng verpönt war. Die zweite Gruppe, der Verwaltungsstab der Division, saß am entgegengesetzten Ende des Raums, am Ende des
langen Mahagonitisches. Viele von ihnen waren mit Timoshenko aneinandergeraten und waren gegen ihn. Die dritte Gruppe waren
die Vorarbeiter - sie saßen an der Wand, gegenüber der Fensterreihe. Sie hatten darauf gesetzt, daß Timoshenko ihnen die Probleme
mit der Bürokratie abnahm, und dann hatten sie erlebt, wie er dieses Versprechen einlöste. Das waren seine engsten Verbündeten.
Timoshenko eröffnete die Sitzung, indem er ruhig darauf hinwies, daß er sich in seiner bisherigen Stellung Feinde gemacht
habe. Ja, er habe zuviel Druck ausgeübt. Er habe Fehler begangen. Aber er würde sich ändern. Man dürfe doch nicht vergessen,
sagte er mehr als einmal, daß sie ja gemeinsam Erfolg gehabt hatten.
Ein paar Leute nickten, aber die meisten hüllten sich in eisiges Schweigen. Nach einer Weile bat Almir um das Wort. Seine
Fähigkeiten als Elektroingenieur waren allseits bekannt. Das galt auch für seine Unverblümtheit und sein jähzorniges
Temperament. Und wie

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um seinem Ruf gerecht zu werden, warf er Timoshenko zornig vor, er habe seine Position mißbraucht und seine eigenen
Ambitionen über alles andere gestellt.
Ein paar Vorarbeiter versuchten, Timoshenko in Schutz zu nehmen, aber die Ingenieure und die Verwaltungsleute attackierten
ihn weiterhin. Im Laufe des Nachmittags wurde klar, daß Almir und einige andere Ingenieure kündigen würden, falls Timoshenko
den neuen Posten bekäme. Mit diesen paar Kündigungen würde das Unternehmen sein technisches Rückgrat verlieren. Dabei lagen
bereits genug Aufträge für Gebäckmaschinen vor.
Diesmal, beteuerte Timoshenko erneut, würde er flexibler sein. Seine Leute würden nicht mehr starr an ihren Job gebunden
sein. Er würde nicht von oben verfügen, wer jede Unterabteilung leiten sollte. Die Einheit würde sich eine Zeitlang allein führen,
und im Laufe der Zeit würden sich schon - nach Semco-Art - die natürlichen Führer von selbst herauskristallisieren. Er beharrte
darauf, daß er kein Diktator sein würde.
Dann verließ er den Konferenzraum. Wenn sich die Ingenieure durchsetzten, würden wir Timoshenko verlieren. Aber wenn
Timoshenko siegte, könnten wir ein paar Ingenieure verlieren. So wertvoll diese Technokraten auch waren, wir entschieden, daß wir
mit diesen Konsequenzen leben könnten. Wir vertrauten darauf, daß es ein Sieg der Demokratie wäre - und auch ein Sieg für Semco.
An diesem Tag konnten sie sich nicht zu einer Entscheidung durchringen, und darum wurde eine zweite Besprechung angesetzt.
In der Zwischenzeit agierte Timoshenko als Lobbyist in eigener Sache - er suchte die verschiedensten Arbeitsbereiche auf und
versuchte, noch ein paar Punkte zu machen. Einige von den Verwaltungsleuten schienen auf seine Seite zu schwenken. Die meisten
Ingenieure weigerten sich einfach, mit ihm zu reden.
Dann kam der Tag des Jüngsten Gerichts, und die drei Gruppen nahmen ihre gewohnten Plätze im Konferenzraum ein. Die
Diskussion dauerte eine Stunde, und danach nahm sich jeder Mitarbeiter einen Fragebogen vor und begann ihn auszufüllen.
Timoshenko starrte aus dem Fenster - ihm blieb nichts anderes übrig als abzuwarten, wie die andern über sein Schicksal
entschieden.
Es dauerte nicht lange. Die einzelnen Gruppen trugen ihre Ergeb-

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nisse laut vor. Zuerst waren die Ingenieure an der Reihe. Interessanterweise wurden ihre schlechten Noten für den
zwischenmenschlichen Bereich teilweise durch bessere Bewertungen von Timoshenkos technischer Kompetenz wieder aufgewogen.
Dann waren die Fabrikarbeiter dran. Ihre sämtlichen Noten waren außergewöhnlich hoch, worüber die Ingenieure natürlich
murrten. Die Bewertungen seitens der Verwaltungsleute lagen zwischen den beiden anderen Gruppen.
Als die Ergebnisse errechnet waren, hatte Timoshenko 74 Prozent erreicht - vier Punkte mehr, als er benötigte. Nach längeren
Debatten über die allzu hohen Noten der Fabrikarbeiter beschloß die Gruppe, die höchste und die niedrigste Bewertung bei jeder
Frage zu streichen und den Durchschnitt neu zu errechnen. Diesmal kam Timoshenko auf 70,6. Das paßte natürlich manchen noch
immer nicht, aber dann einigten sich alle darauf, das Ergebnis zu respektieren.
Am Ende gab es überhaupt keine Kündigungen. Und Timoshenko traf schließlich eine überraschende Wahl für den Posten des
Chefingenieurs, der immerhin seine rechte Hand sein würde. Es war der darüber äußerst verblüffte Almir. Und schon bald
erarbeiteten er und Timoshenko einen Etat für eine Einheit, die zu unseren erfolgreichsten Unternehmensbereichen werden sollte.

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Kapitel 23: Mehr als ein Job

Die Veränderungen bei Semco, besonders die flexible Arbeitsplatzrotation und die unvorhersehbaren Bewertungen der Bosse durch
ihre Mitarbeiter, führten dazu, daß manche Leute schon merkwürdige Karrierewendungen erlebten. Jedenfalls war das Leben bei
Semco nie langweilig, wie unter anderem auch Simpliciano Domingos de la Sierra und Alipio Camargo bestätigen konnten.
Simpliciano Domingos de la Sierra war noch ein junger Mann, als er zu Semco kam, aber er hatte in seinem Leben schon einiges
einstecken müssen. Mit 15 hatte er sein Elternhaus in einem Slum von Sao Paulo verlassen und bei einigen der großen
brasilianischen Industriebetriebe gearbeitet, Tochterunternehmen multinationaler Konzerne, bei denen oft fürchterliche
Arbeitsbedingungen herrschten und das Management stets autoritär regierte. Schon bald hatte sich in ihm die Überzeugung
festgesetzt, daß, was gut war für die Bosse, für die Arbeiter ausnahmslos schlecht war.
Als wir Simpliciano als Spengler einstellten, war Semco noch fest in der Hand der alten Garde meines Vaters. Seine neuen
Kollegen warfen einen Blick auf seine helle Haut, sahen, wie leicht er errötete, und gaben ihm den Spitznamen Camarao - was auf
portugiesisch »Garnele« bedeutet. Aber dieser Spitzname paßte nun wirklich nicht zu ihm.
»Ich habe es Semco nicht leichtgemacht«, erinnerte sich Simpliciano später. »Ich kam Ende 1974, und 1975 hatte ich bereits
einen Streik organisiert, für höhere Löhne und für eine Kantine - damals brachten wir unser Essen noch von zu Hause mit, und
allzuviel hatten wir damals auch gar nicht zu essen.«
Camarao gewann; und das sollte nur seine erste Runde sein. Er war

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so ein Typ, der beim Schlafen immer ein Auge aufbehielt. Selbst nachdem ich die Führung übernommen und Semco damit
begonnen hatte, sich in ein Unternehmen zu verwandeln, das seinen Mitarbeitern gegenüber vertrauensvoller und toleranter war,
blieb Camarao zutiefst mißtrauisch. Er stellte alles in Frage und legte sich mit unseren Leuten von der Personalabteilung an,
besonders mit Paulo Pereira.
Manchmal allerdings hörte Camarao für einen Augenblick auf zu reden und gab Paulo auch eine Chance. Und hin und wieder
gelang es ihnen sogar, ihre Gedanken auszutauschen, denn bei all seiner Feindseligkeit hatte Camarao einen lebendigen Geist. Ganz
allmählich wurde er weich. Genau wie Joao Soares, Oseas da Silva und andere Semco-Arbeiter bewegte sich Camarao vom
Mißtrauen zur nächsten Stufe: Er hörte zu, dachte nach und probierte es sogar mit ein paar von unseren Ideen. Es ist doch nur zu
verständlich, daß Arbeiter, die in einer autokratischen, autoritären, patriarchalischen Umgebung groß werden, dieses Milieu in
ihrem eigenen Verhalten widerspiegeln. Es brauchte eben einige Zeit, bis sich Camarao auf das innovative, demokratische,
partizipative Ambiente bei Semco umgestellt hatte.
Ich wußte, daß Camarao eine innere Wendung vollzogen hatte, als Paulo mir berichtete, wie ein Gewerkschaftsführer während
einer Besprechung Semco negativ mit Termomecanica verglich, einem der Giganten der brasilianischen Kupferindustrie. »Bei
denen ist alles phantastisch«, schwärmte der Gewerkschaftsmann. »Sie haben eine erstklassige Kantine, in der jeder essen kann,
was er will, und sich noch ein zweites Mal bedienen kann. Auch die Krankenversicherung ist erstklassig. Und die Löhne gehören zu
den höchsten in der Region.«
Bevor Paulo etwas dazu sagen konnte, sprang Camarao für uns in die Bresche. »Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund«, wandte
er sich an den Gewerkschaftsmann, »ich habe schließlich bei Termomecanica gearbeitet, und ich würde dort nie wieder hingehen.
Alles, was du gerade gesagt hast, stimmt schon, aber bei denen ist ein Arbeiter nichts weiter als ein Arbeiter. Ich verdiene hier lieber
weniger Geld, weil ich respektiert werde. Nur bei Semco werden Arbeiter wie verantwortungsbewußte Menschen behandelt. Überall
sonst gelten sie

---OP 221---

nichts - man filzt sie wie Räuber. Ich habe sogar schon mal in einem Unternehmen gearbeitet, wo wir nicht mal miteinander reden
durften. Ich habe vom Konstruktionsbüro Pläne für ein Teil bekommen, die falsch waren, aber ich habe nichts gesagt und das Teil
einfach gemacht. Wenn ich nämlich das Maul aufgemacht hätte, hätte ich nur den kürzeren gezogen - ich hätte meinen Job
verloren. Die meisten Leute glauben doch, Arbeiter seien nicht zum Denken da, sondern zum Arbeiten.«
Es dauerte nicht lange, und Camarao schloß sich einem Werkskomitee an und begann, sich allen willkürlichen Aktionen seiner
Gewerkschaft zu widersetzen, ohne daß wir ihn dazu aufgefordert hätten. Manchmal erklärte er uns sogar, wir würden zu weit
gehen und wir wären zu nachgiebig. »Semco geht von dem Prinzip aus, daß die Mitarbeiter Vertrauen verdienen«, erklärte er.
»Aber das gilt nicht für alle Arbeiter, müssen Sie wissen. Wir hatten früher eine Kaffeepause, die um neun begann und zehn
Minuten dauerte. Dann schaffte Semco ein paar Thermoskannen an, und dann hieß es, wir könnten jederzeit Kaffee bekommen.
Aber einige Arbeiter holten sich Kaffee und blieben dann draußen und quatschten miteinander, statt zu arbeiten. Sie haben das
Vertrauen von Semco mißbraucht. Das gleiche passierte, als im Werk ein Telefon installiert wurde. Ich meinte, es müßte ein
Münztelefon sein, so daß jeder nur sparsam davon Gebrauch machen würde. Aber Semco sagte, die Leute in den Büros könnten ja
auch kostenlos telefonieren, also sollten das auch die Arbeiter in den Fabriken dürfen. Doch in der Mittagspause telefonierten die
Leute endlos lange, besonders die Jüngeren, Alleinstehenden, die mit ihren Freundinnen quatschten.«
Weil er bewiesen hatte, daß er imstande war, beide Seiten des Fabriklebens zu sehen, wurde Camarao Vorarbeiter und hatte
über zwei Dutzend Arbeiter unter sich. Über diese Beförderung waren alle mächtig stolz, da seine Kollegen ihn zu diesem Job
förmlich hatten drängen müssen.
Aber hier nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung. Camarao war zwar ein geborener Führer, aber er war auch ein
bißchen ungeschickt. »Die Arbeiter konnten einfach nicht verstehen, daß ich wegen eines Liefertermins feststellen wollte, wie lange
sie für eine bestimmte Arbeit brauchten«, sagte er. »Und wenn ich sie auffor-

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derte zuzuhören, dann wollte ich doch nur dafür sorgen, daß das Produkt auch richtig gemacht wurde. Ich will doch nur versuchen,
professionell zu arbeiten.«
Etwa um diese Zeit gab es wieder mal eine Rezession, und wir mußten unsere Belegschaft verkleinern. Wie es bei uns so üblich
war, nahmen wir uns die mittlere Betriebsebene vor, um zu sehen, wo wir Aufsichtspersonal einsparen konnten. Wir machen da
keine Ausnahmen, und obwohl wir von Camaraos Aufstieg angetan waren, hatten wir doch den Eindruck, daß seine Position in
dieser Flaute nicht absolut notwendig war. Also kehrte er an die Werkbank zurück oder versuchte es zumindest. Aber das Verhältnis
zwischen Camarao und vielen seiner alten Kollegen, auf deren Ebene er sich nun wieder befand, war inzwischen leider vergiftet. Sie
lehnten ihn ab, und die Spannungen und Feindseligkeiten waren so schlimm, daß Camarao uns doch tatsächlich bat, ihn zu
entlassen.
Zum Glück hatten wir eine bessere Idee: Er sollte eine eigene kleine Firma aufmachen und uns als Zulieferer von Semco mit
Blechteilen wie Pumpen- und Mixergehäusen und Spezial wellen für Gebäckmaschinen versorgen. Camarao verließ Semco mit
einem vollen Auftragsbuch und zwei Herausforderungen: Er sollte lernen, nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer zu werden,
sondern auch ein guter Boß.
Wir alle wußten, daß es schwer wäre, das eine ohne das andere zu sein.
Auch Alipio Camargo hatte einen Spitznamen: »Dr. Widersacher«. Er war Verwaltungschef von Hobart, als Semco die Firma
übernahm, und wir kamen schnell dahinter, daß er der Typ war, der bis zehn zählte, wenn er wütend wurde - und schon bei zwei
explodierte.
Hobart war ein äußerst hartes Unternehmen. Die Leute durften nicht mal ohne Erlaubnis husten. Darum war es nicht weiter
überraschend, daß Alipio ein anstrengender Boß war.
Unter unserer Führung wurde nicht nur das Betriebsklima besser, sondern das Werk machte auch wieder Gewinn - nur Alipio
hatte Probleme, mit uns und dem neuen Erfolg klarzukommen. Wir versetzten ihn auf die Position des Vertriebsleiters, doch er
blieb nach wie vor einer von der harten Sorte. Ich weiß noch gut, wie ich mich

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mit ihm darüber unterhielt, ob wir die Preise um 30 Prozent anheben sollten. Alipio war ebenfalls der Meinung, daß dies nötig sei,
aber nicht in einem Zug, wie wir planten. Es dauerte nicht lange, und schon schrie er mich an, ich solle doch seinen Job als
Vertriebsleiter übernehmen und damit machen, was ich wolle. Dann schnappte er sich seine Aktentasche und stürmte hinaus. Da er
überzeugt war, ich würde ihn hinauswerfen, ging er nach Hause und begann, sich anderweitig umzusehen.
Damals war es bei Semco schon üblich, daß man seinem Boß widersprechen durfte. Allerdings störte uns die Art, wie Alipio mit
Untergebenen umsprang. Er kam einmal ins Büro und entdeckte, daß ein Schreibtisch ohne seine Einwilligung weggebracht worden
war. Er erkundigte sich, was passiert sei, und eine junge Frau erklärte ihm, irgendwelche Arbeiter hätten das Möbelstück
woandershin geschafft. »Wer hat das erlaubt?« wollte Alipio wissen, und sein Stimmungsbarometer stand auf Sturm. »Ich
dachte...«
»Sie werden nicht fürs Denken bezahlt«, fuhr er die arme Frau an, »sondern dafür, daß Sie Anweisungen befolgen.«
Inzwischen war uns allen klargeworden, daß wir uns um Alipio kümmern mußten. Zumindest war es genau der richtige
Zeitpunkt. Wir hatten nämlich gerade den Bewertungsbogen entwickelt, und Alipio wurde einer der ersten Semco-Manager, der von
seinen Untergebenen eingestuft wurde. Sein Ergebnis: 55.
Bei der anschließenden Besprechung mit seinen Leuten erfuhr Alipio, daß er ein rücksichtsloser Autokrat sei, der sich ändern
müsse. Dann gab es noch ein Gespräch mit Laura de Barros. Seine Haltung sei bei Hobart vielleicht angemessen gewesen, sagte sie
ihm, aber nun würde er ja bei Semco arbeiten.
Alipio verstand die Botschaft und begann tatsächlich, sich zu bessern - zum Glück, denn wir hatten vor, ihn zum
Generaldirektor für den Bereich Verwaltung und Finanzen im gesamten Unternehmen zu ernennen. Er war auf diesem Gebiet
bestens beschlagen - aber wir hätten es eigentlich besser wissen sollen: Sobald seine Beförderung durchgegangen war, begann er
sich sofort wieder wie ein Despot zu benehmen.
Der erste Stock in unserer Zentrale war ein einziges Chaos: Akten stapelten sich auf dem Boden, und einige Stühle und Tische
waren

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kaputt. Als ein Bankmanager einmal einen Termin bei Alipio hatte, mußte er über einen Müllhaufen springen, um in Alipios Büro zu
gelangen. Also rief unser neuer Generaldirektor seine Leute zusammen und gab ihnen eine Woche Zeit, alles aufzuräumen. Alles,
was er danach noch auf dem Boden vorfände, würde weggeworfen werden. Und weil sie nun schon einmal dabei waren, erklärte er
ihnen, er erwarte von allen, daß sie sich künftig professioneller verhielten. Keine Widerrede, kein lautes Wort mehr, befahl er.
Alipio beauftragte eine Bürofirma mit der Umgestaltung seiner Etage. Kurz bevor die neuen Möbel eintreffen sollten, erzählte er
seinen Leuten von der neuen Raumaufteilung. Mit ihrer Reaktion hatte er nicht gerechnet.
»Sie haben uns nicht gefragt«, protestierten sie wütend. »Das hätten Sie aber tun sollen.«
Da er die ganze Abteilung gegen sich hatte, sah sich Alipio gezwungen, klein beizugeben und jedem ein paar Tage Zeit zu lassen,
den Plan zu studieren und Änderungen vorzuschlagen. Am Ende waren sie mit Alipios Aufteilung einverstanden - bis auf drei
Stühle. Aber inzwischen waren alle glücklich und zufrieden, weil sie mitreden durften.
Etwa um diese Zeit erhielt Alipio seine zweite Bewertung. Diesmal gaben ihm seine Untergebenen eine 80. Laura setzte sich mit
ihm noch einmal zusammen und sagte ihm, daß wir zwar alle von seinen Fortschritten angetan wären, aber wüßten, daß er noch
besser sein könne. Sie erklärte ihm, er solle doch mehr mit seinen Leuten reden, Gedanken und Ideen mit ihnen austauschen - sie
mehr an seinen Entscheidungen teilhaben lassen.
Alipio begann daraufhin, monatliche Besprechungen mit seinen Leuten abzuhalten. Sie gingen auch miteinander zum Essen.
Und im Frühjahr jenes Jahres verbrachten sie sogar ein gemeinsames Wochenende auf einer Ranch.
Ganz im neuen Geist der Gemeinsamkeit dachte Alipio erneut an eine Umgestaltung seines Bereichs. Diesmal wollte er die
einzelnen Büros abschaffen. »Auf dieser Etage gibt es lauter kleine Zimmer«, erklärte er und zeichnete es auf einem Blatt aus
meinem Notizbuch auf. »Die brauchen wir doch gar nicht.«
Aber Alipio hatte inzwischen genug gelernt, um zu wissen, daß er

---OP 225---

die Büros nicht auf einmal und einseitig beseitigen konnte. Nachdem er eine Menge Überzeugungsarbeit geleistet hatte, begann er
damit, aus jedem Büro eine Wand zu entfernen - und alle waren damit einverstanden. Als sie sich daran gewöhnt hatten, nahm er
eine weitere Wand heraus. Und dann noch eine.
»Alle haben das akzeptiert«, sagte er. »Ich glaube, wir waren zum ersten Mal ein richtiges Team.«
Alipio war ein echter Semco-Manager geworden. Den letzten Beweis dafür lieferte er, als er seine Abteilung neu organisierte,
Computer installierte und sämtliche Verwaltungsvorgänge systematisierte. Er glaubte, er könne die Zahl der Beschäftigten in seiner
Einheit von 44 auf insgesamt 11 reduzieren. Viele wurden versetzt, einige wurden entlassen. Nach echter Semco-Art rechnete er fest
damit, selbst auch zur letzteren Kategorie zu gehören.
»Ich werde im Februar oder März aufhören«, erklärte er mir seinerzeit. Aber bereits im Dezember hatte er unsere zahlreichen
Bankkonten konsolidiert und (einmal mehr) so viele Koslenstellen beseitigt, daß seine Abteilung tatsächlich auf einen Manager
verzichten konnte.
»Es wäre großartig, wenn Sie für mich einen anderen Job hätten«, sagte er zu mir. »Wenn nicht, gehe ich eben zu einem
anderen Unternehmen. Aber ich würde gern bleiben.«
Und so ging er wieder ins Hobart-Werk, aber diesmal als Werksleiter unserer Systemgastronomie-Einheit.
TEIL VIER

Die Pyramide, dieses Hauptorganisationsprinzip eines modernen Unternehmens, ist schuld, daß es zu einem Stau in der
Firma kommt. Ein Unternehmen fängt wie eine achtspurige Superautobahn an-das ist die Basis derPyramide-, verengt
sich auf sechs, dann auf vier, dann auf zwei Spuren, wird zur Landstraße und schließlich zum Feldweg, der abrupt endet.
Tausende von Fahrern gehen auf der Autobahn an den Start, aber sobald sie immer schmäler wird, müssen sie
langsamer werden und schließlich stoppen. Es kommt zu Auffahrunfällen, und Autos überschlagen sich und bleiben
neben der Fährbahn liegen. Manche Fahrer geben auf und fahren auf Nebenstraßen zu anderen Zielen. Ein paar - die
aggressivsten - fahren stur weiter, geraten ins Schleudern, geben noch mehr Gas und bekommen lauter Beulen. Achtung:
Die anderen sind in Wirklichkeit näher, als es im Bückspiegel den Anschein hat.

---OP 230---

Kapitel 24: Die runde Pyramide

Trotz aller Anstrengungen, die Struktur von Semco zu vereinfachen und Wildwuchs im Management zurückzustutzen, war unsere
Führungsebene noch immer viel zu aufgebläht. Einige unserer leitenden Angestellten waren sich nur allzu bewußt, wie aufgeblasen
der bürokratische Apparat des Unternehmens war. Auch die Mitglieder der Werkskomitees sahen das so - sie beklagten sich ständig
darüber, daß es zu viele Bosse gebe, die nur große Reden schwingen und zu langsam handeln würden.
Und jeder wußte, was zu tun war. Vor einigen Jahren (1986) war schließlich unser Systemgastronomiewerk ein anschauliches
Beispiel für eine Verkleinerung gewesen. Sechs Positionen wurden abgeschafft: die Abteilungschefs für Marketing, Finanzen,
Produktion, Verkaufsverwaltung, EDV und Technischer Hilfsdienst. (Vier dieser Manager verließen das Unternehmen, zwei wurden
in andere Semco-Einheiten versetzt.) Zusammen stellten sie die gesamte zweite Ebene in der Werkshierarchie dar, die es sich direkt
unter der Nase des Generaldirektors bequem gemacht hatte.
Zu dieser drastischen Säuberung wäre es vermutlich normalerweise kaum gekommen, selbst in diesem unserem
experimentierfreudigsten Werk nicht. Nur hatte ich damals gerade die Leitung des Werks übernommen - es handelte sich also um
meine eigene Nase. Mein Vorgänger, der die Firma in klassischer Weise hatte ummodeln wollen, hatte mehr Manager eingestellt.
Aber nun begannen sich die Arbeiter darüber zu beklagen, daß die neuen Bosse nur herumstünden, die Leistung behinderten und
Geld kosteten.
Auch ich war der Ansicht, daß wir das Werk ohne die Leute auf der zweiten Ebene betreiben könnten, und genauso dachten die
Leute auf der dritten Ebene. Dennoch war ich nicht bereit, irgend jeman-

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dem zu sagen, daß und wie wir diese sechs Abteilungsleiter ersetzen sollten. Das gehörte - und gehört noch immer - zu meinem
Arbeitsstil. Niemand kann mich dazu bringen, auch nur das Geringste zu entscheiden: Ich möchte die andern dazu bringen, die
Dinge selbst zu entscheiden.
»Wer wird sich um das Marketing kümmern?« fragte mich jemand, nachdem die Marketingleiterin Mara Mantovani ihr Büro
geräumt hatte, um fortan im kleinen Fertigungsbetrieb ihres Vaters mitzuarbeiten.
»Darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen«, erklärte ich. »Es wird schon irgendwie gehen.«
Und es ging auch. Mara hatte auf der dritten Ebene vier Marketingleute unter sich gehabt, und die teilten nun ganz einfach
ihren Job unter sich auf, jeden einzelnen Aufgabenbereich, und zwar völlig selbständig. Das geschah ganz formlos. Keine
Aktennotizen. Keine Konferenzen. Keine Bestätigungen von oben. Unter anderem war die Marketingleiterin zuständig gewesen,
dafür zu sorgen, daß wir auf Fachmessen vertreten waren. Als die nächste Messe nahte, kümmerte sich einer ihrer vier ehemaligen
Untergebenen darum. Wenn der Chefbuchhalter unserer Werbeagentur zu uns kam, verhandelte ein anderer von diesen Vier mit
ihm. Ein dritter kümmerte sich um die neuen Prospekte. In unserer neuen Struktur wurde die Marketingabteilung nicht mehr von
einer einzelnen Person geleitet. Sie war ein Team geworden.
Die Moral von der Geschicht’: Die zweite Ebene wurde überhaupt nicht vermißt, vielmehr legte das Systemgastronomiewerk bei
Umsätzen und Gewinnen noch zu. Weniger war in der Tat mehr.
Gleichwohl weigerten sich unsere anderen Werke, dem Beispiel von Ipiranga zu folgen. Der Widerstand ging natürlich von den
Managern auf der mittleren Ebene aus, die Angst um ihre Jobs hatten. Wenn man so etwas erst mal in Gang gebracht hat, dachten
sie zweifellos, weiß keiner, wo das noch enden wird. Bürokratien werden von und für Menschen geschaffen, die nichts anderes zu
tun haben, als den Nachweis zu erbringen, wie notwendig sie sind - besonders wenn sie den begründeten Verdacht haben, daß dem
nicht so ist. All diese Bosse müssen sich unermüdlich mit etwas beschäftigen, und darum sind sie ständig dabei, alles komplizierter
zu machen.

---OP 233---

Schuld an diesem Problem ist die Pyramide, das grundlegende Organisationsprinzip des modernen Unternehmens. Je höher
man hinaufkommt, desto schmäler wird sie, wobei die wenigen, die weiter nach oben klettern, belohnt werden, während eine
weitaus größere Zahl von Menschen, die auf einem Absatz steckenbleiben oder auf dem Weg nach oben herunterfallen, nur
demoralisiert werden. Was kann man denn von Mitarbeitern auf den unteren Ebenen erwarten, wenn sie niemals um ihre Meinung
gefragt werden und nur selten eine Auskunft bekommen? Sie wissen nur eins: Daß die Entscheidungen, auf die es ankommt und die
sie betreffen, ganz oben gefällt werden. Aber macht es denn Sinn, von diesen Leuten jahrein, jahraus zu verlangen, sich besonders
anzustrengen, und sie dann mit ein paar Dankesworten vor der Belegschaft und vielleicht mit einem zusätzlichen Monatslohn
abzufertigen, während die paar Glücklichen an der Spitze schicke Büros und elegante neue Autos bekommen, ganz zu schweigen
von den Prämien, die höher sein können als die Löhne von hundert oder gar tausend einfachen Arbeitern?
Diejenigen, die ihren Frieden mit der Pyramide schließen und besondere Fähigkeiten entwickeln - Buchhalter, Programmierer,
Ingenieure aller Fachrichtungen -, können mit einem sicheren Arbeitsplatz rechnen. Aber ihr Schicksal kann darin bestehen, daß sie
jeden Tag zur gleichen Zeit kommen und gehen und jahre- oder gar jahrzehntelang nichts anderes tun, als was sie schon immer
getan haben. Macht es Sinn zu glauben, daß sie so ihr Leben lang motiviert sind?
Wer sich auch nur ein Fünkchen Ehrgeiz bewahrt hat, erwartet, daß er nach und nach immer mehr Macht, Verantwortung, Titel
und Geld bekommt. Da auch Pyramiden ihre Grenzen haben, sind Unternehmen oft nicht in der Lage, sie schnell genug zu
befördern, damit sie zufrieden sind. So wählen viele Firmen den leichten Ausweg und richten für ihre Überflieger eine oder zwei
Extraebenen ein. Was kann das schon schaden? Das sind nur ein paar Linien mehr auf dem Organigramm.
Aber schon bald nehmen die Titel und Ebenen derart überhand, werden die Zuständigkeiten und Autoritäten immer diffuser,
daß das Management einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, mit den unvermeidlich entstehenden Konflikten, Eifersüchteleien
und der ganzen Verwirrung fertig zu werden. Sechs oder sieben Ebenen sind

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durchaus noch üblich in einer Zeit, in der das Abflachen der Pyramide Mode geworden ist. In größeren Unternehmen gibt es zwölf
oder vierzehn Levels. Wie ist es aber - angesichts des Respekts, den leitende Angestellte typischerweise für Hierarchien empfinden -
überhaupt möglich, daß jemand noch weiß, was sich auf dem Fabrikboden abspielt, wenn er sich fünf Ebenen darüber befindet? Da
er keine Ahnung hat, hält er jeden in seiner Umgebung mit Aktennotizen, Anrufen und Besprechungen auf, um das herauszufinden.
Ich wollte dagegen, daß unsere Leute mehr Kontakt miteinander haben. Ich wollte weniger Durcheinander haben. Weniger
Ebenen. Mehr Flexibilität. Ich wollte eine neue Form für unser Unternehmen haben.
Im Herbst 1988 hatten meine künftige Frau Sofia und ich auf der Karibikinsel Mustique ein Ferienhaus für zwei Wochen gemietet.
Wir wollten einfach nur am Strand sitzen und ausspannen. Ich hatte mir ein paar Bücher mitgenommen: Thomas Manns Tod in
Venedig, Machiavellis Der Fürst, Ibsens Nora, Parting the Waters von Taylor Branch, Alex Haleys Autobiographie von Malcolm X
sowie einen Gedichtband von E. E. Cummings. Dennoch verbrachte ich die meiste Zeit damit, über Semco nachzudenken. Die
Fortschritte, die wir inzwischen gemacht hatten. Den Weg, den wir noch gehen mußten.
Ich hatte versucht, Menschen dazu zu bringen, auf eine neue Art und Weise zu reagieren, mehr Entscheidungen zu treffen, ihr
Arbeitsleben selbst in die Hand zu nehmen, schneller zu arbeiten und schneller zu denken. Aber wir waren noch immer unauflöslich
mit einer archaischen Struktur verbunden. Wir zwängten auch weiterhin unsere Manager in diese unflexible Pyramide ein: nach
oben, nach unten oder raus. Das waren die einzigen Möglichkeiten. Es war bereits eine gewisse Arbeitsplatzrotation bei Semco im
Gange, aber das reichte längst nicht aus, die Klaustrophobie der Pyramide aufzuheben. Die einzige Möglichkeit weiterzukommen
bestand darin, daß man eine Sprosse nach oben kletterte, auch wenn ein Mitarbeiter nicht die geringste Lust verspürte, weitere
Verantwortung im Management zu übernehmen. Die Pyramide setzte auch dem finanziellen Weiterkommen Grenzen, so sehr
jemand auch seine Fähigkeiten in seinem Job erweiterte und vertiefte, denn es war praktisch unmög-

---OP 235---

lich, jemandem mehr zu zahlen als seinem Boß. Ja, teuflischerweise hinderte die Pyramide sogar die Menschen daran, sich direkt
mit Kollegen zu unterhalten, die zu viele Sprossen über ihnen standen.
Während ich in die klaren, sanften Wellen der Karibik starrte, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Warum
tauschten wir nicht einfach die Pyramide gegen etwas Fließendes aus?
Einen Kreis zum Beispiel.
Eine Pyramide ist etwas Starres, Beengendes.
Ein Kreis ist voller Möglichkeiten.
Warum sollten wir es nicht mit einer »runden Pyramide« versuchen?
Wir begannen es uns auf Mustique mit einer Skizze zu veranschaulichen. Sofia und ich nahmen Stöckchen und zeichneten im
Sand, traten zurück, um unser Werk zu betrachten. Als ich wieder in Sao Paulo war, arbeitete ich die Idee weiter aus. Nach ein paar
Monaten bestand mein Spielmaterial aus drei Kreisen - einem ganz kleinen im Zentrum und zwei jeweils größeren - und ein paar
Dreiecken.
Dieser kleine, innerste Kreis würde ein Team von einem halben Dutzend Leuten (einschließlich meiner Person) umfassen - es
entsprach den Vizepräsidenten und höheren Chargen in konventionellen Unternehmen. Sie sollten die allgemeine Politik und die
Strategien von Semco koordinieren und Berater heißen.
Der zweite Kreis würde die sieben bis zehn Leiter der Unternehmenseinheiten von Semco umfassen - das waren die Partner.
Im letzten, ganz großen Kreis befanden sich praktisch alle anderen Mitarbeiter von Semco: Maschinisten, Kantinenpersonal,
Hausmeister, Verkäufer, Wachpersonal und so weiter. Das waren die Kollegen.
Und die Dreiecke? Sie würden im letzten großen Kreis verteilt sein und eine einzige Person darstellen, die wir Koordinator
nennen würden. Diese Leute sollten die erste wichtige Managementebene repräsentieren: die leitenden Mitarbeiter im Marketing,
im Verkauf und in der Produktion, die Vorarbeiter in der Technik und in der Montage - jeder, der eine einfache Führungsposition in
unserem alten System innehatte.
In jeder Unternehmenseinheit würde es sechs bis zwölf Dreiecke geben, und sie würden über den ganzen großen Kreis verteilt
sein,

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was darauf hindeutete, daß diese Leute beweglich waren. Auch wenn es zwei Koordinatoren auf der gleichen Managementebene
gäbe, könnten sie ganz unterschiedliche Fähigkeiten, Zuständigkeiten und Gehälter haben. Diese Unterschiede beruhten auf ihrer
Kompetenz und ihren Führungsqualitäten.
In meinem Organisationsschema würde der kleinste Kreis die Funktion eines unternehmerischen Katalysators haben, der die
Leute im zweiten Kreis, die das Unternehmen im eigentlichen Sinne leiten würden, zu Entscheidungen und Handlungen anregen
sollte. Dann kämen die Koordinatoren, die einzelne Abteilungen leiten oder die Aufsicht über bestimmte Aktivitäten haben und in
ihrem jeweiligen Bereich Teams zwischen fünf und zwanzig Kollegen führen würden.
In unseren Kreisen würde man sich freier bewegen können, als es auf den starr festgelegten Spuren der beruflichen
Weiterentwicklung innerhalb der Pyramide möglich ist. Koordinatoren mit relativ wenig Ehrgeiz könnten einen niedrigen Gang
einlegen und sich in aller Ruhe die Landschaft betrachten, ohne sich um verrückte Raser oder langwierige Staus kümmern zu
müssen. Sie könnten sich von einem Job zum andern bewegen, vorausgesetzt, es wäre eine Stelle frei oder ein anderer Koordinator
wäre bereit zu tauschen. Sie könnten auch, wenn sie Lust hätten, sich wieder zum Kollegen zurückstufen lassen. Und da Kollegen
mehr verdienen könnten als Koordinatoren, würde niemand das Gefühl haben müssen, sein Einkommen hinge von seinem Titel ab.
Ein spezialisierter Softwareingenieur beispielsweise, der nichts weiter als ein Kollege war, könnte nach diesem System viel mehr
verdienen als ein Koordinator im Konstruktionsbüro, der in einem klassisch organisierten Unternehmen den Rang eines Managers
und ein größeres Gehalt hätte.
Meine Kreise würden unsere Leute von der tyrannischen Hierarchie befreien; sie könnten in Führungspositionen arbeiten,
wenn sie wollten, sofern ihnen ihre Arbeit und ihre Kompetenz den Respekt der anderen eintrügen. Und sie könnten aufhören zu
führen, wann immer sie wollten oder das Unternehmen der Ansicht war, daß sie Führungsfunktionen nicht länger verdienten.
Da Koordinatoren nichts weiter als Koordinatoren wären und sich nicht mit zusätzlichen Titeln wie »Koordinator der Technik«
oder

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»der Buchhaltung« schmücken könnten, würden wir uns den ganzen verwirrenden Hokuspokus von Bezeichnungen und Rängen
sparen können, wie er in modernen Unternehmen üblich ist. Und da die Anzahl der Koordinatoren begrenzt war, würden die
Kollegen mehr Verantwortung übernehmen müssen.
Wie würden in diesem System Entscheidungen getroffen werden? Auf der Ebene der Arbeiter würde jeder Kollege all die
Entscheidungen selbst treffen, für die er sich sicher fühlte; wenn ihm ein Problem nicht klar war, würde er seinen Koordinator zu
Rate ziehen. In gleicher Weise würde auch jeder Koordinator alle Entscheidungen treffen, die er sich selbst zutraute. Offene Fragen
würde er bei einer wöchentlichen Teambesprechung vortragen, die vom Partner seiner Unternehmenseinheit geleitet würde. Diese
Sitzung würde am Montagmorgen abgehalten werden, und danach würden die Koordinatoren die Kollegen, mit denen sie
zusammenarbeiteten, über die Ergebnisse unterrichten.
Entscheidungen, die sämtliche Unternehmenseinheiten betrafen, wie etwa umfassende Lohnerhöhungen oder Entscheidungen,
die eine Unternehmenseinheit nicht allein treffen wollte, wie zum Beispiel eine größere Investition in neue Geräte und Maschinen,
würden an eine andere Konferenz am Dienstag delegiert werden. An ihr würden jeweils ein Vertreter von jeder Einheit (nicht
unbedingt ein Partner) sowie alle Ratgeber teilnehmen.
Nur drei Kreise, vier Job-Kategorien und zwei Konferenzen. Das war alles.
Über die neue Struktur gab es endlose Diskussionen, und wir verteilten kreisförmige Organigramme und baten jeden Manager, sie
deutlich sichtbar in seinem Büro aufzuhängen. Aber viele reagierten zunächst skeptisch bis ablehnend auf die Kreise - für sie waren
das nichts weiter als wieder einmal ein paar alberne Symbole von den Leuten, die ihnen in psychedelischen Farben bemalte
Fabriken beschert hatten.
»Was soll ich denn nun auf meine Visitenkarte setzen?« fragten sich einige. Andere mochten den Begriff Partner nicht, weil sie
befürchteten, jemand würde denken, daß ihnen ein Teil des Unternehmens gehöre. Wieder andere zuckten bloß die Schultern. »Ich
weiß

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gar nicht, was dieses ganze Getue eigentlich soll.« Konnte man ein paar Kreise überhaupt ernst nehmen?
Tatsächlich aber bezeichneten die Kreise und Dreiecke sowie ein paar für den Zeitgeist typische neue Namen die radikalsten
Veränderungen, die wir uns je bei Semco ausgedacht hatten. Statt wie bisher Vorarbeiter, Aufseher und Abteilungsleiter würden wir
künftig nur noch Koordinatoren haben - und davon würde es auch viel weniger geben, so daß sich das Verhältnis zwischen
Indianern und Häuptlingen auffallend verschieben würde. Die Einführung des neuen Systems bedeutete, daß die Pyramide
abgerissen würde, wobei ganze Managementebenen abgeräumt, ein Berg von Titeln eliminiert und etablierte Ketten von
Weisungsbefugnissen zerbrochen würden. Mehr noch: Nach den neuen Regeln war ein Koordinator nicht einem andern
Koordinator und ein Kollege nicht einem anderen Kollegen untergeordnet. Dadurch würde die Hierarchie noch weiter eingeebnet
werden - im gesamten Unternehmen würden sich die Beziehungen untereinander ändern.
Dennoch wurde die ganze Tragweite des neuen Systems erst dann allen klar, als das Budget aufgestellt werden mußte (und da
gab es schon kein Zurück mehr). Manager - ich meine: Partner und Koordinatoren - sagten nun: »Okay, mir ist klar, daß wir für
dieses neue Budget jedem einen neuen Namen geben müssen.« Aber als sie es versuchten, merkten sie, daß ihnen das große
Probleme bereitete.
»Dieser Vorarbeiter heißt also nun Koordinator«, begannen sie. »Und dieser Aufseher, der Boß des Vorarbeiters, ist ein... äh...
ich meine, der ist auch ein Koordinator.« Pause. »Aber was ist mit seinem Boß?«
Als sie Mühe hatten, drei plötzlich gleichberechtigte Leute auseinanderzuhalten, wiesen wir sie darauf hin: »Denken Sie daran,
daß es für diese Gruppe nur einen Koordinator gibt.«
»Na schön - aber warum können wir sie nicht alle Koordinator nennen?«
»Weil diese Umstrukturierung die Bürokratie verringert.«
»Und was soll nun mit diesen Leuten passieren, die keine Bosse mehr sein können?«
»Das ist eure Sache.«
Auf diese Weise kamen sie darauf, daß wir nicht einfach Titel A

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durch Titel B ersetzen wollten. Wir verringerten die Zahl der Bosse ebenso wie ihre Vielfalt.
Das war natürlich besonders schwer für diejenigen, die bisher leitende Positionen innegehabt hatten, sich aber nicht als
Koordinatoren qualifizieren konnten. Plötzlich entdeckten sie, wie sie in unserem neuen Kreis herumtrieben, ohne Titel und
automatische Autorität. Aber das hatte immerhin keinen Einfluß auf ihr Einkommen, und ich hoffte, daß die neue, entspanntere
Atmosphäre im Werk den Übergang erleichtern würde.
Auch die Koordinatoren mußten sich umstellen. Nehmen wir einen Ersatzteillagerverwalter, der 12 000 Dollar im Jahr
verdiente, und einen leitenden Ingenieur mit einem Einkommen von jährlich 85 000 Dollar. Im alten System konnten sie nur über
mehrere Zwischenebenen miteinander kommunizieren. Aber nun hatten sie beide den gleichen Titel und konnten direkt demselben
Partner unterstellt sein. Jeden Montagmorgen konnten sie auf einmal nebeneinander bei der Wochenkonferenz sitzen. Was ihre
Beteiligung am Entscheidungsprozeß betraf, so spielten ihre unterschiedlichen Gehälter keine Rolle. Jeder von ihnen hatte nur eine
einzige Stimme.
In dem neuen System war auch sichergestellt, daß eine Anregung, Anforderung oder Beschwerde eines Kollegen sofort
jemandem auf der Entscheidungsebene, einem Koordinator, zu Ohren kam, der sie bei der nächsten Wochenkonferenz direkt einem
Partner vortragen konnte. Damit konnten Fabrikarbeiter, die in konventionellen Systemen so leicht übergangen werden, innerhalb
von ein paar Tagen eine Antwort bekommen.
Soweit also die Theorie. Aber als wir das neue System einführten, stießen wir schon bald auf das Problem der »Phantombosse«.
Nehmen wir an, wir hätten einen Maschinisten vor ein paar Jahren zum Vorarbeiter befördert. Dieser Vorarbeiter war einem
Aufseher unterstellt und der wiederum einem Abteilungsleiter. Und nun kommt Mr. Semler mit seinen Kreisen. Von diesen drei
Managern will der Partner nur einen behalten: den Aufseher, der jetzt ein Koordinator wird. Aber der Vorarbeiter ist ein guter
Arbeiter, also bekommt er die Möglichkeit, an seine alte Maschine zurückzukehren, natürlich zu seinem Vorarbeiterlohn, so daß er
diese Rückversetzung ein wenig

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verschmerzen kann. Doch nun kommt das Problem: Seine Kollegen suchen noch immer seinen Rat und seine Führung, weil er
vielleicht eine Menge kann oder weil eben alte Gewohnheiten ein zähes Leben haben.
Diese »Phantombosse« konnten wir natürlich nicht dulden - denn wir wollten ja gerade die Wege verkürzen, welche die Leute
nehmen mußten, wenn sie eine Entscheidung haben oder eine Beschwerde loswerden wollten. Der Vorarbeiter, der wieder ein
einfacher Arbeiter wurde, auf den aber seine Kollegen immer noch hörten, repräsentierte somit eine eigene Managementebene, die
wir doch eigentlich beseitigt hatten.
Geduldig machten wir Jagd auf unsere Phantome und Geister. Aber damit nicht genug. Wir wurden nicht müde zu fragen: »Was
tut diese Management-Ebene? Was jene?« Wie in jedem anderen Unternehmen gab es auch bei Semco Abteilungen für Finanzen,
Verwaltung, Marketing, Verkauf, Teile, Herstellung, Technik und so weiter. Jede dieser Abteilungen hatte ihren eigenen Finanzchef,
Verwaltungschef, Controller und und und. Und unter jedem dieser Manager gab es weitere Manager, auf noch mehr Ebenen. Jeder
war der Person eine Sprosse über ihm unterstellt - die klassische Kette der Weisungsbefugnisse. Als wir das neue System
installierten, kämmten wir diese Ebenen durch. Es war wie bei dem Kinderspiel »Die Reise nach Jerusalem«: Von Runde zu Runde
gab es weniger Plätze. Von den Managern, die nur einen Stehplatz hatten, wenn die Musik aufhörte, kehrten einige in ihre alten
Jobs in der Fabrik zurück, andere verließen Semco von sich aus, und wieder andere mußten unvermeidlicherweise entlassen
werden. Ihre Aufgaben wurden neu verteilt, aber nicht formell, denn es gab ja bei uns keine spezifischen
Arbeitsplatzbeschreibungen mehr, sondern nur noch die bewußten vier Titel. Wir erklärten einfach: »Diese Person ist nicht mehr
da...« und ließen die Leute, die mit ihr zu tun gehabt hatten, selber herausfinden, was nun geschehen sollte, genauso wie es die
Leute in der Systemgastronomie-Einheit getan hatten.
Ich weiß nicht mehr genau, wie viele leitende Mitarbeiter wir dabei verloren - vielleicht 30, vielleicht noch mehr. Das reichte
von Vorarbeitern bis hinauf zu einem stellvertretenden Geschäftsführer namens Arno Witte.

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»Das sind doch nur semantische Spielereien«, hatte Arno gemeint, als er zum erstenmal hörte, wie ich die Kreise erläuterte. »In
Wirklichkeit wird sich gar nichts ändern.«
Zwei Jahre später gab er mir recht: Semco sei so umgewandelt worden, daß sein eigener Job überflüssig geworden war - er
nahm eine Ebene ein, die nicht mehr notwendig war, und er war so ehrlich und tapfer, dies zu akzeptieren. Arno war ein
phantastischer leitender Mitarbeiter gewesen; es hatte Jahre gedauert, bis wir ihn gewannen. Und nun verließ er uns und wurde
Präsident von Dunlop Ltd.
Bedauerlicherweise verloren wir in der Übergangsphase eine Menge hervorragender Leute. Aber wir waren bereit, diesen Preis
zu zahlen. Konventionelle Unternehmen nehmen solche Leute gewissermaßen auf Lager, bis sich eine entsprechende Stelle für sie
findet, aber inzwischen wissen Sie ja, wie wir darüber denken. Jedenfalls sahen wir nun, da unsere Arbeiter unsere Bilanz lesen
konnten, keinen Sinn darin, jemanden mit einem Jahresgehalt von 100 000 oder auch nur 40000 Dollar in der Hinterhand zu
halten.
Heute zeichnet sich Semco dadurch aus, daß ihm eine Struktur völlig fehlt, was andere Leute stets erstaunt. Immer wenn wir einen
Unternehmensberater hinzuziehen, der mit unserem Unternehmen nicht vertraut ist, bittet er uns normalerweise zunächst um eine
Kopie unseres Organigramms. Wenn wir ihm erklären, daß wir so etwas nicht haben, gerät er schon ein wenig ins Schwitzen. »Na
schön, da müssen wir eben eins erstellen«, wird er dann herablassend sagen. In der nächsten halben Stunde machen wir ihm klar,
daß wir schon seit zwölf Jahren kein Organigramm mehr verwenden und auch jetzt nicht Vorhaben, uns daran zu halten.
Das Organigramm ist so etwas wie die Geburtsurkunde eines Unternehmens, nicht mehr und nicht weniger. Es ist nur nützlich
für Leute, die keine Ahnung haben, wie eine Unternehmensdivision oder eine bestimmte Position entstanden ist. Organigramme
haben durchaus einen Platz im modernen Unternehmen: unter Verschluß in einem Aktenschrank.
Lassen Sie doch mal jemanden, der auf diese Schaubilder schwört, folgenden Test machen: Man suche sich eine Abteilung aus
und fordere alle darin tätigen Leute auf, ihre Vorgesetzten nach ihrer erwie-

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senen Kompetenz und ihrer tatsächlichen Entscheidungsbefugnis einzuordnen. Nun übertrage man die Ergebnisse dieser Umfrage
in ein Organigramm und vergleiche dieses mit der offiziellen Version. Es würde mich überraschen, wenn beide Organigramme auch
nur annähernd gleich wären. In Wahrheit können nämlich Macht und Ansehen nicht in einer derart simplen Kästchenmanier
verliehen werden.
Ich habe unsere Struktur als neu bezeichnet, aber im Grunde unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der vor 500 000
Generationen gebräuchlichen Organisationsform, als der Mensch noch ein Jäger war. Wer das Mammut zuerst entdeckte, wurde
der »Späher«. Derjenige, der den Speer am genauesten warf, war der »Schütze«. Und wem auch immer es gelang, sich über die
anderen als ihr Führer zu erheben, war der »Anführer« oder »Häuptling«.
Wenn wir heute jemanden bei Semco einstellen oder befördern, geben wir gemäß dieser Philosophie dem Betreffenden einfach
leere Visitenkarten und schlagen ihm vor: »Denken Sie sich doch einen Titel aus, der nach außen Ihren Tätigkeits- und
Zuständigkeitsbereich signalisiert, und lassen Sie ihn drucken.« Wenn dem Betreffenden das Wort »Beschaffungsmanager« gefällt,
soll uns das recht sein. Wenn er es lieber etwas eleganter haben will, kann er sich auch Karten mit der Bezeichnung »Erster Pharao -
zuständig für die Königlichen Vorräte« drucken lassen. Was immer ihm gefällt. Aber innerhalb des Unternehmens gibt es nur vier
Möglichkeiten. (Im übrigen entscheiden sich fast alle dafür, nur ihren Namen drucken zu lassen.)
Auch wenn es alle möglichen Zweifler und Skeptiker gab, als ich zum erstenmal meine Kreise malte, mußten doch selbst die
zynischsten Kritiker zu ihrem Erstaunen feststellen, daß alles besser funktionierte, sobald wir die Pyramide und alle damit
verbundenen Stufen und Rollen abgeschafft hatten. Wer uns vor Monaten noch gewarnt hatte: »Wir kommen einfach nicht ohne
Soundso aus«, mußte nun verblüfft erkennen, wie schnell und effizient unsere Werke ohne Soundso arbeiteten.
Verkehrsstaus wurden selten. Semco bewegte sich mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

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Kapitel 25: Nennen Sie Ihren Preis

»Ich denke, jeder sollte sein Einkommen selbst festsetzen.« Paulo Pereira, unser genialer, bilderstürmerischer Ex-Personalleiter,
nunmehr Koordinator, ließ wieder einmal eine Bombe hochgehen.
Bei einem anderen Unternehmen hätten alle gelacht. Aber bei Semco wurden solche revolutionären Ideen ernst genommen, da
man ja nie wußte, ob sie nicht doch irgendwann mal verwirklicht wurden. Als Paulo nun bei einer unserer Sitzungen, die wir
»Wölkenkuckucksheim« nannten, mit seinem »bescheidenen Vorschlag« herausplatzte, versuchte sich jeder vorzustellen, wie ein
derartiges System beschaffen wäre.
»Sagen Sie das noch mal, Paulo«, bat Batoni nach einer Weile.
»Wir haben die Runde Pyramide eingeführt«, erklärte Paulo. »Wir haben Vorschriften abgeschafft und die Bürokratie
beschnitten. Wir haben versucht, unser Unternehmen durchschaubar zu machen und unseren Leuten Freiheiten eingeräumt.
Warum sollten wir nicht auch unseren Mitarbeitern die Entscheidung darüber überlassen, wieviel sie verdienen? Ist das wirklich ein
so großer Schritt?«
Ich sah über den Tisch zu Clovis hinüber. Er hatte diesen Blick in seinen Augen, der signalisierte: Jetzt gehen wir wieder einen
Schritt weiter!
Topmanager bei Semco hatten ein festes und ein variables Einkommen, wobei es sich bei letzterem um eine leistungsorientierte
Prämie handelte - jährliche Sonderzahlungen von durchschnittlich 25 bis 50 Prozent, in guten Jahren. Aber niemand war über die
Art und Weise dieser Zuwendungen recht glücklich. Viele Unternehmen haben Bonussysteme - das war also nichts Neues. Die
meisten sind gewinnabhängig. Wenn das Budget beispielsweise einen voraussichtlichen Gewinn von einer Million Dollar ausweist,
erhält ein

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Manager einen bestimmten, prozentual festgelegten Anteil davon, wenn dieses Ziel erreicht wird, beziehungsweise mehr, wenn es
überschritten wird. Prämien können auch auf das Verkaufsvolumen oder auf fakturierte Rechnungen bezogen werden. Aber solche
konventionellen Formeln können ungerecht und kontraproduktiv sein. Nehmen wir an, in einem Jahr läuft es gut und ein
Unternehmen steuert auf 110 Prozent des veranschlagten Gewinns zu. Dann macht ein wichtiger Kunde Konkurs, und damit sacken
die Gewinne auf 85 Prozent ab. Würde das den plötzlich ohne Prämie dastehenden Managern nicht jede Motivation nehmen? Oder
infolge einer neuen Steuergesetzgebung steigt der Gewinn trotz einer mittelmäßigen Leistung auf 120 Prozent. Verärgert man nicht
die Aktionäre, wenn trotzdem Prämien verteilt werden?
Wir haben es bei Semco mit fünf oder sechs Bonussystemen probiert, jedesmal ohne Erfolg. Das eine Jahr waren die Manager
glücklich, im nächsten beunruhigt. Wir haben versucht, maßgeschneiderte Formeln auf einzelne Werke anzuwenden, und die
Auszahlungszeiträume von jährlich auf halbjährlich und vierteljährlich reduziert. Nichts hat funktioniert. Dann kamen wir darauf,
daß wir überhaupt nichts unternehmen sollten, um dieses Problem zu lösen. Schließlich hatten wir ja inzwischen eine
demokratische Unternehmenskultur, und warum sollten dann nicht unsere Manager selbst sich ihre Ziele setzen und nach Ablauf
des Jahres ermitteln, inwieweit sie sie erreicht hätten? Dann wäre es relativ einfach, daß sie sich auch einen angemessenen Bonus
bewilligten. Und niemand würde es mehr wagen, sich über die Ungerechtigkeit des Systems zu beschweren, da die Manager ja
schließlich selbst darüber entschieden, wie sie belohnt werden sollten.
Zyniker dachten, ein paar könnten das ausnutzen und sich unverdiente oder maßlos übertriebene Summen bewilligen, aber das
war nicht der Fall. Ich möchte gern glauben, dies sei darauf zurückzuführen, daß bei Semco jeder vernünftig und aufrichtig ist. Das
mag schon sein, aber mit Sicherheit hat das eine Menge mit unserer Transparenz zu tun: Öffentlich bekannte Gehälter schrecken
doch erheblich davon ab, allzu habgierig zu werden.

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Auf dem Erfolg des neuen Bonussystems also beruhte Paulos Vorschlag. Fast schon seit er bei Semco war, hatte er davon geträumt,
von den Mitarbeitern selbst festgesetzte Gehälter einzuführen. Auf diese Idee war er nach dem Besuch eines Seminars über
Gehaltsspiegel gekommen - er hatte nämlich entdeckt, daß die meisten Systeme theoretisch vernünftig zu sein schienen, aber es in
Wirklichkeit ganz und gar nicht waren.
Kurz danach hatte er mit Clovis und mir über selbstbestimmte Gehälter gesprochen, aber wir waren der Meinung, daß Semco
noch nicht soweit war. Und nun, zwei Jahre später, zögerten die wenigen Traditionalisten, die es bei Semco noch gab, immer noch.
Was denn nun mit all den sorgfältig erarbeiteten Tabellen geschehen solle, die die Gehälter je nach Job, Unternehmen und
Industriebereich differenzierten, erkundigten sie sich vorwurfsvoll. Sollten wir die einfach wegwerfen?
Ja, erwiderte wir. Mit Sicherheit gäbe es eine bessere Möglichkeit, Gehälter festzusetzen, eine Möglichkeit, die unsere
Mitarbeiter in ein Verfahren einbeziehen würde, das sonst immer einseitig ist.
Natürlich waren wir uns über eines im klaren: Wenn wir den Leuten erlaubten, ihre Gehälter selbst festzusetzen, dann würde es
aufgrund der Unterschiede zwischen einzelnen Kollegen noch viel mehr Ärger geben. Konventionelle Gehaltssysteme bemühen sich
schließlich um eine Standardisierung. Das System, über das wir nachdachten, würde individualistisch sein. Leitende Mitarbeiter
würden gebeten werden, schwierige Bewertungen vorzunehmen. Was war, wenn jemandem zwar die Erfahrung eines anderen
Kollegen fehlte, er sich aber für dynamischer hielt? Und wenn ein leitender Mitarbeiter zu wenig verlangte und bekam - würde er
dann von seinen Kollegen geringgeschätzt werden?
Während Paulo und die Ratgeber sich die Köpfe darüber heißredeten, ließ ich Irene Tubertini kommen, die letzte von meinen
ehedem drei Sekretärinnen. »Wieviel Geld brauchen Sie, um ein angenehmes Leben führen zu können?« fragte ich sie und sah, wie
sie errötete und ihre braunen Augen sich vor Verwirrung verschleierten. »Wieviel Geld brauchen Sie, damit Sie morgens mit dem
Gefühl, gerecht bezahlt zu sein, zur Arbeit gehen können? Damit Sie nicht in Versuchung geraten, sich nach einem anderen Job
umzusehen?«

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Sie saß da, glaubte nicht recht zu hören und fragte sich, was ich wohl wieder im Schilde führte. Ich bat sie, darüber
nachzudenken und mir nach ein oder zwei Tagen eine Zahl zu nennen. Das würde dann ihr Gehalt für das nächste Jahr sein. Doch,
doch, ich meinte das wirklich ernst, versicherte ich ihr. Wir hätten vor, auch anderen diese Frage zu stellen, und sie dann beim Wort
zu nehmen.
Ein paar Tage später sagte Irene mir, sie wolle gern 20000 Dollar pro Jahr haben, und das war nur eine Spur mehr, als sie
bisher verdiente. Das kam mir ein bißchen wenig vor, also erhöhte ich es um zehn Prozent, und damit waren wir uns einig.
Nach dem Tubertini-Test riefen wir alle Manager zusammen, die bei Semco die höchsten Führungspositionen einnahmen, sowie
ihre engsten Mitarbeiter, und gingen nach dem gleichen Verfahren vor. Diese Leute hatten wir deshalb ausgewählt, weil sie gebildet
waren, ihre Meinung artikulieren konnten und weil sie weniger anfällig waren für etwaige Manipulationen von unserer Seite.
Wir entwickelten ein Bewertungsformular, um ihnen dabei zu helfen, sie gaben darauf ihr Alter an, wie lange sie schon bei
Semco arbeiteten, ihre derzeitige Position und wie sie ihre Zeit verbrachten - das heißt, wieviel Zeit sie in ihren Arbeitsstunden für
Entscheidungen, Kundengespräche, die Tätigkeit in anderen Abteilungen als der eigenen und andere Aktivitäten aufwendeten. Seit
wir die üblichen Titel und die meisten anderen hierarchischen Unterschiede abgeschafft hatten, war es schwierig, zwischen
einzelnen Managern zu unterscheiden, wenn man sie nicht präzise befragte, was sie eigentlich taten. Und wir fragten unsere Leute
auch, wie sie sich selbst darstellen würden, falls sie Semco verließen und sich anderswo nach einem ähnlichen Job umsähen.
Nachdem jeder Manager den Fragebogen ausgefüllt hatte, gab er ihn seinem Boß weiter, der ihn gleichfalls beantwortete. Damit
hatten wir zwei Bewertungen für jeden einzelnen.
Natürlich wollten wir es nicht soweit kommen lassen, daß ein Mitarbeiter sagen konnte: »Ich möchte 1000 Dollar in der Woche
verdienen«, worauf sein Boß erwidern würde: »Aber Ihnen stehen eigentlich nur 750 Dollar zu.« Das war nicht die richtige
Verhandlungsgrundlage. Wir wollten, daß sich jeder Manager auf seine Position im

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Unternehmen und seinen Wert konzentrierte. Dann könnte ein Boß einem Untergebenen sagen: »Sie halten sich zwar für einen
erfahrenen Mitarbeiter, aber ich denke, als Einkäufer müssen Sie noch eine ganze Menge lernen.« Wir hofften, daß sie so lange
miteinander sprechen würden, bis sie sich auf einer gemeinsamen Basis bewegten.
Und erst dann kam das Thema Geld ins Spiel. Ehe sie uns erklärten, wieviel sie bekommen wollten, baten wir sie, vier Kriterien
zu berücksichtigen: 1. wieviel sie ihrer Meinung nach anderswo verdienen könnten; 2. was andere mit ähnlicher Verantwortung und
ähnlichem Können bei Semco verdienten; 3. was Freunde mit ähnlichem Background verdienten; und 4. wieviel Geld sie zum Leben
brauchten. Um ihnen bei den ersten beiden Kriterien zu helfen, gaben wir ihnen einen Gehaltsspiegel von Semco sowie nationale
Gehaltsspiegel, wie sie Unternehmensberatungsfirmen wie Price Waterhouse und Coopers & Lybrand zusammengestellt haben.
Was die letzten beiden Kriterien betraf, mußten sie sich selbst Klarheit verschaffen. Und erst dann entschieden sie, wieviel sie
bekommen würden - einfach so.
Nun, nicht ganz. Ursprünglich hatten wir geplant, ein Gehalt nicht mehr zu ändern, sobald jemand es für sich festgesetzt hatte.
Wenn es zu hoch war, mußte er mit der Tatsache fertig werden, daß das ganze Unternehmen wußte, daß er sich überbezahlt hatte.
Wenn es zu niedrig war, mußte er ein weiteres Jahr warten, ehe er es wieder anheben konnte. Aber da dies unser erster
nervenaufreibender Trip auf diesem Weg war, hatten wir ein beruhigenderes Gefühl zu wissen, daß es eine Möglichkeit zu einem
gewissen Geben und Nehmen zwischen Boß und Untergebenem geben sollte, bevor eine Zahl endgültig festgelegt wurde.
Unsere Sorgen waren indes unbegründet. Abgesehen von einem halben Dutzend Leuten setzten alle ihre Gehälter so fest, wie es
in etwa unseren Erwartungen entsprach. Und in fünf von diesen sechs Ausnahmefällen setzten die Leute ihre Gehälter niedriger an,
als wir es ihnen unterstellt hatten. Es war auch gar nicht immer einfach, sie dazu zu bewegen, ihre Zahl zu erhöhen.
»Ich fand es schwierig, genau zu definieren, wieviel ich bekom-

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men sollte«, erklärte Jose Violi Filho, der von seinem Freund Iotti zu Semco geholt worden war.
Violi, der knapp einen Meter sechzig groß ist und gerade einen Zentner wiegt, hat einen so klaren und raschen Verstand, wie ich
ihm nur selten begegnet bin. In wenigen Sekunden kann er ein geschäftliches Problem lösen oder eine Bilanz analysieren. Er kam zu
uns als Hilfsbuchhalter, stieg dann zum Buchhalter, Chefbuchhalter, Werkscontroller und Unternehmenscontroller auf, wobei er für
kurze Zeit irgendwo dazwischen Finanzchef gewesen war. Dann wollte er ein Unternehmen leiten und wurde schließlich Partner für
die Systemgastronomie-Einheit. Und dann kehrte er wieder in den Finanzbereich als Ratgeber zurück und wurde zugleich Partner
für den Bereich Finanzen im Gesamtunternehmen. (Nun verstehen Sie vielleicht, was ich mit hektischen Karrieren meine.) Aber
damals, als wir uns über selbstbestimmte Gehälter unterhielten, war er noch ein Junge vom Lande, zu schüchtern und unsicher, um
sich selbst ein angemessenes Gehalt zuzuweisen.
Sein damaliger Vorgesetzter Alipio Camargo lehnte die Summe von 15 000 Dollar im Jahr ab, die Violi nannte. »Das sollten Sie
lieber noch einmal überdenken«, erklärte er, »denn darüber brauchen wir gar nicht erst zu reden.«
Violi erhöhte auf 18000 Dollar. Und wieder war Alipio damit nicht einverstanden - die richtige Summe liege bei 25 000 Dollar.
Die Angelegenheit wurde Clovis vorgetragen, und der entschied, daß Alipio recht hatte.
Unter denen, die an dieser ersten Runde der Gehaltsfestsetzung teilnahmen, hatte nur ein Verkaufsleiter namens Rolney
Magalhaes eine übertrieben hohe Summe für sich vorgesehen. Er hatte Ambitionen, ein Partner zu werden, und setzte darum sein
Gehalt auf diesem Level fest, das 70000 Dollar im Jahr betrug und damit um 30 Prozent höher lag als sein bisheriges - offenbar
hoffte er, daß er damit auch gleich befördert würde.
Wir hatten den Eindruck, daß Rolney einmal ein guter Verkaufsdirektor werden könnte, aber nicht gleich und - da wir schon
einen Verkaufsdirektor hatten - vermutlich auch nicht bei Semco. Als wir ihm das klarmachten, eröffnete er uns gelassen, daß er bei
einem anderen Unternehmen als Geschäftsführer im Gespräch sei. Er bekam

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diesen Posten auch - also hatte er vielleicht doch recht gehabt, was sein Gehalt betraf.
Es gibt drei Gründe, warum fast alle sich so vernünftig verhielten. Erstens wußte jeder, was die anderen bekamen. Zweitens
beziehen auch die Topleute - Clovis, Batoni, Vendramin - nur relativ bescheidene Gehälter. (Der Ordnung halber: Ich bin etwas
weniger bescheiden - mein Gehalt erreichte in der Zeit des Booms von 1989 eine einsame Höhe von 300000 Dollar, hat aber auch
schon mal nur 120000 Dollar betragen.) Es gehört zu unserer Unternehmensphilosophie, daß wir versuchen, für unsere
Topgehälter höchstens das Zehnfache unserer niedrigsten Löhne anzusetzen. Damit befinden wir uns in extremem Gegensatz zu
anderen brasilianischen Unternehmen, in denen das Gehalt eines Topmanagers 80mal höher sein kann als der Lohn eines
einfachen Arbeiters. Der dritte Grund, warum unsere Leute im allgemeinen so bescheiden waren im Hinblick auf ihr Einkommen,
hat etwas mit Selbsterhaltung zu tun. Unsere Betriebsbudgets bei Semco gelten nur für sechs Monate, nicht für die üblichen zwölf.
Da jede unvorhergesehene Ausgabensteigerung in kurzer Zeit wieder aufgefangen werden muß, bleibt uns wenig Spielraum. Unsere
Leute wissen, daß Löhne und Gehälter den größten Anteil an unseren Betriebskosten haben, und darum denken sie auch an unsere
Sechsmonatsbudgets, wenn sie ihre Gehälter festsetzen. Ein Budgetproblem läßt sich leicht dadurch lösen, daß ein Gehalt eliminiert
wird, das offenbar zu hoch ist, und darum möchte niemand sich in dieser auffälligen Weise von den andern abheben.
Inzwischen arbeiten wir schon mehrere Jahre mit dieser verrückten Neuerung, und wirtschaftlich haben sich die
selbstbestimmten Gehälter längst nicht so dramatisch ausgewirkt, wie wir gedacht hatten. Eine zehnprozentige Steigerung ist die
Ausnahme. In Brasilien sind Gehaltskürzungen gesetzlich verboten, sogar bei selbstbestimmten Gehältern, aber bei einer hohen
Inflationsrate geht das Realeinkommen natürlich zurück, wenn die Gehälter relativ stabil sind. So gesehen, sind die
selbstbestimmten Gehälter bei Semco in manchen Jahren sogar drastisch zurückgegangen. Offensichtlich haben unsere Leute aus
Sorge um das Wohlergehen von Semco ihre Gehälter im Griff. In guten wie in schlechten Zeiten haben selbstbe-

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stimmte Gehälter unsere Mitarbeiter veranlaßt, sich an jene unternehmerische Perspektive zu halten, die man nur ganz selten erlebt
- die lange Sicht. Und noch etwas Gutes haben diese selbstbestimmten Gehälter: Es gibt keine Beschwerden und Rangeleien mehr
hinsichtlich der Bezahlung, wie sie sonst in Unternehmen zur Tagesordnung gehören.
An diesem ersten Experiment waren etwa fünf Prozent unserer Belegschaft beteiligt. Inzwischen liegen wir bei fast 25 Prozent,
und dazu gehören die meisten unserer Koordinatoren. Es gibt für mich keinen Grund, warum sich Fabrikarbeiter nicht auch eines
Tages an diesen Rechenspielen beteiligen sollten.
Als unsere leitenden Mitarbeiter nun mit ihren Gehältern glücklich und zufrieden, oder zumindest eigenverantwortlich für sie
waren, machte Paulo erneut einen Vorschlag, der sogar noch kühner war: das »Risiko-Gehalt«, wie er es nannte.
»Jeder von Ihnen hat nun genau das Gehalt, das seiner eigenen Bewertung und Einschätzung entspricht«, erklärte er auf einer
Konferenz unserer leitenden Mitarbeiter im Jahre 1989. »Aber ich schlage nun als nächstes vor, daß Sie etwas weniger bekommen,
dafür jedoch die Möglichkeit erhalten sollen, mehr zu verdienen.«
Dann erläuterte er seinen neuen Trick. Wenn es Semco gutging, würde ein Mitarbeiter, der bereit war, eine 25prozentige
Gehaltskürzung zu riskieren - das war das Limit -, bis zu 50 Prozent mehr bekommen. Wenn es bei Semco aber nicht so gut lief,
würde er die 25prozentige Kürzung hinnehmen müssen. Also würde beispielsweise ein Manager mit einem Wochenverdienst von
1000 Dollar riskieren, nur noch 750 Dollar zu bekommen, dafür aber am Ende eines jeden Quartals möglicherweise eine Summe
erhalten, die sein wöchentliches Einkommen auf 1500 Dollar steigen ließ.
Mitarbeiter, die keine hohen Fixkosten hatten, nahmen Paulo beim Wort und riskierten mehr - wer dagegen eine nicht
berufstätige Frau und Kinder hatte, riskierte meistens weniger. Bis heute hat sich dieses System für die »Mitspieler« wie für das
Unternehmen gelohnt, da mit Hilfe dieses Programms unsere Lohnkosten synchron mit den Gewinnen oder Verlusten schwanken.
Wenn das Geschäft gutgeht, verdienen die Leute, die an diesem Programm teilnehmen,

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eine ganze Menge mehr. Wenn nicht, helfen sie uns bei der Kostendämpfung und gehen gehaltsmäßig gewissermaßen in Deckung,
wenn kostensenkende Maßnahmen angesagt sind.

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Kapitel 26: Vom Unternehmer zum Bestsellerautor

Aufgrund unserer neuen Philosophien und Strategien konnte sich Semco inzwischen einer der höchsten Wachstumsraten in
Brasilien rühmen. Der Jahresumsatz, der jahrzehntelang bei vier Millionen Dollar gelegen hatte, war inzwischen auf 35 Millionen
Dollar geklettert, und bereits nach ein paar Jahren hatten wir statt einer Fabrik deren sechs und statt 100 Mitarbeitern 830.
Auf jedem unserer Märkte war Semco die Nummer 1 oder Nummer 2 - wir verkauften 85 Prozent aller Schiffsausrüstungen in
Brasilien, 70 Prozent aller hydraulischen Pumpen und 65 Prozent aller Großgeschirrspülanlagen. Unsere Hobart-Waagen hatten
innerhalb von drei Jahren statt drei Prozent 23 Prozent Marktanteil - und das trotz vieler Konkurrenten, von denen die meisten
Tochterunternehmen großer und mächtiger Multis waren.
Was uns das Ganze noch mehr versüßte, war die Tatsache, daß wir niemandem auch nur einen Cent schuldig waren, denn wir
hatten keine Schulden. Tatsächlich riefen Bank-Vizepräsidenten, deren Sekretärinnen uns immer erzählt hatten, sie seien gerade in
einer Besprechung, wenn wir anriefen, nun selbst bei uns an und versuchten, mit uns Termine zu vereinbaren. Und während dieser
ganzen Expansionsphase hat uns der Staat auch nicht ein einziges Mal geholfen.
Aber Erfolg besteht nicht nur aus beeindruckenden Zahlen in einem Jahresbericht. Oseas da Silva, ein Angehöriger des
Werkskomitees in Santo Amaro, der früher Streiks gegen das Unternehmen organisiert und geführt hat - da Silva hat unsere
Verwandlung einmal in der größten Tageszeitung von Brasilien so geschildert: »Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Sie wissen
ja, wie das ist, wenn sich die Leute daran gewöhnt haben, unter einem autoritären Regime zu leben. Oder wenn Sie endlich aus dem
Gefängnis rauskommen.

---OP 253---

Sie können einfach nicht glauben, daß es wahr ist. Die Arbeiter sind tatsächlich motiviert zu arbeiten.«
Oder wie es ein anderer Semco-Mitarbeiter gegenüber einer Zeitschrift beschrieb: »Es ist wie im Paradies, in diesem
Unternehmen zu arbeiten. Niemand will es verlassen.«
Das kann einem schon zu Kopf steigen. Und das tat es vermutlich auch bei mir. Also beschloß ich Anfang 1988, im Alter von 28,
daß es an der Zeit sei, meine Memoiren niederzuschreiben. Wir - Sofia und ich - zogen uns in unsere Ranch in den Bergen zurück,
wo es kein Telefon gibt. Neun Tage lang schrieb ich wie ein Besessener, zwölf, ja vierzehn Stunden am Stück, in denen ich so
intensiv arbeitete, daß ich oft von der Morgendämmerung überrascht wurde. Es sprudelte nur so aus mir heraus - zehn Jahre
Experimentieren und Schuften, Frust und Lust. Da ich nach Semcos Erfahrungen mit Computern nicht mehr viel Vertrauen in
elektronische Apparate hatte, benutzte ich jenes altmodische Textverarbeitungsgerät, das am anderen Ende einen Radiergummi
hat.
Ich kam aus den Bergen mit 750 handschriftlichen Seiten zurück, denen ich den Titel Turning the Tables gab: »Wie ich den
Spieß umdrehte.« Ich schickte Kopien an große brasilianische Verlage und wartete. Ich habe schon lange nicht mehr so warten
müssen. Wochen vergingen. Endlich rief jemand an. Ich dachte, ich hätte einen Volltreffer gelandet, da dieser Verlag bereits Bücher
von Iacocca und Monta herausgebracht hatte. Wir gingen zum Essen, und ich glaubte danach, ich würde ein Angebot erhalten. Doch
es kam keins.
Da ich von den anderen Verlegern nichts hörte, rief ich selbst bei ihnen an. Keiner war an meinem Buch interessiert - nur zwei
schlugen vor, ich könnte es ja auf eigene Kosten drucken lassen und es den Mitarbeitern von Semco schenken.
Und dann fiel mir Richard Civita ein. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber sein Unternehmen Nova Cultural war mir ein Begriff
- ein großer Zeitschriftenvertrieb und ein Verlag mittlerer Größe. Ich rief ihn an und erzählte ihm meine Geschichte. Er sagte, er
werde noch am Abend nach New York fliegen und mein Manuskript im Flugzeug lesen. Zwei Tage später erfuhr ich, er sei bereit,
nicht mehr als 2000 Dollar für die Geschichte meines Lebens und meines Unternehmens zu bezahlen. Na schön, es ging ja nicht
ums Geld, sagte ich mir

---OP 254---

schnell und rief meinen Anwalt an, mit der Bitte, einen Vertrag aufzusetzen - allerdings beschwor ich ihn, nicht zuviel Druck zu
machen, da dies der einzige Verleger in Brasilien sei, der es riskieren wolle, meine Geschichte zu bringen. Aber dieser Anwalt ist ein
harter Bursche, und darum bestand er darauf, daß der Vertrag eine Klausel enthalten müsse, derzufolge ich einen höheren
Honoraranteil ab jedem hunderttausendsten Exemplar des Buches bekommen sollte. Der Verleger und ich lachten darüber, denn
wir wären schon glücklich gewesen, wenn wir 5000 Exemplare losgeworden wären.
Was dann kam, hätten wir uns nie träumen lassen: Von Turning the Tables wurden schließlich 400000 Exemplare verkauft,
und das Buch stand fast 200 Wochen auf der Bestsellerliste und war damit das bestverkaufte brasilianische Sachbuch aller Zeiten.
Die Nation, schien es, wartete begierig auf neue Ideen. Oder wie ich gerne sage: Wir saßen auf unserem Surfbrett, ein winziger
Schnipsel im Ozean, als eine riesige Welle Unglück über die Unternehmen hereinbrach. Doch wir standen einfach auf und surften
an Land.
Ich war ein ebenso erfolgreicher wie rebellischer Manager, der bald Bestsellerautor und ein Mann von bescheidener Prominenz sein
sollte. Aber ich hatte noch ganz andere Ambitionen: Ich wollte unbedingt an der Harvard Business School studieren.
Zum erstenmal war mir der Gedanke an ein Harvard-Studium gekommen, als ich die High School zur Hälfte hinter mir hatte.
Jahre später war ich ganz davon besessen, als Freunde mich nach Cambridge mitnahmen und ich beeindruckt war von dem, was ich
da sah. Als ich damals mit der U-Bahn nach Boston zurückfuhr, kaufte ich mir einen Talisman: eine unbenutzte Fahrmünze. Ich
wollte sie an dem Tag benützen, da ich zum Studium zugelassen wurde.
Im Jahr darauf bewarb ich mich an der Business School, gegen den Rat einiger guter Freunde, die dachten, daß ein Studium in
den USA keinen Nutzen für meine Karriere in Brasilien hätte. Sie hatten auch Angst, daß eine Ablehnung, die für sie offenbar
durchaus im Bereich des Möglichen lag, ein schwerer Schlag für mein ebenso überdimensionales wie zerbrechliches Ego wäre.
Wenn ich schon in den USA studieren wolle, meinten sie, dann solle ich mich doch gleich an mehreren Universitäten bewerben und
damit das Risiko verringern.

---OP 255---

Dickköpfig, wie ich nun einmal war, bewarb ich mich nur in Harvard und wartete ängstlich auf die Entscheidung. Schließlich
kam der bewußte Brief aus Cambridge. Versuchen Sie mal, einen Umschlag mit gedrücktem Daumen zu öffnen.
Ich war sicher, daß man mich zulassen würde. Doch ich irrte mich. Es dauerte Wochen, bis ich mich davon erholte. Ich sagte
niemandem etwas davon, um mir das zusätzliche Elend zu ersparen, mir solche trostreichen Bemerkungen anhören zu müssen wie:
»Aber im Leben gibt es doch Wichtigeres als das...« Hin und wieder allerdings überzeugte ich mich mit einem Blick in meine
Brieftasche davon, daß sich der U-Bahn-Chip noch immer darin befand. Ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie war ich
überzeugt, daß ich eines Tages in Harvard studieren würde, solange nur diese Fahrmünze nicht verlorenging. Ich durfte aber auch
nicht schwindeln und sie an einen sicheren Ort legen. Sie mußte in meiner Brieftasche bleiben, wenn ihr Zauber funktionieren
sollte.
Zwei Jahre später bewarb ich mich erneut in Harvard. Diesmal wurde ich immerhin zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Ich vereinbarte einen Termin, den ich in eine Geschäftsreise einbauen konnte, und dann flog ich nach Boston. Ich hatte mir eine
Menge Gedanken über die richtige Kleidung gemacht und mich am Ende für den dunklen Flanellanzug mit den diskreten
Nadelstreifen, den ich an meinem ersten Tag bei Semco getragen hatte, für ein gestärktes weißes Hemd und eine dunkle
Ripskrawatte entschieden. Nachdem ich lange mit mir gerungen hatte, entschied ich mich gegen ein passendes Einstecktuch. Aber
dafür hatte ich mir eine verwegene neue Masche ausgedacht, meinen Mantel elegant über dem Arm zu drapieren. Nach diesen
peniblen Vorbereitungen können Sie sich mein Entsetzen vorstellen, als ich mein Hotelzimmer am Abend vor dem
Vorstellungsgespräch betrat, meinen Koffer öffnete und entdeckte, daß mein Anzug völlig zerknittert war. Es war 23 Uhr - zu spät,
ihn noch zum Bügeln zu geben. Dann erinnerte ich mich an einen alten Trick meines Vaters: Er hängte seinen Anzug immer neben
die Dusche, so daß der Dampf den Stoff wieder glättete. Erleichtert lehnte ich mich auf meinem Bett zurück und sah mir M*A*S*H
an, während sich mein Anzug entspannte. Dann kam Johnny Carson. Dann kam der Schlaf. Die heiße Luft im Zimmer ließ mich mit
einem Ruck

---OP 256---

erwachen, und ich merkte - zum zweitenmal voller Entsetzen -, daß es vier Uhr morgens war und die Dusche noch voll aufgedreht.
Ich raste ins Badezimmer, wo mein Anzug nun noch feuchter war als der von Gene Kelly in »Singin’ in the Rain«.
Aber ich hatte Glück. Draußen schneite es, und am Morgen paßte mein schwammiges Aussehen ganz gut dazu.
Meine Unterhaltung mit dem Assistenten des Dekans lief gut - zumindest war ich beeindruckt von meinem Auftreten. Als ich
gerade gehen wollte, machte er mir den Vorschlag, ich solle doch an einem Seminar teilnehmen, was ich auch tat. Der Seminarleiter
stellte mich sarkastisch als einen »eleganten Herrn aus Brasilien« vor - ich nehme an, weil ich der einzige war, der einen Anzug
trug.
Ich kehrte nach Brasilien zurück und erwartete wieder einmal die Entscheidung aus Harvard. Nach ein paar Wochen kam der
Brief. Er sah besorgniserregend dünn aus. Ich weiß noch, wie ich den Umschlag gegen das Licht hielt, um zu sehen, ob sich darin
auch Anmeldeformulare befanden. Nichts. Vielleicht kamen sie noch später. Ich öffnete den Umschlag. Gleich nach der Anrede
»Sehr geehrter Bewerber« erblickte ich das Wort »bedauerlicherweise«.
Erst nach mehreren Tagen nahm ich mir den Brief erneut vor und las ihn ganz durch. Zum zweitenmal verschmäht! Und noch
immer befand sich der U-Bahn-Chip in meiner Brieftasche.
Zum erstenmal dachte ich daran, aufzugeben. Dann fiel mir ein, daß ich meine Brieftasche an verschiedenen Orten
liegengelassen hatte - und immer hatte ich sie zurückbekommen, komplett mit Talisman und allem anderen. Und daß ich mir
mehrmals eine neue Brieftasche gekauft hatte und sorgfältig die Fahrmünze hineingesteckt hatte. Das mußte doch ein Zeichen sein -
ein echtes ZEICHEN.
Viele Monate später, an einem Tag, an dem ich mich maßlos darüber geärgert hatte, daß uns ein Auftrag durch die Lappen
gegangen war, beschloß ich, einen etwas ausfallenden Brief an Harvard zu schicken und allen an diesem großartigen Institut zu
sagen, was ich wirklich von ihrer Zulassungspolitik hielt. Im letzten Ablehnungsbrief hatte gestanden, ich hätte nicht genügend
Erfahrung, obwohl ich doch seit Jahren bei Semco arbeitete. Also teilte ich ihnen mit, daß sie nach ihren Maßstäben auch Steven
Jobs nicht akzeptiert hätten, als er gerade Apple gegründet hatte.

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Einige Monate später kam wieder ein Brief aus Cambridge, und ich machte mich schon auf einen Tadel gefaßt. Aber man bat
mich einfach, ein paar Formulare auszufüllen und mein Foto beizulegen, damit ich mich für das neue Semester einschreiben
könnte. Was für ein unglückliches Timing! Damals passierte so viel bei Semco, daß es pädagogisch wertvoller war, dazubleiben.
Aber schließlich wurde ich doch noch ein Harvard-Student. Nachdem ich Semco nun schon ein halbes Dutzend Jahre geführt
hatte, beschloß ich, an einem Studienprogramm für leitende Mitarbeiter teilzunehmen, das aus einem Intensivkurs von einem
Monat pro Jahr bestand und insgesamt drei Jahre dauerte. Ich hatte in einigen betriebswirtschaftlichen Fächern und Techniken
noch eine Menge zu lernen, aber ich war mindestens genauso neugierig darauf, wie die Leute in Harvard - die Professoren und die
anderen Manager und Geschäftsführer - auf die Ideen und Programme reagieren würden, die wir bei Semco eingeführt hatten. Ob
sie uns für genauso komisch halten würden wie ich sie?
In diesen drei Monaten habe ich Dutzende von Stunden damit verbracht, mit ihnen über Semco zu diskutieren. Es war fast
unvermeidlich, daß sich diese Seminare mit der Theorie der Verwaltungsorganisation, der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern oder der Produktivität befaßten. Ich denke, daß ich sie mit Sicherheit gut unterhalten habe, als ich ihnen unsere
kreisförmige Organisation und unsere selbstbestimmten Gehälter erläuterte.
»Vielleicht probiere ich das auch mal bei uns aus«, sagten sie kopfschüttelnd. Aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los,
daß die meisten von ihnen es nicht tun würden.

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Kapitel 27: Das Maultier ohne Kopf

Werkskomitees mit echten Machtbefugnissen. Büros mit offenen Türen und weniger Wänden als üblich. Bilanzen, die an Weißen
Brettern ausgehängt werden. Vorschriften, die auf den Müll wandern. Memos, die nicht mehr länger als eine Seite sein dürfen.
Kreise statt einer Pyramide. Leitende Mitarbeiter, die soviel Geld verdienen, wie sie wollen. Und die Chronik des Ganzen, die ein
Bestseller wird. Kein Wunder, daß Semco Aufsehen zu erregen begann.
Meine Kollegen und ich waren plötzlich gefragte Leute. Wir bekamen massenweise Einladungen. Ich selbst hielt 50 oder 60
Vorträge im Jahr. Ich liebte die Provokation: Meine Ansprache vor dem Verband der Eisenbahnarbeiter trug den Titel »Die
sterbende Eisenbahnindustrie«; vor der Jahreskonferenz der Jungsekretärinnen erklärte ich »Wie man aufhört, eine Sekretärin zu
sein«; und den Konvent der Finanzdirektoren erfreute ich mit dem Vortrag »Die Abschaffung des Finanzdirektors«. Als ich vor den
Studenten der bedeutendsten Wirtschaftsakademie von Brasilien sprach, lautete das Thema »Warum Wirtschaftsakademien für
Studenten ohne Diplom überflüssig sind«.
Trotzdem war ich ein begehrter Interviewpartner für Zeitungen und Zeitschriften wie für Fernsehen und Rundfunk. Meine
Kommilitonen in Harvard waren vielleicht noch skeptisch gewesen, aber zu unserem Erstaunen und Entzücken standen
Unternehmensführer und Wirtschaftsprofessoren aus der ganzen Welt bei uns Schlange, um einen Blick auf das Ganze zu werfen. In
unseren Fabriken drängten sich so viele Besucher, daß einige Werkskomiteeführer sich darüber beklagten, all diese Leute würden
nur die Produktion stören. Um diesen Andrang in geregelte Bahnen zu lenken, führten wir das Semcotour-Programm ein. Wir
sammelten die Anfragen und faßten

---OP 259---

einmal im Monat die Repräsentanten aus einem Dutzend Unternehmen zu einer Gruppe zusammen, der wir die Firma geschlossen
zeigten. Als sich herausstellte, daß das noch immer nicht ausreichte, veranstalteten wir diese Besichtigungstour zweimal im Monat
und erhöhten die Anzahl der Teilnehmer auf 35. Dennoch gab es eine Wartezeit von bis zu fünf Monaten.
Das war alles so schmeichelhaft, so aufregend, und darum war es wohl nur zu verständlich, daß wir eine Zeitlang völlig aus den
Augen verloren, was uns all diese Aufmerksamkeit und diesen Ruhm eingebracht hatte: unser Geschäft. Mit der Zeit verringerte ich
die Zahl meiner Vorträge auf 20 pro Jahr, wir wehrten Besichtigungen ab und schränkten unsere Auftritte in den Medien ein. Aber
leider war es schon zu spät, um eine Reihe von Fehlern zu verhindern.
Wir waren so hingerissen von Einstellung und Auftreten der Arbeiter in der Systemgastronomie-Einheit, daß wir alles liebten, was
sie machten. Das Werk war in den schwarzen Zahlen, aber wir merkten zu spät, daß es eigentlich zu wenig umsetzte. Man mag das
den Preis der Eitelkeit nennen - jedenfalls verloren wir im Laufe von vier Jahren mindestens drei Millionen Dollar, weil wir stur an
den in dieser Fabrik hergestellten mechanischen Waagen, Schneidemaschinen, Fleischwölfen und Kartoffelschälmaschinen
festhielten. Der Markt war längst gesättigt, aber wir glaubten noch immer daran, daß wir mit Hilfe von Verbesserungen aus ihnen
etwas Besonderes machen könnten, so daß sie nicht irgendwelche x-beliebigen Erzeugnisse wären.
Nehmen wir beispielsweise die mechanischen Waagen. Wir verkauften davon immer noch 1300 Stück im Monat, was etwa 20
Prozent unseres Geschäfts mit der Systemgastronomie-Einheit ausmachte. Aber das Produkt war so bieder, daß es kaum noch eine
Zukunft hatte, und da es inzwischen von 20 Konkurrenten angeboten wurde, war es zu einem Preisverfall gekommen, und es gab
kaum noch einen Gewinn. Also hatte die Waage eigentlich auch keine Gegenwart mehr. Trotzdem gaben wir noch Hunderttausende
von Dollars aus, um das Design, die Materialien, die Zulieferer und den Produktionsablauf zu ändern - und wir verplemperten die
Energie von Managern, die etwas in Ordnung zu bringen versuchten, was wir am

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besten aufgegeben hätten. Aber wir waren nun einmal emotional darauf fixiert, die Waage am Leben zu erhalten. Ein halbes
Jahrhundert lang war sie sozusagen das Standbein von Hobart in Brasilien gewesen, und in der Hälfte der Tante-Emma-Läden und
Supermärkte des Landes gehörte sie einfach zum Inventar.
Schließlich konnten wir die Wirklichkeit nicht länger ignorieren und boten die Herstellungsmaschinen, die Muster und Formen
allen Mitarbeitern an, die eine eigene Waagenfirma aufmachen wollten. Aber unsere Arbeiter waren so sehr davon überzeugt, daß
wir dabei waren, unseren Familienschmuck zu verscherbeln, daß wir noch weitere 18 Monate brauchten, um diese Linie zu
schließen und die Maschinen abzustoßen. Sie bildeten auch weiterhin Sonderschichten und baten um Zeit, damit sie beweisen
könnten, daß ein neues Herstellungsverfahren oder eine neue Montagemethode den Waagenmarkt wiederbeleben würde.
Wir klammerten uns auch jahrelang an den Kühlturm einer Klimaanlage für Bürogebäude, der in unserem BAC-Werk
hergestellt wurde. Unser Produkt bestand noch immer aus Stahl, lange nachdem die Konkurrenz zu Fiberglas oder Kunststoff
übergegangen war. Stahl sei stärker und feuerbeständig, redeten wir uns immer ein - aber er rostete auch, besonders in Gebäuden
am Meer. Wir ließen es uns eine Menge Zeit und Geld kosten, Kunden von unserer überlegenen Qualität zu überzeugen, ehe wir -
viel zu spät - auf einen Fiberglasturm umstellten.
Ärger hatten wir auch mit einem Maschinenteil, einer hydraulischen Kupplung, wie sie bei großen Förderbändern eingesetzt
wird. Wir vereinbarten mit dem britischen Unternehmen Fluidrive, den Verkauf in England und Brasilien gemeinsam anzukurbeln,
und begannen mit der Werbung, aber unser Slogan kam nie an. Ein deutsches Unternehmen namens Voith hatte den Markt fest im
Griff und senkte jedesmal die Preise, wenn wir ein Angebot machten. Sturerweise versuchten wir, ihnen ein Kopf-an-Kopf-Rennen
zu liefern, während wir uns doch lieber hätten heraushalten und den richtigen Augenblick abwarten sollen - denn wenn die Kunden
es schließlich leid gewesen wären, nur einen Zulieferer zu haben, hätten wir mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg ins Geschäft
einsteigen können.
Aber wir waren nun einmal impulsiv und dickköpfig, und das ko-

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stete uns Geld und Arbeitsplätze. Vielleicht nahmen wir die Presseberichte über uns zu ernst.
Inzwischen hatten Fiasco und Rogerio im Jabaquara-Werk wahre Wunder bewirkt. Die Produktivität florierte. Die Beziehungen
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern waren mustergültig. Die Verkäufe ihrer elektronischen Waagen waren von
durchschnittlich 150 auf 600 oder 700 Stück im Monat gestiegen - bis auf Spitzenwerte von über 1000. Unser Marktanteil kletterte
von weniger als 10 Prozent auf über 35 Prozent, und damit nahmen auch unsere Gewinne zu. Wir waren im Marketing-Himmel.
Niemand meckerte mehr darüber, daß wir diese Produktlinie aus dem Werk von Ipiranga herausgelöst hatten. Die Kids von
Jabaquara hatten endlich mit den verspäteten Auslieferungen Schluß gemacht und die chronischen Qualitätsprobleme dieser
Einheit gelöst. Unter anderem hatten sie eine Öffnung im Gehäuse der Waagen geschlossen, durch welche Kakerlaken hatten
eindringen können. (Wenn sie einmal drin waren, fraßen sie zuerst alles eßbare Wiegegut und fielen dann über die integrierten
Schaltkreise her.)
Als wir sahen, daß der Laden lief, taten wir, was jedes clevere Unternehmen tun würde - wir investierten kräftig in das neue
Werk. Doch dann gab es wieder einmal eine jener Wirtschaftsflauten, für die Brasilien so berühmt ist, und plötzlich wollte keiner
mehr Geld ausgeben. Unsere Großhändler hatten die Lager voller elektronischer Waagen, und die Verkäufe fielen unter 200 Stück
im Monat, ja, während einiger furchtbarer Monate sogar bis auf 50 und 30 Stück. Kurz darauf legte Fiasco bei einer unserer
Dienstags-Partner-Konferenzen einen Plan vor. »Wir nennen ihn >Das Maultier ohne Kopf< «, erklärte er, während er Kopien
verteilte.
Wir sahen uns alle das Papier an, während Fiasco mit einem sarkastischen Lächeln dasaß, das wir nicht zu deuten wußten.
Zunächst gab es eine Hochrechnung für das kommende Jahr, aus der hervorging, daß die Einheit einen kleinen Gewinn machen
würde. Keine schwache Leistung, angesichts der schwierigen Zeiten, die das Elektronikwaagen-Werk gerade durchmachte. Dann
kam eine Bilanz, die ebenfalls auf eine Gesundung hindeutete. Die Vorausschätzung des Umsatzvolumens allerdings war nicht
optimistisch, und die Investi-

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tionen in neue Produkte und Produktionsmaschinen waren mit Null angesetzt. Wo sollte also dieser Gewinn herkommen, fragten
wir uns?
Die Antwort stand auf dem nächsten Blatt. Es war eine Liste von allen Leuten, die nach dem Umstrukturierungsprogramm
»Maultier ohne Kopf« noch in der Einheit blieben. Darauf fehlten Rogerio, der Einkaufsleiter, der Vertriebsleiter und mehrere
andere wichtige Leute.
»Wie wollen Sie denn die Einheit ohne all diese Leute führen?« erkundigte sich Vendramin, weil er annahm, Fiasco würde sich
aus reiner Selbsterhaltung ganz besonders ins Zeug legen wollen.
»Sehen Sie denn meinen Namen auf dieser Liste, Joao?« gab Fiasco zurück.
Und da wurde uns klar, was er mit der merkwürdigen Überschrift auf seinem Vorschlag meinte. Alles schwieg betreten.
»Was wollen Sie denn machen?« fragte Batoni Fiasco nach einer Weile. »Haben Sie einen anderen Job in Aussicht?«
»Überhaupt nicht«, sagte Fiasco. »Ich stehe dem Unternehmen voll zur Verfügung. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wohin
ich im Augenblick passen würde, aber darüber können wir uns später den Kopf zerbrechen. Unser Markt ist zusammengebrochen,
und ich kann mich doch nicht länger an meinen Job klammern, wenn ich den Eindruck habe, daß die Einheit es sich nicht länger
leisten kann, mich zu halten.«
»Das kann doch auch nur eine Frage der Zeit sein«, meinte Clovis. »Was ist, wenn das Geschäft wieder anläuft? Das haben wir
doch schon erlebt. Sollen wir deshalb die ganzen Investitionen in Sie und Ihre Mitarbeiter umsonst gemacht haben?«
»Nach dem heutigen Stand der Dinge, Clovis, müßte ich das bejahen«, erwiderte Fiasco feierlich. »Wenn es mein Geld wäre,
würde ich nichts mehr in ein Geschäft stecken, dessen Zukunft so fragwürdig ist.«
»Heißt das, daß Sie nicht mehr an das Waagen-Geschäft glauben?« fragte Vendramin. »Glauben Sie, wir sollten den Laden
stillegen?«
»Nein, ich glaube schon an dieses Geschäft und an unser Produkt«, erklärte Fiasco. »Ich glaube bloß nicht daran, daß es
Brasilien so schnell gelingt, aus dieser Wirtschaftskrise wieder herauszukom-

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men. Wenn Sie meine Meinung hören wollen - ich würde die Einheit wieder nach Ipiranga zurückverlegen.«
Alle waren natürlich sofort dagegen. Die Entscheidung, unsere Werke aufzuteilen, gehörte zu unseren größten Erfolgen. Es war
undenkbar, daß wir das wieder rückgängig machten.
Das Werk hatte in seinem kurzen Leben eine Million Dollar erwirtschaftet. Das Problem war nur, daß wir die Hälfte davon
wieder in das Gebäude, die Designberater, die Prototypen und die Spezialmaschinen gesteckt hatten. Als wir über die Zukunft des
Werks diskutierten, legte Fiasco uns dar, daß wir über 500000 Dollar ausgeben müßten, um die Einheit auf ihrem derzeitigen
Niveau in Gang zu halten, bis die Wirtschaft wieder einen Aufschwung nahm. Und Gott allein wußte, wann das sein würde. Wenn
wir aber die Belegschaft reduzierten und das Elektronikwaagen-Werk wieder in Ipiranga integrieren würden, hätten wir zumindest
eine Chance, ohne kräftige zusätzliche Investitionen die mageren Jahre zu überstehen.
Also verlegten wir es zurück - aber nur unter bestimmten Bedingungen. Als erstes sollte die Struktur der Einheit beibehalten
werden, wie sie in Jabaquara gewesen war, allerdings in einem kleineren Maßstab. Eine Fläche von rund 1400 Quadratmetern
wurde in Ipiranga für die neue Fabrik abgezweigt, und das Ganze war total selbständig - die Lagerhaltung, die Entscheidungen, der
Betrieb, ja, es gab sogar eigene Eingänge. Von den 28 Mitarbeitern in Jabaquara sollten 20 mit der Einheit umziehen. Einige von
den anderen Managern würden in andere Semco-Divisionen versetzt werden. Die Personaleinsparungen kosteten uns übrigens
weitere 1,5 Millionen Dollar, da uns die meisten Leute mit einer Abfindung von einem halben Jahresgehalt oder mehr verließen.
Und was geschah mit dem Kopf des Maultiers? Es wäre doch eine Schande, jemanden zu verlieren, der bei Semco eine so
erfolgreiche Karriere gemacht hatte und unsere Kultur so gut verstand. Aber wir hatten keinen passenden Job für Fiasco, und ihn in
Reserve zu halten verstieß gegen unsere Prinzipien. So blieb er noch ein paar Monate bei Semco, war bei der Organisation des
Umzugs behilflich und sorgte für einen reibungslosen Übergang. Und dann, wie das Schicksal so spielte, wurde er
Produktionsdirektor bei Sasib, einem Tochterunternehmen des italienischen Giganten Olivetti, das Gebäckfa-

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briken produzierte, also ein Konkurrent unserer Einheit in Santo Amaro war.
»C’est la vie«, würde der Franzose sagen. Oder vielleicht auch: » Merde. «

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Kapitel 28: Ehrlich währt am längsten

Sie können entweder ein erfolgreiches Unternehmen führen oder sich für die Moral entscheiden. Das liegt ganz bei Ihnen.
Das werden Sie in Lateinamerika immer wieder zu hören bekommen, und zwar mit gutem Grund. Die Korruption wurde zwar
nicht auf diesem Kontinent erfunden, aber in größerem Ausmaße wird sie nur noch in Afrika gepflegt, wo sie offenbar am besten
gedeiht. Unterhalb des Äquators ist sie etwas ganz Alltägliches, demokratisch im weitesten Sinne, denn jeder kann sich daran
beteiligen, wenn er will. Und darum machen es auch viele. Normalerweise dauert es Wochen, bis man einen Paß bekommt, aber es
geht auch an einem Tag, wenn man nur die richtigen Leute schmiert. Baugenehmigungen? Strafmandate wegen zu schnellen
Fahrens? Steuerprüfungen? Kein Problem.
Wie kam es nur, daß ich mich ausnahm wie eine Nonne im Puff? Ich stamme aus reichem Hause, und das macht unheimlich
viel aus. Wer aus einer gutbetuchten Familie kommt, kann sich alle möglichen Idiosynkrasien leisten. Ich habe es mir unter
anderem in den Kopf gesetzt, daß man Geschäfte auch ohne blinden Gehorsam gegenüber etablierten, aber anachronistischen
Regeln und Traditionen machen kann, und dazu zählt für mich auch die Korruption.
Die meisten lateinamerikanischen Unternehmen hätten dem Druck seitens korrupter Regierungen (und das war die
überwiegende Mehrheit in den letzten hundert Jahren) nicht standgehalten, wenn sie sich nicht entschlossen hätten, etwa für die
zum Bau einer Fabrik erforderliche Änderung eines Flächennutzungsplans oder für die Genehmigung zur Eröffnung eines
Filialunternehmens mit »Persilscheinen« und Bargeld zu zahlen. Auch Semco hatte sich früher an der üblichen Praxis beteiligt,
Staatsbeamte bei guter Laune zu halten.

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Aber dann hatte ich meine Geduld verloren und die Überzeugung gewonnen, wir müßten uns von der offiziellen Unterwelt befreien.
Etwa drei Jahre nachdem ich Semco übernommen hatte, bot sich eine Gelegenheit, meine Überzeugungen auf die Probe zu stellen.
Unternehmen in Brasilien müssen ständig irgendwelche Routineinspektionen über sich ergehen lassen, bei denen angeblich
überprüft werden soll, ob bestimmte Baugesetze und andere Vorschriften eingehalten werden. Eine derartige Kontrolle beglückte
auch uns, kurz nachdem wir einen Teil des Werks in Santo Amaro renoviert hatten. Gesetzlich vorgeschrieben war ein überdachter
Gang, der die Fabrik mit den Umkleideräumen der Arbeiter verband, aber den gab es bei uns nicht. Ich weiß eigentlich nicht,
warum. Ein Versehen, vermute ich. Die beiden Inspektoren verhängten ein bescheidenes Bußgeld und gaben uns 90 Tage Zeit, die
erforderliche Einrichtung zu installieren.
Aber wir hatten einfach zu viel zu tun, um uns damit abzugeben. Leider, denn wenn Bestechungen zum Geschäftsgebaren
gehören, dann sehen die Menschen kaum noch ein, warum sie sich an irgendwelche willkürlichen Vorschriften halten sollen, da sie
ja überzeugt sind, alles werde sich am Ende ja doch regeln lassen, so oder so.
Die beiden Inspektoren kamen wieder, und diesmal erklärten sie, sie müßten ein Bußgeld von 200000 Dollar von uns
verlangen, und wenn wir die Baumaßnahme nicht innerhalb von 30 Tagen vollzögen, müßten wir dichtmachen. Pause. Oder sie
könnten uns eine »Beratungstätigkeit« berechnen, für ein »Honorar« von 20000 Dollar. Dann gäbe es kein Bußgeld und keine
Schließung. Ein ganz normales Geschäft.
Clovis und ich diskutierten ausgiebig über diese Angelegenheit. Die Inspektoren zu bestechen kam nicht in Frage. Aber an die
Möglichkeit, daß das Werk geschlossen wurde, wollten wir lieber erst gar nicht denken, zumal wir die erforderlichen baulichen
Veränderungen keinesfalls in 30 Tagen ausführen lassen konnten. Also wollten wir Anzeige erstatten.
Wir kannten das Risiko. Alle möglichen Inspektoren würden uns sofort aufs Korn nehmen. Sie verstanden es meisterhaft, sich
zu rächen.
Wir gingen dennoch zum Rathaus und wurden vom Bürgermeister

---OP 267---

an einen hohen Regierungsbeamten verwiesen, der, wie man uns versicherte, ein ehrlicher Mann sei.
Also suchten wir ihn auf. Wir hatten die Namen der beiden Inspektoren und kannten den Nachnamen des Mannes, der hinter
ihnen stand, ein gewisser Rota. Der Beamte empfing uns wohlwollend und war überaus interessiert an dem Fall. Er warte nur auf
die Gelegenheit, die Stadt von korrupten Beamten zu befreien, erklärte er, und er freue sich, daß wir uns gemeldet hätten. »Ich
möchte, daß der Mann, der mein Antikorruptions-Team leitet, Ihre Geschichte hört«, fuhr er fort und griff nach dem Hörer, um ihn
zu sich zu bestellen.
Clovis und ich wechselten einen Blick.
»Hallo«, sagte der Beamte am Telefon. »Ja. - Können Sie gleich mal in mein Büro kommen? Ich habe hier zwei Herren bei mir,
die mir von einer Bestechungsaffäre erzählt haben.«
Wenige Minuten später betrat ein großer, weißhaariger Mann das Büro. »Ach, da ist er ja«, sagte der Beamte zu uns. »Mr.
Semler und Mr. Bojikian - darf ich Sie mit Mr. Rota bekannt machen...«
Danach wurden wir häufiger von Inspektoren aufgesucht, aber wir waren uns nicht sicher, ob Rota etwas damit zu tun hatte. Die
meisten Inspektoren machten einen ehrlichen Eindruck, und wir bemühten uns nach Kräften, uns an die Vorschriften zu halten.
Wir machten uns auch weiter keine Gedanken, als 1989 eines Tages ein Finanzbeamter im Werk von Santo Amaro aufkreuzte
und mit einer Prüfung begann. Er war um die Sechzig und ziemlich arrogant. Später erfuhren wir, daß er Anwalt und Professor
gewesen war. Normalerweise bleiben Steuerinspektoren etwa eine Woche, und wenn sie ehrlich sind und alles in Ordnung ist,
ziehen sie wieder ab. Dieser Bursche hielt sich eine Woche bei uns auf und fand nichts. Dann blieb er noch eine Woche. Und noch
eine. Nach fünf Monaten war er noch immer im Werk. Fünf Monate! Und in der ganzen Zeit hielten sich unsere Leute genau an
seine Anweisungen und gaben ihm alles, was er wollte.
Schließlich hatte der Inspektor eine Besprechung mit unserem Chefbuchhalter und erklärte ihm, er wäre auf »mehrere
Unregelmäßigkeiten« gestoßen. Wenn er sie anzeigte, fuhr er fort, müßte Semco insgesamt 700000 Dollar Steuern und Bußgelder
zahlen. Unser

---OP 268---

Buchhalter sah sich den Bericht an und fand das Ganze unglaublich. Der Inspektor hatte nichts weiter als ein paar Fehler entdeckt,
die der Verwaltung unterlaufen waren - lauter geringfügige Dinge. Eine Rechnung, die ein anderes Datum aufwies als unsere
Bücher. Lauter solche harmlosen Irrtümer, das war alles.
»Das ist doch absurd«, sagte unser Buchhalter ärgerlich.
Zu seinem Erstaunen gab ihm der Inspektor recht. »Aber wenn ich diese Geldbußen gegen Sie verhänge«, fügte er sachlich
hinzu, »wird Ihr Anwalt Sie ein Vermögen kosten. Sie werden natürlich gewinnen - aber um welchen Preis?«
Jetzt begriffen wir. Für 150000 Dollar würde er uns diesen ganzen Ärger und eine ganze Menge Änderungen ersparen und uns
ein Prüfungsergebnis bescheinigen, das uns für die nächsten drei Jahre andere Inspektoren vom Hals schaffen würde. Sie arbeiteten
alle zusammen, erklärte der Inspektor, und darum bekämen wir garantiert keinen Ärger mehr.
Wir beriefen rasch eine Konferenz mit den Topmanagern ein und beschlossen einstimmig, es noch einmal mit einer Anzeige zu
probieren. Ich rief einen Freund an, der einmal Finanzminister von Brasilien gewesen war, und erzählte ihm die Geschichte. Er
empfahl mich an einen hohen Regierungsbeamten weiter, der uns genau sagen würde, was wir zu tun hätten. Das brasilianische
Recht ist im Hinblick auf verdeckte Ermittlungen heikel - nur die Opfer einer Gaunerei könnten sie auf eigene Faust durchführen.
Die Polizei müßte so lange warten, bis eine Bestechung erfolgt sei, damit sie eine Verhaftung vornehmen könnte.
Also kaufte Clovis das entsprechende Aufnahmegerät. Oswaldo Luiz Guimaraes, ein Ingenieur, würde es installieren. Violi sollte
die letzten Verhandlungen mit dem Inspektor führen und ihm ein Bestechungsgeld anbieten. Unser Plan war es, eine weitere
Besprechung abzuhalten, bei der er dem Inspektor sagen würde, daß wir den Deal akzeptierten, und dabei sollten der Zeitpunkt und
die Modalitäten der Bezahlung festgelegt werden.
Die Besprechung sollte an einem Freitag um 15 Uhr stattfinden. »Heute kann ich darüber lachen, aber damals war ich wirklich
nervös«, erinnerte sich Violi später. »Das Büro, in dem die Besprechung stattfinden sollte, befand sich im Erdgeschoß unserer
Zentrale. Ich

---OP 269---

sollte die Tür natürlich hinter mir schließen, den Griff zweimal herumdrehen - das war das Signal für Clovis und Oswaldo, mit der
Aufnahme zu beginnen.«
Violi muß an diesem Tag ziemlich durcheinander gewesen sein, denn er lief ständig in der Halle hin und her und ballte seine
Hände immer wieder zu Fäusten. Aber als der Inspektor schließlich kam, spielte er seine Rolle perfekt.
»Ich sagte ihm, es wäre gar nicht so einfach, ihm das Geld zu zahlen, da Semco kein >inoffizielles< Bankkonto für diesen Zweck
hätte. Er erklärte mir, wie wir es machen sollten. Ich tat, als würde ich ihn nicht verstehen, damit er das Ganze noch einmal
wiederholte, denn je mehr er sprach, desto besser war es für uns. Ich wies ihn darauf hin, daß es sehr schwer sein würde, soviel Geld
auf einmal zu bekommen. Er meinte, wir könnten es in zehn Raten zahlen.«
Der Inspektor bot Violi sogar einen Nachlaß von zehn Prozent an und sagte, es sei üblich, daß die Person, mit der er ein
Geschäft mache, auch eine Provision bekäme.
»Ich sagte, das würde ich nicht annehmen«, berichtete Violi. »Da wurde er nervös. Er würde auch nur zehn Prozent behalten,
während die anderen 80 Prozent im >System< blieben - das war das Wort, das er für den Begriff Korruption verwendete. Ich mußte
ihm versichern, daß ich noch einmal darüber nachdenken würde.«
Violi vereinbarte mit ihm eine weitere Besprechung am darauffolgenden Montag, selber Ort und selbe Zeit, und versprach, die
erste Zahlung bereitzuhalten. Der Inspektor sagte, er würde einen Bericht schreiben und Semco wegen einer geringfügigen
Übertretung anzeigen, was wir mühelos zurückweisen könnten. »Keine Angst«, versicherte er, »ich zeige Ihnen schon, wie.« Aber
Violi, der bei jedem Detail genau aufpaßte, bestand darauf, daß uns der Inspektor eine weiße Weste bescheinigte. Der Bursche
wurde nervös, aber Violi blieb hart. »Entweder oder«, sagte er.
Die ganze Zeit befanden wir uns nebenan und hörten nur einzelne Fetzen von dieser Unterhaltung - das Mikrophon
funktionierte nämlich nicht richtig, und einmal sprang sogar ein Kompressor in der Fabrik an und überdröhnte alles.
Bis Montag hatten wir das Aufnahmegerät perfekt installiert und dafür gesorgt, daß der Kompressor schwieg. Außerdem
versteckten

---OP 270---

wir eine Videokamera in einer Ecke des Raums hinter ein paar Pflanzen. Gegen 14 Uhr trafen zwei Polizeibeamte und zwei
Kriminalbeamte in einem unauffälligen Wagen ein. Wenig später gesellten sich ein Reporter und ein Fotograf von einer der größten
brasilianischen Zeitungen dazu. Wir hatten sie gebeten, die Verhaftung zu dokumentieren, falls uns die Regierungsbehörden im
Stich ließen.
Die Bestechung sollte um 15 Uhr erfolgen. Es war Hochsommer und unerträglich heiß in dem Gebäude ohne jede Klimaanlage -
besonders in der Toilette, in der sich inzwischen sechs ausgewachsene Männer versteckt hielten.
Wir sahen auf die Uhr: Es wurde 15 Uhr, dann 15.10,15.20,15.30 Uhr. Der Inspektor war doch sonst immer pünktlich gewesen.
War er uns auf die Schliche gekommen? Um seine Nerven zu beruhigen, rief Violi zu Hause an und plauderte mit seiner Frau.
Inzwischen war es 15.40,15.50 Uhr. Die Polizeibeamten reckten und streckten sich, sahen auf die Uhr und überlegten, ob sie nicht
gehen sollten.
Endlich rief der Wachmann an, um zu sagen, daß der Inspektor eingetroffen sei. Jeder begab sich auf seinen Posten. Der
Inspektor bat Violi um Entschuldigung für diese Verspätung. Seiner Frau ginge es nicht gut, erklärte er.
Violi kam gleich auf den Punkt. »Sind Sie sicher, daß Sie das wirklich machen wollen?« fragte er und versuchte, den Inspektor
dazu zu bewegen, den Plan noch einmal mit ihm durchzugehen - für das Aufnahmegerät und, wie wir hofften, für die Zeugen und
schließlich auch für die Gerichte. Der Inspektor blieb dabei und legte die Dokumente mit dem Prüfungsergebnis Violi zur
Unterschrift vor. Währenddessen erzählte er Violi, seine Frau hätte sich am Wochenende bei einem Sturz das Bein gebrochen und
läge nun im Krankenhaus.
Großartig, dachte Violi. Im nächsten Augenblick wird er verhaftet, und sein Leben wird zerstört sein.
Nachdem sie die Papiere ausgetauscht hatten, übergab Violi den Scheck, wobei er verkündete: »Das ist die erste Rate.«
»Ein Scheck? Ich will Bargeld.«
Violi machte ihm klar, daß er keine Möglichkeit habe, so viel Bargeld lockerzumachen. Der Inspektor wollte, daß Violi mit ihm
zur Bank ginge, aber Violi lehnte das ab. Schließlich nahm der Inspektor den Scheck und steckte ihn in eine kleine Brieftasche.

---OP 271---

Es war gelaufen. Violi lud den Inspektor auf eine Tasse Kaffee im dritten Stock ein. Das war das verabredete Signal für die
Polizeibeamten. Violi hatte wohl fast erwartet, daß sie die Tür eindrücken und mit gezogenen Waffen hereinplatzen würden. Statt
dessen ging die Tür langsam auf, und ein einzelner Beamter trat ruhig ein. Als dem Inspektor klarwurde, was hier vorging, wurde er
blaß, dann sah er Violi an und begann ihn zu beschimpfen. Die Polizeibeamten nahmen die Videokassette und das Tonband und
versiegelten sie in einer Plastiktüte für Beweismaterial. Als sie alle zum Parkplatz gingen, wich Violi den Blicken des Inspektors aus.
Dieser bat, mit seinem Sohn sprechen zu dürfen, der in einem Wagen an der Vorderseite des Fabrikgebäudes wartete. Dann fuhren
sie alle zum Polizeirevier.
Violi, den dieser Vorfall doch ziemlich mitgenommen hatte, nahm sich für ein paar Tage frei. In einer Fernsehsendung
versuchte ich, andere Manager dazu zu ermutigen, der Korruption den Garaus zu machen. Der Inspektor wurde am Ende der
Erpressung für schuldig befunden und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Allerdings war das noch lange kein Grund zu jubeln. Die Vorgesetzten des Inspektors nämlich, auf die er sich auf den
Tonbandaufnahmen berufen hatte, wurden nicht einmal ins Verhör genommen. Ich bekam zwar ein paar zustimmende Briefe und
Telegramme, aber als ich vorschlug, man solle ein Zentrum zur Bekämpfung der Korruption einrichten und Unternehmen in
derartigen Fällen juristischen Beistand gewähren, hat mich kein einziger Manager oder Unternehmer dabei öffentlich unterstützt.
Als sich einer unserer Buchhalter kurz darauf bei einer Behörde ein Dokument besorgen wollte, bekam er zu hören: »Sagen Sie
Ihrem Boß, daß er sich nicht bloß wegen eines einzigen Inspektors Gedanken machen muß - inzwischen hat er 100 000 gegen sich.«
Und das schien tatsächlich der Fall zu sein.
Frachtlieferungen, die für Semco-Werke bestimmt waren, wurden eine Ewigkeit an Flughäfen und Docks zurückgehalten.
Semco-Lastwagen wurden an Staatsgrenzen aufgehalten und peinlich genau durchsucht. Es dauerte endlos lange, bis Urkunden,
Bestätigungen und alle möglichen Arten von Formularen ausgestellt wurden. Das war der Preis der Ehrlichkeit.

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Als Sofia und ich anderthalb Jahre später auf Hochzeitsreise waren, tauchten mehrere Inspektoren bei der Baustelle des Hauses auf,
das wir uns bauen ließen, und forderten ein Schmiergeld von 6000 Dollar. Andernfalls, erklärten sie, würden sie die Arbeiten
monatelang stoppen. (Sie hatten keine Ahnung, wer der Bauherr war.)
Der Bauunternehmer, der sich seit langem daran gewöhnt hatte zu zahlen, handelte mit ihnen eine Summe aus. Er wollte sie
noch vor meiner Rückkehr bezahlen, da er wußte, daß ich damit nicht einverstanden wäre, und mir den Betrag dann viele Monate
später in Rechnung stellen, wenn alles gelaufen wäre. Aber wir waren bereits zurück, bevor die Zahlung geleistet wurde. Als wir uns
zum erstenmal die Baustelle ansahen, fragte ich einen Vorarbeiter, ob alles in Ordnung sei, und er bejahte ganz begeistert.
»Besonders seit diese Inspektoren hier nicht mehr herumlungern«, fügte er mit einem vielsagenden Grinsen hinzu.
Ahnungsvoll fragte ich den Bauunternehmer, was passiert sei. Ich rief die Bürgermeisterin an, die für ihre Ehrlichkeit bekannt
war, und erzählte ihr die Geschichte. Sie fragte mich, ob ich eine weitere Verhaftung inszenieren wollte. Also machten wir das ganze
Spiel noch einmal mit. Diesmal war der größte brasilianische Fernsehsender live dabei. Allerdings hielt ich mich im Hintergrund
und gab auch anschließend keine Interviews. Das Büro der Bürgermeisterin kümmerte sich um alles, und die meisten Zuschauer
hatten nicht die geringste Ahnung, daß es sich um mein Haus handelte.
Aber natürlich wußten es die Freunde der Inspektoren. Während der restlichen Bauzeit wurden wir von einem endlosen Strom
von Inspektoren heimgesucht, die mit elektronischen Meßgeräten bewaffnet waren und mit dicken Handbüchern voller
Bauvorschriften, die sie vermutlich seit Jahren nicht mehr gelesen hatten. Ständig waren kleinliche bürokratische Hürden zu
nehmen. Aber das bestärkte uns nur darin, unser Haus trotz aller komplizierten und unvernünftigen Bauvorschriften errichten zu
lassen, die zweifellos nur dazu dienten, der Korruption Vorschub zu leisten. In Brasilien nennen wir das »Schwierigkeiten machen,
um Vereinfachungen zu verkaufen«.
Inzwischen sind wir stolze Besitzer eines Hauses, das eigentlich ein Museum sein sollte, da es vermutlich eines der wenigen
Gebäude in Brasilien ist, das sämtlichen Vorschriften entspricht.

---OP 273---

Kapitel 29: Denken als Job

Neben unserem Werk in Santo Amaro befindet sich ein Friedhof. Unser stiller Partner, wie ihn einige von uns nennen.
»Schau dir diesen Rasen an«, pflegte mein Vater immer zu sagen. »Da liegen lauter Leute darunter, die für ihr Unternehmen
unentbehrlich waren.«
Eines Tages wollte auch er dort begraben sein - und zwar unbedingt mit dem Gesicht zur Fabrik hin, »um ein Auge darauf zu
halten«.
Trotz seiner gespenstischen Wachsamkeit ließen sich drei unserer kreativsten Ingenieure nicht davon abbringen, den
verrücktesten Vorschlag zu machen, den wir bei Semco zweifellos je erlebt hatten: Sie wollten alle Partner auf den Friedhof
einladen, wo sie sich - natürlich ganz in Schwarz - um einen Sarg versammeln sollten, der mit einer Schleife drapiert war, auf der
SEMCO stand. Es sollte das symbolische Begräbnis des Unternehmens sein.
Während sich andere darüber beklagten, daß sich bei Semco alles zu schnell entwickelte, ärgerten sich diese drei Querköpfe -
Oswaldo Guimaraes, Marco Aurelio und Rogerio Otolia (von der dahingeschiedenen und betrauerten Einheit in Jabaquara) - über
unsere ihrer Meinung nach langsame, schwerfällige, verschwenderische, bürokratische Art. Und dies alles zur Ewigen Ruhe zu
betten war ihre Art, uns aufzuwecken. Wir hielten diese Zeremonie zwar nicht ab, aber die Ingenieure - die man bei Semco auch die
Kerntruppe für technische Innovation (kurz K.T.I.) nannte - hatten es wieder einmal auf den Punkt gebracht.
Die drei hatten übrigens ihre Gruppe bei einer Konferenz mit Clovis, Laura, Marcio und mir selbst ins Gespräch gebracht. Ihre
Idee war es, eine kleine Gruppe zu nehmen, die mit der Semco-Kultur

---OP 274---

groß geworden war und die sich mit den Leuten und Produkten bestens auskannte, und diese Leute (natürlich sie selbst)
freizustellen. Fern von allem täglichen Kleinkram müßten sie sich dann keine Gedanken mehr machen über Produktionsprobleme,
Fakturierung, Lagerhaltung, Maschinen, die nicht funktionierten, oder Untergebene, die befördert werden wollten. Vielmehr sollten
sie ihre Zeit für nichts anderes verwenden als fürs Denken.
Sie glaubten, wenn sie derart frei wären, könnten sie neue Produkte erfinden, alte verbessern, Marktstrategien entwickeln,
kostendämpfende Maßnahmen und effizientere Produktionsverfahren austüfteln - ja sie könnten sich in ihren kühnsten Träumen
sogar neue Branchen ausdenken.
Wir waren der Ansicht, daß die drei Ingenieure beste Referenzen für diesen Job hatten. In jedem verbanden sich Kreativität und
Sturheit in einem Maße, daß sie ständig nahezu alles in Frage stellten, was das Unternehmen betraf.
Der bärtige, 30jährige Oswaldo hatte funkelnde Augen, die immer dann aufleuchteten, wenn die »Heureka«-Maschine in
seinem Kopf ansprang, und das war oft der Fall. Er hatte als technischer Zeichner bei der französischen Werkzeugmaschinenfabrik
Brevet angefangen und war zum stellvertretenden Direktor aufgestiegen, ehe wir ihn weglockten und ihn zu unserem Chefingenieur
und dann zum Technischen Direktor machten. Bei unserer großen Umstrukturierung war er Koordinator geworden und nun für ein
Spezialistenteam verantwortlich, das große Maschinen konstruierte, zum Beispiel Mixgeräte für Kaugummi oder Raketentreibstoff.
Wie er zu sagen pflegte, schaltete er sein Unterbewußtes ein, wenn er zu Bett ging, und beim Aufwachen waren die Lösungen dann
parat.
Marco, ein Elektroingenieur, war ein großer, unbeholfener Bursche mit hervorstehenden Augen und zerzaustem Haar -ein
ständig zum Widerspruch geneigter Geist, der Kollegen und Kunden immer wieder vor den Kopf stieß. Er war ein genialer
Techniker, der sich Verkabelungssysteme ausdachte, die niemand außer ihm durchschaute. Eine Reihe von Gebäckmaschinen, die
er für United Biscuits konstruiert hatte, enthielt tatsächlich zehn Kilometer Kabel sowie Hunderte von Kontrollampen und
Tausende von Schaltern. Die Ingenieure von United Biscuit erklärten, das sei »eigentlich eine

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Boeing 747« - sie wären schon mit einer Maschine in der Größenordnung einer 707 zufrieden gewesen.
Nachdem Rogerio - dank des Plans »Das Maultier ohne Kopf« - das Elektronikwaagen-Werk verlassen hatte, wurde er unser
Chefelektronikingenieur. Wie Oswaldo war auch er oft von potentiellen Arbeitgebern umworben worden, hatte aber ihre lukrativen
Angebote verschmäht. Mit der Gründung der K.T.I. konnte seine Loyalität wohl angemessen belohnt werden.
Auch wir fanden alle Gefallen an ihrer Idee, verknüpften damit aber fünf Grundregeln. Erstens sollte die neue Gruppe keinen
Boß haben. Sie sollte überhaupt niemandem unterstellt sein. Zweitens - und das war die Kehrseite von Regel eins - durfte sie keine
Mitarbeiter einstellen. Drittens hatte sie die Freiheit, ihre Arbeitszeit selbst festzulegen, ihre eigenen Stellenbeschreibungen zu
konzipieren, ihre eigene Tätigkeit zu bestimmen und dies alles jederzeit und aus jedem Grund nach Belieben zu ändern. Viertens
sollte sie über ihre Tätigkeit zweimal im Jahr den Partnern Bericht erstatten, und die würden dann darüber entscheiden, ob die
Mitglieder der Gruppe ihre Jobs für weitere sechs Monate behielten. Fünftens sollten sie auch weiterhin ein Gehalt bekommen,
wenn auch ein niedrigeres als das, was sie als leitende Mitarbeiter bekommen hatten. Dafür sollten sie jedoch auch an den Erträgen
ihrer Ideen und Innovationen beteiligt werden - in Form von Gewinnbeteiligungen bei Produkten, die sie überarbeitet,
Honoraranteilen an den Verkaufserlösen neuer Produkte, die sie entwickelt, oder in Form von prozentualen Anteilen an den
Kostenersparnissen, die sie vorgeschlagen hatten. (Wie stark die Kosten reduziert werden konnten, lag ganz bei ihnen.) Und sie
waren frei, ihre Beraterdienste an jeden zu verkaufen, der sie haben wollte.
Die drei hatten jeder zwischen 25 000 und 35 000 Dollar verdient. Als K.T.I.-Mitglieder konnten sie in einem guten Jahr mehr
als das verdienen, indes weniger, als wenn sie freiberuflich tätig wären. Andererseits büßten sie auch bei einer Flaute weniger ein als
Selbständige. Überdies konnten sie auf den Rückhalt eines großen Unternehmens mit einem bekannten Namen zählen. Alles in
allem, schätzten wir, könnte ihr Einkommen zwischen 15000 und 80000 Dollar schwanken.
Sie waren sich darüber im klaren, daß dies ein guter Deal war. Wir

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besiegelten das Ganze per Handschlag, und dann gingen unsere drei frisch emanzipierten Ingenieure nach Hause, um sich
auszuruhen. Am nächsten Tag sollten sie damit beginnen, ihren Lebensunterhalt mit Denken zu verdienen. (Eigentlich nur
Oswaldo, da Rogerio und Marco gerade in Urlaub gingen.)
Das Trio bezog eine kleine Bürosuite in unserer Zentrale in Santo Amaro. Trennwände zwischen einzelnen Arbeitsbereichen wurden
entfernt und Zeichentische aufgestellt. Schon bald begannen Akten aus dem gesamten Unternehmen einzutreffen, die technische
Informationen über unsere Produkte und Verfahren enthielten. Die Ingenieure sammelten Berichte und Dokumente aller Art und
forschten nach Schwachstellen, die sie beseitigen könnten. Schon bald befand sich mitten in ihrer Etage ein großer Stapel von
Einzelteilen - Schrauben, Schrott, eine kaputte Motorwelle, ein Getriebe für eine Teigrührmaschine. Für manche war es nichts
weiter als ein Haufen Schrott, für die K.T.I.-Leute hingegen eine Quelle der Inspiration.
Nachdem es sich sein Nest eingerichtet hatte, begann das Team ein Leben ohne Routine zu führen. Sie kamen frühmorgens,
lasen Zeitung und - dachten. Dann dachten sie noch etwas mehr. Wie Fische in einem isolierten Becken ließen sie sich den ganzen
Tag treiben, losgelöst von der Schwerkraft eines Unternehmens, ungestört von bürokratischen Ablenkungen.
Für Marco war das einfach zuviel des Guten. Er vermißte das Verlegen von Kabeln in seinen Maschinen, das Neuverlegen und
Ausprobieren - ja, auch die Untergebenen, die all diese kleinen Dinge für ihn taten. Und er war viel zu nervös, den ganzen Tag nur
herumzusitzen und zu denken, und darum kehrte er in seine alte Abteilung zurück.
So nahm Laura de Barros, inzwischen Koordinatorin für Ausbildung und Unternehmensentwicklung, seinen Platz ein. Während
Oswaldo und Rogerio sich auf den Industriebereich konzentrierten, sollte sie sich zum Ausgleich um Probleme kümmern, die nichts
mit der Produktion zu tun hatten, also quasi um Semcos »Software«.
Jedenfalls versuchten wir uns das immer einzureden. Aber zunächst mischten sich die drei überall bei Semco ein. »Den Finger
auf die Wunde legen«, nannten sie das. Die Marketingabteilung sei nicht

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aggressiv genug, beklagten sie sich. Und warum denn das Semco-tour-Programm über die Personalabteilung laufen müsse? Wäre es
nicht besser, wenn abwechselnd jede Abteilung den Gastgeber spielen würde? Und sie wollten, daß die Partner ein Programm
einführten, nach dem wir unsere Kunden aufs Geratewohl anrufen und sie fragen sollten, wie zufrieden sie mit unseren Produkten
seien.
»Wir legten uns mit jedem an - vom Direktor bis zum einfachen Arbeiter«, erinnerte sich Oswaldo, wobei er nur mühsam ein
Grinsen unterdrückte. »Es gibt noch immer Leute, die uns nicht mögen.«
Eines Nachmittags saßen Oswaldo, Rogerio und Laura um eine unserer Mischmaschinen herum. Diese mischte Farbe und Pigmente
in einem Tank, mit Hilfe eines Mischarms, der sich langsam im Kreis drehte. Laura, in technischen Dingen absolut unbeleckt,
erkundigte sich, wie denn die Tanks gereinigt würden, wenn andere Farben gemischt werden sollten.
»Der Arm wird herausgehoben, und jemand schrubbt den Tank aus«, erwiderte Oswaldo.
»Dann sollte jemand eine riesige Zahnbürste erfinden, mit der man die Tanks reinigen kann«, meinte Laura.
Und das taten sie dann auch. Das neue Produkt hatte ein bürstenartiges Zusatzteil, das an unserem Mixer befestigt wurde, und
automatisch über die Seiten und den Boden des Tanks fegte.
Schon bald erregte unser neugieriges Denker-Trio auch außerhalb von Semco Aufmerksamkeit, und in Exame, dem großen
brasilianischen Wirtschaftsmagazin, erschien ein Artikel über sie. Danach wurden sie mit Erfindungen förmlich bombardiert -
darunter auch meinem Lieblingsgerät, das wie ein Miniaturregenschirm aussah und sich in der Nase öffnete, wobei es jede
Verstopfung beseitigte.
Sie interessierten sich nicht für den Nasenreiniger, aber als sie ihren ersten Sechsmonatsbericht ablieferten, hatten sie
immerhin 18 neue Projekte laufen. Danach wurden sie sogar noch produktiver. In nur wenigen Jahren entwickelte das K.T.I.-Team
so verschiedene Dinge wie eine Waage, die Güterzüge wiegen kann, während sie mit Höchstgeschwindigkeit dahindonnern, ein
faseroptisches Röhrchen, mit dem Ärzte die Kehle ihrer Patienten untersuchen können, sowie elektronische Steuerungssysteme für
kleine Fließbänder.

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Das Team gründete auch eine Öko-Beratungsfirma, die ihre Klienten über das Recycling von Abfällen berät und Prüfungen
durchführt, um die ökologischen Altlasten von Unternehmen zu ermitteln, die für eine Übernahme anstehen. Daraus wurde
schließlich eine unabhängige Unternehmenseinheit, Semco Environmental Resources, der - neben 25 festangestellten Mitarbeitern
- weitere 40 Biologen, Geologen, Wasserbautechniker und Wirtschaftswissenschaftler auf Abruf zur Verfügung stehen.
Die K.T.I. hat auch innerhalb von Semco einiges verändert: die Ausfallzeiten von Maschinen reduziert, Herstellungsprozesse
rationalisiert und Montagezeiten verkürzt. Sie hat auch unsere Farbmischmaschine völlig umgestaltet und ihr ein neues
Stahlgehäuse sowie eine neues Transmissionssystem für den Motor verpaßt, so daß wir den Verkaufspreis um 32 Prozent senken
konnten und damit in einen Exportmarkt hineinkamen, der uns zuvor wegen der hohen Herstellungskosten verschlossen war. Und
das Team hat unsere Teigrührmaschine wieder aufgemöbelt, für deren Montage wir bislang 10 Stunden und 14 Arbeitsschritte
benötigten, während jetzt nur noch drei Schritte erforderlich sind, für die wir weniger als eine Stunde brauchen. Das Getriebe, das
früher handgearbeitet war, ist heute ein modifiziertes serienmäßiges Autogetriebe - eine weitere kostensparende Idee der K.T.I.
Wir haben sogar eine Junior-Version der K.T.I. gegründet. Wir nennen sie »Verloren im Weltall«. Jedes Jahr (vorausgesetzt, es
ist ein gutes Jahr) wählen wir mindestens einen jungen Menschen unter unseren Bewerbern von Wirtschaftsakademien oder
Technischen Hochschulen, ja selbst von High Schools aus. Diese überaus glücklichen Seelen kennen keine Stellenbeschreibung,
keinen Boß, keine vorgegebenen Zuständigkeiten. Sie dürfen sich ein Jahr lang frei im Unternehmen bewegen, solange sie in
mindestens 12 Abteilungen arbeiten und versuchen, genügend Umsatz zu machen, um ihr Gehalt einzuspielen. (Selbst ein
Auszubildender kann eine Finanzanalyse erstellen, Marketingdaten sammeln, in der Produktion arbeiten oder verkaufen.) Am Ende
dieses Jahres ist es ihnen freigestellt, mit jeder der Abteilungen, in denen sie gearbeitet haben, ein dauerhafteres Arbeitsverhältnis
auszuhandeln.
Mit Hilfe von »Verloren im Weltall« haben wir einige außerge-

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wohnlich gute Leute entdeckt, unter anderem auch einen jungen Mann, der uns nach zwei Jahren verließ und mit 25
Planungsmanager bei Shell Brasilien wurde. Später bekam er einen Job in Paris: Er wurde europäischer Verkaufsleiter für Brown’s,
eine Textilkette, der 4000 Bekleidungsgeschäfte gehören.
Wir lassen die Multis ihn noch ein bißchen mehr ausbilden, und dann holen wir ihn wieder aus dem Weltall zurück.

---OP 280---

Kapitel 30: Gleitzeit

Reglementierung ist die Seele der modernen Fabrik, und standardisierte Schichten sind die Seele der Reglementierung. Was also
hatte jener Arbeiter vor, der morgens um 4.30 Uhr in der dunklen, verlassenen Fabrik in Ipiranga aufkreuzte?
Angesichts des chaotischen Verkehrs, der langen Pendelstrecken und der normalerweise unzureichenden öffentlichen
Verkehrsmittel, mit denen sich viele Arbeiter herumschlagen müssen, ist es doch total unvernünftig zu erwarten, daß sie ihre
Anfahrt zeitlich so einrichten, daß sie jeden Tag genau zur selben Zeit in der Fabrik eintreffen. Doch jedes Unternehmen tut das,
sogar in einer so riesigen Stadt wie Sao Paulo mit ihren 15 Millionen Einwohnern, von denen die meisten gleichzeitig unterwegs zu
sein scheinen.
Wir hatten es schon vor langer Zeit unseren Büroangestellten überlassen, wann sie ihren Arbeitstag beginnen und beenden
wollten, womit wir eines von vielleicht einem halben Dutzend Unternehmen in Brasilien waren, die diese Freizügigkeit gewährten.
1988 versuchten wir, sie auch auf unsere Fabrikarbeiter auszudehnen. Wenn sie mit ihren Kindern frühstücken oder sie zur Schule
bringen wollten - warum sollten wir sie eigentlich daran hindern? Darüber hinaus konnten wir mit flexiblen Arbeitszeiten
demonstrieren, daß wir unsere Arbeiter für ihre Leistungen und nicht bloß für ihre Zeit bezahlten - und es interessierte uns nicht,
wie sie diese Leistungen erzielten. Wir hatten die Idee, uns auf unser gemeinsames Ziel zu einigen und dann unsere Mitarbeiter
darauf anzusetzen, es zu erreichen.
Wozu soll es denn eigentlich gut sein, daß Arbeiter pünktlich um acht Uhr morgens kommen und Schlag fünf Uhr nachmittags
wieder verschwinden, dazwischen aber ineffektiv sind? Mit Hilfe flexibler Arbeitszeiten, so dachten wir, müßte es doch möglich
sein, übers

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Jahr die Leistung zu erzielen, die uns vorschwebte, ohne stumpfsinnig darüber Buch zu führen, um welche Zeit die Leute jeden Tag
aufkreuzten.
Eine derartige Freizügigkeit war - und ist - in der Industrie einmalig. Zumindest war uns kein anderes Unternehmen bekannt,
weder in Brasilien noch sonstwo, das in der Fabrik die Gleitzeit eingeführt hatte. Als Paulo Pereira diese Idee vortrug, waren
praktisch alle bei Semco dagegen, auch gegen viele Vorzüge dieser Regelung. Wir waren so schnell gewachsen, daß mindestens 40
Prozent unserer Belegschaft noch nicht einmal ein Jahr bei Semco war, und nach den Erfahrungen, die diese Arbeiter anderswo
gemacht hatten, waren sie überzeugt, daß alles, was ein Unternehmen vorschlug, zunächst verdächtig war, sogar eine flexible
Arbeitszeit. Ja, ihre Gewerkschaftsführer, die sich so gern in ihren Reden darin ergehen, daß Arbeitgeber ihre Arbeiter würdig und
respektvoll behandeln sollten, waren eifersüchtig und verunsichert. Wenn eine Semco-Initiative im Gegensatz zur üblichen Praxis
stand, dann würden sie erst mal keinen Finger rühren, bis sie sicher waren, alles, was damit zusammenhing, durchschaut zu haben.
Also gab es gegen die Gleitzeit zwei Streiks, und zwar noch bevor wir mit der mißtrauischen Reaktion unserer Manager rechnen
konnten. Gewiß, viele unserer Produkte wurden von Arbeiterteams in selbstorganisierten Produktionszellen zusammengebaut, und
die Arbeiter trafen inzwischen viele Entscheidungen, die früher den Bossen Vorbehalten waren. Trotzdem mußten diese Arbeiter in
vielen Fällen mehr oder weniger zur selben Zeit erscheinen. Andernfalls würden Produktionsabläufe durcheinandergeraten, und so
mancher würde untätig herumhängen und auf Kollegen warten, die für die vorangehenden Arbeitsschritte zuständig waren.
Drei Monate lang führte Paulo eine Machbarkeitsstudie über Gleitzeit durch und hoffte zu beweisen, daß bei Gleitzeit weniger
geschwänzt und die Leistung steigen würde. Eine seiner besten Quellen war unser »Abschiedsgespräch«, bei dem jeder, der
Feierschichten einlegen mußte, entlassen wurde oder von sich aus ging, die Chance hatte, uns noch einmal seine Meinung zu sagen.
»Ich wohne einfach zu weit weg von meinem Arbeitsplatz, und mein Pendelzug

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braucht zu lange«, erklärten uns viele. Oder: »Ich habe seit einer Ewigkeit nicht mehr mit meinen Kindern gefrühstückt.« Oder:
»Ich hatte ständig Ärger mit meinem Boß, weil ich zu spät kam.« Aus alldem schloß Paulo, daß die Anfangszeiten eine
Hauptursache waren für Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen Bossen und Untergebenen. Er war überzeugt, daß sich
in den Arbeitern der Ärger über starre Arbeitszeitpläne anstaute, bis sie zu den unglücklichsten Zeiten explodierten.
Paulo rief unsere Topmanager zusammen und erklärte ihnen, daß es mit Hilfe flexibler Arbeitszeiten möglich sei, Fehlzeiten fast
auf Null zu reduzieren und außerdem Überstunden großenteils einzuschränken. »Es gibt nur ganz wenige Tätigkeiten, die so
hochgradig voneinander abhängig sind, daß es nicht möglich wäre, zwischen einem Produktionsschritt und dem nächsten eine
Pause von 15 oder gar 30 Minuten einzulegen«, führte er aus. »In solchen Fällen würden wir auch keine flexible Arbeitszeit
einführen. Im übrigen werden Ihnen die Ergebnisse gefallen. Konflikte mit Vorgesetzten wird es nicht mehr so häufig geben, die
Stechuhr wird nicht mehr als Ungeheuer angesehen werden, die Arbeiter werden sich mehr respektiert fühlen - und sie werden
mehr produzieren.«
Aber das konnte sie alles nicht überzeugen. Auf ihre Einwände erklärte Paulo ihnen, wir würden eine Spezialeinheit bilden, die
vermitteln solle, wenn sich die Arbeiter auf bestimmte Anfangszeiten nicht einigen könnten (diese Kommission wartet immer noch
auf ihren ersten Auftrag). Auch das konnte die Manager noch nicht überzeugen, aber auf Paulos Drängen hin waren sie immerhin
damit einverstanden - das Ganze sollte allerdings nichts weiter als ein Experiment sein.
Das Schiffsausrüstungswerk an der Nacoes Unidas war Paulos Experimentierfeld. Wir hatten es zwar erst 1988 eröffnet, aber
einige unserer ältesten Arbeiter, die uns am besten kannten, waren dorthin versetzt worden. Wir riefen die Mitglieder der
Werkskomitees und die Gewerkschaftsführer zusammen, die natürlich ihre Anwälte mitbrachten, da unser Plan erhebliche
Veränderungen in unserem Tarifvertrag erfordern würde.
Dieser Plan sah vor, daß jeder nach wie vor acht Stunden pro Tag arbeiten würde, aber zu jeder Zeit zwischen sieben und neun
Uhr

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morgens ins Werk kommen und es zu einer entsprechenden Zeit am Nachmittag wieder verlassen könnte.
Wenn unsere Arbeiter jetzt in der Fabrik einträfen, würden die meisten in den Umkleideraum gehen, ihre Arbeitskleidung
anziehen, dann in die Kantine gehen, Kaffee und Brötchen zu sich nehmen und vielleicht Zeitung lesen und erst dann ihre Schicht
beginnen. Allerdings sollten sie die Stechuhr erst betätigen, wenn sie tatsächlich zu arbeiten begannen. Das wollten wir nicht
ändern. Aber die Gewerkschaftsführer hatten eine ganz andere Vorstellung von Gleitzeit: »Niemand läßt doch seine Leute einfach
kommen, wann sie wollen. Wir sind zwar noch nicht dahintergekommen, aber irgendwo muß da doch ein Haken sein.« Und da sie
ihn nicht fanden, ergriffen sie gleich die Gelegenheit und forderten, daß die Arbeiter die Stechuhr betätigen sollten, sobald sie das
Werk betraten.
Wir waren der Ansicht, daß Arbeitstunden eben Arbeitsstunden sind, und lehnten die patriarchalische Vorstellung ab, »sobald
ihr durch unsere Tore eintretet, seid ihr unter unseren Fittichen«. Wir freuen uns, wenn sich unsere Arbeiter bei Semco wie zu
Hause fühlen, und haben nichts dagegen, daß sie Karten spielen, herumsitzen, Zeitung lesen und so weiter. Aber wir hatten und
haben nicht vor, von unserer Politik abzurücken, daß die Stechuhr erst betätigt wird, wenn die Arbeiter bei ihren Maschinen
eintreffen.
Auch nach vielen Besprechungen hatte keine Seite nachgegeben. Also tat die Gewerkschaft alles, um die Arbeiter davon zu
überzeugen, daß die Gleitzeit unter diesen Umständen eine schlechte Idee wäre. Sie fuhren mit einem Lastwagen vor und stimmten
über einen Lautsprecher das wohlbekannte Lied an: »Paßt auf, Kollegen. Bosse tun Arbeitern nichts Gutes.«
Aber sie konnten sich nicht durchsetzen, vielleicht weil unsere Mitarbeiter uns so gut kannten. Während einer
Großversammlung in der Kantine stimmten die Arbeiter dafür, daß das Werk es mal mit der Gleitzeit versuchen sollte.
Die meisten kamen nun zwischen 6.30 und 7.30 Uhr, was völlig in Ordnung war, da es in diesem Werk kein Fließband gab.
Nun war die Fabrik in Ipiranga an der Reihe. Die Gewerkschaft zögerte nicht, auch dort ihre Attacke zu reiten, und verbreitete
unter den Arbeitern, daß sie nach dem Arbeitsrecht ein Recht darauf hät-

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ten, jeden Tag fünf Minuten oder 30 Minuten pro Woche zu spät zu kommen. Sie warf der Geschäftsleitung vor, sie wolle versuchen,
diese »Gnadenfrist« abzuschaffen. Wir hielten dagegen, daß Lohnzahlungen nach demselben Recht gekürzt oder sogar ausgesetzt
werden konnten, wenn jemand mehr als fünf Minuten zu spät käme, und daß wir nicht nur Freizügigkeit anbieten, sondern unsere
Arbeiter ebenfalls von dieser lächerlichen Vorschrift entbinden wollten.
Als wir schließlich die Attacke der Gewerkschaft abgewehrt hatten, sahen wir uns plötzlich mit dem Widerstand der Manager
konfrontiert, die das Programm am liebsten gekippt hätten, noch bevor es in Gang gesetzt war, weil sie glaubten, daß Arbeiter nicht
zur Selbstkontrolle fähig seien. Gewiß sei dieses Werk ein Aushängeschild gewesen, mit seinen abteilungsübergreifenden Teams
und Arbeitern, die alle möglichen Entscheidungen trafen. Aber wir sollten doch nicht vergessen, daß es erhebliche Störungen
gegeben habe, als das Werk in drei Einheiten geteilt worden sei, und daß die Arbeiter es hier mit einer Reihe neuer Bosse zu tun
hätten. Und natürlich hätte auch der Streik noch seine Spuren hinterlassen.
Aber dann rettete uns das Werkskomitee, unter der Führung von Soares. Zuerst überzeugte es die Arbeiter davon, daß sie es auf
einen Versuch ankommen lassen sollten. Dann postierte es eine Gruppe von Arbeitern neben der Stechuhr, damit Kollegen nicht die
neuen Regeln verletzten. Nach Ablauf des ersten Monats wurden die Übeltäter öffentlich bekanntgegeben und verwarnt: Wenn sie
sich künftig nicht an das Programm hielten, dann brauchten sie sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, zu welcher Zeit sie
kommen würden, da sie dann keinen Job mehr hätten.
Es passierte auch in Ipiranga, daß Saulo Henri Fiorini, ein Schweißer, beschloß, um 4.30 Uhr morgens zu kommen. Aber ein
einzelner Arbeiter könnte sich im Dunkeln verletzen, und darum baten wir ihn, sich einen anderen Arbeitsbeginn auszusuchen, und
er gab nach. Am Ende beschloß fast die Hälfte der Fabrikarbeiter, zur selben Zeit - 6.30 Uhr - zu kommen, so daß die Montage der
Geschirrspüler nicht ins Stocken geriet. Viele kamen mit demselben Pendelzug, und dieser Zug war um die Zeit fast leer.
Ein größeres Problem bereitete das Programm in der Maschinenfabrik von Santo Amaro. Aufsässige und verantwortungslose
Gewerk-

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Schaftsführer überredeten die Arbeiter, den Plan abzuschmettern, und warfen uns vor, wir wollten versuchen, die wöchentliche
Gnadenfrist von 30 Minuten für Zuspätkommende abzuschaffen. Aber ein Jahr später waren die Mitglieder des Werkskomitees so
beeindruckt vom Erfolg der Gleitzeit in den anderen Werken, daß sie die gesamte Belegschaft zusammenriefen und sie aufforderten,
die Idee noch einmal zu überdenken. Die Gleitzeit wurde nach einem Abstimmungsverhältnis von neun zu eins eingeführt.
Leider lief es in unserem Klimaanlagen-Werk ganz anders. Die Stadt Diadema, bei der es liegt, weist eine große Konzentration
von Metallarbeitern auf, eine streitsüchtige Bande, die von einer erklärtermaßen marxistischen Gewerkschaft vertreten wird, welche
Verbindungen zur Arbeiterpartei hat, einer politischen Organisation, zu der auch viele ultralinke und militante Gruppen wie die
gefürchtete MR-8 gehören, die schon Bomben gelegt und Botschafter entführt hat.
Die Arbeiter in diesem Werk wie die Mitglieder des Werkskomitees waren viel radikaler und weniger vertrauensvoll als andere
Arbeiter bei Semco. Viele Jahre später schwenkten sie schließlich auch auf unsere Linie ein, und ihr Führer Vicentinho Da Silva
erklärte im Fernsehen, daß es »in Brasilien nur einen vertrauenswürdigen Boß gibt - Ricardo Semler von Semco«.
Aber damals waren sie nicht gewillt, es mit der Gleitzeit zu versuchen. Erst 1991 haben sie sie schließlich akzeptiert.
TEIL FÜNF

Auf der High School war ich vom Hochsprung fasziniert. Die Latte war für mich so etwas wie ein Maßstab für mich
selbst. Anfangs waren 1,50 Meter eine gewaltige Hürde. Als der Sportlehrer bemerkte, wie sehr ich mich für den
Hochsprung interessierte, beschloß er, mir die Flop-Technik beizubringen. Nachdem ich fast ein fahr lang trainiert
hatte, schaffte ich 1,72 Meter. Jeder Zentimeter wurde für mich zu einer fixen Idee. Zwischen der Latte und mir gab es
lange, einsame Kämpfe. Manchmal, wenn ich mit dem Schulbus nach Hause fuhr, war ich ganz stumm vor lauter
Frustration. 1,80 Meter zu schaffen - das war das wichtigste Ziel meines Lebens. Immer, wenn ich die Latte kaum
gestreift hatte, lag ich atemlos auf der Matte und linste nach oben, um zu sehen, ob sie doch noch auf mich herunterfiel -
was sie immer wieder tat. Doch nach einem Sprung blieb sie liegen. Ein albernes Grinsen breitete sich auf meinem
Gesicht aus und verschwand tagelang nicht daraus.
Vor ein paar Jahren kämpfte ich mit mir, ob ich die Gelegenheit wahrnehmen sollte, ein Unternehmen mit fünf
Fabriken und 2000 Mitarbeitern zu kaufen. »Warum wollen wir eigentlich immer größer werden?« fragte ich mich.
»Sind wir denn dann besser dran?« Ich mußte an ein Gefühl aus vergangenen Tagen denken. »Warum messe ich mich
dauernd mit der Latte? Gibt es denn keine Grenze?«
Alles eine Frage der Beharrlichkeit, nicht wahr? Aber wo hört Beharrlichkeit auf und wird zur fixen Idee? Wie hoch
ist zu hoch? Wie groß ist zu groß? Natürlich ist ein gewisses Wachstum unerläßlich für jedes Unternehmen, damit es
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mit der Konkurrenz Schritt halten und seinen Leuten neue Möglichkeiten bieten kann. Aber oft ist es nichts weiter als
Macht und Habgier und simple Sturheit, daß einem »größer« automatisch auch als »besser« vorkommt.
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Kapitel 31: Zusammenbruch

In den ersten elf Jahren, in denen ich Semco geleitet habe, hat Brasilien zwei gute, drei wechselhafte und sechs schreckliche Jahre
erlebt. Die Inflation, diese Geißel Lateinamerikas, lag im Durchschnitt bei 400 Prozent im Jahr und schwankte zwischen einem
jährlichen Höchststand von 1600 Prozent und einem Tiefstand von gerade 100 Prozent (wobei es dazwischen auch ein paar Monate
Deflation gab). Von 1986 bis 1990 mußte die Wirtschaft des Landes fünf Schocktherapien durchstehen, die Währung wurde zweimal
um drei Stellen abgewertet und zweimal völlig geändert. Die Börse erlebte während der schlimmsten Rezession des Landes einen
Höhenflug und brach bei einem Boom völlig zusammen; die Banken verdienten Milliarden, als die Inflation zunahm, und als sie
zurückging, entließen sie 150000 Angestellte.
Angesichts dieser fast unvorstellbar komplexen und schwierigen Wirtschaftslage waren 150 Millionen Menschen beinahe
ständig verunsichert und wußten nicht, was sie tun sollten. Eine zehnprozentige Lohnerhöhung konnte in einem Monat ganz
verlockend aussehen, sich dann aber wieder als unzureichend erweisen, wenn aus den offiziellen Statistiken später hervorging, daß
die Inflationsrate 15 Prozent betragen hatte. Es kam zu starken Spannungen zwischen Produzenten und Kunden, da jeder die
Zahlungsbedingungen zu seinen Gunsten ändern wollte. In allen Bereichen herrschte eine scharfe Konkurrenz, aber wir bei Semco
überstanden die gefährlichen Schwankungen mit Hilfe unserer Arbeiter. Wir erlebten Jahre, in denen der Umsatz real um 80 und
sogar 120 Prozent zunahm, aber auch Jahre, in denen er um 20 Prozent und im darauffolgenden Jahr sogar um 35 Prozent
zurückging.
Als die achtziger Jahre - »das verlorene Jahrzehnt«, wie die Fach-

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leute sie nannten - zu Ende gingen, stürzte die Wirtschaft steil ab. Die Industrieproduktion sackte 1990 um 9 Prozent ab, und das
Bruttosozialprodukt sank auf ein Niveau, wie man es seit den siebziger Jahren nicht mehr erlebt hatte. In Sao Paulo waren eine
halbe Million Menschen arbeitslos, und 1992 hatte sich diese Zahl fast verdreifacht.
Und gerade als wir glaubten, es könne nicht mehr schlimmer werden, wurde es noch schlimmer. Ein neuer Präsident, Fernando
Collor de Mello, trat sein Amt an und ernannte die junge Wirtschaftswissenschaftlerin Zélia Cardoso de Mello (keine Verwandte des
Präsidenten) zur Finanzministerin. Sie machte sich sofort daran, einige neue Theorien in der Praxis zu testen, unter anderem eine,
derzufolge zuviel Geld in Umlauf war, das zu wenigen Menschen gehörte, die damit zuviel spekulierten. Deswegen - so ihre Theorie -
wurde nicht genügend Geld in die Industrie investiert. Dadurch kam es zu Inflation und Stagnation.
Also, dachte sie, sollten wir etwas von diesem Geld nehmen und es dem Staat geben (der nicht genug hat, klar?). An einem
sonnigen Frühlingstag im Jahre 1990 rief sie in einer Fernsehansprache einen Bankfeiertag aus und beschlagnahmte 80 Prozent des
Bargelds im Lande. Der Staat zog Sparkonten, Girokonten, Depoteinlagen, Firmenkapital und ähnliches ein. Jedem Brasilianer,
ganz gleich, wie vermögend er war, blieben nur noch 800 Dollar oder 20 Prozent seines Vermögens, je nachdem, was weniger war.
Wenn jemand beispielsweise 1000 Dollar auf einem Girokonto hatte, konnte er jetzt nur noch über 200 Dollar verfügen. Die Dame
erklärte, sie würde das Geld wieder zurückgeben, zuzüglich der Inflationsrate, die nach einem offiziellen Index ermittelt wurde, und
zwar in 12 Monatsraten, beginnend in eineinhalb Jahren.
Chaos ist nicht das richtige Wort für das, was nun geschah. Die Industrieproduktion sank um weitere 14 Prozent in den
darauffolgenden 12 Monaten. Die Unternehmen hatten nicht genügend Geld, um ihre Löhne und Gehälter zu zahlen, geschweige
denn, um die Geschäfte ordnungsgemäß abzuwickeln. Bei Semco schlugen wir uns mehrere Monate lang mit Null Umsatz durch -
welche Firma kaufte schon Maschinen, die erst in zehn Monaten ausgeliefert würden, wenn man nicht einmal wußte, ob man
nächste Woche noch exi-

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stierte -, und dann beschloß die Regierung, das Land für den Import zu öffnen. Der Einfuhrzoll für ausländische Maschinen, der
bislang 45 Prozent betragen hatte, wurde erst auf 35, dann auf 30 und Ende 1992 auf 20 Prozent gesenkt. Also hatten wir es nicht
nur mit einem Markt zu tun, der fast die Hälfte seines Volumens eingebüßt hatte, sondern mußten auch noch gegen eine wachsende
ausländische Konkurrenz antreten.
Als uns das Wasser bis zum Hals stand, diskutierten wir mit unseren Werkskomitees darüber, wie wir Semco über Wasser
halten konnten. Den meisten von uns war völlig klar, daß wir nicht mehr die gleiche Anzahl von Menschen beschäftigen konnten
wie bisher. Nicht, wenn die Umsätze so gering waren. Die Frage war nur, wie wir alle gemeinsam diesen schmerzhaften Einschnitt
am besten verkraften könnten.
Nichts wirkt sich auf Motivation und Produktivität so verheerend aus wie Entlassungen, und in den vergangenen Jahren hatten wir
uns mit allen Kräften bemüht, die Auswirkungen der aberwitzigen Sprunghaftigkeit der brasilianischen Wirtschaft von unseren
Arbeitern fernzuhalten. Als erstes nahmen wir davon Abstand, Leute einzustellen, die an Produkten arbeiteten, welche nach aller
Erfahrung nicht lange Bestand haben würden. Eine Fabrik für Hoola-Hoop-Reifen zu eröffnen, ohne zu wissen, was man mit all den
Hoola-Hoop-Reifen produzierenden Arbeitern machen soll, wenn diese Welle unvermeidlicherweise ausläuft, kann einen kurzfristig
gesehen reich machen, aber es ist eine Strategie für Abenteurer - und Abenteurer haben keine Zukunft, sondern nur eine
Gegenwart.
Außerdem versprachen wir niemandem je einen sicheren Arbeitsplatz. Tatsächlich vermieden wir es, wenn irgend möglich, gute
Manager einzustellen, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben wollten. Es gibt nun einmal keine absolute Sicherheit, und eine von
beiden Seiten wird immer darunter zu leiden haben. Man denke nur an den Schaden, den die goldenen Fallschirme für
ausscheidende Manager der Unternehmensmoral zugefügt haben, von den Bilanzen ganz zu schweigen.
Fast jeder hört auf, Leute einzustellen, wenn das Geschäft nicht gutgeht, und fast jeder legt erneut los, wenn es wieder läuft. Das
ist

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ein weiterer Fehler. Die Umsätze beginnen wieder zu steigen, und schon strömen Sekretärinnen, Bürohilfskräfte, Chauffeure,
Systemanalytiker, Empfangsdamen und ein Heer anderer Angestellter durch die Fabriktore. Sobald die Umsätze wieder
zurückgehen, werden sie alle »neu bewertet«, wobei die Glücklichen, die das unvermeidliche Fegefeuer überstehen, eher entmutigt
daraus hervorgehen. Selbst als die Regierung die Wirtschaft anregte und es wieder Aufträge in Hülle und Fülle gab, behielt Semco
seine Einstellungspolitik eisern im Griff, nicht anders als in mageren Zeiten. Möglicherweise verloren wir daraufhin Marktanteile,
aber als die Nachfrage auf das ursprüngliche Niveau zurückging, mußten wir die neuen Leute nicht massenweise entlassen. Jede
streunende Katze kann schlank bleiben, wenn sie nichts zu fressen hat; aber die Kunst besteht darin, auch in guten Zeiten schlank
zu bleiben.
Dennoch mußte Semco von 1989 bis 1991 einen Umsatzrückgang um 40 Prozent hinnehmen. Wir hatten uns bislang auf unsere
Arbeitsplatzinitiativen verlassen können, so daß wir gegen wirtschaftliche Turbulenzen zumindest teilweise immun waren, aber
wenn das Geschäft fast um die Hälfte zurückgeht, bleiben einem nicht mehr allzu viele Möglichkeiten. Einige unserer Werke wußten
nicht mehr ein noch aus.
In den späten achtziger Jahren hatte unser Schiffsausrüstungswerk in Santo Amaro einen gewaltigen Auftragsbestand von 14
Millionen Dollar. Da es jährlich nur Produkte im Wert von fünf Millionen Dollar produzierte, waren ihm drei Jahre Arbeit so gut
wie sicher. Also beschlossen wir, über 500000 Dollar in das Fabrikgebäude, an dessen innovativer Gestaltung die Arbeiter
mitgewirkt hatten, sowie in eine neue Pumpentestanlage zu investieren, was eine Menge Geld kostete. Allerdings schien sich diese
Investition zu lohnen, da sich die Produktivität zu unvorstellbaren Höhen aufschwang.
Dann richtete der Hurrikan Zélia verheerende Schäden an, und die Schiffsbauindustrie bekam diesen Schlag voll zu spüren. Die
Werft Emaq, die uns 1981 mit dem Auftrag für Petrobras gerettet hatte, machte Konkurs. Dann mußte auch Verolme, eine Werft, die
bei uns Pumpen für fünf Schiffe bestellt hatte, dichtmachen. Es verblieben nur noch drei Werfen, und auch die blieben monatelang
mit der Be-

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Zahlung unserer Rechnungen im Rückstand. Semco hatte Außenstände über 1,5 Millionen Dollar, die nicht mehr einzutreiben
waren - schlimmer noch: Produkte im Wert von vier Millionen Dollar standen zur Auslieferungen an, die die Werften nicht mehr
bezahlen konnten. Wir benötigten fast 2000 Quadratmeter, um all die unerwünschten Pumpen, halbfertigen Gehäuse und 300-PS-
Motoren lagern zu können. Sie stapelten sich bis zu fünf Meter hoch in den Regalen.
Wir riefen die Arbeiter zusammen und besprachen mit ihnen, was wir alle tun könnten. Ein Vorschlag zur Vermeidung von
Entlassungen sah generelle Lohn- und Gehaltskürzungen von 20 Prozent vor, bis sich das Geschäft wiederbelebte. Aber viele
Arbeiter, die ohnehin schon verschuldet waren, meinten, sich auch nur die geringste Lohnkürzung nicht leisten zu können. Sie
äußerten auch die Ansicht, das wäre nichts anderes, als wolle man sich »mit einem Sieb vor der Sonne schützen«. Diese Mitarbeiter
bestanden darauf, daß wir unsere Verluste hinnahmen und einen Teil der Belegschaft sofort entließen, und sie bekamen genug
Stimmen, um unseren Vorschlag abzuschmettern.
Wir versuchten auf jede nur denkbare Weise die Kosten herunterzufahren: Es gab nur noch eine Kaffeepause am Tag, Kopierer
wurden abgeschlossen, der Stromverbrauch wurde kontrolliert, der Einkauf neuer Arbeitskleidung wurde gestoppt, und sämtliche
Kosten wurden von vielen Adleraugen unter die Lupe genommen. Aber ich hatte nicht allzuviel Hoffnung. Ich bin kein großer
Verfechter von Kostendämpfungsmaßnahmen. Es ist mir lieber, wenn wir auch in guten Zeiten nicht unnötig Geld ausgeben. Und
wie kann man feststellen, wie viele Aufträge einem durch die Lappen gehen, weil den Vertretern das Benzingeld gekürzt wurde; oder
wie hoch der Cashflow gewesen wäre, wenn die Buchhalter bei der Anmahnung von Rechnungen mehr hätten telefonieren dürfen;
oder wie viele kleine Fehler und falsche Kalkulationen hätten vermieden werden können, wenn man den Ingenieuren nicht
untersagt hätte, zu viele Fotokopien von Blaupausen zu machen? Wenn diese alberne Erbsenzählerei dann vorbei ist, läuft alles
wieder seinen gewohnten Gang - bis erneut jemand meint, daß die Kosten aus dem Ruder gelaufen seien, und Einsparungen
vornehmen will, wobei er ausgerechnet mit jenen

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Ausgaben beginnt, die erforderlich waren, um die vorhergegangenen kurzsichtigen Kostendämpfungsmaßnahmen wettzumachen.
Unsere Leute in Santo Amaro geizten und sparten, wo sie nur konnten, aber es reichte bei weitem nicht aus. Also machten wir
ernst: Wir bildeten aus den Fabrikarbeitern Teams und schickten sie zu den Docks, wo sie Ersatzteile verkaufen sollten. Dafür gab
es eine ständige Nachfrage, da die einlaufenden Schiffe abgenutzte Pumpräder, Wellen und Verschleißringe ersetzen mußten, ganz
gleich, ob es einen Boom oder eine Baisse gab. Aber darauf waren natürlich auch eine Menge kleinerer Werkstätten schon
gekommen. Wir nannten sie Piraten, weil sie billige, minderwertige Kopien von Semco-Teilen herstellten und »Freunden« auf den
Schiffen dicke Provisionen gaben, damit sie diese kauften. Unsere Arbeiter taten ihr Bestes, aber gegen all diese Piratenkapitäne
hatten sie keine Chance.
Inzwischen hatten wir die Arbeiter im Schiffsausrüstungswerk zu einer Versammlung in die Kantine gerufen und wiederholten
unseren Vorschlag, Kurzarbeit einzuführen, damit wir niemand entlassen mußten. Diesmal würden wir bei den Lohnkürzungen wie
Robin Hood Vorgehen, so daß diejenigen mit niedrigeren Löhnen nicht so sehr darunter zu leiden hätten.
Das Arbeitsrecht in Brasilien hat immer etwas Patriarchalisches an sich gehabt (und das ist angesichts der Habgier mancher
brasilianischer Geschäftsleute völlig gerechtfertigt). Wenn ein Arbeiter beispielsweise 250 Dollar pro Woche bekommt, muß ihm
sein Unternehmen weitere 1000 Dollar zu Weihnachten und 1300 Dollar Urlaubsgeld (vier Wochen Lohn plus einen Bonus von 300
Dollar) zahlen sowie jeden Monat eine Summe auf ein Sparkonto einzahlen, die acht Prozent seines Lohns ausmacht. Wenn ein
Mitarbeiter entlassen wird, bekommt er alles Geld, das sich auf diesem Konto befindet, plus 40 Prozent zusätzlich, plus den
doppelten Lohn für alle Urlaubstage, die er nicht genommen hat. Und dann bekommt er noch eine Abfindung, die bei Mitarbeitern
wie den unseren, von denen viele bei Semco seit 10, 15 oder gar seit 30 Jahren sind, bis zu zwei Jahreslöhne beträgt.
Das war noch kein goldener Fallschirm, aber da viele Arbeiter im Schiffsausrüstungswerk glaubten, daß sich unser
Unternehmen

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wahrscheinlich nicht so schnell wieder erholen würde, war es auch kein schlechtes Geschäft. Warum sollten sie ein oder zwei Jahre
für gekürzte Löhne arbeiten, um dann doch entlassen zu werden? Also schmetterten sie erneut unseren Lohnkürzungsplan ab und
überantworteten so einige Kollegen dem Schicksal der Entlassung.
Ungefähr zur gleichen Zeit fuhr ich nach Ipiranga, um mich mit Alipio Camargo zu treffen, der damals der dortige Partner war. Die
Umsätze unserer Großgeschirrspülanlagen waren von 40 Stück pro Monat auf 25 und dann auf mickrige 5 zurückgegangen, und die
Lagerund Gemeinkosten wuchsen uns völlig über den Kopf. Ich brauchte Alipio gar nicht erst zu sagen, daß das Werk schließen
müßte, wenn die Lage nicht besser würde.
Ich war so in Gedanken versunken, als ich ging, daß ich Joao Soares gar nicht bemerkte, den Werkskomiteeleiter, der vor dem
Schweißraum stand. Aber dafür bemerkte er mich.
Joao wußte, daß es nicht gut stand, aber er war hartnäckig. Das Werk, das bewiesen hatte, was man erreichen kann, wenn man
Arbeiter wie Erwachsene behandelt und dazu ermutigt, selbst Entscheidungen zu treffen - dieses Werk konnte nicht einfach
geschlossen werden. Nicht jetzt - nach dem, was wir geleistet hatten.
»Sagen Sie mir eins, Joao«, sagte ich. »Wenn dieses Unternehmen Ihnen gehörte und Sie wüßten, daß Sie im Laufe des
nächsten Quartals nur eine Handvoll Geschirrspüler pro Monat verkaufen werden, und nicht die vierzig, die Sie bisher verkauft
haben - was würden Sie denn tun?«
»Das ist das Problem mit Ihnen«, erwiderte er. »Sie denken nicht über die nächsten drei Monate hinaus. Und was ist, wenn wir
wieder zuzulegen beginnen? Oder glauben Sie etwa, daß es uns nie wieder besser gehen wird?«
»Aber darum geht es doch gar nicht, Joao. Es ist nur schon so lange her, seit diese Einheit überhaupt etwas eingebracht hat.«
»Aber da gibt es schon noch einiges, was wir tun können«, beharrte er.
Die Maschinen wurden abgeschaltet. Im Hintergrund konnte ich das Gemurmel der Arbeiter hören, als sie sich verabschiedeten
und nach Hause fuhren.

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»Ich überlasse es Ihnen«, sagte ich zu Soares nach einer Weile, »und dem Werkskomitee. Entwickeln Sie einen Plan, gehen Sie
ihn mit Alipio und den anderen durch, und dann werden wir es versuchen. Aber denken Sie vor allem an eines, Joao: Wenn Sie die
Kapazität haben, im Monat vierzig Geschirrspüler zu produzieren, aber nur eine Handvoll verkaufen - was werden Sie dann mit all
diesen Menschen tun? Es kann Jahre dauern, bis sich die Wirtschaft wieder erholt.«
Es ist ja viel leichter, dachte ich, den Stein zu werfen, als das Fenster zu sein.
Joao fuhr zu seinem Haus am Rande von Sao Paulo - ein Haus, von dem er seinerzeit nicht einmal hätte träumen können, als er
als magerer Junge von neun Jahren noch Eistee und Erdnüsse im Maracana-Fußballstadion von Rio verkauft hatte, um seine
Familie mit zu ernähren. In dieser Nacht tat er kein Auge zu, weil er dauernd an die Fabrik denken mußte. Er dachte auch am
ganzen Wochenende darüber nach. Semco war sein Leben. Viel zu sehr - seine ständige Anwesenheit im Werk war einer der Gründe
dafür gewesen, daß seine Ehe vor einem Jahr in die Brüche gegangen war.
Joao dachte daran, in welchen trostlosen Fabriken er bereits gearbeitet hatte, bevor er zu uns gekommen war. In der einen hatte
es Toiletten mit halbhohen Türen gegeben, so daß sich die Arbeiter darin nicht vor den Vorarbeitern verstecken konnten. Bei einer
anderen hätte er einen ganzen Tageslohn verloren, wenn er auch nur eine Minute zu spät gekommen wäre. Als er nun in seinem
kleinen Schlafzimmer auf und ab marschierte, mußte er daran denken, wie anders sein Leben nun war. Die erste Konferenz des
Werkskomitees fiel ihm wieder ein. Er und seine Kollegen waren so ängstlich gewesen, daß sie kein Wort herausbrachten. Und was
hatten sie inzwischen nicht alles bekommen: Krankenversicherung, ein kostenloses Frühstück, flexible Arbeitszeiten und vor allem
das berauschende Gefühl der Selbstbestimmtheit, das in herkömmlichen Fabriken so gut wie gar nicht existiert. Die Arbeiter in der
Systemgastronomie-Einheit hatten doch so viel erreicht, dachte Joao. Und dann wußte er: Das war ihre Chance.
Als er am Montag wieder in Ipiranga war, versammelte er alle 150 Arbeiter mitten in der Werkshalle und erklärte ihnen, er
hätte eine

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Idee, wie er das Werk und die Arbeitsplätze retten könne. Die Arbeiter sollten freiwillig auf 30 Prozent ihres Lohns sowie auf eine
gerade fällige zehnprozentige Lohnerhöhung verzichten. Sie würden auch auf Essens- und Fahrtkostenzuschüsse sowie andere
Vergünstigungen verzichten. Das war der konventionelle Teil seines Plans. Und dann kam der eigentliche Dreh: Die Arbeiter sollten
alle Dienstleistungen im Werk übernehmen, die bisher von auswärtigen Vertragsfirmen und von Dritten erbracht worden waren -
fortan würden sie diese selbst ausführen und damit die Kosten des Unternehmens drastisch senken. Was die Kantine beträfe, fuhr
Soares fort, so würden die Arbeiter das Essen kaufen und selbst zubereiten. Sie würden auch nach Arbeitsende die Fabriktore
bewachen sowie die Büros und die Werkshalle reinigen. Und schließlich würden sie noch die fertigen Waren zu den Kunden
transportieren und Restaurants und Hotels Ersatzteile verkaufen.
Als Gegenleistung sollten die Arbeiter zusammen mit dem Management die Verantwortung für das Werk übernehmen und alle
unternehmerischen Entscheidungen gemeinsam treffen-eine Garantie dafür, daß ihr Opfer nicht umsonst wäre. Alle Strategien,
unternehmenspolitischen Überlegungen und Investitionen - sogar jeder Scheck - müßte sowohl von den Bossen wie von den
Arbeitern abgesegnet werden. Ach ja: Auch die Bosse müßten mit einer vierzigprozentigen Kürzung ihrer Gehälter einverstanden
sein. »Für unsere Moral«, wie Joao sagte.
Als er seine Ausführungen beendet hatte, schwiegen seine Kollegen. Dann meldete sich eine Frau zu Wort.
»Die Toiletten putzen? Kommt nicht in Frage. Ich hab’ das noch nie gemacht und werde damit auch jetzt nicht anfangen.«
»Ich werde selbst der erste sein, der die Toiletten putzt«, erklärte Joao. »Da ist doch nichts dabei, wenn man eine halbe Stunde
pro Tag Toiletten putzt. Oder die Büros. Überlegt doch mal - mit diesem Plan müßte das Unternehmen doch niemanden in die
Wüste schicken. Es gäbe keine Entlassungen.«
Als er fragte, wer für diesen Plan sei, gingen über hundert Hände in die Höhe.
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Werksmanager nicht gerade begeistert von Soares’ Idee, aber nach und nach
erwärmten sie

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sich dafür. Alipio dachte ohnehin schon daran, sich selbständig zu machen, und wollte in Kürze einen eigenen »Maultier ohne
Kopf«-Plan vorlegen - innerhalb weniger Jahre trat er damit zum zweitenmal von einem Job zurück.
Dann wurden noch einige Änderungen ausgehandelt. Das Management akzeptierte die vierzigprozentige Gehaltskürzung nur
für zwei Monate, danach sollten es nur noch 30 Prozent sein. Die Lohnkürzungen sollten auf die Robin-Hood-Manier erfolgen, um
schlechter bezahlte Arbeiter zu schützen, und - immer diese Optimisten - allen Mitarbeitern wurde eine Sondergewinnbeteiligung
von 15 Prozent garantiert, zusätzlich zu den 23 Prozent, die sie von Semcopar bekamen. Und damit begann für Semco das erste
Experiment im Co-Management.
Bereits nach einem Monat trauten wir unseren Augen nicht: Die Arbeiter hatten so viel eingespart, daß die
Sondergewinnbeteiligungs-Klausel tatsächlich in Kraft trat, wodurch die Lohn- und Gehaltskürzungen teilweise wieder abgefangen
werden konnten.
Im zweiten Monat lief es sogar noch besser. Und am Ende des dritten Monats bekamen alle wieder ihren ursprünglichen Lohn.
Die Geschirrspüler-Verkäufe stabilisierten sich bei nicht gerade sensationellen 12 Stück pro Monat, aber das Werk verkaufte mehr
Ersatzteile als zuvor.
Doch auch wenn das Co-Management als edles Experiment dazu beitrug, daß wir von drastischen Entlassungen Abstand
nehmen konnten, so würde man auf diese Weise nicht für alle Zeiten das Hobart-Werk oder sonst eine Fabrik führen können. Die
Rentabilität hing von einem extrem niedrigen Kostenniveau ab, und dieses wiederum von Sonderleistungen der Arbeiter, die nicht
für immer erbracht werden konnten.
Es gibt noch andere Gründe, warum ich nicht an das Co-Management glaube. Nehmen wir nur mal die zweite Unterschrift auf
den Gehaltsschecks, diejenige, die von den Arbeitern geleistet werden muß. Sollen sie dafür jemanden bestimmen? Wenn sie sich
nun jemanden aussuchen, der sie führen soll, der jedoch nicht mit dem Management Zusammenarbeiten will? Joao Soares war ein
besonders fähiger Mann, der mit den Problemen fertig wurde, die wir in der Sy-

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stemgastronomie-Einheit hatten. Aber wenn die Arbeiter dort nun beispielsweise einen radikalen Gewerkschaftsführer wollten oder
jemanden, der von unserer Unternehmenskultur keine Ahnung hatte?
Beim Co-Management braucht man zwei Seiten - und das ist eben eine mehr als nötig, um irgend etwas effizient zu führen. Zu
viele Führer können schlechter sein als zu wenige. Wir hatten das bei Semco ja erlebt, als wir zusätzliche Managementebenen
abschafften. Nun war wirklich nicht die Zeit, das Rad zurückzudrehen.
Alles in allem überstanden wir diese Wirtschaftsflaute besser als andere Unternehmen in unseren Märkten - die meisten schickten
30 bis 40 Prozent ihrer Arbeiter nach Hause. Wir hatten einen vierzigprozentigen Umsatzrückgang hinnehmen müssen, ohne dabei
unsere Kredite zu erhöhen. Aber da wir viele überzählige Arbeiter in unserer Belegschaft hatten und neue Aufträge ausführten, ohne
daß die Rechnungen für die alten bezahlt wurden, hatte uns das fast sämtliche Gewinnrücklagen gekostet.
Nach monatelangen Debatten kamen wir zu dem Schluß, daß die brasilianische Wirtschaft so bald keinen Aufschwung nehmen
würde, und darum war es gefährlich, auf diesem Weg weiterzumachen. Wir wollten keineswegs unsere Philosophie ändern, nicht
einmal unsere langfristige Strategie, aber wir brauchten einige neue Taktiken, wenn wir überleben wollten.
Aber schließlich hatten wir ja ein Unternehmen geschaffen, das flexibler war als alle, die wir kannten. Jedenfalls war Semco
umstrukturiert worden, damit es sich Veränderungen anpassen konnte, und zwar rasch und ohne vorgefertigte Lösungen nach dem
Motto »So haben wires schon immer gemacht«. Nun also würden wir diese Anpassungsfähigkeit auf die Probe stellen.

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Kapitel 32: Startrampe für Satelliten

Pedro Miranda de Oliveira stampfte auf dem Linoleumboden in der Halle vor der Kantine des Santo-Amaro-Werks auf und ab und
demonstrierte damit, warum er »Die Kugel« genannt wurde. Er stand vor der größten Entscheidung seines Lebens, und er hatte nur
eine Stunde Bedenkzeit.
Pedro, ein gedrungener, muskulöser Mann mit zerzaustem schwarzem Haar und flinken Augen, denen nichts entging, war 1979
als Dreher zu Semco gekommen - er bediente die großen Maschinen, die aus Metallblöcken Wellen für Pumpen, Mischmaschinen
und Motoren schnitten. Das erforderte ein beträchtliches Geschick, denn eine falsche Bewegung konnte aus einem halben Zentner
wertvoller Bronze oder rostfreiem Stahl Schrott machen. Pedro wurde einer unserer besten Maschinenarbeiter; dann absolvierte er
eine neun Monate umfassende Ausbildung in Maschinenbau und lernte, Konstruktionspläne zu lesen. Als er zu Semco
zurückkehrte, kam er an unsere aufwendigste Drehbank, die aus fünf Meter langen Stahlzylindern Wellen für Rührwerke schneiden
kann, wie sie unter anderem für die Veredelung von Gold verwendet werden.
1987 wurde Pedro Koordinator und hatte über 50 Kollegen unter sich, die Bleche für Mischgeräte und Pumpen zurechtschnitten
und polierten. Es überraschte uns nicht, daß er sich in dieser Position hervorragend bewährte - er erhielt den Arbeiterpreis für
schnelle Entscheidungen.
Aber trotz all unserer Bemühungen, die Belegschaft knapp zu halten, ungeachtet unserer Erfolge bei der Verringerung
überflüssiger Kosten sowie unserer erstaunlichen Produktivitätssteigerungen geriet Semco in Schwierigkeiten. Wir hatten zu viele
Mitarbeiter, die zu viele Produkte in zu vielen Fabriken herstellten - oder vielleicht

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auch nur nicht genug Kunden. So oder so, wir mußten etwas ändern. Wir hatten eine echte Partnerschaft mit unseren Arbeitern -
äh, ich meine unseren Kollegen - etabliert, die auf Vertrauen und gegenseitigen Interessen beruhte. Aber woran wir in diesem
schrecklich rauhen wirtschaftlichen Klima nicht vorbeikamen, war eine Scheidung - natürlich eine Scheidung in freundschaftlichem
Einvernehmen, von Partnern, die in Gütergemeinschaft lebten.
Bei unseren Mittagspausen-Besprechungen, auf Versammlungen mit Arbeitern, in Interviews, die Firmensprecher Zeitschriften
und Zeitungen gaben, hatte Pedro den Begriff »Horizontalisierung« aufgeschnappt. Ständig diskutierten wir darüber, welche
Funktionen Semco auch weiterhin ausüben und welche Aktivitäten an andere vergeben werden sollten. Je länger wir darüber
nachdachten, desto klarer wurden wir uns darüber, daß wir nichts mehr tun wollten, was genausogut anderswo erledigt werden
konnte.
Aber Semco geht ja immer seine eigenen Wege, nicht wahr? Statt bestimmte Geschäftszweige an irgendwelche Fremde zu
vergeben, beschlossen wir, sie an die Leute zu delegieren, die wir am besten kannten: unsere Arbeiter. Wir würden ihnen dabei
behilflich sein, ihre eigenen Firmen zu gründen, so daß aus Mitarbeitern Geschäftspartner wurden. Und damit war das Satelliten-
Programm geboren.
»Wenn du etwas gut und preiswert gemacht haben willst, dann mach es selber.« Das war das Mantra der Größer-ist-besser-
Unternehmen. Aber wie viele Unternehmen haben sich nicht verzettelt, als sie größer wurden! Henry Ford war so verliebt in das
Prinzip der Vertikalisierung, daß er Bäume anpflanzte, um Holz für die Seitenverkleidung seiner T-Models zu bekommen, daß er
Eisenerzbergwerke und Frachtschiffe erwarb, ja sogar am Amazonas nach einem Gelände für eine Gummifabrik für die Reifen
suchen ließ. In der offiziellen Firmengeschichte wird es kaum erwähnt, aber Ford mußte schließlich 60000 Arbeiter entlassen - und
zwar wegen dieses übertriebenen Do-it-yourself-Denkens.
Wenn man Arbeit an Spezialisten, Subunternehmer, Berater und eine ganze Reihe von Dritten vergibt, kann man sich eine
Menge Probleme sparen. Zunächst verringert das die fixen Lohnkosten. Außerdem werden dadurch auch die Lagerregale leer, da
sich die Rohmate-

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rialien und Ersatzteile, die ein Unternehmen normalerweise bei sich lagern würde, nun auf viele Zulieferer verteilen. Unternehmen
wie das unsere, deren Produkte aufwendige Herstellungsprozesse erfordern, binden Kapital in Lagerräumen und Magazinen. Das ist
nicht gut, wenn es zu einem wirtschaftlichen Abschwung kommt.
Vor allem aber handeln die Menschen anders, wenn sie ein eigenes Unternehmen haben. Arbeiter, die jede Kaffeepause auf die
Minute genau einhalten, werden sich bis in die Nacht hinein und an Samstagen und Sonntagen abschuften, wenn sie damit ihr
eigenes Unternehmen am Leben erhalten können. Bei Semco waren wir weitgehend deshalb so erfolgreich gewesen, weil wir unsere
Mitarbeiter so sehr an ihren Jobs beteiligt hatten. Unsere Leute arbeiteten bereits lange und natürlich auch an den Wochenenden,
und darum mußten sie von ihren Bossen gar nicht mehr angetrieben werden. Aber indem wir sie dazu ermutigten, ihre eigene Firma
aufzumachen, würden wir ihr Engagement sogar noch mehr steigern können.
Theoretisch bedeutet die Fremdvergabe von Arbeit einen Verlust der Gewinne, die bei der Vertikalisierung erzielt werden. Aber
denken Sie dabei nur an Henry Ford. Als die brasilianische Wirtschaft einen Rückgang erlebte, beschlossen wir, uns an die Lehren
zu halten, die der gute Henry ignoriert hatte. Nur wenige Firmen konnten mit unserer Fünf-Meter-Drehbank mithalten, mit der
man große Metallzylinder zurechtschneiden kann, oder mit unseren Vertikalfräsmaschinen, mit denen man absolut glatte und
symmetrische Oberflächen bei Stahlverkleidungen und -gehäusen erzeugen kann. Nur wenige Unternehmen verstanden sich darauf,
die riesigen Rohrschlangen in unseren Kühltürmen zu verlöten, Spezialgetriebe für unsere Mischmaschinen anzufertigen oder
Kupplungen mit Titan zu beschichten. Es wäre viel zu teuer, wenn nicht gar unmöglich, diese Arbeiten Subunternehmern zu
überlassen, also wollten wir sie auch weiterhin bei uns ausführen. Außerdem würden wir unsere hochspezialisierten Konstrukteure
behalten, die unsere Produkte modifizieren, damit sie den besonderen Anforderungen unser Kunden entsprechen, je nachdem, ob
sie Mischgeräte für Suppe oder Kaugummi benötigen. Das galt auch für die Leute, die für den Bereich computergestütztes Design
(CAD) zuständig waren, denn hier gab es nicht nur teure Geräte, sondern auch wichtige Geschäftsgeheimnisse.

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Aber technische Zeichnungen? In Brasilien gab es Tausende von technischen Zeichnern, die genauso geschickt wie unsere
waren. Blechverarbeitung? Es gab Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von brasilianischen Firmen, die Bleche für Mixergehäuse
walzen konnten. Und was war mit der Rechtsabteilung und der Software-Entwicklung? Ideale Kandidaten für Subunternehmen.
Fremdaufträge zu vergeben ist nicht unproblematisch. Dritte müssen eine Menge über einen Auftraggeber wissen, und das ist
gar nicht so einfach bei einem idiosynkratischen Unternehmen wie dem unseren. Nicht zu vergessen der »Brain-Drain-Faktor«
sowie die Risiken, die damit verbunden sind, wenn man Außenseitern sein Knowhow preisgibt. Aber in unserem Fall waren beide
Bedenken unbegründet: Im Satelliten-Programm würden wir mit Leuten Zusammenarbeiten, die wir bereits kannten und denen wir
vertrauten, und umgekehrt.
Aber wie sollten wir Hunderte von Mitarbeitern dazu bewegen, Unternehmer zu werden und ein sicheres Nest bei Semco zu
verlassen, während draußen ein Wirtschafts-Unwetter tobte? Dabei kamen uns jene patriarchalischen brasilianischen
Abfindungszahlungen zugute. Die sechs, zehn oder gar zwanzig Monatsgehälter, die wir Mitarbeitern zahlen mußten, wenn sie
gingen, plus die zusätzlichen Gewinnanteile, die sich bei Semco im Laufe der Jahre angesammelt hatten, würden ihr Startkapital
sein. Natürlich hätte kein Mitarbeiter Anspruch auf diesen Notgroschen, wenn er nicht entlassen wurde. Also machten wir ihnen
das Angebot, sie zu entlassen, um sie dann mit Hilfe ihrer Abfindung bei der Gründung ihrer eigenen Firmen zu unterstützen, die
uns Materialien oder Dienstleistungen liefern sollten. Um den Handel perfekt zu machen, boten wir unseren Arbeitern an, sie
könnten genau die Maschinen von uns leasen, an denen sie in unseren Fabriken gearbeitet hatten, und zwar anfangs kostenlos und
später, wenn ihre Firmen in die Gewinnzone kamen, zu äußerst vernünftigen Bedingungen.
Wenn unsere Arbeiter einmal ihre eigenen Werkstätten und Fabriken hätten, dann könnten sie ein Mehrfaches von dem
verdienen, was sie bei Semco bekommen hatten, wenn die Wirtschaft wieder auf Touren kam. Gut, das war ein großes Wenn. Und
wenn die Rezession andauerte, könnten sie weniger als bei Semco verdienen - aber das

---OP 306---

setzte voraus, daß sie auch weiterhin einen Arbeitsplatz bei Semco hatten, was für eine erschreckend große Zahl von unseren Leuten
mit jedem Tag zweifelhafter wurde.
Pedro war nicht überrascht, als er und die anderen Koordinatoren im Werk von Santo Amaro zu einem »ernsten Gespräch« mit der
Geschäftsleitung gebeten wurden. Er wußte, daß die Geschäfte schlecht liefen.
Er hatte bereits eine Entlassungsaktion hinter sich, hatte sich mit den leitenden Angestellten die Zahlen angesehen, bei der
Aufstellung einer Liste von Kollegen geholfen, die entlassen werden sollten, darüber mit dem Werkskomitee diskutiert und dann
den betroffenen Kollegen die schlechte Nachricht überbracht, einem nach dem anderem - wobei er zwischendurch immer eine kurze
Pause einlegen mußte, um seine Fassung wiederzugewinnen.
Pedro erwartete, daß er das alles nun noch einmal durchmachen mußte. Er hatte zwar vom Satelliten-Programm gehört, glaubte
aber, daß dies eines jener Dinge war, die nur anderen Leute zugute kamen. So war er von dem Vorschlag, den wir ihm
unterbreiteten, völlig überrascht. Von den Dutzenden von Mitarbeitern, die diese schweren Zeiten überstanden hatten und noch
immer Pedro unterstellt waren, sollten unserer Meinung nach die Hälfte bei Semco bleiben. Sie übten eine komplizierte Tätigkeit
aus, die einen Teil unserer maßgeblichen Technologie ausmachte. Wir hofften, daß viele von den übrigen Arbeitern von einem
Unternehmen eingestellt werden könnten, das vielleicht »Pedro und Freunde GmbH« heißen könnte.
Pedro war so verblüfft, daß er, was sonst gar nicht seine Art war, um Bedenkzeit bat. Nach etwa einer Stunde hörte er auf, in der
Halle herumzutigern, und kehrte in die Vorstandsetage zurück, wo die Geschäftsleitung auf ihn wartete. Als er eintrat, kam er sich,
wie er später sagte, »wie eine angehende Braut« vor.
»Also gut«, sagte er und holte tief Luft. »Ich mach’s.«
Der richtige Name seiner Firma lautete dann JKL Maschinelle Fertigung und Walzblech GmbH. Das J und das L standen für
Jose Maria und Jose Lima, zwei Semco-Kollegen. (Das K für »Kugel«.) Die drei brauchten etliche Tage, bis sie ein passendes
Gebäude fanden, das ein paar Blocks von unserer Fabrik entfernt war. Sie listeten alle Ma-

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schinen auf, die wir an ihre neue Adresse lieferten, und nachdem sie diese in der kleinen Werkstatt untergebracht hatten, begann
Pedro mit seinen Kollegen, uns mit Kupplungen, Getriebekästen, Getrieben, Metallwellen, Turbinenschaufeln für Mischmaschinen
und Maschinengehäusen für Schiffspumpen zu beliefern.
Ihr Leben nahm eine dramatische Wendung. Bei Semco war Pedro stets um 17.30 Uhr zu Hause gewesen; inzwischen bringt
ihm seine Frau gelegentlich abends Kaffee in seine kleine Werkstatt, und wenn Pedro endlich nach Hause kommt, hat er oft noch
jede Menge Papierkram dabei. Semco stellte ein Team von leitenden Mitarbeitern zusammen, das unseren Mini-Unternehmern
beibrachte, wie man Kosten kontrolliert, Preise kalkuliert, Lager und Instandhaltung organisiert und alle möglichen bürokratischen
Dinge in den Griff bekommt. Sie hatten ständig Probleme, wie wir wußten, da wir ja mit ihnen Geschäfte machten.
Pedro beispielsweise war berühmt dafür, daß er sich auf seinen Rechnungen beim Zusammenzählen verrechnete und vergaß,
die Steuer zu berechnen. »Ich habe denen die gleiche Rechnung zweimal geschickt«, erinnerte er sich, »und dann riefen sie bei mir
an und fragten mich, ob ich meinen Preis verdoppelt hätte, ohne es ihnen vorher zu sagen. Aber dann hörte ich, wie am anderen
Ende der Leitung gelacht wurde.«
Aber wir wurden nie müde, ihm und den anderen zu helfen. Und nur zu gern riefen wir ihre anderen potentiellen Kunden an
und empfahlen sie weiter.
Wie andere Satelliten-Firmen hat auch JBL gute und schlechte Zeiten erlebt. Ihre Belegschaft stieg auf zehn Mitarbeiter - weiß
der Himmel, wo sie die unterbrachten -, sank dann aber wieder auf fünf ab. Doch ihre Begeisterung oder ihren Optimismus haben
sie nicht verloren. Tatsächlich haben sie gerade einen Gewinnbeteiligungsplan eingeführt.
Niemand wurde gezwungen, eine Satelliten-Firma zu gründen-alle Mitarbeiter bekamen ihre Abfindungen ohne irgendwelche
Auflagen. Einige nahmen das Geld und gingen einfach. Andere wollten bei uns bleiben, solange sie konnten.
Aber unser Angebot war geradezu verführerisch. Ich kenne Unter-

---OP 308---

nehmen, die ihren Zulieferern verbieten, an die Konkurrenz zu verkaufen, oder die die Preise oder die Gewinnmarge diktieren. Wir
erklärten unseren Leuten, sie seien frei, alles, was sie herstellten, an wen auch immer zu verkaufen, sogar an unsere Konkurrenz.
Auf der anderen Seite dürften auch wir bei jedem beliebigen Unternehmen einkaufen. Es gab für beide Seiten keine Garantien, und
damit war sichergestellt, daß wir konkurrenzfähig und innovativ sein würden.
Das Satelliten-Programm breitete sich rasch in allen Werken und Abteilungen aus. Tatsächlich wurde es zuerst von unseren
Büroangestellten aufgegriffen, besonders von unseren Steuerfachleuten, von den Mitarbeitern in der Personalabteilung und von den
technischen Zeichnern. Wir lösten unsere Rechtsabteilung auf und vergaben die Arbeiten an mehrere Firmen, die sich auf
verschiedenen Gebieten spezialisiert hatten, unter anderem auch an eine Kanzlei, die von einem unserer Ex-Anwälte gegründet
worden war. Auch einige unserer Buchhalter machten eine Firma auf, und Programmierer machten sich selbständig und
produzierten unsere Software.
Nachdem Pedro und seine Kollegen in Santo Amaro den Anfang gemacht hatten, wurde das Satelliten-Programm auch von
anderen Arbeitern in der Systemgastronomie-Einheit sowie in der Kühlsystemfabrik übernommen. Ich will damit nicht sagen, daß
das Ganze absolut reibungslos ablief. Da gab es beispielsweise eine Unternehmenseinheit mit fünf Produktionszellen, und vier
koppelten sich vom Mutterschiff ab und begaben sich als Satelliten auf ihre eigene Umlaufbahn. Da hatte es für uns überhaupt
keinen Sinn mehr, die verbleibende Zelle zu behalten - wir hätten dann ja nur mit den anderen vier konkurrieren müssen.
Es gab auch einige Aussteiger, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Paulo Pereira war die Luftverschmutzung und den Verkehr
leid und wollte schon lange mit seiner Familie von Sao Paulo in seine Heimatstadt Bebedouro ziehen, ein kleines Städtchen, das
etwa 240 Kilometer weit weg lag. Aber wir wollten Paulo nicht verlieren, schließlich war er der Architekt von einigen unserer
innovativsten Programme gewesen. Das Satelliten-Programm war unser beider Chance: Paulo richtete sich sein eigenes
Personalberatungsbüro in Bebedouro ein und pendelte von Dienstag bis Donnerstag nach Sao Paulo, um für uns zu arbeiten.

---OP 309---

Auch Laura de Barros verließ uns und machte sich als Personalberaterin selbständig. Simpliciano Domingos de la Sierra blieb,
aber irgendwann mußte der junge Unternehmer sogar eine Zeitlang einen Kleinbus fahren, um seine Familie zu ernähren. Und
Alipio Camargo gründete mit einer Handvoll Semco-Kollegen sowie zwei Mechanikern eine Firma und verkaufte und wartete
Hobart-Produkte in Sao Paulo. Sein Laden läuft gut.
Semco war an der Gründung von über zwei Dutzend Satelliten-Firmen beteiligt. Etwa die Hälfte unserer Produktion wurde an
sie delegiert, und wir glauben, daß wir in den kommenden Jahren weitere zehn oder gar zwanzig Prozent nach draußen geben
können. Bis zum heutigen Tag hat keiner dieser Satelliten wieder dichtgemacht. Einige halten nach Partnern Ausschau, andere
bemühen sich, ihre Produktpalette auszuweiten. Einige sind kleine Semcos und haben sich nach unseren Idealen organisiert:
Demokratie, Transparenz und Vertrauen. Andere hingegen sind ganz traditionell - kleine Fords oder IBMs (ein hoffentlich
vorübergehender betrüblicher Zustand). Fast alle haben auch noch andere Kunden als Semco, was uns recht ist. Es ist schließlich
ihr Geschäft.
Das Satelliten-Programm funktioniert deshalb so gut, weil es auf dem Prinzip beruht, daß Menschen, die in ihr Unternehmen
investiert haben, sich auch mehr für ihre Arbeit engagieren müssen. Das hat nur Gutes zur Folge: Die Kosten sinken, die Qualität
steigt, es gibt viele Innovationen. Diese Leute werden sich ein Teil ansehen und sich fragen, warum es eigentlich so beschaffen sein
müsse. Warum könnte es nicht besser gemacht werden? Oder billiger? Oder schneller?
Für Semco hat das Satelliten-Programm eine unglaubliche Flexibilität mit sich gebracht. Wir kaufen nur noch, was wir
brauchen und wenn wir es brauchen. Da wir uns nicht mehr von der Fertigung ablenken lassen müssen, können wir uns auf die
Gestaltung, die technische Umsetzung und die Montage besserer Produkte konzentrieren. Und wir haben nicht mehr all diese
teuren Maschinen herumstehen, die wir deswegen unbedingt benützen müssen, und sind somit auch nicht mehr mit allen
möglichen Verfahrensproblemen beschäftigt.
In einem viel grundlegenderen Sinne ist das Satelliten-Programm eine logische Konsequenz unserer Philosophie, Mitarbeitern
die

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Macht zu übertragen. Schließlich haben unsere neuen Unternehmer ihren Arbeitsplatz absolut unter ihrer Kontrolle - und damit
zumindest so viel Macht, wie sie jeder Inhaber hat. Sie treffen sämtliche Entscheidungen, einschließlich der Entscheidung darüber,
wie viele Entscheidungen wiederum ihre Arbeiter treffen sollten. Fast immer sind sie sogar noch produktiver, als sie es bei Semco
waren.
Dabei war es durchaus nicht einfach oder im Handumdrehen möglich, das Satelliten-Programm einzuführen. Aber ich glaube,
es hat uns dabei geholfen, aus Semco ein Unternehmen zu machen, das sich auch auf der rauhesten See halten kann, ohne daß es
leckschlägt oder daß die Mannschaft gezwungen ist, von Bord zu gehen.

---OP 311---

Kapitel 33: Wiedergeburt

Die Fabriken, in denen wir uns alle so große Mühe gegeben hatten, an einem Strang zu ziehen, waren auf einmal halb leer,
Maschinen und Menschen, die sie bedient hatten, in alle Winde verstreut. Wir sahen uns um und fragten uns: »Brauchen wir
eigentlich all diese Fabriken überhaupt noch?« Es war an der Zeit, auszuziehen.
Keines der Werke war leicht zu schließen, aber die größten Schwierigkeiten bereitete die Systemgastronomie-Einheit, wo sich in
den Jahren seit der Übernahme Rechnungsvolumen und Umsätze um mehr als das Vierfache vergrößert hatten, obwohl das
Management halbiert wurde. Wir verloren annähernd eine Million Dollar, eine gewaltige Summe, als wir das Werk schlossen und
die Überreste nach Santo Amaro verlegten - mit der Folge, daß einige Arbeiter, die ursprünglich dort angefangen hatten, diese
Entscheidung noch weniger begriffen als ohnehin schon. »Wieso kauft ein Unternehmen ein Werk, gibt Geld aus, um es
umzugestalten, führt Programme ein, die die Produktivität steigern und den Betrieb total umkrempeln, und gibt dieses Werk dann
einfach auf - warum bloß?« So wurden wir immer wieder gefragt. Aber durch die Verlegung des Systemgastronomie-Betriebs
konnten die Kosten auf ein Niveau gesenkt werden, das unsere Mitarbeiter nie erreicht hätten, wenn sie geblieben wären. Allein die
Miete des alten Werks belief sich auf sechs Prozent des Umsatzes - etwa dreimal soviel wie üblich.
Die BAC-Unternehmenseinheit in Diadema, in der Kühlanlagen für die Nahrungsmittel- und die Getränkeindustrie sowie
Kühltürme für Klimaanlagen hergestellt wurden, war gleichfalls schwer zu schließen, da hier die Geschäfte viel besser liefen als in
unseren anderen Werken. Ihre Hauptkunden, die Bier- und Limonadenhersteller, waren von der Rezession relativ wenig betroffen:
Sie brauchten

---OP 312---

die ausländische Konkurrenz kaum zu fürchten, und ihre Kunden waren zwar knapp bei Kasse, aber für eine Brause oder ein Bier
reichte es allemal.
Doch als das Satelliten-Programm auch auf die Kühlanlagen-Einheit Übergriff, sahen wir, daß die Möglichkeit bestand, 60 bis
70 Prozent der Produktionskapazität des Werks nach außen zu verlagern, und zwar ohne Qualitätsverlust. Die Verlegung nach Santo
Amaro war unvermeidlich, aber wir faßten es als großes Kompliment auf, daß die Führer der dortigen Gewerkschaft, einer überaus
radikalen Organisation, uns diesen Umzug auszureden versuchten. In dieser Region waren Ford, General Motors und andere
Unternehmen angesiedelt, die Zehntausende von Arbeitskräften beschäftigten, so daß sich die Gewerkschaft kaum Sorgen wegen
der 100 Arbeitsplätze machte, die wir dort auflösten. Vielmehr hatte sie Semco und seine Programme immer als Musterbeispiele in
ihren Verhandlungen mit anderen Unternehmen zitiert. Wenn wir nicht mehr da wären, würde die Gewerkschaft ein schlagendes
Verhandlungsargument verlieren.
Clovis war wie andere der Meinung, daß die Schließung der Fabriken ein Schritt in die falsche Richtung sei. Sein Verstand sagte
ihm natürlich, daß das Satelliten-Programm unsere beste Strategie war, aber mit dem Herzen hing er an diesen merkwürdigen
Fabriken mit den bunten Wänden, den Büschen zwischen den Maschinen und den Arbeitern, die kaum Bosse brauchten.
Für mich war diese Entscheidung nicht so schmerzlich, weil ich doch weiter weg war vom Arbeitsalltag des Unternehmens. Im
Unterschied zu den Arbeitern mußte ich nicht mit anpacken, um die Möbel und Anlagen wegzutransportieren. Es ist eben doch
etwas anderes, ein General zu sein, der nie an die Front kommt. Auch wenn es dabei zu Katastrophen wie bei Gallipoli kommen
kann, treffen Offiziere, die nicht im Feuer stehen, oft die besseren strategischen Entscheidungen.
Tatsächlich hatte ich schon seit mehreren Jahren daran gedacht, die Zweigwerke zu schließen und unseren Betrieb in Santo
Amaro zu konzentrieren. Diese Idee war zunächst von fast allen verworfen worden - von Vendramin, Violi, Batoni und Clovis. Selbst
als die wirtschaftliche Lage sich verschlechterte und unser weiteres Schicksal sich abzeichnete, dauerte es Monate, bis ich alle auf
meiner Seite

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hatte. Ich weiß, daß viele Leute den Eindruck haben, wir bei Semco würden zuviel reden, bevor wir eine Entscheidung träfen. Sie
gehen davon aus, daß sich ein Unternehmen unserer Größenordnung im Handumdrehen entscheiden sollte. Zugegeben: Es kann
bei uns länger dauern als bei General Motors, einem zehntausendmal größeren Konzern, bis eine Entscheidung gefallen ist. Aber
wenn wir auch ewig darüber diskutieren - sobald wir uns einmal durchgerungen haben, setzen wir diese Entscheidung viel schneller
um, da alle völlig dahinterstehen.
Und genau das war auch der Fall, als wir unsere Werke schlossen. Selbst Clovis mußte zugeben, daß dies die beste Möglichkeit
sei, unsere individualistische Unternehmenskultur zu erhalten. Wir wollten ein Unternehmen schaffen, das Jahrzehnte überdauern
und das Auf und Ab vieler Konjunkturzyklen überstehen konnte. Eine derartige Stabilität würden wir nie erreichen, wenn wir ein
bestimmtes Umsatzvolumen aufrechterhalten müßten oder auf verzweifelte, kurzfristige Kosteneinsparungen angewiesen wären,
um die Fixkosten einer großen Belegschaft und von Fabriken voller Maschinen abzudecken.
Von 830 Mitarbeitern und neun Unternehmensbereichen an fünf Standorten im Jahre 1987 waren Semco vier Jahre später knapp
300 Mitarbeiter in sechs Unternehmensbereichen an zwei Standorten geblieben (plus rund 200 Arbeiter in Satellitenfirmen sowie
hauptsächlich für uns arbeitende Berater). Wir bauten unser Stammwerk in Santo Amaro um und erweiterten es, so daß unsere
verschiedenen Unternehmensdivisionen auch räumlich ihren eigenen Bereich hatten, und benutzten einen Teil des Werks an der
Nacoes Unidas zum Testen unseres Schiffszubehörs und als Lagerhaus.
Aber die Konsolidierung unserer Werke hatte überhaupt keinen Einfluß auf ihre Organisationsstruktur. Wir sind noch immer
ein dezentralisiertes Unternehmen. Wir haben die Grundzüge dieser Unternehmenseinheiten beibehalten - ihre Autonomie, ihren
Individualismus, ihre eigenständigen Werkskomitees, ihre ganzheitlich strukturierten Teams (»Zellen«), ihre Persönlichkeiten. In
gewisser Hinsicht befinden sich unsere Unternehmensbereiche eigentlich überhaupt nicht am selben Ort. Wir haben den Raum so
eingeteilt,

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daß es zwischen ihnen keine Wechselbeziehung gibt. Jeder Bereich hat sein eigenes Gelände, einen eigenen Eingang, eine eigene
Lagerhalle und eine eigene Laderampe. Nur die Adressen der verlegten Werke mußten geändert werden.
Die Unternehmenseinheiten können jederzeit, wenn sie wollen, eine Umgestaltung untereinander aushandeln. Wenn es
unternehmerisch Sinn macht, dürfen sie sogar ausziehen. Eine kleine Neugründung namens Difitex, einer der zwei oder drei
embryonalen Betriebe, die wir normalerweise in petto haben, kam kürzlich zu dem Schluß, sie müßte für ihre Räume in Santo
Amaro zuviel bezahlen. (Jeder Bereich ist - basierend auf seiner jeweiligen Fläche - an den Gebäudekosten beteiligt, einschließlich
der Kosten für Sicherheit, Reinigung, Strom, Wasser und Versicherung.) Also beschlossen die Leiter dieser Einheit, die
Textilmaschinen importiert, irgendwo ins Geschäftsviertel von Sao Paulo überzusiedeln. Sie haben mir kein Wort davon gesagt, und
ich weiß noch immer nicht genau, wo sie jetzt sind. Es spielt auch keine Rolle. Ich schicke ihnen ein Fax, wenn ich mit ihnen reden
muß. Und sie faxen zurück.
Auch wenn wir Semco auf die Kernbereiche Vertrieb, Technik, Konstruktion, Materialwirtschaft, Einkauf und Montage
zurückgeschrumpft haben, geht es in unserem Werk wie eh und je lebhaft zu. In Santo Amaro drängen sich ständig unsere
ehemaligen Mitarbeiter, die uns Software, Steuerberatung, Buchprüfungen, Kugellager, geschweißte Komponenten sowie
Schneidemaschinen und Waagen verkaufen, die wir dann unter unserem Namen Weiterverkäufen. Hunderte von Menschen laufen
bei uns herum, und mit vielen von ihnen habe ich jahrelang zusammengearbeitet, während ich bei ein paar Leuten keine Ahnung
habe, wer sie sind. Sie können unsere Schreibtische und Telefone und Computer benützen und ihre Autos auf unserem Parkplatz
parken.
Als einige der Berater, deren Rat wir uns von Zeit zu Zeit im Hinblick auf unsere Strategie, das Verhalten des Unternehmens
und unser Marketing einholen, erfuhren, daß wir konsolidieren wollten, empfahlen sie uns, gleichzeitig auch unsere Produktpalette
zu verkleinern. Wir sollten nur die Waren und Dienstleistungen behalten, die Geld einbrachten, erklärten sie - also die
Schiffszubehörteile und -pumpen, die Großgeschirrspülanlagen, Nahrungsmittel- und Ge-

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tränkekühlanlagen, die spezialisierten Backmaschinen, die High-Tech-Mischmaschinen sowie unser Team für Öko-Technik und -
Beratung. Eliminieren hingegen sollten wir schwächere Produkte wie Schneidemaschinen, Waagen, Kartoffelschälmaschinen und
Fleischwölfe von Hobart sowie Ölfilter und Klimaanlagenzubehör. Aber wir waren der Meinung, daß dies noch immer gute
Produkte seien - daß wir sie bloß nicht zu konkurrenzfähigen Preisen hersteilen konnten. Hier liegt jedoch die Chance für unsere
Satelliten-Firmen mit ihren von Natur aus geringeren Fixkosten. Wir nehmen ihre Produkte - teils verkaufsfertig, teils in Teilen, für
die noch eine Endmontage erforderlich ist -, versehen sie mit unserem Markennamen und vermarkten sie über unseren
Außendienst, mit einer komfortablen Handelsspanne.
Die Konsolidierung hat auch unsere Fähigkeit zur Innovation verbessert. Wir führen noch immer die Endmontage bei den
meisten unserer Produkte aus, und hier nimmt man am ehesten die Probleme und Möglichkeiten in einem Produktionsverfahren
wahr. Und wir steuern noch immer die wichtige Wechselbeziehung zwischen Technik und Montage. Wir können jederzeit von
Walzblech auf Keramik oder von rostfreiem Stahl auf Kunststoff umsteigen, und wegen irgendeiner Umstellung werden bei uns
keine Maschinen veralten.
So hatten wir beispielsweise 20 Jahre lang einen Pigmentmischer für Farbenfabriken gebaut, der aus einer großen Stahlplatte
mit Zähnen bestand. Unsere Konkurrenz stellte auf Mischer aus Keramikmaterial um, das nicht rostete und viel billiger war - aber
wir dachten gar nicht daran, eine derartige Umstellung vorzunehmen, weil uns die Maschine gehörte, welche die Stahlmischplatte
herstellte. Sobald wir sie einer Satellitenfirma leasten, konnten auch wir uns die Umstellung auf Keramik leisten. (Zyniker könnten
uns nun vorwerfen, wir würden veraltete Maschinen an unsere neuen Zulieferer abstoßen. Aber die meisten Maschinen sind ja nicht
veraltet. Und man darf auch nicht vergessen, daß wir sie zu Sonderpreisen abgegeben haben.)
Die Konsolidierung kostete Semco über zwei Millionen Dollar. Zusammen mit einem Verlust von über vier Millionen Dollar aus
stornierten Werftaufträgen, sollte das eigentlich ausgereicht haben, uns zur leichten Beute der Banken zu machen. Die
brasilianische Wirt-

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schaftskrise hat zahlreichen guten Unternehmen den Garaus gemacht - jeden Monat gingen durchschnittlich 800 pleite. Semco
überlebte nicht nur, sondern erwirtschaftete auch die gewaltigen Kosten für Werksschließungen, Arbeitsplatzeinsparungen und
Umstellungen, ohne neue Kredite aufnehmen zu müssen. In den schlimmsten Jahren schlossen wir mit plus-minus Null ab, und in
mittelmäßigen Jahren schrieben wir schwarze Zahlen. Unsere Mitarbeiter, die 1980 jeweils Waren im Wert von durchschnittlich
10800 Dollar pro Jahr produzierten, kommen nun auf einen Warenwert von 92 000 Dollar pro Jahr (inflationsbereinigt!), und das
ist viermal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Und im Maßstab dieses Wertzuwachses stieg die Produktivität um das
Sechseinhalbfache. Das Absatzvolumen nahm von vier Millionen Dollar auf rund 20 Millionen Dollar pro Jahr zu, und das mit
einem Drittel der Belegschaft. Gut, von unserem Spitzenwert von 35 Millionen Dollar im Jahre 1987 (bei 830 Mitarbeitern) sind wir
weit entfernt, aber das ist noch immer eine verdammt gute Wachstumsrate für eine derart miserable Volkswirtschaft wie die
Brasiliens. Ja, Ende 1992 hatten wir für sechs Monate Betriebskapital in der Kasse, ohne einen einzigen fälligen Bankkredit. (Violi
besaß eine Liste mit fast einem Dutzend Bankdirektoren, die um einen Termin baten, um uns zu überreden, diese Situation zu
ändern.) Wir bezahlten unsere Zulieferer im voraus und hatten die Reallöhne unserer Leute um über sieben Prozent erhöht - über
der Inflationsrate. Darüber hinaus erhielten fast all unsere Koordinatoren 1992 fette Prämien, und wir hatten zwei neue
Geschäftsbereiche eröffnet: einen Fabrikwartungsdienst und einen Abfallbeseitigungsund Recycling-Betrieb für Büros, zu dem auch
Containersysteme für jede Etage gehören, in denen Glas, Papier und Plastik getrennt gesammelt und dann automatisch recycelt
werden.
Wir hätten es kommen sehen sollen, meinen Sie? Wir sahen es kommen. Jedenfalls einige von uns.
Drei Jahre bevor Brasiliens Wirtschaft zusammenbrach und Semco sein Satelliten-Programm startete und dann konsolidierte,
hielten wir einen Wochenend-Workshop für 40 von unseren Spitzenmanagern ab. Das war eine typische Laura de Barros-
Veranstaltung: Das Licht war gedämpft, und im Hintergrund erklang Debussys »La

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Mer«. Alle sollten sich auf den Boden legen, sich entspannen und alle Alltagssorgen hinter sich lassen. Ich war überrascht, wie sogar
hartgesottene Ingenieure sich fallenließen, die Schuhe abstreiften und alle viere von sich streckten. Ich hätte es wissen müssen -
man durfte Laura nicht unterschätzen.
Die Schlüsselübung bestand darin, eine »Vision« von der Zukunft des Unternehmens zu entwickeln. Jeder Teilnehmer wurde
aufgefordert, sich Semco im Jahre 2010 vorzustellen. Wie würde das Werk aussehen? Wie viele Menschen würden darin arbeiten?
Und so weiter und so fort.
Die Manager dachten darüber nach, und als die Lichter wieder angingen, schrieben sie ihre jeweiligen Voraussagen auf. Dann
wurden sie aufgefordert, sich mit einem Kollegen auszutauschen und ihrer beider Visionen zu einem einzigen Bild zu vereinen. Ich
wanderte im Raum herum und schnappte einzelne Gesprächsfetzen auf.
»Ich sehe, wie ich mit einem Zug zur Arbeit fahre, in dem es Faxgeräte und Computerterminals gibt«, meinte ein Mann,
während sein Partner das Gesicht verzog.
»Mein Büro ist voller Grün - es sieht aus wie in einem Regenwald«, sagte ein anderer.
»Der Fabrikboden ist blitzblank wie ein Ballsaal«, schwärmte ein Dritter, »und die Fließbandarbeiter haben alle strahlendweiße
Overalls an.«
Dann taten sich die Managerpaare mit einem anderen Paar zusammen und wiederholten den Vorgang der Vereinigung ihrer
Visionen zu einer einzigen. Dann trafen sich die vier mit weiteren vier Managern und so weiter - bis alle verrückten Ideen ausgesiebt
waren und nur noch eine kollektive, ganzheitliche Vision von dem übrigblieb, was unsere Topmanager für die Zukunft von Semco
hielten.
Und worin bestand diese Vision?
Wir hatten erwartet, daß unsere Manager aufgrund unseres jährlichen Wachstums von 40 oder sogar 50 Prozent Mitte der
achtziger Jahre ein Bild von Semco entwerfen würden, in dem das Unternehmen im Jahre 2010 vielleicht 15 000 Mitarbeiter hätte.
Aber sie stellten sich eine Firma vor, die nicht viel größer war als die gegenwärtige - allerdings mit wesentlich höherer Qualität
unserer Produkte und mit viel größerer Lebensqualität unserer Mitarbeiter. Unsere Leute

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wollten also kein größeres, sondern ein besseres Unternehmen. Ein Unternehmen, in dem die Menschen zu Hause arbeiten
konnten, befreit von konventionellen Strukturen und Abläufen. Ein Unternehmen, indem es soviel Bewegung in der Belegschaft
gab, daß nicht immer klar war, wer nun gerade Mitarbeiter war und wer nicht. Unsere Manager waren dagegen, daß unser
Unternehmen die Umwelt verschmutzte, und sie wollten, daß unsere Fabriken so sicher waren, daß sie ihre Kinder zur Arbeit
mitbringen konnten.
Irgendwie ist diese Vision einer kleineren, beweglicheren, flexibleren, weniger klar definierten Firma großenteils bereits
umgesetzt worden. Wir sind nicht länger Opfer unseres jugendlichen Drangs, mehr Leute, mehr Werke, mehr Produkte, mehr
Umsatz haben zu wollen. Wir sind über den verlockenden Wahn des Wachstums hinausgewachsen, auch wenn wir dafür einen
gewissen Preis zahlen mußten - Geld, Zeit und unsere Gesundheit.
Wachsen zu wollen, weil man einfach groß sein möchte, ist eine Vorstellung, die man im Sandkastenalter hat. Gewiß, eine
bestimmte Größe ist nahezu für jedes Unternehmen notwendig. Sie gestattet eine Diversifikation der Produkte und Märkte, die
einer Firma am ehesten das Überleben garantiert. Sie schafft zusätzliche Möglichkeiten für die Mitarbeiter und verbessert die
Motivation und die Produktivität, da sie für Veränderung im gesamten Unternehmen sorgt.
Aber Vorsicht: Wachstumschancen ergeben sich immer wieder plötzlich - doch man sollte mit ihnen so umsichtig verfahren wie
Odysseus mit den Sirenen, oder wie es der Hexenmeister dem Zauberlehrling empfahl. Beim Wachstum ist viel mehr Egomanie und
Habgier im Spiel als strategisches Denken. Am Anfang haben wir bei Semco eine Politik der Unternehmensakquisition verfolgt, weil
unser eigenes Potential großenteils erschöpft war. Wir nahmen über 100 Firmen unter die Lupe, verhandelten mit 15 und kauften
dann vier. Ich kann mit drei Sätzen die Hunderte von Stunden und die Millionen von Dollar zusammenfassen, die wir dabei
investiert haben:
Wachstum durch Akquisition ist aufregend, glanzvoll und führt zu Magengesch würen.
Das Unternehmen, das Sie kaufen, ist dem Unternehmen, das Sie

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zu kaufen glaubten, nicht sehr ähnlich und nie so, wie man es Ihnen weisgemacht hat.
Der Kauf eines kleinen Familienunternehmens ist eine sichere Methode, das Stadium der Magengeschwüre zu überspringen
und sich gleich einer Bypaßoperation unterziehen zu müssen.
Wir dagegen haben uns Tochterunternehmen von Multis einverleibt, die - Gott sei Dank - meistens zu ihren Verpflichtungen stehen.
Sie haben normalerweise korrekte Bücher, anders als Familienfirmen, wo die Keller üblicherweise voller Leichen sind. Aber ganz
gleich, welches Unternehmen Sie kaufen wollen: Seien sie bereit, es zu beobachten und von ihm zu lernen, und zwar mindestens ein
Jahr lang, ehe Sie sich in die Nesseln setzen.
Die meisten unserer Neuerwerbungen haben sich schließlich gelohnt. Aber inzwischen haben wir uns bewußt dafür entschieden,
mit dem Wachsen aufzuhören. Unsere Leute wollen überzeugt sein, daß die Produkte, die sie hersteilen, auch notwendig sind, und
sie wollen sie gern herstellen. Sie wollen am Ende ihres Berufslebens das Gefühl haben, etwas geleistet zu haben.
Die Vision, die unsere Manager mit uns gemeinsam hatten, war zunächst eine Überraschung, aber sie vermittelte uns das
Selbstvertrauen, das wir zur Konsolidierung benötigten. Einfach einen Bruttoumsatz von 40, 50,100 oder gar 200 Millionen Dollar
zu machen sagt noch gar nichts. Wenn man unbedingt ein Risiko eingehen will, dann erreicht man das leichter, indem man Umsatz
macht, als wenn man jene Art von Unternehmen aufbaut, wie sie unseren Managern vorschwebte. Wir expandieren auch heute
noch. Erinnern Sie sich an die 1400 Bewerbungen, von denen ich Ihnen erzählt habe, die wir erhielten, als wir mit einer Anzeige
Ingenieure als Mitarbeiter (Kollegen) suchten? Wir gehen davon aus, daß wir in den kommenden Monaten mit über 150 dieser
Bewerber Verträge unterzeichnen werden. Aber die meisten werden keine festangestellten Mitarbeiter sein, sondern tatsächlich
unsere Partner. In ähnlicher Weise werden wir unseren Außendienst durch unser Netz von Satellitenfirmen,
Beratungsunternehmen und Partnerschaften ausbauen.
Ich habe erleben können, wie zahllose Unternehmen ungeheuer gewachsen sind und dann wie ein Komet verglühten. Solche
Ange-

---OP 320---

bote, wie man sie angeblich nur einmal im Leben bekommt, werden einem doch die ganze Zeit gemacht, nicht wahr? Immer wenn
ich ein verlockendes Geschäft machen kann, muß ich an das denken, was Ray Krinker von Price Waterhouse zu sagen pflegte:
»Auch ein kleines Loch genügt, damit ein großes Schiff sinkt.«

---OP 321---

Kapitel 34: Wer braucht schon eine Nummer eins?

Die meisten Unternehmen, selbst konventionelle Firmen mit einer Pyramidenstruktur, praktizieren zumindest eine gewisse Form
der beratenden Demokratie - das heißt, die leitenden Mitarbeiter in Schlüsselpositionen können offen ihre Meinung äußern, wenn
auch nur untereinander, ehe der Vorstandsvorsitzende die letzte Entscheidung trifft.
Das ist immer noch besser als unter Stalin, denn der hat überhaupt nicht zugehört. Aber es ist doch weit von echter Demokratie
entfernt, in der alle Mitarbeiter - nicht nur die Manager - ein Mitspracherecht bei unternehmerischen Entscheidungen haben.
Warum glauben eigentlich so viele Unternehmen, es sei notwendig oder gar wünschenswert, daß nur eine einzige Person das
letzte Wort hat? Ich nehme an, sie denken, daß wäre effizienter. Aber Macht, die sich in einer Person konzentriert, ist eine höchst
riskante Angelegenheit. Henry Ford mag vielleicht als Pionier des Automobilbaus gelten (obwohl auch andere Unternehmen Autos
herstellten, wenn auch in kleinerem Maßstab), aber er war eben auch ein starrsinniger Diktator, der letztlich Tausende von
Arbeitern entlassen mußte, weil er irrtümlicherweise am T-Modell festhielt, obwohl es dafür längst keinen Markt mehr gab. Alfred
Sloan von General Motors ist vielleicht einer der fähigsten Organisatoren in der Industrie gewesen, aber er war eben auch ein
kurzsichtiger Strukturalist, als er ein Unternehmen schuf, das schließlich so unflexibel war, daß es nicht auf die Bedrohung durch
die wirtschaftlichen Autos aus Japan zu reagieren vermochte.
Wie Stalin wußten auch Ford und Sloan, wie gut man sich dabei fühlt, wenn man absolute Macht ausübt. Aber ist es wirklich so
gut für ein Unternehmen und seine Mitarbeiter, wenn ein einzelner star-

---OP 322---

ker Mann tun und lassen kann, was ihm beliebt; wenn sich alle ständig an seinen Gewohnheiten ausrichten müssen; und wenn
keine stabilen Verhältnisse herrschen, sobald die Bestellung eines Nachfolgers unausweichlich geworden ist?
Nichts ist so schwer wie Demokratie, sage ich immer. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt eine unternehmerische
Entscheidung allein getroffen habe, oder wie oft ich schon überstimmt worden bin. Aber ich beiße mir gern auf die Lippen, wenn ich
mit einem Mehrheitsbeschluß nicht übereinstimme, denn ich glaube, daß uneingeschränkte Demokratie wichtiger (und sogar
langfristig rentabler) ist, als wenn ich mich gegenüber unseren Managern auf eine Weise durchsetzen würde wie einst gegenüber
meinen Spielkameraden, als unsere Welt noch so groß wie der Sandkasten war.
Es ist noch ein weiterer Vorteil damit verbunden, eine demokratisch denkende Nummer eins zu haben: die Nummern zwei,
drei, vier und fünf können sofort eine wichtige Rolle spielen. Zu viele Vizepräsidenten in traditionellen Unternehmen haben das
Gefühl, nur unter ferner liefen zu rangieren: Wenn sie nicht mehr aufsteigen können, müssen sie gehen. Auf diese Weise gehen
ungeheuer viele fähige Köpfe verloren.
Als mir dies durch den Kopf ging, nachdem Semco so umstrukturiert worden war, daß das Unternehmen dem Auf und Ab der
Wirtschaft nicht mehr so wehrlos ausgeliefert war, erkannte ich, daß es Zeit war, praktisch eine weitere Ebene unserer Hierarchie zu
beseitigen: meine eigene.
Statt von einer Person an der Spitze sollte Semco fortan kollegial von einer Art Aufsichtsrat geleitet werden. Dieses Komitee war
meiner Meinung nach ein besonders wohlausgewogenes Team: Clovis, eine Vaterfigur, die mein Denken geprägt hat; Vendramin,
ein Wirtschaftswissenschaftler, Industriemanager, Ingenieur und vor allem ein nachdenklicher Mann, der sich für alles Zeit nimmt;
Batoni, der immer darauf drängt, daß etwas bei einer Sache herauskommt, und der viel weniger nachsichtig gegenüber anderen
Menschen ist als Clovis oder Vendramin; Violi, der ein hochgradiges Finanzgenie ist und mit beiden Beinen fest auf dem Boden
steht; und Jose Alignani, ein fähiger Ingenieur und natürlicher Führer. Altersmäßig liegen sie zwischen Anfang Vierzig und Mitte
Fünfzig.

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Jeder von ihnen besitzt auch einen Anteil von einem Prozent am Unternehmen und bekommt am Jahresende eine Dividende.
Das sollte nicht bloß ein Zeichen von Dankbarkeit sein. Ich wollte in unseren Spitzenleuten den unternehmerischen Geist des
Kapitalismus fördern und entschied mich für ein Prozent, weil dieser Anteil am Unternehmen groß genug ist, um jedem dieser
leitenden Mitarbeiter etwas zu bedeuten, und weil ihre fünf Prozent zusammen auch einen wichtigen Block bilden.
Während ihrer Dienstagskonferenz diskutieren und verabschieden die Ratsmitglieder alle wichtigen betrieblichen und
strategischen Entscheidungen - also all jene, die noch nicht von Kollegen oder Koordinatoren getroffen oder bei den
Montagsbesprechungen in jeder Unternehmenseinheit beschlossen worden sind. Zuweilen haben die Ratsmitglieder herzlich wenig
zu tun. Und dann wieder hat man den Eindruck, als ob alle andern beschlossen hätten, keine Beschlüsse zu fassen.
Alle sechs Monate ist ein anderes Ratsmitglied an der Reihe, als amtierender Geschäftsführer die Aktivitäten der Partner und
ihrer Unternehmenseinheiten zu koordinieren, das Unternehmen in rechtlichen Angelegenheiten zu vertreten und sich gelegentlich
mit Kunden zusammenzusetzen, die unbedingt mit dem obersten Boß sprechen wollen. Durch dieses System wird das übertrieben
kollektive Denken vermieden, das für Behörden so typisch ist, und jedes Ratsmitglied hat so die Chance, dem Unternehmen einmal
seinen Stempel aufzudrücken (auch wenn die Amtszeit so kurz ist, daß dieser Stempel nicht unauslöschlich ist).
Seither bin ich also nur noch ein ganz normales Ratsmitglied. Aber an meinem Job hat sich nichts geändert - ich versuche,
Dinge geschehen zu lassen, wie ein Katalysator. Ich versuche, das, woran ich glaube, den andern nahezubringen. Ich steige ein,
wenn ich denke, etwas Gutes tun zu können, und ich steige aus, wenn ich es leid bin, mich mit einem Thema weiter zu befassen,
oder wenn die anderen Ratsmitglieder es leid sind, sich weiter mit mir zu befassen. Ich nehme an ihren Dienstagskonferenzen nur
teil, wenn ich dazu eingeladen bin, was etwa alle zwei oder drei Wochen der Fall ist. Ansonsten bleiben sie unter sich. Ich würde
vermutlich zu mehr Konferenzen gebeten werden, wenn ich nicht die Angewohnheit hätte, mit al-

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len möglichen verrückten Ideen um mich zu werfen. Ich neige auch zu impulsiven Entschlüssen, die das System nur
durcheinanderbringen. Wenn ich zu aufmüpfig werde, schirmen sie mich einfach vom übrigen Unternehmen ab. Wie Mafiosi
sprechen sie nie allein mit mir über neue Entwicklungen, sondern nur, wenn einer der andern dabei ist.
Mir soll das nur recht sein. Auf die Gefahr hin, für unbescheiden gehalten zu werden: Ich habe mir Sorgen darüber gemacht,
daß ich einen übertriebenen Einfluß auf Semco ausüben würde. Es ist wichtig, daß niemand glaubt, das Unternehmen würde nur
weiterexistieren, solange ich da bin.
Und wenn sie eine Entscheidung treffen, die mir nicht gefällt? Ich würde sagen, daß ich in mindestens 20 Prozent aller Fälle
nicht ihrer Meinung bin. Vielleicht sogar in 30 Prozent. Das gilt auch für einige wichtige Entscheidungen in den letzten ein, zwei
Jahren. 1991 beispielsweise schrieben wir schwarze Zahlen - trotz des schlechtesten Jahres aller Zeiten für die Maschinenhersteller,
wie es das größte Wirtschaftsmagazin von Brasilien nannte. Kurz bevor unsere Abschlußbilanz zur Veröffentlichung in den
Zeitungen freigegeben wurde, rief mich Violi an und sagte mir, daß infolge einer bereinigten Debitorenrechnung aus dem
nominellen Gewinn ein Verlust von 90 000 Dollar entstehen würde. »Ich finde es so albern, einen Verlust mitzuteilen wenn es sich
um eine so lächerlich geringe Summe handelt«, sagte ich zu Violi.
»Aber auch der Gewinn wäre nur gering gewesen«, gab er zurück.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich ein wenig verärgert. »Aber das sind doch verschiedene Kategorien. Ein Verlust ist ein Verlust,
und ein Gewinn ist ein Gewinn.« Als ich das so sagte, merkte ich, daß es sich wie »eine Mutter ist immer eine Mutter« anhörte.
Die Dienstagskonferenz war am nächsten Tag, und der Jahresbericht sollte am Tag darauf fertig sein. Clovis fragte mich, ob ich
an der Konferenz teilnehmen wolle, bei der eine endgültige Entscheidung getroffen würde.
»Wolltest du mich sowieso einladen oder nur wegen der Bilanz?« fragte ich ihn.
»Nun, wegen etwas anderem hätten wir dich nicht angerufen«, gab er zu.

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»Dann haltet die Konferenz ohne mich ab. Ich faxe euch allen eine Aktennotiz von zu Hause, in der ich euch meine Meinung
wissen lasse.«
In dieser Aktennotiz stellte ich fest, daß es eine Reihe von Berichtigungen gäbe, die sowohl die Werftrechnungen beträfen wie
eine Importzahlung, die wir nach Meinung unserer Betriebsprüfer entweder in diesen oder den nächsten Jahresetat einbeziehen
könnten. Ich sähe nicht ein, warum wir nicht eine dieser absolut legalen Berichtigungen jetzt verwenden sollten, um den
geringfügigen Verlust auszugleichen und wieder einen Gewinn auszuweisen. Schließlich würde sich ein Gewinn in einem derart
trostlosen Jahr auch gut für die Geier in der Geschäftswelt machen, die ständig über unseren Köpfen schwebten und nur darauf
warteten, daß Semco sich einen Fehler leistete. Ich erinnerte meine Partner daran, wie wir einmal beim Schiffszubehörwerk 60
Arbeiter vorübergehend entlassen hätten und uns anschließend von den Zeitungen hätten vorwerfen lassen müssen, »1500
Mitarbeiter an einem einzigen Blutnachmittag« gefeuert zu haben. Auch noch so viele Pressemitteilungen hätten den dadurch
entstandenen Schaden nicht wiedergutmachen können. Also, erklärte ich meinen Kollegen, sollten wir uns wegen so einer Bagatelle
nicht selbst in Schwierigkeiten bringen.
Ich schickte das Fax ab, überzeugt, daß meine Argumente sie überzeugen würden. Sie hielten ihre Konferenz ab und sprachen
sich dafür aus, den Verlust von 90000 Dollar im Bericht stehen zu lassen. Sie hätten bereits unsere Mitarbeiter davon in Kenntnis
gesetzt, argumentierten sie, und wenn sie nun etwas anderes veröffentlichten, riskierten sie, daß es so aussähe, als wollten sie die
Bücher frisieren.
Violi rief mich an und unterrichtete mich. Er sagte, die Partner würden sich gern mit mir treffen, um mir ihre Entscheidung zu
erklären. Ich fragte ihn, ob sie meine Argumente berücksichtigt hätten, und er versicherte mir, das hätten sie getan. Das tat mir gut.
Und als die Partner mich baten, die erläuternden Vorbemerkungen zur Bilanz für den Jahresbericht zu schreiben, war ich gern dazu
bereit - und dann erklärte ich in meinem Kommentar, warum wir beschlossen hätten, den geringen Verlust auszuweisen.
Da gab es keinen Groll, keine Verstimmung - es war ein Tag wie jeder andere in einem demokratischen Unternehmen.

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Ich bin sicher, daß es den meisten Vorstandsvorsitzenden oder Generaldirektoren - abgesehen vom Geld und allen möglichen
Vergünstigungen - durchaus Spaß macht, ein Unternehmen zu leiten: sich Strategien und Produkte auszudenken, mit Zahlen
herumzujonglieren, Risiken einzugehen, das Leben anderer Menschen zu manipulieren. Man kommt sich wie ein Fünfsternegeneral
vor.
Wenn ich jeden Tag um sieben zur Arbeit gehen und mein Büro erst um Mitternacht wieder verlassen wollte, hätte ich mit
Sicherheit genug zu tun - so wie vor meinem Abstecher zur Lahey-Klinik. Die meisten Vorstandsvorsitzenden behaupten zwar, 70
oder 80 Prozent ihres Jobs würden ihnen Spaß machen, doch ich habe den Verdacht, etwa 30 Prozent würden der Wahrheit schon
näherkommen. Denn es gibt ja so viele Konferenzen, Telefongespräche, langweilige Mittagessen, bürokratischen Ärger.
Genau diesen Anteil meiner Zeit verwende ich jedenfalls heute für Semco: 30 Prozent. Ich möchte meinen, daß es jene
erfreulichen 30 Prozent sind, da ich kaum etwas tue, was mir keinen Spaß macht. Ich nehme höchstens an zwei oder drei
Geschäftsessen im Jahr teil, verlasse mein Büro (im Werk oder zu Hause) nie später als 18 Uhr und beantworte weniger als fünf der
20 oder 30 Anrufe, die ich jeden Tag bekomme.
Die übrigen Telefonate sowie den größten Teil meiner Post erledige ich mit handschriftlichen Notizen per Fax von zu Hause. Als
ich zum erstenmal damit begann, einen halben Tag pro Woche zu Hause zu arbeiten, stellte ich mir vor, jeder würde glauben, das
wäre nur eine Ausrede für den Sohn des Bosses, um am Swimmingpool faulenzen zu können. Ich versuchte gar nicht erst, diesen
Verdacht zu zerstreuen; und wer bei mir vorbeikam, um ein Schriftstück abzuholen, traf mich in Shorts an. Aber angesichts des
Dokumentenstroms aus meinem Haus war schon bald allen klar, daß ich tatsächlich zu Hause arbeitete, und zwar ziemlich effizient.
Heute arbeite ich dort an drei bis fünf Vormittagen pro Woche.
Manchmal reicht es, daß ich bloß meine Nase in irgendeine Angelegenheit stecke, um mir gleich ein halbes Dutzend Anrufe,
Faxe und Aktennotizen aufzuhalsen. Darum versuche ich möglichst, allem aus dem Weg zu gehen, es sei denn, ich bin der einzige,
der mit einem Problem zurechtkommt. Ich hasse es, wenn ich mich unentbehrlich

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mache und mich dann nicht zurückziehen kann. Ich bin stolz darauf, sagen zu können, daß ich nicht mehr weiß, wie ein Semco-
Scheck aussieht. Seit fast acht Jahren habe ich keinen mehr unterschrieben.
In Wahrheit braucht mich das Unternehmen im täglichen Routinebetrieb gar nicht mehr. Und die Ideen, auf denen Semco
basiert, stammen auch gar nicht von mir. Sie sind ein Ergebnis der Unternehmenskultur, und dazu gehört jeder bei Semco. Ich habe
eigentlich gar nichts gegen den Kapitalismus - trotz allem, was meine Kritiker immer wieder behaupten. Ich liebe meine Semco-
Anteile. Aber es ist wirklich nicht mehr mein Unternehmen. Ich bin nicht Semco. Semco ist Semco.
Ich bin sogar so weit gegangen, dafür zu sorgen, daß sich diese Trennung auch auf die nächste Generation erstreckt. Ich halte
dieses Unternehmen für zu kostbar, als daß ich das Risiko eingehen möchte, daß eines meiner Kinder oder Enkelkinder es schlecht
leitet. Und überhaupt glaube ich langfristig nicht an Familienunternehmen. Familienunternehmen haben größere Mühe, begabte
und ehrgeizige Fachkräfte anzuziehen - die wissen nämlich ganz genau, daß sie hier zumindest nicht mit einer geradlinigen
persönlichen Weiterentwicklung rechnen können. Ja, wer sich einmal die Mühe macht herauszufinden, wie viele
Familienunternehmen prozentual gesehen vier oder fünf Generationen überdauert haben, wird seinem Sohn oder einer Tochter
schnell nahelegen, lieber Medizin zu studieren. Daher wird meinen Kinder bei Semco keine Stelle garantiert zur Verfügung stehen.
Ich weiß schon, was Sie nun denken: Das sagen alle Firmeninhaber. Aber ich meine es wirklich so. Ich habe bereits dafür gesorgt,
daß keiner meiner Nachkommen eingestellt oder befördert wird ohne die Zustimmung von drei Vierteln des Semco-Vorstands.
Daran wird selbst mein Tod nichts ändern, da dann meine Semco-Anteile an die Stiftung fallen, die Irene Tubertini mit ins
Leben gerufen hat und die von einem weiteren Vorstand geleitet werden soll, dessen 21 Mitglieder sich aus Mitarbeitern und
Außenstehenden zusammensetzen - aber Familienangehörige sind nicht dabei. Dank derartiger Mechanismen wird Semco
schließlich einmal seine eigene Persönlichkeit haben und völlig unabhängig sein von irgendwelchen Semlers.

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Wenn ich über den traditionellen Generaldirektor nachdenke, muß ich oft an meinen Vater denken. Und dabei fällt mir immer ein
Vers aus einem Song von James Taylor ein: »Sich zu freuen, wie die Zeit vergeht, ist das Geheimnis des Lebens. « Die meisten
Menschen leben entweder in ihren Erinnerungen an die Vergangenheit oder in ihren Hoffnungen auf die Zukunft. Nur wenige leben
in der Gegenwart.
Ich wollte immer, daß mein Vater etwas von dem Geld hätte, das er verdiente. Er ist nie so weit gekommen - er hat sich immer
nur Sorgen gemacht. Gegen Ende seines Lebens, nachdem er wußte, daß er Krebs hatte, ging er nach der Strahlenbehandlung gern
durch den Park, und dann sagte er meiner Mutter, früher hätte er die Blumen und Enten eigentlich nie richtig bemerkt. Er mußte
erst 73 Jahre alt werden und eine unheilbare Krankheit haben, ehe er all die faszinierenden kleinen Dinge des Lebens wahrnahm.
Als ich noch ein Junge war, fuhr mein Vater mit uns am Ende eines jeden Jahres für längere Zeit nach Europa. Für ihn war das
einerseits ein Skiurlaub, andererseits eine Geschäftsreise. Ich weiß noch, wie wir immer im Hotelrestaurant zu Abend aßen. Dort
befand sich an der Wand eine Anzeigetafel, auf der bei einem Anruf die entsprechende Zimmernummer aufleuchtete. Unsere
erschien ständig. Wenn es in Europa acht Uhr abends war, war es in Brasilien erst vier Uhr nachmittags, und dann riefen ihn seine
Leute bei Semco an, einer nach dem andern, um mit ihm über die Krise des Tages zu sprechen. Sie wälzten alles auf ihn ab, weil er
ihnen klargemacht hatte, daß er einfach alles wissen wollte. Auch wenn er noch so weit weg war vom Büro, konnte er es im Grunde
doch nie verlassen.
Als er sich 1985 auf einem Schiff vor der italienischen Küste befand, bekam er einen Schlaganfall, der durch seinen Leberkrebs
ausgelöst worden war. Zum erstenmal unternahm er eine lange Kreuzfahrt. Er glaubte, endlich einmal so weit weg vom Geschäft zu
sein, daß er für eine Zeitlang nicht erreichbar wäre.
Wenn ich so zurückschaue, denke ich, daß ich mich schon früher von Semco hätte zurückziehen sollen. Aber für den Inhaber ist
ein Unternehmen wie ein halbwüchsiges Kind. Man möchte, daß es erwachsen wird und sich selbständig in der Welt zurechtfindet,
aber dann liegt man die ganze Nacht wach und macht sich Sorgen, ob es nicht den Wagen zu Schrott fährt.

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Zugegeben: Ich mache mir noch immer ein wenig Sorgen, wenn ich für längere Zeit weg bin. In Brasilien kann sich vieles so
schnell ändern, und normalerweise verheißt das nichts Gutes. Aber immer waren meine Ängste unbegründet, und ich habe mir
große Mühe gegeben, sie zu unterdrücken. Beharrlichkeit ist nur dann eine Tugend, wenn sie in die richtige Richtung zielt.
Und was mache ich mit den anderen 70 Prozent meiner Zeit, wenn ich nicht bei Semco arbeite? Ich schreibe jeden Sonntag eine
Kolumne für eine Wochenzeitung mit 1,1 Millionen Lesern. Ich spreche über Semco mit Unternehmen und Geschäftsleuten in aller
Welt. Ich interessiere mich für Politik und bin Mitglied im Vorstand einer großen Partei, der Partido da Social Democracia
Brasileira. Ich sehe mir mindestens drei Filme pro Woche an, sammle Platten von Beniamino Gigli, Billie Holliday, Philip Glass und
Schostakowitsch und nehme Klavier-, Golf-, Chinesisch- und Kochunterricht. Ich lese außerdem 50 Bücher im Jahr, überwiegend
historische Werke über Kriege und Weltreiche. Aus Jahrhunderten voller Fehlschläge und Erfolge kann man eine Menge lernen. Für
wenig Geld kann man erklärt bekommen, wie Napoleon den Tod von Tausenden von Menschen hätte vermeiden können. Für etwas
mehr als den Preis eines Big Mac erfährt man von den Fehlern der Tokugawa-Shoguns, die ihr Lager bei Nara unbewacht gelassen
hatten. Für etwas weniger als den Gegenwert einer Tankfüllung Benzin kann man herausfinden, warum Winston Churchill, der
Held des Zweiten Weltkriegs, kurz danach eine Wahlniederlage erlebte. Noch viel billiger sind die vier Zeitungen, die ich jeden Tag
lese. Ich halte mich allerdings nicht lange bei der ersten Seite auf. Hier sind die Ursachen großer Kriege, die frühen Signale eines
Börsenkrachs und die Ankündigung innovativer Techniken nicht zu finden, jedenfalls nicht von Anfang an. Oft sind die wichtigsten
Nachrichten im Innern versteckt.
Dann habe ich noch diese Liste mit meinen Zielen. Vor etwa 15 Jahren bin ich zufällig an eine Fernsehsendung geraten, die, wie
man so schön sagt, mein Leben verändert hat. Es handelte sich um ein Interview mit einem 61jährigen Amerikaner namens John
Goddard. Ich habe nie herausgefunden, wer er war, und seither auch nie wieder seinen Namen gehört. Dieser Goddard also hatte
eine Liste von über 100 Zielen aufgestellt und sich vorgenommen, sie auch zu errei-

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chen. Damals hatte er nur noch 19 nicht erreicht - unter anderem wollte er auf dem Mond landen und das Jahr 2000 erleben. Er
hatte schon ein Flugzeug mit Schallgeschwindigkeit geflogen, ein U-Boot gesteuert, den Nil abwärts mit einem Kanu befahren, den
Kongo in voller Länge geschafft und den Aconcagua in den chilenischen Anden bestiegen.
Ich kam zu dem Schuß, wenn es bei ihm funktioniert hatte, dann würde es auch bei mir funktionieren, wenn auch vielleicht in
einem weniger ehrgeizigen Maße. Ich nahm mir 16 Ziele vor, und inzwischen habe ich etwa die Hälfte erreicht. Ich glaube, daß ich
aus Semco den gefragtesten Arbeitsplatz geschaffen habe, den ich kenne. Ich habe eine Stiftung ins Leben gerufen, damit auch arme
Brasilianer eine Chance haben. Ich habe den Weg zu meinem Ziel, sechs Sprachen fließend sprechen zu können, bereits zu fünf
Sechsteln zurückgelegt.
Und wie Goddard bin ich ständig unterwegs, und immer mit offenen Augen. Mit Schaudern denke ich noch an diese
fürchterlichen Reisen Anfang der achtziger Jahre zurück, als Harro und ich uns verzweifelt bemüht hatten, Semco über Wasser zu
halten. Inzwischen fahre ich mit Sofia nach Xian, um uns 6000 Terrakottasoldaten anzuschauen, die vor vielen Jahrhunderten
begraben wurden; wir machen Ballonsafaris in Kenia, zelten in Tansania, tauchen bei den Seychellen, durchqueren die Sahara,
wandern an Stränden in Thailand entlang und unternehmen Bootsfahrten auf dem Nil.
Das ist das genaue Gegenteil von dem, was ich damals gemacht habe: drei Städte an einem Tag, und dann wieder zurück in die
Tretmühle. Und wenn ich heute auf einem meiner Trips bin, hinterlasse ich keine Telefonnummer, unter der ich zu erreichen bin.
Und ich rufe auch nicht im Büro an.

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Kapitel 35: Ein Modell für die ganze Welt?

Ich hatte gerade vor zwölfhundert Leuten im Süden von Brasilien gesprochen und geduldig ihre Fragen beantwortet, als ein Mann
in einem weißen Anzug und in weißen Schuhen ans Mikrophon herantrat. »Ihre Geschichte klingt ja wirklich ganz interessant«,
sagte er, »aber ich sitze hier nun schon seit zwei Stunden und warte auf etwas, was ich in meinem Krankenhaus und in meinen
Apotheken anwenden kann - aber ich habe nichts erfahren, was für mich von praktischem Nutzen sein könnte.«
Zwölfhundert Augenpaare wandten sich mir zu, und ich sah, wie einige Leute stehenblieben, die im Begriff waren zu gehen. Was
konnte ich dem guten Mann sagen, damit er nicht enttäuscht nach Hause gehen mußte?
»Nehmen wir zum Beispiel eine Ihrer Apotheken«, begann ich.
»Aber die sind doch viel zu klein«, fiel er mir ins Wort. »Zwei oder drei Angestellte, das ist alles.«
»Das ist groß genug«, erwiderte ich. »Wer entscheidet, wo die Packungen mit den Arzneimitteln auf den Regalen plaziert
werden?«
»Mein Partner.«
»Und wie?«
»Sie sind natürlich in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. So kann man sie leicht finden.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, fuhr ich fort. »Aber beantworten Sie mir bitte zuerst noch ein paar Fragen, und dann mache
ich Ihnen einen Vorschlag.«
Alles nahm wieder Platz. Man wollte wissen, worauf das Ganze hinauslief.
»Wie steht es um die Arbeitszeiten Ihrer Angestellten?«
»Darum kümmert sich unsere Personalabteilung. Es ist ganz ein-

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fach: Wir haben ein Schichtsystem, so daß immer jemand da ist - auch an den Samstagen, nachts sowie an Sonn- und Feiertagen,
wenn wir Notdienst haben«, erklärte mir der Arzt und Apotheker.
»Diese Leute haben doch ein festes Gehalt, nicht wahr?«
»Wie üblich«, erwiderte er ein wenig mißtrauisch.
»Schön, dann mache ich Ihnen folgenden Vorschlag: Sie geben mir die Telefonnummer von einer Ihrer Apotheken, und ich
spreche mit Ihren Mitarbeitern. Und dann lassen Sie mir ein bißchen Zeit, damit ich ihre Phantasie anregen kann.« Er sah mich
skeptisch an. »Dann lassen Sie ihnen Zeit, damit sie sich darüber klarwerden können, wie die Apotheke ihrer Meinung nach am
besten geführt werden könnte; und zum Schluß erzählen Sie mir, was Ihre Leute getan haben.«
Einige Leute im Publikum stöhnten ungeduldig auf, als sie merkten, daß unser kleiner Sketch nicht so bald zu Ende sein würde.
»Und dann«, fügte ich schnell hinzu, »werden wir alle Menschen, die heute hier sind, über das Ergebnis informieren.« Ich
wandte mich an eine Reporterin, die ich in der ersten Reihe erkannt hatte. »Wären Sie bereit, eine Story darüber zu schreiben?«
Sie nickte.
»Nun brauchen wir nur noch das Einverständnis dieses Herrn.«
»Das können Sie gern haben«, sagte der Arzt. »Wir sollten es mit unserer kleinsten Apotheke ausprobieren. Ihre Umsätze
betragen weniger als ein Prozent von unserem Gesamtumsatz.«
»Also vertrauen Sie mir ruhig dieses eine Prozent an«, erwiderte ich, und das Publikum lachte.
Wir trafen uns nach der Konferenz, und dabei erfuhr ich ein wenig darüber, wie das Geschäft der Apotheken funktionierte.
Dann rief ich seine Angestellten an und erzählte ihnen ein bißchen von Semco. In der darauffolgenden Woche sprach ich noch ein
paarmal mit ihnen und schickte ihnen ein Exemplar meines Buches. Der Arzt hielt Wort und stellte ihnen frei, alles, was sie wollten,
zu versuchen. Sie sprachen mit mir über ein paar Ideen, aber dann verlor ich den Kontakt.
Etwa ein halbes Jahr später rief der Arzt mich an und berichtete mir, was passiert war. In dieser einen Apotheke gab es drei
Angestellte: zwei Frauen, die wußten, wie man ein Geschäft führt, und einen jungen Mann, der Pharmazie studiert hatte. Alle drei
waren alleinstehend und mochten die unregelmäßige Arbeitszeit ganz und

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gar nicht, weil dadurch ihr Privatleben beeinträchtigt wurde. Darum begannen sie ihr Experiment mit der Bitte, selbst ihre
Arbeitszeit regeln zu dürfen. Sie arbeiteten die gleiche Anzahl von Stunden, führten aber ein Schichtsystem ein, bei dem sie ihre
Freizeit leichter verplanen konnten.
Schon bald hatten sie die Schachteln mit den Arzneimitteln in den Regalen neu sortiert. Wie sich nämlich herausstellte, hatten
sie wegen der alphabetischen Anordnung oft auf hohe Leitern klettern müssen. Bei dem neuen System waren die Schachteln
entsprechend der Häufigkeit der Nachfrage nach den jeweiligen Arzneimitteln sortiert. Aspirintabletten lagen also nun mit
Vitaminpillen und Tabletten gegen Sodbrennen in einem Fach in Reichweite.
Dann gaben sie jedem Arzneimittel eine Nummer und kauften sich einen preiswerten Computer, um ihren Lagerbestand unter
Kontrolle zu haben. Nachts und an Feiertagen, wenn nur wenige Kunden kamen, machten sie Inventur, und sie bestellten ihre
Nachlieferungen selber, in den Mengen, die sie für ausreichend hielten, mit dem erklärten Ziel, den Gewinn zu maximieren.
Außerdem schlugen sie vor, daß die Apotheke ihr Warenangebot erweiterte - um Wattestäbchen, Binden, Sonnenschutzcremes,
Antischuppenshampoos und andere Dinge, die man normalerweise nicht in Krankenhausapotheken antrifft, die gewöhnlich nur
einen Grundbestand an Arzneimitteln vorrätig haben. Am Anfang waren die Mitarbeiter noch ein wenig zu aufdringlich gegenüber
den Kunden und verprellten einige sogar. Aber schließlich hatten sie eine angemessene Verkaufstechnik entwickelt.
Das letzte, was ich von ihnen erfuhr, war, daß die Mitarbeiter einen Gewinnbeteiligungsplan vorgelegt hätten und daß der Arzt
das Semco-Evangelium in seinem Krankenhaus verbreitete.
Der Arzt war natürlich, wie ich auch, Eigentümer seines Unternehmens. Doch immer wieder bekomme ich Anfragen von Leuten aus
der mittleren oder sogar aus der unteren Ebene ihres Unternehmens oder ihrer Organisation. Sie könnten ja schließlich nicht
einfach verfügen, daß alles anders sein sollte. Was also könnten sie tun, damit sich die Dinge ändern, wollen diese Menschen
wissen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da befand ich mich selber auf der

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mittleren Ebene einer Hierarchie - nämlich als ich aufgefordert wurde, Brasiliens mächtigem Industrieverband des Staates Sao
Paulo beizutreten. Und ich fand heraus, daß sich Management à la Semco auch im engstirnigsten Milieu bewährt, wenn man nur
beharrlich und mutig genug ist.
Der Verband zählt die mächtigsten Industriellen des Landes zu seinen Mitgliedern, allesamt Erzkonservative. Es wäre höchst
unklug von einem brasilianischen Staatspräsidenten, wenn er einen Finanzminister ernennen würde, ohne vorher diesen 60 Jahre
alten Club zu konsultieren, und Positionen wie die des Arbeitsministers und der Präsidenten der Zentralbank, der Bank of Brazil
sowie der Nationalbank für soziale und wirtschaftliche Entwicklung werden nur selten ohne den Verbandssegen besetzt.
Als Semco bekannter geworden war, hatte ich damit begonnen, Artikel in der größten konservativen brasilianischen Zeitung für
deren 400000 Leser zu schreiben. Das Blatt ist eine der Hauptsäulen der Elite, also schien es mir das ideale Medium zu sein, in dem
ich sie und ihren Verband beschimpfen konnte.
Ich stellte mir vor, was sich die Angehörigen der Alten Garde bei meinen Artikeln gedacht haben mußten, wie sie da so in ihren
Lederclubsesseln saßen und dicke Zigarren pafften. »Ein winziges Unternehmen, wissen Sie.« - »Er hat es von seinem Vater
geerbt, nicht wahr?« - »Er wird schon auch noch erwachsen werden und eines Tages wie wir alle sein. Das ist doch die einzige
Möglichkeit, in diesem Land im Geschäft zu bleiben.«
Aber zunächst einmal provozierten meine Kolumnen die schlimmste Reaktion überhaupt - nämlich gar keine.
Ich hatte noch nie einen Fuß in das imposante, sechzehnstöckige, (natürlich) pyramidenförmige Verbandsgebäude gesetzt, und
darum war ich richtig erschrocken, als man mich bat, Mitglied im Vorstand dieses königlichen Vereins zu werden. Die Einladung
ging von Dr. Jose Mindlin aus, einem Freund meiner Familie und einem der wenigen Verbandsdirektoren, die der Meinung waren,
man müsse endlich aus dem Steinzeitalter herauskommen. Mindlin nötigte einem Respekt ab und verdiente ihn auch: Er war schon
einmal Kulturminister gewesen und einer der führenden Intellektuellen Brasiliens; er besaß die größte Privatbibliothek des Landes
(mit über 20000 selte-

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nen Ausgaben) und leitete ein Unternehmen, das mit Autoersatzteilen einen Jahresumsatz von 200 Millionen Dollar machte. Die
Wahl des Verbandsvorstands stehe unmittelbar bevor, erklärte mir Mindlin, und er habe dem Präsidenten der Organisation, Mario
Amato, empfohlen, mich auf die Kandidatenliste zu setzen. Amato sei einverstanden - allerdings erst, wie ich später erfuhr,
nachdem sich Mindlin bei ihm und einigen anderen weniger widerwilligen Direktoren für mich stark gemacht hatte. Vielleicht
waren diese anderen Direktoren der Ansicht, daß ich - endlich im Schoß des Establishments gelandet - meinen vorlauten Mund
halten würde.
»Ich weiß doch, was Sie von unserem Verband halten«, sagte Mindlin. »Aber niemand wird auf Sie hören, solange Sie ein
Außenstehender sind.«
Ich zögerte, bis er erwähnte, daß ich der jüngste Direktor in der Geschichte des Verbands sein würde und daß wir eng
Zusammenarbeiten würden, um einiges zu ändern. Da nahm ich die Wahl sofort an.
Ich hatte das Technik-Ressort unter mir, das zuständig war für so unterschiedliche Aktivitäten wie die Entwicklung von
Industriedesign in Brasilien und die Verhandlung internationaler Handelsabkommen. Ich bekam bald mit, daß Delegieren ein
Fremdwort im Verband war. Ich mußte den Einkauf von Büromaterial, Barvorschüssen, Abwesenheitsformulare - einfach alles -
persönlich genehmigen. Da gab es immer so viele Briefe, Aktennotizen und Formulare, die auf meine Unterschrift warteten, daß ich
nie dazu kam, irgend etwas zu planen. Als ich meine Vorstandskollegen fragte, warum denn nicht Joyce Leal, die lebhafte
Bürovorsteherin des Ressorts, diesen Kram unterzeichnen könne, blickten sie entsetzt gen Himmel. »Warum nicht gleich ganz
normale Angestellte alle Entscheidungen treffen lassen?« meinten sie spitz.
Eines Tages nahm ich einige Papiere von meinem Haufen und gab sie Joyce. »Unterschreiben Sie sie«, erklärte ich ihr, »und
dann füge ich noch eine Notiz bei, aus der hervorgeht, daß wir dies künftig im Technik-Ressort so machen werden.« Joyce war
einverstanden, denn im Grunde ihres Herzens war auch sie ein subversiver Mensch.
Wir bekamen auch weiterhin alle möglichen ungenehmigten Schriftstücke mit der Hauspost zurück. Mindlin und ich mußten
sogar in die eigene Tasche greifen, damit die Mitarbeiter des Ressorts

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reisen konnten, da auch unsere Barvorschußformulare einfach nicht weiterkamen - wie alles andere. Aber wir gaben nicht nach. Im
Gegenteil - mein Krieg mit der Verbandsbürokratie eskalierte geradezu. Das Ressort benötigte eine neue Schreibmaschine, aber wir
wußten, der ganze Papierkram würde Monate dauern, selbst wenn wir uns an die Vorschriften hielten. Darum schickte uns Mindlin
eine Maschine aus seinem Unternehmen, während wir darauf warteten, daß unsere Anforderung sich durch den Dienstweg quälte.
Das dauerte so lange, bis die geliehene Maschine den Geist aufgab. Wir ließen sie reparieren und schickten die Rechnung an den
Verband, wo man die Stirn hatte, sie an Mindlin weiterzuleiten.
Nach den Verbandsvorschriften wurde jedem Mitarbeiter, der zu spät kam, eine entsprechende Summe vom Gehalt abgezogen.
War es dann ein Wunder, daß viele gar nicht daran dachten, auch nur eine Minute länger zu bleiben? Wir wollten, daß die
Mitarbeiter unseres Ressorts zu einer Zeit zur Arbeit kamen, die ihnen zusagte, und darum veränderten wir ihre Verträge und
machten aus ihnen Teilzeitkräfte, so daß sie nicht mehr die Stechkarten des Verbands abstempeln lassen mußten. Natürlich
arbeiteten sie noch die gleiche Stundenzahl und erhielten das gleiche Gehalt. Aber nun konnten sie anfangen, wann sie wollten. Und
genau wie bei unseren Semco-Arbeitern nahm ihre Motivation zu und damit auch ihre Produktivität.
Selbst innerhalb unserer Abteilung war die Kommunikation ein einziges Chaos, und zwar großenteils deshalb, weil fast alle in
kleinen Büros und Kabuffs hockten und nur eine vage Vorstellung davon hatten, was ihre Kollegen taten. Also rissen wir die Wände
ein und machten alle miteinander bekannt. Dann versetzten wir einige Mitarbeiter, die sich nicht mit unserem neuen Stil
anfreunden konnten, in andere Verbandsabteilungen und entließen ein paar, die überhaupt nicht zu uns paßten.
Aber wir stellten für sie keine neuen Leute ein. Damit konnten wir denen, die blieben, mehr Geld zahlen - schließlich waren sie
so produktiv, daß sie noch mehr leisteten, als nur das wettzumachen, was ihre ehemaligen Kollegen gebracht hatten.
Wegen dieser und anderer Neuerungen gab es natürlich viel Zähneknirschen in der Pyramide, aber so einfach konnte mich der
Verband nicht loswerden. Schließlich leistete ich gute Arbeit. Unter-

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nehmen aus ganz Brasilien berichteten Amato, wie sehr ihnen unser Ressort bei dem einen oder anderen Problem geholfen hätte.
Bei Seminaren, die wir mit internationalen Fachleuten über Themen aus dem Bereich Technologie-Management veranstalteten,
waren die Konferenzräume des Verbands bis auf den letzten Platz besetzt. Die Berichte und Stellungnahmen unseres Ressorts
wurden von Regierungssprechern und Juristen zitiert.
Inzwischen trat ich, ganz im Sinne meiner üblichen Einstellung zu jeder Art von Führungsrolle, im Ressort eher in den
Hintergrund, als der Laden lief. Hier sollte es keinen Personenkult geben. Nach ein paar Monaten unterschrieb ich überhaupt keine
Papiere mehr. Ich sah nun nur noch einmal in der Woche vorbei, dann alle zwei Wochen, schließlich nur noch einmal im Monat.
Natürlich fiel das keinem auf. Sobald ich sie von der Bürokratie befreit hatte, brauchten Joyce und die anderen mich nicht mehr.
Zwei Jahre später standen wieder einmal Neuwahlen im Verband an. Mehrere Direktoren versuchten, Amato dazu zu bewegen,
mich auf der Wahlliste ganz unten zu plazieren, aber wieder hielt er zu mir. Am Ende wurde ich dann sogar Vizepräsident, was mir
wieder einmal eine Erkenntnis bestätigte, die ich in den Jahren der Veränderungen bei Semco gemacht hatte: Es ist immer besser,
um Verzeihung zu bitten als um Erlaubnis.
Ein bißchen später erhielt ich von der Welt der Wirtschaft eine noch höhere Auszeichnung. Jedes Jahr veranstalten die Gazeta
Mercantil, das brasilianische Wall Street Journal, und eine Gruppe führender Zeitschriften eine Befragung unter 54 000 sorgfältig
ausgewählten Unternehmen, die so etwas wie die brasilianische Wirtschaft repräsentieren, um deren leitende Angestellte in
geheimer Abstimmung den Wirtschaftsführer des Jahres wählen zu lassen. Es handelt sich um eine hochangesehene Umfrage -
zumindest bis zum Jahre 1990, als ich diese Auszeichnung erhielt.
Was für ein gewaltiger Sprung - vom Außenseiter zum Musterknaben des Establishments.
Ich halte pro Jahr etwa 15 bis 20 Vorträge - es könnten mehr sein, aber ich verlange ein astronomisches Honorar, um diese Zahl so
niedrig zu halten-, und mein Publikum reicht von Führungskräften

---OP 338---

bei Industriegiganten wie General Motors, IBM, Lever Brothers und Philips bis zu den Partnern von Zweipersonen-
Franchisefirmen. Ich spreche auch bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen - bei einer Tagung über Telekommunikation in
Kanada ebenso wie bei einem Gastroenterologen-Kongreß in Rio. Fast jedem Vortrag folgt eine ausgiebige Fragestunde, an der sich
zur Hälfte Leute wie der Arzt beteiligen, die sich für eine praktische Nutzanwendung interessieren. Kein Wunder, daß so viele
Führungskräfte bei uns Schlange stehen und mehr wissen wollen.
Und wir enttäuschen sie auch nicht. Die Programme, die wir bei Semco entwickelt haben, lassen sich auch in Supermärkten,
Werbeagenturen, Stahlwerken, Baseball-Teams und an Universitäten anwenden. Bei Banken wurde unsere Bewertung von Bossen
durch ihre Mitarbeiter eingeführt. In Brasilien hat man in staatlichen Kraftwerken damit begonnen, die Mitarbeiter zu fragen, bevor
man eine Stelle auf der mittleren Ebene besetzt. Eine Bank in Rio hat eine Gewinnbeteiligung à la Semco eingeführt. Delco, ein
Tochterunternehmen von General Motors, praktiziert unser Boß-Bewertungssystem. In einem Museum wurde die demokratische
Entscheidungsfindung übernommen. In einem Krankenhaus gibt es jetzt offene Büros für die Verwaltungsbeamten. Und einer
meiner Kommilitonen in Harvard, Noel Ginsburg, hat sein Unternehmen Container Industries Inc. in Denver, Colorado, aufgrund
unserer Diskussionen im Studentenwohnheim umstrukturiert. Noel hat seinen Arbeitern genauso viele Informationen und
Freiheiten gegeben, wie wir bei Semco, und er ist von den Ergebnissen begeistert.
Außerdem glaube ich, daß militärische Führungskräfte eine Menge von offenen Diskussionen mit ihren Soldaten profitieren
könnten - allerdings darf ich nicht verschweigen, daß einige meiner Zuhörer unwillig die Stirn runzelten, als ich vor einer Gruppe
von Generälen in der Elite-Militärakademie von Brasilien sprach. Auch religiösen Führern würde eine Reduzierung ihres
Verwaltungsapparates mehr Zeit für ihre Schäfchen lassen. Und natürlich würden die diversen Branchen im florierenden
Dienstleistungssektor von einer erhöhten Effizienz profitieren, die sich ergäbe, wenn Mitarbeiter ein Mitspracherecht am
Arbeitsplatz hätten. Meine Arbeit im Verband ist ein klarer Beweis dafür.

---OP 339---

Aber so sehr es mir natürlich schmeichelt, daß all diese Unternehmen unserem Beispiel gefolgt sind, macht es mich doch auch
ein wenig nervös. Zunächst einmal bin ich der erste, der akzeptiert, daß es bei Semco noch eine Menge zu tun gibt. Wir müssen den
Prozeß der Entscheidungsfindung noch tiefer im Unternehmen verankern, besonders im Hinblick auf die Unternehmensstrategie.
Unsere Mitarbeiter sollten auch unsere Bilanz noch besser lesen können. Wir würden gern Arbeitervertreter im Aufsichtsrat haben -
mit vollem Stimmrecht, und nicht als Bürger zweiter Klasse wie in einigen europäischen Ländern. Und wir möchten, daß jeder bei
Semco sein eigenes Einkommen festsetzt.
Und selbst wenn wir perfekt wären, sollte doch kein Unternehmen einfach unsere Programme kopieren. Gewiß: Schlagzeilen-
Memos reduzieren den Papierkram, und Gleitzeit erhöht die Produktivität. Ich glaube schon, daß Programme wie Stellenrotation,
selbstbestimmte Gehälter und Boß-Bewertungen jedes Unternehmen verbessern; aber das ist ja nicht alles, was Semco ausmacht.
Ich käme mir dann nicht mehr so sehr wie ein Wundermittelverkäufer vor, wenn andere Unternehmen neben diesen Programmen
auch die Philosophie von Freiheit und Vertrauen übernähmen, die sie inspiriert hat.
Moderne Manager sind ständig auf der Suche nach Neuem. Kleine Unternehmen ahmen die Großen nach, weil sie davon
ausgehen, daß die etwas richtig gemacht haben müssen, um so groß zu werden. Riesige Konzerne wiederum beneiden kleine und
agile Konkurrenten. Ganze Industriebranchen in Amerika schauen voller Angst und Hoffnung zum anderen Ufer des Pazifik
hinüber, auch wenn asiatische Unternehmen selbst immer westlicher werden.
In ihrer verzweifelten Suche nach schnellen Lösungen sind zu viele Führungskräfte allzu schnell bereit, sich an die neuesten
Management-Trends und -Moden anzuhängen, als wären das Allheilmittel für eine rückläufige Produktivität: Qualitätszirkel.
Produktionssynchrone Auslieferung. Kanban-Produktionssysteme. Netzwerke. Deckungsbeitragsrechnung. Qualitätsmaximierung.
Sie kennen sicher all diese Modewörter.
Wenn man asiatische Wertvorstellungen etwa nach Smyrna, Tenessee überträgt, ist das nichts anderes, als würde man einen
Kimono bei einer Tupperware-Party tragen. Nichts ist doch dem We-

---OP 340---

sten so fremd wie die Vorstellung von absoluter Loyalität gegenüber einem Unternehmen, abgesehen vielleicht von der
Überzeugung, daß das Alter den Vorrang hat vor der Kompetenz. Wenn Sie unbedingt meinen, etwas aus Japan übernehmen zu
müssen, dann sollten Sie nicht vergessen, eine 747 mit lauter Japanern einfliegen zu lassen, die Ihre Fabrik bevölkern.
Ich habe einmal frühmorgens die Ishikawajima-Harima-Werft in Rio besucht und alle Mitarbeiter im Hof angetroffen, wo sie
die Unternehmenshymne sangen und gemeinsam japanische Gymnastik betrieben. Ich zwickte mich selbst in den Arm, um mich
davon zu überzeugen, daß ich nicht in Kyoto war. Sie hatten ein Verhalten, das sich im Laufe von 2500 Jahren entwickelt hatte,
einfach auf ein junges Unternehmen auf einem anderen Kontinent übertragen. Wenn man eine derartige Transplantation schon
dann für erfolgreich hält, wenn die Hälfte der Leute in der Werft sich an der Gymnastik beteiligen, weil sie das für den besten Weg
zu einer Beförderung halten, dann war sie sicher ein Erfolg. Sollte jedoch das Ziel der Werftmanager darin bestanden haben, alle
Mitarbeiter zu einer einzigen großen Familie zusammenzuschweißen, für Achtung gegenüber ihren Führern zu sorgen und über die
Bedeutung des Unternehmens im Leben jedes einzelnen Arbeiters zu meditieren, dann leben sie mit Sicherheit auf der verkehrten
Seite des Ozeans.

---OP 341---

Kapitel 36: Moderne Zeiten

Ich kenne ein Textilunternehmen, in dem feine englische Wollwaren gewebt wurden. Die 200 Mitarbeiter arbeiteten in einer Fabrik
voller Maschinen, die sich in einer Art Industriepark auf der grünen Weise befand. Der Generaldirektor war ganz entschieden
leistungsorientiert, und das begann bei ihm selbst: Er kam früh, ging spät und traf dazwischen alle wichtigen Entscheidungen. Die
Fabrik war in spezialisierte Produktionsbereiche eingeteilt, und jeder hatte einen eigenen Boß. Jedem Boß wiederum unterstand
eine Gruppe von Vorarbeitern, die ihrerseits die Arbeiter beaufsichtigten. Die Leute von der Buchhaltung und vom Vertrieb waren
im Zwischengeschoß untergebracht und ihren jeweiligen Abteilungsleitern unterstellt. Hier ging es streng hierarchisch zu - die
klassische Pyramide.
Als ich vor noch nicht allzu langer Zeit dieses Unternehmen auf einer internationalen Tagung für Telekommunikation
beschrieb, sah ich, wie einige Leute im Publikum mich immer verdutzter anblickten. Was sollte das eigentlich, schienen sie sich zu
fragen. Das war doch ein ganz normales Unternehmen - was war daran so besonders?
Nun: Diese Textilfabrik gab es bereits im Jahre 1633. Und die Moral der Geschichte: Unser technischer Fortschritt hat unseren
mentalen Fortschritt weit hinter sich gelassen.
Das war genau die richtige Botschaft für diese Zuhörer, die unsere technischen Grundlagen alle Jahre wieder auf den Kopf
stellen. Sie haben es ermöglicht, daß es simultane Telekonferenzen mit China gibt, und sie rufen aus dem Bauch einer 747 über dem
Pazifik zu Hause an. Und doch sind die meisten Branchen noch fast genauso organisiert wie im Jahre 1633: mit einer lähmenden,
von oben nach unten abgestuften Struktur, einer scharfen und mißtrauischen Aufsicht und wenig Raum für Kreativität. Dieses
Auseinanderklaffen von mo-

---OP 342---

derner Technik und archaischer Mentalität ist meines Erachtens eine der entscheidenden Ursachen dafür, daß es am heutigen
Arbeitsplatz so viel Unzufriedenheit, Frustration, Streß und Mangel an Flexibilität gibt.
Wenn sich das Denken doch nur so leicht verändern ließe wie die Maschinen! Ich wette, daß es einfacher ist, eine neue
Generation von Mikrochips zu erfinden, als eine Generation von mittleren Managern dazu zu bewegen, die Route zu ändern, die sie
täglich auf der Fahrt zum Arbeitsplatz nehmen. Die Technik kann sich über Nacht wandeln - bis sich eine Mentalität ändert, braucht
es Generationen. Man sollte niemandem einen Vorwurf machen, der dem Glauben anhängt, man könne alle Probleme am
Arbeitsplatz mit Hilfe der Technik lösen. Es ist doch so viel einfacher, sich der Technik zu bedienen.
Computer-Netzwerke, Robotermaschinen, die rapide Entwicklung neuer Produkte, ein schnelles und effizientes
Kommunikationssystem - all das bringt ein Unternehmen auf den neuesten Stand. Aber das ist auch schon alles. Denn was ist schon
up-to-date? Zu einem Kurzurlaub in die Karibik zu düsen, eingepfercht in Flugzeugkabinen wie Ölsardinen in der Büchse,
zusammen mit 300 total gestreßten Büromenschen, die alle von Plastiktabletts mampfen, ihr Unternehmen über Funktelefone
anrufen und von sanft ausrollenden türkisfarbenen Wellen und unberührten Stränden träumen - die sie jedoch mit den Passagieren
von zehn anderen Jumbojets werden teilen müssen, die vor ihnen dort gelandet sind.
Für mich steht eines fest: Seit 1633 ist uns die Technik zwar über den Kopf gewachsen, aber die Lebensqualität ist im Eimer.
Wir beschleunigen nur noch unsere Defekte und können immer weniger mit anderen Menschen kommunizieren.
Darum möchte ich eine neue Definition vorschlagen: Das wahrhaft moderne Unternehmen hütet sich vor einer Fixierung auf
die Technik und stellt die Lebensqualität an die erste Stelle. Wir brauchten einige Zeit, um das klar zu erkennen. Inzwischen
konzentrieren wir uns jedenfalls bei Semco auf Innovationen, die es uns ermöglichen, besser miteinander zu arbeiten, als daß wir
uns einfach die nächste Generation von Plasmaschweiß-Computern oder CAD/CAM-Maschinenzentren zulegen.

---OP 343---

Aber ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen: Kein Unternehmen kann - jedenfalls auf lange Sicht - Erfolg haben, wenn
sein Hauptziel darin besteht, Gewinn zu machen.
Das kann sogar so weit gehen, daß Geschäftsleute ihre eigene Identität vergessen und sich nur noch mit ihren Zahlen
identifizieren. Kürzlich nahm ich in Sao Paulo an einem Geschäftsessen mit 30 Industriellen teil, die ein Komitee bilden wollten, um
einen Gegenkandidaten für den Vorstand des Industrieverbands aufzustellen. Als sich all diese mächtigen Männer um einen U-
förmigen Tisch gesetzt hatten, schlug jemand vor, jeder von uns solle sich doch kurz vorstellen.
Der erste stand auf und sagte: »Ich heiße So-und-so, bin vom Unternehmen X, und wir haben einen Jahresumsatz von 200
Millionen Dollar und 2000 Mitarbeiter.« Dann setzte er sich wieder. Nun stellte sich der nächste vor, und so ging es um den ganzen
Tisch weiter. Es war schon ein komischer Anblick, wie all diese kleinen Männer mit den großen Zigarren aufstanden und stolz
verkündeten, sie würden den doppelten Umsatz machen wie ihr Vorredner, oder niedergeschlagen eingestanden, er habe sie um ein
paar hundert Millionen geschlagen. Sie können sich ihre Qual vorstellen, als der Kleinste von ihnen, der knapp 1,60 Meter groß war,
erklärte, der Umsatz seines Unternehmens habe im vergangenen Jahr 2,5 Milliarden Dollar betragen. Ich konnte mir gerade noch
ein Kichern verkneifen, als ich die Ehrfurcht und den Neid in den Gesichtern meiner Kollegen sah. Nur wenige Augenblicke später
verkündete jemand, der einen Taschenrechner dabeihatte, daß wir zusammen einen Umsatz von fünf Milliarden Dollar darstellten.
Da war es doch wirklich egal, daß unser Kandidat für den Verbandsvorstand verlor.
Wie wichtig ist Geld eigentlich? Manche Unternehmer behaupten, Gewinne seien ihre einzige Daseinsberechtigung. In den
Monaten, die ich in Harvard verbrachte, bin ich vielen Industriellen begegnet, die wie ich in Raten studierten. Während des ersten
Semesters stellte ich fest, daß einige von ihnen am Seminar über private Geldwirtschaft besonders intensiv teilnahmen. Sie dachten
mit Sicherheit daran, ihr Geschäft aufzugeben.
In der fast einjährigen Pause nach diesem Kurs haben ein paar dies tatsächlich getan - sie haben ihr Unternehmen verkauft,
weil sie so

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eine Chance sahen, ihre privaten Träume zu verwirklichen: auf einer Insel zu leben, eine Segeljacht zu besitzen oder vielleicht sogar
jeden Tag Golf spielen zu können. Aber im Laufe des zweiten Semesters in Harvard langweilten sich breits ein paar von diesen
befreiten Seelen ein bißchen. Und als das dritte Semester begann, hatten fast alle von denen, die ihr Unternehmen verkauft hatten,
wieder ein neues gegründet oder erworben und waren glücklich, einen Job zu haben. Sie waren mit Leib und Seele Unternehmer,
aber nie um des Geldes willen.
Auch mein Vater war von dieser Art. Schon lange hatte er sich vorgenommen gehabt, mit 55 aufzuhören. Als es dann soweit
war, verlängerte er diese Frist bis 60, dann bis 65. Als ich bei Semco zu arbeiten begann, hatte er bereits das Datum seines 70.
Geburtstages stillschweigend übergangen.
Das ist nur zu verständlich (obwohl ich es damals nicht verstanden habe). Geld zu verdienen ist zwar wichtig, aber es ist kein
befriedigender Selbstzweck. Meine Kommilitonen in Harvard waren dahintergekommen, daß man zwar sein Unternehmen mit 12-
oder 16fachem Gewinn verkaufen kann und dabei doch nicht glücklich wird.
Selbst wenn es vielleicht überheblich klingt: Auch für Arbeiter ist Geld nicht das einzige Ziel. Wir versuchen unseren Leuten bei
Semco mehr zu bezahlen, als sie woanders bekommen würden, und natürlich gibt es die Gewinnbeteiligung. Aber das ist nicht der
Grund, warum so wenige von uns Weggehen. Wir bieten unseren Mitarbeitern eine Chance, echte, selbständige Geschäftspartner zu
sein und Verantwortung zu übernehmen. Und darum verschmähen viele von unseren Leuten in Schlüsselpositionen regelmäßig
lukrative Angebote anderer Unternehmen.
Geld also ist nicht alles. Vielmehr glaube ich, daß Wissen eines der am meisten unterschätzten Güter ist. Es hat etwas mit Macht zu
tun, wenn man etwas weiß, was ein anderer nicht weiß, und das erklärt auch, warum Führungskräfte oft nur höchst ungern mit
ihren Mitarbeitern ein bestimmtes Wissen teilen wollen.
Sie glauben mir nicht? Dann sollten Sie den folgenden Test bei Ihrer nächsten Besprechung ausprobieren. Sagen Sie bei einem
wichtigen Punkt der Tagesordnung, es sei besser, jetzt nicht darüber zu

---OP 345---

sprechen, weil eine andere Sache, die mit dieser Angelegenheit Zusammenhänge, gerade an diesem Morgen entschieden worden sei
und alles erheblich ändern werde. Nachdem dann alle ein paar Augenblicke lang gespannt geschwiegen haben, fügen Sie schließlich
hinzu, daß Sie einfach noch nicht darüber sprechen könnten.
Es würde mich überraschen, wenn Sie damit nicht auf einen Schlag die mächtigste Person im Raum geworden wären. Sie wissen
etwas, was die anderen nicht wissen - zumindest meinen sie das.
Aber wenn sich jemand nicht in die Karten schauen lassen will, dann stimmt etwas nicht mit der Kommunikation, und
unweigerlich wird es zu Ängsten, Mißverständnissen, Unsicherheit und schließlich sogar zu Feindseligkeiten kommen. Da helfen
dann auch keine Klischees mehr wie »Wir sitzen doch alle im selben Boot« oder »Wir sind doch eine einzige große Familie«.
Und darum hatte es eine so nachhaltige Wirkung, als wir bei Semco begannen, unser Wissen mit den anderen zu teilen. Leute in
den oberen Etagen konnten sich nicht mehr auf die konventionellen Symbole der Macht berufen und mußten Führungsqualitäten
entwickeln und besondere Kenntnisse an den Tag legen, wenn sie respektiert werden wollten. Die Zentren der Macht verschoben
sich, als Leute, die bisher so ruhig und zurückhaltend gewesen waren, an Format gewannen, während die sich anbiedernden
Klugschwätzer schließlich gingen. (Und als sie es taten, kam zwar eine gewisse Unruhe unter den andern auf, aber dann pinnten wir
eine ehrliche Erklärung über den Grund ihres Ausscheidens ans Weiße Brett.)
Es ist einer der größten Irrtümer zu meinen, der moderne Mensch sei in irgendeiner Weise anders als seine Vorfahren. Der Mensch
hat immer schon in Stämmen oder Horden gelebt, und ich wage zu behaupten, daß er es auch immer tun wird. Ganz gleich, ob es
sich dabei um eine ethnische, religiöse, politische oder berufliche Gruppe handelt - sie ist unser stärkster Halt. Buddhist, Mitglied in
einem Schützenverein, Vogelbeobachter, Nintendo-Fanatiker, Rotarier oder Angehöriger des Ku-Klux-Klans zu sein vermittelt uns
eine Identität, im guten wie im schlechten Sinne.
Auch Unternehmen vermitteln ihren Mitarbeitern eine Identität, so daß Mitsubishi oder Motorola für sie wie ein Familienname
ist. In-

---OP 346---

nerhalb eines Unternehmens können sie Unterstämmen angehören, von denen jeder seine eigenen Kleider- und Verhaltensnormen
hat. Und genausowenig wie man einen orthodoxen Juden mit einem Hare-Krishna-Jünger verwechseln kann, wird man
Finanzchefs mit ihren Hosenträgern und Ferragamo-Krawatten für Techniker halten, die ihre Mehrfarbenstifte sicher in
Plastikschonern in der Hemdtasche tragen.
Unternehmen und Körperschaften müssen so umgestaltet werden, daß sie ein Stammesleben wieder möglich machen. Sie
müssen Systeme werden, die auf Koexistenz beruhen und nicht auf einem unerreichbaren Harmonie-Ideal. Unterschiedliche
Stämme werden sich nie restlos anpassen, und darum ist es töricht, am Arbeitsplatz eine Atmosphäre nach dem Motto »Wir sind
alle eine große Familie« schaffen zu wollen. Feste Arbeitszeiten, Organigramme und Unternehmensleitlinien wirken alle nur
negativ. Sie beseitigen die Freiheit und ersetzen sie durch nichts anderes als ein falsches Gefühl der Disziplin und Zugehörigkeit. Sie
adeln Bürokraten und belohnen angepaßtes Verhalten. Man soll durchaus ein gemeinsames Ziel aufstellen und danach streben, aber
auch Abweichungen davon akzeptieren und die Menschen selbst darüber entscheiden lassen, wie sie es erreichen.
In der heutigen Zeit ist die Koexistenz verschiedener Stämme meiner Meinung nach geradezu lebenswichtig. Bisher war es für
die Erste Welt nicht schwer, Distanz gegenüber der Dritten Welt zu bewahren und sich einzubilden, die südliche Hemisphäre sei
sehr weit weg. Aber die Technik hat alle Menschen und Orte einander nahegerückt. Wie Lava aus einem riesigen Vulkan strömen
Stämme in jene Gebiete, deren Lebensstandard höher ist. In ein paar Jahrzehnten wird die Erste Welt nur noch aus ein paar Gettos
der Superreichen bestehen, Inseln des Wohlstands in einem Ozean des Elends. In Paris wird es eine Menge Kairo geben, ein ganzes
Stück Mexiko in Colorado und Syrien in der Schweiz. Und während sich die Lavaströme der Dritten Welt nach Norden schieben,
hinterlassen sie Länder wie Somalia, Bangladesh und Elfenbeinküste - eine nur noch erbärmlichere Vierte Welt.
Die meisten Unternehmen und Körperschaften haben sich auf diese neue Weltordnung nicht eingestellt. Ihr erster Impuls
besteht

---OP 347---

darin, alles zu vereinheitlichen, ausgeklügelte Ausbildungsprogramme zu entwickeln und Einwanderern beizubringen, »Guten Tag«
und »Vorsicht!« zu sagen, in der Hoffnung, aus ihnen schließlich Baseballfans machen zu können. Als ob zwei vietnamesische
Bürohelfer, ein Buchhalter aus Hongkong und sechs kanadische Fabrikarbeiter einfach so Zusammenarbeiten könnten! Man denke
nur an die sogenannten Gastarbeiter in Deutschland und Frankreich. Selbst wenn Türken fließend Deutsch sprechen - werden sie
dann von allen akzeptiert? Ich denke, daß die meisten Menschen großzügig sein wollen und das Ideal der Gleichheit hochhalten;
aber wenn sie glauben, daß ihre Familie, ihr Arbeitsplatz oder ihre nähere Umgebung in Gefahr ist, dann ist es mit ihrer Toleranz
gegenüber einer Koexistenz verschiedener Stämme schnell vorbei.
Diskriminierung wird es immer geben, da dies nun einmal zum Stammesdenken gehört; aber man kann doch eine ganze Menge
tun, ihre Auswüchse einzudämmen. Bei Semco haben wir eine Organisationsstruktur ohne Menschen erster und zweiter Klasse
geschaffen. Unsere Arbeiter tragen Krägen in vielen Farben, nicht bloß in Blau und in Weiß, und wir dulden auch keine Symbole der
Macht oder der Exklusivität wie Kasinos für leitende Mitarbeiter oder reservierte Parkplätze.
Ich weiß, das das Zusammenleben verschiedener Stämme möglich ist. Ich habe es einmal in einem Maß erlebt, wie ich es nie für
möglich gehalten hätte. 1992 hatten sich Zehntausende von Werktätigen zu einer Demonstration für die Amtsenthebung des
brasilianischen Präsidenten Collor auf einem großen Platz im Zentrum von Sao Paulo versammelt. Ich sah mir das vom Rand aus
an, als ich von einem führenden Mitglied der radikalen Arbeiterpartei entdeckt wurde. Er rief mich zum Podium und wollte
unbedingt, daß ich zu den Demonstranten sprach, von denen einige Transparente mit Parolen wie »Nieder mit den Unternehmern«
und schlimmeren Sprüchen schwenkten. Nachdem ich gesprochen hatte, umarmte mich der Parteivorsitzende.
Da stand ich nun - Brasiliens Wirtschaftsführer des Jahres, umjubelt von den radikalsten Arbeitern.

---OP 348---

In den zwanziger Jahren suchte ein Ingenieur namens DeForest Harry Warner auf, von den berühmten Warner Brothers in
Hollywood. DeForest war es gelungen, Bild und Ton synchron zu gestalten - er könne, erklärte er, aus Stummfilmen Tonfilme
machen. Warner hörte sich das an. Und dann sagte er: »Sind Sie wahnsinnig? Wer will denn einen Schauspieler reden hören?«
Henry Ford verkaufte sein T-Modell in jeder Farbe, solange sie nur schwarz war. Der Legende nach wollte er mit dieser
monochromen Philosophie die Produktion vereinfachen und die Preise niedrig halten. Auch heute noch gilt Ford als Marketing-
Genie. Ich sehe das ganz anders: Old Henrys stures Denken hat Ford die Führung in der größten Industriebranche von Amerika
gekostet, denn William Durant von der damals noch kleineren Firma General Motors beschloß, Autos in verschiedenen Farben
anzubieten, und schon bald sah er Ford nur noch im Rückspiegel.
Und dann gab es einen gewissen Chester Carlson, der zu IBM, General Electric und RCA ging und seine neue Erfindung
verkaufen wollte. Sie bedankten sich bei ihm, daß er sich die Zeit für dieses Gespräch genommen habe, meinten aber bedauernd,
seine Idee hätte ihrer Ansicht nach keine Zukunft. Carlson war ein sturer Mann und ließ sich davon nicht beeindrucken. Schließlich
lernte er Joseph Wilson kennen, dem eine kleine Firma namens Haloid Company gehörte. Wilson erkannte, welche Möglichkeiten
in Carlsons Apparat steckten. Im Laufe der Zeit benannte er sogar seine Firma danach: Xerox.
Konzerne haben bekanntermaßen eine kurze Lebenszeit. Selbst in den stabilen und relativ wohlhabenden USA hat ein
Unternehmen nicht einmal eine Chance von fünf Prozent, daß es in 50 Jahren in einer besseren Lage sein wird. Diese lehrreichen
Geschichten illustrieren, was ich für die größte Herausforderung halte, der sich jedes Unternehmen gegenübersieht: den Wandel.
Semco hat Erfolg gehabt, und zwar trotz einiger der härtesten wirtschaftlichen Bedingungen, die man sich nur vorstellen kann - weil
wir gelernt haben einzusehen, wie notwendig ein Wandel ist, und weil wir schlau genug waren, uns von unseren Mitarbeitern dabei
helfen zu lassen, ihn herbeizuführen.
Wenn ein Unternehmen heute überleben will, muß es eine Organi-

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sationsstruktur aufweisen, deren grundlegende Prämisse darin besteht, den Wandel zu akzeptieren; eine Organisationsstruktur, die
Stammesgewohnheiten sich entfalten läßt und die eine Machtausübung fördert, die auf Achtung statt auf Vorschriften beruht. Mit
anderen Worten; Erfolgreich werden nur Unternehmen sein, für die die Lebensqualität an erster Stelle steht. Alles übrige -
Produktqualität, Produktivität der Arbeiter, Gewinne für alle-wird sich daraus ergeben.
Bei Semco haben wir einengende Vorschriften abgeschafft, die das »Wie« diktierten, und einen fruchtbaren Boden für
Unterschiede gelegt. Wir haben Menschen die Chance gegeben, zu prüfen, in Frage zu stellen und anderer Meinung zu sein. Wir
haben sie selbst über ihre Ausbildung und ihre Zukunft entscheiden lassen. Wir haben sie kommen und gehen lassen, wann sie
wollen; sie können zu Hause arbeiten, wenn sie es wünschen, ihre eigenen Gehälter festsetzen, ihre eigenen Bosse wählen. Wir
haben sie ihre Meinung und unsere ändern lassen, sie sagen lassen, daß wir uns irrten, wenn wir uns irrten; und sie haben uns
bescheidener gemacht. Einem derartigen System bekommt der Wandel hervorragend, denn er ist das einzige Gegengift zu der
unternehmerischen Gehirnwäsche, die gigantischen Unternehmen mit einer großartigen Vergangenheit eine ungewisse Zukunft
beschert hat.
Man unterstellt oft, daß wir bei Semco ein strenges Ausleseverfahren haben, um sicherzustellen, daß diejenigen, die für uns
arbeiten wollen, unternehmensphilosophisch gesehen auf unserer Wellenlänge liegen. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall.
Wir sind an Kompetenz interessiert, alles andere ist uns egal. Viele unserer Mitarbeiter stellen unsere Konzepte regelmäßig in
Frage. Bei Semco gibt es sogar Nester, die ganz autokratisch sind; und Leute, die gern in einem derartigen Milieu arbeiten, sind
langsam dorthin abgewandert. Aber wie können wir Menschen ausschließen, die nicht so denken wie wir - dann würden ja auch wir
zu Menschen werden, die Dinge sagen wie: »So wird das hier nicht gemacht.«
Semco ist mehr als nur ein Unternehmen mit neuartigen Programmen und Verfahren. Wichtig sind für uns Offenheit,
Vertrauen in unsere Mitarbeiter und Mißtrauen gegenüber allen Dogmen. Wir sind weder Sozialisten noch reine Kapitalisten,
sondern wir nehmen uns

---OP 350---

das Beste aus diesen und anderen gescheiterten Systemen, um die Arbeit neu zu organisieren - damit kollektives Denken
individualistische Höhenflüge nicht unterdrückt; damit Führungsqualitäten nicht auf der endlosen Suche nach einem Konsens
verlorengehen; damit Menschen die Freiheit haben, zu arbeiten, wie und wann sie wollen; damit Bosse keine Eltern sein müssen
und Arbeiter sich nicht wie Kinder verhalten. Im Mittelpunkt unseres kühnen Experiments steht eine Wahrheit, die so einfach ist,
daß man sie banal nennen müßte, wenn sie nicht so selten erkannt würde: Ein Unternehmen sollte sein Schicksal in die Hände
seiner Mitarbeiter legen.
Nein, Semco ist kein Modell mit Programmen, die man nur genau befolgen muß; mit allen möglichen Rezepten für
Partizipation, Produktivität und Profite. Semco ist eine Einladung. Ich hoffe, unsere Geschichte wird andere Unternehmen dazu
bewegen, sich und ihre Mitarbeiter einem neuen Denken zu unterziehen. Vergessen Sie Sozialismus, Kapitalismus,
produktionssynchrone Auslieferung, Gehaltsspiegel und all diese Dinge und konzentrieren Sie sich auf die Gestaltung einer
Organisation, der das Schwierigste überhaupt gelingt: daß Menschen am Morgen gern zur Arbeit gehen.
---OP 353---

Anhang
Anhang A: Von unten gesehen - Wie Semco-Mitarbeiter ihre Vorgesetzten bewerten
Der folgende Fragebogen wird von allen Semco-Mitarbeitern alle sechs Monate anonym ausgefüllt - das gehört zu dem Bewertungsprozeß, dem sich ihre Vorgesetzten
unterziehen müssen. Die Fragen werden entsprechend dem Grad ihrer Wichtigkeit bewertet, die Ergebnisse öffentlich ausgehängt. Ein Ergebnis von 80 Prozent gilt als
Durchschnitt. •

1. Wenn ein Mitarbeiter einen kleinen Fehler macht, ist der/die Betreffende
a) gereizt und nicht bereit, über diesen Fehler zu diskutieren
b) gereizt, aber bereit, darüber zu diskutieren
c) in der Lage, den Fehler zu erkennen und darüber in konstruktiver Weise zu diskutieren
d) in der Lage, über den Fehler hinwegzusehen und sich nur um wichtigere Dinge zu kümmern

2. Der/die Betreffende reagiert auf Kritik


a) schlecht - ignoriert sie
b) schlecht - lehnt sie ab
c) einigermaßen gut
d) gut - akzeptiert sie

3. Der/die Betreffende ist


a) ständig angespannt
b) gewöhnlich angespannt, aber gelegentlich entspannt
c) gewöhnlich entspannt, aber gelegentlich angespannt
d) ständig entspannt

4. Der/die Betreffende ist


a) unsicher
b) öfter unsicher als sicher
c) öfter sicher als unsicher
d) sicher

5. Im Hinblick auf berufliche und private Dinge ist der/die Betreffende


a) nicht in der Lage, sie zu trennen
b) häufig nicht in der Lage, sie zu trennen
c) meistens in der Lage, sie zu trennen
d) in der Lage, sie zu trennen

---OP 354---

6. Wenn die Abteilung des/der Betreffenden einen hohen Produktivitätsstandard erreicht, schreibt er/sie normalerweise den Erfolg anderer
a) sich selbst zu
b) denjenigen zu, die die Arbeit getan haben
c) dem Team als ganzem zu

7. Der/die Betreffende gilt als


a) immer unfair
b) öfter unfair als fair
c) öfter fair als unfair
d) immer fair

8. Der/die Betreffende vermittelt dem Team


a) Angst und Unsicherheit
b) Gleichgültigkeit
c) Sicherheit und Ruhe

9. Der/die Betreffende vermittelt dem Team ein Gefühl von


a) Kälte und läßt nicht mit sich reden
b) Distanz, läßt aber mit sich reden
c) Freundlichkeit, aber auch von Gleichgültigkeit gegenber den Problemen anderer
d) Freundlichkeit und von Interesse für die Probleme anderer

10. Im Umgang mit Menschen in untergeordneten Positionen (Wachpersonal, Boten, Fahrer usw.) neigt der/die Betreffende normalerweise dazu,
a) sich überheblich zu verhalten
b) sie zu ignorieren
c) sie höflich, aber mit einer gewissen Überheblichkeit zu behandeln
d) sie zu respektieren

11. Der/die Betreffende behandelt seine/ihre Untergebenen


a) viel schlechter als seine/ihre Vorgesetzten
b) etwas schlechter als seine/ihre Vorgesetzten
c) nicht anders als seine/ihre Vorgesetzten

12. Der/die Betreffende


a) macht ständig allen klar, daß er/sie der Boss ist
b) macht gelegentlich allen klar, daß er/sie der Boss ist
c) macht nur selten Aufhebens davon, daß er/sie der Boss ist

13. Der/die Betreffende ist


a) eine schwache Führungspersönlichkeit, kann das Team nicht motivieren
b) eine schwache Führungspersönlichkeit, kann aber das Team motivieren
c) eine starke Führungspersönlichkeit, kann aber das Team nicht motivieren
d) eine starke Führungspersönlichkeit und kann das Team motivieren

14. Wenn das Team ein bestimmtes Ziel hat, erwartet der/die Betreffende
a) Ergebnisse, ohne sich an den Anstrengungen zur Erreichung des Zieles zu beteiligen
b) Ergebnisse und beteiligt sich nur oberflächlich

---OP 355---

c) Ergebnisse und beteiligt sich, wenn dies zur Erreichung des Zieles erforderlich ist

15. Der/die Betreffende


a) wird vom Team offen nicht respektiert
b) wird vom Team nicht respektiert, aber nur intern
c) wird weder respektiert noch mißachtet
d) wird vom Team respektiert

16. Der/die Betreffende


a) bevorzugt ganz offensichtlich einige Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Religion oder Herkunft
b) bestreitet, Vorurteile zu haben, gibt aber nicht allen die gleiche Chance
c) hat keine Vorurteile und gibt allen die gleiche Chance

17. Der/die Betreffende


a) bevorzugt offenkundig Menschen eines bestimmten Geschlechts
b) bestreitet, Vorurteile zu haben, gibt aber nicht allen die gleiche Chance
c) hat keine Vorurteile und gibt allen die gleiche Chance

18. Wenn Beförderungen und Auszeichnungen anstehen, läßt der/die Betreffende


a) sie jenen zugute kommen, die er mag
b) sie manchmal jenen zugute kommen, die sie verdienen, manchmal aber auch seinen »Gefolgsleuten«
c) sich immer von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit leiten

19. In einer Krise neigt der/die Betreffende dazu,


a) die Gruppe in verschiedene Lager zu spalten
b) sich nicht um die Einheit der Gruppe zu kümmern
c) die Gruppe zusammenzuhalten

20. Was ist dem/der Betreffenden wichtiger?


a) daß die Arbeit perfekt ausgeführt wird
b) daß die Arbeit schnell ausgeführt wird
c) entweder Schnelligkeit oder Perfektion, abhängig von der jeweiligen Situation

21. Der/die Betreffende


a) mischt sich übertrieben in alles ein
b) beteiligt sich zu wenig an allen Vorgängen
c) beteiligt sich in angemessener Weise an allen Vorgängen

22. Wie kennt sich der/die Betreffende auf seinem/ihrem Gebiet aus?
a) ungenügend
b) hinreichend
c) gründlich

23. Wenn der/die Betreffende Sie vorübergehend ablösen sollte, wäre seine/ihre Leistung
a) unbefriedigend
b) normal
c) gut

---OP 356---

d) besser als Ihre eigene

24. Wenn es darum geht, zwischen dringenden und wichtigen Arbeiten zu unterscheiden, verhält sich der/die Betreffende folgendermaßen:
a) Er/sie kennt den Unterschied nicht
b) Er/sie zieht normalerweise die dringenden Arbeiten vor
c) Er sie kann gut zwischen beiden unterscheiden

25. Der/die Betreffende


a) verschwendet zuviel Zeit für dringende Probleme
b) widmet dringenden und wichtigen Angelegenheiten gleich viel Zeit
c) widmet wichtigen Angelegenheiten mehr Zeit

26. Der/die Betreffende ist


a) nicht sehr kreativ und sträubt sich gegen neue Ideen
b) zu kreativ und zu sehr an Veränderungen interessiert, bringt Unruhe ins Team
c) ist angemessen kreativ und an Veränderungen interessiert

27. Wenn es darum geht, für ein Milieu zu sorgen, in dem sich die Menschen frei entfalten können, um kreativ zu sein oder Veränderungen anzuregen, wird der/die
Betreffende
a) innovative und kreative Ideen abblocken
b) sie zwar nicht abblocken, aber auch nicht fördern
c) kreative oder innovative Ideen fördern

28. Soweit es das Team betrifft, wählt der/die Betreffende


a) normalerweise die falschen Leute
b) manchmal gut und manchmal schlecht aus
c) normalerweise die richtigen Leute aus

29. Die Menschen, die in der Umgebung des/der Betreffenden arbeiten,


a) fühlen sich selten zur Arbeit motiviert
b) fühlen sich gelegentlich zur Arbeit motiviert
c) fühlen sich normalerweise zur Arbeit motiviert

30. Der Gebrauch, den der/die Betreffende von den ihm anvertrauten finanziellen Mitteln macht, ist
a) schlecht
b) durchschnittlich
c) gut
d) ausgezeichnet

31. Wie versteht der/die Betreffende seine eigene Zeit zu nutzen?


a) schlecht
b) durchschnittlich
c) gut
d) ausgezeichnet

---OP 357---

32. Welchen Wert legt der/die Betreffende auf Ausbildung und ähnliche Dinge?
a) zu wenig
b) ausreichend
c) großen Wert

33. Der/die Betreffende erledigt Arbeiten


a) fast immer schlecht
b) manchmal schlecht und manchmal gut
c) fast immer gut

34. Der/die Betreffende akzeptiert andere Meinungen


a) nie
b) normalerweise nicht
c) manchmal
d) fast immer

35. Andere Menschen halten den/die Betreffende(n) für


a) nicht vertrauenswürdig
b) gelegentlich vertrauenswürdig
b) sehr vertrauenswürdig

36. Der/die Betreffende vertritt das Unternehmen


a) schlecht, setzt es in ein ungünstiges Licht
b) weder schlecht noch gut
c) gut, vermittelt anderen Menschen das Gefühl, sich darauf verlassen zu können

---OP 358---

Anhang B: Die Semco-Kur gegen die Zeit-Krankheit


Im 9. Kapitel habe ich versprochen, meine Kur gegen die Zeit-Krankheit zu verraten. (Aufgepaßt, meine Herrschaften - gleich springt das Kaninchen aus dem Zylinder!)

1. Fangen Sie von hinten an. Setzen Sie eine bestimmte Uhrzeit fest, zu der Sie das Büro verlassen werden, und halten Sie sich unbedingt daran. Ich entschied mich für
19 Uhr, aber zuvor hatte ich oft bis um Mitternacht gearbeitet. Wenn Sie normalerweise bis um 19 Uhr arbeiten, gehen Sie künftig schon um 17.30 oder 18 Uhr nach
Hause. Sollten Sie noch Arbeit fürs Wochenende mit heimnehmen, dann stellen Sie diese heimtückische Gewohnheit mit einem 60-Tage-Programm ab.

2. Sichten Sie den Stapel Papiere auf Ihrem Schreibtisch und entscheiden Sie, welche am wichtigsten sind. (Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, daß alle gleich wichtig
sind, haben Sie gemogelt. Fangen Sie von vorn an.) Verbringen Sie mehrere Stunden oder, wenn es sein muß, sogar einen ganzen Tag damit herauszufinden, was sich in
diesem Stapel eigentlich befindet. Beginnen Sie mit den schwierigsten, kompliziertesten oder zeitlich aufwendigsten Vorgängen. Mit anderen Worten: Gehen Sie den
Stapel nach der Rangordnung, nicht nach der Reihenfolge des Eintreffens der einzelnen Papiere durch. Auf diese Weise machen Sie sich kein falsches Bild von dem, was
Sie leisten. Wenn Sie Ihre Unterlagen sichten, teilen Sie diese in drei Kategorien ein:
- Dinge, die absoluten Vorrang genießen, um die Sie sich persönlich kümmern müssen und deren Wichtigkeit ganz unbestritten ist. Teilen Sie nicht mehr als fünf
Vorgänge dieser Kategorie zu.
- Dinge, um die nur Sie sich kümmern können, die aber Zeit haben. Auf den ersten Blick scheint dies die angenehmste Kategorie zu sein, da offenbar so viel dazugehört.
Denken Sie gut darüber nach, ob Sie wirklich der einzige sind, der sich mit einem bestimmten Vorgang befassen kann. Die Tatsache, daß Ihre Untergebenen oder
Kollegen überlastet sind, sollte Ihre Entscheidung nicht beeinflussen - Zeiteinteilung ist nichts anderes als eine Einübung in den Egoismus. Halsen Sie Ihren
Mitarbeitern alles auf, was den »Test der Siebziger« nicht besteht (das ist keine Quizfrage, mit der ich herausfinden will, ob Sie noch wissen, was in Watergate los
war). Fragen Sie sich: »Ist es möglich, daß jemand anderes diese Aufgabe mindestens zu siebzig Prozent so gut wie ich erledigen könnte?« Wenn ja, dann überlassen
Sie sie jemand anderem.
- Dinge, die sich Ihrer Ansicht nach gut machen würden, zu denen Sie aber nie richtig kommen. Dazu gehört die Lektüre von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften,
längeren Berichten, Kopien von Memos - Sie wissen schon, was ich meine. Wir haben uns alle längst daran gewöhnt, einen Wust von Informationen zu bekommen.
In einer Art Abwehrhaltung neigen wir dazu, von allem nur ein bißchen zu lesen. Das ist eine der ernstesten Ursachen der Zeit-Krankheit.

---OP 359---

Der Schlüssel zur richtigen Organisation ihrer Zeit ist Ihre Selbstachtung. Die müssen Sie unbedingt bewahren, selbst wenn Sie vielleicht einmal nicht so beschlagen sind
wie Ihre Kollegen, wenn es um einen eigentlich belanglosen Bericht oder irgendein entlegenes Thema geht. Nehmen Sie ruhig an einer Konferenz teil, und lassen Sie
Kommentare über sich ergehen wie: »Was, Sie haben den Beitrag Patentlösungen für ein verbessertes Gießverfahren< in der letzten Nummer vom Gießerfreunde-Report
nicht gelesen?« Lieber nehmen Sie die Schmach auf sich, das zuzugeben und jemand anderen zu bitten, Ihnen das Wesentliche aus diesem Beitrag zu erläutern, als daß Sie
alle Artikel lesen müssen, die auf Ihren Schreibtisch flattern. Ganze Heerscharen von Managern fürchten, als schlechtinformierte Blödmänner dazustehen, wenn sie ihre
Abonnements von The Wall Street Journal, The Financial Times, Newsweek, Time und L'Express auslaufen lassen, ganz zu schweigen von einer Reihe von
Lokalzeitungen, Finanz-Newsletters, Fortune, Forbes, Business Week und so weiter. Die Medien geben sich alle Mühe, als unentbehrlich zu gelten. Lassen Sie nicht allzu
viele damit durchkommen.
Aus Zeitmangel (warum sonst?) habe ich früher Zeitschriften und Zeitungen auf einen Tisch in meinem Büro gelegt, damit ich sie später lesen konnte. Als sich
weitere Fachblätter dazugesellten, habe ich sie sorgfältig auf diesen Stapel gelegt. Bereits der Anblick deprimierte mich - wie viele Informationen hatte ich mir schon
entgehen lassen. Und eines Abends fiel der Stapel um. Da ging mir ein Licht auf, und endlich wanderten all diese Blätter ungelesen dorthin, wohin sie eigentlich gehörten:
in den Papierkorb.
Ich schätze, das Verhältnis von überflüssiger zu wichtiger Lektüre beträgt etwa 20:1. In diesem Sinne empfehle ich den Zustrom an Lesestoff auf maximal zwei
Tageszeitungen, zwei wöchentlich erscheinende Zeitschriften und zwei Fachblätter zu reduzieren. Fangen Sie damit an, stolz darauf zu sein, daß Sie nicht alles
mitbekommen. Lassen Sie sich aus Verteilern streichen. Es lohnt sich, denn Sie erhalten dadurch die Gelegenheit, sich einer weithin unterschätzten Beschäftigung
hingeben zu können - dem Nachdenken. Aristoteles, der The Wall Street Journal nicht abonniert hatte, hat einmal gesagt: »Zum Denken braucht man Muße.« Wenn Sie
keine Muße haben, können Sie auch nicht viel denken.

3. Wenn Sie geglaubt haben sollten, Sie könnten Ihre Zeit organisieren, ohne in Ihr Betriebsvermögen zu investieren, dann befinden Sie sich auf dem Holzweg. Da gibt
es nämlich eine ganz wichtige Neuerwerbung: einen zusätzlichen Papierkorb.
Ich weiß, Sie haben schon einen richtig großen Papierkorb. Aber die meisten Menschen haben genug auf ihrem Schreibtisch, um zwei füllen zu können. Zunächst
braucht es Mut, diesen zweiten Papierkorb zu benutzen. Sie müssen beeindruckende Berichte und ungelesene Zeitschriften hineinwerfen. Aber denken Sie immer daran,
was sich Alfred Sloan, der legendäre Boss von General Motors, stets zu fragen pflegte: »Was ist das Schlimmste, das passieren kann, wenn ich dies hier wegwerfe?«
Wenn Sie nicht gleich zittern, ins Schwitzen oder außer Atem geraten - los, werfen Sie es weg. Irgendwann einmal wird Ihr zweiter Papierkorb ein Babysitter für Ihren
Eingangskorb. Lassen Sie ihn ein paar Monate lang stehen - was für ein herrliches Symbol der Freiheit.

4. Denken Sie erst nach, bevor Sie diese Einladung zum Mittagessen annehmen oder jenen Besuch bei einem Lieferanten machen oder eine Rede vor Wirtschaftsleuten
halten. Gewöhnlich reagiert man doch als erstes darauf, daß man nach dem Terminkalender greift und - falls die entsprechende Zeile frei ist - die neue Verpflichtung
einträgt. Gewöhnen Sie sich eine neue Taktik an: »Vielen Dank, aber ich habe einfach keinen Termin frei.« Oder fragen Sie zurück: »Haben Sie es schon bei X probiert?«
Oder: »Ich kann es leider nicht machen, aber geben Sie mir bitte Bescheid, wie es gelaufen ist.«

---OP 360---

Oder wenn alle Stricke reißen: »Es tut mir schrecklich leid, aber da bin ich gerade in den Flitterwochen.« Reden Sie mit den Leuten, aber nehmen Sie nur an Ereignissen
teil, die wirklich absolut wichtig sind. Das Mittagessen, um Lieferant Z besser kennenzulernen oder Kunde Y zu beeindrucken - wie all diese Verabredungen, die man nur
eingeht, »weil es vermutlich eine gute Idee ist« -, zeigt doch nur, wie unsicher Sie sind. Ich bin noch nie einem Zulieferer begegnet, der mir einen besseren Preis gemacht
hat, weil er sich mit mir beim Mittagessen so prächtig unterhalten hatte, oder einem Kunden, der mir einen Auftrag erteilt hat, weil ihn mein Beaujolais beim Abendessen
so beschwingt hat. Nehmen Sie an irgendeiner Einladung oder Veranstaltung nur dann teil, wenn Sie sicher sind, daß es sich lohnen wird, dafür Ihre kostbare Zeit zu
opfern.
Wenn Sie sich unbedingt mit jemandem verabreden müssen, dann im Büro. In dieser Umgebung lassen sich die Leute am wenigsten vom Thema ablenken. Aber
bieten Sie Ihren Besuchern keinen Kaffee an - damit verleiten Sie sie nur zu einer lockeren, unproduktiven Unterhaltung. Wenn Sie einen Eindringling nicht mit Koffeein
aufputschen, tun Sie was für seine Gesundheit, und außerdem kommt er vielleicht nicht so schnell wieder.

5. Wenn man über eine rationellere Zeiteinteilung spricht und dabei nicht auf das Thema Konferenzen eingeht, dann ist das etwa wie ein Fußballspiel ohne Randale. Gibt
es überhaupt jemanden, der in einem Büro arbeitet und nicht an zu vielen Konferenzen teilnimmt?
Zunächst einmal sollten wir nicht vergessen, daß der Mensch ein geselliges Lebewesen ist. Wir fühlen uns wohler in der Gegenwart anderer Menschen. Konferenzen
vermitteln das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Solidarität - auch wenn die allgegenwärtigen Spannungen und Eifersüchteleien des Wirtschaftslebens dabei nicht
wegzudenken sind. Und natürlich funktioniert die Kommunikation in einem Unternehmen normalerweise nicht schnell genug und reicht oft nicht aus, so daß wir uns durch
Konferenzen auf dem laufenden halten können.
Auf Besprechungen oder Konferenzen zu verzichten, hieße, wider die menschliche Natur zu handeln und die Effizienz eines Unternehmens zu schmälern. Aber so
schwer ist es ja nun auch wieder nicht. Konferenzen effektiver zu gestalten. Wir haben bei Semco die verschiedensten Möglichkeiten durchprobiert und können darum mit
ein paar Empfehlungen aufwarten.
- Beginnen Sie pünktlich. (Fünf oder zehn Minuten später ist immer noch pünktlich - es sei denn, Sie sind Schwede.) Fangen Sie einfach an, auch wenn noch nicht alle
da sind. Wenn Sie das ein paarmal gemacht haben, werden es auch die kapieren, die normalerweise immer zu spät kommen.
- Setzen Sie als erstes bei einer Konferenz den Zeitpunkt fest, zu dem sie beendet sein soll. Überschreiten Sie ihn um höchstens ein paar Minuten. Wenn Sie in Ihrem
eigenen Büro sind, stehen Sie einfach auf und sagen: »Das war's dann«, wenn Sie die Sitzung beenden wollen. Manchmal setze ich mich von Anfang an nur auf die
Schreibtischkante. Das mag vielleicht unhöflich sein, aber es funktioniert.
- Gehen Sie vor den anderen die Tagesordnung durch. Notieren Sie die Themen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit. Geben Sie der Versuchung nicht nach, zunächst
einmal die alten Punkte vom letzten Mal zu klären oder unproblematische neue Punkte abzuhaken.
- Delegieren Sie an eine oder mehrere Personen jeden Punkt, der mehr als die vorgesehene Zeit erfordert oder eine Diskussion auslöst, die sich hinzieht, ohne daß
Aussicht auf eine Lösung besteht.
- Halten Sie keine Besprechungen ab, die länger als zwei Stunden dauern. Danach läßt die Aufmerksamkeit rapide nach.

---OP 361---

- Hüten Sie sich davor, eine billige Schau abzuziehen. Achten Sie darauf, daß Berichte kurz ausfallen, und vermeiden Sie die Verwendung von Diagrammen und
Tabellen. Ersparen Sie sich auch die Overhead-Projektion von Folien, und schalten Sie nie Licht aus.
- Dulden Sie keine Unterbrechungen. Es gibt nur eine Entschuldigung dafür, daß jemand in eine Konferenz hereinplatzt: ein Kunde, der ein Problem hat.
- Reduzieren Sie so viele Besprechungen wie möglich auf Telefongespräche oder kurze Unterhaltungen in der Halle. Viele Menschen neigen dazu, eine Konferenz
wegen irgendwelcher Probleme einzuberufen, die in zehn bis fünfzehn Minuten telefonisch geklärt werden könnten oder sogar mit einem Fax.

6. Ein paar Worte übers Telefonieren: Jeder, der bei Semco eine Nachricht entgegennimmt, bittet den Anrufer, sein Anliegen kurz zu schildern. Bitten Sie Ihre Sekretärin
oder Assistentin, automatisch zu sagen, daß Sie ein Gespräch leider nicht entgegennehmen können - und natürlich ehe der Anrufer gefragt worden ist, wer er ist. Nehmen
Sie sich die Liste der Anrufer von einem bestimmten Tag (oder von mehreren Tagen) vor und rufen Sie nur Leute zurück, mit denen Sie wirklich sprechen müssen, also
etwa mit Kunden. Was die anderen betrifft, so werden sie entweder
- immer wieder anrufen, bis sie es aufgeben, und dann wissen Sie, daß es sich um etwas Unwichtiges gehandelt hat, oder
- einen Ihrer Kollegen anrufen.
Machen Sie sich jedenfalls darauf gefaßt, daß man Ihnen sagt, zu Ihnen durchzukommen sei ja schwerer, als mit dem Papst zu sprechen. Fassen Sie das als Kompliment
auf.

7. Nehmen Sie sich Zeit zum Denken. Versuchen Sie in Ihrem Terminkalender dafür einen halben Tag freizuhalten. Ich finde Montag- und Freitagmorgen gut, weil ich
dann die Ablenkungen nach und vor dem Wochenende loswerden kann. An diesem halben Tag sollten Sie Ihr Büro meiden. Ziehen Sie sich in einen unbenutzten
Konferenzraum zurück oder noch besser: Bleiben Sie zu Hause.
- Denken ist schwer. Es erfordert Konzentration und Disziplin. Gönnen Sie sich die Zeit, die Sie dazu brauchen. Aristoteles würde das gefallen.

---OP 362---

Anhang C: Ein Semco-Wörterbuch


Ausbildung: Anstelle von offiziellen Ausbildungsprogrammen gibt es bei uns verschiedene Möglichkeiten, wenn Mitarbeiter sich gern neue Kenntnisse und Fähigkeiten
aneignen wollen. Wir fordern unsere Leute auf, sich darüber Gedanken zu machen, was sie in fünf Jahren tun möchten, und dann legen wir ihnen nahe, sich einer
Ausbildung zu unterziehen, mit der sie ihr Ziel erreichen können. Über die Kosten sprechen wir dann auf den wöchentlich stattfindenden Konferenzen in unseren
Unternehmensbereichen.
Bevormundung: Bei Semco ein verpöntes Wort. Wir wollen keine glückliche große Familie sein, sondern ein erfolgreiches Unternehmen. Wir sind ausschließlich an der
Leistungsfähigkeit unserer Mitarbeiter am Arbeitsplatz interessiert, nicht an ihrem Privatleben. Bei Semco gibt es keine Aschenbahn, keinen Swimmingpool, keinen
Fitneßraum. Wenn unsere Leute in einen Fitneßklub gehen wollen, dann ist das ihre Privatsache. Wir bieten eine Krankenversicherung und andere Vergünstigungen an,
aber wir fordern unsere Mitarbeiter auf, sich selbst mit darum zu kümmern. Gelegentlich leiht Semco ihnen auch Geld, aber nur in unvorhergesehenen Notfällen. Statt
unsere Mitarbeiter wie Kleinkinder zu behandeln, um die man sich kümmern muß, gehen wir mit ihnen wie mit Erwachsenen um, die imstande sind, Entscheidungen
hinsichtlich ihrer Arbeit selbständig zu treffen. (Siehe Kapitel 21.)
Bewertung von unten: Bevor jemand für eine Führungsposition eingestellt oder befördert wird, muß er sich allen Leuten, die unter ihm arbeiten werden, in einem
Vorstellungsgespräch präsentieren, und dann wird er von ihnen bewertet und akzeptiert oder abgelehnt. Außerdem werden Semco-Manager alle sechs Monate von ihren
Untergebenen bewertet, die einen von uns dafür entwickelten Multiple-choice-Fragebogen anonym ausfüllen. Die dabei vergebenen Noten werden öffentlich
bekanntgegeben. Es gibt zwar keine verbindlichen Regelungen, aber diejenigen, die ständig nur schwache Noten bekommen (80 von 100 möglichen Prozentpunkten
werden im Durchschnitt erreicht), verlassen Semco gewöhnlich früher oder später. (Siehe Kapitel 23.)
Bosse: Semco hat längst nicht mehr so viele wie früher, und die verhalten sich auch nicht mehr unbedingt wie Bosse. Als die Arbeiter damit begannen, ihre Jobs stärker
selbst in die Hand zu nehmen, ging der Bedarf an Aufsehern zurück. Wir haben auch das Personal, das in unseren Produktionsstätten für Rechtsberatung, Buchhaltung und
Marketing zuständig ist, um über 75 Prozent reduziert und unter anderem die Abteilungen Datenverarbeitung, Ausbildung und Qualitätskontrolle ganz abgeschafft.
Demokratie: Ein Eckstein im Semco-System. Wir haben eine repräsentative Demokratie dank unserer Werkskomitees - bei wichtigen Entscheidungen wie Werksverle-

---OP 363---

gungen haben alle Mitarbeiter bei uns ein direktes Stimmrecht. Untergebene wählen im Prinzip ihre Bosse. Und damit das absolut klar ist: Wir haben keine Speisesäle für
leitende Angestellte oder reservierte Parkplätze.
Familiensilber: Wenn es eine freie Stelle gibt oder eine neue Position geschaffen wird, wird ein Semco-Mitarbeiter, der 70 Prozent der Anforderungen erfüllt, gegenüber
einem Außenseiter bevorzugt in Erwägung gezogen. (Siehe Kapitel 22.)
Fertigungszellen: Anstelle von Fließbändern gibt es bei uns Gruppen von Produktionsmaschinen, so daß einzelne Teams von Arbeitern eine ganze Waage,
Geschirrspülmaschine, Mischmaschine oder irgendein anderes komplettes Produkt zusammenbauen können, statt nur einzelne Komponenten zu fertigen. Damit haben
unsere Arbeiter mehr Selbständigkeit und Verantwortung, und das macht sie glücklicher und unsere Produkte besser. Beinahe alle Fabrikarbeiter beherrschen mehrere
Fertigungsjobs, und einige können sogar Gabelstapler fahren, um ihre Teamkameraden mit Rohmaterialien und Einzelteilen zu versorgen, die unsere Arbeiter selbst bei
Zulieferern kaufen können. Oft setzen unsere Fabrikarbeiter die Produktionsquoten selbst fest und entwickeln Verbesserungen für unsere Produkte. (Siehe Kapitel 16.)
Gehaltsspiegel: Viele Unternehmen verwenden abstrakte Lohn- und Gehaltsspiegel, denen sie ihre Löhne und Gehälter anpassen. Semco ist meines Wissens das einzige
Unternehmen, das seine Fabrikarbeiter und Büroangestellten gebeten hat, bei dieses System mitzuarbeiten. Sie suchen andere Produktionsunternehmen auf, die mit Semco
zu vergleichen sind, unterhalten sich mit ihren dortigen Kollegen und stimmen die Ergebnisse miteinander ab. Infolgedessen mißtraut niemand unseren Gehaltsspiegeln.
Allerdings hoffen wir, daß eines Tages alle Semco-Mitarbeiter ihr Einkommen selbst festsetzen werden.
Gewinnbeteiligung: Im Gegensatz zu den üblichen Plänen, bei denen von der Geschäftsleitung einseitig darüber entschieden wird, wieviel und an wen ausgeschüttet wird,
haben wir bei Semco mit unseren Arbeitern den zu verteilenden prozentualen Grundanteil - etwa ein Viertel der Unternehmensgewinne - ausgehandelt, und dann
bestimmen sie, wie er aufgeteilt werden soll. (Siehe Kapitel 17.)
Gleitzeit: In vielen Unternehmen dürfen Büroangestellte ihre Arbeitszeit selbst bestimmen. Soweit ich sehe, sind wir das einzige Unternehmen, das diese Freiheit auch auf
die Fabrikarbeiter ausgedehnt hat. Das kann durchaus zu Störungen führen, da jeder Fabrikarbeiter stark von seinen Teamkameraden abhängt, aber unsere Leute haben
individuelle Vorlieben immer den Gruppenarbeitszeiten untergeordnet. (Siehe Kapitel 30.)
Größe: Große, zentralisierte Unternehmensorganisationen fördern die Entfremdung - so wie sich in stehenden Gewässern Algen bilden. Wir glauben, daß Menschen ihr
Potential nur dann entfalten können, wenn sie fast jeden in ihrer Umgebung kennen, und das ist im allgemeinen dann der Fall, wenn sie nicht mehr als 150 Kollegen
haben. Wenn bei uns Unternehmensbereiche diese Größe überschreiten, teilen wir sie auf. (Siehe Kapitel 14 und 15.)
Großreinemachen: Zweimal im Jahr macht Semco für einen Nachmittag dicht, und jeder räumt seinen Arbeitsplatz gründlich auf. Büroangestellte werfen überflüssige
Akten weg, Fabrikarbeiter beseitigen Schrott und alte Maschinen. Dieses Programm haben wir zunächst in unseren Büros eingeführt, aber inzwischen ist niemand davon
ausgenommen und nichts davor sicher.

---OP 364---

Hepatitis-Urlaub: Unsere Form von Bildungsurlaub. Unsere Mitarbeiter können sich alle ein oder zwei Jahre ein paar Wochen oder sogar ein paar Monate von ihrer
Tätigkeit freinehmen, um sich neue Kenntnisse oder Fertigkeiten anzueignen, ihren Arbeitsplatz umzugestalten oder einfach neue Kräfte aufzutanken. Wir haben dieses
Programm eingeführt, als mehrere streßgeplagte Manager uns erklärten, sie hätten keine Zeit zum Denken. Wir haben sie aufgefordert, sich darüber Gedanken zu machen,
was geschähe, wenn sie plötzlich eine Hepatitis bekämen und gezwungen wären, sich zwei Monate lang davon zu erholen. Dann ließen wir sie das tun. (Siehe Kapitel 20.)
Hilfspersonal: Wir haben sämtliche Sekretärinnen, Empfangsdamen, persönliche Assistenten und andere unbeliebte Jobs ohne Aufstiegschancen abgeschafft. Es gehört
nun einmal zu unserer Philosophie eines natürlichen Unternehmens, daß bei Semco jeder seine Besucher selbst abholt, seine Kopien selbst macht und seine Faxe selbst
sendet. (Siehe Kapitel 18.)
Kerntruppe für technische Innovation: Eine kleine Gruppe von Mitarbeitern, meist Ingenieuren, die von allen täglichen Produktions- oder Verwaltungsaufgaben
freigestellt sind und die ganze Zeit nichts anderes tun sollen, als neue Produkte zu entwickeln, alte zu verbessern, Marketing-Strategien zu entwerfen, sich Maßnahmen zur
Einsparung von Kosten und zur Leistungssteigerung auszudenken - und sogar von neuen Geschäftszweigen zu träumen. Finanziell sind sie teilweise am Erfolg ihrer
unternehmerischen Bemühungen beteiligt. (Siehe Kapitel 29.)
Korruption: Eine ganze Reihe von Regierungsinspektoren, die Semco erpressen wollten, sind im Gefängnis gelandet. Das hat uns zwar eine Menge Ärger mit den
Regierungsinspektoren in ganz Brasilien eingebracht, aber das nehmen wir lieber in Kauf, als daß wir unseren Mitarbeitern und Kunden signalisieren wollen, wir würden
Unlauterkeit tolerieren. (Siehe Kapitel 28.)
Kreisförmige Organisation: Wir haben die Bürokratie bei Semco von zwölf Managementebenen radikal auf drei heruntergefahren und eine neue Organisationsstruktur
eingeführt, die auf fließenden konzentrischen Kreisen beruht statt auf einer starren, hierarchisch aufgebauten Pyramide. Alle Mitarbeiter haben nur einen von vier Titeln:
Mitglieder des Verwaltungsrates, ähnlich den Vizepräsidenten oder höheren Chargen in konventionellen Unternehmen, die unsere allgemeinen Richtlinien und Strategien
koordinieren; Partner, die unsere Unternehmensbereiche leiten; Koordinatoren, die jene erste, wichtige Managementebene in Bereichen wie Marketing, Vertrieb und
Produktion ausmachen oder die Vorarbeiter in den Bereichen Technik und Montage stellen; und schließlich die Kollegen, wie wir alle übrigen nennen. (Siehe Kapitel 24.)
Management durch Herum wandern: Semco ist architektonisch so gestaltet, daß unsere Leute ohne weiteres mit anderen Zusammenkommen können. Unsere Büros haben
normalerweise keine Wände - nur die einzelnen Werke sind voneinander getrennt. Gelegentlich vermischen wir ganz bewußt einzelne Abteilungen. Im Grunde mögen wir
nichts, was unsere Mitarbeiter voneinander trennt.
Natürliches Unternehmen: Ein Führungsprinzip. Wir haben bei Semco überflüssige Vergünstigungen und Privilegien abgeschafft, wie Speisesäle für leitende Mitarbeiter
und schicke Büromöbel, die nur das Ego hätscheln, aber der Bilanz schaden, und die alle nur von den entscheidenden Aufgaben in einem Unternehmen ablenken, nämlich
zu produzieren, zu verkaufen, Rechnungen auszustellen und das Geld einzutreiben.

---OP 365---

Risikogehalt: Etwa ein Drittel aller Semco-Mitarbeiter haben die Möglichkeit, eine Gehaltskürzung von bis zu 25 Prozent in Kauf zu nehmen, aber durch einen
Gehaltszuschlag 150 Prozent des normalen Einkommens zu erreichen, wenn das Unternehmen ein gutes Jahr hinter sich hat. 1st es Semco allerdings schlechter gegangen,
bekommen sie nur 75 Prozent ihres Gehalts. Mit diesem Programm werden diejenigen belohnt, die bereit sind, ein Risiko einzugehen, und zugleich lassen sich unsere
Personalkosten teilweise den Gewinnen oder Verlusten anpassen. (Siehe Kapitel 25.)
Satelliten-Programm: Ein Versuch, elementare Herstellungsprozesse nach draußen zu verlagern, und zwar mit einem besonderen Dreh: Statt Geschäfte mit Außenseitern
zu machen, sind wir unseren Arbeitern behilflich, ihre eigenen Firmen zu gründen, und damit machen wir unsere Mitarbeiter zu Partnern. Um ihnen den Übergang zu
erleichtern, leasen wir ihnen unsere Produktionsmaschinen zu günstigen Raten und bieten ihnen unseren Rat bei der Preisgestaltung, der Qualität, bei den Steuern und
ähnlichen Dingen an. Es steht ihnen frei, auch an unsere Konkurrenten zu verkaufen. (Siehe Kapitel 32.)
Schlagzeilenmemo: Alle Aktennotizen bei Semco dürfen nicht länger als eine Seite sein und müssen eine schlagzeilenähnliche Überschrift tragen, die das Ganze auf den
Punkt bringt. Wir machen da keine Ausnahmen, nicht einmal bei Marketing-Berichten. (Siehe Kapitel 18.)
Selbstbestimmtes Einkommen: Menschen das zu zahlen, was sie wollen, scheint ein sicherer Weg in den Bankrott zu sein, aber wir machen das nun schon seit acht Jahren,
und es ist uns seither noch nie so gut gegangen. Eine zehnprozentige Steigerung ist dabei eher die Ausnahme. Fast 25 Prozent unserer Mitarbeiter setzen inzwischen ihr
Einkommen selbst fest, darunter die meisten unserer Koordinatoren, und es gibt für mich eigentlich keinen Grund, warum nicht auch Fabrikarbeiter eines Tages ihren
Lohn selbst bestimmen sollten. (Siehe Kapitel 25.)
Sicherheit des Arbeitsplatzes: Es ist noch gar nicht so lange her, daß Konzerne wie IBM, Bridgestone Tire, 3M und Kyocera sich damit brüsteten, bei ihnen gäbe es eine
»lebenslange Arbeitsplatzgarantie«. Die amerikanischen Manager dieser Unternehmen und ihre japanischen Kollegen spielten sich gegenseitig die Bälle zu, als sie sich in
Interviews für Fortune, The Financial Times und Asahi Shimbun wegen der hochherzigen Strategie des »Glaubens an die eigenen Leute« rühmten. Inzwischen ist all das
Schnee vom vergangenen Winter, und japanische wie amerikansiche Multis haben Tausende erfahrener Arbeitskräfte entlassen. Bei Semco haben wir niemandem jemals
einen sicheren Arbeitsplatz versprochen, so daß wir dieses Versprechen auch nie brechen mußten.
Stellenrotation: Wir legen unseren Managern nahe, ihre Jobs untereinander auszutauschen, und pro Jahr tun das bis zu 25 Prozent. Im allgemeinen reicht es, wenn jemand
mindestens zwei Jahre und maximal fünf Jahre eine Stelle innegehabt hat, aber wie bei anderen Semco-Programmen ist es Sache der Mitarbeiter, die Initiative zu
ergreifen. Stellenrotation kann eine aufreibende Angelegenheit sein, bietet aber einige wesentliche Vorteile, weil sie 1. die Menschen zwingt, etwas Neues zu lernen; 2. die
Errichtung von Machtbereichen verhindert; 3. den Mitarbeitern ein umfassenderes Bild des Unternehmens vermittelt, so daß sie Verständnis für die Probleme ihrer
Kollegen haben; 4. das Management zwingt, mehr als eine Person für eine Position einzuarbeiten; 5. zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten für all jene schafft, die sonst
nicht weiterkämen. (Siehe Kapitel 20.)

---OP 366---

Streiks: Auch wir konnten sie bedauerlicherweise nicht abschaffen. Aber wenn es zu einem Ausstand kommt, halten wir uns an folgende Regeln: 1. behandeln wir alle wie
erwachsene Menschen; 2. versprechen wir den Streikenden, daß niemand bestraft wird, wenn sie die Arbeit wiederaufnehmen; 3. führen wir nicht darüber Buch, wer zur
Arbeit gekommen ist und wer die Rädelsführer sind; 4. rufen wir nie die Polizei, und wir versuchen auch nie, eine Streikpostenkette zu durchbrechen; 5. gewähren wir
auch weiterhin alle Vergünstigungen; 6. sperren wir weder Arbeiter noch Gewerkschaftsführer aus der Fabrik aus; 7. bestehen wir darauf, daß jeder das Recht derjenigen,
die arbeiten wollen, respektiert; 8. entlassen wir niemanden während des Streiks oder danach. (Siehe Kapitel 13.)
Transparenz: Wir veröffentlichen praktisch alle Informationen über das Unternehmen - von den Gehältern bis zu den Strategien, von den Produktivitätsstatistiken bis zu
den Gewinnspannen. Wir veranstalten auch Kurse für unsere Arbeiter, in denen wir ihnen beibringen, wie man Finanzdokumente wie Bilanzen und Gewinn- und
Verlustrechnungen liest. Unsere Mitarbeiter können unsere Manager über jeden Aspekt unseres Unternehmens befragen und mit den Medien sprechen, ohne Angst vor
einem Nachspiel haben zu müssen. (Siehe Kapitel 18.)
Verloren im Weltall: In jedem guten Jahr suchen wir uns unter den jungen Leuten, die sich bei uns als Auszubildende bewerben, mehrere aus und nehmen sie an die lange
Leine. Ohne Stellenbeschreibung, ohne Boss, ohne Zuständigkeitsbereich dürfen sie überall hineinschnuppern, solange sie in den ersten 12 Monaten in mindestens 12
Abteilungen arbeiten. Dann können sie eine dauerhaftere Anstellung in einer dieser Abteilungen vereinbaren. (Siehe Kapitel 29.)
Vorschriften: Bei uns gibt es so wenige Vorschriften wie möglich. Es gibt zum Beispiel keine Kleiderordnung oder Regelungen für die Reisetätigkeit. Und wir haben auch
keine interne Prüfstelle mehr, die unseren Leuten auf die Finger sieht. Wir sagen nichts weiter als: Gebraucht euren gesunden Menschenverstand. (Siehe Kapitel 9.)
Werkskomitees: In jedem Unternehmensbereich von Semco wählen bestimmte Gruppen von Mitarbeitern - Maschinisten, Büropersonal, Wartungskräfte, Lagerarbeiter,
technische Zeichner und alle sonstigen Mitarbeiter außer den Managern - ihre Repräsentanten in Komitees. (Auch die Gewerkschaft ist darin vertreten.) Diese Komitees
setzen sich regelmäßig mit den Topmanagern in jedem Unternehmensbereich zusammen und besprechen mit ihnen sämtliche Arbeitsplatzprobleme oder
unternehmenspolitischen Fragen. Sie sind befugt, Streiks auszurufen, die Bücher zu prüfen und alle Aspekte des Managements in Frage zu stellen. (Siehe Kapitel 10.)
Zu Hause arbeiten: Ich tue es mindestens an drei Vormittagen pro Woche und ermuntere jeden dazu, der zu Hause arbeiten kann, meinem Beispiel zu folgen. Damit lassen
sich Konzentration und Produktivität steigern, und es macht die Menschen auch flexibler.

---OP 367---

Anhang D: Das Überlebens-Handbuch

Die folgenden Seiten sind Auszüge aus der kleinen Broschüre, die wir jedem neuen Semco-Mitarbeiter überreichen. Es sind die
einzigen geschriebenen Regeln, die es bei uns gibt.
© Karikaturen von Miguel Paiva. Nachgedruckt mit Genehmigung des Autors

---OP 368---

ORGANIGRAMM
Bei Semco gibt es kein offizielles Organigramm. Führer wird man bei uns nur aufgrund der Achtung der Geführten. Wenn es
sich nicht vermeiden läßt, die Struktur irgendeines Unternehmensbereichs darzustellen, machen wir immer nur eine Bleistiftskizze,
die wir so bald wie möglich wegwerfen.

---OP 369---

EINSTELLUNG
Bevor jemand eingestellt oder befördert wird, haben die anderen Mitarbeiter in diesem Bereich Gelegenheit, die Kandidaten zu
befragen und zu bewerten.

---OP 370---

ARBEITSZEIT
Bei Semco gibt es flexible Arbeitszeiten, und jeder einzelne Mitarbeiter ist selbst dafür verantwortlich, sie festzulegen und
einzuhalten. Menschen arbeiten unterschiedlich schnell, und ihre jeweilige Leistungsfähigkeit schwankt im Laufe des Tages. Semco
bemüht sich, den Wünschen und Bedürfnissen des einzelnen möglichst gerecht zu werden.

---OP 371---

ARBEITSPLATZ
Unsere Leute können gern ihren Arbeitsbereich so gestalten und verändern, wie sie möchten. Es liegt ganz bei Ihnen, ob Sie die
Wände oder Maschinen anmalen, Pflanzen aufstellen oder Ihren Arbeitsplatz sonstwie dekorieren wollen. Im Unternehmen gibt es
dafür keine Vorschriften, und wir wollen auch keine erlassen. Verändern Sie also Ihre Umgebung, wie es Ihrem Geschmack und
Ihren Wünschen sowie denen der Menschen entspricht, die mit Ihnen arbeiten.

---OP 372---

KLEIDUNG UND AUSSEHEN


Beides spielt bei Semco keine wichtige Rolle. Wie jemand aussieht, hat auf seine oder ihre Einstellung oder Beförderung keinen
Einfluß. Jede(r) weiß doch selbst, was er oder sie tragen möchte oder muß. Machen Sie es sich bequem - kleiden Sie sich ganz
normal.

---OP 373---

AUTORITÄT
Viele Positionen bei Semco sind mit hierarchischer Autorität verbunden. Aber jeder Versuch, Untergebene zu unterdrücken, ihre
Angst oder Unsicherheit als Druckmittel bei der Arbeit zu nutzen oder sie zu mißachten, gilt als unverzeihlicher Machtmißbrauch
und wird nicht geduldet.

---OP 374---

GEWERKSCHAFTEN
Gewerkschaften haben die wichtige Funktion, Arbeitnehmer zu schützen. Bei Semco können sich die Arbeiter gern einer
Gewerkschaft anschließen, und es ist absolut untersagt, Gewerkschaftsmitglieder zu verfolgen. Es ist nicht immer der Fall, daß die
Gewerkschaften und das Unternehmen einer Meinung sind oder gar gut miteinander auskommen, aber wir bestehen darauf, daß
zwischen beiden gegenseitige Achtung herrscht und daß man miteinander im Gespräch bleibt.

---OP 375---

STREIKS
Streiks sind für uns etwas ganz Normales. Sie gehören nun einmal zur Demokratie. Niemand wird wegen der Teilnahme an Streiks
verfolgt, solange diese widerspiegeln, was die Leute im Unternehmen denken und empfinden. In dieser Hinsicht sind die
Arbeiterversammlungen souverän.
Abwesenheit von der Arbeit wegen eines Streiks gilt als normales Fehlen und zieht keine Konsequenzen oder Strafen nach sich.

---OP 376---

WANDEL
Bei Semco gibt es von Zeit zu Zeit größere Veränderungen. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Wir halten Wandel für
gesund und positiv. Nehmen Sie diese Veränderungen ohne Angst hin. Sie sind typisch für unser Unternehmen.

---OP 377---

AKTIVE BETEILIGUNG
Unsere Philosophie beruht auf aktiver Beteiligung und Engagement. Lehnen Sie sich nicht einfach bequem zurück. Äußern Sie
Ihre Meinung, bemühen Sie sich um Chancen und um ein Weiterkommen und sagen Sie immer, was Sie denken. Seien Sie nicht
bloß ein x-beliebiger Mitarbeiter.
Ihre Meinung ist stets interessant, auch wenn Sie niemand danach gefragt hat. Nehmen Sie Kontakt auf mit den Werkskomitees
und beteiligen Sie sich an Wahlen. Auch Ihre Stimme zählt!

---OP 378---

WERKSKOMITEES
Mitarbeiter bei Semco haben die Garantie, daß ihre Interessen durch das Werkskomitee ihres jeweiligen Unternehmensbereichs
vertreten werden. Lesen Sie die Charta, beteiligen Sie sich, sorgen Sie dafür, daß Ihr Komitee Ihre Interessen wirkungsvoll
verteidigt - diese müssen sich durchaus nicht immer mit den Interessen von Semco decken. Wir halten diesen Konflikt für gesund
und notwendig.

---OP 379---

BEWERTUNG DURCH UNTERGEBENE


Zweimal im Jahr sollen Sie einen Fragebogen ausfüllen - hier können Sie sagen, was Sie von Ihrem Boß halten. Seien Sie offen und
ehrlich, und zwar nicht nur auf diesem Formular, sondern auch in der daran anknüpfenden Diskussion.

---OP 380---
ARBEITSPLATZSICHERHEIT UND ALTER
Jeder, der seit drei Jahren bei uns ist oder 50 geworden ist, genießt einen besonderen Schutz und darf nur nach einer ganzen Reihe
von Anhörungen entlassen werden. Das bedeutet nicht, daß es bei Semco keine Entlassungen gibt, aber wir wollen dafür sorgen, daß
sich unsere Leute sicherer fühlen.

VORSCHLÄGE
Semco hält nichts davon, Preise für Vorschläge zu verleihen. Wir wollen, daß jeder sich frei äußert, und alle Meinungen, Vorschläge
und Anregungen sind uns recht, aber wir finden es nicht in Ordnung, sie mit Preisen oder mit Geld zu belohnen.

---OP 382---

DIE SEMCO-FRAU
Frauen haben (auch) in Brasilien geringere Beschäftigungs-, Aufstiegs- und finanzielle Möglichkeiten als Männer. Bei Semco gibt es
verschiedene Programme für Frauen, die von Frauen geleitet werden und die diese Form der Diskriminierung einzuschränken
versuchen. Sie laufen unter dem Namen »Die Semco-Frau«.
Wenn Sie eine Frau sind, nehmen Sie doch daran teil.
Wenn nicht, sollten Sie sich weder bedroht fühlen noch gegen diese Einrichtung ankämpfen. Versuchen Sie einfach, sie zu verstehen
und zu respektieren.

---OP 383---

URLAUB
Semco gehört nicht zu jenen Unternehmen, die glauben, daß irgend jemand unersetzbar ist. Jeder sollte 30 Tage Urlaub im Jahr
machen. Das ist für Ihre Gesundheit genauso wichtig wie für das Wohlergehen des Unternehmens. Keine Ausrede kann so gut sein,
daß man Urlaubstage für »später« ansammelt.
Wenn Sie irgendwelche Fragen haben oder mir Ihre Meinung sagen wollen, schreiben Sie bitte an:
RICARDO SEMLER
RUA DOM AGUIRRE 438
JARDIM MARAJOARA
SAO PAULO - SP 04671
BRASILIEN

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