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NZZ.CH
Die Gefahren sind offensichtlich. Der Forschungspolitik fehlt der nötige lange Atem;
eine über Jahrzehnte gewachsene Balance der Fächer wird abgelöst durch eine
Landschaft charakterarmer Einheitshochschulen. Denn was man wohltönend
«Profilierung» nennt, beläuft sich vielerorts auf Identisches: Nicht bloss wird
«Wissenschaft» als «science» buchstabiert, sondern auch «science» als «life
science». Sich gegenseitig kopierend, erklärt man vielerorts die
Lebenswissenschaften zur Leitwissenschaft, vielleicht noch ergänzt um die
Bioinformatik. Und weil es für das Profil an Geld fehlt, degenerieren mancherorts
die Geisteswissenschaften, aber auch naturwissenschaftliche Grundlagenfächer zum
Steinbruch für die (forschungs)politischen Vorgaben.
Es ist also durchaus angezeigt, die Bedeutung und die Leistungen der
Geisteswissenschaften ins rechte Licht zu rücken.
Aufklärung
Diese schliesst eine «Verblüffungsresistenz» ein: die Fähigkeit, nicht jede Neuerung
von heute für revolutionär neu zu halten. Im Zeitalter der Globalisierung
beispielsweise erinnert sie an eine Reihe sehr viel älterer Globalisierungen: dass
sich Philosophie und Wissenschaften, auch Medizin und Technik seit der Antike
sehr rasch über die Welt verbreiten; dass dasselbe für viele Religionen zutrifft, die
deshalb Weltreligionen heissen; dass schon in hellenistischer Zeit - in Annäherung -
ein Welthandelsgebiet mit Weltmarktpreisen und sogar Welthandelszentren wie
Alexandria entsteht und dass sich der globale Handel zwischen den entwickelten
Ländern in der Zeit der klassischen Goldwährung schon fast auf dem heutigen
Niveau bewegt.
In den grossen Werken der Musik, Kunst und Architektur bewundern wir nicht
distanzlos lediglich grosse Kreativität. In vielen Fällen vermag ihr Gehalt uns
existenziell zu bewegen. Damit betreten wir die sechste Stufe, die der
Orientierungs- und der Sinndebatten. Um die Botschaft der klassischen Werke zu
entschlüsseln, müssen sie freilich, dank den Geisteswissenschaften, für jede
Generation, auch jede Kultur neu «zum Sprechen» gebracht werden. Diese Arbeit
lohnt sich, denn weder die Philosophie noch die Literatur oder die Musik bieten
eine Fast-Food-Unterhaltung. Sie führen etwa menschliche Leidenschaften vor,
lassen sie aufeinander prallen und den Zusammenprall entweder in einer
Katastrophe oder aber einer konstruktiven Lösung enden.
Aischylos
Zwei Beispiele seien erlaubt, bewusst aus verschiedenen Epochen und Kulturen
gewählt. Über eine isländische Saga, die Wölsungen-Saga, und eine griechische
Tragödie, Aischylos' «Orestie», lernen wir - dort indirekt, hier direkt - eine der für
die globale Welt wichtigsten Institutionen kennen: als Alternative zur Privatjustiz
die öffentliche Strafgerichtsbarkeit. Solange sie fehlt, hat die Blutrache durchaus
Rechtscharakter; sie besteht in der rechtsanalogen Pflicht, gravierende Delikte am
Schuldigen oder an einem seiner Verwandten zu rächen. Die Wölsungen-Saga zeigt
aber, wie diese Pflicht zu einem Flächenbrand von Gewalt führt, zu einer Eskalation
von Vergeltung und Wiedervergeltung, die in eine finale Katastrophe mündet. Auch
Aischylos' «Orestie» beginnt mit einer Reihe grosser Bluttaten. Und wie in der
Wölsungen-Saga, so sind auch hier die Leidenschaften selbst lernunfähig. Erst der
Machtspruch von Athene, der Göttin der Weisheit, stiftet jene neue Institution, den
Strafgerichtshof, der nicht bloss der Gewalt ein Ende setzt. Er hat auch die
glückliche Folge einer umfassenden, sowohl wirtschaftlichen als auch kulturellen
Blüte.
Über die Leidenschaften wie Ehrsucht, Herrschsucht, auch Habsucht lehren beide
Texte einer globalen Welt dreierlei: 1. Ein Kern des Menschlichen ist kultur- und
epochenindifferent gültig. 2. Seinetwegen ist nach einer kultur- und
epochenunabhängig gültigen Antwort, hier: der öffentlichen Gerichtsbarkeit, zu
suchen. Und 3. bedarf die Antwort entsprechender Lernprozesse. Mit Aischylos'
Formel pathei mathos: durch Leiden lernen, korrigieren beide, Literatur und
Geisteswissenschaften, jenes intellektualistische Missverständnis, das das
entscheidende Lernen für einen vornehmlich intellektuellen Vorgang hält.
Nutzen, langfristig
Selbst gegen den Vorwurf mangelnder Merkantilität halten die
Geisteswissenschaften gute Argumente bereit. Werke wie die ägyptischen
Pyramiden, die Akropolis in Athen, die Kirchen und Paläste in Europa, die
ostasiatischen Pagoden oder japanischen Zen-Gärten sind weder auf kurzfristigen
Nutzen noch aufs blosse Überleben angelegt. Gerade deshalb bringen sie via
Tourismus Generation für Generation grossen Gewinn. Die Werke müssen aber
erschlossen werden, teils im physischen Sinn, indem man sie ausgräbt oder
restauriert, teils im intellektuellen Sinn von Kunstführern und Katalogen. Hinter
beiden Aufgaben steht wieder die Arbeit der Geisteswissenschaften.
Wie ein Student der Bioinformatik mir sagte, braucht er die Philosophie als
Ergänzung; er wolle lernen, was die fast sprachlose Informatik nicht vermöge: zu
«reden». Nicht zuletzt fallen Geisteswissenschaftern weder Kommunikation noch
interdisziplinäres Denken schwer. Das Ergebnis spricht - fast - für sich: Die
Geisteswissenschafter sind nicht nur in so klassischen Berufsfeldern wie den
Verlagen, Zeitungen, Radio- und Fernsehanstalten oder Archiven und der
Weiterbildung tätig. Wir finden sie auch in den Personal- und den Stabsabteilungen
von Unternehmen, mehr und mehr selbst in der Unternehmensberatung.
Ein vorletztes Argument bezieht sich endlich auf die Lebenswissenschaften. Für
ihre Aufklärung etwa über Erkennen, Lernen, Körper und Geist brauchen die
Neuro- und die Kognitionswissenschaften das Gespräch mit den einschlägigen
Geisteswissenschaften, etwa mit der Psycholinguistik oder der Philosophie des
Geistes, für das visuelle Lernen auch das Gespräch mit den Kunst- und für das
akustische Lernen das mit den Musikwissenschaften. Vor allem in der Medizin
tauchen radikal neue Möglichkeiten auf; für deren ethische Bewertung genügt das
überlieferte Ethos, das des Helfens und Heilens, nicht. Zu Recht erfreut sich daher
die biomedizinische Ethik einer Konjunktur, um die jeder Wirtschaftsminister sie
nur beneiden kann. Manche Forscher und Politiker wollen neue Richtlinien zwar
eher im Hauruckverfahren erlassen. Zur Demokratie gehört aber die breite
öffentliche Debatte, in den Medien, in Volkshochschulen und Akademien, auch in
Studium-generale-Veranstaltungen.
Wir haben eine stolze Reihe von Argumenten gesammelt, und trotzdem reicht sie
nicht aus. Denn sie «instrumentalisiert» die Geisteswissenschaften. In den USA
spricht man bekanntlich von liberal arts. Die Geisteswissenschaften sind erstens
«liberal», frei, weil sie sich von ihrer Methode her gegen dogmatisches Denken und
von ihren Gegenständen her gegen die Fixierung auf die eigene Kultur wenden.
Primär heissen sie aber - und ebenso die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer
- deshalb frei, weil sie sich gegen die Verkürzung des Menschen auf Marktfähigkeit
sperren. Damit tragen sie einmal mehr zur Humanisierung bei. Schon in ihrem
Dienst an der natürlichen Wissbegier erheben sie Einspruch gegen ein im
wörtlichen Sinn dehumanisiertes Leben, nämlich gegen eines, das sich in der Jagd
nach Macht, Ehre und Reichtum verrennt. Und vor allem öffnen sie den Menschen
für Dinge, um derentwillen es erst lohnt, geboren zu sein, für so wesentliche Dinge
wie Philosophie und Literatur, wie Musik, bildende Kunst und Architektur.
Prof. Dr. Otfried Höffe lehrt Philosophie an der Universität Tübingen. Seine
jüngsten Buchveröffentlichungen: Medizin ohne Ethik? (2002); Gerechtigkeit. Eine
philosophische Einführung (2001).
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