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Vorbemerkungen zu Begriffen und Methode 27

links und rechts; auf dieses Zentrum sind Gegenstände als Dinge bezogen
als erreichbare oder unzugängliche, als erwünschte oder zu meidende.
Je nachdem, wo idi stehe, von wo aus ich blicke, stellt sich die Welt
anders dar. Was eben noch links von mir war, ist nach einer Drehung
meines Leibes rechts, war vorn war, ist jetzt hinten. Die Richtungen ändern
sidi relativ zu meiner Bewegung, immer bleibt mein Leib der Mittelpunkt,
auf den der Raum in bestimmter Weise (perspektivisch) bezogen bleibt.
Was und wie ist dieser Raum, diese Worin und Woraufhin meiner Be-
wegung, in dem idi midi immer sdion vorfinde, in dem ich ,wohne', midi
verhalte, in dem ich Klänge, Farben, Formen, Düfte wahrnehme, sie hörend,
sehend, tastend, riechend erfasse, in dem ich die Dinge als groß oder klein,
nach oder fern, erreichbar oder unerreichbar erfahre?

§ 6 Lebenswelt und gelebter Raum I:


Vorbemerkungen zu Begriffen und Methode

Unsere Untersuchung zum Raum beginnt mit der Betraditung dieses kon-
kreten unmittelbar, präreflexiv erfahrenen Idi-jetzt-hier. Wir gehen aus
von dem, was Husserl „Lebenswelt" genannt hat, ein Konzept, das unter
dieser Bezeichnung zwar erstmals in dem 1936 veröffentlichten Teil der
„Krisis" auftaucht und in Beziehung zu Heideggers ontologischer Analyse
des In-der-Welt-Seins (1927) zu sehen ist, aber, wie Brand (1971, 16) an-
gibt, als Grundproblem der Phänomenologie mindestens schon in den
„Ideen" (1913) da ist (vgl. dazu auch Claesgens 1964, 9 ff. und Gadamer
1972, 190 ff.).
Es ist die Welt, die immer schon und immer fort ,νοη selbst' ist, in der
wir immer schon ganz selbstverständlich leben, die ansdiaulidi konkrete,
sinnvolle Welt, die vor jedem wissenschaftlichen Fragen, aber auch als
Grundlage jeden Fragens „vorausgesetzt" und vorgegeben ist.
Sie ist das „Universalfeld, in das alle unsere Akte, erfahrende, erken-
nende, handelnde hineingerichtet sind". (Husserl, Krisis 1962, 147). Ein
Grundzug dieser Welt ist ihre Vorgegebenheit in der Weise eines univer-
salen unthematischen Horizontes:
„In der Lebenswelt leben wir bewußtseinsmäßig immer; normalerweise
ist kein Anlaß, uns sie universal als Welt ausdrücklich thematisch zu machen.
Wir leben, ihr als Horizont bewußt, unseren jeweiligen Zwecken..."
(a.a.O., 459), den Berufszwecken und -interessen, dem wissenschaftlichen
und praktischen Handeln.
Husserl war der erste, der diese immer schon vorausgesetzte, unthema-
tische Welt, die Welt, die ich als Leibsubjekt unmittelbar erfahre, als philo-
sophisches Problem formuliert hat und ihre Selbstverständlidikeit verständ-
lich zu machen suchte. Die Vernachlässigung der Lebenswelt sah er als einen

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28 Umwelt und Raum in der phänomenologischen Psychologie

Hauptgrund für die „Krisis der europäischen Wissenschaften" an, die in


ihrer Befangenheit in der „objektivistischen", „äußerlichen" Weltbetrach-
tung, in den wissenschaftlichen Zweckgebilden, die all diesen Welten vor-
gängige und zugrundeliegende Welt der unmittelbaren Erfahrung außer
A dit läßt und nicht sieht, daß die Lebenswelt als Horizont und Universal-
feld aller wissenschaftlichen Praxis vorgegeben ist und diese in sich ein-
schließt.
„Jede praktische Welt, jede Wissenschaft setzt die Lebenswelt voraus, sie
als Zweckgebilde wird kontrastiert mit der Lebenswelt, die immer schon
und immerfort ist, ,νοη selbst*. Andererseits ist jedoch jedes menschheitlich
(individuell und in Gemeinschaftlichkeit) Werdende und Gewordene selbst
ein Stück der Lebenswelt: also der Kontrast hebt sich auf. Das aber ist nur
verwirrend, weil eben die Wissenschaftler, wie alle in einem Berufszweck
(,Lebenszweck') vergemeinschaftet Lebenden, für nichts Augen haben als
für ihre Zwecke und Werkhorizonte. Wie sehr die Lebenswelt die ist, in
der sie leben, der auch alle ihre theoretischen Werke' zugehören, und wie
sehr sie von Lebensweltlichem, das eben in der theoretischen Behandlung
als das Behandelte ,zugrunde liegt', Gebrauch machen, so ist eben die
Lebenswelt nicht ihr Thema, nicht als die ihnen jeweils vorgegebene und
nicht die als ihr Werk hinterher aufnehmende, und so nicht in voller Über-
schau das Universum von Seiendem, das ständig in unaufhörlicher Bewe-
gung der Relativität für uns ist, und Boden für alle jeweiligen Vorhaben,
Zwecke, Zweckhorizonte und Werkhorizonte von Zwecken höherer Stufe"
(a.a.O., 462).
Diese lebensweltliche Ignoranz der Wissenschaften führt in eine Krise,
die sich darstellt als fortschreitende Sinnentleerung der konkreten Welt. Für
das Ideal der vollständigen Objektivierung, d. h. Operationalisierung,
Quantifizierung, Formalisierung zahlt die moderne wissenschaftlich-tech-
nische Welt den Preis der Lebens-(und Welt)entfremdung (vgl. audi Han-
nah Arendt 1960, 249: „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung,
wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit." eigene Hervorh.).
Greifen wir aus dem Komplex der Lebenswelt ihre Räumlichkeit heraus,
so kommt uns damit ein Thema in den Blick, das als „gelebter Raum" um
1930 von mehreren Seiten unabhängig und mit unterschiedlicher Pointie-
rung entwickelt wurde.
Zunächst hat Heidegger (1927) die „Räumlichkeit" des Daseins in „Sein
und Zeit" untersucht. Aus ganz anderer Perspektive und ohne Bezug auf
Heidegger folgen 1932 die „Untersuchungen zum gelebten Raum" von
Dürckheim. Diese Arbeit, entstanden in der Tradition der Leipziger
Ganzheits- und Strukturpsychologie, wird allgemein als Ursprungsort des
Terminus „gelebter Raum" angesehen. Doch sprechen m. E. viele Anzeichen
dafür, daß Dürckheim sich auf die von W. Stern schon früher definierten
Begriffe der „gelebten" Welt bezieht, ist doch auch die Zielsetzung seiner

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Untersuchung eine im Sinne Sterns personalistische (s. u. S. 52 ff.). Etwa


gleichzeitig mit Dürckheim entwickelte Minkowski innerhalb seiner Schizo-
phrenieanalysen die Konzepte „distance vécue", „espace vécue", „ampleur
de la vie", gelebte Distanz, gelebter Raum, Weite des Lebens, als die Dimen-
sionen, in denen das individuelle und kollektive Leben der Menschheit zu
fassen ist.
Bevor nach diesen ersten Skizzierungen des Problembereichs und seiner
Begrifflichkeit eine eingehende Analyse folgt, einige Anmerkungen zur
Methode:
Zur phänomenologischen Methode
Als Zugangsweise zum gelebten Raum bietet sich die phänomenologische
Betrachtung und Deskription an, die versucht, das, was sich zeigt, von ihm
selbst her sehen lassen" (Heidegger 1967, 34). Das, was sich von ihm selbst
her sehen lassen soll, ist jedoch meist nicht das, was auch schon „phäno-
menal" gegeben ist, vielmehr ist Phänomen das, „was sich zunächst und zu-
meist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist
zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was
sich zunächst und zumeist zeigt, gehört" (a.a.O., 35). Es gilt also, insbeson-
dere das aufzuweisen, was vorher verdeckt, d. h. verborgen, verschüttet
oder verstellt war.
Wir gehen das Problem des Raumes und der Räumlichkeit nicht an unter
Voraussetzung ( = Verstellung durch) eine(r) noch so primitive(n) Theorie,
ζ. B. Raum als receptaculum rerum, als Behälter, angefüllt mit Dingen und
Mitmenschen, — sondern fragen nach dem ursprünglichen, vor aller R e -
flexion bestehenden Verhältnis des Menschen zum Raum, versuchen die
Grundstrukturen dieses Verhältnisses zu erfassen und zu explizieren und
das durch etwaige theoretische Voreinstellungen Verdeckte in Erscheinung
treten zu lassen. Dieses „Zu den Sachen selbst", wie Husserl es formuliert
hat, bedeutet also, ohne jede Voreingenommenheit durch traditionelle wis-
senschaftliche Begriffe und Lehrmeinungen an den Gegenstand der Unter-
suchung heranzugehen, sich vielmehr die Begrifflichkeit im Zuge der Expli-
kation des Gegenstandes erst zu bilden.
Die Forderung nach einem unvoreingenommenen, ansatzfreien Vorgehen
wirft wissenschaftstheoretische Probleme auf.
Versteht sich die phänomenologische Methode als reine Beschreibung eines
„Gegebenen" gemäß dem Husserlschen „Prinzip aller Prinzipien", daß
„jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei,
daß alles, was sich uns in der ,Intuition originär . . . darbietet, einfach hin-
zunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen
es sich da gibt" (Husserl, Ideen I, 1950 § 24), so darf nicht übersehen wer-
den, daß es so etwas wie „reine" Beschreibung nicht gibt, eine Erkenntnis,
die spätestens seit den Diskussionen des Wiener Kreises über das „Basis-
problem" (vgl. etwa Popper 1966, 60 ff.) zu den wichtigsten Aussagen

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jeder Wissensdiaftstheorie gehört. Gegebenes ist auch da, wo es in einem


ersten „unvoreingenommenen" Hinschauen erfaßt werden soll, schon immer
ansatzbedingt. Daraus ist nun aber nicht der Sdiluß zu ziehen, die Phäno-
menologie als Methode der Beschreibung sei wertlos geworden; vielmehr
gilt es, ihre Leistung und Grenzen fortgesetzt kritisch zu reflektieren.
Das bedeutet 1., immer wieder ihren „Ansatz" auf seine Bedingtheit hin
zu überprüfen (vgl. dazu u. a. Funke 1966), 2. die Begrenztheit dessen, was
sie leistet, zu akzeptieren, denn sie „ b e f a n g e n . . . in der Idee gradlinigen
Fortschreitens am Gegebenen, verschließt sich leicht den Blick für den Sach-
verhalt, daß längst nicht alles, was zu ihrem Phänomenbereich gehört, rein
deskriptiv vollständig ausgelegt werden kann" (Ströker 1965, 10).
Liegt audi der Wert so mancher „phänomenologischer" Analysen gerade
in ihrer von der deskriptiven Ebene weit entfernten Begrifflichkeit, be-
deutet diese Überschreitung des Deskriptiven doch häufig eine Gefahr: So
wird in explizit als phänomenologisch etikettierten Analysen etwa eines
Binswanger und Straus zwischen den Ebenen phänomenologischer Beschrei-
bung einerseits und anthropologischer oder ontologischer Auslegung an-
dererseits ständig gewechselt, ohne daß darauf hingewiesen würde.
Wir beginnen unsere Analyse des Raumes „diesseits aller Entscheidungen
über subjektunabhängige Außenwelt, Realität, Ansichsein" (Ströker, 17),
vor jeder Theorie „des" Raumes, betrachten den Menschen in seiner unmit-
telbar erfahrenen, außerwissenschaftlichen Lebenswelt, in der so etwas wie
Raum noch gar nicht thematisiert ist. „Nicht auf sein Urteil ,über' den
Raum soll das Subjekt primär befragt werden, sondern auf sein Verhalten
,in' ihm" (Ströker, 18). Es gilt das „ins Licht der Reflexion zu heben, was
im präreflexiven Alltagsbewußtsein immer schon als Raum gegenwärtig,
unthematisch erfaßt und je schon gewußt ist, bevor begriffliche Arbeit ein-
setzt" (Ströker, 3). Und daß dieses das — im Sinne Heideggers — zunächst
und zumeist Verdeckte ist, werden die folgenden Analysen deutlich machen.
Insofern als wir als Ausgangspunkt den Menschen in seiner Leiblichkeit
wählen und nach seinem Verhältnis zum Raum, seinem Verhalten „im"
Raum fragen, und seine Rolle bei der Konstitution des Raumes untersuchen,
können wir von einer anthropologischen Fragestellung sprechen; anthro-
pologisch in dem Sinne, daß Räumlichkeit eine Wesensbestimmung des
menschlichen Daseins ist, daß der Mensch immer und notwendig des Rau-
mes bedarf, einerseits als Bedingung der Möglichkeit von Verhalten über-
haupt, andererseits als Medium und Instrument dieses Verhaltens.

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