LAURA BRAUN / MILLENNIUM / PLAINPICTURE

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Gute Nacht, gutes Geschäft: Der Kampf
um den Schlaf bringt Milliarden ein
Beisammenstehen und singen – Seite 28
das ist Weihnachtsfreude
Seite 13
Pinocchio kehrt zurück
Seite 19

22. Dezember 2019 | Nr. 51 | NZZaS.ch | Fr. 6.50 | € 6.50

Chinas Freunde:
Wie Martullo
die SVP auf Linie
trimmt
Das Verhältnis zwischen der
Schweiz und China spaltet die
SVP. Die Parteileitung übt
Druck auf Abweichler aus.
Andrea Kučera,
Lukas Häuptli
Durch die SVP geht ein tiefer Gra-
ben: Auf der einen Seite stehen
zahlreiche Parteimitglieder, wel-
che die Übernahmen von Schwei-
zer Firmen durch chinesische
Staatskonzerne kritisieren und
für Investitionskontrollen sind.
Auf der anderen Seite ist die Par-
teispitze, die das Verhältnis zwi-
schen der Schweiz und China in
keiner Art belasten möchte.
Jetzt zeigt sich, dass SVP-Vize-
merkte: Hier sind vitale Interes-
sen im Spiel», sagt ein SVP-Frak-
tionsmitglied. Martullo-Blocher
ist Chefin der Ems-Chemie, die in
China mehrere Fabriken besitzt.
Bereits im September weibelte
Martullo-Blocher für China, als
ein Vorstoss der FDP behandelt
wurde. Dieser forderte eine An-
näherung der Schweiz zu Taiwan.
China betrachtet das Land als Teil
des eigenen Staats. Zunächst
sprach sich die SVP-Fraktion vor-
behaltlos für den Vorstoss aus.
Unmittelbar vor dessen Behand-
lung im Nationalrat gab Martullo-
Blocher allerdings die Order für
ein Nein aus. «Sie sagte, man
dürfe dem Vorstoss nicht zustim-
men, weil man damit China ver-

präsidentin Magdalena Martullo-
Blocher ihre Partei auf Linie brin-
gen will. So hat sie vehement für
die Ablehnung eines CVP-Vor-
stosses geworben, der Investi-
tionskontrollen fordert und als
«Lex China» gilt. In einem unver-
öffentlichten Papier hatte sich die
Partei zunächst noch offen dafür
gezeigt. Martullo vertrat ihre
Position unter anderem mit Ver-
weis auf ihre geschäftlichen Be-
ziehungen zu China. «Man
Gesuchtwird...
ärgere», erklärt der frühere SVP-
Nationalrat Felix Müri.
Martullos Vorgehen sorgt in der
SVP für Unmut. «Souveränität ist
nicht nur ein politisches State-
ment, sondern hat auch eine wirt-
schaftliche Komponente», sagt der ... eine junge Person mit grauen Augen, roten Haaren und heller Haut.
Nationalrat Jean-Luc Addor. «Wir Aus DNA-Spuren sollen Schweizer Ermittler künftig Körpermerkmale und
dürfen nicht im Namen der libera-
len Wirtschaftsordnung unsere die ungefähre Herkunft herauslesen können. Die Methode ist umstritten.
Eigenständigkeit aufgeben.»
Seite 45
Seite 8

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Teures Roaming: Sommaruga verbietet CS überprüft

Preistrick der Telekomfirmen Beschattung
Privatklinik am Zürichsee

Für Telefonate ins Ausland
haben Handynutzer bis zu
120 Millionen Franken zu viel
bezahlt. Nun will der Bund
diese Praxis stoppen.
Daniel Friedli
Schweizer Handykunden haben
für Gespräche vom und ins Aus-
land jahrelang viel mehr bezahlt
mit 94, 95 und 120 Millionen so-
gar noch höher.
Der Grund dafür liegt in der
Verrechnungspraxis. Die Anbieter
runden beim Abrechnen die Län-
ge der Telefongespräche jeweils
auf die nächste Minute auf und
das Datenvolumen auf eine
höhere Einheit von Bytes. Doch
damit dürfte nun bald Schluss
sein. Der Bundesrat will die
Departement von Medienminis-
terin Simonetta Sommaruga.
Bei den Telekomunternehmen
löst diese Verpflichtung wenig
Freude aus. Für den Konsumen-
tenschutz ist der Schritt indes
überfällig. Die Firmen hätten das
Roaming als eine «reine Geld-
maschine» zulasten der Kunden
benützt. Geschäftsleiterin Sara
Stalder fordert zudem, dass die-
in ganzer Bank
Am Montag informiert die Bank
darüber, wer die Beschattung des
Gott ist nicht der obersten Personalchefs angeord-
net hat. Die Spur führt zu den
Regisseur des Sicherheitschefs, die entspre-
Welttheaters. Er chende Rechnungen visiert ha-
hat noch nicht ben. Befragt von der Anwalts-
kanzlei Homburger, sagte eine
einmal die Bühne Person aus, «die bisher nicht alles

Nur unglücklich
als nötig. Wie neue Zahlen zeigen, Firmen dazu verpflichten, beim selben Regeln auch für Anrufe im aufgebaut. Es war offengelegt hatte». Das erklärt
haben ihnen die Telekomfirmen Roaming künftig sekunden- Inland eingeführt werden. Darauf
nur sein Wille, dass Flavio Romerio von Homburger.
51

oder schon allein im letzten Jahr zwischen 22 beziehungsweise kilobytegenau verzichtet der Bundesrat aber, Im Auftrag der CS untersuchte er,
und 32 Prozent mehr Gesprächs- abzurechnen. Die Kunden sollen wohl auch weil hier die meisten hier einmal das ob Mitarbeiter auf allen Stufen
9 771660 085003

depressiv?
minuten verrechnet, als sie effek-
tiv genutzt haben. Dadurch fielen
www.hohenegg.ch/ die Rechnungen um fast 69 Mil-
depression lionen Franken zu teuer aus. In
den Vorjahren war diese Summe
zusätzlich zu den ohnehin schon
hohen Roaming-Tarifen «nicht
auch noch Minuten und Daten-
volumen bezahlen, die sie nicht
konsumiert haben», schreibt das
Kunden ohnehin bereits mit Pau-
schalabos telefonieren und im
Internet surfen.
Seite 9
Leben spielt. beschattet wurden. Falls es so
war, muss CS-Chef Tidjane Thiam
Samuel Tanner, Redaktor, denkt um seinen Job bangen. (frp.)
über die Frage nach, ob er aus der
Kirche austreten soll. Seite 18 Seiten 23, 25
2 International NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

Dear Madam Speaker:

JIM LO SCALZO / EPA / KEYSTONE

Das Feuer bedroht Siedlungen am Rand von Sydney.
Feuerwehr bekämpft
Brände um Sydney
Ein Temperatursturz mit
heftigen Winden hat die
riesigen Buschfeuer rund
um die australische Millio-
nenstadt Sydney noch
verschärft. «Heute war ein
fürchterlicher Tag»,
berichtete der Chef der
Feuerwehr im Gliedstaat
New South Wales, Shane
Fitzsimmons, am Sams-
tag. Der Wetterwechsel
liess die Flammen zum Teil
60 Meter hoch wachsen.
Etwa 100 Brände wüten
derzeit allein im Südosten
Australiens. Autobahnen,
Ausfallstrassen und Zug-
strecken im Umland von
Sydney wurden gesperrt.
DAVID GRAY / GETTY IMAGES
Ich schreibe, um meinem stärksten und
machtvollsten Protest gegen den partei-
ischen Kreuzzug für die Amtsenthebung
Ausdruck zu geben, der von den Demokraten
im Repräsentantenhaus betrieben wird.
Dieses Impeachment stellt einen Machtmiss-
brauch durch demokratische Gesetzgeber
dar, der unerhört ist und gegen die Verfas-
sung verstösst. (...)
Die vom Justizausschuss des Repräsentan-
tenhauses vorgebrachten Anklagepunkte für
die Amtsenthebung verfehlen jede Norm in
der Theorie und Interpretation der Verfas-
sung oder der Rechtsprechung. Die Vorwürfe
enthalten weder Verbrechen noch Vergehen
und auch sonst überhaupt keine Delikte. Sie
haben die Bedeutung dieses sehr hässlichen
Wortes entwürdigt: Impeachment!
Indem Sie Ihr ungültiges Amtsent-
Feuerwehrleute. Drei Mil- hebungsverfahren fortsetzen, verletzen Sie
lionen Hektaren Land sind Ihren Amtseid, brechen Ihre Treuepflicht der
bereits verbrannt. Verfassung gegenüber und erklären der ame-
Australiens Premier- rikanischen Demokratie offen den Krieg. Sie
minister Scott Morrison wagen es, die Gründerväter in diesem Manö-
kehrte am Samstagabend ver anzurufen, das Wahlen nichtig machen
Ortszeit vorzeitig von soll. Doch dabei zeigen Ihre gehässigen Taten
einer Ferienreise auf eine hemmungslose Verachtung für die
Hawaii zurück, gab aber Gründung Amerikas, und Ihr ungeheuer-
keine Erklärungen ab. liches Benehmen gefährdet die Errungen-
Morrison wird für den schaften, für deren Aufbau die Gründer ihr
Zeitpunkt der Privatreise Leben eingesetzt haben. Aber noch schlim-
heftig kritisiert, zumal sein mer als Ihre Beleidigung der Gründerväter
Büro diese Woche auch ist Ihre Beleidigung gläubiger Amerikaner,
noch versuchte, den Auf- indem Sie ständig sagen: «Ich bete für den
enthaltsort des Regie- Präsidenten.» Dabei wissen Sie selbst, dass
rungschefs zu verschlei- diese Erklärung unwahr ist – es sei denn, sie
ern. Morrison entschul- ist im negativen Sinn gemeint. Sie begehen
digte sich am Freitag da eine schreckliche Sache. Aber damit Sie sind erbitterte Feinde: Die Fraktionschefin der Demokraten, Nancy Pelosi, und der republikanische
dafür. Unter Druck kommt werden Sie zu leben haben, nicht ich!

«Sie haben NICHTS

Die Behörden riefen die
Bewohner in Australiens
bevölkerungsreichstem
Gliedstaat auf, Fahrten in
die Weihnachtsferien
die konservative Regie- Ihr erster Anklagepunkt, «Machtmiss-
rung aber auch wegen brauch», ist eine vollständig unredliche,
ihrer zögerlichen Haltung wertlose und unbegründete Ausgeburt Ihrer
beim Kampf gegen den Phantasie. Sie wissen, dass ich eine völlig
Klimawandel. Australien unschuldige Unterhaltung mit dem Präsiden-

aufzuschieben. Rund
10 000 Polizisten, Ret-
tungskräfte und Feuer-
wehrleute waren am
Samstag im Einsatz.
Bei den seit September
andauernden Buschfeuern
kamen bisher mindestens
neun Menschen ums
Leben, darunter zwei
Türkei greift im Krieg
in Libyen ein
Das türkische Parlament
gefunden!»
wurde jüngst in einer ten der Ukraine geführt habe. Dann hatte
Bewertung der Klimapoli- ich ein zweites Gespräch, das falsch zitiert,
tik von Staaten als falsch dargestellt und in betrügerischer
schlechtestes von 58 Län- Absicht verzerrt worden ist. Glücklicher-
dern geführt. Vizeregie- weise wurde ein Transkript des Gesprächs
rungschef Michael McCor- hergestellt. Und Sie wissen aus diesem Tran-
mack räumte ein, die skript (das umgehend zur Verfügung gestellt
Regierung müsse mehr
tun, um die CO2-Emissio-
worden ist), dass der fragliche Absatz ein-
wandfrei war. Ich sagte Präsident Selenski: Donald Trumps Brief an die Sprecherin des
nen zu verringern. (mbn.) «Ich hätte aber gerne, dass Sie uns einen
Gefallen tun, weil unser Land viel durch- Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ist eine
gemacht hat und die Ukraine darüber viel
weiss.» Ich sagte, tun Sie uns einen Gefallen,
nicht mir, und unser Land, nicht eine Wahl-
Wutrede gegen das Impeachment. Doch er ist
kampagne. Anschliessend habe ich den Jus-
tizminister der Vereinigten Staaten erwähnt.
viel mehr. Er ist ein historisches Dokument
Bei jedem Gespräch mit ausländischen
Staatsoberhäuptern haben für mich die
des Trumpismus. Der US-Präsident verdreht
GETTY IMAGES

hat am Samstag einem

umfassenden Abkommen
zur militärischen Koopera-
tion mit der libyschen
Regierung zugestimmt.
Das Votum des Parla-
ments war eine Formali-
tät, da dort die Partei von
Staatschef Tayyip Erdo-
gan die Mehrheit hält.
Damit ist der Weg offen
für die Entsendung von
Militärberatern und die
Bereitstellung von Waffen
und Gerät. Erdogan hat
sich auf die Seite der von
der Uno anerkannten Ein-
heitsregierung in Tripolis
gestellt. Sie hatte am Frei-
tag auch die USA, Gross-
britannien und Italien um
Militärhilfe gebeten, aller-
Interessen Amerikas Vorrang. (...)
Sie wissen ganz genau, dass Vizepräsident Tatsachen, lügt, plustert sich auf, benennt
Biden sein Amt und eine Milliarde Dollar
amerikanischer Hilfsgelder dazu benutzt hat, aber auch unangenehme Wahrheiten für die
die Ukraine zur Entlassung eines Staats-
anwaltes zu nötigen, der gegen eine Firma Demokraten
ermittelte, die seinem Sohn Millionen von
Dollar bezahlte. Sie wissen das, weil Biden
darüber in einem Video geprahlt hat. Biden
Tayyip Erdogan erklärte offen: «Ich sagte: ‹Ich teile euch mit,
dass ihr die Milliarde Dollar nicht
dings ohne Erfolg. Russ- bekommt.› ... Ich schaute sie an und sagte:
land wiederum unter- ‹Ich reise in sechs Stunden ab. Wenn der
stützt mit der Söldner- Staatsanwalt nicht gefeuert wird, bekommt
truppe Wagner die Liby- ihr das Geld nicht.› Nun, verdammt nochmal.
sche Nationalarmee des Er wurde gefeuert.» Sogar Joe Biden selbst
General Khalifa Haftar. hat vor wenigen Tagen auf [dem öffentlich-
Dieser hatte im April eine
Offensive auf Tripolis
begonnen und hofft nun
auf die Einnahme der Verschwörungstheorie
Hauptstadt. (mbn./dpa)

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Weshalb die Ukraine plötzlich schuld sein soll
Ein Teil der Amerikaner
glaubt mittlerweile, dass sich
die Ukraine in die Präsident-
schaftswahlen eingemischt
hat – nicht etwa Russland.
Andreas Mink, New York
Eins ist klar. Gegen US-Präsident
Donald Trump läuft ein Amts-
enthebungsverfahren. Das ist ein
Faktum, das in die Geschichte
eingehen wird. Viele andere
Fakten sind jedoch umstritten.
Sicher geglaubte Tatsachen
Zweisprachige Maturität werden plötzlich hinterfragt.
IB World School Laut aktuellen Umfragen halten
es 55 Prozent der US-Bürger für
denkbar, dass es die Ukraine war,
die Manipulationen im Präsi-
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dentschaftswahlkampf 2016
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betrieben hat. Bei den Republi-
kanern glauben weniger als ein 2016 zurück. Damals wurde der Affäre inzwischen im
Drittel noch an eine Einmi- bekannt, dass Paul Manafort, der Gefängnis.
schung der Russen. Wahlkampfmanager von Trump, Bei Trump stiess Manaforts
Doch wie konnte das passie- als Berater in der ehemaligen dreistes Konstrukt aber auf
ren? Wie geriet die Ukraine Sowjetrepublik Millionen Dollar offene Ohren. Und Trump war
in den Sog von Verschwörungs- von ukrainischen Oligarchen mit bereit, noch viel abenteuerliche
theorien und politischen Intri- einem direkten Draht zum Kreml Geschichten zu glauben. Nach-
gen? Schliesslich stellten US- bezog, die Honorare aber nie in dem die Demokraten die Hacker-
Geheimdienste, Sonderermittler den USA versteuert hat. Trump angriffe auf Server in ihrer Par-
Robert Mueller und selbst der musste seinen alten Kumpel teizentrale entdeckt hatten, rief
US-Senat unter republikanischer Manafort daraufhin fallenlassen. die Parteiführung – das Demo-
Federführung fest: Die Ein- Dieser streute zu seiner Verteidi- cratic National Committee (DNC)
mischungen kamen aus dem gung das Gerücht, er sei das – die Cyber-Security-Firma
Kreml. Offenkundig wollte Wla- Opfer einer Verleumdungskam- Crowd-Strike zu Hilfe. Diese ist
dimir Putin mit einer massiven pagne ukrainischer Oligarchen. von ehemaligen Mitarbeitern der
Kampagne in den sozialen Netz- Das eigentliche Ziel sei aber nicht US-Geheimdienste gegründet
werken und mit Hackerangriffen er, Manafort, gewesen, sondern worden. Die Experten machten
auf die Computer der Demokra- Donald Trump. Die Vorwürfe Ende 2016 die russische Hacker-
ten einen Wahlsieg von Hillary gegen ihn, so behauptete Mana- gruppe «Fancy Bear» als Täter
Clinton verhindern. fort, sollten die Präsidentschafts- aus. Trump aber spann sich
Die Verschwörungstheorie zur kampagne von Trump ins Chaos zusammen, die Demokraten und
Ukraine geht auf den Sommer stürzen. Manafort sitzt wegen Crowd-Strike hätten den Angriff
 3

brachten die erste Impeachment-Resolution unter einer inzwischen erwiesenermassen

MICHAEL REYNOLDS / EPA / KEYSTONE

Präsident Donald Trump.
rechtlichen Radiosender] NPR erklärt, dies
habe «schlecht ausgesehen». Jetzt versuchen
Sie, mich aus dem Amt zu entfernen, indem
Sie mich fälschlicherweise genau jener
Vergehen beschuldigen, die Joe Biden einge-
standenermassen selbst begangen hat.
Präsident Selenski hat wiederholt erklärt,
dass ich nichts Falsches tat und dass es
keinen Druck gab. Er hob hervor, es sei «ein
guter Telefonanruf» gewesen und «Ich emp-
finde keinen Druck», und er hat explizit
betont, dass «mich niemand bedrängt hat».
(...) Senator Ron Johnson aus Wisconsin, ein
Unterstützer der Ukraine, der sich vertrau-
lich mit Präsident Selenski traf, hat gesagt:
«Während dieses Treffens ... haben weder
Selenski noch ein anderer Ukrainer je
erwähnt, dass sie sich zu irgendetwas
genötigt fühlten, um im Austausch dafür
Militärhilfe zu erhalten.» Zwischen Vertre-
tern der Ukraine und unseres Landes fanden
viele Treffen statt. Kein einziges Mal hat sich
die Ukraine darüber beschwert, unter Druck
gesetzt zu werden – kein einziges Mal! Bot-
schafter Sondland hat ausgesagt, ich habe
ihn wissen lassen: «Keine Gegenleistung. Ich
will nichts. Ich will nichts. Ich will, dass Prä-
sident Selenski rechtschaffen handelt, dass
er seine Wahlversprechen hält.»
Der zweite Punkt der Anklage, die soge-
nannte «Behinderung des Kongresses», ist
absurd und gefährlich. Demokraten im
Repräsentantenhaus wollen den rechtmässig
gewählten Präsidenten der Vereinigten Staa-
ten absetzen, weil dieser in der Verfassung
verankerte Vollmachten geltend macht, die
in der gesamten Geschichte unserer Nation
übereinstimmend von Regierungen aus
beiden Parteien geltend gemacht worden
gegen mich bereits Monate nach meiner
Trumps unfähigen und korrupten Führung – nach all
Amtseinführung ein. Der Grund war, was als Impeachment dem haben Sie NICHTS gefunden! (...)
eine der besten Entscheidungen unseres Sie sind mit dem Mueller-Report vollstän-
Landes gelten wird: der Hinauswurf von
James Comey (siehe dazu den Report des
Generalinspektors des Justizministeriums),
von dem die Welt nun weiss, dass er einer
25.7.
Donald Trump telefo-
dig gescheitert, weil es dabei nichts zu finden
gab. Also haben Sie beschlossen, auf den
nächsten Schwindel aufzuspringen, der des
Weges kam, das Telefonat mit der Ukraine –
der schmutzigsten Bullen ist, die unsere niert mit dem ukraini- obwohl das ein einwandfreier Anruf war. (...)
Nation je gesehen hat. Eine tobende und schen Präsidenten Sie sind es, die die Wahlen in Amerika stören.
rasende Kongressabgeordnete, Rashida Wolodimir Selenski. Sie sind es, die Amerikas Demokratie unter-
Tlaib, erklärte Stunden nach ihrem Amtseid: Er bittet ihn um einen wandern. Sie sind es, die die Justiz behin-
«Wir werden da reingehen, und wir werden Gefallen: Unter- dern. (...)
diesem Mutter...r den Amtsenthebungs- suchungen gegen Joe Vor dem Impeachment-Schwindel war es
prozess machen.» Der Abgeordnete Al Green Bidens Sohn Hunter. die Russland-Hexenjagd. Gegen alle Beweise
sagte im Mai: «Ich mache mir Sorgen, dass und ohne Rücksicht auf die Wahrheit haben
dieser Präsident wiedergewählt wird, wenn
wir kein Verfahren für seine Absetzung
anstrengen.» Noch einmal: Sie und Ihre Ver-
bündeten haben all diese Dinge gesagt und
24.9.
Nancy Pelosi, die
Sie und Ihre Stellvertreter behauptet,
meine Wahlkampagne habe mit den Russen
gemeinsame Sache gemacht – eine schwer-
wiegende, bösartige und verleumderische
getan, lange bevor Sie je von Präsident Sprecherin des Lüge, eine Falschheit ohne Beispiel. Auf-
Selenski oder von irgendetwas die Ukraine Repräsentanten- grund einer komplett fabrizierten Geschichte
betreffend hörten. (...) hauses, erklärt ihre zwangen Sie unsere Nation durch Aufruhr
Der Kongressabgeordnete Adam Schiff hat Unterstützung für und Qualen. Diese hatten Hillary Clinton und
bis zum heutigen Tag betrogen und belogen. ein Amtsenthebungs- der Parteivorstand der Demokraten einem
Dabei ist er sogar so weit gegangen, meine verfahren. Erste An- ausländischen Spion abgekauft, um einen
Unterhaltung mit Präsident Selenski, aus der hörungen beginnen. Anschlag auf unsere Demokratie zu verüben.
Luft gegriffen, in betrügerischer Weise zu Aber als die monströse Lüge entlarvt wurde
erfinden. Diese Phantasieworte las er dem
Kongress dann vor, als hätte ich sie ausge-
sprochen. Seine schamlosen Lügen und Täu-
schungen gehen auf den Russland-Schwin-
18.12.
Trump ist impeached:
und sich diese Verschwörung der Demokra-
ten in Staub auflöste, haben Sie sich nicht
entschuldigt. (...) Ihre Amtsführung als
Sprecherin und Ihre Partei werden von Ihren
del zurück und sind ein Hauptgrund dafür, 230 demokratische hochgradig geistesgestörten und radikalen
dass wir heute hier stehen. Abgeordnete des Vertretern der extremen Linken in Geiselhaft
Sie und Ihre Partei sind verzweifelt Repräsentanten- gehalten. Jedes Mitglied Ihrer Fraktion lebt
bemüht, von dem ausserordentlichen Wirt- hauses stimmen für in Furcht vor einem sozialistischen Heraus-
schaftsgang, dem unglaublichen Job-Boom, den Vorwurf des forderer bei den Vorwahlen – das ist es, was
dem Rekord-Aktienmarkt, der hochfliegen- Machtmissbrauchs, dieses Impeachment vorantreibt. (...)
den Zuversicht und den erfolgreichen Bür- 229 für den Vorwurf Lägen Ihnen die Ungebundenheit und
gern Amerikas abzulenken. Ihre Partei kann der Behinderung der Freiheit unserer Nation wirklich am Herzen,
schlicht nicht mit unseren Leistungen mit- Arbeit des Kongres- dann würden Sie Ihre riesigen Mittel für
halten: Sieben Millionen neue Jobs; die nied- ses. Die republikani- Ermittlungen der Aufdeckung der vollen
sind. Mit diesem Massstab wäre gegen jeden rigste Arbeitslosigkeit je unter Afroamerika- sche Minderheit stellt Wahrheit über den entsetzlichen Machtmiss-
amerikanischen Präsidenten viele Male ein nern, hispanischen Amerikanern und asiati- sich dagegen. brauch des FBI vor, während und nach den
Absetzungsverfahren angestrengt worden. schen Amerikanern; ein erneuertes Militär; Wahlen 2016 widmen. Dazu zählt der Einsatz
Deshalb hat der liberale Rechtsprofessor
Jonathan Turley die Demokraten im Kon-
gress gewarnt: «Ich kann das nicht genug
betonen, ... wenn Sie die Amtsenthebung
eine von Grund auf reformierte Veteranen-
behörde mit Wahlmöglichkeiten [bei der
Gesundheitsversorgung] für unsere gross-
artigen Veteranen und Rechenschaftspflicht
3.1.
Der Senat nimmt
von Spionen gegen meine Wahlkampagne,
die Einreichung gefälschter Beweismittel bei
einem FISA-Gericht [das Lauschangriffe auf
Personen genehmigt] und das Verbergen von
eines Präsidenten anstrengen, wenn Sie den ihnen gegenüber; über 170 neue Bundesrich- nach Neujahr seine Entlastungsmaterial, um Unschuldige als
Gang vor Gericht [Erklärung: Trump hat die ter und zwei Verfassungsrichter; historische Arbeit auf. Doch das Verbrecher hinzustellen. Dem FBI gehören
Herausgabe von Dokumenten und Zeugen Kürzungen bei Steuern und Auflagen; die Datum für den Be- grossartige und ehrenwerte Leute an, aber
an das Repräsentantenhaus verweigert und Abschaffung des individuellen Mandats [bei ginn der Impeach- die Führung war unfähig und korrupt. Ich
dabei Gerichte angerufen] als schwere Straf- der Krankenversicherung]; die erste Preis- mentverhandlung ist würde annehmen, dass Sie persönlich von
tat und Vergehen verdrehen, dann stellt das minderung bei Medikamenten in einem offen. Das Repräsen- diesen Enthüllungen entsetzt sind. Denn
Machtmissbrauch dar. Das ist Ihr Machtmiss- halben Jahrhundert; die erste neue Waffen- tantenhaus will das an Ihrer Pressekonferenz an dem Tag, als
brauch. Sie verüben genau die Taten, für die gattung des Militärs der Vereinigten Staaten Anklagedossier Sie das Impeachment angekündigten, haben
Sie den Präsidenten kritisieren.» seit 1947, die Space Force [Weltraum-Streit- gegen Trump erst an Sie die Bemühung um eine Amtsenthebung
Jeder weiss, und das schliesst Sie ein, macht]; ein starker Schutz für den zweiten den Senat schicken, direkt an den vollkommen diskreditierten
was hier wirklich abläuft. Die von Ihnen aus- Verfassungszusatz [für das Recht auf Waffen- wenn sich dieser auf Russland-Schwindel geknüpft und zweimal
erkorene Kandidatin hat 2016 die Wahl ver- besitz]; die Reform des Strafrechts; ein die Form des Verfah- erklärt, «alle Wege führen zu Putin». Dabei
loren, in einem Debakel am Kolleg der Wahl- besiegtes IS-Kalifat und die Tötung der welt- rens geeinigt hat. wissen Sie doch ganz genau, dass das eine
männerversammlung (306–227), und von weiten Nummer 1 unter den Terroristen- elende Lüge ist. Ich bin weit härter mit Russ-
dieser Niederlage haben Sie und Ihre Partei führern, al-Baghdadi; (...) Und all dies ist nur land umgegangen, als es Präsident Obama
sich nie erholt. (...) der Anfang, da ist noch so viel mehr. Für jemals überhaupt in den Sinn gekommen ist.
Sprecherin Pelosi, Sie haben erst letzte Ihre extremen politischen Ziele gibt es keine Jedes Kongressmitglied, das für das
Woche an einem öffentlichen Forum einge- Rechtfertigung: offene Grenzen, Massen- Impeachment stimmt – gegen jeden Fetzen
standen, die Bemühungen Ihrer Partei für zuwanderung, hohe Verbrechensraten, läh- von Wahrheit, Fakten, Beweisen und Rechts-
eine Amtsenthebung hätten über «zweiein- mende Steuern, ein verstaatlichtes Gesund- prinzipien –, zeigt, wie tief Sie die Wähler
halb Jahre» angedauert, lange bevor Sie von heitswesen, die Zerstörung der amerikani- schmähen und wie Sie die Verfassungs-
einem Telefonat mit der Ukraine gehört schen Energie, von Steuerzahlern finanzierte ordnung Amerikas wahrhaftig verabscheuen.
haben. 19 Minuten nachdem ich den Amtseid Spätabtreibungen, die Abschaffung des (...) Wenn die Menschen in hundert Jahren
abgelegt hatte, veröffentlichte die «Washing- zweiten Verfassungszusatzes, radikale, auf diese Affäre zurückschauen, möchte ich,
ton Post» eine Geschichte mit der Schlag- linksextreme Theorien zu Recht und Justiz, dass sie diese verstehen und aus ihr lernen,
zeile: «Die Kampagne zu der Amtsenthebung und eine ständige, parteiische Behinderung damit so etwas nie wieder einem anderen
von Präsident Trump hat begonnen.» Keine sowohl des gesunden Menschenverstands Präsidenten widerfahren kann.
drei Monate nach meiner Amtseinführung als auch des Gemeinwohls.
erklärte die Abgeordnete Maxine Waters: (...) Nach drei Jahren von unfairen und Mit hochachtungsvollen Grüssen, Ihr
«Ich werde jeden Tag kämpfen, bis gegen ihn ungerechtfertigten Ermittlungen, 45 Millio- Donald J. Trump
eine Amtsenthebungsklage erhoben worden nen ausgegebenen Dollar, 18 zornigen demo-
ist.» Die Demokraten im Repräsentantenhaus kratischen Anklägern, dem gesamten FBI Aus dem Englischen von Andreas Mink.

selbst inszeniert, um ihn als Watergate-Affäre im Keller des steht fest, dass dieses Geld aus Gegner bei den Präsidentschafts-
JUSTIN T. GELLERSON /THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF

Marionette Moskaus anzu-
schwärzen.
Diese Idee wurde anscheinend
zuerst von einer Online-Platt-
form in der von Russland
gesteuerten Ostukraine propa-
giert und dann in den USA
begeistert von rechten Medien-
Matadoren wie Rush Limbaugh
aufgegriffen. Die Verbindung zur
Ukraine bestand angeblich darin,
dass ein Teilhaber von Crowd-
Strike aus diesem Land stammt.
Die Geschichte ist absurd.
Aber zu seiner eigenen Entlas-
tung hat sie Trump genügt. Er
beteuert sogar, der DNC-Server
sei nach Kiew transportiert und
dort versteckt worden. Dabei ist
der Metallkasten längst neben
einem Karteischrank aus der
DNC zu besichtigen. Gleichzeitig
nahmen in Washington die
Kreml-Ermittlungen unter
Robert Mueller Fahrt auf. Im
Herbst 2018 bot sich Rudy Giu-
liani bei Trump als Retter an. Der
frühere Stadtpräsident von New
York wollte in Kiew Beweise für
die Server-Legende aufspüren
und damit den Befund von
Mueller entwerten. Giuliani
hatte bereits amerikanisch-
ukrainische Klienten, die ihm
auf seiner Sondermission als
persönlicher Anwalt von Trump
behilflich sein wollten. Die
Herren zahlten ihm mindestens
eine halbe Million Dollar an
Honorar und verteilten Hundert-
tausende als Spenden an repu-
blikanische Politiker. Inzwischen
russischen Quellen stammt.
Beweise für die Crowd-Strike-
Verschwörung hat Giuliani aller-
dings bis heute nicht geliefert.
Weshalb die Verschwörungs-
theorie nach der Publikation des
Mueller-Reports am 25. Juli nicht
zu einem Ende kam, ist unklar.
Schliesslich hatte Mueller auf
eine Anklage gegen Trump
verzichtet. Doch wahrscheinlich
hatte sich Trump schon zu sehr
auf die Verschwörungstheorie
eingelassen. Zudem hatte Giu-
liani bereits ein neues Objekt für
Trumps Obsession mit der
Ukraine gefunden: Der Sohn von
Joe Biden hatte dort als Vorstand
eines Erdgaskonzerns ein sattes
Neben dem Watergate-Aktenschrank: Der gehackte Server der Salär bezogen. Daraus wollte
Demokraten liegt in der Parteizentrale auf einem Tisch. (12. 12. 2016) Trump seinem mutmasslichen
wahlen 2020 einen Strick
drehen. So hat er am Tag nach
der Veröffentlichung des Muel-
ler-Reports beim ukrainischen
Präsidenten Wolodimir Selenski
auf Ermittlungen zum DNC-Ser-
ver und gegen Biden gedrungen.
Als Druckmittel diente ihm
eine bereits vereinbarte, aber
dann blockierte Militärhilfe von
400 Millionen Dollar.
Während sich die Amerikaner
nun darüber streiten, ob das
nun Machtmissbrauch war oder
nicht, ist man im Kreml sehr
erfreut. Wladimir Putin sagte
bereits im Oktober: «Gottlob
wirft uns jetzt niemand mehr
Einmischungen in die amerika-
nischen Wahlen vor. Jetzt
beschuldigen sie die Ukraine.»
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
«Die Politik in
Europa ist
extrem volatil»
National-sozial, illiberal, grün:
Die politischen Trends in Europa
sind derzeit widersprüchlich,
sagt Populismusforscherin Ruth
Wodak. Sie ist nicht optimistisch
Interview: Gordana Mijuk
NZZ am Sonntag: In Grossbritan-
nien hat Premierminister Boris
Johnson ein Glanzstück voll-
bracht. Er hat auf einen Schlag
die Linke und die Rechte, Labour
und Brexit-Partei, ausgeschaltet.
Ruth Wodak: Es war nicht
bloss sein Kunststück. Es lag vor
allem auch an der Schwäche
und Fragmentierung der Opposi-
tionsparteien. Wenn man den
Wahlsieg etwas aufschlüsselt,
sieht man Folgendes. Erstens:
Johnson hat nur in England
gewonnen, nicht jedoch in Irland
oder Schottland. In Schottland
hat die Scottish National Party
fast die absolute Mehrheit erhal-
ten. In Nordirland haben Natio-
nalisten und EU-freundliche
Parteien gewonnen. Zweitens:
Boris Johnson hat unter dem
Strich weniger Stimmen gewon-
nen als seine Vorgängerin The-
resa May. Dass er dennoch mehr
Sitze gewonnen hat, liegt am
Mehrheitsstimmrecht in den
einzelnen Wahlbezirken. Das
erinnert stark an die USA. Dort
hat Donald Trump fast drei Mil-
lionen Stimmen weniger als Hil-
lary Clinton erreicht und den-
noch gewonnen.
Das Wahlsystem ist, wie es ist.
Es gibt noch einen dritten
Punkt: Es gab eine Vereinbarung
zwischen der Brexit-Partei und
den Tories. Die Brexit-Partei zog
ihre Kandidatur zurück, wo es
für die Konservativen schwierig
geworden wäre. Die beiden Par-
teien hatten also eine taktische
Allianz. Man könnte sich etwa
gut vorstellen, dass die Tory-Par-
tei im Norden Englands nicht so
gut abgeschnitten hätte, wäre
die Brexit-Partei überall angetre-
ten. Die Rechten hatten eine
Allianz, die Opposition war frag-
mentiert.
Im Wahlkampf von Johnson fiel
auf, dass er diesmal kaum mit
Ängsten spielte. Es gab keine War-
nung vor neuen Migranten wie
noch in der Kampagne zum Bre-
xit-Referendum 2016. In dem
Sinn hat er sich nicht wie ein
Rechtspopulist verhalten.
Johnson hatte einen Slogan:
«Get Brexit Done». Das hat mobi-
lisiert. Nach drei Jahren hatte
man genug von Brexit-Debatten.
Der Slogan war auch mit einer
Warnung verbunden: «Wenn ihr
mich nicht wählt, dann geht das
so weiter. Das Parlament bleibt
blockiert. Vielleicht werden wir
dann nie aus der EU austreten.»
Das neue Feindbild war die als
linkssozialistisch bezeichnete
Linke, die einen Teil der Wirt-
International
Auf Besuch im Spital: Premierminister Johnson verspricht Investitionen ins Gesundheitswesen. (Mansfield, 8. November 2019)
schaft nationalisieren wollte.
Wieder wurde also Hoffnung mit
Angst gepaart. Rechtspopulis-
tisch ist auch seine Behauptung,
dass nur er das Volk vertritt.
Die Tories als People’s party?
Das ist typisch für den Rechts-
populismus. Im Namen des
derart angerufenen Volkes wollte
Johnson auch das Parlament
ausschalten, als er es wochen-
lang auszusetzen versuchte.
Dabei repräsentiert das Parla-
ment das Volk. Diese Strategie
konnte man auch in Österreich
beobachten. Dort wurde Bun-
deskanzler Sebastian Kurz im
Juni 2019 durch die Vertrauens-
frage seines Amtes enthoben.
Kurz sagte darauf: Das Parlament
hat mich abgelehnt, aber das
Volk will mich. Auch er igno-
rierte damit die Tatsache, dass
das Volk ja das Parlament wählt.
Johnson baute ja nicht nur auf
der Schwäche der Linken, er über-
nahm deren Argument und politi-
sche Agenda, indem er Investitio-
nen ins staatliche Gesundheits-
system NHS versprach, in Schu-
len.
Das sind Versprechen, die sich
sehr gut vermarkten lassen. Er
wollte ja die Labour-Hochburgen
knacken. Damit ist Johnson zu
den Versprechen der Referen-
dumskampagne von 2016
zurückgekehrt. Damals behaup-
teten die Brexit-Befürworter,
man werde die 365 Millionen
Pfund, die pro Woche angeblich
in die EU fliessen, künftig in den
NHS stecken. Das waren zwar
falsche Zahlen und falsche Ver-
sprechen. Doch im Kern ging
es um ein zentrales Identitäts-
thema. Die Briten identifizieren
sich stark mit dem NHS, und
Johnson verspricht, diese ange-
schlagene Institution zu stärken.
Baut Johnson eine neue Tory-Par-
tei, die einen nationalen, sozialen
Konservatismus vertritt?
Nein, das kann man so nicht
sagen. Die Tories haben sich
schon unter Theresa May von
der Sparpolitik verabschiedet.
Ob jetzt tatsächlich mehr Geld
investiert wird für die Armen
und die Mittelschicht, das muss
Johnson noch beweisen. Er wird
künftig die quasi geborgten
Labour-Stimmen halten müssen.
Da muss er für diese Wähler
etwas hergeben. Der NHS eignet
sich gut dafür.
In seiner Antrittsrede versprach
er, die Krise in der Sozialhilfe zu
lindern und jenen zu helfen, die
Ruth Wodak
Die 69-jährige Sprachwissen-
schafterin ist Mitbegründerin
der Kritischen Diskursanalyse
und erforscht seit Jahren die
Wirkung rechtspopulistischer
Rhetorik. Wodak lehrte an den
Universitäten Wien und Lan-
caster. In ihrem 2016 erschie-
nenen Buch «Politik der Angst»
weist sie die immer stärker
werdende Akzeptanz nationa-
listischer, fremdenfeindlicher,
rassistischer und antisemiti-
scher Rhetorik nach. Derzeit
arbeitet sie an einer erweiter-
ten Neuauflage.
vergessen wurden. Nehmen Sie
ihm das nicht ab?
Ich warte jetzt mal ab. Bitte
denken Sie an den US-Präsiden-
ten Donald Trump. Auch er
wollte sich um die left behinds
kümmern. Gemacht hat er es
nicht. Schon Johnsons Vorgän-
gerin Theresa May hatte eine
soziale Wende versprochen.
Passiert ist wenig. Die Schere
zwischen Arm und Reich ist in
Grossbritannien in den letzten
zehn Jahren stark aufgegangen.
Dazu beigetragen haben auch die
Sparprogramme in der Sozial-
hilfe. Viele Menschen, vor allem
in Nordengland, sind von Sup-
penküchen oder Foodbanks
abhängig.
Johnson könnte aber auch ein
Rezept gefunden haben, wie man
Wahlen gewinnt.
Das Rezept ist nicht neu: Das
entspricht jenem von Marine Le
Pen vom Rassemblement natio-
nal in Frankreich oder auch von
Jaroslaw Kaczynski in Polen.
Beide haben wirtschaftspolitisch
eher soziale Positionen, die
sozialen Dienstleistungen sind
aber nur für die eigene Bevölke-
rung gedacht, nicht für Auslän-
der. Mit dieser nationalkonser-
vativen, rechtspopulistischen
Politik lassen sich offensichtlich
Wahlen gewinnen. Die Situation
in Grossbritannien ist aber viel
komplexer als in Polen oder
Frankreich. Die NHS würde ohne
die Beschäftigung von EU-
Migranten zusammenbrechen.
Auch ticken in Grossbritannien
die Städte anders. Sie sind kos-
mopolitisch; London hat einen
Labour-Bürgermeister. Zudem
sind das Bildungssystem, das
Gesundheitswesen, die Universi-
täten letztlich auf EU-Migranten
angewiesen. Es fehlt in dem
Land etwa an Ärzten. Die Frage
ist auch, ob er die Tory-Partei auf
eine solche Linie bringen kann.
Trump hat es in den USA
geschafft, die traditionelle politi-
sche Agenda der Republikaner
umzuschreiben.
Ja, dort unterstützen die
Republikaner fast uneinge-
schränkt Trump und dessen
Gesetzesbrüche, um an der
Macht zu bleiben. Bei den Tories
gibt es auch jetzt wohl immer
noch viele Abgeordnete, die eher
liberal und EU-freundlich sind
statt national. Man wird sehen,
wie sich das alles entwickelt.
Wenn Johnson es schafft, braucht
es keine Labour-Partei mehr.
Wir wissen nicht, wie es bei
Labour weitergeht. Es wird inter-
essant, zu sehen, ob sich die
Partei etwa unter neuem Vorsitz
zurück in die Mitte bewegt.
Sie zweifeln daran, dass Johnson
in die Mitte rückt.
Boris Johnson ist ein talentier-
ter Politiker, aber bisher auch als
notorischer Lügner aufgefallen.
Er ist ein Demagoge und Oppor-
tunist. Er ist witzig, vulgär, äus-
sert sich rassistisch, scheut nicht
den Regelbruch. Seine Politik
wird wohl davon abhängen, wie
er am besten an der Macht bleibt.
In Österreich ist auch ein Rechts-
populist an der Macht: Sebastian
Kurz. Nach Skandalen bei seinem
Koalitionspartner FPÖ muss er
nun wohl mit den Grünen weiter-
regieren. Wie ist das möglich?
Am Anfang gab es eine Sym-
biose zwischen der konservati-
ven ÖVP von Kurz und der FPÖ.
Es schien eine konfliktfreie
Zusammenarbeit zu geben. Die
ÖVP konnte viele Gesetze ihrer
wirtschaftsliberalen Agenda
durchsetzen, die FPÖ dagegen
ihre Anti-Migrations-Politik.
Damit haben sie beide Wähler-
gruppen hervorragend befrie-
digt. Sebastian Kurz war quasi
«FPÖ soft». Die Programme der
beiden Parteien überlappten sich
zu 80 Prozent. Die FPÖ hat sich
mit Skandalen aber selbst ausge-
schaltet, so dass Kurz jetzt mehr
oder weniger gezwungen ist,
sich mit den Grünen zu einigen.
Die programmatische Über-
lappung hier beträgt nicht
einmal 20 Prozent.
Wie soll das gehen?
Kurz ist sicherlich unter
Druck. Denn von der «besten
Regierung aller Zeiten» ist nicht
viel übrig geblieben. Viele Geset-
zesprojekte sind nun als verfas-
sungswidrig erklärt worden.
Stimmt Sie das positiv, wenn in
Österreich eine scheinbar perfekte
rechtspopulistische Partnerschaft
über Nacht grün werden könnte
und in Grossbritannien die Tory-
Partei sozialer?
Johnsons Politik
wird wohl davon
abhängen, wie er
am besten an der
Macht bleibt.
5
DANIEL LEAL-OLIVAS / WPA POOL / GETTY IMAGES
Ich sehe derzeit völlig unter-
schiedliche und widersprüch-
liche Tendenzen: Eine neue
sozialdemokratische Regie-
rungschefin in Finnland, eine
recht erfolgreiche sozialdemo-
kratische Regierung in Portugal;
gleichzeitig separatistische
Tendenzen in Schottland und
Katalonien. Aber auch illiberale
Demokratien in Ungarn und
Polen, welche die EU vor eine
Zerreissprobe stellen. In diesen
Ländern sind die Pressefreiheit
sowie die Unabhängigkeit der
Justiz infrage gestellt. Und es
gibt die grüne Entwicklung,
die endlich die Klimakrise ernst
nimmt: in Deutschland oder
Österreich und auch innerhalb
der EU. Dann gibt es einen
konservativen national-sozialen
Trend: in Italien oder Frank-
reich, wo er mit Fremdenfeind-
lichkeit verbunden ist. Matteo
Salvini bezieht sich auf faschisti-
sche Ideologien in seiner Rheto-
rik, er versucht in die Fussstap-
fen des Diktators Benito Musso-
lini zu treten, wenn er etwa vom
Balkon des Palazzo Comunale
in Forlì spricht. In der Politik
in Europa werden also gerade
grosse Widersprüche sichtbar,
und es bleibt unklar, wohin sich
Europa und die EU entwickeln.
Auch die CDU in Deutschland
könnte auf die konservative,
national-soziale Linie schwenken,
wenn sie verhindern möchte, dass
noch mehr Wähler zur AfD über-
laufen. Sozial ist die CDU, sie
müsste nationalistischer werden.
Das wäre meiner Meinung
nach angesichts der national-
sozialistischen Vergangenheit
Deutschlands eine unerfreuliche
Entwicklung. Das wäre ja dann
eine Partei, die vielleicht bereit
wäre, mit der AfD zu koalieren.
Die Grünen müssten also auch in
Deutschland nicht nur das Klima
retten, sondern auch die Politik.
Das könnte man wahrschein-
lich so sagen. Es kann sich aber
alles von einem Tag zum andern
ändern, wie das Beispiel Öster-
reich zeigt. In Italien hat sich
Salvini auch überraschend ins
Knie geschossen, und plötzlich
gab es eine grosse demokrati-
sche Gegenbewegung. Die wei-
tere Entwicklung ist schwierig
vorauszusehen; wir sind keine
Propheten. Zu fragen ist auch,
was passiert, wenn wieder mehr
Flüchtlinge nach Europa kämen
oder eine Rezession begänne.
Die Politik in Europa und welt-
weit ist extrem volatil. Ich bin
nicht optimistisch.
 frischt Ihre
Festtage auf.
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dem erweiterten Frische-Sortiment gibt es jetzt
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NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Kleine Fluchten
Begegnung mit einer weissrussischen Familie, die der Politik aus dem Weg geht
Paul Flückiger, Minsk
Das Treffen wird in der letzten
Minute vom 19. Stock einer Hoch-
haussiedlung in einem Minsker
Aussenbezirk in das Restaurant
eines nahen Einkaufszentrums
verlegt. Tatjana P. wartet bereits
bange vor der Pizzeria «Mia Fami-
lia». Nichts wird dem Zufall über-
lassen, ein Tisch ist reserviert,
die Fragen mussten zuvor einge-
reicht werden. Die ganze Familie
hat sich zum Gespräch eingefun-
den. Ganz an der Wand sitzt die
schmächtige Natalia, eine zwan-
zigjährige Jurastudentin. Neben
ihr die halb so alte Schwester
Anastasia, auch «Nastja» ge-
nannt, der kecke Star des Abends,
wie man es der jungen Gymna-
siastin sofort ansehen kann. Es
folgen die Eltern Tatjana und
Oleg, beide Mitte 40. Die Mutter
hat das Heft in der Hand, der
Vater schweigt meistens.
Die Töchter haben je einen
Smoothie und ein Stück Kuchen
bestellt, die Eltern trinken Tee.
Man ist freundlich reserviert.
Politische Gespräche finden in
Weissrussland im Park oder im
Café, aber nie zu Hause statt, un-
politische oft ebenso. Denn die
Angst sitzt tief im Land, das Alex-
ander Lukaschenko nun seit 25
Jahren mit eiserner Hand regiert.
Telefone werden überwacht, das
Internet ist streng reguliert, und
wer nicht spurt, verliert oft Ar-
beitsstelle oder Studienplatz.
Putins Pläne
Gerade gab es wieder Wahlen
ohne Alternative. Die 110 Sitze
des machtlosen Parlaments wur-
den neu bestellt. Die Kammer
nickt Lukaschenkos Gesetze ab.
Der schnauzbärtige Staatspräsi-
dent hält sich dank russischen
Subventionen wirtschaftlich über
Wasser. Doch nun hat der Kreml
mit dem Ende der Hilfe gedroht.
Moskau wünscht eine tiefere
Integration. Zum Jahresende soll
sie zwischen Lukaschenko und
Wladimir Putin besiegelt werden.
Zweimal wurde diese Vertrags-
unterzeichnung bereits verscho-
ben, Anfang Dezember in Sotschi
am Schwarzen Meer, am Freitag
in St. Petersburg. Lukaschenko ist
vorsichtig. Doch die gegängelte
Opposition fürchtet die Einverlei-
bung Weissrusslands durch Pu-
tin. 2000 Menschen gingen des-
halb am Freitag auf die Strassen.
Für Minsk ist das viel.
Dies alles besprechen wir nicht
mit Tatjana und Oleg, obwohl
beide ihr Leben an diesen Staat
gebunden haben. Tatjana hat eine
Confiserie Sprüngli – Schweizer Chocoladentradition seit 1836
International
Tatjana, Oleg, Nastja und Natalia: Zwei Drittel des Familienbudgets gehen in den Tanzsport der Töchter. (Minsk, 16. November 2019)
Europas letzte Diktatur verantwortungsvolle Stelle im
staatlichen Einkaufszentrum
FINNLAND GUM, das die Zeit seit der Sowjet-
union fast unbeschadet überlebt
hat. Solch kontroverse Themen
ESTLAND anzurühren, wagt die Staatsange-
RUSSLAND
stellte nicht. Auch Oleg war lange
als Manager in einem Staatsbe-
LETTLAND
trieb tätig, hat sich aber vor sie-
ben Jahren selbständig gemacht.
LITAUEN
Seitdem führe er ein und aus, was
Minsk
gerade gebraucht werde, aus Os-
WEISS- ten und Westen, Waren ebenso
RUSSLAND wie Dienstleistungen, sagt Oleg.
POLEN
Er gehört zum Mittelstand im
Land, hat Physiktechnik in Mohy-
UKRAINE lew im Osten von Weissrussland
studiert, jener Stadt, aus der auch
500 km Lukaschenko kommt.
Ein Porträt von Europas letz-
tem Diktator hängt übrigens nicht
in der Pizzeria, die die Familie
für das Gespräch ausgewählt hat.
Vielmehr wollen die Eltern nun
endlich über das Hobby berich-
ten, das sie leidenschaftlich zu-
sammen mit den beiden Töchtern
pflegen. Lebten sie in der Schweiz
oder in Polen, würden sie sich
vielleicht politisch betätigen,
doch in Weissrussland lässt da-
von lieber die Finger, wer sich
keine Probleme, Bussen und
Gefängnisstrafen aufhalsen will.
Nach einem Vierteljahrhundert
Diktatur ist die Gesellschaft apa-
thisch geworden. Nach so vielen
gefälschten Wahlen und immer
wieder brutal niedergeschlage-
nen Protesten glaubt kaum einer
daran, Einfluss auf die Geschicke
des eigenen Landes nehmen zu
können. Viele üben sich lieber in
Eskapismus, flüchten in den von
Lukaschenko eifrig geförderten
Sport oder in andere Hobbys.
Tanzende Töchter
In der Familie von Oleg und Tat-
jana dreht sich alles um den in der
New Yorker Homosexuellenszene
geborenen «Vogue»-Tanz, dem
sich die beiden Töchter vor vier
Jahren verschrieben haben. Eine
Foto der zehnjährigen Anastasia,
kostümiert als Freiheitsstatue,
hat im weissrussischen Internet
einige Furore gemacht. Politi-
sches steckte nicht hinter der Ver-
kleidung, eher ist es die Lust an
der weiten Welt. «Das war in Mos-
kau, da flogen wir alle frühmor-
gens hin und abends gleich wie-
der zurück», erzählt Tatjana. Der
teuren Hotels in der russischen
Hauptstadt wegen, erklärt die
ältere Tochter. Nach Odessa im
Sommer sind sie dagegen alle im
Nachtzug gefahren und nach dem
Tanzen ein paar Tage geblieben.
Tatjanas Augen leuchten: «Wir
machten Ferien im ‹Ibiza›, dem
Resort an der Strandmeile von
Odessa.»
Bis zu 70 Prozent ihres Haus-
haltsbudgets gehe für Tanztrai-
ANDREI LIANKEVICH
ning, Sommercamp, Kostüme
und Reisen zu den Tanzwettbe-
werben drauf, schätzen Tatjana
und Oleg nach längerem Zögern.
Über Geld spricht man in Weiss-
russland fast genauso ungern wie
über Politik. Wie sie dazu nun
noch die Teilnahme an Tanzwett-
bewerben in Westeuropa finan-
zieren sollen, die Anastasias Trai-
ner gerade angeraten hat, wissen
Tatjana und Oleg nicht. «Wir
haben nicht einmal ein Schen-
gen-Visum», sagt Tatjana.
Und Weissrussland als Teil von
Russland, so wie es Putin in letz-
ter Zeit immer offener fordert?
«Ich wäre nicht gegen eine Union
mit Russland», sagt die Mutter.
«Es ist eine Tragödie, dass die
Sowjetunion zerbrochen ist»,
meldet sich endlich auch wieder
einmal Vater Oleg zu Wort, «aber
nachdem es nun so gekommen ist
und wir unabhängig geworden
sind, sollten wir es auch bleiben.»
Ein Streit erhebt sich plötzlich
am Familientisch in der Pizzeria.
«Wer nach Russland will, soll
doch gleich für immer hinfah-
ren!», ruft Natalia dazwischen,
«ich bin dagegen, total dagegen!»
Der Haussegen hängt schief. Zeit,
aufzubrechen. Auch jetzt hat Tat-
jana das letzte Wort: «Jedem das
Seine, eines muss man sagen:
Hier in Weissrussland ist es sicher
und friedlich.»
7
Modi
bekommt
Proteste
nicht in Griff
Die indische Regierung
fordert die Fernsehsender
dazu auf, keine Bilder mehr
von den Kundgebungen
gegen die Benachteiligung
von Muslimen zu zeigen.
Victor Merten
Indiens Regierungschef Narendra
Modi steht vor der bisher gröss-
ten Herausforderung, seit er 2014
an die Macht kam. Bei den Pro-
testen gegen sein neues Einbür-
gerungsgesetz sind inzwischen
mindestens 21 Personen ums Le-
ben gekommen, wie die Behör-
den am Samstag mitteilten. Tau-
sende wurden in den zehn Tagen
seit dem Ausbruch der Unruhen
im ganzen Land festgenommen,
unter ihnen auch Oppositions-
politiker und Intellektuelle. Über
4000 von ihnen kamen wieder
frei, doch mehr als 1500 befinden
sich weiter in Polizeigewahrsam.
Hunderte von Demonstranten
und Polizisten wurden verletzt.
Der Protest hat inzwischen auf
alle grösseren Städte übergegrif-
fen und zusammen mit den Ge-
genmassnahmen der Behörden
das öffentliche Leben zum Er-
liegen gebracht. Trotz Versamm-
lungsverboten und der Abschal-
tung des Internets in mehreren
Gliedstaaten riss er auch am
Samstag nicht ab. Derweil for-
derte das Informationsministe-
rium die Fernsehsender des Lan-
des auf, keine Bilder der Kund-
gebungen mehr zu zeigen, wie die
«Times of India» twitterte. Modi
traf sich am Samstag mit Minis-
tern, um das weitere Vorgehen zu
besprechen. Hindu-nationalisti-
sche Organisationen und Profes-
soren stellten sich hinter ihn.
Mit dem neuen Gesetz will der
Regierungschef illegal eingereis-
ten Zuwanderern aus den Nach-
barländern Pakistan, Afghanistan
und Bangladesh die Einbürge-
rung erleichtern. Der Unmut ent-
zündet sich daran, dass in den
Genuss der Erleichterung nur
Angehörige religiöser Minder-
heiten dieser mehrheitlich mus-
limischen Länder kommen, etwa
Hindus, Sikhs oder Buddhisten.
Muslime sind davon ausgeschlos-
sen. Kritiker werten das als Bruch
der säkularen indischen Verfas-
sung. Sie befürchten zudem, das
Gesetz bereite den Boden für ein
geplantes Einwohnerregister, mit
dem der Hindu-Nationalist Modi
muslimischen Bürgern ohne aus-
reichende Papiere die Staatsbür-
gerschaft aberkennen wolle.
spruengli.ch/shop
8 Schweiz Aussenpolitik NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

FOTOS: KEYSTONE, PETER KLAUNZER / KEYSTONE

Links: Christoph
Blocher vor einer
Karte mit den
Standorten der Ems
Chemie in China
(Aufnahme vom
14. Juli 1994).
Rechts: Tochter
Magdalena
Martullo-Blocher
beim Besuch von
Chinas Staatspräsi-
denten Xi Jinping in
der Schweiz (Auf-
nahme vom
16. Januar 2017).

China-Politik: Martullo sorgt für Unmut

Die SVP-Spitze will die Partei auf eine chinafreundliche Linie bringen. Zentral ist die Frage, was wichtiger ist: die
Souveränität der Schweiz oder ein gutes Verhältnis zur Weltmacht? Von Andrea Kučera und Lukas Häuptli

D
er Titel des unveröffentlichten SVP-
Positionspapiers lässt wenig Zweifel
offen: «Kein Ausverkauf unserer Hei-
mat». Thema sind Übernahmen von
Schweizer Firmen durch ausländische Unter-
nehmen. In einem Entwurf des Papiers vom
letzten April verlangt die SVP unter anderem,
man müsse solche Übernahmen auch aus-
schliessen können. Das deckt sich in der
Stossrichtung mit einer Motion von CVP-
Ständerat Beat Rieder. Diese fordert Investi-
tionskontrollen für ausländische Übernah-
men – und zielt in erster Linie gegen China.
Umso erstaunlicher ist vor diesem Hinter-
grund: Die SVP hat zu Rieders «Lex China» die
war es, die in der vorbereitenden Fraktions-
sitzung dezidiert für ein Nein zur Motion Rie-
der warb und dabei unter anderem auf ihre ge-
schäftlichen Beziehungen zu China verwies.
«Man merkte: Hier sind vitale Interessen im
Spiel», sagt ein SVP-Fraktionsmitglied, das
seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Die Ems Chemie hat in China mehrere Fa-
briken; überdies ist das Land ein wichtiger
Absatzmarkt für den Konzern.
Zwar wurde die Abstimmung über die
Motion Rieder, die im Nationalrat auf letzten
Mittwoch angesetzt war, aus zeitlichen Grün-
den verschoben. Aber die Botschaft bei den
SVP-Parlamentsmitgliedern ist angekommen:
ten, man dürfe dem Vorstoss nicht zustim- China auf der Parteibasis.» Eines der SVP-Mitglieder in der
men, weil man damit China verärgere.» Müri Überholspur Wirtschaftskommission ist Magdalena Mar-
war bis in diesem Herbst SVP-Nationalrat und tullo-Blocher.
ist noch immer Präsident der parlamentari- Die Tochter von Christoph Blocher fand
schen Gruppe Schweiz-Taiwan.
Zuvor hatte Martullo-Blocher FDP-Natio-
nalrat Portmann aufgefordert, sein Postulat
zurückzuziehen, wie der «Sonntags-Blick» be-
13 470
Personen in der
in der Vergangenheit immer wieder lobende
Worte für China – für einen Staat, der autokra-
tisch geführt wird und der wegen seiner Men-
schenrechtsverletzungen weltweit in der Kri-
richtete. Portmann hielt an diesem fest. Aller- Schweiz arbeiteten tik steht. Schon 2011 sagte Martullo an einer
dings kam es aus Zeitgründen nicht zur Ab- 2018 bei chinesisch Medienkonferenz der Ems Chemie, China ha-
stimmung; inzwischen ist der Vorstoss abge- kontrollierten Fir- be die «kompetenteste Exekutive der Welt».
schrieben. Ex-Nationalrat Felix Müri sagt zu men. Im Vergleich Ihr Vater Christoph Blocher seinerseits kriti-
all dem: «Zurzeit haben viele Angst vor China. zu 2014 ist das eine sierte am vergangenen Freitag auf «Teleblo-
Das geht von Bundesräten über Verwaltungs- Versiebenfachung. cher» die Kritiker der Chinesen: «Man stellt
mitarbeiter bis zu Parlamentsmitgliedern. die enorm in die Ecke und verdreckelt sie.»

Nein-Parole ausgegeben. Zur Begründung für
die ablehnende Haltung sagt Fraktionschef
Thomas Aeschi: «Wir wollen systemrelevante
Infrastrukturen wie Wasserkraftwerke oder
Stromnetze schützen. Aber wir wollen keine
generelle Übernahmekontrolle durch eine
neue Behörde.» Das Positionspapier sei noch
nicht verabschiedet, und der Entwurf vom
April widerspiegle nicht die endgültige Hal-
tung der Fraktion.
Martullos Wirtschaftsinteressen
So weit die offizielle Begründung. Es gibt aber
noch eine andere Lesart. Der Umgang mit Rie-
ders Vorstoss steht beispielhaft für die Weise,
wie die Partei auf einen China-freundlichen
Kurs getrimmt wird – und das hat auch mit
den wirtschaftlichen Interessen von SVP-Vize-
präsidentin Magdalena Martullo-Blocher zu
tun, der Chefin des Chemiekonzerns Ems. Sie
Die Fraktionsspitze erachtet die «Lex China»
als strategisches Geschäft. Und bei diesem
werden keine Abweichungen toleriert.
Es ist nicht das erste Mal, dass Martullo-
Blocher die SVP in der China-Frage auf Linie
bringt. Gleich war es gemäss mehreren Quel-
len bei einem Vorstoss von FDP-Nationalrat
Hans-Peter Portmann, der engere Beziehun-
gen zwischen der Schweiz und Taiwan for-
derte. Dazu muss man wissen, dass China die
Insel nicht als unabhängiges Land anerkennt,
sondern als Teil des eigenen Staats betrachtet.
Die SVP-Fraktion unterstützte die FDP-For-
derung zunächst vorbehaltlos. Das änderte
sich aber am Tag im letzten September, an
dem das Postulat im Nationalrat traktandiert
war. «Unmittelbar vor der Behandlung des
Vorstosses haben Magdalena Martullo-Blo-
cher und François Rime vehement für ein
Nein geweibelt», erzählt Felix Müri. «Sie sag-
1,4
Auch solchen der SVP. Sie befürchten, dass Zuvor hatte er in einem Gastbeitrag für die
man China verärgere.» «Weltwoche» geschrieben: «Für Ems wurde
Chinas Öffnung zur Chance: Ein Riesenmarkt
Der «neoliberale Flügel»
Da stellt sich die Frage: Wie geht das zusam-
Mio. tat sich auf.» Blocher nahm da Bezug auf die
Ems Chemie, die im Besitz der Familie Blocher
men? Die SVP pocht seit Jahren auf die Souve- Arbeitnehmer sind ist und die ab den 1980er Jahren nach China
ränität der Schweiz. Und hier kuscht die Par- bei einer multinatio- expandierte. Der Konzern baute dort 117 Fa-
teispitze plötzlich vor einem fremden Staat. nalen Firma tätig. brikationsanlagen; heute erzielt er in China
Der Widerspruch sorgt selbst in der Partei für Das entspricht mehr als vierzehn Prozent seines Umsatzes.
Unmut. SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor sagt: einem Viertel aller Erklären die engen wirtschaftlichen Bande
«Souveränität ist nicht nur ein politisches Beschäftigten. der Familie Blocher, warum die SVP-Spitze
Statement, sondern hat auch eine wirtschaft- sich für eine Politik starkmacht, die China
liche Komponente. Wir dürfen nicht im Na- nicht vergrault? Tatsache ist, dass die Partei
men der liberalen Wirtschaftsordnung unsere seit Monaten um den richtigen Wortlaut im
Eigenständigkeit aufgeben.» Und SVP-Natio- eingangs erwähnten Positionspapier ringt.
nalrat Hans-Ueli Vogt ergänzt: «Die Leute, Zum Vorwurf, sie interveniere in der Frak-
welche die SVP in der Wirtschaftskommission tion, damit die Partei eine China-freundliche
vertreten, sind Teil des neoliberalen Flügels. Haltung einnehme, lässt Martullo-Blocher am
Und diesen Flügel halte ich, was die China- Freitagabend ausrichten, es sei ihr aus termin-
Frage betrifft, nicht für repräsentativ für die lichen Gründen nicht möglich zu antworten.

Soft Power

Wie China Seit dieser Woche ist Roger Köp-

pel wieder da, wo er sich am
Bedeutung gewinnt, hinkt die
öffentliche Wahrnehmung der
sich hinter den angebotenen
Teezeremonien und Sprach-
Spanisch. Das China Internatio-
nal Radio produziert in 38 Spra-

die Meinung
wohlsten fühlt: im Mittelpunkt
einer Kontroverse. Nach Recher-
chen der NZZ ist Köppel als
im Westen Verleger und Chefredaktor der
«Weltwoche» ein fragwürdiges
Volksrepublik den Erfolgen hin-
terher. Fachleute sprechen hier-
bei von «Soft Power»; es ist die
Fähigkeit eines Landes, durch
weiche Faktoren wie Ausstrah-
kursen in Wahrheit die Propa- chen täglich knapp 400 Stunden
ganda eines autoritären Regimes Berichte. Zudem werden immer
verberge. Denn: An der Spitze wieder Gratisbeilagen in renom-
einer verworrenen Organisa-
tionsstruktur steht die Zentrale
mierten Zeitungen wie dem
«Wall Street Journal» platziert.

beeinflusst Geschäft mit China eingegangen.

Köppel hat dem chinesischen
Botschafter in Bern durch eine
monatliche Kolumne gratis eine
Bühne für ungefilterte Propa-
ganda geboten. Im Gegenzug
habe das Magazin durch ganz-
seitige Werbeanzeigen Geld aus
China erhalten. Bezahlte Propa-
ganda? Köppel weist die Vor-
würfe zurück. Vielmehr verfolge
er «mit Unbehagen die erdrü-
ckend negative Sicht auf China in
Politik und Medien». In Peking
jedenfalls wird Köppels Befund
geteilt, beklagen Chinas Politiker
doch immer wieder negative,
einseitige oder gar falsche
Berichte über die Volksrepublik.
Während China in Politik,
Wirtschaft oder Militär an
lung und Anziehungskraft inter-
national Einfluss zu gewinnen.
Um die eigene Soft Power zu
stärken, entwarf Chinas Kom-
munistische Partei schon 2007
einen Plan, welchen der derzei-
tige Präsident Xi Jinping weiter
forcierte mit der Vision des «chi-
nesischen Traums» und der Idee
eines «chinesischen Modells» als
Alternative zu den westlichen
Demokratien. Von seinen Lands-
leuten fordert er, Chinas Soft
Power gezielt zu vergrössern,
indem man positive Botschaften
in die Welt hinaustrage.
Ein wichtiger Teil dieser
Offensive sind die sogenannten
Konfuzius-Institute, von denen
es weltweit inzwischen mehr als
540 gibt. Kritiker warnen, dass
Propagandaabteilung der Kom-
munistischen Partei Chinas. Ein
Die internationale Nichtregie-
rungsorganisation «Reporter
Ausschuss des US-Senats warnt, ohne Grenzen» kommt zum
die Konfuzius-Institute könnten Schluss: China will mit Milliar-
die akademische Freiheit der deninvestitionen eine «neue
Hochschulen gefährden, in Weltordnung der Medien» schaf-
deren Umkreis sie sich etablie- Signet des Konfuzius-Instituts. fen. Peking gehe es um Mei-
ren. Die Institute versuchten nungshoheit, um Desinforma-
nicht nur ein positives Image tion und Diffamierung.
Chinas, sondern auch die chine- Xinhua hat bald 200 Ausland- Denn Chinas Medien haben
sische Zensur zu exportieren; büros. Die englischen Ausgaben eine klare Aufgabe, sie sind
Themen wie das Massaker auf der Zeitungen «China Daily» und «Kehle und Zunge» der Partei.
dem Platz des Himmlischen Frie- «Global Times» sind weltweit Damit das nicht vergessen wird,
dens würden untersagt. verfügbar. Der staatliche Fern- stellte Präsident Xi 2016 noch-
Eine wichtige Rolle in der sehkanal CCTV hat sich 2016 mals unmissverständlich klar:
Soft-Power-Offensive spielen eigens in «China Global Tele- Sämtliche Redaktionen müssen
auch Chinas Medien. Während vision Network» umbenannt, sich ausnahmslos am Willen, an
westliche Medien von finanziel- seine Mitarbeiter produzieren den Ansichten, an der Autorität
len Sorgen erschüttert werden, sechs fremdsprachige Pro- und an der Einheit der Kommu-
öffnet Peking das Füllhorn. Die gramme: zwei auf Englisch, Ara- nistischen Partei ausrichten.
staatliche Nachrichtenagentur bisch, Französisch, Russisch und Michael Radunski
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Gut gerundet ist mehr kassiert
Beim Roaming haben Schweizer Handy-Kunden wegen aufgerundeter Gesprächsminuten jahrelang
Millionen zu viel bezahlt. Nun will Medienministerin Sommaruga dieses Schlupfloch schliessen
Daniel Friedli
Dass Anrufe mit dem Handy im
Ausland sehr schnell sehr teuer
werden können, haben wohl
schon viele Nutzer schmerzlich
erfahren. Weniger bekannt ist,
dass die Rechnung nicht nur
wegen der Tarife so hoch ausfällt,
sondern auch wegen spezieller
Abrechnungsmodalitäten. Denn
seit Jahren verrechnen die Tele-
komanbieter ihren Kunden beim
Roaming systematisch mehr als
diese effektiv konsumieren.
Der Trick liegt dabei gewis-
sermassen hinter dem Komma:
Die Dauer der Telefongespräche
sowie der Datenverbrauch beim
Surfen im Internet werden für die
Rechnung aufgerundet, auf die
nächste Minute oder auf eine
höhere Einheit von Bytes. Telefo-
niert also jemand 4 Minuten und
10 Sekunden ins Ausland, bezahlt
er in der Regel für 5 Minuten.
Bis zu 120 Millionen zu viel
Neue Zahlen des Bundes zeigen
nun, wie stark dies ins Gewicht
fällt. So haben die Telekomanbie-
ter laut Bundesamt für Kommu-
nikation im letzten Jahr für aus-
gehende Anrufe in die EU total
25 Prozent mehr Gesprächszeit
verrechnet als effektiv anfielen.
Bei Telefonaten in den Rest der
Welt lag das Plus gar bei 32 Pro-
zent. Und auch bei eingehenden
Anrufen resultierte ein Delta von
über 20 Prozent (siehe Grafik).
Diese Differenzen gehen ins
Geld. Laut Schätzungen des Bun-
des zahlten die Kunden im letz-
ten Jahr allein beim Telefonieren
fast 69 Millionen Franken zu viel.
In den beiden Vorjahren lag diese
Summe jeweils bei etwas über
90 Millionen Franken, und 2015
wurden den Nutzern sogar 120
Millionen Franken zu viel ver-
rechnet. In Tat und Wahrheit ist
der Malus noch höher, da auch
bei der Datenübertragung häufig
aufgerundet wird. Hierzu fehlen
dem Bund aber konkrete Zahlen.
Diese Praxis dürfte nun aber
bald ein Ende finden. Medien-
ministerin Simonetta Somma-
ruga will das «Missverhältnis
zwischen verrechneten und
Aserbaidschan geht gegen Schweizer Journalisten vor
Nach einer Reise von
Journalisten des «Schweizer
Monats» nach Nagorni
Karabach verhängt
Aserbaidschan Sanktionen.
Francesco Benini
Vor zehn Tagen erhielt der Chef-
redaktor des Magazins «Schwei-
zer Monat», Ronnie Grob, einen
Brief der aserbaidschanischen
Botschafterin in Bern. Sie teilte
ihm darin mit, dass er und wei-
tere Mitglieder der Redaktion in
Aserbaidschan zu personae non
gratae erklärt worden seien – zu
nicht geduldeten Personen. Bot-
schafterin Hanum Ibrahomiva
schrieb ausserdem, dass ein Straf-
verfahren gegen die Journalisten
in die Wege geleitet werden
könnte, weil sie aserbaidschani-
sches Territorium ohne Bewilli-
gung besucht hätten.
Die September-Ausgabe des
«Schweizer Monats» enthielt ein
34-seitiges Dossier über die Repu-
blik Arzach, besser bekannt unter
dem Namen Nagorni Karabach.
Armenien und Aserbaidschan
befinden sich in einem Konflikt
über dieses Gebiet im Südkauka-
sus. Die vorwiegend von ethni-
schen Armeniern besiedelte Re-
Schweiz
tatsächlich konsumierten Minu-
ten» korrigieren und darum die
Telekomanbieter zur genaueren
Abrechnung zwingen. In die
Wege geleitet wurde dies schon
vor einigen Jahren, als der Bund
das Fernmeldegesetz revidierte.
In der Verordnung dazu macht
Sommaruga nun Nägel mit Köp-
fen: Die Abrechnung soll künftig
«sekundengenau» und «kilobyte-
genau» erfolgen, heisst es im Vor-
schlag, den der Bundesrat kürz-
lich in Vernehmlassung geschickt
hat. Denn die Kunden sollen
«nicht zusätzlich zu den hohen
Preisen auch noch Minuten und
Datenvolumen bezahlen müssen,
die sie nicht konsumiert haben».
Darum sind vom Prinzip der
möglichst präzisen Abrechnung
nur wenige Ausnahmen vorge-
sehen. So dürfen die Anbieter bei
ganz kurzen Anrufen eine Min-
destdauer von 30 Sekunden ver-
rechnen, um ihre Kosten für den
Aufbau zu decken. Zudem darf
der Endbetrag für ein Gespräch
oder eine Datenübertragung
jeweils auf die nächsten 10 Rap-
pen aufgerundet werden.
Trotzdem haben die Anbieter
wenig Freunde an der Neuerung.
Sunrise schreibt auf Anfrage, dass
beim Roaming ein intensiver
Wettbewerb spiele und ein Markt-
eingriff daher nicht notwendig
sei. Swisscom hatte sich wie auch
Salt schon früher gegen neue
Regulierungen in diesem Bereich
gewehrt, zur konkreten Verord-
nungsänderung will sich der Kon-
zern noch nicht im Detail äus-
sern. Ganz generell führen die
Anbieter ins Feld, dass die
Roaming-Tarife zuletzt stark ge-
sunken seien. Zudem falle die
Rundungspraxis immer weniger
ins Gewicht, da viele Abos heute
auch pauschale Roaming-Einhei-
ten umfassten.
Anders sieht dies der Konsu-
mentenschutz. Wie die Telekom-
anbieter beim Roaming mit ihren
Kunden umgingen, sei ungebühr-
lich und nicht zu rechtfertigen,
sagt Geschäftsleiterin Sara Stal-
der. «Sie nutzen das als reine
Geldmaschine. Darum ist es über-
fällig, dass der Bund hier endlich
präzisere Regeln vorgibt und die
gion hat sich für unabhängig er-
klärt, was jedoch international
nicht anerkannt wird. Nagorni
Karabach gehört völkerrechtlich
zu Aserbaidschan. Seit dem Krieg
zwischen Armenien und Aserbai-
dschan von 1992 bis 1994 herrscht
ein Waffenstillstand; es kommt
aber nach wie vor zu Gefechten.
Chefredaktor Grob und drei
Redaktionskollegen flogen in die
Redaktoren des «Schweizer Monats» unterhalten sich in Nagorni
Karabach mit Sicherheitskräften. (2019)
Nur noch die gesprochenen Sekunden zählen: Ein Mann telefoniert vor dem Eiffelturm.
armenische Hauptstadt Erewan
und reisten von dort auf dem
Landweg nach Nagorni Karabach.
Sie analysieren in ihrem Dossier
die politische und wirtschaftliche
Lage des Landes mit 150 000 Ein-
wohnern, führen ein Interview
mit dem Präsidenten, besuchen
die Waffenstillstandslinie zu
Aserbaidschan und beschreiben
die Sehenswürdigkeiten des Ge-
LUKAS RÜHLI
biets. «Es ist ein sehr interessan-
tes Reiseland, über das man kaum
etwas liest», sagt Grob.
Organisiert und finanziert
wurde die Reise von der Swiss
South Caucasus Foundation, die
in Nagorni Karabach lokale Orga-
nisationen unterstützt.
Die Botschafterin schreibt an
Chefredaktor Grob, dass die Re-
gierung Aserbaidschans unter
Umstrittenes Gebiet
Inguschetien
Nagorni Karabach im Südkaukasus
Nagorni Karabach RUSSLAND
Republik Arzach
GEORGIEN
Tbilissi
ARMENIEN
Erewan
TÜRKEI
ASERB.
GETTY IMAGES
zwei Bedingungen möglicher-
weise von Sanktionen gegen die
Journalisten absehe: Erforderlich
sei ein Entschuldigungsbrief, der
die «territoriale Integrität Aser-
baidschans» bekräftige; ausser-
dem müsse das Dossier über
Nagorni Karabach gelöscht wer-
den. Grob denkt aber nicht daran:
«Es gibt nichts, wofür wir uns
entschuldigen müssten.»
Kaspisches
Meer
ASERBAIDSCHAN Baku
Stepanakert
IRAN
100 km
9
Mehr bezahlt als gesprochen
So hoch war die Differenz
zwischen den verrechneten
Minuten und der effektiven
Gesprächsdauer (2018)
Ausgehende Anrufe in die EU
25%
Eingehende Anrufe aus der EU
22%
Ausgehende Anrufe in den Rest der Welt
32%
Eingehende Anrufe aus dem Rest der W.
27%
Insgesamt bezahlten die Nutzer 2018
69 Mio. Fr. zu viel.
Quelle: Bundesamt für Kommunikation
sekundengenaue Abrechnung
verlangt.» Restlos zufrieden ist
die Konsumentenschützerin mit
den Plänen des Bundesrates
indes nicht. Sie hätte sich ge-
wünscht, dass die Regierung
gleich auch noch Preisobergren-
zen festsetzt, mit denen die über-
höhten Roaming-Tarife massiv
reduziert werden. «Das wäre auch
in der Schweiz möglich», sagt sie.
Zauberei nötig
Damit stösst Stalder ins gleiche
Horn wie Preisüberwacher Stefan
Meierhans. Auch er begrüsst die
genauere Abrechnung und be-
dauert gleichzeitig, dass der Bun-
desrat keine Preisgrenzen setzt.
Denn so schreibt Meierhans, «die
Roaming-Gebühren werden im
Vergleich zu den europäischen
Ländern hoch bleiben», zumal
EU-intern die Zuschläge ja bereits
2017 abgeschafft wurden.
Im Urteil des Bundesrates wäre
dafür jedoch ein bilaterales Ab-
kommen mit der EU nötig. Und
ein solches ist in der gegenwärti-
gen europapolitischen Blockade
wohl nur schwerlich zu bekom-
men. Oder wie es Sommaruga
einmal im Nationalrat sagte: Sie
würde das heute noch tun – wenn
sie denn zaubern könnte.
Das Eidgenössische Departe-
ment für Auswärtige Angelegen-
heiten (EDA) hat Kenntnis dar-
über, dass Reisen nach Nagorni
Karabach, die von Aserbaidschan
nicht genehmigt wurden, zu
«Schwierigkeiten führen kön-
nen». In seinen Reisehinweisen
rät das Departement von Reisen
nach Nagorni Karabach und in die
umliegenden besetzten Gebiete
ab. «Wer ohne Genehmigung der
aserbaidschanischen Behörden in
Nagorni Karabach einreist, kann
sich nach aserbaidschanischem
Recht strafbar machen», schreibt
das EDA auf Anfrage. Die Schweiz
respektiere die territoriale Inte-
grität Aserbaidschans.
Das Land wird autokratisch ge-
führt; die Organisation Human
Rights Watch kritisiert Verstösse
gegen die Menschenrechte. Aser-
baidschan ist reich an Gas und
Erdöl; die staatliche Erdölfirma
Socar betreibt auch in der
Schweiz ein Netz von Tankstel-
len. Aserbaidschan versucht, sich
mit der Ausrichtung von Sport-
veranstaltungen international zu
profilieren. An der Fussball-Euro-
pameisterschaft 2020 trägt die
Schweiz zwei ihrer Vorrunden-
spiele in der aserbaidschanischen
Hauptstadt Baku aus.
10 Schweiz Zoll NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

Fahnder

FOTOS: MICHELE LIMINA

stossen auf
dicke Post
Es ist nicht nur Hochsaison für
Weihnachtsgeschenke. In Briefen
und Paketen wird viel illegale Ware
verschickt. Von Andreas Schmid

Die Zoll-Equipe kontrolliert die Sendungen, die in grosser Menge auf dem Fliessband vorbeiziehen. (Zürich Mülligen, 28. November 2019)

U
nablässig befördern die Fliessbänder
im Briefpostzentrum Mülligen nahe
Zürich Kuverts und Pakete. Zu Tau-
senden und Abertausenden. Der
Strom reisst nicht ab. Mit sieben bis zehn An-
gestellten untersucht der Zoll die aus dem
Ausland in die Schweiz geschickten Kuverts
und Pakete auf illegale Inhalte. Drogen, ver-
botene Medikamente, Dopingmittel, Waffen
und gefälschte Markenartikel.
In den Tagen vor Weihnachten werden
in Mülligen zwischen 130 000 und 180 000
Sendungen verarbeitet. «Der intensive Weih-
nachtsverkehr beginnt Mitte November und
dauert bis Mitte Januar», sagt Tanja Brunner.
Sie ist Abteilungsleiterin bei der Eidgenössi-
schen Zollverwaltung und für den Standort
Mülligen zuständig. Im Briefzentrum werden
bis zu zwei Kilogramm schwere Sendungen
weiterspediert.
Tastsinn als Hauptinstrument
Die Deklarationen auf den Etiketten der Post-
sendungen aus dem Ausland sind oft falsch
oder in chinesischer Sprache geschrieben. In
anderen Fällen sagen sie nichts über den In-
halt aus, weil lediglich ein allgemeiner Begriff
angegeben wird. «Nahrung», «Medikament»
und «Schmuckstück» kann viel heissen. Die
Palette von aufgegriffenen illegalen Waren ist
breit. Durchschnittlich 7 bis 10 Drogenfunde
registriere der Zoll an diesem Standort bei-
spielsweise pro Tag, sagt Brunner. Ihre Mit-
arbeiterin zeigt Kuverts mit Heroin, Kokain,
mit LSD versehene Fliessblätter, Ecstasy-Pil-
len in Herzchenform sowie zahlreiche Beutel
mit Haschisch. Diese wurden etwa in Päck-
chen mit Süssigkeiten oder aus Übersee ver-
sandten Cornflakes-Schachteln entdeckt.
Mit Abtasten und auch Hunden stossen die
Zollangestellten auf die Drogen. Brunner sagt,
dank Routine, Geschick und dem Wissen, in
welcher Art von Sendungen häufig verbotene
Substanzen verschickt würden, gelinge es
ihren Mitarbeitenden, aus der riesigen Menge
Illegales herauszufiltern. Alles Mögliche und
Päckchen mit Unmögliche bestellen Konsumenten über
illegalem Inhalt: ausländische Internetplattformen und fluten
Cannabis. so die Post. Die Zahl der Sendungen steigt
rasant. Nicht verwunderlich, weil nicht nur
Textilien, sondern auch Alltagsgegenstände
auf diesem Weg gekauft werden. Die Zöllner
öffnen kleine Pakete mit Duschmitteln oder
Briefkuverts mit Handyhüllen und normalen
Schrauben. Brunner macht sich denn auch
keine Illusionen; sie weiss, dass ihre Leute
nach Nadeln im Heuhaufen suchen. Drogen-
sendungen kommen oft aus Südamerika und
Osteuropa. Fachleute gehen davon aus, dass
ein grosser Teil der illegalen Substanzen im
Darknet bestellt wird. «Wir greifen immer
wieder unbekannte Stoffe und Substanzen
auf, die Konsumenten übers Internet be-
stellen», sagt Brunner.
An gewissen Tagen legt der Zoll sein Augen-
merk auf Sendungen aus Ländern, aus denen
häufig Drogen in die Schweiz gelangen. Er-
fahre man von einer Flugzeug- oder Last-
wagen-Fracht aus einem solchen Land, sperre
man für einige Stunden die Verarbeitung die-
ser Lieferung, sagt Brunner. «Während dieser
Zeit kontrollieren unsere Mitarbeiter diese
Briefe und Pakete spezifisch.» Mit Geräten
untersucht der Zoll die Substanzen. Vielfach
seien die chemischen Zusammensetzungen
aber noch nicht einmal bekannt und deshalb
auf der Liste der verbotenen Drogen nicht auf-
geführt. Die Dealer in den Untergrundlabors
sind den Behörden stets einen Schritt voraus.
In den Fällen, in denen der Zoll die Substan-
zen mit seinen Analysegeräten nicht bestim-
men kann, übergibt er sie einem forensischen
Institut, das sie definiert und ins Register der
illegalen Stoffe aufnimmt.
In Brunners Zuständigkeitsbereich gehört
auch das Paketpostzentrum in Urdorf, das
über zwei Kilogramm schwere Lieferungen
versendet. Entsprechend stossen die Ange-
stellten des Zolls bei ihren täglichen Kontrol-
len dort auch auf grössere Mengen an illegalen
Inhalten. Dealer, die im grossen Stil handel-
ten, liessen sich illegale Waren aber meist
nicht per Post zukommen, sagt Brunner. Diese
Fuhren würden meist mit dem Auto über
die Grenzen gebracht.
Mengenmässig am meisten würden nach
wie vor nicht zugelassene Medikamente ver-
schickt, sagt Brunner. «Potenzmittel machen
nach wie vor den grössten Anteil an illegalen
Aufgriffen aus.» Sie zeigt eine gefüllte Kiste
mit Medikamentenpackungen. «Das ist die
Sammlung von einem Tag, es sind rund 50
Sendungen.» Aus Asien und aus Osteuropa
stammen die Lieferungen vor allem. Seit
China nicht mehr als Entwicklungsland gelte
und die Porti dort deshalb teurer geworden
seien, würden viele Sendungen zum Beispiel
einfach aus Vietnam abgeschickt. Der Zoll be-
obachtet die Plattformen, auf denen die ver-
schiedenen Produkte erhältlich sind, «denn
stets, wenn ein Angebot intensiv im Internet
beworben wird, bemerken wir zwei bis drei
Wochen später eine Häufung solcher Liefe-
rungen», sagt Brunner.
Der Zoll ahndet die illegalen Bestellungen
nicht, er stellt sie lediglich sicher und übergibt
verbotene Medikamente der Heilmittelbehör-
de Swissmedic oder Drogen sowie Waffen den
Die Deklarationen auf
den Etiketten der
Postsendungen aus dem
Ausland sind oft falsch
oder in chinesischer
Sprache geschrieben.
zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Diese
untersuchen mutmassliche Straftaten und
sanktionieren Vergehen.
In Mülligen zeigen Zollmitarbeiter auch
eine Schachtel mit Dopingmitteln. Es sind
Testosteron-Präparate, die in Osteuropa abge-
schickt wurden. Das Paket ist handschriftlich
angeschrieben. Diese Anabolika-Sendung
lasse man Antidoping Schweiz zukommen,
sagt Brunner. Die Stiftung bekämpft den
Dopingmissbrauch.
Schlagringe für ein paar Franken
Am Förderband tasten zwei Zollangestellte
Sendungen ab. Pro Sekunde rauschen eine
Handvoll Umschläge und Pakete vorbei. Eine
Mitarbeiterin findet ein gefährliches Klapp-
messer, ihr Kollege zeigt einen langen Dolch,
den er gefunden hat. «30 bis 40 Waffen
entdecken wir pro Tag», sagt Brunner. Vor-
wiegend billige Wurfsterne, Schlagringe und
Messer verschiedenster Art, grösstenteils aus
Asien geliefert. Für ein paar Franken kann
man die Gegenstände auf Internetplattfor-
men beziehen.
Ein weiteres Team des Zolls beschäftigt sich
mit konfiszierten Fälschungen von Marken-
artikeln. Es handelt sich vorwiegend um
Accessoires und Uhren, die geschützten
Luxusprodukten zum Verwechseln ähnlich
sind, jedoch zu billigsten Preisen verkauft
werden. Im asiatischen Raum produzieren
Fälscher grosse Mengen an imitierten Luxus-
artikeln. Diese preisen sie im Internet auf-
fällig an», sagt Brunner. Ihr geht die Arbeit
nicht aus.

Unsere CS (Christmas Story) Classe politique

vermehren, Nüsse, Äpfel, Mandarinen, mit tierkarossen vermochte der Nikolaus in Andrea Caroni, Politrapper,
FOTOS: KEYSTONE

allem wusste er umzugehen, immer diverser gewissen Kreisen zwar noch immer Eindruck rattert los. Der Ausserrhoder
wurde seine Produktepalette, bald gehörten zu machen. So richtig überirdisch aber Ständerat hat das vorerst letzte
auch Birnen dazu, und einmal wirkte halt nurmehr das neue Wesen, dieses Rating für sich entschieden, das
im Jahr, so hatte er es sich zur Gewohnheit sagenhafte Christkind, das aus ureigenen in der unendlichen Vermessung
gemacht, schüttete er einen kleinen Teil Kräften abheben konnte und dem Nikolaus des Parlaments erstellt wurde:
seiner Schätze in alte Socken und verteilte eines Tages auch wirklich entschwebte. Er ist der Parlamentarier, der am
sie an Menschen, die an ihn glaubten. So ging Würde es das Geschäft mit den schönen schnellsten spricht. Und zwar Andrea Gerhard
das die längste Zeit, und alle waren zufrieden Schätzen fortan allein beherrschen? Es stand schafft der Freisinnige offenbar Caroni Andrey
und glücklich. zu befürchten. gut 40 Worte mehr pro Minute
Showdown Alle? Die Weltenharmonie ist nie von Aber nicht umsonst hatte der Nikolaus als der Durchschnitt, der bei den Überblick zu behalten. Und

Claudia Mäder Dauer, und irgendwann trat ein Störenfried

auf: Der Nikolaus wurde vom Christkind
einen direkten Draht zu den höchsten Mäch-
ten. Deren Wege sind unergründlich, doch
bedrängt. Im Prinzip, würde man meinen, ihrem alles durchdringenden Blick entgeht
etwa 105 Worten pro Minute
liegt. Dass Caroni alles in Grund
und Boden redet, ist nun also
lancierte kurzum ein Parlamenta-
rier-Quiz namens Parlaqui: Man
muss die aufpoppenden Gesich-

E
s war einmal ein Nikolaus. Der Niko-
laus war ein stattlicher Mann, beein-
druckend sah er aus, und auf allen
Kontinenten kannte man ihn; von
Côte d’Ivoire bis nach Herrliberg reichte sein
Ruf. Diesen hatte er durch harte Arbeit
erlangt. In verschiedenen Weltgegenden
hatte der Nikolaus gelernt, kostbare Dinge zu
hätten sich die zwei ganz gut verstehen nichts: Jeden Ausflug, den das Christkind erwiesen. Nicht erhoben wurde, ter dem richtigen Namen zuord-
müssen – beide hatten eine Schwäche für die unternahm, verfolgte man jetzt ganz oben ob er beim Denken mitkommt. nen. Ein bisschen erinnert das
höheren Sphären, sie lebten nebeneinander akribisch. Leider vergeblich. Der Siegeszug Ganze an Tinder – mit einem
in Himmelsnähe, und wie der Nikolaus war der neuen Lichtgestalt war nicht mehr auf- Gerhard Andrey, digitaler Immi- wesentlichen Unterschied: Man
auch das Christkind von Berufs wegen mit zuhalten, und je mehr man vom Christkind grant, beschert dem Parlament kann die Gesichter nicht weg-
allerhand Kostbarkeiten beschäftigt. Aber wo erfuhr, desto älter sah der Nikolaus aus. die erste Kennenlern-App. Der wischen; sie bleiben einem min-
zwei sind, ist einer zu viel, und bald schon Trotzdem lebten er und seine Freunde noch 43-jährige grüne Neu-National- destens bis zu den nächsten
ahnte der Ältere, dass er dereinst überflügelt lange weiter, und wenn sie nicht gestorben rat hatte Mühe, ob all der Neuen Wahlen erhalten.
werden würde. Mit seinen schnittigen Ren- sind, dann spionieren sie noch heute.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Justiz stellt Verfahren zu Pilatus ein
Laut der Bundesanwaltschaft musste die Firma Tätigkeiten in Saudiarabien nicht melden
Andreas Schmid
Der Flugzeughersteller Pilatus
habe das Gesetz nicht verletzt, in-
dem er Dienstleistungen in Saudi-
arabien nicht dem Aussendepar-
tement gemeldet hatte. Zu die-
sem Schluss kommt die Bundes-
anwaltschaft und stellt deshalb
eine Strafuntersuchung ein. Das
Verfahren war aufgrund einer An-
zeige des Aussendepartements
(EDA) im vergangenen Sommer
eröffnet worden. Es richtete sich
gegen Unbekannt.
In der inzwischen rechtskräfti-
gen Einstellungsverfügung vom
18. November heisst es, dass kein
Straftatbestand vorliege. Das EDA
hatte in der Anzeige vorgebracht,
Pilatus habe das sogenannte Söld-
nergesetz verletzt. Dieses ver-
langt, dass im Ausland erbrachte
Sicherheitsdienstleistungen dem
EDA gemeldet und von diesem
bewilligt werden. Es ging darum,
dass Pilatus-Angestellte in Sau-
diarabien Flugzeuge warteten,
technische Unterstützung leiste-
ten sowie Reparaturen an Flug-
zeugen und Simulatoren ausführ-
ten – ohne dass diese Tätigkeiten
gemeldet worden wären. Pilatus
hatte vor sieben Jahren vom
Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) eine Ausfuhrbewilligung
für PC-21-Trainingsflugzeuge
nach Saudiarabien erhalten. Weil
das Land in den Jemenkrieg in-
volviert ist, stiessen die Geschäfte
mit dem Golfstaat wiederholt auf
politischen Widerstand.
Keine Meldung ans EDA
Im Zusammenhang mit der Er-
neuerung der Exportbewilligung
vor gut drei Jahren habe es Pilatus
unterlassen, mit der Ausfuhr ver-
bundene Serviceleistungen in
Saudiarabien zu melden, befand
das EDA. Dazu wäre der Nidwald-
ner Flugzeughersteller nach An-
sicht des Departements jedoch
verpflichtet gewesen, weil An-
fang September 2015 das Söldner-
gesetz in Kraft getreten war, das
dies vorschreibt.
Der Staatsanwalt des Bundes,
der die Untersuchung führte, ent-
lastet Pilatus von diesem Vor-
wurf. Das Seco habe die befristete
Ausfuhrbewilligung im Septem-
ber 2016 verlängert, ohne die
Firma zu konsultieren. Damit ha-
be für diese kein Anlass bestan-
den, Meldung zu erstatten. Wie
aus der Einstellungsverfügung
hervorgeht, hatte Pilatus in der
Strafuntersuchung geltend ge-
macht, dass sowohl das EDA als
Streit am Kinderspital: Uni entlässt Professor
Weil sich das Kinderspital von
Herzchirurg Michael Hübler
trennte, kündigt ihm auch die
Universität. Er hat die
Entlassung angefochten.
René Donzé
Das Kinderspital Zürich hat sich
in eine unbequeme Situation ma-
növriert. Nun muss ihm die Uni-
versität Zürich zu Hilfe eilen.
Konkret geht es um den ehemali-
gen Leiter der Kinderherzchir-
urgie am Kinderspital, Michael
Hübler, der Professor an der Uni-
versität Zürich ist. Wie jetzt be-
kannt wird, hat ihm die Univer-
sität gekündigt. «Die Universität
Zürich hat beschlossen, das
Arbeitsverhältnis mit Professor
Hübler aufzuheben», sagt Uni-
Sprecher Beat Müller auf Anfrage.
Rechtskräftig ist die Entlas-
sung allerdings noch nicht. «Eine
Beschwerde dagegen ist vor Ver-
waltungsgericht hängig», sagt
Müller. Hübler will dazu nichts
Schweiz
Ein PC-21-Flugzeug von Pilatus
auf dem Luftwaffenstützpunkt
der saudischen Streitkräfte in
Riad. (25. Januar 2017)
Michael Hübler im Operationssaal des Kinderspitals. (9. August 2012)
sagen. Dass eine Universität einen
Professor entlässt, ist äusserst
selten. Solche Entlassungen
schlagen entsprechend hohe Wel-
len, wie jüngst im Falle einer
ETH-Astronomieprofessorin. In
der Regel aber bleiben Professo-
ren entweder bis zur Emeritie-
rung angestellt, oder man trennt
sich in gegenseitigem Einverneh-
auch das Seco «über die erbrach-
ten Dienstleistungen bestens im
Bild gewesen seien».
Das EDA könne den Ausgang
des Verfahrens nicht kommentie-
ren, da es über den Inhalt der Ver-
fügung nicht informiert sei und
bis zum Eintreffen der Medien-
anfrage nichts von der Einstel-
lung der Untersuchung gewusst
habe, sagt Sprecher Tilman Renz.
Das Departement habe die Anzei-
ge eingereicht, weil es gesetzlich
dazu verpflichtet sei, «wenn An-
haltspunkte über eine Verletzung
der Meldepflicht vorliegen».
Neben der Intervention mit der
Anzeige hatte das EDA die Flug-
zeugwerke im Juni angewiesen,
bis Mitte September ihre Fach-
leute aus Saudiarabien und den
Vereinigten Arabischen Emiraten
zurückzuholen, weil die beiden
Länder am Jemen-Krieg beteiligt
sind. Dagegen erhob Pilatus Ein-
spruch. Das Bundesverwaltungs-
gericht entschied im September,
dass die Pilatus-Angestellten blei-
ben können, bis es ein Urteil zur
Streitsache gefällt hat. Dass nun
die Strafuntersuchung zur Melde-
pflicht eingestellt worden sei, ha-
be keinen Einfluss auf das Tätig-
keitsverbot, betont EDA-Sprecher
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
men. Der Fall Hübler ist aber
verzwickt: «An der Universität
Zürich gab es keine Differenzen»,
sagt Müller auf die Frage, ob die
Trennung von Michael Hübler auf
Konflikte oder Differenzen an der
Hochschule zurückzuführen sei.
Der Grund ist vielmehr beim
Kinderspital zu suchen. Um die
Geschichte zu verstehen, muss
Renz. Die beiden Verfahren seien
unabhängig voneinander.
Für Pilatus bedeutet die Ver-
fügung der Bundesanwaltschaft
einen weiteren Teilerfolg in der
Auseinandersetzung mit dem
EDA. Auch politisch sieht sich das
Unternehmen gestärkt, stellte
sich doch der Ständerat in der
vergangenen Session auf seine
Seite: Er nahm zwei Vorstösse an,
die Anpassungen des Söldnerge-
setzes anstreben. Gegen die Stim-
men aus dem rot-grünen Lager
wurden Motionen überwiesen,
die eine andere Auslegung der
Bestimmungen verlangen. So soll
für Servicedienstleistungen an
Gütern, die Schweizer Firmen ins
Ausland exportierten, das Gesetz
nicht mehr gelten.
Gesellschaften, die den Kriegs-
material- und Güterkontrollvor-
schriften unterstehen, will der
Ständerat vom Söldnergesetz
Das Departement
habe die Anzeige
eingereicht, weil es
gesetzlich dazu
verpflichtet sei.
man ins Jahr 2012 zurückgehen.
Damals stellte das Spital Michael
Hübler als Leiter der Herzchirur-
gie – und Nachfolger von René
Prêtre – ein. Hübler war zuvor
stellvertretender Klinikdirektor
am Deutschen Herzzentrum Ber-
lin. Um hochkarätige Spezialisten
wie ihn zu gewinnen, werden
an den universitären Spitälern in
Zürich solche Kaderstellen ge-
koppelt mit Professuren ausge-
schrieben. Die Aussicht auf einen
Lehrstuhl und die damit verbun-
dene wissenschaftliche Tätigkeit
an der Universität Zürich macht
die Stelle im Spital um ein Viel-
faches attraktiver. Hübler erhielt
also zwei Arbeitsverträge: Einen
privatrechtlichen mit dem Kin-
derspital, einen öffentlichrecht-
lichen mit der Universität.
Doch mit der Zeit nahmen die
Spannungen am Spital zu, die im
November 2018 in Hüblers Ent-
lassung als Chefarzt mündeten.
Offensichtlich gab es grosse Mei-
nungsverschiedenheiten betref-
FAYEZ NURELDINE / AFP
ausnehmen. Wie das EDA mit
Pilatus verfahre, entspreche nicht
der Absicht des Gesetzgebers, be-
fand der Ständerat mehrheitlich.
Der Nationalrat hatte schon
früher eine ähnliche Motion
gutgeheissen, die ebenfalls eine
andere Interpretation des Söld-
nergesetzes fordert.
Rüge aus Nidwalden
In den Streit zwischen EDA und
Pilatus schaltete sich auch die
Nidwaldner Regierung ein. Sie
kritisierte Aussenminister Igna-
zio Cassis scharf, als der Gesamt-
bundesrat auf seiner traditionel-
len Reise im Sommer den Kanton
besuchte. Das verhängte Tätig-
keitsverbot in Saudiarabien und
den Vereinigten Arabischen Emi-
raten stelle Grundpfeiler der
Schweiz wie Vertrauen und Ver-
lässlichkeit in Frage, sagte Land-
ammann Alfred Bossard. Es gehe
um den Wirtschaftsstandort
Nidwalden und um über 2000
Arbeitsplätze von Pilatus.
In der Folge vereinbarte der
Kanton für Ende August eine Aus-
sprache mit Cassis und Wirt-
schaftsminister Guy Parmelin,
dessen Seco für die Exportkon-
trolle zuständig ist.
fend den Umgang mit sehr kriti-
schen bis aussichtslosen Fällen.
Hübler und andere wollten alle
chirurgischen Möglichkeiten aus-
schöpfen, Vertreter der Intensiv-
station hingegen wollten auf Ope-
rationen verzichten und das Kind
palliativ begleitet sterben lassen,
um ihm längeres Leiden zu erspa-
ren. Mit der abrupten Trennung
sollte Ruhe einkehren. Sowohl
Hübler als auch das Spital wollen
sich dazu nicht äussern, da Still-
schweigen vereinbart wurde.
Was klar ist: Weil Hübler als
Professor an der Universität unter
Vertrag war, konnte die Position
nicht sofort neu ausgeschrieben
werden. Schliesslich sollte der
neue Leiter ebenfalls wieder an
der Universität forschen und leh-
ren können. Es wurde eine In-
terimsleitung eingesetzt. Und für
schwierige Fälle reist René Prêtre,
der nun in Lausanne tätig ist,
nach Zürich ins Kinderspital.
Diesen Zustand wollte die Uni
beheben helfen, indem sie Hübler
11
In Kürze
SVP-Präsident Rösti
tritt zurück
Der Präsident der SVP Schweiz
stellt sich im nächsten Frühling
nicht zur Wiederwahl. Das
kündigt Albert Rösti in einem
Interview mit dem «Sonntags-
Blick» an: «Ich habe mich ent-
schieden, nicht mehr als SVP-
Präsident anzutreten.» Mit
Blick auf die Wahlen im letzten
Oktober sagte Rösti, das Resul-
tat sei aufgrund der grünen
Welle nicht auf der Rekord-
höhe von 2015 zu halten gewe-
sen. Ein künftiger Parteipräsi-
dent müsse bei elementaren
Aufgaben wie der Plakatierung
und der Mund-Propaganda
mehr Zeit investieren. Künftig
will sich Rösti als Nationalrat
stärker in politischen Dossiers
engagieren. Der 52-jährige
Rösti stand acht Jahre an der
Front, als Kampagnenleiter, als
Wahlkampfleiter und zuletzt
vier Jahre als Präsident. (zzs.)
Zuger Polizei stellt
Angestellte frei
Die Zuger Polizei hat einen
Kadermann und eine Polizistin
freigestellt. Das teilt die Polizei
am Samstag mit. Die beiden
sollen ein Verhältnis gehabt
haben. Grund für die Mass-
nahme sei ein E-Mail-Verkehr,
der am Freitag im Namen der
Polizistin an Empfänger aus
Polizei, Verwaltung und Medien
verschickt worden war. In der
E-Mail ging es um angebliche
Affären des Kadermanns, um
Stalkingvorwürfe und um sexu-
elle Inhalte aus dem E-Mail-
Wechsel. Die Polizei leitete eine
Untersuchung gegen die zwei
Personen ein. (sda)
SBB-Präsidentin
räumt Fehler ein
Monika Ribar, die Verwaltungs-
ratspräsidentin der SBB, hat in
der «Samstagsrundschau» von
Radio SRF erklärt, 2020 sei mit
spürbaren Zugverspätungen zu
rechnen. Ribar sagte, das Bahn-
system habe seine Grenzen
erreicht. Fehlentscheide der
Geschäftsleitung und des Ver-
waltungsrats seien dafür ver-
antwortlich. So habe man sich
vor einigen Jahren gegen die
Beschaffung von Rollmaterial
entschieden und der Warnung
der Gewerkschaften vor Perso-
nalengpässen zu wenig Gehör
geschenkt. (zzs.)
kündigte und die Stelle neu aus-
schrieb. Doch da Hübler nicht
kampflos aufgibt, muss sie eine
neue Professur schaffen, wie
Müller bestätigt: «Diese kann un-
abhängig von der Trennung be-
setzt werden.» Das soll erfolgen,
sobald das Berufungsverfahren
abgeschlossen ist. Wie teuer das
alles die Uni zu stehen kommt,
kann er nicht beziffern. Die Kos-
ten seien «unter anderem Gegen-
stand des hängigen Verfahrens».
Hübler ist nicht der einzige Fall
einer Doppelanstellung: An der
Uni Zürich haben 20 Professoren
neben dem öffentlichrechtlichen
einen privatrechtlichen Vertrag.
Ob es deswegen früher schon zu
Problemen gekommen ist, konnte
Müller nicht sagen. Bei Konflik-
ten werde in der Regel eine ein-
vernehmliche Lösung gesucht,
über die beide Parteien schwei-
gen. Um die Koordination zwi-
schen Uni und Spitälern zu
verbessern, wurde kürzlich ein
neues Gremium geschaffen.
louisvuitton.com

Worüber die Leute nicht sprechen
können, darüber singen sie
Das gemeinsame Singen ist bei
uns fast verschwunden. Aber
in der Weihnachtszeit besinnt
man sich der Tradition. Ob
links, ob rechts, ob Gläubiger
oder Agnostiker: Alle singen.
Der Grund dafür ist einfach,
sagt Christian Berzins
Der Andere
von Wham
Andrew Ridgeley, Musiker, wird
immer noch auf der Strasse
angesprochen, doch seinen
Namen kennt niemand. Das ist
ihm egal. Er hat früh gelernt, als
Nummer zwei glücklich zu sein.
Von Daniel Meier
D
ie Nacht ist still und heilig
– und doch wird an Weihnach-
ten allüberall munter gesun-
gen. Forte, piano, punktierte
Note? Egal. Weder in der
Kirche noch zu Hause vor dem
Christbaum gibt es einen Dirigenten. Klar
aber ist: Je tiefer das Wohlstandsbarometer
taucht, umso lauter wird gesungen. Und am
lautesten singt es sich, wenn viele beieinan-
derstehen. Am besten gleich die ganze Welt.
«Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss
der ganzen Welt!», heisst es romantisch don-
nernd in Schillers «Ode an die Freude». Beet-
hoven fasste diese Worte in Töne, liess in der
9. Sinfonie die Menschen singend zu Brüdern
werden. Die Schwestern waren mitgemeint.
Utopie, gewiss, aber suchen wir nicht
genau eine solche an Weihnachten? Singend
kommen wir ihrer Erfüllung näher. Das
merken selbst wir Schweizer, die wir es bis-
weilen kaum schaffen, den Mund zu öffnen,
um im Büro «Guten Morgen» zu sagen.
In der Weihnachtszeit aber sitzen wir
zusammen, öffnen den Mund – und singen.
Keinem ist es peinlich – weder alt noch jung,
weder links noch rechts, weder Agnostikern
noch Gläubigen. Wer will da noch den
religiös-abendländischen Akt des Weih-
nachtsliedersingens verleugnen?
Die Sehnsucht zu singen, sein Herz zu
öffnen, ist tief im Menschen drin. Während
des Jahres jedoch schlummert sie dort.
Gesungen wurde beim Abtrocknen, im Mili-
tär oder im Suff. Also im Versteckten, bei
monotoner Arbeit oder im Rausch. Einzig auf
der Bergwanderung kann es bisweilen noch
geschehen, dass jemand glockenhell «Gang
rüef de Bruune» vor sich hinschmettert.
An Weihnachten ist alles anders. Wenn
das Singen dann scheitert, ist bloss der
fehlende Text das Problem. Die Heilsarmee
wusste das und verschickte vor zwei Wochen
E
s sah aus, als würde er ihm etwas
ins Ohr flüstern, aber das war
unmöglich, er musste schreien.
Im Lärm von 72 000 Zuschauern
standen die beiden allein auf der
Bühne des Wembley-Stadions
in London, sie umarmten sich. 28. Juni 1986,
der letzte Song des letzten Konzerts von
Wham war gespielt. Erst jetzt, beim zweiten
Mal, waren die Worte zu verstehen: «Ohne
dich hätte ich das hier nie geschafft, Andy.»
Andrew Ridgeley beschreibt die Szene in
seinem neuen Buch. Sie soll zeigen, wie stark
die Wertschätzung war. Doch eigentlich
hätte der Satz lauten müssen: «Wir haben es
geschafft, Andy.» Und deshalb offenbart
er in erster Linie, wie klar die Rollen verteilt
waren. Dort auf der Bühne, das war kein
Duo. Das waren George Michael, der Popstar,
für den es nun richtig losging, und sein
Gehilfe, dessen Karriere gerade zu Ende ging.
Groll? Neid? Frust? All das scheint Ridge-
ley fremd zu sein. Seit jenem Tag, als er mit
23 in Pension ging, lebt er von dem frühen,
kurzen Erfolg. Fast möchte man sagen, er
sonne sich im Schatten von George Michael.
Jahre war es still um ihn. Ridgeley wohnt
in einem Landhaus in Cornwall im Südwes-
ten Englands. Wandern, Golf, Pub. Doch seit
Michael am Weihnachtstag 2016 starb, ist der
Advent noch mehr die Zeit, in der niemand
an Wham vorbeikommt. «Last Christmas»,
immer wieder, jeder Sender, jede Bar, jeder
Laden ist kontaminiert. Und so hat Ridgeley
beschlossen, ein Buch zu schreiben.
Darin schildert er, wie der Videoclip 1984
in Saas Fee gedreht wurde. Ständig war das
Team betrunken. Sie liefen nackt im Schnee,
badeten im Hotelpool – bis jemand in den
Wasserfilter kotzte. Schaut man sich im
Wissen um diese Umstände das Video heute
an, wird einem einiges klar. Nur die Frisuren
SANDRA NIEMANN
und die Kleider, die bleiben unerklärlich.
Ridgeley erzählt von seiner Kindheit in
Bushey nordwestlich von London. Der Vater
Das Jahrzehnt, das war Die Gretchenfrage
Populismus und Veganismus, Zu Weihnachten fragt sich
Merkel und Trump: Die Zehner Redaktor Samuel Tanner, ob er
waren Jahre der Extreme 16 in der Kirche bleiben soll 18
an 3 251 311 Haushalte Text und Noten der
drei berühmtesten Weihnachtslieder: «O du
fröhliche», «O Tannenbaum» und «Stille
Nacht». Und ja: einen Einzahlungsschein.
Eine einfachere und bessere Spende-PR-
Aktion hat man im Dezember nicht gesehen. Metzger wie
Man kann über die Naivität des «Stille Managerin
Nacht»-Textes lächeln – aber der Melodie versuchen in
erliegt die Welt seit 201 Jahren. Metzger wie
der Mitter-
Managerin versuchen in der Mitternachts-
nachtsmesse
messe ergriffen ein Pianissimo anzustimmen,
auch wenn beide keine Ahnung haben, wie ergriffen ein
das technisch zu bewerkstelligen ist. Am Pianissimo
liebsten würde man singend gar keinen Klang anzustimmen,
erzeugen, da er nie so schön sein kann wie
der Gedanke daran. Engel haben diese Gesangs- auch wenn
kunst perfektioniert, sie können ihre Gedan- beide keine
ken aussingen. Hören kann das der Mensch Ahnung haben,
erst, wenn er die ewige Ruhe gefunden hat. wie das
Niemand soll behaupten, diese Lieder
seien simpel. Wenn die lüpfige Melodie von
technisch zu
«O du fröhliche» in Takt 8 runterrutscht und bewerkstelli-
die Stelle «Welt ging verloren» kommt, ist gen ist.
man der Erhabenheit des Adagios von Anton
Bruckners 9. Sinfonie nahe.
Die Kirchgemeinde beginnt bei dieser
Stelle immer zu schleppen: nicht aus
Unkenntnis der Noten, sondern weil jeder
diese Wendung mit den anderen zusammen
auskosten will. Im Zusammenstehen, im
Zusammensingen äussert sich die Weih-
nachtsfreude am schönsten. Denn mit offe-
nem Mund öffnet der Mensch die Seele und
spürt im Gesang eine verbindende Kraft.
Mehr noch: Solange man die Menschen nicht
zum Singen zwingt, ist es ein freiheitlicher
politischer Akt. «Freiheit schöner Götterfun-
ken» liess Dirigent Leonard Bernstein seine
Chöre am Weihnachtstag 1989 in Berlin
singen, nachdem die Mauer gefallen war. Die
Welt besinnt sich des Gesangs, wenn sie an
einer Wende steht. Oder am Abgrund. Als
Frankreich 2015 von terroristischen Anschlä-
Ägypter, die Mutter Schottin. Daheim steht
ein Klavier, der kleine Andy muss Stunden
nehmen. Jeden Sonntag sitzt die Familie mit
Die Zeile «Wake
dem Abendessen auf dem Kunstledersofa,
um die Radio-Hitparade zu hören. Die erste
eigene Platte, so Ridgeley, war wohl Elton
me up before Johns «Goodbye Yellow Brick Road». Mit
you go-go» 14 erlebt er das erste Konzert, es ist Queen.
stammt von Als 1975 das Schuljahr beginnt, steht da
ein neuer Schüler vor der Klasse: Georgios
ihm. Es war Panagiotou, wie er damals noch heisst, mit
eine Notiz am Brille, pummelig. Ridgeley nimmt sich seiner
Kühlschrank an. Beide mögen Musik, sie lieben «Candle in
seiner Mutter. the Wind». Früh habe er darauf gedrängt, so
Ridgeley, eine Band zu gründen, doch dem
neuen Freund sei Schule wichtiger gewesen.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
13
gen erschüttert wurde, nahm man die
Marseillaise aus dem Schrank. Aus dem Gift-
schrank, würde die antinationalistische
Opposition sagen. Für sie gibt es zahlreiche
Anti-Fassungen zu singen. Geschrieben
wurden sie auch als Antwort auf die Forde-
rung Nicolas Sarkozys, jedes Kind in Frank-
reich solle die Nationalhymne auswendig
lernen. «Skandal!», schrie damals die Linke.
Aber im November 2015 sang keiner die
Hymne so stolz wie der Sozialist François
Hollande. Nationale Symbole feiern in Krisen
ihr Comeback, der Gesang ist ein kraftvoller
Verstärker – egal, ob Marseillaise oder Inter-
nationale. In Zürich hörten wir eine Variation
davon im September 2015. Der Kantonsrat
beriet ein Postulat, das den Schweizerpsalm
ins Zürcher Volksschulgesetz aufnehmen
wollte. Naturgemäss wurde es abgelehnt.
In der Unliebe zu ihrer Hymne zeigt sich
der sorglose Wohlstand der Schweiz. Zusam-
menstehen und singen, das ist verdächtig.
Da ist die Angst, dass Musik zur Fortsetzung
der Politik wird, ein Zug, den vor allem Dik-
taturen zu nutzen wissen.
Würde man hingegen einen Letten fragen,
ob er den Text seiner Nationalhymne auf-
sagen könne, würde er einen anschauen, als
ob man ihn gefragt hätte, ob er den Namen
seiner Mutter kenne. Es ist eine junge
Nation, die von 1987 bis 1991 gar eine «sin-
gende Revolution» erlebte. Wo gesprochene
Worte fehlen oder verfemt sind, werden sie
seit je gesungen. Das ist auch an Weihnach-
ten so. Die Orchestermessen von Haydn und
Mozart verkünden bis heute Gottes Wort
besser als der kühnste geistliche Rhetoriker.
Zwingli mag uns diesen Satz verzeihen.
Wer singt, schliesst die anderen mit ein,
wird Freund eines Freundes. Und wem
dieser Wurf gelungen, um auf Schiller
zurückzukommen, der stimme in den Weih-
nachtsjubel ein.
1979 tun sie es doch. Als «The Executive»
treten sie in einer Scheune in Bushey auf.
Daraus wird später Wham. Zwischen 1981
und jenem Abschiedskonzert von 1986
schreiben sie Popgeschichte. 30 Millionen
Platten, zehnmal stehen sie in den britischen
Top Ten, fünfmal auf Platz eins. Auf Tour
spielen sich hysterische Szenen ab, die Fans
werfen BH auf die Bühne – was den einen
mehr interessiert als den anderen. Dass sein
Freund schwul ist, erzählt ihm dieser erst,
als sie schon weltberühmt sind. Ihm sei zwar
aufgefallen, dass Michael als Teenager kaum
je eine Freundin gehabt habe, aber das sei
zwischen ihnen nie ein Thema gewesen.
Ridgeleys Beitrag bleibt bescheiden. Die
Zeile «Wake me up before you go-go» stammt
von ihm, er hatte sie als Notiz für seine
Mutter an den Kühlschrank geklebt, wo sie
Michael entdeckte. Einige Akkorde zu
«Careless Whisper» hatte er sich ausgedacht,
worauf Michael jene Melodie ergänzte, die
dann mit Saxofon gespielt wird. Früh wird
beschlossen, dass Michael künftig allein
komponiert. Ridgeley schreibt: «Dass ich ihm
nicht das Wasser reichen konnte, war offen-
sichtlich. Wir beide ahnten, dass ich beiseite-
treten musste.» Fortan konzentriert er sich
darauf, Gitarre zu spielen, die Hintergrund-
stimme zu singen, gute Laune zu verbreiten.
Nach dem Aus von Wham wird Ridgeley
Formel-3-Fahrer, etliche Autos fährt er zu
Schrott. Auch die Schauspielerei gibt er bald
auf. Als er ein Soloalbum aufnimmt, singt
Michael, nun ein Weltstar, bei einem Lied
mit. Die Platte floppt. Und so zieht er aufs
Land, wo er sich damit abfindet, als Erster
das Talent seines Freundes erkannt zu haben
– nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Zehn Millionen Pfund soll er verdient
haben, jedes Jahr kommen Tantièmen hinzu,
vor allem zu Weihnachten. Ridgeley, 56,
wirkt glücklich, er sieht immer noch gut aus.
Manchmal erkennen ihn die Leute. Aber wie
heisst er nur, der Andere von Wham?
14
Gastkolumne
Geld
wird zum
Träger
des Guten
Europas Zentralbank postuliert
eine grüne Geldpolitik. Wird Geld
moralisch, verliert es allerdings
seine emanzipatorische Wirkung
Katja Rost
M
idas, der König von Phrygien,
wünschte sich laut der griechi-
schen Sage von Dionysos, dass
alles, was er künftig berühre, zu
Gold werde. Da nun aber auch sein Essen
und Trinken zu Gold wurden, drohte Midas
zu verhungern und zu verdursten.
Wie Karl Marx und der Soziologe Georg
Simmel festgestellt haben, entfaltet Geld im
Kapitalismus eine analoge Wirkung. Geld ist
da weit mehr als nur ein allgemeines
Tauschmedium: Es gewinnt eine selbstrefe-
renzielle Qualität. Wir entwickeln ein
Bedürfnis nach Geld. Geld wird psycholo-
gisch zum absoluten Endzweck unseres
Handels und zum Träger einer eigenen Ethik
und Religion. Gleichzeitig löst es sich von
jedem andern moralischen Wert. Diese Farb-
losigkeit und Indifferenz des Geldes als
Generalnenner aller Werte ist der grösste
Nachteil des Geldes, aber auch sein grösster
Vorteil: Einerseits höhlt Geld die Unver-
gleichbarkeit der Dinge aus, führt zu Mass-
losigkeit und Gier und entzweit Gemein-
schaften bis hin zur Selbstzerstörung. Ande-
rerseits ermöglicht Geld emanzipiertes,
autonomes Handeln, weil Menschen in ver-
sachlichten sozialen Beziehungen nicht
bevormundet werden.
Diese indifferente Ära des Geldes scheint
nun vorüber. Geld erfährt zunehmend eine
49 Prozent
Männer sind lustiger – das ist kein Witz
Patrick Imhasly
W
as ist der Unterschied zwischen
einem Turm? – Je höher, desto
Bim Bam.» Oder kennen Sie
den? «Sie: Das Auto ist kaputt,
es hat Wasser im Vergaser. – Er: Wasser im
Vergaser? Das ist doch lächerlich! – Sie: Doch,
es hat Wasser im Vergaser! – Er: Du weisst ja
gar nicht, was ein Vergaser ist. Ich schaue
nach. Wo ist das Auto? – Sie: Im Pool.»
Den ersten Witz finden ich und meine
Söhne total lustig, meine Frau kann nichts
damit anfangen. Dafür finden viele Frauen
den zweiten Witz zum Lachen. Wer ist
lustiger – Männer oder Frauen? Die Frage
treibt die Menschen seit je um.
Folgt man der Argumentation der Sprach-
wissenschafterin Helga Kotthoff, so zeichnet
Meinungen
ILLUSTRATION: GABI KOPP
Moralisierung. Anfangs war diese noch Teil
der Marktlogik. Beispielsweise indem
Banken das wachsende Bedürfnis der Kund-
schaft nach grünen Investments mittels
Nachhaltigkeitsfonds befriedigen. Im Vor-
dergrund steht da weiterhin die Rendite,
wenn auch unter grünem Deckmäntelchen.
Dies soll sich nun grundlegend ändern.
Christine Lagarde, die neue Präsidentin der
Europäischen Zentralbank, will den Umwelt-
schutz in den Mittelpunkt des Auftrags der
Notenbanken rücken. Eine solche grüne
Geldpolitik konzentriert geldpolitische
Massnahmen auf Wertpapiere nachhaltig
wirtschaftender Unternehmen. Befürworter
fordern die Notenbanken gar auf, diese
Politik auf alle Wertpapiere auszuweiten, die
zu ethischen Kontroversen führen. So auf
Kinder- und Zwangsarbeit, Korruption,
Steuervermeidung oder Terrorismus-
finanzierung. Damit verliert Geld seinen
farblosen, indifferenten Charakter. Es kennt
neu eine Moral.
Eine moralische Geldwirtschaft mag ein
gut gemeinter Vorschlag zur Lösung der
Dilemmata unserer Zeit sein. Aber ist sie
auch realistisch? Zwei Gründe sprechen
dagegen.
Erstens ist Moral eine verzwickte Sache.
Moralische Systeme möchten soziales
Zusammenleben ermöglichen, indem sie die
Selbstsucht der Menschen regulieren. Die
konkreten Werte, Tugenden und Normen
jedes Einzelnen hängen aber stark von herr-
schenden Konventionen, Rechtsstaat,
Erziehung und sozialer Klasse ab. Morali-
sches Geld, das die Tugenden der einen
Gruppe befriedigt, wird deswegen mit hoher
Wahrscheinlichkeit die Tugenden einer
anderen Gruppe vor den Kopf stossen.
Sicher: Geld ist bereits heute nicht neutral.
sich das Abendland durch eine Geschichte
der Abwertung des Lachens aus. Christus
habe nicht gelacht und in der christlichen
Religion seien Gelächter und Witz mit Zügel-
losigkeit gleichgesetzt worden. Das sei ein
wichtiger Grund, warum Frauen beim
Lachen Zurückhaltung auferlegt worden sei,
erklärte Kotthoff einst im «Folio». Männer
scheren sich nicht um solche Zuschreibun-
gen: Sie lachen – grob, laut, schrill – und
grenzen sich so von ihrem Umfeld ab. Man
könne sogar von «Mantertainment» spre-
chen, meinte Matthias Stolz im Magazin der
«Zeit»: «Wenn Männer Frauen gegenüber
Witze oder Anekdoten zum Besten geben,
ohne zu merken, dass die gar nicht beson-
ders lustig sind.»
Jetzt aber haben Forscherinnen und
Forscher um den britischen Psychologen
Gil Greengross einen neuen Dreh in die
Humorforschung eingebracht – und damit
das Feld umgepflügt. Sie haben die verfüg-
bare wissenschaftliche Literatur hinsichtlich
der «Fähigkeit von Männern und Frauen,
Humor zu produzieren» analysiert. Und
das sind immerhin 28 Studien aus den
Jahren 1976 bis 2018 mit mehr als 5000
Es ist Spiegelbild unserer sozialen, oft
ungerechten Gesellschaftsverhältnisse.
Allerdings besitzt Geld den Charakter eines
allgemeinen Tauschmittels. Moralisches
Geld hingegen ist auf bestimmte Tauschakte
Bei beschränkt.
tugendhaftem Wie der Soziologe Christoph Deutsch-
Geld verlieren mann herausarbeitet, fördert eben diese
Verallgemeinerungsfunktion von Geld eine
wir diese
unkriegerische, weltbürgerlich-liberale
nüchterne Haltung: Wir kalkulieren nüchtern und
Distanz, weil abstrahieren von emotional besetzten
der Endzweck Endzwecken. Geld schafft innere Distanz
emotional zu unseren Wünschen und Bedürfnissen
und zu unseren Mitmenschen. Bei tugend-
besetzt ist. haftem Geld verlieren wir diese nüchterne
Distanz, weil der Endzweck emotional
besetzt ist.
Zweitens beschneidet moralisches Geld
die Autonomie des Einzelnen. Es kontrolliert
Tauschakte auf ihre Tugendhaftigkeit. Ent-
sprechend ersetzt moralisches Geld die
anonyme Abhängigkeit auf Märkten durch
die persönliche Abhängigkeit von Kontroll-
instanzen. Geld verliert seine emanzipatori-
sche Wirkung.
Moralisches Geld löst die Nachteile der
heutigen Geldwirtschaft nicht; im Gegenteil,
es verstärkt Konflikte zwischen Menschen.
Auch deren Vorteile gehen verloren, weil
Kontrollen unsere Handlungsfreiheit
beschneiden. Während Luthers Thesen in
Wittenberg den geschäftsmässigen Handel
mit Ablassbriefen ausmerzten und damit die
sachliche Nüchternheit von Geld ermöglich-
ten, beruhen Lagardes Thesen in Frankfurt
auf politischem Ablasshandel und drehen
das Rad der Geschichte zurück.
Katja Rost ist Soziologieprofessorin an der
Universität Zürich.
Teilnehmern. Das Ergebnis: Männer sind
echt lustiger als Frauen!
Wer nun aber denkt, das belege erneut,
wie sich die Männer überall breitmachten,
der liegt falsch. Lustig zu sein, ist eine Last,
und Männer stehen unter evolutionärem Lustig zu sein,
Druck, stets einen wirklich guten Witz auf ist eine Last,
Lager zu haben. Humor sei ein ehrliches und Männer
Signal von Intelligenz und damit Ausdruck
stehen unter
der genetischen Qualität eines Individuums,
so die Psychologen. Die Frauen achten auf evolutionärem
solche Dinge, weil sie als potenzielle Mütter Druck, stets
mehr in eine Beziehung investieren und einen wirklich
deshalb besonders viel zu verlieren haben. guten Witz
Die Crux lautet also: Männer brauchen
Frauen, die ihren Humor schätzen, und auf Lager zu
Frauen suchen Männer, die einen Konkur- haben.
renten mit einem geistreichen Spass auszu-
stechen vermögen. Und es geht noch weiter:
Frauen mit witzigen Partnern erleben
gemäss eigenen Aussagen häufiger und
intensivere vaginale Orgasmen als solche mit
einem Langweiler im Bett.
Jetzt verstehe ich auch, dass jene ver-
meintlich lustige Episode aus meinem Leben
in Tat und Wahrheit eine grosse Tragikomö-
die war. Ich stamme aus einem kleinen Walli-
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Medienkritik
Kunterbuntes
aus der
«Weltwoche»
Stephan Klapproth
L
ieber Roger Köppel, der gepunk-
tete Schimmel ist gesattelt, der
Affe, Herr Nilsson, laust sich die
Haare – wann genau steigt die
grosse Scherzparty auf der Redaktion
Kunterbunt? Keinesfalls verpassen will
ich den Moment, wo du singst: «Zwei mal
drei macht vier – und ich mach’ mir die
Welt – widde widde wie sie mir gefällt.»
Dass du ein kluger Kopf bist, wusste
ich. Aber dieser unverhoffte Humor, da
ziehe ich den Reishut und mache einen
Kotau! Wenn ich denke: Du warst einst
Chefredaktor der «Welt» und des Maga-
zins des «Tages-Anzeigers», also fakten-
basierter Blätter. Und jetzt zeigst du als
Partykracher unbeschwert, wie man
neuerdings die Wahrheit sucht: Ist ein
Land eine Diktatur? Man fragt das
Regime: Sind Sie eine Diktatur? Wenn
nein: Schreiben Sie doch in einer
Kolumne, wie menschenfreundlich Sie
sind. Dann fragt man einen halbwegs
kritischen Autor, was er denkt. Und zum
Schluss orakelt die Leserschaft aus beiden
Positionen die Wahrheit heraus. Köstlich!
Notorisch humorlose Zeitgenossen
finden es undemokratisch (und darum
unschweizerisch), dass du den chinesi-
schen Botschafter ungefilterte Propa-
ganda in deiner «Weltwoche» schreiben
lässt. (Immerhin beweist du gutschweize-
rischen Geschäftssinn, weil der Yuan
rollt ...) «Diese Kolumne», lese ich in den
Hausmitteilungen der «Weltwoche»,
«versteht sich, in bester neutral-schwei-
zerischer Tradition, als Beitrag zur
Entspannung und Völkerverständigung.»
Da werden sich die Uiguren aber freuen
und entspannen!
Sorry, ich weiss, du machst nur Witze.
Du bist ja Journalist. Aber warte nicht zu
lang mit dem Dementi. Sonst hängen
sie dir auf der Silvester-Klamaukparty
noch einen Spitznamen an, den du nie
mehr los wirst. Etwa frei nach Handke:
«Der Chinese des Scherzes». In diesem
Sinn: Happy New Year!
Stephan Klapproth ist Ex-Newsanchor,
Uni-Dozent und Kongressmoderator.
ser Bergdorf mit 300 Einwohnern. In meiner
Jugend war dort nicht allzu viel los. Deshalb
war es eine besondere Attraktion, als einmal
eine Gruppe von Jugendlichen aus Belgien
im alten Schulhaus des Dorfes eine Klassen-
reise verbrachte. Ich weiss nicht, warum die
Belgier ausgerechnet zu uns gekommen
waren, aber es hatte auf jeden Fall ein paar
ausnehmend hübsche Mädchen darunter.
Weil mein Französisch damals in keiner
Art und Weise konversationsfähig war, ent-
schied ich mich, einen nachhaltigen Ein-
druck zu hinterlassen, indem ich mit ver-
schränkten Armen auf meinem Velo vor dem
alten Schulhaus durchfuhr, aus dem die
Mädchen herausschauten. Leider konzen-
trierte ich mich dabei zu sehr auf die Reak-
tion des Publikums – was dazu führte, dass
ich blindlings in den Pfosten einer Strassen-
lampe knallte. Es blieb mir nichts anderes
übrig, als unter dem Gelächter der Mädchen
aus Belgien mein Velo mit dem verbogenen
Vorderrad zu schultern – und beschämt von
dannen zu ziehen.
Patrick Imhasly ist Redaktor im Ressort
Wissen der «NZZ am Sonntag».
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Meinungen
USA
Das Amtsenthebungsverfahren
ist eine Farce geworden
Donald Trump ist der dritte US-Präsident, gegen den
ein Amtsenthebungsverfahren angestrebt wurde.
Daran gibt es nichts mehr zu rütteln. Auch wenn es
nicht zur Absetzung Trumps kommt, das Impeachment
wird in die Geschichte eingehen. Alles andere indes ist
umstritten. Auch jenes Gespräch, das von Anfang an
Grund war für das Amtsenthebungsverfahren: die
Telefonunterhaltung zwischen Donald Trump und dem
ukrainischen Regierungschef Wolodimir Selenski. Was
darin genau gesagt wurde, was das Gesagte zu bedeu-
ten hatte, was dem Gespräch vorausgegangen war, was
der Präsident hätte tun oder lassen sollen – all das ist
Gegenstand hitziger Kontroversen. Dabei existiert eine
Mitschrift des Gesprächs, die schwarz auf weiss prak-
tisch alles festhält. Das Amtsenthebungsverfahren zeigt
deshalb vor allem eine traurige Wahrheit: In den USA
gibt es keine Fakten mehr. Das Land ist polarisiert – hier
die Trump-Anhänger, da die Wähler der Demokraten.
Sie leben in verschiedenen Universen. Das macht es
unmöglich, sich zu verständigen. Für die Demokraten
ist die Erde rund, für die Republikaner eine Scheibe.
Das verfassungsrechtliche Institut der Amtsenthebung
ist zu einer Farce geworden. Eine sinnvolle Einrichtung
der amerikanischen Demokratie wurde ausgehöhlt.
Gordana Mijuk
Atomausstieg
Zum Feiern ist es leider
noch zu früh
«3, 2, 1, 0 – alle Stäbe ein!» Mit viel Pomp und politischer
Begleitmusik hat die Schweiz in Mühleberg erstmals ein
Atomkraftwerk abgestellt. Endlich, so jubelte das links-
grüne Lager, wird der Atomausstieg Tatsache. Tatsache
ist indes auch, dass das Land auf diesen Ausstieg immer
noch schlecht vorbereitet ist. Nicht nur, dass trotz
jahrzehntelanger Suche ein Endlager für Atommüll
fehlt. Offen ist vor allem auch, wie man das Drittel
ersetzt, das die Kernkraft bis dato zur Stromproduktion
beigetragen hat. Sicher wird es hierzu mehr Importe
brauchen – doch es harzt beim Ausbau der Stromleitun-
gen, und es fehlt ein Abkommen, das den Zugang zum
europäischen Strommarkt sichert. Und sicher muss die
Schweiz das Potenzial von Sonne, Wind und Wasser
besser ausschöpfen – doch dazu braucht es bessere
wirtschaftliche Rahmenbedingungen und technische
Lösungen. Denn nur wenn dieser Strom auch im Winter
verfügbar ist, lässt sich der Rückgriff auf klimaschäd-
liche Gaskraft oder dreckigen Kohlestrom aus dem
Ausland verhindern. Das Drücken der Off-Knöpfe in
Mühleberg sollte also nicht nur Festivitäten auslösen,
sondern vor allem auch das Signal, dass all diese unge-
lösten Fragen nun rasch anzugehen sind. Daniel Friedli
Zürich
Get the stadium done!
Über die Mühen der britischen Parlamentarier, den
Austritt des Königreichs aus der EU in ein Gesetz zu
giessen, ist viel gespottet worden. Nun hat das Unter-
haus einer Vorlage zugestimmt, welche die Briten Ende
Januar aus der EU führt. In Zürich gibt es ein Problem,
das noch länger einer Lösung harrt. Vor zwölf Jahren
wurde im Hardturm zum letzten Mal Fussball gespielt –
seither gibt es in Zürich kein richtiges Fussballstadion
mehr. Nun soll das Stimmvolk zum vierten Mal an die
Urnen; diesmal geht es um den Gestaltungsplan. Die
Gegner monieren, das Stadion schade der Biodiversität.
Das trifft zu: Ein Fussballrasen ist kurz und eintönig.
Soll Zürich in eine Magerwiese verwandelt werden? It’s
enough now, get the stadium done! Francesco Benini
Chappatte
Der externe Standpunkt
Was bremst Frauen? Ihre schlechter
ausgebildeten Ehemänner
Die tiefe Frauenerwerbsquote hat nicht nur mit der Vereinbarkeit von
Beruf und Familie zu tun. Es geht um gesellschaftliche Rollenmodelle
und um den sogenannten Oscar-Fluch, meint Margit Osterloh
L
aut neuen Zahlen des Bundesamtes
für Statistik arbeitet etwa ein Drittel
aller kinderlosen Frauen im Alter
zwischen 25 und 54 Jahren in Teilzeit
oder geht keiner Erwerbsarbeit nach. Bei den
Männern sind es nur rund zehn Prozent.
Haben die Frauen Kinder, ist der Anteil noch
grösser – selbst wenn die Kinder älter sind:
Ist das jüngste Kind über 13 Jahre alt,
arbeiten in Paarhaushalten immer noch über
60 Prozent der Frauen entweder Teilzeit
oder gehen keiner Erwerbsarbeit nach. Die
Frage liegt auf der Hand: Sind Schweizer
Frauen zu bequem?
Junge Frauen haben mittlerweile die bes-
sere formale Ausbildung und die besseren
Noten. Sie machen etwa an der Universität
Zürich 58 Prozent aller Studierenden aus. In
den besonders teuren Studiengängen wie der
Humanmedizin beträgt ihr Anteil 60 Pro-
zent, in der Veterinärmedizin sogar
86 Prozent. Hierzulande finanzieren die
Steuerzahler die Schulen und Hochschulen.
Es stellt darum eine volkswirtschaftliche
Verschwendung von Humankapital dar,
wenn gut ausgebildete Frauen Teilzeit arbei-
ten oder gar zu Hause bleiben und als Heli-
koptermütter ihre durchschnittlich einein-
halb Kinder pro Schweizerin hüten. Freilich
ist die Schweiz eines der wenigen Länder,
in denen das Einkommen des Mannes in
gehobener Stellung für ein gutes Auskom-
men reicht. Das macht das Leben für beide
Teile bequemer.
Andererseits klagen Personalvermittler
ständig über einen Mangel an hochqualifi-
zierten Bewerberinnen. Frauen beschweren
sich über mangelnde Aufstiegschancen.
Auch wenn heute eine erfolgreiche Karriere
in der Politik und in der öffentlichen Verwal-
tung eher möglich geworden ist, stellen
Frauen im oberen Management von Unter-
nehmen immer noch Ausnahmeerscheinun-
gen dar. Daran haben auch die vielen
Gleichstellungsprogramme nichts geändert.
Sind die Frauen selber schuld? Entwickeln
sie trotz ihrer vorzüglichen Ausbildung zu
wenig beruflichen Ehrgeiz? Und wenn ja, was
könnten die Gründe dafür sein?
Es ist nicht nur die mangelnde Vereinbar-
keit von Familie und Beruf. Vielmehr haben
es leistungsfähige Frauen immer noch
schwer, erfolgreich zu sein. Jedenfalls dann,
wenn sie mehr erreichen als ihre Partner
oder Kollegen. Dann droht ihnen der soge-
nannte Oscar-Fluch: Frauen, die den Oscar
gewonnen haben, scheitern anschliessend in
ihren Beziehungen deutlich häufiger als
männliche Oscar-Gewinner. Das gilt laut
empirischen Befunden auch ausserhalb von
Hollywood. An wem es liegt, bleibt offen.
Auch im Beruf müssen erfolgreiche
Frauen oft mit Sympathieverlusten kämp-
fen, sobald sie weniger erfolgreichen Män-
nern begegnen. Erfolg macht Männer
attraktiver, Frauen nicht. Das führt bei
diesen Frauen zu psychischen Kosten – Iden-
titätskosten nennt sie der Nobelpreisträger
George Akerlof –, die Männer nicht tragen
müssen. Wen wundert es, dass Frauen
Margit Osterloh
Margit Osterloh, 76, ist emeritierte Profes-
sorin für Betriebswirtschaft an den Univer-
sitäten Zürich und Basel. Zu ihren Spezial-
gebieten zählen Managerentschädigungen
und Frauen in Unternehmen. Osterloh ist
zudem Forschungsdirektorin am Center for
Research in Economics, Management and
the Arts (CREMA) in Zürich.
15
diese Kosten scheuen – von Kämpferinnen
einmal abgesehen?
Eine empirische Untersuchung der Uni-
versität Basel zeigt, dass Frauen ihr Einkom-
men herunterrechnen und Männer ihres
heraufrechnen, sobald das Fraueneinkom-
men 40 Prozent der Familieneinkünfte über-
schreitet. Auf diese Weise wollen Frauen den
Familienfrieden sichern. Oder sie reduzieren
ihre Arbeitszeit, sobald sie mehr als ihr Part-
ner verdienen. Das zeigt eine Studie der
Harvard Universität. Wenn – wie Fachleute
vermuten – die Bildungsunterschiede zwi-
schen jungen Frauen und Männern wachsen,
dann wird diese Tendenz zunehmen. Je
besser die formale Ausbildung der Frauen im
Vergleich zu jener der Männer ist, desto
höher das Unbehagen. In der Folge steigen
die Identitätskosten. Es ist nicht zu erwarten,
dass Frauen in der wohlhabenden Schweiz
diese zusätzlichen Kosten auf sich nehmen.
Sie werden also noch häufiger in Teilzeit
arbeiten. Man mag das Bequemlichkeit
nennen – aber der Fairness halber sollte man
von Frauen nicht weniger Bequemlichkeit
verlangen als von Männern.
Dürfen wir damit rechnen, dass sich in
Zukunft die Identitätsnormen annähern und
die geschilderten Probleme von allein ver-
schwinden? Leider nein. Eine Untersuchung
der Universität Bonn hat ergeben, dass die
Unterschiede in den Präferenzen zwischen
Männern und Frauen umso grösser sind, je
wohlhabender und geschlechtergerechter
ein Land ist. Die traditionellen Rollenvorstel-
lungen – und damit auch die psychischen
Kosten der Abweichung von diesen Vorstel-
lungen – verstärken sich gemäss dieser Ana-
lyse in Ländern wie der Schweiz.
Sind Schweizer Frauen also zu bequem?
Nicht bequemer als Männer, wenn man die
Identitätskosten berücksichtigt. Wie also der
volkswirtschaftlichen Verschwendung von
Ausbildungskosten entgegenwirken? In
jedem Fall müssen wir in die Debatte darüber
eintreten, wie man die Bildungsdefizite der
jungen Männer reduzieren kann.
16 Hintergrund Geschichte NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

Köpfe des Jahrzehnts

Donald Trump, Ariana Grande Barack Obama, US- Angela Merkel, Jeff Bezos, Pionier Scarlett Johansson, Ed Sheeran, vom
US-Präsident, Agent verkörpert den Pop Präsident, Botschaf- Bastion politischer des Onlinehandels Gesicht zum Boom Strassenmusiker
des Umbruchs. der Dekade. ter des Wandels. Nüchternheit. und Verleger. der Superhelden. zum Weltstar.

ZehnJahreinzeh
China wurde bedrohlich, das Essen vegan, und die
sozialen Netzwerke entpuppten sich als ziemlich
asozial. Ein schneller Überblick über eine Dekade,
welche die Disruption zu ihrem Leitbegriff erhob.
Von Elisa Forster (Grafik) und Thomas Isler

Social Media
Soziale Netzwerke sind fast so alt
wie das Internet. Aber erst in den
zehner Jahren beginnen sie die
Politik umzupflügen, als virtuelle
Stammtische mit gigantischer
Resonanz. Twitter soll den Arabi-
schen Frühling beschleunigt
haben und dient heute dem
US-Präsidenten als Lautsprecher.
Fake-News auf Facebook haben
den russischen Krieg in der
Ukraine ebenso beeinflusst wie
die Wahlen in den USA. Die
Bilderplattform Insta-
gram ist in der Lage,
Touristenströme zu
lenken, und hat ein
globales Phäno-
men verstärkt:
Overtourism.
Datenlecks
Potente Speichermedien erleich-
tern nicht nur Kontrolle und Über-
wachung, sondern auch Geheim-
nisverrat und Whistleblowing. Zu
Beginn des Jahrzehnts sind es CD
mit Daten ausländischer Bank-
kunden in der Schweiz, die im
Ausland angeboten werden. Sie
helfen mit, das Schweizer Bank-
geheimnis zu Fall zu bringen.
Sieben Jahre nach Gründung der
Enthüllungsplattform Wikileaks
blamiert Edward Snowden (Bild)
2013 die US-Geheimdienste mit
seinen Enthüllungen über deren
Abhörungen und flieht danach
nach Russland. Das Whistleblow-
ing geht weiter, 2016 etwa mit
den Panama-Papers, für deren
Auswertung sich Medien zu Allian-
zen zusammenschliessen.
Migration
«Wir schaffen das», sagt die deut-
sche Kanzlerin Angela Merkel am
31. August 2015, als sie die Gren-
zen für Flüchtlinge öffnet. Diese
flüchten vor Kriegen in Syrien und
im Nahen Osten. Oder sie kommen
aus dem subsaharischen Afrika
auf der Suche nach wirtschaft-
lichen Chancen und versuchen
von Libyen aus übers Mittelmeer
zu gelangen. Fortan tobt in
Europa der Streit zwischen jenen,
die auf Willkommenskultur, und
jenen, die auf Abschottung
setzen. Die EU zeigt ein freund-
liches Gesicht, macht ihre Grenzen
dicht und bezahlt die Türkei dafür,
dass sie die Flücht-
linge zurück-
hält.
Umwelt
Die Dekade beginnt mit dem
Untergang der Ölplattform «Deep-
water Horizon» (2010) und endet
mit dem schwedischen Mädchen
Greta Thunberg (Bild), das zum
Weltstar wird, weil es sich gegen
die Erderwärmung engagiert. In
den Jahren dazwischen werden
die Spuren des Klimawandels
jedes Jahr sichtbarer, die Kadenz
extremer Wetterereignisse steigt,
die Welt hadert mit ihrer Abhän-
gigkeit von fossiler Energie. Kern-
kraft scheint nach dem Unglück
von Fukushima (2011) aber kein
Ausweg mehr. Die Losung lautet:
Reduktion. Am Pariser Klimagipfel
(2015) legen die Staaten Minimal-
ziele für den CO2-Ausstoss fest.
Negativzinsen Aber welche Wirtschaftsmacht
übernimmt die Führung? Gewiss
Es ist ein Jahrzehnt ohne Zins. Auf ist: Die Uno erklärt die Dekade
die Finanzkrise folgt 2010 nahtlos zum heissesten Jahrzehnt seit
die Euro-Krise mit hektischen Messbeginn.
Rettungsaktionen für diverse
Länder. Die USA haben die Geld-
schleusen schon länger offen,
2012 verkündet auch Mario
Draghi, der Chef der Europäischen
Zentralbank (EZB), er werde für
den Euro nun tun, «whatever it
takes». Die Schweiz befindet sich
in Zugzwang, seit 2014 gelten
auch hierzulande Negativzinsen.
Der Immobilienmarkt ist auf-
gebläht, der Markt verzerrt, die
Vorsorge erschwert.
 17

FOTOS: IMAGO, KEYSTONE, REUTERS, GETTY

Cristiano Ronaldo, Elon Musk, Antrei- Kim Kardashian,
Überfussballer und ber von E-Mobilität vom Reality-TV-Star
Instagram-König. und Raumfahrt. zur globalen Ikone.

hnMinuten
Feminismus
Der Feminismus erreicht in dieser
Dekade so viel Schub wie seit den
siebziger Jahren nicht mehr. Hash-
Populismus tags ersetzen Parolen. Bereits
2013 skandalisiert #Aufschrei den
Der Widerstand gegen die Globali- Alltagssexismus. Aber erst der
sierung und ihren freien Verkehr Hashtag #MeToo (2017), der die
von Waren und Menschen äussert Ausbeutung von Frauen durch
sich in spektakulären Urnen- Männer in Kultur, Beruf und Politik
gängen. Die Briten stimmen für anprangert, wird zum globalen
den Brexit (2016) und Boris John- Schlachtruf. Gleichzeitig normali-
son (Bild), die Amerikaner wählen
Donald Trump als Präsidenten.
Ich-Pflege siert sich in dieser Dekade der
Umgang mit sexuellen Minderhei-
Disruption ist populär. Vielerorts Die aus westlichen Gesellschaf- ten, die sich immer mehr ausdiffe-
erodieren die Volksparteien, dafür ten schwindende Religiosität renzieren: Das Kürzel LGBT
gedeihen Bewegungen, etwa wird ersetzt – durch einen weihe- wächst. Sinnbildlich für diesen
Macrons République en marche. Nahost vollen, fast heiligen Ernst, mit
dem sich das Individuum um sich
Wandel ist der Entscheid des US-
Verfassungsgerichts von 2015 für
Am Anfang steht der Protest eines selbst kümmert. Der Körper wird die gleichgeschlechtliche Ehe.
tunesischen Gemüsehändlers, der sorgfältig vegan oder mindes-
sich im Dezember 2010 verbrennt. tens vegetarisch ernährt, auf-
Im Frühling 2011 brechen in einer wendig trainiert, der Geist wird in
Reihe von arabischen Ländern Achtsamkeit geschult und soll
Revolutionen aus. Dieser Arabi- idealerweise permanent weiter-
sche Frühling prägt das Jahrzehnt: gebildet werden. Die Sorge um
Es kommt zu Konterrevolutionen das Ich ist Sinnstiftung und wich-
und zu Bürgerkriegen – in tiges Distinktionsmerkmal in
Libyen, Jemen, Syrien. In einer zerfaserten
Syrien und dem Irak Gesellschaft.
gedeiht die islamistische
Terrororganisation der
Dekade, der Islamische
Staat (IS), der eine
Reihe von Terror-
anschlägen in Europa
organisiert oder
inspiriert: in Paris,
Zwanglosigkeit
Nizza, Brüssel, Der Dresscode der Dekade ist
London oder Berlin. casual. Die Krawatte ist aus dem
Geschäftsalltag weitgehend ver-
schwunden. Sneakers zu Anzü-
gen? Ja, das geht, für Frauen und
Männer. Disruptives Denken
signalisieren des Weiteren Leg-
gins, Hoodies, Trainerhosen und
für männliche Hipster natürlich
der Bart, das für sie zweifellos
wichtigste modische Accessoire
des Jahrzehnts.
Smartphone
DVDs, CDs oder MP3-Dateien sind
verschwunden. Das Smartphone
wird zum Alltagsgegenstand und
zum vielseitigen Unterhaltungs-
gerät. Die fast überall verfügbare,
Algorithmen gute Internetverbindung macht
China Die Strassen hat das selbst-
Streaming zur Distributionstech-
nik der Wahl – und pflügt die Diskutieren Sie mit
Der Aufstieg Chinas geht Gegen innen perfektioniert das fahrende Auto in diesem Jahrzehnt Kultur der zehner Jahre tiefgrei- Die Themen und Köpfe des Jahr-
weiter. 2010 ist der autoritär Land mithilfe von Digitalisierung noch nicht erobert – aber die fend um: Spotify beeinflusst das zehnts sind von der Redaktion
gelenkte Staatskapitalismus zur und Big Data einen totalitären Medienberichte. Zusammen mit Songwriting, Netflix-Serien ver- ausgewählt worden. Diese Aus-
zweitgrössten Volkswirtschaft der Staat, wie ihn die Welt noch nie den anderen, echten oder vermeint- drängen Filme, das Kino verliert an wahl ist natürlich keine exakte
Welt geworden. Seit Xi Jinping gesehen hat. Minderheiten und lichen, Segnungen der Computer- Deutungsmacht, Youtube frisst Wissenschaft. Wie hätten Sie ent-
2012 die Macht im Land übernom- Dissidenten werden systematisch technik: Bilderkennungssysteme, Fernsehen, Influencer lösen schieden? Diskutieren Sie mit.
men hat, pflegt China immer verfolgt und unterdrückt, Bürger smarte Waffen, sprechende Assis- Moderatoren ab, und statt Witze nzz.as/dekade
unverhüllter Nationalismus und gelenkt. Ein Hort des Widerstands tenten für jede Stube oder die gibt es Memes.
Militarismus. Das Projekt «neue bleibt Hongkong, wo bereits 2014 famose Blockchain-Technik, die in
Seidenstrasse» (2013) soll die und dann erneut 2019 gegen die Zukunft Notenbanken ebenso
imperiale Geltung absichern. Parteidiktatur rebelliert wird. überflüssig machen soll wie Notare.
18
Sollich
ausderKirche
austreten?
I
ch bin immer in der evangelisch-refor-
mierten Kirche geblieben, im Stand-by-
Modus, vor allem aus Bequemlichkeit.
Wer austritt, muss sich entscheiden. Statt-
dessen bezahle ich die Steuern und lege alle
zwei Wochen die Mitgliederzeitung «refor-
miert.» ins Altpapier. An Heiligabend gehe ich
in dem Dorf, aus dem ich komme, in den Got-
tesdienst. Meine Eltern singen im Chor. Ich
schaue dem Messmer zu, wie er sich auf seiner
Bockleiter verrenkt, und frage mich wie jedes
Jahr, was am Ende brennt: die Kerzen oder der
Baum. Wenn alles leuchtet, setzt die Orgel ein.
Die Holzbank ist eng und unerbittlich. Das ist
mein Platz in der Kirche.
Gott weckt in mir eigentlich nur Erinnerun-
gen: an das Krippenspiel mit der Sonntags-
schule, in dem ich als Josef auftrat, an einen
Film aus dem Religionsunterricht, in dem
Adam und Eva aus einem Humushaufen her-
ausstiegen und so die Menschheit begründe-
ten, und an Pfarrer Balz, einen sehr weltlichen
Mann mit Jeans und Locken, der die phantas-
tischen Bibeltexte in ebenso phantastische
Anekdoten aus seinem Leben übersetzte.
Wenn es in meiner Jugendzeit um die Kir-
che ging, ging es vor allem um die Gemein-
schaft, nicht um den Glauben. Mein Vater
war einige Jahre sogar der Präsident unserer
Kirchgemeinde, meine Mutter leitete die
Sonntagsschule – und dennoch würde ich
meine Erziehung nicht als religiös bezeich-
nen. Als Kinder beteten meine Geschwister
und ich vor dem Einschlafen, und manchmal
sangen wir vor dem Mittagessen, aber ich
glaube, es ging eher um das Ritual als um den
religiösen Geist. Mit den Jahren kamen uns
die Rituale abhanden.
Und heute?
N
ach einer längeren Abwesenheit
wurde ich zuletzt wieder häufiger
mit Gott konfrontiert, an Beerdigun-
gen, bei Kirchenbesuchen in den
Herbstferien in Sizilien, in Büchern. Ich sah
mich zunehmend herausgefordert. Wie stehe
ich zu Gott? Bin ich überhaupt noch zu einer
solchen Ernsthaftigkeit fähig, oder gehe ich
inzwischen mit einer undurchdringbaren Rit-
terrüstung aus Ironie durch das Leben? Und
müsste ich dann nicht konsequenterweise
aus der Kirche austreten?
Nicht einmal als Ironiker will man jemand
sein, der solchen Fragen ausweicht.
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Unabhängig bis
ins hohe Alter.
Hintergrund Glaube
Viele meiner Freunde sind längst aus der Kirche ausgetreten. Ohne genau zu
wissen, weshalb, bin ich immer geblieben. Aber wie stehe ich eigentlich zu Gott?
Eine Selbstbefragung. Von Samuel Tanner
Ist die Hoffnung darauf, in der Kirche eine Gemeinschaft zu finden, ein Argument für einen Verbleib?
Ich bin 28 Jahre alt, meine Generation sieht
das Leben als Hop-on-Hop-off-Bus: Einstei-
gen und aussteigen ist immer und überall
möglich. Überhaupt ist alles möglich, wird
uns gesagt. Wir zweifeln eher an Gott, als
an uns selbst. Wir denken, Glauben sei das
Gegenteil von Wissen. Viele meiner Freunde
sind längst aus der Kirche ausgetreten. Wenn
ich sie nach Gründen frage, lächeln sie mitlei-
dig. Alleine die Kirchensteuern, die du sparst!
Inzwischen lebe ich nicht mehr in dem
Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, sondern
in der Stadt. Die Hoffnung darauf, eine grosse
Gemeinschaft zu finden, ist hier kein Argu-
ment für die Kirche. Die Individualisierung ist
in Zürich weit fortgeschritten. Wenn ich, wie
im Sommer einmal, den Gottesdienst im Frau-
münster besuche, kenne ich niemanden. Aber
die Kirche muss aus meiner Sicht sowieso
mehr sein als ein Verein für seelisch und mate-
• Residenzielles Wohnen
• 24h medizinische Leistungen
• 4* Superior Hotelambiente
www.sonnmatt.ch
riell und sonst wie Bedürftige, mehr als eine
Caritas mit einer dicken Begleitbibel. Die Bibel
ist das Zentrum der Kirche, mindestens so
protestantisch bin ich schon.
A
ls ich mich selber zu befragen be-
ginne, ob ich überhaupt glaube,
schleicht sich der immergleiche,
scheinbare Widerspruch in meinen
Kopf: Wieso soll ich glauben, wenn ich wissen
kann? Schliesslich finde ich eine Antwort bei
Niklaus Peter, dem Pfarrer am Zürcher Frau-
münster, einem der letzten Intellektuellen der
reformierten Kirche. Er zitiert in einem seiner
Texte den ehemaligen Grossrabbiner von Eng-
land, Jonathan Sacks. Besser kann ich es nicht
sagen: «Wir brauchen beide Arten von Ge-
schichten. Jene der Naturwissenschaften, die
uns erzählen, wie alles entstanden ist – eine
klare, skeptische Sicht aufs Universum und
auf uns selbst. [Aber:] Es braucht auch ande-
re, innere Geschichten dieses Universums, bei
welchen jener, der sie erzählt, nicht von vorn-
herein als sinnloser Zufall ausgeschlossen ist.»
Die Welt, wie sie jeder sieht, kann nicht
alles sein. Ich und meine Empfindungen
haben eine Bedeutung, die über den Zufall
hinausgeht, den die Wissenschaft in mir als
individuellem Erzähler sieht.
Je länger ich nachdenke, desto mehr wird
mir klar: Ich glaube an die Sinnhaftigkeit des
Lebens. Wäre alles sinnlos, wären wir nicht
am Leben. Für mich ist nur schwer vorstellbar,
dass der Fortgang des Universums nur mole-
kulares Geschiebe ist – vielleicht aus Selbst-
schutz. Wer will schon glauben, alles Leben
sei Zufall?
Den Begriff der Sinnhaftigkeit meine ich so
grundsätzlich wie nur möglich. Gott ist nicht
der Regisseur des Welttheaters. Er teilt weder
Rollen noch Sprecheinsätze zu. Er hat noch
nicht einmal die Bühne aufgebaut. Es war nur
sein Wille, dass hier einmal in irgendeiner
Form das Leben spielt.
Ich glaube deshalb nicht, dass unsere Bio-
grafien in allen ihren Abzweigungen gottgege-
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
ben sind. Ich glaube nicht an das Schicksal,
GUY CHRISTIAN / FOTOFINDER.COM
wie das andere Gläubige tun, die ich kenne.
Als mein jüngerer Bruder an Leukämie er-
krankte, dachte ich nicht eine Sekunde daran,
dass diese Krankheit irgendeinen Zweck hat.
Heute geht es ihm wieder besser, aber ich bin
weit davon entfernt, zu glauben, der Krebs
sei eine von Gott entworfene Prüfung, die er
gebraucht habe, um eine Lektion des Lebens
zu lernen.
Was ich mit Sinnhaftigkeit meine, ist Gottes
Willen, dass die Welt und der Mensch exis-
tieren. Nicht mehr und nicht weniger.
U
m unsere Existenz zu begreifen, hel-
fen uns gemeinsame Geschichten.
Sie kräftigen und trösten. Wäre ich
anderer Meinung, würde ich nicht
schreiben und nicht lesen. Und die Bibel ist
das Ur-Buch. In der Bibel stehen die Werte,
auf denen die christliche Kultur und ihre Lite-
ratur erst aufbauen: Versöhnung, Verzeihung,
Barmherzigkeit. Die Literatur liefert mir einen
Schlüssel, um das irdische Wandeln zu ver-
stehen. Der Glaube liefert den Schlüsselbund
zum Überirdischen.
Mein Vokabular ist begrenzt, wenn es um
Glaubensfragen geht. Ich kann nicht alles ra-
tional begründen. An diesem Punkt beginnen
meine Zweifel (und alles Zweifellose ist mir
sowieso suspekt), an diesem Punkt beginnt
der Glaube.
Ich glaube, dass es nicht für alles Beweise
gibt. Ich glaube, in existenziellen Situationen
über Kräfte zu verfügen, von denen ich jetzt
noch nichts weiss.
Während ich diese Sätze schreibe, formiert
sich in meinem Kopf der Widerstand des
Verstands: Ist das nicht völlig naiv? Aber der
Als die
Verstand sitzt nicht allein in meinem Kopf.
I
Gemeinde
«Grosser Gott, ch verbinde mit der Kirche auch Momente
wir loben dich» des Ergriffenseins. Im Frühling besuche
anstimmt, ich eine Abdankung in Köniz, der legen-
berührt mich däre Boxtrainer der Stadt wird beerdigt.
Der Messmer trägt zusätzliche Stühle herbei,
das. Kurzzeitig die Kirche ist mehr als voll, es gibt Blumen
ist es, als füge und Liederbücher, und die Pfarrerin liest eine
sich alles. Passage aus dem Korintherbrief: «Die Posaune
wird erschallen, die Toten werden zur Unver-
gänglichkeit aufgeweckt.» Als die Gemeinde
gemeinsam das Unservater betet, schaue ich
mich um. Ein bisschen wirkt es, als könnten
die Leute ihre Trauer wie Ballone in den Him-
mel steigen lassen. Mir entsprechen die Ritu-
ale, die die Kirche für die Verstorbenen und
ihre Angehörigen hat. Ich möchte auch einmal
beerdigt werden.
In den Bankreihen sitzen alte, schwere
Männer in Lederjacken neben jungen, fitten
Frauen in Leggings. Als die Gemeinde «Gros-
ser Gott, wir loben dich» anstimmt, berührt
mich das. Kurzzeitig ist es, als füge sich alles.
Allein, um gerührt zu werden, muss ich
nicht in der Kirche bleiben. Die zuvor ange-
stellten, nüchterneren Gedanken zum Glau-
ben sind mir wichtiger: der Glaube als eine zu-
sätzliche Dimension des Lebens. Aber ganz
ohne Momente des Ergriffenseins erschiene
mir diese zusätzliche Dimension ferner.
In die Kirche gehe ich fast nie. Aber ich
glaube, dass es auch nicht darum geht. Die
Reformatoren sind vor fünfhundert Jahren
angetreten mit der Haltung, der Mensch über-
schätze sich, wenn er glaube, Gott lasse sich
durch Beichten und andere Ablasshandlun-
gen beeinflussen. Ich schulde nichts, auch
keine Bekenntnisse. Das glaube ich.
Ich trete nicht aus der Kirche aus, wieso
sollte ich?
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
DerNasenach
S
eit Monaten werden die Erwar-
tungen geschürt. An Weihnach-
ten gibt es einen neuen «Pinoc-
chio»! Ein Film von Regisseur
Matteo Garrone, der sich mit
Kassenschlagern wie «Dogman»
oder «Gomorrha» einen Namen
für düstere Geschichten gemacht hat. In der
Rolle von Meister Geppetto der grosse Roberto
Benigni, bereits zu Lebzeiten eine Ikone des
italienischen Kinos.
Die italienisch-französisch-britische Ko-
produktion, die 15 Millionen Euro kostete, soll
das wichtige Weihnachtsgeschäft erobern, der
seit Jahren kriselnden heimischen Filmindus-
trie Schwung verleihen und an der kommen-
den Berlinale Preise einheimsen.
In regelmässigen Abständen wurde von
den Dreharbeiten berichtet. Dann der Trailer.
Und zuletzt erzählten Garrone und Benigni
der Öffentlichkeit, was ihnen der Schelm mit
der langen Nase bedeutet. Garrone soll bereits
mit sechs Jahren darüber nachgedacht haben,
wie die phantastische Geschichte in bewegte
Bilder umgesetzt werden könnte. Und Beni-
gni, nur zehn Kilometer vom Geburtsort des
Autors entfernt aufgewachsen, hat nicht auf-
gehört, Pinocchio zu inkarnieren. Er spricht
wie er, vergnügt sich wie er. Wie im Film «La
vita è bella» (1997) über das Leben im Konzen-
trationslager: Selbst hier gibt Benigni den
Pinocchio, der Abenteuer erlebt.
Damit unterscheiden sich die beiden nicht
vom Rest des Landes. Pinocchio ist die Ge-
schichte der Italiener. Alle wachsen mit ihr
auf. Sie lieben sie als Kinder, weil der Held ist
wie sie. Er möchte nur spielen, sich vergnü-
gen, spontan sein. Wer hat gesagt, dass man
den Versuchungen widerstehen muss? Still-
sitzen, sich den Kopf zerbrechen, das gehört
eben nicht zum Dolcefarniente.
Einmal erwachsen, bleibt die Nostalgie
einer unbeschwerten Kindheit. Und eine
grosse Faszination kommt hinzu: wie viel-
schichtig die Fabel ist. Besonders beeindru-
ckend ist dabei, wie gut Carlo Collodi, der
Autor von Pinocchio, mit seiner Geschichte
die Italiener getroffen hat.
Hintergrund Italien
Pinocchio kommt wieder ins Kino. Der Schelm ist Italiens grösster Exportschlager,
anarchisch, verspielt – und ein Spiegel des Landes. Von Marc Zollinger, Rom
Eine Politik ohne Konstanz, ständig wech-
selnde Regierungen, Finten und Lügen, eine
lange Tradition von flunkernden Politikern,
eine mafiöse Schattenwirtschaft, die das Land
an den Rand des Ruins bringt. Nicht nur von
aussen werden diese Tendenzen beobachtet.
Viele Italiener fragen sich: Werden wir jemals
gross, oder bleiben wir immer unvollständig?
Carlo Collodi selber hatte ein widersprüch-
liches Verhältnis zu Pinocchio. Wäre es nach
ihm gegangen, hätte die Marionette ein kurzes
Leben mit einem unglücklichen Ende gefun-
den. Er hatte die Fortsetzungsgeschichte im
Auftrag einer italienischen Kinderzeitschrift
geschrieben – und zwar nur, weil er Spiel-
schulden hatte, wie es heisst. In einem Be-
gleitbrief an den Verleger, den der Autor der
ersten Episode beifügte, schrieb er: «Ich schi-
cke dir diese Kinderei, mach damit, was dich
gut dünkt. Aber wenn du sie druckst, dann
zahl sie mir gut, damit ich auch Lust habe, sie
fortzusetzen.» Am 7. Juli 1881 erschien die ers-
te Geschichte.
Anarchisch und brutal
In der 15. Folge ging Collodi dann schon die
Lust aus: Er liess Pinocchio von seinen durch-
triebenen Gefährten, Fuchs und Kater, an
einem Baum aufhängen. Der Autor muss an
dieser Tat eine gewisse kindliche Freude
gehabt haben. Lässt er doch seinen Protago-
nisten seufzen und sagen: «Oh Babbo mio, se
tu fossi qui!» Wie weiland Jesus am Kreuz:
«Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?»
Die jungen Leserinnen und Leser, denen
der verspielte Holzkopf ans Herz gewachsen
war, protestierten heftig. Auch der Verleger
machte Druck. Der Autor musste seine
Er ist spontan, gutmütig
und grossherzig, aber
hölzern, wortbrüchig
und faul. In Pinocchio
kann man Schwächen
und Stärken spiegeln.
19
FOTOS: RUE DES ARCHIVES / KEYSTONE, ASCOT
Der (Alb-)Traum
eines marionetten-
haften Lebens auf
der Leinwand: Szene
aus dem neuen Film
«Pinocchio» (l.).
Schöpfung wieder zum Leben erwecken. Und der Geburtsort seiner Mutter, der guten Fee,
er pflanzte ihr den Wunsch nach einer weite-
Von der Serie die in anderen Sphären weilt.
ren Wiedergeburt ein: Von da an will Pinoc- zu Walt Disney Zum Reiz von «Pinocchio» gehört, dass die
chio ein echter Bub werden. Eine Fee hilft ihm Geschichte aus unterschiedlichen Perspekti-
bei seiner Läuterung. Wichtigstes Requisit auf ven gelesen werden kann und sehr viele Deu-
diesem Weg ist die berühmte Lügennase. Sie tungen möglich sind. Da ist zum Beispiel die
zeigt ihm, wenn er von der Wahrheit abge- sozialgeschichtliche Dimension: Italien er-
kommen ist. Wird heute jemand mit Pinoc- lebte ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der
chio verglichen, schlägt stets diese negative Industrialisierung eine fundamentale gesell-
Seite durch. Wie kürzlich, als Abgeordnete der schaftliche Umwälzung. Die Städte wuchsen,
Lega im Parlament ein Schild hochhielten: der Bedarf an Fabrikarbeitern stieg, viele
«Pinocchio Conte» stand darauf geschrieben.
Der Ministerpräsident, so die unmissver-
ständliche Aussage, sei ein Lügner.
Ungewöhnlich an der Geschichte ist, wie
1881
Carlo Collodi
Arbeitende aus dem bäuerlichen, ländlichen
Umfeld zogen weg; eine Vielzahl von ihnen
ins Ausland. Und wie Pinocchio waren sie
nicht immer den Versuchungen der neuen
anarchisch und brutal sie ist. Pinocchio wei- publiziert in einer Welt gewachsen.
gert sich, in die Schule zu gehen, heckt Strei- italienischen
che aus, ist frech zu seinem Ziehvater und Wochenzeitung «Le Er steckt in uns allen
geht stets dem Vergnügen nach. Er wird vom Avventure Di Insbesondere die entwicklungspsychologi-
Puppenspieler namens Feuerfresser fast bei Pinocchio» als Fort- sche und spirituelle Ebene hat dann aber die
lebendigem Leib gebraten; ein Schüler wird setzungsserie. 1883 Rezensenten stark angeregt. «Pinocchio» wird
von einem Buch erschlagen und stirbt. folgt das Buch. dabei auf die gleiche Stufe wie «Alice im Wun-
Selbst Geppetto ist im Original alles andere derland» oder «Der kleine Prinz» gesetzt. Auf
als der gutmütige Vater, wie wir ihn von den
späteren Adaptionen her kennen. Er ist mür-
risch, reagiert manchmal gar rabiat. Kurz: Es
steckt sehr viel vom feurigen Charakter des
1940 seinem Irrweg begegnet Pinocchio tatsächlich
vielen Figuren, die ihm verständlich machen,
was das Leben ist, das Gute und das Schlechte
und wie er den (Alb-)Traum eines marionet-
Autors in der fast ausschliesslich von männ- tenhaften Lebens hinter sich lassen kann.
lichem Personal besetzten Geschichte. Viele Deutungssuchende gehen davon
Collodi wurde 1826 als erstes von zehn Kin- aus, dass Collodi ein Freimaurer gewesen ist,
dern unter dem Namen Carlo Lorenzini in Flo- der während des Schreibens selber einen
renz geboren. Seine Mutter, die als Kammer- Sinneswandel durchgemacht hat. «Pinoc-
zofe arbeitete, starb früh. Sein Vater war Koch Nach «Schnee- chio» wird so zur Geschichte einer Initiation
bei einem reichen Adligen, der sich dann auch wittchen» (1938) durch den Meister, Geppetto. Es mag dabei
um die Ausbildung des talentierten Knaben bringt Walt Disney um moralische Fragen gehen. Wie man ein
kümmerte und sein Studium der Philosophie, mit «Pinocchio» guter Bürger werden kann, der sich und
Literatur und Rhetorik finanzierte. den zweiten abend- anderen kein Leid zufügt. Doch letztlich geht
Nach seinem Studium arbeitete Carlo zu- füllenden Trickfilm «Pinocchio» über all das hinaus: Er möchte
nächst als Bibliothekar, dann als Journalist. in die Kinos. frei sein.
Er wurde ein Anhänger des italienischen Schon zu Lebzeiten Collodis war die Ge-
Freiheitskämpfers Giuseppe Mazzini, der die schichte von Pinocchio ein grosser Erfolg. Bis
Unabhängigkeit und Einigung der italienischen heute hat sie nichts von ihrem Reiz eingebüsst:
Staaten mit revolutionären Mitteln erreichen Verzaubert und zugleich verstörend, spricht
wollte. Der junge Journalist nahm 1848 an den sie alle Menschen an. Das ist nur schon daran
Unabhängigkeitskriegen gegen Österreich teil
und begann, politische Texte zu schreiben.
abzulesen, dass sie mit über 260 Übersetzun-
gen das am meisten übersetzte literarische
Weil er immer wieder in Konflikt mit der Obrig- Werk ist. «Pinocchio» ist eben nicht einfach nur
keit kam, wählte er ein Pseudonym. Collodi ist «der kleine Italiener». Er steckt in uns allen.
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NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Nachruf
Von Neugier getrieben
Franz Felix Lehni, der statt Kaminfeger oder Pfarrer zu einer markanten Figur
im Schweizer Journalismus wurde, ist 91-jährig gestorben. Von Urs Tremp
W
enn es stimmt, dass die besten
Voraussetzungen für den Jour-
nalismus eine solide Halb-
bildung, eine grosse Neugier
und ein Talent zum Erzählen sind, dann war
bei Franz Felix Lehni schon in jungen Jahren
vieles angelegt. Sein Interesse an fast allem,
was ihm begegnete, blieb ihm zeitlebens
erhalten. Ob kleine oder grosse, ob vertraute
oder fremde Welt: Lehni hat da nie einen
grossen Unterschied gemacht.
FFL («Effeffell»), wie er während seiner
Zeit als Journalist genannt und gerufen
wurde, stammte aus dem Luzerner Seetal.
Seine Familie kam aus Ermensee bei Hitz-
kirch. Es ist eine arme Familie, in die Franz
Felix 1928 hineingeboren wird – und eine
von Schicksalsschlägen heimgesuchte Fami-
lie. Der Vater ist Karrer (Fuhrmann) und
Knecht, die Mutter stirbt, als Franz dreijährig
ist, die Stiefmutter drei Jahre später. Franz
kommt ins Kinderheim. Eigentlich soll er
nach der obligatorischen Schulzeit Kamin-
feger lernen. Doch nachdem er schon erfolg-
reich dafür gekämpft hat, die Sekundar-
schule besuchen zu können, unterstützt ihn
ein Kapuziner, so dass er das Kollegium in
Stans besuchen kann. In den geistlichen
Stand will der junge Mann freilich nicht ein-
treten, auch wenn es für ein Theologie-
studium Geld gegeben hätte. Stattdessen
absolviert er die Dolmetscherschule und
steigt dann in jene Branche ein, von der
Lehni erwartet, dass sie ihm die Begegnung
mit der Welt, mit Geschichten und interes-
santen Menschen ermöglicht.
Franz Felix Lehni erhält eine Anstellung in
einer Pressebildagentur. Dann ist er Mitglied
einer Fotoreportergruppe. Und tatsächlich
katapultiert ihn der Beruf schon zu Beginn
der Karriere mitten ins Weltgeschehen. FFL
ist 1955 in Wien, als zehn Jahre nach dem
Ende des Krieges der österreichische Staats-
vertrag unterzeichnet und damit die Neu-
gründung der Republik festgeschrieben
wird. Er reist durch Skandinavien, schreibt
Reportagen und Berichte. Es ist die Zeit, als
auf den Redaktionen nicht Storydesigner
Das historische Bild Basel, 2. Februar 1985
Die Basler Fasnacht ist es nicht. Die sähe
anders aus, geordneter. Diese Kostümier-
ten demonstrieren mit einer anarchischen
Lust und den Mitteln des zivilen Ungehor-
sams. Es ist die Klimajugend der achtziger
Jahre, die an diesem Samstag in Schweizer
Städten den Verkehr blockiert – hier an der
Heuwaage in Basel –, um auf eine Sonder-
session hinzuweisen, die in der Woche
darauf beginnt. Thema: das Waldsterben.
Die Debatte um gelichtete Baumkronen,
geschwächte Bannwälder und Luftver-
schmutzung erreichte ihren Höhepunkt, im
Ratssaal herrschte grosse Einigkeit. Oder
wie es der SVP-Nationalrat Adolf Ogi sagte:
«Das Waldsterben ist nicht mit den her-
kömmlichen Mustern von links und rechts
zu bewältigen. Die Bäume im Wald gehören
weder der Poch noch dem Freisinn, weder
der CVP noch der SVP an.» Das Waldsterben,
das sich später als weit weniger schlimm als
befürchtet erwies, bescherte dem Land
Katalysatoren, neue Tempolimiten und eine
populäre Neuerung bei den SBB: die Verbil-
ligung des Halbtax von damals 360 auf 100
Franken, anfänglich subventioniert aus der
Bundeskasse. Die Opposition dagegen fand
ausserhalb des Parlaments statt. Durch
Leute, die auf ihr Auto den Spruch klebten:
«Mein Auto fährt auch ohne Wald» oder
1985 die Autopartei gründeten. Vom Wald-
sterben spricht heute niemand mehr. Von
der Autopartei auch nicht. Und das Halbtax
kostet 185 Franken. (tis.)
MICHAEL KUPFERSCHMIDT / KEYSTONE
Hintergrund
vorgeben, was die Journalisten abzuliefern
haben. Vielmehr setzt man auf Spürsinn und
Neugierde der Reporter und nimmt gerne in
die Blätter auf, was interessant und gut
geschrieben angeliefert wird. Die Presseviel-
falt macht möglich, dass ein vifer Journalist
– freie Journalistinnen sind noch eher rar –
gut von seinen Geschichten leben kann.
In den späten fünfziger Jahren lässt Lehni
sich in der Ostschweiz nieder. Er arbeitet für
die katholische «Ostschweiz», macht sich
dann aber selbständig und beliefert von
St. Gallen aus unter anderem den Zürcher
«Tages-Anzeiger» mit Reportagen, Berichten
und Glossen. Mit der Gegend ist er bald so
vertraut, dass der Luzerner als Einheimi-
scher gilt. Als er zum 100. Geburtstag des
Ostschweizer Künstlers Carl Liner eine
Monografie verfasst, lobt die «Neue Zürcher
Zeitung»: «Franz Felix Lehni wird es zu
danken sein, wenn dank dem vorliegenden
Werk viele erst wissen werden, wer diese
Malerpersönlichkeit eigentlich war.»
Während seiner St. Galler Zeit ruft Lehni
den Verband Freier Berufsjournalisten ins
Leben, er gehört zu den Gründern des Liech-
tensteiner Presseclubs und macht Karriere
– bis zum Präsidium – im Verein der Schwei-
zer Presse. Er wird Mitglied des geschäfts-
leitenden Ausschusses der Internationalen
Journalisten-Föderation.
Nach fast zwanzig Jahren in der Ost-
schweiz kehrt Lehni in seine Heimat zurück.
Er wird Redaktor bei den «Luzerner Neusten
Nachrichten» («LNN»). Und wie er sich in der
Ostschweiz mit lokalhistorischen Nachfor-
schungen hervorgetan hat, ist er auch im
Luzerner Seetal als neugieriger Heimatkund-
ler unterwegs. Er gibt die Lebenserinnerun-
gen des Luzerner Politikers und Autors
Heinrich Ineichen heraus und ist Chronist des
lokalen Jahreskalenders «Seetaler Brattig».
Als 1980 das Medienunternehmen Ringier, zu
dem die «LNN» gehört, deren Chefredaktor
Jürg Tobler absetzt, gehört Lehni zu den
Redaktoren, die unter Protest die Zeitung
verlassen. Mitstreiter erinnern sich, wie FFL,
der ebenso liebenswürdig wie knorrig und
21
Claudine Auger, 78
I
n ihrer berühmtesten Szene trägt sie
Taucherflossen und einen schwarz-weis-
sen Bikini und trifft sich hinter einem
Korallenriff mit James Bond zum Unter-
wasser-Techtelmechtel. Claudine Auger
spielte Domino, das Bondgirl in «Feuerball»
aus dem Jahr 1965. Nach dem Tauchausflug
saugt ihr Sean Connery am Strand das Gift
eines Seeigels aus dem Fuss, bevor er einen
© INTERNATIONALER LIECHTENSTEINER PRESSECLUB (LPC) / VADUZ
Gegner im Palmenwald harpuniert – im Film
natürlich. Auger kommt 1941 in Paris zur
Welt, besucht die Schauspielschule und
arbeitet zuerst als Fotomodel. Mit siebzehn
vertritt sie Frankreich an den Miss-World-
Wahlen und wird Zweite. Erste Schauspiel-
rollen folgen, aber erst «Feuerball» macht sie
berühmt. Danach wirkt Auger in rund 80 TV-
und Filmproduktionen mit, in erster Linie in
Italien und Frankreich. Sie spielt mit Romy
Schneider, Yul Brynner, George Hamilton
und Klaus Kinski. Den Sprung nach Holly-
wood schafft sie allerdings nicht. Auger war
zweimal verheiratet. Sie ist am Mittwoch
in Paris gestorben. (fur.)
Hannes Goetz, 85
D
er Spitzenposten bei einem der
wichtigsten Schweizer Unterneh-
men wurde zur Zwickmühle: Kein
Jahr nachdem Hannes Goetz 1992
das Verwaltungsratspräsidium der Swissair
übernommen hatte, lehnte das Volk den
Auch den Liechten- garstig sein kann, seiner Wut lautstark Aus- Beitritt der Schweiz zum EWR ab. Goetz ver-
steiner Presseclub druck gegeben hat. Lehni wird danach Infor- suchte sich im Hinblick auf den liberalisier-
hat er mitgegründet: mationsbeauftragter des Kantons Luzern und ten Luftverkehr in Europa in einen Verbund
Franz Felix Lehni bleibt dies bis zur Pensionierung 1993. namens Alcazar zu retten: ein Zusammen-
(links) mit Fürst Dann hat er Zeit, sich neben der Heimat- schluss von Swissair, AUA, SAS und KLM.
Hans-Adam II. kunde auch der Jagd, dem Fischen und den Das Projekt scheiterte, die Swissair verlegte
(Vaduz, 2009) Rosen zu widmen. Seinen Lebensmit- sich danach auf die sogenannte Hunter-Stra-
telpunkt verlegt Lehni nach Irland – dem tegie, den Aufkauf von kleinen, schwachen
Land seiner Sehnsucht: «Nach Irland habe Airlines. Das Ende ist bekannt. Ein Jahr nach
ich schon Heimweh gehabt, lange bevor ich dem Abgang von Goetz bei der SAirGroup,
die Insel je betreten habe», sagte er in einem wie das Unternehmen nun hiess, war die
Interview. «Im Gymnasium erregte Heinrich Gesellschaft überschuldet. 2001 folgten
Federers Novelle ‹Patria› meine Neugier auf Grounding und das Ende.
die Grüne Insel und ihre Menschen. Ein Geboren wurde Hannes Goetz 1934 in
Jahrzehnt später bestärkte Heinrich Bölls Singen, aufgewachsen ist er in Schaffhausen,
‹Irisches Tagebuch› mein Gefühl, dass an an der ETH hat er Chemie studiert und dok-
Europas Westrand so etwas wie eine zweite toriert. Seine Laufbahn begann bei der Sika.
Heimat auf mich wartet.» In den achtziger Jahren sanierte Goetz als
Drei Mal war Franz Felix Lehni verheiratet, Delegierter des Verwaltungsrates erfolgreich
sechs Mal wurde er Vater. Jetzt ist er nach die Georg Fischer AG. Von 1988 bis 2001 war
längerer Krankheit in seiner Wahlheimat er Verwaltungsrat der NZZ. Hannes Goetz ist
Irland gestorben. am 11. Dezember gestorben. (tis.)
Leserbriefe
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

«Psychotherapie ist «Nicht polarisieren» Presserat kritisiert

das beste Mittel»
«Wir Pillenschlucker»
NZZ am Sonntag vom
15. Dezember
Antidepressiva werden immer
häufiger und gemäss einer
aktuellen Studie der Universität
Zürich zu häufig verschrieben.
Dabei ist gerade bei Depressio-
nen die Psychotherapie das beste
Gegenmittel, allenfalls und nur
wenn nötig in Kombination mit
Medikamenten. In der Realität
werden leider oft nur die Medi-
kamente verschrieben – die Psy-
chotherapie findet nicht statt.
Ein Grund dafür ist der schwie-
rige Zugang. Wer ihn nicht aus
der eigenen Tasche bezahlen
kann, findet nur mit Mühe einen
Therapieplatz. Der Bundesrat
möchte diesen Missstand
beheben und schlägt deshalb die
Einführung eines Anordnungs-
modells für die Psychotherapie
vor, ähnlich wie bei der Physio-
therapie. Davon verspricht er
sich nicht zuletzt auch eine
Reduktion der Medikamenten-
verschreibungen. Das im Artikel
Beschriebene zeigt einmal mehr:
Es ist höchste Zeit, den Vorschlag
in die Tat umzusetzen und den
Zugang zur Psychotherapie zu
erleichtern.
Yvik Adler, Psychotherapeutin
und Co-Präsidentin FSP, Bern
Fast jeder Dritte nimmt Medikamente für die Nerven.
Es soll halt alles schnell und
mit wenig Aufwand gehen. Sich
eine Stunde am Tag seinem
Wohlbefinden widmen, eine
Zeitlang auf die Wirkung eines
Kräutertees warten und Nein
sagen lernen: Sich diesem Auf-
wand auszusetzen, hängt auch
ein wenig mit Respekt gegen-
über sich selbst zusammen.
Michaela Taferner
Ärzte gehen viel zu sorglos um
mit Schmerztabletten. Jedes Mal,
wenn ich vom Spital nach Hause
komme, fällt mir auf, welche
Unmengen an Novalgin, Dafal-
JEFFREY HAMILTON
«Kritik an erleichtertem
Lehrabschluss»
NZZ am Sonntag vom
15. Dezember
Was ist denn ein erleichterter
Lehrabschluss? Beim Lesen zeigt
sich: Gemeint ist der Nachteils-
ausgleich. Also eine Massnahme,
die sich jeder Sehbehinderte
selber verabreichen kann: mit-
hilfe einer Brille. Wer aufgrund
einer Dyslexie, Dyskalkulie oder
von ADHS behindert ist,
bekommt etwas mehr Zeit, hie
und da auch eine andere Mass-
nahme, die seine Behinderung
ausgleichen soll. Aber er oder sie
macht exakt dieselbe Prüfung.
Die Schweiz hat ein Behinder-
ten-Gleichstellungsgesetz. Das
gan und sogar dem ziemlich star- ist auch richtig so. Dass nur wirk-
ken Tramadol einfach mitge- lich behinderte Lernende zu
geben werden. Eine Schachtel einem Nachteilsausgleich
Dafalgan würde in den meisten kommen, wird garantiert durch
Fällen völlig reichen, und wenn eine entsprechende psycho-
nötig kann immer noch mehr in diagnostische Untersuchung an
der Apotheke geholt werden. einer qualifizierten Fachstelle.
Anna Capivara Selbstverständlich besteht noch
Klärungsbedarf, und die Bildung
Seltsam, dass nicht die einer entsprechenden Arbeits-
Ursachen – immer mehr Druck gruppe im Projekt Berufsbildung
und Stress am Arbeitsplatz – kri- 2030 ist zu begrüssen. Gehen
tisiert werden, sondern die Men- wir den Weg sorgfältig, umsich-
schen, die sich mithilfe dieser tig und gewissenhaft weiter,
Mittel trotzdem zur Arbeit ohne zu polarisieren.
schleppen. Robin Hull, Präsident Verband
Mirjam Musica Dyslexie Schweiz, Kloten (ZH)
«NZZ am Sonntag»
Der Schweizer Presserat hat eine
Beschwerde gegen die «NZZ am
Sonntag» gutgeheissen. Zwei
Privatpersonen kritisierten einen
ganzseitigen Beitrag mit dem
Titel «Superheld Schweinefleisch»
in der Ausgabe vom 2. Juni 2019.
Dabei handelte es sich um einen
von Proviande, der Branchenorga-
nisation der Schweizer Fleisch-
wirtschaft, als «Sponsored Con-
tent» bezahlten Beitrag. Die
Redaktion hatte sich gegenüber
dem Presserat auf den Stand-
punkt gestellt, dass die Seite klar
als Bezahlinhalt gekennzeichnet
und der Name des Auftraggebers
transparent gemacht worden sei.
Dieser Auffassung hat die Medien-
Beschwerdeinstanz jetzt wider-
sprochen. Die Seite sei weitge-
hend identisch mit den redaktio-
nellen Seiten der «NZZ am Sonn-
tag», schreibt der Presserat. Nach
seiner Ansicht können Leserinnen
und Leser nur durch sehr genaues
Hinsehen erkennen, dass es sich
um bezahlte Werbung handle.
Damit habe die «NZZ am Sonntag»
den Journalistenkodex verletzt.
Dieser verlangt, dass bezahlte
Inhalte von redaktionellen gestal-
terisch klar abgehoben sind.
Redaktion «NZZ am Sonntag»
Die meistgelesenen
Artikel der Woche
Ein Zürcher Zoodirektor erschiesst
seine Giraffen und wirft sie
ins Meer. Was ist da passiert?
nzz.as/top1
100 Dinge, die man über Wein
wissen muss. nzz.as/top2
Berlin: Nackt in der ewigen Party-
Stadt. nzz.as/top3
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ausstellung
Indiennes. Stoff für

ÜBER DIE
tausend Geschichten
Geschichte
Schweiz
Sammlung

FESTTAGE
im Westflügel
Weihnachten
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Fall CS: Packen die Sicherheitschefs aus?
Morgen Montag legt die Credit Suisse einen zweiten Untersuchungsbericht vor zu den umstrittenen
Überwachungen von Top-Managern. Für CEO Tidjane Thiam wird die Luft dünner. Von Franziska Pfister
I
n der Affäre um die Bespitzelung zweier
Spitzenmanager durch die Arbeitgeberin
Credit Suisse (CS) haben die Verantwort-
lichen offenbar neue Aussagen gemacht.
Die Bank wird morgen Montag zum zweiten
Überwachungsfall Stellung nehmen. «Zu den
Observationen haben wir in den Systemen
der Bank keine Dokumente oder Daten gefun-
den, dennoch wissen wir durch Befragungen
mittlerweile mehr», sagt Flavio Romerio,
geschäftsführender Partner der Anwaltskanz-
lei Homburger im Gespräch.
Die Grossbank erteilte Homburger diese
Woche den Auftrag, die Beschattung von Peter
Goerke zu untersuchen, nachdem die NZZ am
Dienstag aufgedeckt hatte, dass die CS auch
diesen Kadermann beschatten liess. Dieses
Mal wird auf allen Stufen des Unternehmens
geprüft, ob es Überwachungen gab. Aufgeflo-
gen war die Bespitzelungsaffäre im Septem-
ber, als der CS-Spitzenmanager Iqbal Khan in
der Zürcher Innenstadt bemerkte, dass er ver-
folgt wurde. Goerke dagegen habe von der Be-
schattung nichts mitbekommen, verlautet aus
seinem Umfeld.
Der Fall Goerke beginnt mit einem Mittag-
essen am 13. Februar 2019. Bei Tisch eröffnet
Credit-Suisse-Chef Tidjane Thiam dem
57-jährigen Schweizer, der Verwaltungsrat
werde ihn zum Berater zurückstufen. Es war
Thiam gewesen, der den Personalfachmann
2015 in die Konzernleitung geholt hatte. Er
machte ihn zusätzlich zum Verantwortlichen
für Kommunikation und Branding. Diese bei-
den Felder waren Neuland für Goerke. Offen-
bar erfüllte er die Erwartungen nicht. Zudem
sorgte sein zeitraubendes Hobby für Kritik:
Autorennen fahren. Das berichten Personen,
die Einblick in die Bankspitze haben.
Die beiden Männer kennen sich gut. Peter
Goerke war laut Insidern der engste Vertraute
Thiams neben Chief Operating Officer Pierre-
Hightech fürs Bett
Müde, aber doch oft schlaflos?
Wir haben Geräte getestet, die
zum Einschlafen sind 28
Olivier Bouée. Goerke wie Bouée hatten be-
Bespitzelungs- reits in der britischen Versicherung Prudential
Affäre in Spitzenpositionen für Thiam gearbeitet.
Dort hatte der CS-Chef sie schätzen gelernt.
Umso überraschender, dass die Bank Goer-
ke eine Woche nach dem Lunch überwachen
liess. Gemäss der NZZ dauerte die Beschat-
tung drei Tage und kostete 12 000 Fr. Die
Motive liegen im Dunkeln. Anders als Iqbal
Khan, der bei der CS seine Kündigung einge-
reicht hatte, betreute der Personalchef keine
Kunden. Es bestand also keine Gefahr, dass
Zweiter überwach- Goerke Klienten zu einem neuen Arbeitgeber
ter CS-Manager: lotsen könnte.
Der vormalige Kom- Nachdem Khan bei der Polizei Anzeige er-
munikationschef stattet hatte, nahmen die Anwälte von Hom-
Peter Goerke. burger im September ihre Untersuchung auf.
Ihr Auftrag sah vor, nach weiteren Observatio-
nen ausscheidender oder ungekündigter Kader
durch die CS zu suchen, beschränkt auf die letz-
ten drei Jahre. Weiter sollten sie die Umstände
der Überwachung Khans ergründen sowie Ab-
lauf, Motive und Auftraggeber ermitteln.
Sie stellten fest, dass Bouée die Observa-
tion angeordnet und der ihm unterstellte
Sicherheitschef Remo Boccali sie über den
Untersuchungs- Mittelsmann T. S. bei einem Detektivbüro in
leiter: Flavio Rome- Auftrag gegeben hatte. Bouée und Boccali
rio, Geschäftsführer mussten in der Folge die Bank verlassen.
der Anwaltskanzlei
Homburger. Durchbruch gelungen
Im zweiten Anlauf zur Aufklärung ist dem
Team von Homburger ein Durchbruch gelun-
gen. «Eine Person hat mit uns gesprochen, die
in der ersten Untersuchung noch nicht alles
offengelegt hatte», sagt Flavio Romerio. Wer
das sei, kommentiert er nicht und verweist
auf die CS. Diese nimmt am Montag Stellung.
Die Überwachung Goerkes erhöht den
Druck auf die CS-Spitze. Thiam wie VR-Präsi-
dent Urs Rohner hatten im Herbst erklärt,
nicht von der Beschattung Khans gewusst zu
Rekordstände an der Börse
Wie weiter nach einem
fulminanten Jahr für Aktien?
Mit einer hohen Aktienquote 32
haben, Rohner bezeichnete diese gestützt auf
den ersten Homburger-Bericht als «Einzel-
fall». Wenige Wochen später erklärte Thiam
im Westschweizer Fernsehen Überwachungen
zur «legitimen Waffe» der Bank.
Doch auch die Kanzlei steckt in Erklä-
rungsnot – trotz einer absichernden Formu-
lierung im ersten Gutachten, wonach «bis
heute» keine Hinweise für die Beschattung
«weitere[r] austretende[r] Mitarbeiter» vor-
lägen. Flavio Romerio sagt, er stehe «zu
jedem Wort» im Untersuchungsbericht, auch
die Aussagen des CS-Verwaltungsrats im
Nachgang seien sorgfältig abgewogen. «Es ist
unmöglich, negative Sachverhalte mit Sicher-
heit festzustellen», sagt er.
Der Anwalt leitet seit zehn Jahren den Be-
reich «White Collar & Investigations» und
bringt 20 Jahre Erfahrung in solchen Unter-
suchungen mit. Sein Team mit 30 Wirtschafts-
prüfern, Forensikern und Anwälten wird ge-
rufen, wenn es brennt. Davon erfährt in der
Regel niemand, nicht einmal die Mitarbeiter.
Nur der Auftraggeber darf publik machen,
dass die Forensiker Papierkörbe durchstöbert
und E-Mails geprüft haben.
Die Kanzlei durchforstete über die letzten
Monate Geräte, studierte Tausende E-Mails
und Chats, sie rekonstruierte zerrissene
Dokumente aus dem Schredder-Container,
durchsuchte Büros in der Bank, führte Befra-
gungen durch. Nicht alle angefragten Mit-
arbeiter gaben jedoch private Mobiltelefone
heraus. Andere erklärten, sie hätten Mittei-
lungen gelöscht.
Die Detektive, welche beide bekannten
Observationen durchgeführt haben, gaben
zwar Auskunft. Laut Romerio schwiegen sie
zur Frage, ob sie weitere Jobs für die CS durch-
geführt hätten: «Im September hatten wir
keine Erkenntnisse zu anderen Beschattun-
gen, jetzt haben wir Hinweise darauf.»
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
23
ARND WIEGMANN / REUTERS
Der Hauptsitz der
Credit Suisse ist
nicht nur von
aussen festlich
beleuchtet. Auch
in vielen Büros
brennt dieses
Wochenende Licht.
(Zürich, 3. 12. 2019)
Die Befragungen wurden jeweils von bis zu
drei Homburger-Anwälten gemeinsam durch-
geführt. «Wir hatten keine Einschränkungen,
konnten die Leute aufbieten. Alle kamen frei-
willig, bis zuoberst in der Bank», erklärt
Romerio weiter. Viele Befragte kamen in Be-
gleitung von Anwälten, manchmal gar von
ganzen Anwaltsteams. Sicherheit, dass die Be-
fragten alles offenlegten, gebe es aber nicht.
Unpräzise Spesenrechnungen
Im Rahmen der zweiten Untersuchung
analysierte Homburger alle Rechnungen von
T. S. Der Mittelsmann war mit für die Sicher-
heit der Bank zuständig, gemäss Presseberich-
ten soll er gar einen Badge besessen haben.
Die Beschattungsaufträge liefen über ihn.
«Wir haben die Buchhaltung der Bank auf den
Kopf gestellt, aber eine Rechnung mit dem
Vermerk ‹Beschattung Khan› existiert nicht»,
sagt Romerio. T. S. fakturierte der CS Spesen
für Tausende Franken, oft ohne sie aufzu-
schlüsseln. Im Sicherheitsbereich werden Ab-
sprachen oftmals bewusst mündlich getrof-
fen, um Datenspuren zu vermeiden.
T. S. nahm sich – in der tragischsten Wen-
dung der ganzen Affäre – das Leben, nachdem
sein Name an die Öffentlichkeit gelangt war.
«Als einziges Mittel blieb uns die Befragung
jener Person, welche die Rechnungen von T. S.
visiert hatte», sagt Romerio. Das lässt die Ver-
mutung zu, die neuen Erkenntnisse könnten
auf Aussagen der früheren Sicherheitschefs
Bouée oder Boccali zurückgehen.
Unabhängig davon, was die Bank am Mon-
tag vorlegt, hat die Finanzmarktaufsicht eine
eigene Prüfung der CS angeordnet. Spätestens
diese wird klären, wer in der Bankspitze wirk-
lich von den Observationen wusste.
Weiterer Artikel zum Thema auf der
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NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Wirtschaft Credit Suisse 25

Der ewige Taktierer

Die Bespitzelungsaffäre stürzt die Credit Suisse in eine Führungskrise. Zwischen Präsident Urs Rohner und
CEO Tidjane Thiam herrscht Eiszeit. Trotzdem laviert Rohner, statt zu entscheiden. Von Albert Steck

U
rs Rohner wirkt abgekämpft, als er
DANIEL WINKLER / 13 PHOTO

am 1. Oktober um 8 Uhr vor die

Medien tritt. Der CS-Präsident infor-
miert über die aufgeflogene Bespit-
zelung des ehemaligen Top-Kaders Iqbal
Khan. «Der Ruf unserer Bank hat gelitten –
dafür will ich mich entschuldigen», verliest er
mit monotoner Stimme die vorbereitete Erklä-
rung. Nach einem hastigen Blick in die Runde
klammert er sich erneut an sein Manuskript:
«Herr Thiam geniesst das volle Vertrauen des
Verwaltungsrats und von mir persönlich.»
Rohners Bekenntnis zum umstrittenen CEO:
Sie bleibt eine leere Floskel.
Vier Wochen später im gleichen Raum, un-
weit des Paradeplatzes: Tidjane Thiam prä-
sentiert die Quartalszahlen der Bank und
spricht erstmals über die Affäre. Er habe von
der Beschattung nichts gewusst, betont er.
Vielmehr habe eine organisierte Kampagne
gegen seine Person stattgefunden.
Im Anschluss an die Konferenz redet der
CEO im kleinen Kreis weiter. Einen solchen
Sturm habe er noch nie erlebt, erzählt er –
sichtlich aufgewühlt. Und wie, Herr Thiam,
verläuft die Zusammenarbeit mit dem Präsi-
denten? Abrupt wendet sich der Bankenchef
ab und beendet das Gespräch mit dem Hin-
weis, er habe einen Termin. Selbst eine Flos-
kel zu Urs Rohner ist für ihn zu viel verlangt.
Das Geschirr zwischen dem Führungsduo
der Credit Suisse ist zerschlagen. Der Konflikt
paralysiert die Bank seit Monaten. Trotzdem
zögert Rohner: Anstatt ein Machtwort zu spre-
chen, stellt er sich – halbherzig – hinter seinen
CEO. Womit er selber in den Strudel gerät:
Denn nun kämpft der CS-Präsident gegen den
Verdacht, er sei an einer wirklichen Aufklä-
rung der Überwachung gar nicht interessiert.
Diese Woche hat Rohners wacklige Vertei-
digung weiter an Glaubwürdigkeit verloren.
Laut Recherchen der NZZ wurde im Februar
auch der damalige Personalchef Peter Goerke
während der Freizeit beschattet. Kurz davor
erfolgte seine Rückstufung. Die Credit Suisse
geht nun diesem erneuten Fall nach.

Die Zweifel nehmen zu

Noch am 1. Oktober hatte Präsident Rohner
gehofft, mit dem Rücktritt von zwei Mitarbei-
tern sei die Affäre ausgestanden. «Es handelt
sich um einen isolierten Einzelfall», gab er zu
Protokoll, «es gibt daher kein grundsätzliches
Problem mit der Kultur in unserer Bank.»
Die internationale Presse sah es anders. Die
durchgeführte Untersuchung werfe mehr Fra-
gen auf als sie beantworte, schrieb zum Bei-
spiel die «Financial Times». Es strapaziere die
Leichtgläubigkeit, dass der CEO von den Vor-
gängen nichts mitbekommen habe: «Damit
vertiefen sich die Zweifel, ob Thiam geeignet
ist, eine Bank mit einem Kundenvermögen
von 1500 Mrd. Fr. zu führen.»
Warum aber hält der CS-Präsident am CEO
fest – trotz den eklatanten Widersprüchen
und obwohl das Tuch zwischen den beiden
längst zerschnitten ist? «Urs Rohner ist zwar
ein begnadeter Taktiker», sagt ein langjähriger
enger Vertrauter, «doch er scheut sich vor
klaren Entscheidungen.»
Schon bei der Ablösung von Brady Dougan,
dem Vorgänger Thiams, zauderte Rohner. «Ich
hätte den Führungswechsel schneller durch-
ziehen sollen», sagt er selber im Rückblick.
Der US-Investmentbanker Dougan kam 2007
an die Spitze. Auch Rohner hatte auf den CEO-
Posten aspiriert, wie ein Involvierter bestä-
tigt, doch habe die mangelnde Bankerfahrung
gegen ihn gesprochen. Nur drei Jahre zuvor
war er als Chefjurist zur CS gestossen.
Rohner verfügte mit dem damaligen Präsi-
denten Walter Kielholz über einen Mentor mit
Einfluss. So schaffte er den Sprung in den Ver-
waltungsrat, dessen Leitung er 2011 über-
nahm. Dort liess er Dougan, der unbeirrt auf
das riskante Investmentbanking setzte, an der
langen Leine. Dagegen zog die UBS frühzeitig
Lehren aus der Finanzkrise: Sie forcierte die
Vermögensverwaltung und fuhr stattdessen
ihre Risiken massiv zurück.
Zwar entwickelte auch Rohner Pläne für
einen Umbau der CS. Dann aber schob er den
gewichtigen Entscheid immer weiter hinaus.
Erst im Sommer 2015 erfolgte der Neustart
mit der Verpflichtung des umjubelten Mana-
gers Tidjane Thiam, welcher der britischen
Versicherung Prudential vorstand. Anstelle
des erhofften Aufbruchs jedoch geriet die
Bank in die Krise. Zu gross waren die aufge-
stauten Probleme, namentlich das fehlende
Kapital und milliardenteure Rechtsfälle.
«Unsere Zusammenarbeit ist hervorragend»: Die heftigen Angriffe von CEO Tidjane Thiam hat Präsident Urs Rohner stoisch hingenommen. (Zürich, 24.3.2017)
Banken-Krimi von Martin Suter
Konspiratives Treffen am Paradeplatz
In seinem 2015 publizierten
Buch «Montecristo» beschreibt
der Erfolgsautor Martin Suter
eine Verschwörung auf dem
Finanzplatz Zürich. Um die Sze-
nerie und Handlung authentisch
erscheinen zu lassen, holte
Suter den Rat von Urs Rohner.
Die beiden sind befreundet.
Eine Schweizer Grossbank, im
Roman heisst sie GCBS, hat sich
verspekuliert und will dies ver-
tuschen. Die Sache droht jedoch
zu platzen. Um das zu verhin-
dern, kommt es zu einem kon-
spirativen Treffen im Hauptsitz
der Bank, beschrieben als herr-
schaftliches Gebäude mit Sand-
steinbrüstung aus dem 19. Jahr-
hundert.
Zahlreiche Details, wie die
Balkone, die Räume im Bieder-
meierstil oder die Mahagoni-
möbel, erinnern unweigerlich an
die Credit Suisse am Paradeplatz.
Am Treffen beteiligen sich
neben den Chefs der beiden
Grossbanken der CEO der Noten-
druckerei sowie der Präsident
der Bankenaufsicht.
Letzterer warnt davor, dass
es sich bei der Affäre um eine
Zeitbombe handle. Der Gast-
geber jedoch gibt sich unge-
rührt: «Meine Herren», wendet
er sich an die illustre Runde,
«eine Krise will ich es nicht
nennen, aber mit einer Vorstufe
dazu haben wir es schon zu tun.»
Der Bankenchef beschwört
die Anwesenden, den Skandal
keinesfalls auffliegen zu lassen
– aus triftigem Grund: «Wir
haben es mit einer Situation zu
tun, in der der Plan B identisch
ist mit dem Worst-Case-Szena-
rio. Deswegen müssen wir mit
allen Mitteln an Plan A fest-
halten.» Was im Roman auch
gelingt. (sal.)
Schon bald erhielt die neue Führungsachse
zwischen Rohner und Thiam Risse. Wortreich
kritisierte der machtbewusste CEO den
schlechten Zustand der Bank – und damit den
Leistungsausweis seines Präsidenten. Dieser
nahm es stoisch hin. Er hatte schlicht keine
andere Wahl: Sein eigenes Schicksal hing da-
von ab, dass Thiam die angeschlagene Bank
wieder auf Kurs brachte.
Für weitere Querelen sorgte der Lohn: Mit
einer stolzen Antrittsprämie von 14 Mio. Fr.
hatte Rohner seinen CEO von London nach
Zürich geholt. Nach dem Krisenjahr 2016
hätte er weitere 12 Mio. Fr. verdienen sollen.
Erst als die Aktionäre auf die Barrikaden stie-
gen, kürzte sich die Geschäftsleitung das Ge-
halt. Thiam soll gar mit dem Rücktritt gedroht
haben, berichtete die «Financial Times».
Derweil hinter den Kulissen die Fetzen flo-
gen, beschwor Rohner die Harmonie. Von
einem Zerwürfnis zu sprechen, sei «absoluter
Blödsinn», meinte er im Gespräch: «Die Zu-
sammenarbeit ist hervorragend.»
Rohner verliert an Einfluss
Der impulsive Macher Thiam und der behut-
same Funktionär Rohner – ihre Gegensätze
treten immer offener zutage. Der CEO bean-
sprucht die grosse Bühne für sich, sei es am
WEF in Davos oder bei den Treffen mit
schwerreichen Kunden. Den Präsidenten
drängt er zunehmend an den Rand.
In diesem Machtkampf profitiert der Kos-
mopolit Thiam von seinen erstklassigen glo-
balen Beziehungen. Emmanuel Macron zählt
ebenso zu seinen Freunden wie Christine La-
garde, die Präsidentin der Europäischen Zen-
tralbank. Dagegen ist Rohner primär in Zürich
verwurzelt – die schweizerische Prägung der
Bank ist ihm zudem ein wichtiges Anliegen.
Aufgewachsen in mittelständischen Ver-
hältnissen, bewegt sich der CS-Präsident bis
heute zwanglos durch die Zürcher Innenstadt:
Er frequentiert angesagte Bars oder isst am
Der impulsive Macher
Thiam und der
behutsame Funktionär
Rohner – ihre
Gegensätze treten
immer offener zutage.
Bellevue eine Bratwurst. Zum breiten Freun-
deskreis zählen der Schriftsteller Martin Suter
(vgl. Box) und der Radiopionier Roger Scha-
winski. Diesen hatte er als Leiter der Medien-
gruppe ProSieben zum Chef von Sat.1 erkoren.
Urs Rohner, der Anfang Dezember seinen
60. Geburtstag feierte, ist mit Nadja Schild-
knecht liiert, der Mitbegründerin des Zurich
Film Festivals. Auch er ist ein Filmfreak, der
Drehbücher und Requisiten sammelt. Wobei
das Hobby, angesichts der Turbulenzen in der
CS, schon länger zu kurz kommt. «Die perma-
nenten Konflikte sind ihm stark an die Sub-
stanz gegangen», sagt ein Weggefährte.
Mit dem Abgang von Iqbal Khan verlor Roh-
ner seinen wichtigsten Verbündeten in der
Konzernleitung. 2013 hatte er mitgeholfen,
den aufstrebenden Manager zur CS zu lotsen.
Khan war einer der wenigen, der dem auto-
kratischen Thiam die Stirn bieten konnte.
Rohner, so schien es, ging im Kräftemessen
mit seinem CEO als Verlierer vom Platz. Bis
Khan die Bespitzelung gegen ihn auffliegen
liess. Plötzlich sind die Machtverhältnisse an
der Spitze der Credit Suisse wieder offen.
Nimmt Rohner nun das Zepter in die Hand?
Noch wartet er ab.
Aber auch die Ära des CS-Präsidenten geht
bald zu Ende. Im Frühling 2021 müsste er
wegen der Amtszeitbeschränkung aufhören –
ausser bei besonderen Umständen. Bereits
kursiert aus Rohners Umfeld die Vermutung,
er wolle zwei Jahre anhängen. Der Taktierer
hat noch nicht alle Optionen ausgeschöpft.
26 NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

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Reihenfolge Fondsinformationen: Fondsname, Rechnungswährung, Konditionen Ausgabe / Rücknahme, Kursbesonderheiten, Inventarwert, Ausgabepreis
oder Börsenschlusskurs (Werte vom Freitag, 20.12.2019, Abweichungen siehe Besonderheiten), Performance 2019 in %, Jahreshöchstwert und Datum

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de Genève
Tel. 058 211 21 11
bcge.ch/funds
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Tel. +41 800 08 80 20 Tel. +41 43 210 13 00 Tel. 044 265 44 44 Tel +41 44 217 81 81
BANQUE CANTONALE DE GENÈVE www.blackrock.com/ch www.fidelity.ch www.frankfurter-bankgesellschaft.ch www.franklintempleton.ch
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Obligationenfonds Obligationenfonds Obligationenfonds Strategiefonds Obligationenfonds

Synchrony Swiss Government Bonds CHF 4/3 e 112.52 4.8 120.55 15.08. BGF Global Bond Income D2 USD USD 3/1 e 10.87 9.4 10.87 19.12. FF- EM TR Debt Fund Y Acc USD 1/1 e 13.60 12.8 13.60 19.12. FBG CHF Managed CHF 1/1 e 70.87 6.7 70.87 19.12. Franklin GCC Bond W (Mdis) USD 1/1 e 10.65 10.7 10.81 05.09.
Aktienfonds Aktienfonds FF-China H.Yield Fund Y-DIST-USD USD 1/1 e 10.39 5.1 10.39 19.12. FBG Global Bal. Strategy EUR 1/1 e 50.42 8.3 50.46 16.12. Templeton Glb Bond W (Acc) USD 1/1 e 12.07 0.5 12.64 26.07.
Synchrony All Caps CH A CHF 1/1 e 114.80 33.9 114.80 19.12. BGF World Technology D2 USD USD 1/1 e 44.83 42.2 44.83 19.12. FF-Em.M.Corp.Debt Fund Y-ACC-USD USD 1/1 e 14.24 14.9 14.24 19.12. FBG Global Managed - Klasse 1 EUR 1/1 e 68.54 -3.3 68.57 16.12. Templeton Glb Bond W (Acc) CHF-H1 CHF 1/1 e 9.53 -2.8 10.12 12.07.
Synchrony Emerging Equity A USD 4/3 f 115.47 17.7 115.47 18.12. BSF Emerging Markets Equity Strat D2USD 1/1 e 187.24 21.4 187.25 18.12. FF-US High Yield Fund Y-ACC-USD USD 1/1 e 22.47 14.8 22.47 19.12. FBG Global Return Strategy 1 EUR 1/1 e 45.31 5.8 45.38 17.12. Templeton Global TR W (Acc) USD 1/1 e 12.28 -1.2 13.09 12.07.
Synchrony Europe Equity A EUR 4/3 f 90.41 23.5 90.77 16.12. Andere Fonds Aktienfonds Templeton Global TR W (Acc) CHF-H1 CHF 1/1 e 9.29 -4.5 10.05 12.07.
Synchrony High Div. Swiss Stocks A CHF 1/1 e 123.12 26.6 123.12 19.12. BSF Global Event Driven D2 USD USD 1/1 a 122.05 7.0 122.05 18.12. FAST-Europe Fund Y-ACC-EUR EUR 1/1 e 270.56 44.1 271.48 16.12. Aktienfonds
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Synchrony Swiss Equity CHF 4/3 e 92.02 30.4 92.02 19.12. FF-Asian Spec.Sit.Fund Y-ACC-USD USD 1/1 e 24.29 21.5 24.38 18.12. Franklin Lib Q GE SRI UCITS ETF USD 1/1 30.79 27.9 30.79 20.12.
Synchrony US Equity A USD 4/3 e 119.78 27.0 119.78 19.12. FF-China Focus Fund Y Acc USD 1/1 e 22.53 13.4 23.61 10.04. Franklin Technology W (Acc) USD 1/1 e 28.36 38.5 28.36 19.12.
Immobilienfonds FF-EM Market Focus Fd Y-ACC-USD USD 1/1 e 15.36 29.8 15.39 18.12. Templeton EM Smaller Co W (Acc) USD 1/1 e 13.57 3.8 14.81 17.04.
Synchrony Swiss Real Est FoF A CHF 1/1 a 127.69 24.1 128.33 09.12. FF-Eur Dynamic Growth Fund Y Acc EUR 1/1 e 26.56 40.2 26.69 16.12. Andere Fonds
FF-Glob.Cons. Ind. Fd Y-DIST-EUR EUR 1/1 e 21.35 28.6 21.35 19.12. Franklin Global Convert Sec W (Acc) CHF 1/1 e 11.62 15.7 11.71 26.07.
FF-Global Techn. Fd Y-ACC-EUR EUR 1/1 e 70.20 47.7 70.20 19.12. Franklin Global Convert Sec W (Acc) USD 1/1 e 12.67 19.6 12.67 19.12.
FF-Sust.Water&Waste Fd Y-ACC-USD USD 1/1 e 12.07 30.0 12.10 18.12. Franklin K2 Alternative Strat W (Acc) USD 1/1 e 11.49 7.2 11.49 19.12.
Strategiefonds
FF-Glob.MA Inc. Fund Y-ACC-EUR EUR 1/1 e 16.71 16.4 16.72 18.12.

JPMorgan Asset Management (CH) GmbH LLB SWISS INVESTMENT AG PIMCO (SCHWEIZ) GMBH
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Weitere Fonds unter: investment@llbswiss.ch www.europe.pimco-funds.com PvB Pernet von Ballmoos AG RESPONSABILITY INVESTMENTS AG
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Obligationenfonds Aktienfonds Obligationenfonds Aktienfonds Andere Fonds

JPM EM Corp Bond A acc USD USD 2/2 e 162.55 11.7 162.55 19.12. Swiss Opportunity Fund - P CHF 1/1 e 272.30 29.1 273.41 16.12. Capital Securities Fd Inst acc CHF 2/2 e 16.18 13.4 16.19 16.12. Nerrick Swiss Equity Fd A CHF 4/4 e 126.85 27.8 126.85 19.12. rA Micro and SME FF B USD 4/1 b 167.67 4.8 167.67 29.11.
JPM Flexible Credit Fd A Acc USD USD 4/4 e 16.68 10.6 16.68 19.12. Diversified Income Inst Hdg CHF 1/1 e 14.17 10.4 14.17 19.12. PvB Swiss Equity Futures Fund A CHF 1/1 b 132.83 22.4 135.11 31.10. rA Micro and SME FF H CHF CHF 4/1 b 126.22 1.7 126.22 29.11.
JPM Global Bond Opp A acc USD USD 4/4 e 130.89 10.0 130.91 18.12. Emerging Local Bond Inst Unhdg CHF 1/1 e 10.08 13.5 10.16 28.10. Immobilienfonds rA Micro and SME FF H EUR EUR 4/1 b 142.43 2.1 142.43 29.11.
JPM Income Opp A(Perf)acc CHF (h) CHF 3/1 e 95.40 0.4 96.66 16.04. Euro Bond Inst Hdg CHF 1/1 e 35.77 6.0 36.82 03.09. Synchrony Swiss Real Est FoF A CHF 1/1 a 127.69 24.1 128.33 09.12.
Aktienfonds Global Bond Inst Hdg CHF 1/1 e 33.61 4.7 34.24 03.09. Synchrony Swiss Real Est FoF I CHF 1/1 a 117.78 24.8 118.36 09.12.
JPM Asia Growth A acc-USD USD 2/2 el 34.95 25.2 35.19 18.12. Global Inv Grade Credit Inst Hdg CHF 1/1 e 17.76 8.7 17.85 04.09. Alternative Investments
JPM EM Opportunities A acc USD USD 4/4 el 321.95 22.3 323.26 18.12. Income Fund Inst (Hdg) acc CHF 2/1 e 11.60 5.2 11.60 19.12. PvB Andante - Emg Mkts K (CHF) CHF 2/1 bf 10634.53 5.8 11001.86 30.04.
JPM Euroland Dyn A(Perf)acc EUR EUR 4/4 e 251.92 23.9 253.45 16.12. Mortgage Opportunities Inst Hdg CHF 4/4 e 10.12 1.3 10.17 04.11. PvB Andante - Emg Mkts K (USD) USD 2/1 bf 14581.77 9.1 14811.81 30.04.
JPM Europe Eq Plus A(Perf)acc EUR EUR 2/2 el 18.26 23.9 18.37 16.12. Total Return Bd Inst Hdg CHF 1/1 e 11.34 5.2 11.57 04.09. PvB Andante - Global K (CHF) CHF 2/1 bf 10148.02 4.0 10211.40 30.04.
JPM Europe Tec A acc-EUR EUR 2/2 el 51.81 39.6 52.21 16.12. Aktienfonds PvB Andante - Global K (USD) USD 2/1 bf 13533.30 7.4 13533.30 31.10.
JPM US Sel Eq A acc-USD USD 2/2 el 417.18 29.3 417.47 18.12. MLP & Energy Infrastructure Inst acc USD 2/1 e 7.59 7.4 8.57 11.07. Andere Fonds
Strategiefonds PIMCO RAE Fdtl PLUS EM Inst acc USD 4/4 f 13.04 8.7 13.44 01.07. PvB Alegra CLO Fund A USD 2/3 bf 3712.07 3.4 3806.12 31.07.
JPM Global Income A div CHF (h) CHF 3/1 el 113.33 10.1 113.33 19.12. PIMCO RAE Fdtl PLUS Gbl Dev Inst accUSD 4/4 f 15.11 13.0 15.26 03.07. PvB Alegra CLO Fund I CHF 2/3 bf 1385.70 1.1 1491.29 23.04.
JPM Global Macro Op A Acc CHF CHF 4/4 el 111.57 -0.7 116.86 26.07. PIMCO RAE Fdtl PLUS US Inst acc USD 4/4 f 16.16 5.5 17.51 30.04. PvB Alegra CLO Fund I USD 2/3 bf 1711.67 4.2 1752.20 30.09.
Strategiefonds PvB Alegra CLO Fund S USD 2/3 bf 227.63 3.1 240.93 23.04.
Global Multi-Asset Inst acc USD 1/1 e 18.58 14.8 18.58 19.12.

Erklärung Indizes
Konditionen bei der Ausgabe und Rücknahme von Anteilen:
Die erste Ziffer verweist auf die Konditionen bei der Ausgabe von Anteilen:

SIE SEHEN DIESE

1. keine Ausgabekommission und/oder Gebühren zugunsten des Fonds (Ausgabe erfolgt zum Inventarwert)
2. Ausgabekommission zugunsten der Fondsleitung und/oder des Vertriebsträgers
(kann bei gleichem Fonds je nach Vertriebskanal unterschiedlich sein)

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3. Transaktionsgebühr zugunsten des Fonds (Beitrag zur Deckung der Spesen bei der Anlage neu zufliessender Mittel)
WYDLER ASSET MANAGEMENT AG 4. Kombination von 2) und 3)
www.wydlerinvest.ch 5. Besondere Bedingungen bei der Ausgabe von Anteilen

352 000 ANDERE

Obligationenfonds
Wydler Global Bond Fund
Aktienfonds
Wydler Global Equity Fund
Die zweite, kursiv gedruckte Ziffer verweist auf die Konditionen bei der Rücknahme von Anteilen:
1. keine Rücknahmekommission und/oder Gebühren zugunsten des Fonds (Rücknahme erfolgt zum Inventarwert)
2. Rücknahmekommission zugunsten der Fondsleitung und/oder des Vertriebsträgers
ANLAGEFONDS –
AUCH.
CHF 1/1 e 125.23 10.7 125.24 18.12. (kann bei gleichem Fonds je nach Vertriebskanal unterschiedlich sein)
3. Transaktionsgebühr zugunsten des Fonds (Beitrag zur Deckung der Spesen beim Verkauf von Anlagen)
TRANSPARENTE UND 4. Kombination von 2) und 3)
CHF 3/3 a 222.68 14.6 223.97 23.04. 5. Besondere Bedingungen bei der Rücknahme von Anteilen
inserate@nzz.ch
Telefon +41 44 258 16 98 BEWÄHRTE FINANZ- Besonderheiten:
a) wöchentliche Bewertung
PRODUKTE. MEHR UNTER: b) monatliche Bewertung
c) quartalsweise Bewertung
d) keine regelmässige Ausgabe und Rücknahme von Anteilen
WWW.SWISSFUNDDATA.CH e) Vortagespreis
f) frühere Bewertung
g) Ausgabe von Anteilen vorübergehend eingestellt
h) Ausg. und Rückn. von Anteilen vorübergehend eingestellt
i) Preisindikation
l) in Liquidation
x) nach Ertrags- und/oder Kursgewinnausschüttung
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NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Wirtschaft 27

Es wird eng im

ANDREY RUDAKOV / BLOOMBERG

Schlafwagen
Für Nachtzug-Passagiere aus
der Schweiz gibt es seit dieser
Woche grosse Änderungen.
Nach Berlin fehlt die Hälfte
der Betten. David Strohm
Ist es allein der Greta-Effekt?
Kaum eine Art, innerhalb Euro-
pas zu reisen, hat eine so beein-
druckende Renaissance hinter
sich, wie die Fahrt im Nachtzug.
Diese Woche gab der Chef der
Österreichischen Bundesbahnen
(ÖBB), Andreas Matthä, in der
NZZ das Passagierwachstum be-
kannt: Die ÖBB, welche die Linien
von und nach der Schweiz betrei-
ben, verzeichneten 2019 ein Plus
von 20% auf der Wien-Achse und
von 10% auf der Strecke von
Zürich nach Berlin. Der Betrieb
sei profitabel, sagte Matthä.
Obwohl die deutsche Haupt-
Eurochem hat 26 000 Angestellte und den Firmenhauptsitz in Zug: Eine Kali-Mine des russisch-schweizerischen Düngerkonzerns. stadt zu den beliebtesten Desti-
nationen für Nachtzugreisende
gehört, wurde die Kapazität bei
Plätze lassen sich neu ohne Reser-
vation nutzen und mit den Son-
derangeboten der DB kombinie-
ren. Zudem gibt es wieder Velo-
stellplätze nach Berlin.
Beim ÖBB-Nightjet, der dank
der Aufteilung von günstigeren
Trassees-Preisen profitiert, sind
nur noch Liege- und Schlaf-
wagenplätze erhältlich. Kompli-
ziert wird die Buchung im Inter-
net oder am SBB-Schalter, wenn
man einzelne Kategorien, etwa
Couchette und Velo, kombiniert
reservieren will. Das erfordert an-
gesichts der komplexen Koopera-
tion dreier Bahnbetreiber einiges
an Bahnwissen und viel Geduld.
Noch verlangen die ÖBB gegen-
über 2019 unveränderte Preise.
Doch ein Aufschlag steht offenbar
bevor. Auf den Strecken von
Österreich nach Deutschland gel-
ten bereits die neuen, je Kategorie
um 20 € höheren Tarife.
ÖBB und SBB sind in Gesprä-
chen, zusätzliche Ziele ab der

Die Russen kommen den Schlafwagen, die in zwölf

Alle reden von China, doch Russland investiert mehr in der Schweiz
Markus Städeli
Russland ist in die Liga der zehn
bedeutendsten Investoren in der
Schweiz aufgestiegen. Das
schreibt die Nationalbank (SNB)
in ihrem neuen Bericht Direkt-
investitionen 2018: «Belief sich
der letztlich von russischen
Investoren kontrollierte Kapital-
bestand 2014 noch auf 8 Mrd. Fr.,
waren es 2018 bereits 29 Mrd. Fr.»
Die SNB hat diese Daten erst-
mals erhoben, und das ist nicht
ganz trivial. Direktinvestitionen –
also Firmenbeteiligungen von
mindestens 10% – werden selten
direkt gehalten, sondern über
Zwischengesellschaften. Und so
musste die SNB herausfinden, ob
etwa hinter einer Firma in
Zypern, die in der Schweiz inves-
tiert, letztlich russische Investo-
ren stehen oder zypriotische.
Bemerkenswert ist, dass Russ-
land deutlich mehr in der Schweiz
investiert als China. Auch diese
Zahlen hat die SNB erstmals er-
hoben: Der von China kontrol-
lierte Kapitalbestand in der
Schweiz sei in 5 Jahren von 7 Mrd.
auf 18 Mrd. Fr. gestiegen.
Die russische Regierung ist sich
der Bedeutung ihrer Unterneh-
mer für die Schweiz durchaus be-
wusst. «Rund 40 000 Stellen
wurden in Firmen in der Schweiz
mit Beteiligung von russischem
Kapital geschaffen», behauptete
Sergei Garmonin, der russische
Botschafter in der Schweiz, im
November. Er hielt eine Rede an
der Global Commodities Confe-
rence in Lugano.
Mehr als Rohstoffhandel
Welche russischen Investoren in
der Schweiz aktiv sind, will die
SNB aus «Vertraulichkeitsgrün-
den» nicht offenlegen, wie eine
Sprecherin sagt. Die Stichprobe
umfasse rund 15 Unternehmen
und der grösste Anteil des Direkt-
investitionskapitals entfalle auf
Unternehmen der Branchen-
gruppe Handel.
Russische Rohstofffirmen
gründen in der Schweiz aber
nicht länger nur Ableger, um ihr
Erdöl, Eisenerz usw. zu vermark-
ten. Eurochem, ein Dünger-
konzern mit 26 000 Angestellten,
hat kurzerhand seinen Hauptsitz
nach Zug verlegt.
Gesprächsstoff bietet derzeit
die ebenfalls in Zug beheimatete
Projektgesellschaft für Planung,
Bau und den späteren Betrieb der
Nord-Stream-2-Pipeline. Durch
diese soll schon bald russisches
Gas durch die Ostsee nach
Deutschland transportiert wer-
den. Dagegen aber wehren sich
nicht nur einige EU-Staaten,
sondern vor allem die USA. Die-
sen Monat beschloss nach dem
Repräsentantenhaus auch der
US-Kongress Strafmassnahmen
gegen Firmen, die an der Fertig-
stellung von Nord Stream 2 betei-
ligt sind.
Gazprom, welche die Nord
Stream 2 AG kontrolliert, betreibt
in der Schweiz auch eine gleich-
namige Bank mit 80 Mitarbeitern.
Der grössere Player ist aber Sber-
bank, Russlands wichtigstes
Geldhaus. Beide Banken haben
ihren Sitz in Zürich und offerieren
ihren Kunden unter anderem
Handelsfinanzierungen.
Anziehungskraft übt die
Schweiz aber zunehmend auch
auf russische Firmen ausserhalb
des Rohstoffsektors aus: Es sind
Unternehmen, die von der
Schweiz aus die Weltmärkte er-
obern wollen, insbesondere aus
dem Technologiesektor.
«Unsere Aussenstelle in Mos-
kau beobachtet, dass russische
Unternehmen in den letzten Jah-
ren vermehrt eine Internationali-
sierung anstreben», sagt Patrik
Wermelinger. Er ist Leiter Invest-
ment Promotion bei Switzerland
Global Enterprise, der Organisa-
tion für Exportförderung und
Standortpromotion. Der Wirt-
schaftsstandort Schweiz gerate
neben kulturellen Faktoren wie
Stunden an die Spree rollen, zum
Fahrplanwechsel 2019/2020 hal-
biert. Der Zugteil besteht nur
Schweiz aufzunehmen. «Genannt
werden stets die drei gleichen
Destinationen: Amsterdam, Bar-
celona und Rom», sagt ÖBB-
noch aus einem statt bisher zwei Sprecher Bernhard Rieder. Der
Bettenwaggons. Der andere Teil
fährt nun nach Hamburg.
Netzausbau wird aber frühestens
in drei Jahren möglich sein. Ab
Neu, wenn auch nur in der 2022 sollen die 13 bestellten
der relativ grossen russischen Ge- Nord-Süd-Richtung, hält der Zug neuen Schlafwagen-Garnituren
meinschaft vor allem wegen der auch wieder in der Hansestadt der ÖBB auf die Schiene kom-
guten Rahmenbedingungen ins Bremen, was bessere Anschlüsse men, zunächst aber nur Richtung
Blickfeld. Genannt würden von den Nordseeinseln ermög- Italien. Einen Zukauf gebrauch-
immer wieder Stabilität und licht. Auf dem Rückweg fehlt ter Nachtzug-Wagen schliesst
Rechtssicherheit. dieser Halt, weil das Trassee Rieder aus.
Letztes Jahr eröffnete etwa die überfüllt ist. Ohne Aufnahme in den Fahr-
unter Spionageverdacht geratene Nur von kurzer Dauer war das plan der staatlichen Bahngesell-
Cybersicherheitsfirma Kaspersky ÖBB-Angebot, ganze Abteile mit schaften hat der private Autozug-
in der Schweiz ein «Transparenz- sechs Sitzplätzen für den Privat- Anbieter BTE ein früher sehr be-
zentrum», um Vertrauen zurück- gebrauch zu nutzen. Der Grund: liebtes Angebot etabliert. Zu ver-
zugewinnen. Der in Moskau ge- Die Deutsche Bahn (DB) betreibt gleichsweise hohen Preisen fährt
gründete IT-Konzern Luxoft mit nun die Sitzwagen nach Hamburg BTE mit Schlaf- und Liegewagen
seinen weltweit mehr als 13 000 und Berlin als «Nacht-IC» in ab Mai 2020 bis zu fünfmal
Mitarbeitern entschied sich sogar, Eigenregie und hat dafür auch wöchentlich von Lörrach bei
seinen Hauptsitz in die Schweiz den Verkauf übernommen. Die Basel nach Hamburg.
zu verlegen.
Technologie-Startups
Mit Wayray hat sich zudem ein
von Russen gegründetes Startup
der Superklasse für die Schweiz
entschieden. An ihm beteiligte
sich unter anderem Alibaba. Bei
der letzten Kapitalerhöhung, die
von Porsche angeführt wurde,
soll der Firmenwert 500 Mio. $
erreicht haben.
Die Firma, die Augmented-
Reality-Systeme für Autos ent-
wickelt, beschäftige am Hauptsitz
Zürich erst zehn Personen, sagt
Verwaltungsrat Philippe Monnier.
Wayray habe hier nun aber eine
geeignete Lokalität für ein
Forschungs- und Entwicklungs-
zentrum identifiziert. Mehr Komfort: Ab 2023 sollen die neuen ÖBB-Schlafwagen rollen.

Die Bank für

Soll und mehr Haben.
Wenn es um Finanzierungslösungen und alle weiteren Bankdienstleistungen
für Unternehmen geht, dürfen Sie bei der Migros Bank ruhig etwas mehr
erwarten. Besuchen Sie uns auf migrosbank.ch/firmenkunden.
28 Wirtschaft Selbstoptimierung NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

Schlaf,Mitarbeiterin,sc
Unsere Jobs halten uns wach, doch neue Schlaf-Gadgets versprechen
Hoffnung. Sie sind ein Milliardengeschäft. Manche von ihnen können
sogar etwas. Von Moritz Kaufmann und Franziska Pfister

D
er ehemalige Credit-Suisse-
Chef Brady Dougan kommt
mit fünf Stunden Schlaf aus,
US-Präsident Donald Trump
sogar mit vier, und der
verstorbene Fiat-Manager
Sergio Marchionne stand
morgens um halb vier auf. Zur Selbstinszenie-
rung gehörte für Alpha-Männer lange dazu,
Schlafentzug als Sieg über den eigenen Körper
zu feiern. Eine neue Manager-Generation
weiss es besser und löst die «Sleepless Elite»
(«Wall Street Journal») ab. Amazon-Gründer
Jeff Bezos oder Facebook-Chefin Sheryl Sand-
berg schwärmen nicht minder ostentativ von
der Kraft, die sie aus einer achtstündigen
Nachtruhe schöpfen.
Was noch wichtiger ist: Sie wünschen sich
auch ausgeschlafene Mitarbeiter. Sheryl Sand-
berg sieht Firmenchefs in der Verantwortung.
Sie müssten dafür sorgen, dass ihre Leute zu
genug Schlaf kommen. Wer weniger als sieben
Stunden schläft, ist weniger leistungsfähig,
anfälliger für Unfälle und trifft eher Fehlent-
scheide. Das hat Folgen: Der britische Think-
Tank Rand Corporation beziffert die volks-
wirtschaftlichen Kosten von Schlafmangel für
die Schweiz auf bis zu 8,6 Mrd. Fr. pro Jahr.
«Die Arbeitsdichte ist ein Problem»
Grosskonzerne in den USA reden nicht nur
über Schlaf, sie fördern ihn auch. Der Ver-
sicherer Aetna geht am weitesten und setzt
finanzielle Anreize. Nike hat am Hauptsitz in
Portland «Nap Rooms» für den Mittagsschlaf
oder zum Meditieren eingerichtet, Google bie-
tet Kojen mit futuristischen Liegestühlen, in
denen sich gestresste Programmierer bei be-
ruhigenden Klängen ausruhen können. Sogar
die für ihre überlangen Arbeitstage berühm-
ten Japaner dürfen im Büro «Inemuri» ma-
chen – die öffentliche Form eines Nicker-
chens. Zumindest die unteren Chargen. Chefs
wie der von Mitsubishi Estate fremdeln noch
und betonen, den Ruheraum selbst noch nie
genutzt zu haben.
Berufstätigkeit kann einem gesunden Schlaf
abträglich sein und ist ein wichtiger Störfaktor
– wenn nicht sogar der wichtigste. Nie sehen
Geschäftsreisende älter aus, als wenn sie früh-
morgens im Flugzeug Platz nehmen. Kein
Wunder, werden die ersten Maschinen des
Tages «Friedhofsflieger» genannt. Nie ist die
Stille gereizter als in den Minuten, bevor die
Triebwerke anlaufen, wenn man weiss, dass
ein langer Tag auf einen wartet.
«Arbeitsdichte und Arbeitsintensität haben
zugenommen. Das ist ein Problem», sagt
Helen Slawik, Oberärztin der Schlafambulanz
an den Universitären Psychiatrischen Kliniken
Basel (UPK). «Wenn wir am Tag keine Gelegen-
heit mehr haben, um zu uns zu kommen, dann
können wir das auch am Abend nicht mehr.»
Auch weil die Grenzen zwischen Arbeitsplatz
und Privatleben verschwimmen, fällt es immer
mehr Menschen schwer, abends abzuschalten.
Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, wie
wichtig Schlaf für die Gesundheit ist. Manche
versuchen es mit Yoga oder Meditation, aber
gerade Männern ist das Erlernen von Atem-
übungen suspekt. Sie suchen Abhilfe in der
Technik. Mit dem Bedürfnis, besser zu schla-
fen, ist ein Markt für technische Hilfsmittel
entstanden. Gemäss dem Marktforscher Glo-
bal Market Insights werden weltweit bis in
fünf Jahren 27 Mrd. $ für technische Schlaf-
hilfen ausgegeben. Darin nicht inbegriffen
sind etwa die Apple Watch und verwandte Ge-
räte, die unsere Nachtruhe ebenfalls vermes-
sen können. Die Nachfrage nach technischen
Hilfsmitteln ist auch in der Schweiz steigend:
Beim Online-Shop Digitec-Galaxus hat sich
2019 der Umsatz mit Schlafgadgets gegenüber
dem Vorjahr vervierfacht.
Die Auswahl an Produkten nimmt stetig zu,
die Phantasie ist grenzenlos. Bei der Crowd-
funding-Plattform Kickstarter sind aktuell
gegen 200 Projekte gelistet, die einem in
irgendeiner Form besseren Schlaf versprechen
und die dafür Investitionskapital suchen. Im
Fokus sind bereits die Kleinen. Fürsorgliche
Eltern unternehmen alles, damit ihre Kind
durchschlafen – und sie mit ihnen. Mit leuch-
tenden Sternchen an der Decke ist es schon
lange nicht mehr getan. Vielleicht hilft ja ein
Kuscheltier, das sich automatisch einschaltet
und beruhigende Klänge und Herzschlagtöne
von sich gibt, sobald das Kind zu weinen be-
ginnt. Absurd, finden Sie? Die niederländische
Firma Somnox verkauft einen Schlafroboter
für Erwachsene. Er sieht aus wie ein Kissen,
das man in der Nacht umschlingen kann. In-
dem es sich aufbläht und wieder zusammen-
zieht, wird ein Atemrhythmus simuliert. Das
soll beruhigend wirken und beim Durchschla-
fen helfen. Kostenpunkt: 599 €.
Bleibt der Schlaf über längere Zeit aus, wer-
den Körper und Psyche auf eine harte Probe
gestellt. «Die Stressreaktion, die zu Schlaf-
störungen führt, was wiederum Stress ver-
stärkt, kann zu einem Teufelskreis führen»,
sagt Schlafärztin Slawik. «Irgendwann ist der
akute Stressor weg, aber die Schlafstörung
bleibt.» Die Zahl der Krankheitstage aufgrund
psychischer Beeinträchtigungen, wozu
Schlafstörungen gehören, hat laut Kranken-
kassen in den letzten Jahren zugenommen.
Letzter Ausweg ist der Gang zum Arzt. 32 zer-
tifizierte Schlafkliniken gibt es in der Schweiz
mittlerweile.
Schlafen lässt sich wieder lernen
Die schlechte Nachricht für Betroffene: Eine
schnelle Lösung gibt es nicht – Schlafmedika-
mente zum Beispiel sollte man höchstens vier
Wochen lang nehmen, da sie schnell abhängig
machen. Die gute Nachricht: Schlafen kann
man sich wieder aneignen. Kognitive Verhal-
tenstherapien, bei denen Patienten lernen,
wie sie selber für guten Schlaf sorgen können,
haben hohe Erfolgsquoten. Vielleicht hilft das
eine oder andere Gadget dabei mit.
Doch eigentlich braucht es für Schlaf keine
Hilfsmittel, der Körper nimmt ihn sich. Tut er
das nicht, hat das viel mit unseren Lebens-
gewohnheiten zu tun. Vor der Erfindung des
elektrischen Lichts schliefen wir deutlich
länger, wie der Autor Matthew Walker im
Bestseller «Why We Sleep» schreibt. Auch Hei-
zen, Koffein, Alkohol und Handys im Schlaf-
zimmer sind der Nachtruhe abträglich. Opti-
mal seien 18 Grad im Schlafzimmer, schreibt
der Professor für Neurowissenschaften an der
University of California in Berkeley.
«Schläfst du?», ist denn auch die einzige
Frage, die wir nicht beantworten können –
ausser wir sind gerade wach. Nachts mehr-
mals aufzuwachen und nicht in den Schlaf
zurückzufinden, das passiert vielen. Weil sie
nicht loslassen können oder sich überfordert
fühlen von dem, was am nächsten Morgen auf
sie zukommt. In einer Welt, in der wir gelernt
haben, uns mit Lernen und Üben neue Fähig-
keiten anzueignen, bleibt Schlaf vielleicht der
letzte nicht kontrollierbare Lebensbereich.
Ein Geheimnis gar. Wenn Schafe zählen und mit dem Haustier kuscheln nicht mehr hilft: Die Nachf

Gadget-Test

Von simpel bis

Bedienung ist einfach: Einmal Stirnband-Coach als digitaler Schlafcoach. Ultima-
antippen heisst 8 Minuten Licht, tives Ziel: besser schlafen. Das
zweimal heisst 20 Minuten Wer sich dieses Teil leistet, will Programm schickt eine Nach-
Licht. Danach schaltet sich das es wirklich wissen. Das Kopf- richt, wenn es Zeit wird, zu Bett

hightech: Fünf
Dodow aus. Und tatsächlich: Das
blaue Schimmern und das tiefe
Einatmen haben bereits beim
ersten Versuch eine beruhigende
band misst nicht nur den Schlaf zu gehen, und weckt einen zum
mit all seinen verschiedenen – vermeintlich – optimalen Zeit-
Phasen, sondern dient auch als punkt. Es spricht dem Nutzer
Wecker und sogar Stichwort- ermutigende Worte zu, wenn es

Helfer fürs
Wirkung. Indem man sich auf
den Kegel konzentriert, ver-
Dodow gibt den Atemtakt vor. schwinden die Gedanken aus
dem Kopf.
geber, etwa bei Meditationen. mit dem Schlafen nicht klappt.
Über die Smartphone-App Das Dreem-Kopfband – man
werden die ersten sieben Tage sollte es jede Nacht tragen – ist
Daten gesammelt. Parallel muss allerdings gewöhnungsbedürf-

Schlafzimmer Lichtmetronom
Der Übergang vom Wach- in den
Schlafzustand kann sich ewig
hinziehen. Genau hier setzt das
Licht-Metronom Dodow an. Auf
dem Nachttisch platziert, proji-
ziert es nach dem Lichterlöschen
einen blauen Kegel an die Decke.
Dieser wird grösser, dann wieder
kleiner. Mit der Atmung soll man
dem Rhythmus folgen: Luft
holen, wenn sich das Licht aus-
dehnt, die Lunge entleeren,
wenn es sich zusammenzieht.
Die Hersteller versprechen, dass
man mit der Einschlafhilfe bis zu
2,5-mal schneller eindöst. Die
Nach dem Ende des Pro-
gramms dreht man sich zur Seite
und schläft bald ein. Allerdings
hat die Methode eine gewisse
Abnützungsgefahr. Bereits nach
wenigen Nächten stellt sich eine
Pflichtroutine ein. Die Atmung
synchronisiert man weiterhin mit
dem Licht. Aber eher so neben-
bei. Die Gedanken jedenfalls
lassen sich dadurch nicht mehr
so leicht vertreiben. Abzug gibt es
zudem für den Einsatz von kon-
ventionellen Batterien. Und
trotzdem: Wer Mühe mit dem
Einschlafen hat, der könnte es
damit einmal versuchen. (mkf.)
Erhältlich bei Digitec, 69 Fr.
man Fragen beantworten. Zum
Kaffeekonsum, zur Schlafquali-
tät an Wochentagen und am
Wochenende. Danach wird
einem ein Schlafprogramm vor-
geschlagen. Dreem versteht sich
Dreem vermisst den Schlaf.
tig. Zudem sind die Messungen
nicht immer akkurat. Mühsam
ist auch die Akkulaufzeit: Einmal
aufgeladen hält er knapp zwei
Tage. Sämtliche Daten werden
en bloc nach dem Aufstehen
übertragen. Deshalb kann es
sein, dass die Daten der zweiten
Nacht verloren sind, da nicht
mehr genügend Saft im Kopf-
band war. Eines muss man den
Dreem-Machern lassen: Sie
haben an alles gedacht. Wen es
nicht stört, dass das eigene
(Nacht)-Leben von einem Stirn-
band und einer App bestimmt
wird, ist hier gut bedient. (mkf.)
Erhältlich online, etwa 435 Fr.

chlaf...
frage nach technischen Einschlafhilfen steigt.
Withings unter dem Bett.
Intelligente Schlafmatte
Wie oft erwache ich nachts, wie
tief ist mein Schlaf, und vor
allem, wie lange dauert er? Die
erste Nacht auf der Schlafmatte
verlief vielversprechend. Vier
Tiefschlafphasen und sogar fünf
REM-Phasen zeigte die zugehö-
rige App auf dem Smartphone
an. Die zum Einschlafen
benötigte Zeit stimmte mit der
gefühlten überein, ebenso die
Schlafdauer. Aber ab Nacht drei
häuften sich fehlerhafte Messun-
gen. Einmal gab die App die
Schlafdauer mit nur 1,5 Stunden
an, einige Nächte später
beschrieb sie die Nacht als erhol-
sam. Beides deckte sich nicht
mit dem subjektiven Gefühl und
weckt Misstrauen. Irritierend
auch, dass Schlaf vor Mitter-
nacht jeweils als «Nickerchen»
der vorherigen Nacht zugerech-
net wird. Vermutlich geht dies
auf die Bewegung des Schläfers
zurück. Je unruhiger die sind,
desto leichter ist der Schlaf.
Problematisch ist der Daten-
schutz. Um die Matte zu nutzen,
ist eine Registrierung beim Her-
steller Withings nötig. Und der
greift gleich eine ganze Reihe
persönlichster Daten ab, die auf
einem Server in den USA landen
und vom Unternehmen für aller-
lei Zwecke genutzt werden
dürfen. Das Gerät muss über
einen USB-Stecker an einer
Steckdose angeschlossen sein.
Bei der Installation gibt der
Nutzer das WLAN-Passwort ein.
Danach verbindet sich das Gerät
automatisch und ohne Zutun mit
dem Netzwerk. Der Nutzer hat
darüber keine Kontrolle. (frp.)
Erhältlich bei Galaxus, 106 Fr.
GETTY IMAGES
Anti-Schnarch-Aufkleber
Schnarchen ist der Schlafkiller
schlechthin – allerdings meist
nicht für den Verursacher. Doch
selbst wenn man die eigenen
Geräusche nicht hört, lohnt es
sich, etwas dagegen zu tun.
Denn Schnarchen kann ein Zei-
chen dafür sein, dass einem in
der Nacht die Luft wegbleibt.
Trotz Schlaf fühlt man sich
danach wie gerädert. Die ein-
fachste Methode: sich eine seit-
liche Schlaflage antrainieren.
Denn auf dem Rücken sorgt die
Schwerkraft dafür, dass der hin-
tere Teil der Zunge zurücksinkt
Snooor-Vibrationen am Kopf.
Nachgefragt
«Man kann nicht gegen seine
Bedürfnisse anschlafen»
Schlafexpertin Helen Slawik
erklärt, was Gadgets können
und woran sie scheitern. Sie
warnt davor, den Schlaf
ökonomisieren zu wollen.
Twitter-CEO Jack Dorsey
schwört auf einen Fingerring,
der den Schlaf misst. Was brin-
gen solche Gadgets?
Da ist viel Geldmacherei dabei.
Wobei der Placebo-Effekt durch-
aus spielt. Wenn jemand sagt: «Mit
diesem Gerät konnte ich endlich
wieder schlafen», dann ist das in
Ordnung. Allerdings ist die Wir-
kung in der Regel nicht nach-
gewiesen. Und als Ärztin kann ich
nicht etwas empfehlen, das keine
bewiesene Wirkung hat.
Es gibt mittlerweile unzählige
Geräte und Methoden, die einen
besseren Schlaf versprechen.
Was halten Sie als Ärztin davon?
Sie eignen sich, um den Verlauf
des Schlafs zu messen und aufzu-
zeichnen. Wenn man also grund-
sätzlich wissen will: Schlafe ich
unruhig, schlafe ich lange oder
weniger lang. Die meisten Gad-
gets tun das durch Bewegungs-
detektion. Denn je tiefer man
schläft, desto ruhiger wird man.
Sind diese Messungen zuverläs-
sig?
Was Bewegungsdetektion an-
geht, ja. Bei Schlafphasen aller-
dings nicht. Also wenn Sie wissen
möchten, wie lange Sie jetzt im
Tiefschlaf oder im Traumschlaf
waren. Zur Schlafstadienbestim-
mung benötigt man die Messung
der Hirnaktivität, des Muskeltonus
und der Augenbewegungen, wie
es im Schlaflabor durchgeführt
wird.
Wie sinnvoll ist es, den Schlaf zu
vermessen?
Selbstbeobachtung im Über-
mass kann schon zu Stress führen.
Vor allem, wenn man den Schlaf zu
perfektionieren versucht. Schlaf
– die Atemwege werden behin-
dert. Dagegen will das Snooor-
Wearable die Lösung haben.
Es setzt auf sanften Druck:
Das Elektro-Teil vibriert, wenn
es sich in horizontaler Position
befindet und bleibt still, wenn es
vertikal steht. Nun muss man es
sich nur noch aufkleben (laut
Herstellern auf die Stirn oder auf
die – unbehaarte – Brust). Die
hautfreundlichen Kleber werden
mitgeliefert. Dreht man sich im
Schlaf nun auf den Rücken,
vibriert es auf dem Kopf. Das ist
erst einmal irritierend – insbe-
sondere, wenn man einfach nur
die Seite wechseln will. Nach
wenigen Nächten wacht man
von der Vibration gar nicht mehr
auf. Ob man sich trotzdem zur
Seite gedreht hat, lässt sich nicht
überprüfen. Immerhin: Die
Kleber halten gut (eine Packung
reicht für einen Monat), und
nach ein paar Tagen stört einen
das Teil auf der Stirn nicht mehr.
Ob es hilft, muss dann aber der
Partner beurteilen. (mkf.)
Erhältlich bei Brack, 56 Fr.
ist sozusagen die letzte Wiese, wo
etwas entspannt und spontan
ablaufen sollte. Leistungsdruck
und Versagensängste sind kontra-
produktiv.
Kann man trainieren, besser zu
schlafen?
Man kann trainieren, wieder
ruhiger und entspannter zu schla-
fen, aber man kann auf Dauer
nicht gegen seine Bedürfnisse
anschlafen. Manche Menschen
brauchen einfach neun Stunden
Schlaf. Andere kommen mit sechs
prima klar. Zudem ist Schlaf immer
etwas Spontanes, das man nicht
erzwingen sollte.
Früher waren Manager stolz,
möglichst wenig zu schlafen.
Heute ist Schlaf Lifestyle.
Einerseits ist es gut, wenn
Schlaf zum Thema wird. Denn das
ist etwas, was nun wirklich jeden
betrifft. Es ist ja auch noch nicht
komplett erforscht. Schlaf-
forschung ist ein relativ junges
Feld in der Wissenschaft. Proble-
matisch wird es, wenn Schlaf öko-
nomisiert wird. Wenn wir uns acht
Stunden pro Nacht geben und
dann nicht schlafen, führt das zu
Stress. Dabei sind acht Stunden
Schlaf am Stück kulturell gesehen
eine relativ junge Vorstellung.
Wie hat man früher geschlafen?
Früher gab es viel weniger
Licht. Das hat den Rhythmus be-
stimmt. Nehmen Sie einen Bau-
ernhof in einer ländlichen Um-
gebung. Da war es im Winter um
Acht Stunden
Schlaf am Stück
sind kulturell
gesehen ein junges
Phänomen.
Kokoon dämpft den Lärm.
Kopfhörer gegen Lärm
Ein interessantes Gerät für
Menschen, die an einer belebten
Strasse wohnen. Sobald das
Rauschen des Morgenverkehrs
anhebt, stülpt man sich den
Kopfhörer über, und schon wird
das Rauschen zum entfernten
Summen. Er eignet sich auch für
Bewohner von Altbauwohnun-
gen oder für alle, die leicht aus
dem Schlaf schrecken. Wenn die
Nachbarn oben morgens um vier
nach Hause kommen und das
Rumpeln scheinbar kein Ende
mehr nimmt, weil sie endlos
über den Parkettboden stiefeln
29
Helen Slawik
An den Universitären Psychia-
trischen Kliniken Basel leitet die
Oberärztin die Schlafambulanz
und die Patientenaufnahme.
fünf am Nachmittag einfach dun-
kel. Zudem schlief da die ganze
Familie in einem Raum. Die Gross-
mutter, die schnarchte. Das Klein-
kind, das schrie. Damals lag man
zwar zwölf Stunden im Bett, dafür
mit viel mehr Unterbrechungen.
Heute können die Menschen
dafür wegen Stress im Job nicht
mehr schlafen.
In der heutigen Arbeitswelt
muss man immer und ständig
verfügbar sein. Die Grenzen zum
Privatleben sind fliessend gewor-
den. Das hat Vorteile: Man kann
Homeoffice machen und abends
noch schnell eine E-Mail beantwor-
ten. Wenn wir aber ständig er-
reichbar sind, werden wir in unse-
rer Schlafbereitschaft gestört.
Sie behandeln Menschen mit
Schlafproblemen. Wie lernt
man, wieder zu schlafen?
In der Regel zeigen sich Schlaf-
probleme auf allen Ebenen des
Organismus, bei den Gedanken,
den Gefühlen und Körperreaktio-
nen. Deshalb wird auch auf allen
diesen Ebenen versucht wieder in
einen entspannteren Zustand zu
kommen. Das geht mit kognitiven
Techniken, Entspannungsverfah-
ren, Problembearbeitung und
Verhaltensänderungen.
Interview: Moritz Kaufmann
oder noch rasch einen Schrank
reparieren. In solchen Fällen
kann der Kokoon helfen, Geräu-
sche zu dämpfen. Ganz ausblen-
den kann er sie jedoch nicht. Ihn
eine ganze Nacht lang zu tragen,
gelang der Testerin im Verlauf
von zehn Nächten nie. Nach
einigen Stunden entsteht ein
unangenehmer Unterdruck, der
allen Lärmschutz-Kopfhörern
eigen ist. Je nach Form des Kopf-
kissens können sich die Schalen
unangenehm auf der Haut
anfühlen. Sie sind zwar durch-
aus weich, durch das Aufliegen
entstehen nach einiger Zeit den-
noch Druckstellen.
Abzuwägen gilt es auch beim
Preis. Der ist durchaus stolz mit
Blick darauf, dass das Gerät
lediglich Geräusche dämpfen,
jedoch keine Musik abspielen
kann. Wer mit Unterdruck auf
den Ohren gut klarkommt, greift
besser auf die bewährten Ohr-
stöpsel zurück. Die kosten nur
ein paar Franken, haben aber
den gleichen Effekt. (frp.)
Erhältlich bei Brack, 299 Fr.
Werbung
«2020wirdein
anspruchsvolles
Börsenjahr»
Matthias Geissbühler ist Chief Investment Officer von Raiffeisen Schweiz.
Matthias Geissbühler, Chief Investment Officer
von Raiffeisen Schweiz, rechnet mit tieferen
Renditen und mehr Unsicherheiten an den
Märkten. Er rät Kundinnen und Kunden, ihr
Vermögen gut diversifiziert anzulegen und ihre
Strategie mittels Depot-Check zu überprüfen.
Für Anlegerinnen und Anleger hat sich
das Jahr 2019 fantastisch entwickelt.
Geht es gar mit einem Feuerwerk zu Ende?
Matthias Geissbühler: Bisher erleben
wir ein sehr starkes Börsenjahr. Seit Jah-
resbeginn legte zum Beispiel der Schwei-
zer Leitindex SPI um rund 29 Prozent zu.
Und auch Immobilienfonds sowie Roh-
stoffe wie Gold entwickelten sich sehr
positiv. Insofern müssten uns bis Ende
Jahr extrem schlechte Nachrichten errei-
chen, damit 2019 nicht als eines der bes-
ten Börsenjahre in die Geschichte einge-
hen wird.
Was beflügelt die Aktienmärkte?
Die Aktienmärkte profitieren primär
vom Anlagenotstand aufgrund der sehr
tiefen Zinsen. Fundamental lassen sich
diese Höhenflüge nicht erklären. Viele
Vorlaufindikatoren zeigen nämlich nach
unten. Beispielsweise ist die deutsche
Wirtschaft im dritten Quartal haarscharf
an einer technischen Rezession vorbeige-
schrammt. Währenddessen verzeichnet
die Schweizer Wirtschaft ein leicht besse-
res Wachstum. Dennoch trüben sich
auch hierzulande die Konjunkturaus-
sichten etwas ein.
Sollten sich Käuferinnen und Käufer im
Jahr 2020 demnach zurückhalten?
Spannend wird sein, wie die Börsen
ins neue Jahr starten. Ob es zu Gewinn-
mitnahmen kommen wird. Doch ob die
Marktentwicklung so weitergeht wie
bisher, hängt stark vom Handelskonflikt
zwischen den USA und China ab. Aktuell
sieht es danach aus, dass sich die
SponsoredContentfürRaiffeisen
beiden Seiten – als Teil einer ersten Phase
eines Handelsabkommens – darauf eini-
gen könnten, die Zollschrauben zurück-
zudrehen.
Mit welchen Risiken sind Anlegerinnen
und Anleger sonst noch konfrontiert?
Abgesehen vom Handelsstreit könnte
der Wahlkampf in den USA für Unsicher-
heiten an den Märkten sorgen. Gerade
zu Beginn einer Präsidentschaftswahl
herrscht jeweils ein Kopf-an-Kopf-Ren-
nen. Das führt zu Verunsicherung. Denn
was die Wirtschaftspolitik anbelangt,
kann Donald Trump bisher praktisch
nichts vorgeworfen werden. Soweit hat
er seine Versprechen erfüllt. Und sollte es
zu einer Übereinkunft mit China kom-
men, kann er auch eine erste Lösung für
den Handelsstreit präsentieren. Interes-
sant dürfte sein, wie die Märkte reagie-
ren, wenn trotzdem ein demokratischer
Kontrahent gewinnen sollte. Die Antwort
kennen wir am 3. November 2020.
Inwiefern wird der Brexit einen Einfluss
haben?
Nach dem klaren Wahlerfolg von Boris
Johnson und seinen «Tories» ist nun klar,
dass Grossbritannien per Ende Januar
2020 formell aus der EU austreten wird.
Damit fällt ein Teil der Unsicherheit weg.
Der Einfluss des Brexit auf die Weltkon-
junktur wurde aber so oder so über-
schätzt und ist letztlich minim.
Was ist an der Zinsfront zu erwarten?
Die Zinsen dürften weiter tief bleiben.
Vor Jahresfrist erwarteten viele, dass es
2019 zu einer Zinswende kommt. Aber es
geschah das Gegenteil: Die Europäische
Zentralbank nahm ihr bereits gestopptes
Anleihen-Kaufprogramm wieder auf und
die amerikanische Notenbank Fed hat die
Zinsen dreimal gesenkt. Vor diesem Hin-
tergrund sind auch der Schweizerischen
Nationalbank die Hände gebunden. Wür-
de sie die Zinsen nun anheben, läuft sie
Gefahr, dass sich der Schweizer Franken
noch stärker aufwertet.
Was raten Sie Anlegerinnen und Anlegern?
In Zeiten der Negativzinsen sind sie si-
cherlich gut beraten, wenn sie einen Teil
ihres Vermögens sinnvoll investieren.
Wer sein gesamtes Vermögen auf dem
Sparkonto belässt, verliert unter dem
Strich an Kaufkraft. Nicht investiert zu
sein, ist beim aktuellen Zinsniveau ei-
gentlich keine Option.
Wie kann Raiffeisen hier unterstützen?
Wir rechnen damit, dass 2020 ein an-
spruchsvolles Börsenjahr wird. Die Ren-
diten dürften im Vergleich mit 2019 tiefer
ausfallen. Im Durchschnitt rechnen wir
für Aktien inklusive Dividenden mit ei-
nem Gesamtertrag von etwa 5 bis 6 Pro-
zent. Gleichzeitig erwarten wir aufgrund
der politischen Unsicherheiten eine hö-
here Volatilität an den Märkten. Deshalb
sollte das eigene Vermögen gut diversifi-
ziert angelegt und aktiv bewirtschaftet
werden. Dafür bieten wir unseren Kun-
dinnen und Kunden unter anderem den
Depot-Check an.
Was beinhaltet dieser Depot-Check?
Um Risiken und Renditen im Gleichge-
wicht zu halten, ist die richtige Mischung
aus verschiedenen Anlageklassen wie Ak-
tien, Obligationen, Immobilienfonds etc.
sowie die Verteilung über Regionen zent-
ral. In einem individuellen und kostenlo-
sen Depot-Check analysiert Raiffeisen die
Entwicklung der Portfolios von Kundin-
nen und Kunden und beurteilt die bishe-
rige Anlagestrategie. Wo nötig, werden
ihnen Optimierungsmöglichkeiten aufge-
zeigt. So haben sie die Gewissheit, dass
ihr Vermögen für 2020 bestmöglich auf-
gestellt ist und ihrem Risikoprofil ent-
spricht.
Wie wird mein Risikoprofil ermittelt?
Ihre individuelle Risikofähigkeit hängt
davon ab, welche finanziellen Risiken Sie
«Nicht investiert zu sein,
ist beim aktuellen
Zinsniveau eigentlich
keine Option.»
aufgrund Ihrer Lebens-, Einkommens-
und Vermögenssituation tragen können.
Berücksichtigt werden hierbei auch die
geplante Dauer Ihrer Anlage sowie Ihre
Liquiditätsbedürfnisse. Relevant sind
zudem Ihre Kenntnisse des Anlagege-
schäfts. Gestützt auf diesen Informatio-
nen wird schliesslich Ihr persönliches Ri-
sikoprofil definiert und die Aufteilung
der investierten Gelder auf die verschie-
denen Anlageklassen – die sogenannte
Asset-Allokation – festgelegt.
Ab wie viel Vermögen lohnt es sich, Geld an
der Börse zu investieren?
Es lohnt sich, bereits kleine Beträge
zu investieren. Das beste Beispiel ist die
private Vorsorge anhand der Säule 3a.
Wer hier früh einzahlt und das Vermö-
gen in Aktien investiert, spart über die
Jahre deutlich mehr an, als wenn das
Geld auf dem Sparkonto liegt. Das Glei-
che gilt auch für Fondssparpläne, in de-
nen man bereits ab 100 Franken einfach
und systematisch Vermögen aufbauen
kann. Wichtig ist bei jeder Investition,
dass die Anlegerinnen und Anleger
Ruhe bewahren.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
FOTO: PD
Können Sie das erläutern?
Finanzmärkte sind in ständiger Be-
wegung. Der kurzfristige Konjunktur-
verlauf und politische Ereignisse spielen
dabei ebenso eine Rolle wie langfristige
Trends. In diesem stetigen Fluss von
Information und dem Auf und Ab der
Kurse ist es schwierig, den Überblick zu
behalten und einen kühlen Kopf zu
wahren. Dies ist jedoch essenziell, um
das langfristige Anlageziel zu erreichen.
Wer sich immer wieder seinem Impuls
hingibt, bezahlt letztlich unnötige
Transaktionsgebühren.
Was raten Sie allgemein?
Gelder, die in absehbarer Zeit nicht
benötigt werden, sollten auf die persön-
lichen Bedürfnisse abgestimmt angelegt
werden, damit man optimal und lang-
fristig von den Chancen der Finanz-
märkte profitieren kann.
Dieser Artikel wurde von
NZZ Content Solutions im Auftrag
von Raiffeisen erstellt.
Depot-Check
Raiffeisen legt Wert darauf, dass die
Anlagen ihrer Kundinnen und Kunden
für die Zukunft vielversprechend
aufgestellt sind. Die drittgrösste
Schweizer Bankengruppe empfiehlt
daher, jeweils zum Jahresauftakt
einen individuellen Depot-Check mit
dem Anlageberater durchzuführen.
So können Überraschungen vermie-
den werden. Der Rück- und Ausblick
auf die persönliche Vermögenssitua-
tion verschafft Anlegerinnen und
Anlegern zudem das gute Gefühl,
das eigene Geld für die nächsten
Monate bestmöglich investiert zu
wissen. Zusammen mit dem Experten
werden beim Depot-Check die zu den
Kundenbedürfnissen passenden
Optimierungsmöglichkeiten identifi-
ziert. Gleichzeitig wird die Portfo-
liostruktur auf das Marktumfeld abge-
stimmt.
raiffeisen.ch/depot-check
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Geld & Geist Tobias Straumann
Mehr Sozialstaat, Gesundheit oder Bildung? Die
Schweiz steht vor einem grossen Zielkonflikt
D
er schweizerische Arbeits-
markt ist in guter Verfassung.
Die offizielle Arbeitslosenrate
beträgt nur 2,3 Prozent. Die
Jugendarbeitslosigkeit ist am
Sinken, ebenso die Zahl der
Langzeitarbeitslosen. Und kürzlich hat eine
Studie des Bundesamtes für Statistik vorge-
rechnet, dass nicht mehr als 1 Prozent der
Bevölkerung dauerhaft arm sei. Das heisst,
Menschen geraten hierzulande, wenn über-
haupt, nur vorübergehend in existenzielle
Not und finden den Eintritt in den Arbeits-
markt wieder. Im internationalen Vergleich
herrschen in der Schweiz geradezu paradie-
sische Verhältnisse.
Die Gründe für diesen erfreulichen Erfolg
sind vielfältig. Das duale Bildungssystem
trägt wohl am stärksten dazu bei, weil es
einen niederschwelligen und praxisorientier-
ten Übergang von der Schule in den Beruf
ermöglicht und vielfältige Anschluss-
möglichkeiten bietet.
Genauso wichtig ist aber die Kombination
von liberalem Arbeitsmarkt und grosszügiger
Arbeitslosenversicherung. Die Flexibilität
des Arbeitsmarktes ermöglicht es den
Firmen, schnell auf die Veränderung der
Ertragssituation zu reagieren. Pro Tag ver-
schwinden etwa tausend alte Arbeitsplätze
beziehungsweise entstehen etwa tausend
neue. Das ist nur möglich, wenn Arbeits-
kräfte schnell entlassen, aber auch einge-
stellt werden können. Umgekehrt erhalten
Arbeitnehmer nach einer Kündigung über
eine längere Zeit ein angemessenes Einkom-
men, das ihnen bei der Stellensuche hilft. Die
Arbeitslosenversicherung funktioniert gut:
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Wirtschaft
Arbeitslosen finden innerhalb eines Jahres
eine neue Stelle.
Allerdings besteht kein Anlass, die Hände
selbstgefällig in den Schoss zu legen. Es gibt
durchaus Tendenzen, die Sorgen machen
können. So ist die Zahl derjenigen, die eine
Stelle suchen, aber nicht bei der Arbeits-
losenversicherung gemeldet sind, etwa
gleich gross wie die Zahl der offiziellen
Arbeitslosen. Somit beträgt die effektive
Erwerbslosenquote rund 4,5 Prozent, was
für eine wirtschaftliche Boomphase recht
hoch ist. Des Weiteren gelingt es trotz allen
Massnahmen offenbar nicht, die Sozialhilfe-
quote zu senken. Heute beträgt sie etwas
mehr als 3 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Das sind knapp 300000 Personen. Und
schliesslich ist der Integrationserfolg bei
den anerkannten Flüchtlingen und den vor-
läufig Aufgenommenen nach wie vor gering.
Heute stammt rund ein Fünftel der Sozial-
hilfebeziehenden aus Afrika, Asien oder
Lateinamerika.
Solange das konjunkturelle Umfeld güns-
tig ist, lassen sich die Kosten der Erwerbs-
losigkeit und der Sozialhilfe gut tragen. Aber
im Falle einer Rezession, die früher oder
später kommen wird, werden die Ausgaben
schnell steigen. Harte Verteilkämpfe dürften
die Folge sein.
Mental ist weder die Bevölkerung noch die
Politik auf eine solche Situation vorbereitet.
Die letzte Rezession liegt zehn Jahre zurück,
war nur von kurzer Dauer und konnte des-
halb mit staatlich subventionierter Kurzarbeit
weitgehend abgefedert werden. Grosse Ent-
lassungswellen blieben aus. Entsprechend
hat diese Wirtschaftskrise im kollektiven
Gedächtnis kaum Spuren hinterlassen. Man
044 258 13 83
erinnert sich vielleicht an die Stützung der
UBS im Oktober 2008, aber kaum mehr an
die Probleme der Exportindustrie infolge des
dramatisch schrumpfenden Welthandels. Im
Moment herrscht deshalb auch das Gefühl
Solange das vor, der Sozialstaat könne problemlos weiter
konjunkturelle ausgebaut werden.
Umfeld günstig Dieses Gefühl ist äusserst trügerisch: Die
Verteilungskämpfe werden selbst dann
ist, lassen sich härter werden, wenn kein weiterer Ausbau
die Kosten der mehr stattfindet. Vor allem in den Kantonen
Arbeitslosigkeit wird der Spielraum enger werden. Heute
und der fliessen bereits mehr als 20 Prozent ihrer
Sozialhilfe gut Ausgaben in die soziale Sicherheit und rund
15 Prozent in den Gesundheitsbereich.
tragen. Steigen diese Ausgaben weiter an, so
lassen sie sich nur finanzieren, wenn das
Wachstum der Bildungsausgaben einge-
dämmt wird. Denn diese machen 30 Prozent
der gesamten Kantonsausgaben aus, wäh-
rend alle übrigen Ausgabeposten zu gering
sind, um grosse Einsparungen zu ermög-
lichen. Hinzu kommt, dass die Gemeinden
von den Kantonen eine stärkere Beteiligung
an der Finanzierung der Sozialhilfe verlan-
gen. Die Kantone befinden sich in einer
ungemütlichen Sandwichposition.
Es wird interessant sein, zu sehen, wie die
Schweiz mit diesem Zielkonflikt umgehen
wird. Vor allem die linken Parteien werden
vor einer Zerreissprobe stehen, denn gemäss
Parteiprogramm darf es weder beim Sozial-
staat noch bei der Gesundheit noch bei der
Bildung eine Wachstumsbremse geben. Aber
wenn die Mittel knapp werden, müssen sie
sich entscheiden, was ihnen wichtiger ist.
Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker
an der Universität Zürich.
31
Personenund
Unternehmen
Nord Stream 2. US-Präsident Donald
Trump hat in der Nacht auf Samstag die
angekündigten Sanktionen gegen den
Bau der Gas-Pipeline durch die Ostsee in
Kraft gesetzt. Die Strafmassnahmen
gegen beteiligte Unternehmen sind im
neuen Verteidigungshaushalt aufgeführt.
Betroffen sind auch die Projektgesell-
schaft Nord Stream 2 in Baar (ZG) und die
schweizerisch-niederländische Allseas
Group mit Sitz in Châtel-Saint-Denis (FR),
die auf die Verlegung von Pipelines spe-
zialisiert ist. Allseas kündigte an, alle
Arbeiten zu suspendieren. (dst.)
Otto H. Suhner. Den Verwaltungsrats-
präsidenten der Brugg-Gruppe überkam
am Freitag Wehmut. Der Patron des tradi-
tionsreichen Aargauer Familienunterneh-
mens gab den Verkauf des Kerngeschäfts,
die Kabelwerke Brugg, an den italieni-
schen Energieversorger Terna bekannt.
Die Bereiche Industriekabel, Immobilien
und weitere Aktivitäten verbleiben bei
der Brugg-Gruppe. (dst.)
Sundar Pichai. Der Google-CEO darf sich
über eine Lohnerhöhung freuen. Er ver-
dient neu 2 Mio. $ pro Jahr, wie der
Sender CNBC berich-
tete. Doch viel
BLOOMBERG
lukrativer ist sein
langfristiges Kom-
pensationspaket.
Bleibt er auf seinem
Posten und erreicht
die vereinbarten
Ziele, soll er ab 2021
mit erstaunlichen
240 Mio. $ belohnt
werden. (mkf.)
Invest
Der Chef der US-Notenbank Fed, Jerome Powell, hat dieses Jahr dreimal die Zinsen gesenkt. (Washington, 11. Dezember 2019)
Vielen Dank für ein tolles Börsenjahr,
Jerome Powell und Mario Draghi!
Letzten Dezember war der Pessimismus der Investoren mit Händen zu greifen,
dann folgte das beste Börsenjahr seit langem. Und was jetzt? Von Markus Städeli
V
or einem Jahr wurde der Albtraum
aller Börsianer Realität. Ausgerech-
net in den letzten Wochen des Jah-
res verloren fast alle Vermögens-
werte gleichzeitig an Wert – man konnte sich
nirgends verstecken. 2018 war zum Verges-
sen. Und dann kam 2019 ... und mauserte sich
zum besten Börsenjahr seit langem. Der
Schweizer Börsenindex SPI, der auch die Divi-
denden beinhaltet, legte um satte 31% zu.
Gleichzeitig bescherten auch Anleihen
Kursgewinne.
Bedanken dürfen wir uns dafür bei den
Notenbankchefs, die mit einer präventiven
Lockerung der Geldpolitik auf die Wachs-
tumsverlangsamung reagierten. Gleich 15
wichtige Zentralbanken haben dieses Jahr die
Zinsen gesenkt. Jerome Powell, der Chef der
US-Notenbank Fed, machte drei Zinsschritte.
«Die treibende Kraft der Finanzmärkte sind
die Liquiditätsspritzen der Notenbanken. Sie
entscheiden über die Risikoneigung der
Negativzinsen: Das Ende einer dummen Idee
Geldspiegel
Markus Städeli
N
ach fünf Jahren ist Schluss mit
Negativzinsen in Schweden. Die
Riksbank wird ihre Leitzinsen im
Januar auf 0% erhöhen. Das
Timing ist zwar nicht sonderlich gut, hat sich
die Wirtschaft in Schweden doch im Ver-
gleich zu 2018 deutlich abgekühlt. Aber eine
Mehrheit der schwedischen Notenbanker
will offenbar dem geldpolitischen Experi-
ment lieber heute als morgen ein Ende
setzen. Zu Recht: Negativzinsen sind wohl
die dümmste Idee, die der Zunft je eingefal-
Investoren, und es ist sehr riskant, gegen einen
Bullenmarkt zu wetten, selbst wenn dieser nun
schon zehn Jahre alt ist», sagt Michael Strobaek,
Global Chief Investment Officer der Credit
Suisse. Der Grundsatz «Never fight the Fed» ha-
be sich dieses Jahr wieder bewahrheitet.
Die Credit Suisse befürchtet, dass auf der
Zielgeraden noch etwas schiefgehen könnte,
dass sich die gute Performance nicht bis zum
Jahresende halten lässt. Man habe Put-Optio-
nen zur Absicherung der Kundenportefeuilles
gekauft, «für den Fall, dass es Ende Jahr oder
Es ist für Investoren
sehr riskant, gegen
einen Bullenmarkt zu
wetten, selbst wenn
dieser nun schon zehn
Jahre alt ist.
len ist. Sie stehen im Widerspruch zu funda-
mentalen ökonomischen Grundsätzen, näm-
lich dass Kapital, gleich wie Boden und
Arbeit, einen Produktionsfaktor darstellt
und als solcher einen Preis haben muss – den
Zins. Stellt man dies infrage, schafft man
eine ganze Reihe von falschen Anreizen.
Es ist bezeichnend, dass die Idee von
Minuszinsen in Europa populär geworden
ist. In den letzten zehn Jahren hat man
grosse qualitative Unterschiede in der Geld-
und Wirtschaftspolitik dies- und jenseits des
Atlantiks beobachten können. So kam die
Europäische Zentralbank (EZB) unter der
Führung von Jean-Claude Trichet auf die
absurde Idee, 2011, mitten in der europäi-
schen Staatsschuldenkrise, die Zinsen zu
erhöhen. Anschliessend brauchte es das
beherzte Eingreifen von Nachfolger Mario
Draghi, um den Euro um fünf vor zwölf zu
retten. Dabei ist Draghi über das Ziel hinaus-
geschossen – wofür man angesichts der Dra-
matik der damaligen Situation Verständnis
haben kann. Trotzdem: Der weit weniger
schädliche Ankauf von Staatsanleihen wäre
wohl ausreichend gewesen, um der Krise
Herr zu werden. Zumindest hätte die EZB die
im Januar zu einer Korrektur kommen sollte».
Weil die Volatilität tief sei, habe das nicht viel
gekostet, sagt Strobaek. Wenn die Akteure an
den Finanzmärkten nicht mit grösseren Kurs-
ausschlägen rechnen, dann sind auch die
Optionspreise tief.
Weiter auf Aktien setzen
Und wie positioniert sich die Bank für 2020?
«Man sollte weiterhin auf Aktien setzen, denn
die Notenbanken haben uns eine Put-Option
geschrieben», sagt Strobaek. Er schränkt aller-
dings ein, dass Zentralbanken letztlich eine
Rezession nicht verhindern könnten. Und in
diesem Fall würden die Aktienmärkte um
30% und mehr einbrechen. «Es gilt daher
dynamisch auf veränderte Marktbedingungen
zu reagieren, so wie wir es jetzt mit der Ab-
sicherung über Put-Optionen getan haben.»
Die Börse, deren Preise gemäss einer Faust-
regel die wirtschaftliche Entwicklung der
nächsten sechs bis neun Monate vorweg-
Zinsen rasch zurück auf null bringen sollen,
als das Wachstum wieder ansprang.
Ganz anders die USA: Sie zwangen ihren
Banken in der Finanzkrise sofort frisches
Kapital auf. Auch das Programm zum Ankauf
von Anleihen kam unverzüglich, und es war
massiv. Das entschlossene Handeln zeigte
relativ rasch Resultate und ermöglichte dann
auch wieder eine zeitige Normalisierung der
Geldpolitik. Diese ist zwar noch immer nicht
abgeschlossen. Trotzdem könnte die Aus-
gangslage in Europa und in den USA heute
unterschiedlicher nicht sein: Auch nach drei
Zinssenkungen dieses Jahr hat die US-Noten-
bank immer noch Raum für eine konventio-
nelle Lockerung ihrer Geldpolitik. US-Ban-
ken florieren, während in Europa vergangene
Woche wieder einmal ein italienisches Geld-
haus gerettet werden musste.
Die Beseitigung der Negativzinsen in
Schweden ist ein wichtiges Signal für die
EZB. 2020 sollte sich das Wirtschaftswachs-
tum in Europa wieder beschleunigen. Das
wäre ein idealer Zeitpunkt, um den Anfang
vom Ende der Negativzinsen einzuläuten.
Sonst besteht die Gefahr, dass wir nicht mehr
von ihnen wegkommen.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
JACQUELIYN MARTIN / AP / KEYSTONE
Keine Rezession am Horizont
So viel Wirtschaftswachstum erwarten
die Finanzmärkte 2020
China 5,8%
USA 1,8%
Schweiz 1,2%
Grossbritannien 1,1%
Euro-Zone 1,0%
Japan 0,3%
Quelle: Consensus Economics, Swiss Life AM
nehmen, erwartet nächstes Jahr allerdings
keine Rezession, sondern eine leichte Be-
schleunigung des Wachstums (siehe Grafik).
Strobaek sagt zwar: «Es sind nun viele positive
Erwartungen in den Aktienkursen enthalten.
Ich denke, wir werden im ersten oder zweiten
Quartal dann auch wieder einmal eine Korrek-
tur sehen.»
Trotzdem gehe man zuversichtlich ins neue
Jahr. Es werde keine Rezession geben und die
Industrieproduktion, die dieses Jahr rückläu-
fig war, werde sich wieder normalisieren.
Beruhigend findet Strobaek, dass nach wie
vor wenig Enthusiasmus herrsche: «Trotz den
neuen Rekordständen an der Börse ist unter
dem Strich Geld aus dem Aktienmarkt abge-
zogen worden. Die Anleger trauen sich nicht,
voll auf Aktien zu setzen. Auch diese Zurück-
haltung stimmt uns zuversichtlich für die
Börse.» Er stelle sich 2020 auf einstellige
Erträge bei Aktien ein, sagt er.
Risiko Europa
Rückblickend findet er, der Handelsstreit sei
wahrscheinlich etwas überschätzt worden.
«Auch über die inverse Zinsstruktur als Indiz
für eine heraufziehende Rezession wurde
intensiv diskutiert. Ich glaube, die kurzfristi-
gen Zinsen lagen über den langfristigen Zin-
sen, weil das Zinsniveau in allen anderen
Wirtschaftsräumen so viel tiefer war als in den
USA», sagt der dänische Ökonom. Aufgrund
dieser Renditedifferenz hätten Investoren
Kapital in die USA verschoben – mit dem
Resultat, dass auch die amerikanischen Lang-
fristzinsen wieder gesunken seien.
«Wir setzen derzeit stärker auf Aktien, als
wir das üblicherweise tun, insbesondere auch
auf Schwellenländer-Titel», sagt Strobaek. Die
Bank erwarte eine positive Entwicklung im
Technologiesektor, der immer noch dyna-
misch wachse, und auch im Finanzsektor –
vor allem in den USA, aber längst nicht nur
Michael Strobaek ist dort. «Denn wenn die langfristigen Zinsen
Anlagechef der wieder etwas steigen, werden Banken über-
Credit Suisse. durchschnittlich davon profitieren. Sie sind
immer noch sehr günstig bewertet.»
Wie viel Aktienrisiko man eingehen wolle,
sei eine sehr individuelle Entscheidung. «Ich
persönlich halte viel von der Faustregel 100%
minus das Lebensalter.» Für einen 45-Jähri-
gen würde das also 55% Aktien bedeuten.
Was könnte schiefgehen? Strobaek sieht
das grösste politische Risiko für die Märkte
weder in China noch in den USA, sondern
noch immer in Europa. «Die Gefahr ist nicht
gebannt, dass sich plötzlich ein grosser Staat
wie Italien aus der Euro-Zone verabschiedet.»
Die beste Woche hatte ...
John Elkann, Fiat-Erbe
Deals. Er beschert dem Urur-
DENIS BALIBOUSE / REUTERS
enkel des legendären Fiat-
Gründers, Giovanni Agnelli,
nicht nur Dividenden in Höhe
von mehreren Milliarden,
sondern auch den Vorsitz im
Verwaltungsrat des vereinigten
Unternehmens. In dieser Funk-
Im zweiten Anlauf hat es doch
tion ist er schon seit zehn
Jahren bei FCA und Exor tätig.
noch geklappt. Der Fahrzeug- Der Zusammenschluss mit den
hersteller Fiat Chrysler Auto- Franzosen bringt zudem den
mobiles (FCA) fusioniert mit schwächelnden Marken des
Peugeot Citroën (PSA). Die Fiat-Chrysler-Konzerns neue
beiden Konzerne, die dafür zu Perspektiven.
fast gleichen Teilen bewertet Dass Elkann mit PSA so rasch
werden, wollen zum viert- einig wurde und dabei offenbar
grössten Unternehmen der ein für ihn vorteilhaftes Ergeb-
Branche aufsteigen. nis erzielte, überrascht. Im
John Elkann, der über die letzten Juni hatte er die weit
Familienholding der Agnellis, gediehenen Fusionsverhand-
Exor, die FCA kontrolliert, gilt lungen mit Renault-Nissan
als der grosse Profiteur des abrupt abgebrochen. (dst.)
 33

Unternehmen der Woche Grafik der Woche

Energieverbrauch
Hayek gegen Wettbewerbshüter:
Verwirrspiel um die Swatch Group
Endenergieverbrauch,
Anteile nach Quellen (2017)
Elektrizität

Übrige 4,6%

E
s gab diese Woche aussergewöhn-
liche Nachrichten, ja sogar ein verita-
bles Drama um die Swatch Group.
Doch im Aktienkurs schlug sich das
kaum nieder. Die Papiere des Uhrenkonzerns
gewannen auf Wochensicht 1,47%, etwas
mehr als der breit gefasste Swiss-Perfor-
mance-Index (+1,09%). Eine relativ unauffäl-
lige Börsenwoche für die Swatch Group also.
Trotzdem ist sie für uns das «Unternehmen
der Woche». Denn Konzernchef Nick Hayek
hat es wieder einmal gehörig krachen lassen.
Dieses Mal legte sich der Patron mit den
Wettbewerbshütern an. «Das Diktat der
Weko schadet der Schweizer Uhrenindus-
trie», liess Hayek am Mittwochabend per
Mediencommuniqué verlauten – und legte
einen Tag später in der Nachrichtensendung
«10 vor 10» nach, dass dies «ein absurder
Entscheid» sei. Was war passiert?
Schadenersatzforderungen möglich
Am 31. Dezember 2019 läuft eine einver-
nehmliche Regelung zwischen dem Uhren-
konzern und der Wettbewerbskommission
(Weko) ab. Diese wurde 2013 getroffen, um
die dominante Stellung der Swatch-Group-
Tochter ETA mithilfe eines kontrollierten
Lieferrückgangs über die Jahre abzubauen.
ETA stellt mechanische Uhrwerke her, nicht
nur für Hayeks Konzern und dessen Marken
wie etwa Omega, sondern auch für Dritte.
Die einvernehmliche Regelung zwingt die
Swatch Group sogar zu Lieferungen an
Dritte. Dazu zählen kleinere und mittlere
Schweizer Uhrenproduzenten wie etwa Cho-
pard oder Breitling. Aber auch Marken der
grossen Luxuskonglomerate wie IWC (gehört
zu Richemont) oder TAG Heuer (LVMH) ver-
wenden Werke von ETA.
Nun hat die Weko ihren Entscheid, ob und
wie viele mechanische ETA-Werke die
Swatch Group ab dem 1. Januar 2020 an
Dritte liefern muss, vertagt. Sie will «voraus-
sichtlich im Sommer 2020» über eine mög-
liche Verlängerung der Lieferverpflichtung
der ETA entscheiden; die Lieferungen
Hinter dem Gesamtmarkt zurück
Aktien der Swatch Group im Vergleich
130 Indexpunkte (1. 1. 2019 = 100)
120
Swiss Performance Index
110
100
Swatch Group N
90
80
J F M A M J J A S O N D
2019
Quelle: Swissquote
Werke wie dieses würden «aus faktischen Gründen vorläufig
stehen im Zentrum ausgesetzt», schreibt die Weko weiter. Die
des Streits zwischen Swatch Group beklagt ein «Lieferverbot», das
der Weko und der dem Konzern auferlegt worden sei, die Wett-
Swatch Group: bewerbshüter würden sich mit ihrem Ent-
ETA Kaliber 2639. scheid in die Wirtschaftspolitik einmischen
und die Schweizer Uhrenindustrie in neue
Strukturen zwingen. Hayek sprach vor
diesem Hintergrund sogar von möglichen
Schadenersatzforderungen. Wie ist dieser
Zwist zu bewerten?
Eine historische Pflicht
Erstens gilt es festzuhalten, dass der Ent-
scheid der Wettbewerbskommission selbst
für Branchenkenner völlig missverständlich
formuliert ist. Dem schriftlichen Wortlaut
entgegen darf ETA weiterhin Uhrwerke an
Dritte liefern, präzisierte Weko-Direktor
Patrik Ducrey in den Medien. Zweitens muss
man sich vor Augen halten, dass die Herstel-
lung von mechanischen Uhrwerken für
Dritte nahezu irrelevant ist für die Swatch
Group. Laut Analysten der Zürcher Kantonal-
bank (ZKB) macht es «nur» noch 0,6% des
Umsatzes aus. Was nach einem vernachläs-
sigbaren Nebengeschäft klingt, ist nämlich
eine historisch begründete Pflicht.
Vereinfacht dargestellt gäbe es ohne ETA
heute keine Schweizer Uhrenindustrie mehr.
Ihre Wurzeln gehen auf die 1920er Jahre
zurück, als die hiesigen Uhrenhersteller ihre
Kräfte bündelten, um der aufkommenden
Konkurrenz aus den USA und Japan zu
begegnen. Dieses Kartell wurde später im
sogenannten Uhrenstatut legalisiert. Mit der
Gründung der Swatch Group ging Nicolas
Hayek denn auch eine Verpflichtung ein, mit
der Quasimonopolistin ETA auch alle ande-
ren Uhrenhersteller mit Werken zu beliefern.
Diese Lieferpflicht war ihm bald schon ein
Dorn im Auge – wie heute seinem Sohn Nick
Hayek. Er würde den Lieferzwang am liebs-
ten loswerden, damit sich ETA frei entschei-
den kann, welche Uhrenhersteller sie mit
Werken beliefert. Eigentlich eine Selbstver-
ständlichkeit für Unternehmen, die sich in
einer freien Marktwirtschaft bewegen.
Darum unterstellte sich die Swatch Group der
einvernehmlichen Einigung mit der Weko:
um die eigene Marktmacht zu brechen.
Drittens gilt es festzuhalten, dass dies
gelungen ist. Mit der in Le Locle ansässigen
Sellita ist für die ETA ein ernst zu nehmen-
der Konkurrent entstanden. Branchen-
kenner gehen davon aus, dass Sellita heute
rund 1 Million Uhrwerke pro Jahr absetzt,
die Swatch-Tochter ETA hingegen nur noch
0,5 Millionen Werke an Dritte liefert. Vor
diesem Hintergrund mutet das Vorgehen der
Wettbewerbshüter seltsam an.
Chanchal Biswas
Wasserkraft 15,0%
Atomkraft
3,7%
Übrige 6,1%
Brenn- und
Treibstoffe
70,6%
Quelle: Hochschule für Technik Rapperswil, BfE, BfS
Mühleberg ist
abgestellt, und
niemand merkt es
In der Diskussion um die sogenannte
Energiewende kommt immer wieder die
Bedeutung der Atomkraft für unsere
Energieversorgung ins Spiel. Ein Blick auf
den tatsächlichen Energieverbrauch zeigt
aber: Der Anteil wird gerne überschätzt,
beträgt er doch nur gerade 3,7%. Als am
Freitag das 47 Jahre alte Atomkraftwerk
Mühleberg mit viel Tamtam vom Netz
genommen wurde, machte sich dies im
Schweizer Energiemix kaum bemerkbar.
Pro Jahr produzierte das kleinste der
fünf AKW bisher rund 3000 Gigawatt-
stunden Strom, was etwa 5% der inländi-
schen Nachfrage nach Elektrizität ent-
spricht. Rein technisch lässt sich die weg-
gefallene Menge mit Importen oder
anderweitiger Produktion problemlos
ersetzen. Doch die Strombranche muss,
ebenso wie die Politik und die Konsumen-
ten, weiterdenken. Der Ausstieg aus der
unwirtschaftlich gewordenen, mit der
ungelösten Entsorgungsproblematik und
finanziellen Langzeitrisiken behafteten
Atomkraft ist beschlossene Sache. Ein
Ersatz durch vergleichsweise günstige
fossile Brennstoffe, etwa in Form von
Gaskraftwerken, widerspricht der Energie-
strategie des Bundes und dem Gebot der
CO2-Neutralität, welche die Schweiz bis
spätestens 2050 erreichen sollte.
Heute stützt sich die Schweiz beim
Energiekonsum für Strom, Wärme und
Mobilität zu etwa 70% auf nicht erneuer-
bare Quellen ab, vor allem auf Erdölpro-
dukte. Pro Jahr gehen so gegen 50 Mio.
Tonnen CO2 in die Atmosphäre hoch. In
den kommenden Jahren, in denen nach
und nach auch die anderen vier AKW vom
Netz gehen sollen, werden wir die Pro-
duktionskapazitäten aus erneuerbaren
Energiequellen ausbauen und unseren
Verbrauch reduzieren müssen. Das Poten-
zial dafür wäre vorhanden. (dst.)

Wall Street

Ein Jahrzehnt Aufschwung

Das heisst, die nächsten zehn Flaschen begin-
nen bei elf. Es ist eine Debatte, die seit einer
Ewigkeit geführt wird. Gefühlt endet ein Jahr-
zehnt jedoch bei neun. Das würde bedeuten,
dass an der Wall Street nun eine neue Dekade
anbricht.
Der US-Wirtschaft ist im jetzt endenden
Jens Korte, New York Jahrzehnt Historisches gelungen. In den Zeh-
nerjahren ist eine Rezession ausgeblieben.
rende Präsident sieht sich vermutlich selbst
als wesentlichen Grund für diesen Lauf. Mit
seinen Steuersenkungen im vergangenen
Jahr entfachte Donald Trump zumindest an
der Börse ein kleines Feuerwerk.
In diesem Jahr tat ihm die US-Notenbank
den Gefallen und senkte dreimal die Zinsen,
obwohl sich die Arbeitslosenquote auf dem
tiefsten Stand seit 1969 befindet. Entspre-
verschont bleiben. Der Notenbankchef deu-
tete entsprechend an, dass die Zinsen im kom-
pletten Jahresverlauf unverändert bleiben.
Die Turbulenzen rund um das Amtsent-
hebungsverfahren von Donald Trump haben
Für die Bank die Märkte komplett kaltgelassen. Das dürfte
Goldman sich voraussichtlich auch im neuen Jahr nicht
Sachs gibt es ändern. Für die Auguren von Goldman Sachs
gibt es vor allem einen Risikofaktor. Laut Gold-
vor allem einen

A
m 1. Januar 47 vor Christus führte
der römische Kaiser Julius Caesar
den Kalender ein, an dem wir uns
heute noch weitestgehend orientie-
ren. Da die Römer kein Zeichen für die Null
hatten, begann ein neues Jahrzehnt nicht mit
einer Null, sondern einer Eins am Ende.
Da es kein Jahr null gab, fängt die Zeitrech-
nung nach Christus am 1. Januar 01 an. Das ist
ein Ansatz, um das Ende und den Anfang
eines Jahrzehnts zu bestimmen. Wenn zehn
Flaschen mit Coca-Cola oder Rotwein abge-
füllt werden, dann gibt es keine Flasche null.
Das gab es in der Geschichte der Vereinigten
Staaten noch nie. Und selbst wenn das Jahr-
zehnt eigentlich erst am 31.12.2020 endet,
ändert das nichts an der Tatsache, dass sich
das Land in der längsten Expansionsphase seit
der Gründung befindet. Die Wirtschaft expan-
diert seit 126 Monaten.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hielten die
Expansionsphasen im Schnitt 58,4 Monate an.
Es gab in dem Zeitraum Phasen, in denen das
Wachstum stärker ausfiel als in den vergange-
nen zehn Jahren. Aber eine Dekade ohne zwei
aufeinander folgende Quartale mit rückläufi-
gem Wachstum ist beeindruckend. Der amtie-
chend gab es an der Börse kein Halten mehr.
An diesem Freitag erreichte der Dow Jones er-
neut eine Rekordmarke. Der S&P-500-Index
könnte sogar das beste Jahr seit 1997 ver-
buchen. Dafür müsste das breite Börsenbaro-
meter zum Jahresende mit über 3248,87
Punkten schliessen. Dann wäre der S&P über
29,6% gestiegen. Das war die Marke aus dem
Jahr 2013. 1997 ging es 31% nach oben. Am
Freitag schloss der Index auf einem Allzeit-
hoch von 3221 Zählern. Es fehlen derzeit also
nur rund 27 Punkte.
Die meisten Ökonomen gehen davon aus,
dass die USA auch 2020 von einer Rezession
man haben Unternehmen 2019 rund 710 Mrd.$
Risikofaktor für eigene Aktien ausgegeben. Damit sind die
für die Börse: Aktienrückkäufe gegenüber dem Vorjahr um
sinkende 15% gefallen. Für 2020 rechnet Goldman mit
Aktienrück- einem erneuten Rückgang um weitere 5%.
Die Aufkäufe von Corporate America waren
käufe. ein wesentlicher Faktor für die Kursgewinne
der vergangenen Jahre. Unter dem Strich
rechnet die Bank damit, dass der S&P dennoch
weitere 7% zulegen könnte. Doch wenn die
Firmen ihre Rückkäufe stärker reduzieren,
dann würde automatisch das Verhältnis Ge-
winn pro Aktie gedrückt, und die Kurse an der
Wall Street dürften ins Straucheln geraten.
Bild: Tupperware Party, 1950s. Frauen sind auf dem Weg zu einer Tupperware-Party in einem amerikanischen Vorstadthaus (Keystone)

Follower, 1950
Geschichte schreibt Gegenwart
 NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
35

REUTERS
Integrativ Fragwürdig
Mo Salah prägt in Wie der HC Davos mit
Liverpool das Bild der seinem Sponsor das
Muslime 38 Image ramponiert 40

Liebes
Tagebuch
Die On-off-Beziehung zu Lara Gut, die verzweifelte Suche nach einem
SIMONE VOGEL, ILLUSTRATION: PATRICK OBERHOLZER

Trikot der amerikanischen Fussballerin Megan Rapinoe, der

mindestens so verzweifelte Versuch, Vladimir Petkovic zu verstehen:
Das persönliche Tagebuch 2019 unserer Sportredaktion. Seite 36
36 Sport NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019

Epilog 1: Der Verband sperrt Magnin für

Im Fernsehstudio von Teleclub trifft sich wie
jeden Sonntag das Stand-by-Personal des
Schweizer Fussballs: Trainer, die derzeit
ohne Anstellung sind, Funktionäre, die auf
eine grössere Aufgabe warten. In der Zwi-
schenzeit sind sie Experten für Teleclub.
Ciriaco Sforza steht vor der Sendung herum
und sagt: «Ich habe die Pause gesucht.» In
der Cafeteria sagt Maurizio Jacobacci zu
Adrian Knup: «Gut siehst du aus. Machst du
immer noch viel Sport?» Jacobacci ist in
Sitten entlassen worden, Knup ist gerade im
Gespräch als neuer Manager der Fussball-
Nationalmannschaft. Er telefoniert deshalb
viel. Ciriaco Sforza sagt zu einem Teleclub-
Mitarbeiter: «Hey, wir haben zwar Gläser,
aber das Wasser fehlt.» Besser kann man
seine Situation nicht zusammenfassen. Dann
sagt er: «Così è la vita.» Was hat das Leben in
diesem Jahr zu bieten? (sta.)
In Sunderland peitscht der Regen horizontal
an die Hotelfenster, der Brexit ist abgesagt.
Wir haben im Nordosten Englands Posten
bezogen, um die britische Verabschiedung
von Europa zu beobachten, aber ausser dem
Knallen der Regenpeitsche ist da nichts. Bis
sich dunkle Gestalten aus der Gischt schälen.
Die sind ja besser angezogen als Schweizer
Goretex-Gipfel-Profis! Sie haben Banner mit
der Aufschrift «Get Brexit done» dabei, quet-
schen sich in zwei Busse und fahren weg. Ein
paar Stunden später gewinnt zwar der AFC
Sunderland, aber am Ende wird es doch
nicht reichen für den Aufstieg. Und Gross-
britannien ist noch immer nicht raus aus der
Europäischen Union. Nur der Regen ist
geblieben. (ram.)
Schlecht geschlafen, wirr geträumt. Hilft
«Positivität», «Respekt», «Liebe»? Versuch,
Vladimir Petkovic zu verstehen: «Ich bin
sicher, dass wir von diesem Spiel für die
Zukunft viel lernen können», sagte er nach
dem 3:3 gegen Dänemark. Die Schweizer
verschenkten einen Drei-Tore-Vorsprung.
Ruhig bleiben. «Viel lernen» ist ein vielver-
sprechender Ansatz. (ram.)
drei Spiele und Canepa sowie van Eck für je
ein Cupspiel.
Epilog 2: Quintessenz des Abends: Mit
dieser emotionalen Mischung an der Seiten-
linie kann der FCZ nicht weiterfahren.
Epilog 3: Der Assistent René van Eck
beendet bald darauf seine Zeit im FC Zürich.
Epilog 4: Der Referee Klossner wird später
in der «Sonntags-Zeitung» nach einem
Spuck-Vorfall in einem anderen Spiel sagen:
«Ich brauche das nicht mehr und verbringe
die Wochenenden lieber anders.» Er hört am
Ende des Jahres als Schiedsrichter frühzeitig
auf. (bir.)
Schlecht geschlafen, wirr geträumt. Gegen-
mittel: «Positivität», «Respekt», «Liebe».
Versuch, Vladimir Petkovic zu verstehen:
«Stephan Lichtsteiner ist Captain. Man kann
es so oder so sehen», hatte er gesagt. Petko-
vic nimmt Lichtsteiner nicht mit ans Final-
turnier der Nations League. Ruhig bleiben.
«So oder so» ist ein offener Ansatz. (ram.)
Lea Sprunger Fifa-Kongress, 1. Tag: Es dauert einige Minu-
weiss an den ten, ins Pariser Hotel Salomon de Rothschild
Leichtathletik-WM zu kommen. Polizisten haben den Haupt-
in Doha nicht, ob sie eingang abgeschirmt. Fast unbewacht ist
weinen oder lachen dafür eine Hintertür, zu erreichen durch eine
soll. Sie wird über parkähnliche Anlage hinter Mauern. Drinnen
400 Meter Vierte tagt der Fifa-Council. Wichtige Fussball-
und verpasst eine Funktionäre geraten in den Verteidigungs-
Medaille, aber sie modus, denn es kursieren neue Schätzun-
läuft Landesrekord. gen, wie viele Bauarbeiter in Katar bei den
Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft
2022 ums Leben gekommen sind. Der Kana-
dier Victor Montagliani sagt, es gebe kein
Land, das in Menschenrechtsfragen perfekt
sei. Er spricht laut und eindringlich.
Anschliessend widerspricht niemand mehr.
Kein guter Tag für den Fussball. (smb.)
Fifa-Kongress, 2. Tag: Auf den Fluren des
Hotels Hyatt Regency Paris Etoile wird über
Ahmad Ahmad getuschelt, Präsident von
Afrikas Konföderation CAF. Er soll Kollegen
bei nationalen Verbänden bestochen haben
und steht obendrein im Verdacht, Gelder
veruntreut zu haben, um sich selbst für
JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE
Fifa-Kongress, 4. Tag: CAF-Präsident Ahmad
Ahmad wird in seinem Pariser Fünf-Sterne-
Etablissement Hôtel de Berri von einer Anti-
korruptionseinheit festgesetzt und verhört.
Ein guter Tag für den Fussball. (smb.)
Frauenstreiktag, am Zürcher Central treffen
sich Tausende Frauen, um zu demonstrie-
ren. Unter ihnen ein Mädchen mit einem
selbstgebastelten Plakat. «Ich will Fussball-
profi werden und gleich viel verdienen wie
Messi», steht darauf. Die Schweiz war nicht
an der Frauenfussball-Weltmeisterschaft,
aber das Turnier strahlt bis zu uns. (cen.)
Ich glaube, besser als Orange und Grün
können Farben gar nicht zusammenpassen.
An diesem Morgen im Centro Sportivo di
Bellinzona spielen die Junioren des Schwei-
zer Tennis um die Meisterschaft. Ich sitze auf
einer provisorischen Tribüne und schaue
links, rechts, links, rechts. Tennis ist ein
Sport, bei dem man als Zuschauer den Kopf
verliert. Die Augen folgen nur dem Ball, die
Sonne scheint, in der Unschärfe schimmert
alles orange und grün. Idealzustand. (sta.)
Vor gut einer Woche wurden die Amerikane-
rinnen Fussball-Weltmeisterinnen, ich bin auf
einer USA-Reise und würde gerne ein Shirt
von Megan Rapinoe nach Hause bringen. In
Chicago dröhnt Hip-Hop aus den Sportarti-
kelläden, drinnen ist es schön kühl, aber
Shirts vom Siegerteam haben sie keine. Auch
nicht in den nächsten fünf Läden. Ich kaufe
eine Impeachmint-Lippenpomade. (cen.)
In Albuquerque ist kein Mensch zu Fuss
unterwegs. Nur ich, auf der Suche nach
einem Shirt von Rapinoe. Gibt es nicht. Dafür
ein Breaking-Bad-Graffito. Auch super. (cen.)

400 000 Dollar zwei neue Autos zu kaufen.

Ahmad Ahmad leitet äusserlich unbeein-
Ein kleines Drehbuch zum Dasein des FC druckt eine Sitzung, in der ihn niemand mit
Zürich: den Vorwürfen konfrontiert.
Drehort: Stadion Letzigrund. Vor der Lobby demonstrieren Fans des
Drehzeit: Abend. Klubs Espérance Tunis, sie brüllen und
Anlass: Cup-Halbfinal. FC Zürich - schwenken Vereinsfahnen. Es geht um einen
FC Basel 1:3. umstrittenen Videobeweis-Entscheid, der zu
Cast: Ludovic Magnin, FCZ-Trainer; René einem Spielabbruch führte. Die Funktionäre
van Eck, FCZ-Assistenztrainer; Ancillo ignorieren den Protest. Kein guter Tag für
Canepa, FCZ-Präsident; Stephan Klossner, den Fussball. (smb.)
Schiedsrichter.
Nicht am Filmset: Thomas Bickel,
FCZ-Sportchef.
Exposé: Wie der FCZ an der Seitenlinie
funktioniert. Fifa-Kongress, 3. Tag: In der Expo Porte de
Plot: Die Team- und Klubführung des Versailles in Paris sagt Fifa-Präsident Gianni
FC Zürich startet emotional durch. Magnin Infantino, die Fifa sei jetzt rundum erneuert.
schreit und nennt den Schiedsrichter «Sie ist ein Synonym für Glaubwürdigkeit,
Stephan Klossner gemäss dessen Rapport Vertrauen, Integrität, Gleichheit, Menschen-
«mehrmals» einen «Betrüger»; Canepa unter- rechte.» Noch vor dem Mittagessen, einem
hält sich gestenreich und auf dem Terrain üppigen warmen Buffet, wird der Schweizer
stehend mit Klossner; der erzürnte van Eck per Akklamation im Amt bestätigt. Gegen-
wird mit hochrotem Kopf von besonnenen kandidaten gibt es nicht. Kein guter Tag für
Personen zurückgehalten. den Fussball. (smb.) Ist sie zu gefragt? Fussballerin Rapinoe.

RAFAEL MARCHANTE, DENIS BALIBOUSE / REUTERS, GEPA
«Ich liebe Xherdan, ich werde ihn immer lieben»: Nationaltrainer Petkovic (links), Nationalspieler Shaqiri. (9. 6. 2019)
Die vorentscheidende 19. Etappe der Tour de
France soll auf 2089 Metern in Tignes enden.
Wer mit dem Auto dahin gelangen will, muss
den für die Fahrer vorgesehenen Schluss-
anstieg befahren. Es gilt, den Wagen durch
die eng aufgereihten Massen zu manövrie-
ren. Dabei sind Kollisionen mit betrunkenen
Fans zu vermeiden, ausserdem müssen Dut-
zende Hobby-Velofahrer überholt werden –
immer mit einem Blick auf den Boden, wo
Supporter knien, die mit Kreide die Namen
ihrer Helden malen. Als die Radfahrer
schliesslich unterwegs sind, zeigt sich: Alles
war umsonst. Denn am Col de l’Iseran wütet
mit ungeahnter Wucht ein Hagelsturm,
innerhalb weniger Minuten wird die Strasse
unpassierbar. Bagger müssen Hagelkörner,
Schnee und Eis entfernen, das Rennen wird
abgebrochen. Die Radprofis werden Tignes
nie erreichen. Sie sind schneller als erwartet
in ihren Hotels. Für die Fans und Journalis-
ten beginnt dagegen ein langes Warten: Erst
in der Nacht ist die Strasse ins Tal wieder
frei. (smb.)
In Tucson ist es eigentlich viel zu heiss für
Shopping. Aber das Rapinoe-Leibchen geht
mir nicht aus dem Kopf. Ermattetes Kopf-
schütteln. Sie finden mich komisch. (cen.)
San Francisco, letzter Versuch mit Megan.
Vergeblich. Ist sie schlicht zu gefragt? Nike
meldet, dass die Shirts der US-Frauen das am
besten verkaufte Fussballtrikot der Saison
seien. Ich kaufe einen Cable-Car-Christ-
baumschmuck. (cen.)
Protokoll vom Public Viewing vor der Arena
des Eidgenössischen Schwingfests in Zug:
«Jeder andere wäre am Boden gewesen, das
kann also nur der Wenger so.» – «Frauenfeld
war also auch ein schönes Fest.» – «Ja, der
Orlik, gefährlicher Cheib. In Gottes Namen,
der Bessere soll gewinnen.» – «Der war doch
unten, nein, geht es eigentlich noch!?» –
«Bist du Luzerner?» «Ha, neeeei, Entlebue-
cher.» – «Die können sich einen Gestellten
doch nicht leisten.» – «Ja, nein.» – «Gopfer-
dori.» (sta.)
Schlecht geschlafen, wirr geträumt. Wo sind
«Positivität», «Respekt», «Liebe»? Neuer Ver-
such, Vladimir Petkovic zu verstehen: «Mein
Verhältnis zu Xherdan ist okay, aber es
könnte viel besser sein», hatte er gesagt.
Xherdan Shaqiri kommt nicht ins National-
team. Ruhig bleiben. Alles im Leben und auf
der Welt «könnte viel besser sein». Auch
ohne Shaqiri. Guter Ansatz. (ram.)
Jetzt gewinnen die Österreicher auch noch in
der Leichtathletik Medaillen: Lukas Weiss-
haidinger, Bronze mit dem Diskus. Leute mit
solchen Namen dürften eigentlich nur in
Österreicherwitzen vorkommen. Hopp
Schwiiiz, buh Austria – so bin ich sozialisiert
worden. Mein grösster Glücksmoment war
die Ski-Weltmeisterschaft 1987 in Crans-
Montana, 14 Medaillen für die Schweiz. Und
dieses Jahr? Ski-Weltmeisterschaft 2019,
Gold, Silber und Bronze im Slalom für Öster-
reich. Dabei waren wir doch drauf und dran,
mit Zenhäusern, Yule und Aerni zu einer
37
SIMONE VOGEL
Slalomnation zu werden. Am 4. September
ist Marcel Hirscher zurückgetreten. Halle-
luja! Aber jetzt Weisshaidinger. Ich stecke
fest im Österreicherloch. (reg.)
Lea Sprunger wird Vierte über 400 Meter
Hürden, sie läuft Landesrekord, sie ist über
eine Sekunde schneller als im besten Rennen
vor den WM. Jetzt steht sie mit hängenden
Schultern in der Interviewzone:
«Ich weiss nicht.»
«Ich sollte mich freuen, aber...»
«Wenn man so nahe an einer Medaille
ist, fragt man sich halt, was man falsch
gemacht hat.»
«Ich muss den Trainer fragen.»
Sie wendet sich ab und schlurft davon.
Ich fasse sie am Arm, sie dreht sich mir mit
leerem Blick zu. Ich sage: «Lea, du hast in
diesem Rennen alles richtig gemacht. Bravo!»
Ihre Augen flackern auf, sie lächelt.
«Merci, Remo.» (reg.)
Schlecht geschlafen, wirr geträumt. Versuch,
Vladimir Petkovic zu verstehen: «Ich liebe
Xherdan, ich werde ihn immer lieben.» Liebe
vermag viel, aber nicht alles. Shaqiri fehlt
auch gegen Dänemark und Irland. Ruhig
bleiben. Liebe kann ein Anfang sein, auch als
Ansatz für «Positivität», «Respekt». (ram.)
Schlecht geschlafen, wirr geträumt. Was
sagte Vladimir Petkovic? «Ich werde seit
fünfeinhalb Jahren infrage gestellt. Aber
ich bin immer noch da.» So ist es, Petkovic
ist immer noch da, trotz Kritik. Letzter
Versuch im Jahr 2019, Petkovic zu ver-
stehen. Versuch gescheitert. Ruhig bleiben.
Empfindung: «Positivität», «Respekt»,
«Liebe». (ram.)
«War ich weniger wert?», fragt Lara Gut-Beh-
rami in Lake Louise. Es kommt mir vor, als
würde sie das neben mir sitzend zur Paar-
therapeutin sagen. Denn ich lebe mit ihr in
einer klassischen On-off-Beziehung.
Februar I: Reise an die Ski-Weltmeister-
schaft vorverlegt, damit ich die Pressekonfe-
renz mit Lara nicht verpasse. Sie schafft es,
mit Worthülsen und leerem Blick die Tempe-
ratur auf Polarniveau herunterzukühlen.
Aber wenn sie vor eine Fernsehkamera steht,
lächelt sie. Lara, ich bin off.
Lara Gut hat ein Februar II: Laras Weltmeisterschaft war
durchzogenes Jahr ein Flop, gefeiert wird Gold-Wendy. Und
hinter sich. An den dann willigt sie in das Interview ein, mit dem
Weltmeisterschaften ich nicht gerechnet hätte. Sie lächelt, sie
im vergangenen analysiert klug, sie ist selbstkritisch. Es ist,
Winter holt sie als zünde bei jedem ihrer Worte jemand in
keine Medaille. Im einem dunklen Raum eine Kerze an. Lara, du
Dezember fragt bist wunderbar.
sie sich: «War ich Dezember: Jetzt hat der Winter begonnen,
weniger wert?» und Lara hat den ersten Wirbel veranstaltet.
Sie fragt sich, ob sie weniger wert sei als
andere. Und ich frage mich, ob wir beide
nicht tatsächlich zur Therapie sollten. Zu
zweit. Oder besser getrennt? (reg.)
Peter B. Birrer (bir.), Sebastian Bräuer (smb.),
Remo Geisser (reg.), Stephan Ramming (ram.),
Christine Steffen (cen.), Samuel Tanner (sta.)
38
MitToren
gegendenHass
W
enn Mohamed Salah am
PHIL NOBLE / REUTERS
Ball war oder auf der Lein-
wand auftauchte, hallte
Jubel durch das Khalifa-
Stadion von Doha. Zum
ersten Mal nahmen drei
arabische Teams an der Klub-WM in Katar teil:
Gastgeber al-Sadd sowie die Champions-
League-Sieger aus Asien und Afrika, al-Hilal
aus Saudiarabien und Espérance Tunis aus
Tunesien. Doch der beliebteste arabische
Spieler war der Ägypter Mo Salah. «Ich möchte
nicht in seiner Position sein und ständig die
ganze Aufmerksamkeit haben», sagte Jürgen
Klopp, Salahs Trainer beim FC Liverpool, dem
katarischen Sender BeIn. «Mo hat das gut im
Griff, er ist wirklich ein normaler Mensch.»
Ein normaler Mensch. Offenbar müssen sie
das in Liverpool hin und wieder betonen, um
die Zuneigung für ihren Spieler in gesunde
Bahnen zu lenken. Seit Monaten gehört ein
Lied über Salah fest zum Repertoire der Liver-
pooler Fans. «If he scores another few, then I’ll
be Muslim too. He’s sitting in the mosque,
that’s where I wanna be.» Sinngemäss also:
Sollte Salah mehr Tore schiessen, würden sie
zum Islam übertreten und in die Moschee
gehen. Sind Huldigungen wie diese ironisch
gemeint, oder steckt darin ein Funke Ernst?
«Salah verleiht dem für viele abstrakt wirken-
den Islam ein alltägliches Gesicht», sagt der
Sportwissenschafter Mahfoud Amara von der
Qatar University in Doha.
Eine Studie der Stanford University und der
ETH Zürich aus diesem Jahr untermauert Aus-
sagen wie diese. Die Forscher analysierten
Hassverbrechen in 25 englischen Grafschaften
zwischen 2015 und 2018. Demnach seien Atta-
cken und Diskriminierung gegen Muslime in
Merseyside, der Heimat des FC Liverpool, um
19 Prozent gesunken, während die Zahlen für
andere Hassverbrechen etwa gleich geblieben
seien. Zudem setzten Liverpool-Fans 53 Pro-
zent weniger antimuslimische Tweets ab.
«Wir leben in einer Zeit, in der junge Leute oft
zu Gangstern oder Reality-Stars aufschauen»,
sagt der Imam Obayed Hussain aus Birming-
ham. «Mo Salah ist sehr talentiert, bescheiden
und bringt Leute zusammen. Und ja, eine sei-
ner Eigenschaften ist, Muslim zu sein. Es ist
wichtig, Vorbilder wie ihn zu haben, die durch
ihren Charakter auffallen, ohne grosse Reden
zu halten.»
Unter den 100 Einflussreichsten
Im Umfeld des Erstligisten Aston Villa organi-
siert Obayed Hussain im Ramadan eine Mit-
ternachtsfussballliga. Dort lernen sich mus-
limische und nichtmuslimische Jugendliche
besser kennen. «Ich erwähne in meinen Work-
shops häufig Mo Salah», sagt Hussain. «Die
Spieler haben dann sofort ein konkretes Bild
vor Augen.» Und manchmal falle es dann jun-
gen Muslimen leichter, sich mit der eigenen
Herkunft auseinanderzusetzen.
Salah macht kein Geheimnis aus seinem
Glauben: Nach erfolgreichen Partien nimmt
er mitunter eine muslimische Gebetshaltung
ein. Dabei berühren sieben Punkte seines
Körpers gleichzeitig den Rasen. In den sozia-
len Netzwerken zeigte er sich beim Fasten-
brechen. Seine Frau verfolgt Spiele mit der
traditionellen Kopfbedeckung. Das «Time»-
Magazin nahm Salah in seine Liste der
«100 einflussreichsten Personen» weltweit
auf. Er selbst scheint auf seine politische Rol-
le in Interviews ungern einzugehen. Stattdes-
sen betont er oft, nur Teil einer Mannschaft
zu sein.
Was passiert, wenn ein muslimischer Spie-
ler mit Worten in die Offensive geht, hat
Mesut Özil in der vergangenen Woche erfah-
ren. Der deutsche Spieler des FC Arsenal kriti-
sierte in einem Tweet die Unterdrückung der
Uiguren in China. Nach Schätzungen der Uno
werden in der Westprovinz Xinjiang mehr als
Sport
Dank Mo Salah hinterfragen Fans in England Klischees über Muslime. Er ist die
grosse Identifikationsfigur im Westen und in der arabischen Welt. Auf politische
Äusserungen verzichtet er – anders als Mesut Özil. Von Ronny Blaschke
Zwei Liverpool-Fans dekorieren ihr Haus unter anderem mit einem Papp-Salah. (Liverpool, 9. Mai 2018)
eine Million Menschen der Minderheit in
Lagern festgehalten; sie sollen dem Islam
abschwören. Özil schrieb, dass «westliche
Staaten» darauf aufmerksam machten. Aber:
«Warum nicht die muslimische Welt?» Ob er
Bei der Wahl damit auch seinen Hochzeitsgast Recep
des Präsidenten Tayyip Erdogan meinte? Der türkische Präsi-
in Ägypten dent bemüht sich um gute Wirtschaftsbezie-
2018 sollen hungen zu Peking.
eine Million Die Kommunistische Partei Chinas schlug
Menschen für zurück. Der staatliche Fernsehsender CCTV
nahm umgehend die Übertragung eines Spiels
Salah gestimmt des FC Arsenal aus dem Programm, das
haben, obwohl Onlineforum Tieba schloss einen Fanklub
dieser gar nicht Özils, ein Elektronikunternehmen strich seine
kandidierte. Figur aus einem Computerspiel. Selbst sein
Arbeitgeber, der FC Arsenal, leistete keine
Unterstützung – und folgte damit der Linie von
Fluggesellschaften, Hotelketten oder Film-
studios, die heikle Themen wie Taiwan, Tibet
oder Hongkong auf Druck von Peking aus-
klammern. Simon Chadwick, Experte für Geo-
politik und Sport von der Universität Salford,
schlussfolgert: «Europäische Klubs werden ge-
nau abwägen müssen. Wenn sie kritisch
gegenüber Peking sind, verlieren sie eventuell
hohe Einnahmen. Wenn sie unkritisch sind,
EPA
geraten sie in Konflikt mit den heimischen
Fans und Menschenrechtlern.»
Mo Salah scheint sich bewusst zu sein, wie
exponiert er ist. Rund 35 Millionen Menschen
folgen ihm auf Instagram, zwölf Millionen auf
Facebook, elf Millionen auf Twitter. Er hat
schon bei früheren Stationen seiner Karriere
erfahren, dass jede seiner Gesten beobachtet
und zum Teil kontrovers über sie diskutiert
wird. Im FC Basel soll er 2013 von ägyptischen
Hardlinern unter Druck gesetzt worden sein,
israelischen Spielern nicht die Hand zu geben.
Vor der Partie gegen Maccabi Tel Aviv band er
sich die Schnürsenkel und umging damit den
Händedruck mit dem gegnerischen Spieler.
Für die WM 2018 bezog die ägyptische
Nationalmannschaft ihr Quartier in der russi-
schen Teilrepublik Tschetschenien. Deren
autokratischer Herrscher Ramsan Kadyrow
suchte für Fotos die Nähe zu Salah. Unter
Kadyrow sollen Oppositionelle und Homo-
sexuelle verhaftet, gefoltert und ermordet
worden sein. «Wir wissen, dass Salah über die
Fotos verärgert war», sagt Piara Powar, Leiter
des Netzwerkes Football Against Racism in
Europe (Fare). «Er soll mit einer Klage gegen
den ägyptischen Fussballverband gedroht
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Uigurischer Demonstrant mit Özil-Bild.
haben. Auch, weil seine Foto öfter für andere
Zwecke genutzt wurde, als ihm lieb war.»
Der lächelnde Fussballheld Salah neben
dem Despoten Kadyrow: Islamfeindliche
Gruppen fühlten sich durch dieses Bild in
ihrer Meinung bestärkt, etwa Anhänger aus
dem Umfeld der Football Lads Alliance, einer
rechten Fan-Gruppe aus London. Immer wie-
der mussten muslimische Spieler wie Özil,
Yaya Touré, einst bei Manchester City, Mama-
dou Sakho bei Crystal Palace oder Sadio Mané
beim FC Liverpool islamophobe Sprüche er-
dulden. 2013 wurden muslimische Fans von
West Ham United während eines Gebets im
Stadion angefeindet. Und im April bezeichne-
ten Fans des FC Chelsea ihren früheren Spie-
ler Mo Salah in einem Lied als «Bombenleger».
«Geschenk Allahs»
«In Grossbritannien spricht man von einer Kri-
se des Multikulturalismus, besonders seit den
Diskussionen um den Brexit», sagt Mahfoud
Amara von der Qatar University. «Und es gibt
nach wie vor Spannungen und pauschale Ur-
teile über Muslime, vor allem nach islamisti-
schen Anschlägen wie in London oder
Manchester. Bei prominenten Spielern mit
arabischen Namen kann diese Ablehnung ein
Ventil finden.» Laut einer Umfrage der Univer-
sität Cambridge stimmten 2018 rund 55 Pro-
zent der Befragten der Aussage zu, dass der
Islam mit britischen Werten nicht vereinbar
sei. 50 Prozent sagten aber auch, dass Islam-
feindlichkeit ein ernstes Problem sei.
In Liverpool hat der Islam Tradition: Hier
hatte William Henry Quilliam 1889 die erste
Moschee Englands eröffnet, hier leben heute
15 000 Muslime. Mo Salah, oft bezeichnet als
«Geschenk Allahs», hat dafür gesorgt, dass
diese Geschichte auch in der arabischen Welt
bekannter geworden ist. «Die Mena-Region,
welche die Region von Marokko bis Iran um-
spannt, ist mit vielen Kulturen, Dialekten und
religiösen Strömungen sehr vielschichtig»,
sagt Jonathan Whitehead, Sportchef des
Sportsenders BeIn, über den Nahen Osten und
Nordafrika, wo rund 380 Millionen Menschen
leben. «Mo Salah ist eine der wenigen Perso-
nen, mit der sich Menschen aus unterschied-
lichen Ländern in dieser Region gleicher-
massen identifizieren können.»
Vor allem in seiner Heimat: Bei der ägypti-
schen Präsidentschaftswahl 2018 sollen eine
Million Menschen für Salah gestimmt haben,
obwohl dieser gar nicht kandidierte. Damit
machten die Wähler ihre Stimmen ungültig –
wohl auch aus Protest gegen den autokrati-
schen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi. Nach
dem Champions-League-Sieg mit Liverpool
2019 posierte Salah mit der ägyptischen Fuss-
ballikone Mohamed Aboutrika, der bei der
Regierung in Ungnade gefallen ist und in Katar
im Exil lebt. Salah gehört zu den wenigen, die
für eine solche Foto keine Strafe befürchten
müssen.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Sport 39

Fifa-Theater

BERND KÖNIG / IMAGO IMAGES

Glaube,
Liebe,
Moral
A
m Donnerstag wurde am Konzert
Theater Bern ein Stück uraufge-
führt, das «Fifa – Glaube, Liebe,
Korruption» heisst – ein Stück, das
den Fussball in seiner spektakulären Wider-
sprüchlichkeit zeigen will, und am Ende
genauso spektakulär scheitert.
Der Weltfussball entwickelte sich in den
vergangenen Jahrzehnten unaufhaltsam zu
einem Milliardengeschäft. Er wurde nicht
mehr nur geprägt von jungen Männern in
kurzen Hosen, sondern auch von alten Män-
nern in Anzügen. Neue Berufe entstanden:
der Spielervermittler, der Agent, der Fernseh-
rechtevermarkter. Mindestens so schnell
wuchs die Macht der Funktionäre in der Fifa;
bald konnten sie nicht nur an reguläre Spe-
sengelder, sondern auch an irreguläre
Schmiergelder gelangen. Seit Jahren domi-
niert in der Öffentlichkeit deshalb eine ein-
fache (und nicht falsche) Erzählung: hier der
unschuldige Fussball, dort seine schuldigen
Funktionäre. All das haben die Autoren des
Stücks recherchiert, sie haben mit Journalis-
ten gesprochen, mit Ethikern und mit Joseph
Blatter persönlich.
Ein Höhepunkt der Hinrunde: Die Unioner jubeln nach dem Sieg gegen den Stadtrivalen Hertha. (Berlin Köpenick, 1. November 2019) Was kann das Theater mit diesem Stoff
anfangen?

Wiemachensie
Die Bühne ist ein Kunstrasen, es ist wie im
Stadion gestuhlt, aber als es losgeht, ist
sofort klar, wie das Spiel am Ende ausgehen
wird. Die Schauspielerinnen und Schauspie-
ler tragen zuerst Fussballtrikots und jubeln,
dann ziehen sie sich Blazer und Krawatte an,

dasbloss?
reihen sich am Rand auf – der Kunstrasen
wird jetzt zum riesigen Funktionärstisch –,
dann sprechen sie eine Art Leitbild der Fifa,
beginnen aber bei Wörtern wie «Integrität»
oder «Ethik» natürlich zu stottern, verschlu-
cken sich beinahe daran. Und das Publikum
lehnt sich zurück und lächelt. Damit ist der
Ton dieses Abends gesetzt.
Der gute Fussball trägt Trikot oder Fan-

Union Berlin überrascht in der ersten Saisonhälfte. Das Team ist ein Abbild seines schal, der böse Fussball trägt Anzug. In
immer neuen Szenen repetiert das Stück
diese Wahrheit.
Trainers: pragmatisch und vernünftig. Von Stefan Osterhaus An der Recherche liegt es nicht. Der

E
s liegt wohl an den Besonderhei-
ten dieses Vereins, dass der
grösste Anlass, den die Anhänger
des 1. FC Union einmal jährlich
begehen, gar nichts mit Fussball
zu tun hat. Am kommenden
Montag werden sich 28 500 von ihnen in
Köpenick im Stadion an der Alten Försterei
versammeln, immerhin 6000 mehr, als sonst
an den Heimspielen der Unioner Platz auf den
Rängen finden. Es kämen wohl noch weitere,
wären sie unterzubringen, wie immer waren
die Karten rasch ausverkauft. Und dann ste-
hen sie auf den Tribünen und auf dem Rasen
und singen für die Dauer eines Fussballspiels,
90 Minuten lang, Weihnachtslieder – der
grösste Freiluftchor der Hauptstadt, ja der ge-
samten Republik.
Schon seit 2003 gibt es in Berlin Köpenick
diesen andernorts längst kopierten Brauch,
einst begründet von 89 Anhängern, die sich
seinerzeit am Vortag von Heiligabend zusam-
mengefunden hatten. Urs Fischer, der Trainer,
wird dann wohl bereits zu Hause in der
Schweiz bei der Familie sein, die Mannschaft
erhält nach dem letzten Match der Hinrunde
Diskussion angefacht, die Fischers Schweizer
Kollegen Lucien Favre noch jetzt begleiten?
Dies, obschon sein Team trotz Niederlage in
Hoffenheim auf einem Spitzenplatz zum Ab-
schluss der Hinrunde steht. Haben nicht auch
die stark umjubelten Gladbacher beim 0:2 er-
fahren müssen, wie unbequem es sein kann,
gegen Union Berlin zu spielen? Und überwin-
tert Union nicht ganz unabhängig vom Aus-
gang des Spiels in Düsseldorf auf einem Rang
im Mittelfeld?
Genug Gründe gäbe es jedenfalls für
Fischer, einigermassen zufrieden auf diese
Halbserie zurückzublicken. Einen griesgrämi-
gen Eindruck macht er gewiss nicht, doch es
liegt im Wesen dieses gediegenen Perfektio-
nisten, dass er immer wieder anmahnt: Gut ist
nicht gut genug! Und überhaupt: Das Wich-
tigste sei doch, dass sein Team noch ein Spiel
in der Hinrunde vor sich habe.
Dabei spricht die rein rechnerische Seite
eindeutig für Union: Mehr als 33 Punkte
waren in den letzten Jahren nie nötig, um sich
wenigstens in die Relegation zu retten, die
Distanz zur Konkurrenz ist schon jetzt recht
erheblich. Und nach diesem intensiven hal-
Schauspieler, der Joseph Blatter spielt, trägt
genau das Medley vor, das Joseph Blatter in
gesehen hat: Nicht weniger energisch als heu- Variationen seit Jahrzehnten wiederholt:
Urs Fischer te traten sie auf, aber doch ein wenig domi- «Ich bin ein Ehrenmann. Die Fifa hat mehr
nanter, wenn es darum ging, das Spiel zu Mitglieder als die katholische Kirche. I will
gestalten. Nunmehr ist der Schlüssel eine fight for football.» Der Schauspieler, der
grundsolide Defensivleistung, ein enormes später als YB-Fan sein Bekenntnis vorträgt,
Laufpensum und eine verblüffende taktische sagt: «Ich würde für den Verein sterben.» Der
Disziplin. Schauspieler, der den Trainer einer Grümpel-
Ganz anders als Union Berlin präsentiert turnier-Mannschaft spielt, ruft: «Explosiv,
sich etwa der Mitaufsteiger Paderborn, doch allez!» Das Ensemble spielt das Bullshit-
die mitunter allzu stürmische Equipe macht Bingo des Fussballs sehr präzis.
immer wieder die Erfahrung, bei ihren coura- Aber am Ende scheitert das Stück an
Der Schweizer ist gierten Auftritten ausgekontert zu werden. seinem Stoff, weil es weder eine neue Spiel-
seit Juni 2018 Trai- Der Ansatz von Fischer erscheint dagegen art noch eine neue Reflexion der Realität
ner von Union, er nicht nur pragmatisch und vernünftig. Er darstellt. Der Tiefpunkt ist eine Szene, in der
stieg mit dem Klub drängt sich geradezu auf: Mitspielen zu wol- das Ensemble eine Art Fifa-Funktionärs-
gleich in der ersten len gegen Mönchengladbach, gegen Borussia Orgie nachspielt. Die Schauspieler fressen
Saison in die 1. Bun- Dortmund oder den FC Bayern – das ist ein Dollarnoten, stecken sich das Geld in die
desliga auf. Sein Unterfangen, dass bei der individuellen Qua- Hosen, sitzen wie Hunde da, die Unterhosen
Vertrag in Berlin lität des Kaders nicht unbedingt erfolgver- braun. Wer die Moral der Geschichte – alles,
läuft bis 2021. Der sprechend ist. was dieses Stück zu bieten hat – noch nicht
geerdete Verein und begriffen hat, wird spätestens jetzt von ihr
der bodenständige Weihnachten im Hause Fischer erschlagen.
Coach passen gut Umso mehr beeindruckt aber das Gespür für Samuel Tanner
zusammen. den Rhythmus, das Union Berlin auszeichnet.
Denn es gibt immer wieder Phasen, in denen
die Mannschaft auch spielerisch überlegene
JANOSCH ABEL

Ferien. Fortuna Düsseldorf heisst der Gegner
in der letzten Partie vor der Winterpause heu-
te Sonntagnachmittag, ein schwieriges Spiel,
da es auswärts gegen einen unmittelbaren
Konkurrenten im Kampf gegen den Abstieg
geht.
Gut ist nicht gut genug!
Abstieg? Moment einmal! Seit einigen Wochen
scheint es so, als sei dieser Begriff aus dem
Vokabular von Union Berlin verschwunden,
obwohl er doch vor Saisonbeginn allgegen-
wärtig war. Hat Fischers Equipe in ihrem ers-
ten Bundesliga-Halbjahr nicht bisher 20
Punkte sammeln können in 16 Spielen? Hat sie
nicht auf beachtliche Weise den recht erstaun-
lichen SC Freiburg gleich zweimal bezwun-
gen, einmal in der Liga, einmal im Cup?
Hat Union nicht gleich am zweiten Spieltag
Borussia Dortmund in die Schranken gewie-
sen und durch ein 3:1 schon früh jene
ben Jahr, in dem sich das Kader an die Schlag-
zahl in der Bundesliga hat gewöhnen können,
lenkt Fischer den Blick auf die Entwicklungs-
möglichkeiten des Teams: Es komme ja durch-
aus vor, dass man in einigen Spielen mehr
Ballbesitz habe und in solchen Matches
Lösungen finde. Das sei nötig, um dauerhaft
in der Fussballbundesliga bestehen zu kön-
nen. Dass die Variabilität in der Spielanlage
eine Option ist, kann niemanden verwun-
dern, der Union einmal in der zweiten Liga
Dass das Team mitunter
am Limit ist, versteht
sich von selbst,
daher sehnt auch
der Coach die
Winterpause herbei.
Teams in grosse Bedrängnis bringen kann. Die
effektive Einteilung der Reserven: Sie ist eine
der grössten Qualitäten der Equipe von Trai-
ner Fischer. Die Mannschaft profitiert freilich
auch von einer äusserst seriösen Vorberei-
tung. Dass das Team mitunter am Limit ist,
versteht sich von selbst, daher sehnt auch der
Coach die Winterpause herbei. «Wir waren in
den letzten fünf, sechs Monaten sehr eng zu-
sammen, und jetzt kann jeder einmal den
Kopf lüften.»
Allzu neugierige Nachfragen zu den Details
der Weihnachtsfeier im Hause Fischer, vor
allem danach, was denn die Familie zu spei-
sen gedenke, wischte der Trainer am Freitag
an der Pressekonferenz nicht unwirsch, aber
doch entschieden beiseite: «Natürlich freue
ich mich auf die Festtage, und wir haben bei
uns auch einen Baum stehen, aber es ist doch
nicht interessant, was Urs Fischer an Weih-
nachten isst! Jetzt ist aber genug.» Der Tiefpunkt: Eine Fifa-Funktionärs-Orgie.
40 Sport
Eisstadion in Davos: Die Heimstätte des HCD soll mit dem Logo von Busers Stiftung versehen werden. (18. Oktober 2019)
InderImagefalle
Die Partnerschaft mit
W
äre die Geschichte nicht
zu ernst, sie wäre es nicht
wert, dass man einen ein-
dem umstrittenen zigen Buchstaben ver-
löre. Zu absurd ist sie, zu
Konzertveranstalter grotesk handelt
Hauptdarsteller: Peter Buser, geboren am
ihr
Peter Buser droht für 27. Januar 1937 in Trimbach (SO). Bankier,
Buchautor, Dichter, Konzertveranstalter und
den HC Davos zum Mäzen. So steht es in der Biografie auf seiner
Website. Und Provokateur, wäre dem hinzu-
Fiasko zu werden. Ein zufügen. Buser liebt es, zu schockieren. 2015,
am Wiener Opernball, trat er in Begleitung
Marketingspezialist von sechs Damen in blonden Perücken auf
und löste umgehend einen Skandal aus. Die
Polizei rückte an, nahm ihn fest. Eine Stunde
sagt, die Marke HCD später war Buser wieder auf freiem Fuss und
sein nicht eben leiser Lebenslauf um ein Aus-
nehme nachhaltigen rufezeichen reicher.
Und nun wütet Peter Buser im HCD. Vor
Schaden. Von Daniel einer Woche zeigte er sich im «Sportpanorama»
des Schweizer Fernsehens am Klavier. Doch
Germann für Aufsehen sorgte weniger sein Spiel als die
Frau, die neben ihm am Boden kauerte. Auf
die Frage der Journalistin, weshalb seine Be-
gleiterin am Boden sitzen müsse, antwortete
er: «Sie muss in einer untergebenen Stellung
sein. Ich bin der Herr, und sie war früher eine
Sklavin. Nun ist sie eine untergebene Frau.»
Der demonstrative Sexismus sorgte landes-
weit für Aufsehen. Gaudenz Domenig, der
Präsident des HC Davos, spricht von einer
«bizarren Inszenierung», bei der möglicher-
weise mitgespielt habe, dass Buser von einer
Frau interviewt worden sei.
Dilemma zwischen Geld und Geist
Klar ist: Domenig und sein HCD haben ein
Problem. Am 30. November hatte der Klub
kommuniziert, dass er mit der Res Ubique
Foundation von Buser eine Kultur-Partner-
schaft eingehe. «Eine Partnerschaft, die Sport
und Kultur zusammenbringt, die Synergien
nützt und sich gegenseitig ergänzen soll», wie
in der Mitteilung stand. Keine drei Wochen
später ist die Begeisterung verflogen. Dome-
nig sagt: «Wir planten zwei klassische Kon-
zerte auf sehr hohem Niveau. Wir wollten
Weltklasse-Musiker in Davos inszenieren.
Doch nun wird es schwierig, diese Pläne um-
zusetzen. Unter den Vorzeichen wird wohl
niemand mehr kommen wollen. Was wir ma-
chen wollten, ist torpediert.»
Was bleibt ist ein Vertrag, der über acht
Jahre läuft und den Domenig nicht aufzulösen
gedenkt. Er sagt, Vertragspartner sei nicht die
Privatperson Buser, sondern dessen Stiftung:
«Wir distanzieren uns von Herrn Busers Hal-
tung. Gleichzeitig sind wir unpolitisch und
brechen keine Verträge. Bevor wir die Partner-
schaft eingegangen sind, haben wir sein Um-
feld geprüft. Wir haben sorgfältig abgeklärt,
ob kriminelles Geld im Spiel ist. Doch Herr
Buser hat geschäftlich nichts gemacht, was
nach Schweizer Recht illegal ist.»
Was der HCD dabei offensichtlich übersah
oder übersehen wollte, war Busers Ruf als Pro-
vokateur, der immer wieder für handfeste
Skandale sorgt. Deshalb befindet sich der HCD
nun in einem Dilemma zwischen Geld und
Geist. Buser schiesst über seine Stiftung pro
Saison nach eigener Angabe einen siebenstel-
ligen Betrag ein, auf den der Klub nicht ein-
fach verzichten will. Doch die heikle Partner-
schaft droht dem Image des populären Klubs
nachhaltigen Schaden zuzufügen.
Die ersten Reaktionen gingen je nach poli-
tischer und moralischer Sensibilisierung dia-
metral auseinander. Die Fussballerin und SP-
Politikerin Sarah Akanji schrieb auf Insta-
gram: «Shame on you, Peter Buser, aber auch
shame on you, HC Davos. Ihr habt garantiert,
dass ich nie ein Spiel von euch besuchen
komme.» Derweil schreibt ein HCD-Anhänger
auf dem Fanforum: «Das Thema ist da und
wird in den nächsten Tagen oder Wochen ab-
flachen. Profitieren wir doch von seinem
Geld.»
Er folgt damit Domenigs Argumentation.
Doch der Pakt mit Buser droht für den HCD
zum Imagefiasko zu werden. Patrick Cotting
ist Geschäftsführer der Firma CCI Cotting
Consulting AG und Lehrbeauftragter für Spon-
soring- und Partnership-Management an der
Universität Lugano. Daneben hält er an der
Hochschule für Wirtschaft in Zürich auch Vor-
träge über Wirtschaftsethik. Er sagt: «Im
Sponsoring geht es primär um einen Image-
transfer. Der läuft aber nicht nur vom Sport-
klub zum Unternehmen, sondern auch umge-
kehrt. Das Ansehen von Herrn Buser beein-
flusst auch das Image des HCD. Dieser Effekt
greift nicht sofort, sondern sickert langsam
ein. Es dauert rund drei Jahre, bis sich das
Image des HCD nachhaltig verändert, in die-
sem Fall zum Negativen für den Klub.»
Cotting sagt, die lange Laufzeit mache den
Vertrag besonders heikel. Er kann nicht nach-
vollziehen, weshalb die Klubführung die Ver-
einbarung mit dem Namen Busers im Titel des
Stadions eingegangen ist. Busers Benehmen
im Fernsehen und womöglich auch in anderen
Zusammenhängen seien rufschädigende Vor-
fälle, die auch die Auflösung eines Vertrages
Buser geht es bei seinem
Engagement in Davos
wohl nur in zweiter Linie
um seine Foundation. In
erster Linie befriedigt er
das eigene Ego.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
GIAN EHRENZELLER / KEYSTONE
ohne Kostenfolge rechtfertigten – wie ein
Provokateur Dopingverstoss oder ein finanzieller Skandal.
«Ein Sponsoringvertrag muss grundsätzlich
nicht nur materiell, sondern auch immateriell
genau geprüft werden. Es gehört zu den
Grundregeln, bei einem Vertragsabschluss wie
diesem eine entsprechende Klausel einzu-
schliessen», sagt Cotting.
Fälle mit einem eklatanten Bruch ethischer
Grundsätze wie im Fall Buser sind im Sport re-
lativ selten. Der bekannteste stammt aus den
1980er Jahren, als ein deutscher Eishockey-
verein aus Iserlohn auf seinen Dress für das
Peter Buser, 82, be-
schäftigt offen-
«Grüne Buch» warb, in dem der damalige liby-
sche Staatschefs Muammar Ghadhafi seine
sichtlich auch die Revolutionspläne verbreitete. In der Schweiz
Justiz. Der «Blick» sponserte das betrügerische Netzwerk des
berichtete am Sams- «European Kings Club» in den 1990er Jahren
tag, dass die Zür-
cher Steuerbehörde
Rad-Veranstaltungen in der Zentralschweiz.
gegen ihn ermittle.
Buser hat Wohn-
Grenzen sind oft weniger klar
Oft aber verlaufen die Grenzen weniger klar.
sitze in Zürich und
Liechtenstein. Sein
Gaudenz Domenig sagt, es habe unter ande-
rem auch gegen das Engagement des HCD-
Steuersitz aber liegt Hauptsponsors UBS bereits kritische Stimmen
in Paraguay. Für gegeben, weil die Grossbank wegen ihrer Ge-
Buser gilt die Un- schäftspraktiken juristisch unter Druck ge-
schuldsvermutung. kommen sei.
Cotting sagt, man müsse da differenzieren.
«Die Verfehlungen, wegen derer Grossbanken
wie die UBS oder die Credit Suisse zuletzt in
die Schlagzeilen gerieten, hatten meist mit
einzelnen Protagonisten zu tun. Man spricht
über fragwürdige Geschäftspraktiken oder
überrissene Entschädigungen. Doch der Kon-
sument unterscheidet hier zwischen den
Institutionen mit einer langen Geschichte und
den Menschen, die sich nicht korrekt verhal-
ten.» Heikler findet Cotting ein Engagement
wie jenes des Rohstoffhändlers Glencore beim
EV Zug. «Kaum jemand ausserhalb der Wirt-
schaftswelt kennt Ivan Glasenberg, den CEO
von Glencore. Das Unternehmen wird deshalb
kritisch betrachtet, seine Geschäftspraktiken
sind umstritten. Das wird mittel- bis langfris-
tig negativ auf den Klub zurückfallen.»
Glencore hält sich beim EVZ optisch zu-
rück. Der Schriftzug des Unternehmens zieht
sich unauffällig über die Schultern der Spieler.
Wie das Chemie-Unternehmen Ineos im Fuss-
ball in Lausanne wirbt der Rohstoffhändler in
Zug mit seinem Engagement vor allem um
Goodwill, den er mit der Unterstützung des
Klubs bei den Steuerzahlern schaffen will.
Peter Buser geht es bei seinem Engagement
in Davos wohl nur in zweiter Linie um seine
Res Ubique Foundation. In erster Linie befrie-
digt er das eigene Ego. Selbst der Verwal-
tungsrat soll überrumpelt worden sein, als er
bei der Präsentation des Engagements persön-
lich auftauchte. Nun geniesst Buser die neue
Bühne. Dem HC Davos bleibt der Schaden.
ImFokus
Um den Traum vom professionellen Unihockey zu leben, stand sie am Fliessband und räumte Regale ein. Für
die Heim-WM musste Tanja Stella Ferien beziehen. WM-Silber stimmt sie traurig. Von Marco Ackermann
Alleingelassen
D
as Gefühlschaos hält immer
noch an. Tanja Stella sitzt vor
einem Teller Cannelloni und
sagt: «Ich fühle mich wie der
Loser der Nation.» Sie sagt das,
obwohl sie vier Tage davor
ihren grössten Erfolg als Schweizer Uni-
hockey-Nationalspielerin gefeiert hat.
Am Ende einer begeisternden Heim-WM
in Neuenburg gewann sie mit ihrem Team
die Silbermedaille. Im Halbfinal gegen
Tschechien war den Schweizerinnen eine
denkwürdige Aufholjagd gelungen. In den
letzten zwei Minuten der regulären Spielzeit
machten sie einen 2:6-Rückstand wett, Stella
gab den Assist zum 7:6-Siegtor. Und im Final
waren die Schweizerinnen mit dem Serien-
weltmeister Schweden bis in die Verlänge-
rung ebenbürtig.
In dieser Verlängerung passierte, was
Tanja Stella nicht aus dem Kopf will: das
Bild, wie ihre Gegenspielerin den Ball im
Netz versenkt. 2:3 – aus und vorbei! Der Frust
über das verpasste Gold ist bei Stella grösser
als die Freude über das gewonnene Silber.
«Wenn man gegen Schweden spielt, weiss
man, wie wenig Chancen man hat. Diesmal,
mit der Euphorie aus dem Tschechien-Spiel,
wäre so viel möglich gewesen. Hätte ich in
der letzten Situation anders spekuliert, hätte
ich die Niederlage verhindern können.»
Tanja Stella hat Mühe, den Ausgang der
WM zu akzeptieren – und fühlt sich mit
ihrem Gefühlschaos allein gelassen. Uni-
hockey ist ein Sport für Amateure. Zeit, um
die Finalniederlage mit dem Team zu verar-
beiten, blieb keine. Am Dienstagmorgen, gut
36 Stunden nach dem WM-Final, musste
Stella bereits wieder an ihrer Arbeitsstelle
sein, wie ihre Teamkolleginnen.
Stella arbeitet als kaufmännische Allroun-
derin in einem Malergeschäft. In einem
100-Prozent-Pensum. Für die WM-Teil-
nahme musste sie zwei ihrer vier Ferien-
wochen beziehen. Profisportlerin war Stella
auch dann nicht, als sie in Schweden spielte,
dem Heimatland des Unihockeys. Vierein-
halb Saisons hatte sie beim Verein Endre auf
der Insel Gotland verbracht. Abends trai-
nierte sie, morgens um 7 Uhr begann sie mit
ihrer Arbeit in einer Produktionsfirma. Sie
stand am Fliessband, schraubte Teile zusam-
men oder räumte Regale ein. Und das, um
den Traum vom professionellen Unihockey
leben zu können. Aber Unihockey, das ist
Tanja Stellas Leben. Eine Woche Ferien, in
der sie nur die Beine hochgelagert hat: Das
habe es noch nie gegeben.
Und das alles für Gottes Lohn? Stella sagt:
Wenn sie die Ferien, die sie einsetze, mit
dem verrechne, was sie im Unihockey an
materiellen Entschädigungen erhalte,
komme sie ungefähr auf eine schwarze Null.
Für das WM-Silber sei wohl vom Verband
keine Prämie für die einzelnen Spielerinnen
vorgesehen. «Dafür haben wir das Budget
Die Sportwoche Von Benjamin Steffen
Häberli weg: Alles bleibt ähnlich, wir machen keine Fehler
Drei unendlich wahre Geschichten.
URS FLÜELER / KEYSTONE
Am 2. Juli sagte Thomas Bickel, der Sport-
chef des FC Zürich, über den neuen Mittel-
feldspieler Denis Popovic: «Mit Popovic
haben wir die gesuchte Position im zentralen
Mittelfeld optimal ausfüllen können.» Am
20. Juli sagte Bickel in der NZZ: «Popovic ist
ein verkappter Zehner.» Und am 24. August:
«Für einen richtigen ‹Zehner› fehlt ihm ver-
mutlich etwas.» Am 27. September fragte
«Blick» Bickel betreffend Popovic: «Haben
Sie ihn überschätzt?» Bickels Antwort: «Ich
möchte auf keine Einzelkritiken eingehen.»
Am vergangenen Montag sagte der FCZ-
Präsident Ancillo Canepa in der NZZ: «Popovic
hat unsere Erwartungen noch nicht erfüllt.
Vielleicht hat er die Liga unterschätzt.»
Hat Popovic die Liga unter- oder der FCZ
Popovic überschätzt?
Remo Meyer, der Sportchef des FC Luzern,
hat sich seit 2018 von drei Trainern getrennt,
von Markus Babbel und René Weiler, am
41
im Vorbereitungscamp auf Gran Canaria zu
URS LINDT / FRESHFOCUS
sehr strapaziert.»
Tanja Stella
Vor zwei Jahren war Tanja Stella eigentlich
schon zurückgetreten. Sie suchte nach einer Die 31-Jährige aus
Ersatzbeschäftigung, spielte mit ihrem Vater Nänikon im Kanton
in einem Laientheater. Doch nach einer Zürich hätte eigent-
Weile fiel ihr die Decke auf den Kopf. «Mir lich Kunstturnerin
fehlte die Struktur vom Unihockey. Ich werden können. Als
drohte in ein Loch zu fallen», sagt Stella. Das Schülerin war sie in
Unihockey war für sie immer auch so etwas dieser Sportart auf
wie ein Anker im Leben, vor allem in jener dem Sprung in das
Zeit, als ihre Mutter den Kampf gegen den Nationale Leis-
Krebs verlor. tungszentrum in
Und so dauerte es nicht lange, bis Stella in Magglingen, sie
ihren Sport zurückkehrte. Aber sie brauchte machte auch Ballett.
eine neue Herausforderung und trainierte Doch schliesslich ist
zunächst mit den Männern des UHC Pfan- aus ihr eine zwei-
nenstiel. Sie stand gar davor, im damaligen kampfstarke Uni-
Nationalliga-B-Team eine Spielerlizenz zu hockeyspielerin
lösen. Doch der Verband legte das Veto ein. geworden. Mit den
Er befürchtete, das Beispiel Stella könnte Kloten-Dietlikon
Schule machen und noch weitere Frauen Jets gewann sie
wollten in die Männer-Liga wechseln. Also mehrere Meister-
schloss sich Stella dem Frauenteam der Klo- und Cuptitel und
ten-Dietlikon Jets an, mit dem sie in früheren auch einmal den
Jahren grosse Erfolge erreichte. Damals Europacup. Zuletzt
wusste Tanja Stella noch nicht, ob sie an der trainierte sie 17
Heim-WM überhaupt dabei sein wollte – und Stunden pro Woche.
dann, plötzlich, war sie mittendrin.
So etwas wie das dramatische Spiel gegen
Tschechien werde sie nie vergessen, sagt
Stella. «Alles lief gegen uns. Es war wie in
einer unruhigen See. Wir paddelten und
paddelten und versuchten, endlich die rich-
tige Welle zu erwischen. Doch immer wieder
schluckten wir Wasser.» Dann aber sei etwas
passiert, das habe sie gespürt. Die Tschechin-
nen hätten gemeint, bereits gewonnen zu
haben. «Und auf unserer Seite ist nochmals
eine Welle aufgepoppt. Ein Save von Moni,
ein Hammer von Flu. 4500 Zuschauer, die
nun an das Wunder glaubten», erinnert sich
Stella, «da hat es dem Stadion fast den
Deckel gelupft.»
Unterdessen ist wieder Ruhe eingekehrt.
Weihnachten reisst Tanja Stella aus dem
Flow der letzten Wochen. Vielleicht, sagt sie,
finde sie Antworten darauf, welches ihre
nächsten Ziele sein könnten. Denn mit dem
Nationalteam ist es für sie wahrscheinlich
vorbei. Nach mehr als hundert Länderspie-
len denkt sie an den Rücktritt. Diesmal soll er
endgültig sein. Doch auf eines hofft sie ganz
fest: auf ein baldiges Treffen mit dem WM-
Team – um mit ihrem Gefühlschaos nicht
mehr ganz so allein zu sein.
Am Dienstagmorgen,
gut 36 Stunden nach
dem WM-Final, musste
Stella bereits wieder an
ihrer Arbeitsstelle sein,
wie ihre Kolleginnen. So nahe dran: Tanja Stella im WM-Final gegen Schweden. (Neuenburg, 15. Dezember 2019)
Er hat Routine bei letzten Montag von Thomas Häberli. Tags Wir haben uns aber nicht auf die Person ein-
Trennungen von darauf sagte Meyer auf die Frage, was er bei gelassen, keinesfalls, wir haben uns auf eine
Trainern: Remo der nächsten Trainersuche anders angehen klassische Musik-Partnerschaft eingelassen.»
Meyer, Sportchef im möchte: «Es wird wieder ähnlich ablaufen.» Haben wir FCZ, FCL und HCD über-
FC Luzern. Hat Meyer alle Trainer überschätzt oder schätzt? Hauptsache, uns trifft keine Schuld.
(17. Dezember 2019) der FCL Meyer? Wenn die Davoser wieder einmal einen
Wie hat der HC Davos Peter Buser einge- verkappten Sponsor suchen, wird es ähnlich
schätzt? Ich möchte auf keine Einzelkritiken ablaufen. Dem Luzerner Sportchef wie-
eingehen, aber Buser ist dieser Mann, der derum fehlt vermutlich etwas für eine rich-
dem HCD Geld zufliessen lässt und eine tige schillernde Figur. Aber von den Kandi-
untertänige Frau wünscht (vgl. Seite 40). Auf daten für die nächste klassische FCL-Trainer-
SRF sagte der HCD-Präsident Gaudenz Partnerschaft hat er eigentlich keinen
Domenig über die Kontaktaufnahme mit schlechten Eindruck in einem gewissen Sinn.
Buser: «Wir haben eigentlich keinen schlech- Die Person, auf die sich die Luzerner nicht
ten Eindruck gehabt in einem gewissen einlassen, wird die gesuchte Position optimal
Sinn.» Und nochmals Domenig, nachdem ausfüllen können. Erfüllt sie die Erwartun-
ihm die SRF-Sequenz vorgespielt worden gen nicht, hat sie die Liga unterschätzt.
war, in der eine Frau neben Buser am Boden So läuft’s also im Schweizer Sport.
sitzen muss: «Wir haben gewusst, dass er in Dass der FCZ, der FCL und der HCD viel-
einem gewissen Sinn eine schillernde Figur leicht noch extremer sind, als ich gedacht
ist. Dass er vielleicht noch extremer ist, als habe, scheint der Fall zu sein.
wir gedacht haben, scheint der Fall zu sein. O du fröhliche. In einem gewissen Sinn.
42
Getriebene
Die Steak-Fussballer
Im Fussball lässt sich exempla-
risch beobachten, was Her-
dentrieb bedeutet. Tattoos?
Hatte früher niemand, haben
heute alle. Frisuren? Hatte
früher niemand, haben heute
alle. Den nächsten Trend
setzte Franck Ribéry, als er vor
einem Jahr in einem Restau-
rant in Dubai (der Trenddesti-
nation für Fussballer) ein in
Blattgold verkleidetes Steak
Fussball Klub-WM Fussball Bundesliga
Liverpool ist
Weltmeister
1 Liverpool
99. Firmino.
0 0
Flamengo
n.V.
Der FC Liverpool ist erstmals der
Gewinner der Klub-Weltmeister-
schaft. Im Final des Knock-out-
Turniers in Katar bezwang Liver-
pool den Südamerika-Champion
Flamengo Rio de Janeiro 1:0 nach
Verlängerung.
Das Tor erzielte ein brasiliani-
scher Stürmer gegen seine Lands-
leute: Roberto Firmino traf nach
99 Minuten, also in der 9. Minute
der Verlängerung, auf hervor-
ragende Vorarbeit des Senegale-
sen Sadio Mané.
Liverpool hatte mit Flamengo
mehr Mühe als mit vielen Gegnern
in der englischen Meisterschaft.
Flamengo stellte eine Mischung
aus jungen Spielern und Routi-
niers, die aus dem europäischen
Fussball zurückgekehrt sind. Zu
diesen zählen Rafinha, Filipe Luis
und Goalie Diego Alves, die viele
Saisons für Bayern München be-
ziehungsweise Atlético Madrid
und Valencia spielten. Alle drei
sind mittlerweile 34 Jahre alt.
Im Herbst 2005 verlor Liver-
pool den Final der Klub-WM in
Japan gegen FC São Paulo 0:1.
Jetzt ist aber auch dieser begehrte
Titel in der Sammlung der Liver-
pooler. Einen ganz kleinen Teil
des Liverpooler Triumphs darf
Xherdan Shaqiri für sich bean-
spruchen. Er wurde von Trainer
Jürgen Klopp für die letzte Minu-
te der Verlängerung aufs Feld
geschickt. (sda)
Biathlon Weltcup
Häcki erstmals auf dem Podest
1. Eckhoff (NOR) 29:41,6
2. Tandrevold (NOR) + 38,1
3. Häcki (SUI) + 46,0
Weitere Schweizerinnen: 18. Aita
Gasparin. 40. Selina Gasparin.
47. Elisa Gasparin. 52. Cadurisch.
Die Schweizer Biathletin Lena
Häcki feierte beim Weltcup im
französischen Le Grand-Bornand
den ersten Podestplatz ihrer Kar-
riere. Als Dritte musste sie sich
nur zwei Norwegerinnen geschla-
gen geben. In der Verfolgung
verbesserte sich Lena Häcki mit
lediglich zwei Schiessfehlern vom
11. auf den 3. Platz. Die 24-Jährige
ist nach Selina Gasparin erst die
zweite Schweizerin auf einem
Weltcup-Podest. Die Olympia-
Zweite Gasparin hatte vor fast
vier Jahren in Antholz ihren vier-
ten und bisher letzten Top-3-
Platz herausgelaufen.
«Es ist ein unglaublich gutes
Gefühl, erstmals alleine auf dem
Podest zu stehen», sagte Häcki.
Sport
Bayern geht als Dritter in die Pause
2 FC Bayern
86. Zirkzee 1:0. 89. Gnabry.
Wolfsburg
Joshua Zirkzee ist ein Mann der
späten und der entscheidenden
Tore. Schon am letzten Spieltag in
der Bundesliga traf der erst
18-jährige Niederländer – und
sicherte den Bayern damit einen
späten Sieg gegen den SC Frei-
burg. Im Match gegen den VfL
Wolfsburg am Samstag, dem letz-
ten vor der Winterpause, traf er in
der 85. Minute zur Bayern-Füh-
rung, ehe Serge Gnabry den
Match entschied.
Damit sorgte der Angreifer,
den der Sportchef Hasan Saliha-
midzic als einen der talentiertes-
ten jungen Spieler im Kader der
Bayern bezeichnet hatte, nicht
nur für einen kurzfristigen Erfolg:
Er sorgte auch dafür, dass Bayern
München aussichtsreich im Titel-
kampf bleibt. Nur vier Punkte be-
trägt die Differenz auf den Leader
Leipzig, der trotz einem Rück-
stand gegen Augsburg mit 3:1
gewann.
So behauptete Leipzig die Spit-
zenposition vor der Mönchen-
gladbacher Borussia, die gegen
Hertha BSC im Abendspiel antrat.
Die Equipe des Trainers Marco
Rose kam trotz einer recht enga-
gierten zweiten Hälfte bloss zu
einem 0:0 – und vergab damit die
Möglichkeit, nach Punkten mit
Leipzig gleichzuziehen.
Ebenso hatte am Vortag Borus-
sia Dortmund die Chance verge-
ben, näher an die Spitze heranzu-
Herbeigesehnt habe sie den
Podestplatz nicht. «Ich wusste,
dass er kommen wird, wenn ich
weiter konsequent arbeite.»
Von einem Exploit kann in
ihrem Fall tatsächlich nicht
mehr gesprochen werden. Waren
«Ein unglaublich gutes Gefühl»: Lena Häcki (rechts), Kolleginnen.
Zahl
42 500
ass. Das Video ging viral, in dem
der Restaurantinhaber dasteht
und Arme und Hand zu einer Art
Schwan formt und so das Salz
auf das Steak träufelt. Zurzeit
erreichen uns Bilder von Blaz
Kramer (FC Zürich), Kevin Bua So viel Euro Preisgeld gewann
(FC Basel), Pascal Schürpf und der Reiter Martin Fuchs am
Marius Müller (beide FC Luzern). Samstag in London. Nach dem
Wo sind sie? Natürlich in Dubai. Sieg am vergangenen Sonntag
Was machen sie da? Natürlich im Grand Prix von Genf ent-
essen sie aus Schwanenhand schied der Europameister auch
gesalzene Steaks. (sta.) das Weltcup-Springen für sich.
Mann der späten Tore: Joshua Zirkzee jubelt nach seinem Führungstreffer.
Die Performance rücken. 1:2 unterlagen die Dort-
munder trotz einer Führung
des BVB gehört zu gegen Hoffenheim.
den grossen Die Performance des BVB ge-
Rätseln dieser hört zu den grossen Rätseln die-
ser Vorrunde. Wie kommt es, dass
Vorrunde. ein so talentiertes Team so häufig
unter den Möglichkeiten bleibt,
weil es seine Chancen nicht nutzt,
weil es ineffizient ist? Auf Rang
ihr bisheriges Bestresultat – ein Weltspitze. Zum Auftakt dieser
4. Platz 2016 in Östersund – oder Saison verpasste sie das Podest in
der 8. Platz in der Verfolgung bei Östersund durch drei Fehler mit
Olympia 2018 noch eher Ausreis- den letzten drei Schüssen noch.
ser nach oben, etablierte sich Zudem war sie massgeblich an
Häcki in der letzten Saison mehr den beiden Podestplätzen der
und mehr in der erweiterten Schweizer Frauenstaffel in die-
sem Jahr beteiligt.
In den französischen Alpen be-
hielt die Obwaldnerin die Nerven.
VIANNEY THIBAUT / NORDIC FOCUS / FRESHFOCUS
Liegend und stehend liess sie je
eine Scheibe stehen, doch beim
letzten Schiessen blieb sie fehler-
frei und preschte damit vom 5. in
den 3. Rang. Diesen verteidigte
die starke Läuferin in der Schluss-
runde gegen niemand Geringeren
als die Gesamt-Weltcupsiegerin
Dorothea Wieder souverän.
Hinter Häcki sicherten sich
auch Aita Gasparin (18.), die eben-
falls ihr bestes Weltcup-Ergebnis
erreichte, und Selina Gasparin
(40.) Punkte.
Diese verpassten sämtliche
Schweizer Männer, die sich be-
reits im Sprint vom Freitag erheb-
liche Rückstände eingehandelt
hatten. (sda)
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Verlierer
Mathieu Dossevi, Fan
Ärgerlich, wenn man während
dem Clásico arbeiten muss. Das
dachte sich auch Mathieu Dos-
sevi, Spieler von Toulouse. Sein
Team trat just am Mittwoch
gegen Lyon an, Dossevi sass auf
der Bank, was lag also näher, als
sich Barça - Real auf dem Handy
anzuschauen? Sein Pech war,
dass ihn Fans dabei erwischten.
Viel Ärger. Mittlerweile hat sich
Dossevi entschuldigt. (cen.)
SVEN SIMON / IMAGO
Bundesliga
17. Runde: Bayern München -
Wolfsburg 2:0. Leipzig - Augsburg 3:1.
Mainz 05 - Bayer Leverkusen 0:1.
Schalke 04 - SC Freiburg 2:2.
FC Köln - Werder Bremen 1:0.
Hertha Berlin - Mönchengladbach 0:0.
Freitag: Hoffenheim - Borussia
Dortmund 2:1.
Sonntag: Düsseldorf-Union Berlin (15.30).
Paderborn - Eintracht Frankfurt (18.00).
1. Leipzig 17 37 10. Augsburg 17 23
2. Gladbach 17 35 11. U. Berlin 16 20
3. Bayern 17 33 12. H. Berlin 17 19
4. Dortmund 17 30 13. Frankfurt 16 18
5. Schalke 04 17 30 14. Mainz 05 17 18
6. Leverkusen 17 28 15. 1. FC Köln 17 17
7. Hoffenh. 17 27 16. Bremen 17 14
8. Freiburg 17 26 17. Düsseldorf 16 12
9. Wolfsburg 17 24 18. Paderborn 16 9
Dortmund eine Halbzeit lang
exquisiten Tempofussball gezeigt
hatte.
Der Trainer Lucien Favre
wurde zwar recht deutlich, er
sprach von einer unnötigen Nie-
derlage, er wies ebenso darauf
hin, dass sein Team den Match
nicht sonderlich intelligent ge-
staltet habe: «Wir schiessen,
wenn wir flanken sollen, und pas-
sen, wenn wir schiessen sollen.»
So ist der Aufschwung der letzten
Wochen innert weniger Tage wie-
vier mit 30 Punkten sind die Dort- der verpufft.
munder zwar noch nicht vollends Es geht also weiter auf und ab
abgeschlagen, auch halten sie für Lucien Favre. Die Frage nach
Tuchfühlung zu ihrem alten seinem Anteil an der Saisonleis-
Widersacher Bayern München,
der als Dritter drei Punkte mehr
tung wird zweifellos bald wieder
gestellt werden, doch in einer
verzeichnet. Doch die 1:2-Nieder- solch irrationalen Hinrunde liegt
lage in Hoffenheim war noch die Verantwortung nie beim
weniger erklärlich als der Ein- Coach allein.
bruch gegen Leipzig beim 3:3, als Stefan Osterhaus, Berlin
Eishockey National League
Serge Pelletier zu Lugano
Eigentlich hat der HC Lugano im Dass den Luganesi nun kein ande-
Jahr 2019 ja alles unternommen, rer Name eingefallen ist als Pelle-
um sich neu zu erfinden. Fast tier, zeugt davon, dass sie ihre
alles wurde ausgetauscht: der Rückwärtsgewandtheit auch mit
Trainer, der Sportchef, der CEO. dem neuen Management nicht
Aber jetzt, nach ein paar Monaten haben ablegen können.
im sportlichen Gegenwind, ist der Pelletier, 54, arbeitet seit drei
Klub wieder in sein altes Verhal- Jahrzehnten in der Schweiz, zu-
tensmuster zurückgefallen. Der letzt war er in der Swiss League
mit dem chronisch unruhigen für La Chaux-de-Fonds aktiv ge-
Klubumfeld nicht vertraute Trai- wesen. Dort war sein Vertrag im
ner Sami Kapanen wurde nach Frühjahr nicht mehr verlängert
einer schmählichen Derbynieder- worden. Sein Leistungsausweis
lage gegen Ambri-Piotta am Mitt- ist eher überschaubar, aber der
woch geopfert. Und am Samstag- freundliche, joviale Universitäts-
morgen präsentierte Lugano als abgänger ist ein geschickter Netz-
Nachfolger einen alten Bekann- werker – was ihm immer wieder
ten: Serge Pelletier. Der Franko- prestigeträchtige Jobs verschafft.
kanadier arbeitete schon von Der neue Sportchef Hnat
1989 bis 2000 im Verein, als Domenichelli setzt auf eine
Nachwuchscoach und Assistent Seilschaft aus seiner kanadischen
der ersten Mannschaft. Heimat. Neben Pelletier sind auch
Dass sich die Macher in Lugano die Assistenten Di Pietro und
an ehemalige Arbeitnehmer erin- Cookson Kanadier. Serge Pelletier
nern: Die Masche hat System. erhielt vorerst einen Vertrag bis
Allein seit der Jahrtausendwende zum Saisonende. Sein Einstand
hat Lugano vier Trainer re- missglückte, Lugano verlor am
zykliert: Jim Koleff, Larry Huras, Samstag gegen Davos mit 2:3.
John Slettvoll und Greg Ireland. Nicola Berger
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Aufgefallen
Ski alpin
Beide
Abfahrten
abgesagt
Das schlechte Wetter verhinderte
am Samstag sowohl die Durch-
führung der Weltcup-Abfahrt der
Männer in Val Gardena als auch
diejenige der Frauen in Val
d’Isère. Diese soll heute Sonntag,
11 Uhr, anstelle der Kombination
stattfinden. Allerdings sind die
Wetterprognosen wiederum
nicht vielversprechend: vierzig
bis sechzig Zentimeter Neu-
schnee werden erwartet. Ob,
wann und wo allenfalls die
Kombination nachgeholt werden
wird, steht noch nicht fest. Die
nächste Möglichkeit bestünde im
Januar in Zauchensee.
Anhaltende Schnee- und Re-
genfälle liessen auf der Saslong
für die Männer auch kein Rennen
auf verkürzter Strecke zu. In Val
Gardena fielen in der Nacht auf
Samstag im oberen Strecken-
abschnitt rund zwanzig Zenti-
meter Neuschnee. Auch zum Zeit-
punkt der Absage am Morgen
schneite es noch, während es im
Zielbereich regnete. Durchge-
hend wurde auf der Piste auch
mit Maschinen gearbeitet, letzt-
lich zeichnete sich aber für den
weiteren Tag kein günstiges Wet-
terfenster ab. Schon tags zuvor
hatte der Super-G wegen des
Nebels nur mit grösster Mühe und
starker Verzögerung durchge-
führt werden können.
Für die Männer geht es heute
Sonntag mit dem Riesenslalom in
Alta Badia weiter, es folgt ein Par-
allel-Riesenslalom am Montag.
Wann und wo die Abfahrt nach-
geholt wird, ist noch unklar. (sda)
Sport im TV
Ski alpin
9.45 SRF 2: Riesenslalom Männer,
1. Lauf, Alta Badia.
11.00 SRF 2: Kombination Frauen,
Super-G, Val d’Isère.
12.55 SRF 2: Riesenslalom Männer,
2. Lauf, Alta Badia.
13.55 SRF 2: Kombination Frauen,
Slalom, Val d’Isère.
Biathlon
12.05 SRF 2: Massenstart Männer,
Le Grand-Bornand.
17.00 SRF 2: Massenstart Frauen.
Ski nordisch
14.55 SRF 2: Skispringen, Engelberg.
19.30 SRF 2: Langlauf, Planica. Team-
Sprint (Teilaufzeichnung).
Skiakrobatik
17.30 SRF 2: Skicross, Innichen.
Fussball
17.30 Rai 1: Supercup Italien. Juventus
Turin - Lazio Rom.
Allgemein
18.00 SRF 2: Sportpanorama plus.
18.30 SRF 2: Sportpanorama.
Studiogast: Vladimir Petkovic.
Sport Alle Ergebnisse
im Internet unter
nzz.ch/sport
43
Zitiert Entdeckt
Johannes Thingnes Bö, Sieger
Der Biathlon-Star Johannes
Thingnes Bö trat am Samstag
«Das ist dumm, Carlo Ancelotti, Groundhopper
60 ist der Trainer,
kein Alter, aber doch
elf Tagen entlassen.
Ideal eigentlich,
um in Ruhe Panet-
zur Verfolgung in Le Grand Bor-
nand an. Das Publikum trieb
aber nicht ihn, sondern die fran-
muss ich sagen, das langsam die Phase im
Leben, in der man
sich gern ein bisschen
tone zu essen,
begleitet von
zwei, drei Glä-
zösischen Athleten mit ohren-
betäubenden Chören an: «Allez
les bleus». Bö nahm es mit
ist dumm!» Zeit nimmt für sich
selber. Nicht so Ance-
lotti. In den letzten zehn
sern Spumante.
Aber nein: Am
Samstag hat
Humor. Auf Instagram deutete Jahren hat er Juve, Milan, Ancelotti
er die Chöre um. Er schrieb:
Lucien Favre, der Trainer von Borussia Dortmund, Chelsea, Paris St.-Germain, Everton über-
#allezlesboe. Dann gewann er äussert sich nach dem 1:2 gegen Hoffenheim nicht Real, die Bayern und Napoli nommen.
das Rennen souverän. (sta.) gerade hymnisch über seine Mannschaft. trainiert. Dort wurde er vor Salute. (cen.)
Skispringen Engelberg
Ammanns flüchtiges Glück
«In meinem Alter»,
URS FLÜELER / KEYSTONE
1. Stoch (POL) 288,7
2. Kraft (AUT) 287,0 sagt der
3. Geiger (GER) 277,6 Skispringer Simon
15. Peier (SUI) 258,3. 21. Ammann
Ammann, «zählt
(SUI) 244,7. – Nicht im Final: der Moment.»
36. Deschwanden (SUI) 112,5.
43. Peter (SUI) 104,2.
die Erwartungen allerdings ge-
Wer in recht fernen Zeiten vier- stiegen. Damit muss der Romand
mal Olympiasieger wurde, den zurechtkommen, noch gelingt
letzten Weltcup-Sieg vor fünf Jah- ihm dies nicht in jeder Situation.
ren errungen hat, 38-jährig ist, Er hatte denn auch das Gefühl, im
genügend berufliche Alternativen Final die Emotionen nicht ganz
hätte, aber noch immer von den im Griff gehabt zu haben: «Ange-
Schanzen springt – der muss in sichts der Rückenwind-Verhält-
die Sportart vernarrt sein. Dass nisse attackierte ich zu sehr.»
das auf Simon Ammann fast Über Reserven verfügt Peier beim
exemplarisch zutrifft, weiss man Timing des Absprungs und in der
längst. Gestern in Engelberg war Sprungauslösung, bei der Flug-
seine Begeisterung für das Ski- phase gibt es nichts auszusetzen
springen aber fast schon grotesk – und landen kann er besser als im
und doch auch faszinierend. ersten Durchgang, wo der Tele-
Rang 21 hatte der Toggenburger mark misslang.
erreicht und die ersehnte erste Kamil Stoch und Stefan Kraft
Top-10-Klassierung des Winters lieferten sich ein hochklassiges
klar verpasst, im Final war er vier Duell um den Sieg, der Pole ver-
Ränge zurückgefallen. Doch der mochte im Final den Angriff des
erste Sprung, der hatte es ihm an- Österreichers knapp zu parieren,
getan. Er übernahm kurz und mit Kraft übernahm dafür die Füh-
grossem Jubel die Führung, profi- rung im Weltcup. Das ist insofern
tierte allerdings auch von sehr «Volles Rohr»: Simon Ammann nach seinem ersten Sprung in Engelberg. bemerkenswert, als der Vier-
guten Verhältnissen. Als Einzigen schanzentourneesieger von 2015
trug ihn ein Hauch Aufwind. noch nie besser in eine Saison ge-
Noch eine Stunde später schien gebraucht.» Wegen eines schwä- gehen und die Frage aufwerfen, lösen kann. Es menschelt – und startet ist. Das Springen fand auf
sein Körper voller Adrenalin zu cheren Finalsprungs blieb dann ob man sich im Leistungssport das gefällt mir.» einem weissen Band auf grüner
sein, die Sätze über seinen ersten zwar nicht mehr so viel davon nach einem gesamthaft doch Auch Killian Peier, der zweite Wiese statt, und trotzdem war es
Sprung überschlugen sich. «Vol- übrig, doch er wischte das in bes- bloss durchschnittlichen Auftritt Schweizer, der es in den Final von den Bedingungen her der bis-
les Rohr» sei er drauflosgegangen, ter Simon-Ammann-Manier weg. einen solchen Ausbruch der Emo- geschafft hatte, büsste mit dem her fairste Wettkampf der Saison.
«mega» habe er sich beim Schan- «In meinem Alter», sagte er, tionen erlauben darf. Der Schwei- zweiten Sprung Terrain ein. Rang Ähnlich wie im Fall von Ammann
zentisch rausgehauen, ein Wil- «zählt der Moment.» Der kann in zer Nationaltrainer Ronny Horn- 15 ist seine zweitbeste Klassie- könnte es ein flüchtiges Glück ge-
lenssprung von «120 Prozent» sei seinem Fall durchaus auch ein schuh findet: Ja. «Es ist doch rung des Winters, nach dem zwei- wesen sein, für das Springen am
das gewesen und ja: «Dieses Er- flüchtiger sein. Man könnte mit schön zu sehen, was ein solcher ten Rang von Nischni Tagil und Sonntag ist Regen angesagt.
folgserlebnis habe ich unbedingt Ammann nun streng ins Gericht Sprung in Simons Alter noch aus- WM-Bronze im letzten Jahr sind Andreas Kopp, Engelberg
Eishockey National League
Der ZSC wird zu Hause gedemütigt
2 ZSC Lions selber immer wieder. Am Abend
WALTER BIERI / KEYSTONE
7. Trutmann. 15. Diem. nach dem starken 3:0 in Freiburg
Eishockey NLA
passte nichts mehr zusammen.
6 Und dies gegen ein verunsicher- 31. Runde: Bern - Ambri 2:3 (n. P.).
Lausanne Biel - SCL Tigers 2:5. Davos - Lugano 3:2.
9. Genazzi. 20. Almond. 23. Jooris. tes Lausanne, das zuvor fünfmal Genf/Servette - Fribourg-Gottéron 3:0.
28. Kenins. 42. Jeffrey. 44. Moy. in Folge verloren hatte. Doch die- Rapperswil-Jona Lakers - Zug 1:4.
ser Gegner schaffte es, auswärts ZSC Lions - Lausanne 2:6.
Es gehört zum guten Ton, dass beim Leader schon nach 23 Minu-
1. ZSC Lions 30 54
man sich in der Adventszeit ten einen Goaliewechsel zu er-
grosszügig gibt. So kam die Stif- zwingen. Der Finne Joni Ortio 2. Genf/Servette 31 54
tung Right To Play, die benachtei- musste Lukas Flüeler Platz ma- 3. Zug 28 53
ligten Kindern die Chance gibt, chen – und dieser war nach weni- 4. Davos 28 51
Sport zu treiben, wie in den Vor- ger als fünf Minuten ebenfalls ein
5. Biel 30 46
jahren in den Genuss einer Check- erstes Mal geschlagen.
6. Lausanne 30 45
übergabe seitens der ZSC Lions. 4:2 führten die Romands noch
Übergeben wurde der Betrag von vor Spielhälfte, dann erhöhten sie 7. SCL Tigers 29 43
15 000 Franken an die Stiftungs- in Unterzahl auf 5:2 und in Über- 8. Bern 30 41
Botschafterin Martina Hingis, die zahl auf 6:2 – die ZSC Lions wur- 9. Ambri-Piotta 30 40
das Weihnachtsgeschenk freudig den vor fast vollem Haus ge- 10. Fribourg-Gottéron 29 38
entgegennahm. Verteilen Geschenke: Simon Bodenmanns (rechts) ZSC Lions. demütigt. Das war alles andere als
11. Lugano 31 37
Gleichzeitig diente die Partie die Vorstellung, die sie sich ge-
12. Lakers 30 32
gegen den Lausanne HC, das wünscht hatten. Nach einer Vier-
letzte Heimspiel des Jahres, als mit dem Schweizer WM-Slogan glücklich, dass sie das schwierige telstunde war ihre Herrlichkeit
Anlass, die Werbetrommel für die «Let’s make History» auf dem Rü- Jahr 2019 weit weg vom Trenn- vorbei, danach machten sie dem
Heim-WM im Mai zu rühren, die cken. Diese Aussage unterschrei- strich der Tabelle beenden. Das Gegner nur noch Geschenke. Eine
im Hallenstadion und in Lau- ben die ZSC Lions gern, Ge- ist schon viel nach dem Absturz letzte Chance, das Jahr erfolg-
sanne stattfinden wird. Die Zür- schichte in Form eines Titels im Frühling – und dafür, dass der reich zu beenden, gibt es noch.
cher spielten in modifizierten möchten sie jedes Jahr schreiben. Christbaum nicht bis in den Him- Am Montag in Biel.
Nationalmannschafts-Dresses Vorderhand aber sind sie ganz mel wächst, sorgen die ZSC Lions Ulrich Pickel, Zürich
Freizeitsport
Mit dem Bike unbekannte
Landschaften entdecken
Wer der Kälte entfliehen will,
GETTY IMAGES
findet in Israel, Thailand oder
Malawi wunderbare Biketrails.
Für Touren im Ausland nimmt
man am besten das eigene Rad
mit, die Qualität der Mietvelos
schwankt stark.
Von Caroline Doka
In Israel durchs
Schluchtenlabyrinth
Route: Wadi Perazim auf der Amiaz-Hoch-
ebene (Abzweiger ab Strasse 90 bei der
Industrieanlage Dead Sea Works am Südende
des Toten Meeres)
Kilometer: 4
Höhenmeter: 50
Anforderung: einfach
Reisezeit: Früher Frühling, später Herbst
Israel erlebt einen Bikeboom. Auf ausgeschil-
derten Routen kann man die Hügel, Wüsten,
historischen und modernen Städte und bibli-
schen Stätten erkunden. Zu den spektaku-
lärsten Abschnitten des 1100 km langen
Israel Bike Trails gehört das Wadi Perazim in
der Judäischen Wüste zwischen Jerusalem
und dem Toten Meer. Der Einstieg ins Wadi,
das über Jahrtausende von winterlichen
Sturzbächen in die Amiaz Hochebene gefres-
sen wurde, liegt an seinem Südende auf 250
Meter unter Meeresspiegel. Auf einem ausge-
schilderten Trail fährt man immer tiefer ins
Schluchtenlabyrinth, vorbei an bizarren Fels-
formationen, weissen, mehlig weichen
Wänden mit faszinierenden Mustern aus
farbigen Sedimentschichten und den ein-
sturzgefährdeten Flour Caves. Der Canyon
wird enger und tiefer, zwischen den Fels-
wänden steht die Hitze. Beglückt surft man
durchs Schluchtenlabyrinth, bis es einen
nach zwei Kilometern in einem weiten Fels-
kessel ausspuckt. Dann geht es auf demsel-
ben Weg zurück zum Ausgangspunkt.
Inselhüpfen in
Südthailand
Route: Rundtour auf Kho Yao Noi
Kilometer: 35
Höhenmeter: 300
Anforderung: einfach-mittel
Reisezeit: November bis Mai
Ein Langboot fährt die Biker samt Velos
durch die schöne Phang Nga Bay mit ihren
vielen grünen Karstinseln und dem berühm-
ten «James Bond»-Felsen zur Insel Kho Yao
Noi. Dort geht es mit dem Bike auf Natur-
wegen ebenerdig durch Reisfelder, Kau-
tschukplantagen und schattige Wälder. Das
Innere der beschaulichen Insel ist hügelig,
der Aufstieg bei Streckenhälfte vor allem
Inspirierende
Nicht nur weisse Strände, son-
dern hügelige Landschaften
und schattige Wälder: Velo-
routen in Thailand.
wegen der tropischen Hitze anstrengend.
Doch die Schussfahrt auf einem kaum befah-
renen Strässchen hinunter zum Meer lässt
alle Mühen vergessen. Der Küste entlang rollt
man leichten Tritts zurück zum Ausgangs-
punkt – durch beschauliche Dörfer und ent-
lang weisser Strände.
Geheimtipp für gut
Trainierte in Malawi
Route: Likhubula – Skyline Path – Chisepo-
Hütte – Hütte Hope’s Rest– Mulanje-Town
Kilometer: 34
Höhenmeter: 1600
Anforderung: sehr schwer und steil, lange
Tragepassagen (Alternative: Umrundung,
120 km, technisch einfach)
Reisezeit: April bis Oktober
Südlich des Malawisees erhebt sich das
Mulanje-Massiv aus dem Shire-Hochland wie
ein Kuchen auf einer Tortenplatte. Mitten-
drin der Sapitwa, mit 3002 Metern der
höchste Berg Zentralafrikas. Ein Geheimtipp
unter Wanderern, Bikern hingegen
unbekannt. Die Flanken sind unsagbar steil,
gefragt sind Abenteurer mit Pioniergeist.
Nach Entrichtung der Eintrittsgebühr ins
Forestry Reserve geht es von Likhubula mit
geschultertem Bike in dreistündigem Auf-
stieg über den Skyline Path hoch zum Cham-
be-Basin, wo das Bikevergnügen beginnt.
Zwischen wilden Wiesen mit rosa Fingerhut,
Farnbäumen und duftenden Zedern
erstreckt sich ein Netz traumhafter alpiner
Trails. Für die Nacht stehen Selbstversorgern
einfache Berghütten zur Verfügung. Nach
weiteren zwei Stunden Anstieg mit Fahr-
und Tragepassagen ist die Chisepo-Hütte
(2220 m) am Fuss des Sapitwa erreicht. Am
nächsten Tag folgt die dreistündige Ab- und
Querfahrt zur gewarteten Hütte Hope’s Rest
(1980 m), wo man gerne eine weitere Nacht
verbringt. Dass der ultrasteile zweistündige
Abstieg über die Flanke nach Mulanje-Town
schlicht unfahrbar ist, verzeiht man dem
majestätischen Mulanje-Massiv gerne. Wer
Strapazen scheut, umrundet das Massiv auf
roten Erdpisten, die durch Teeplantagen,
kleine Dörfer und entlang der Grenze zu
Moçambique führen. Diese Tour gibt es neu
als organisierten Bike-Event.
NZZ am Sonntag 22. Dezember 2019
Sportberatung
Paolo Colombani
Künftige
Trends im
Bereich
Ernährung
D
ie Marktforscher
veröffentlichen
gegen Jahresende
ihre Vorhersagen
zu den Trends des
folgenden Jahres.
Für die Sparte Lebensmittel und
Nahrungsergänzungen im Sport-
und Fitnessbereich zeigen die
Analysen für das Jahr 2020 fol-
gende Trends:
• Protein. Die Nachfrage nach
Protein steigt weiter an. Molken-
protein ist und bleibt top. Dies
ergibt fachlich Sinn, denn es ist
das wirksamste unter den Protei-
nen. 20 bis 30 Gramm nach
einem intensiven Training sind
ideal für die Unterstützung der
Muskeln. Der Ruf nach pflanz-
lichen Proteinen wird grösser,
aber pflanzliches Protein ist
weniger wirksam als das tieri-
sche. Für den gleichen Effekt auf
die Muskeln braucht es bis zu 50
oder gar 100 Prozent mehr im
Vergleich zu tierischem Protein.
Wenn diese Tatsache bekannter
wird, dürfte die noch steigende
Nachfrage nach pflanzlichem
Protein nachlassen.
• Convenience-Food. Der
Wunsch nach einer einfachen
Ernährung ist gross. Conveni-
ence-Food, also fixfertig zuberei-
tete Lebensmittel, war lange ein
Unding. Zu Recht, denn die
frühen Convenience-Gerichte
bestanden oft aus stark verarbei-
teten Zutaten. Solche Zutaten
sind nährstoffarm und das resul-
tierende Lebensmittel nicht
hochwertig. Die Lebensmittel-
industrie hat aber reagiert. Man
findet mehr und mehr Conve-
nience-Produkte, die nur mini-
mal verarbeitet sind. Wenn wir
es nicht auf die Reihe kriegen,
mehrmals täglich Mahlzeiten aus
frischen Lebensmitteln zuzube-
reiten, dann sind hochwertige
Convenience-Produkte durchaus
eine Hilfe. Dies ist im Sport
häufig der Fall, wenn Arbeit und
Training so anspruchsvoll sind,
dass kaum mehr Zeit zum
Kochen bleibt.
• Functional Food. Lebensmittel
oder Nahrungsergänzungen mit
einem ernährungsphysiologi-
schen Mehrwert, verglichen mit