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sehepunkte 11 (2011), Nr. 12


Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg?
Peter Liebs Studie Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? ist die zweite von vier
Monografien, die im Rahmen des Projekts "Wehrmacht in der NS-Diktatur" des Instituts für
Zeitgeschichte München - Berlin entstanden sind. [1] Der Autor, mittlerweile Senior Lecturer im
Department of War Studies an der Royal Military Academy Sandhurst, ist einer der wenigen
Forscher, die ihre Aufmerksamkeit im Zuge der Kontroverse um die Ausstellung "Vernichtungskrieg -
Verbrechen der Wehrmacht" des Hamburger Instituts für Sozialforschung nicht nur auf den östlichen
Kriegsschauplatz gerichtet haben. [2] Denn auch zur Westfront bestanden bislang noch erstaunliche
Forschungslücken. Die Meinungen in der Literatur, so zeigt Lieb einleitend auf, spiegeln
Extrempositionen wider: Gehen die einen davon aus, dass die Wehrmacht im Westen einen
"sauberen" Krieg führte und das gute Verhalten der Wehrmachtsoldaten gar zu einer Annäherung
zwischen Franzosen und Deutschen geführt habe, sehen andere in der Kriegführung der Wehrmacht
im Westen einen "Weltanschauungskrieg", der sich kaum von dem im Osten unterschieden habe (1).
Aus diesen völlig gegensätzlichen Positionen formuliert Lieb seine Kernfrage, die er sinnvollerweise
gleich im Titel seiner Studie stellt: Bewegten sich Kriegführung und Partisanenbekämpfung der
Wehrmacht in Frankreich 1943/44 in den Grenzen eines konventionellen Kriegs oder führten die
Deutschen auch im Westen einen weltanschaulichen Vernichtungskrieg wie an der Ostfront?

Mit vorbildlichem Bemühen um Objektivität stellt der Autor zunächst die Organisation der
deutschen Besatzung Frankreichs und die Struktur des deutschen Westheeres von 1944 vor. Lieb
schildert den Kampf an der Invasionsfront ebenso wie die Behandlung der französischen
Zivilbevölkerung durch die Deutschen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Partisanenkrieg
im Hinterland, erklärt seine Rahmenbedingungen, befasst sich mit der völkerrechtlichen
Problematik des französischen Widerstands und beschreibt die deutschen Gegenmaßnahmen und
Unternehmen zur Partisanenbekämpfung. Stets bewertet er diese anhand der damaligen kriegs- und
völkerrechtlichen Situation und macht deutlich, wo Grenzen des geltenden Rechts überschritten
wurden. Lieb kann aufzeigen, dass Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht mit ihrem
Bemühen um Härte und Rücksichtslosigkeit bei der Unterdrückung der französischen
Widerstandsbewegung zur Radikalisierung des Partisanenkriegs im Westen beitrugen. Dennoch gab
es große Unterschiede zum Osten und Südosten Europas - und ein Massaker wie jenes in Oradour-sur
-Glane, angerichtet durch eine Kompanie der 2. SS-Panzerdivision "Das Reich", blieb eine Ausnahme,
für das sich die Wehrmacht bereits seinerzeit schämte und bei den französischen Behörden
entschuldigte (371 f.). Auch andere Exzesse gegen die Zivilbevölkerung blieben meist auf besonders
stark ideologisierte Verbände wie Einheiten der Waffen-SS, der Sicherheitspolizei und des
Sicherheitsdienstes beschränkt, während Wehrmachteinheiten deutlich zurückhaltender waren und
auch kaum "Repressalien" gegen Frauen und Kinder durchführten. Von einem "Vernichtungskrieg" im
Westen, so Lieb zusammenfassend, könne keine Rede sein (510). Und auch an der Front führte die
Wehrmacht in Frankreich "einen Krieg, der sich im Rahmen des Völkerrechts bewegte" (511).

Doch nicht nur zu Partisanenbekämpfung und Kriegführung der Wehrmacht erfährt der Leser viel
Neues, sondern auch zur Operationsgeschichte der Waffen-SS - jener Truppe, die in den letzten
Jahren ein reges Forschungsinteresse auf sich gezogen hat. Lieb betont, dass Waffen-SS-Einheiten
nicht nur mehr Verbrechen begingen und sich gegenüber der französischen Bevölkerung brutaler

http://www.sehepunkte.de/2011/12/druckfassung/11646.html 15.12.2011
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verhielten als Wehrmachtverbände. Auch an der Front habe Himmlers Truppe deutlich radikaler und
erbitterter gekämpft. Mit sechs besonders kampfkräftigen Divisionen sei die Waffen-SS an der
Westfront zudem überproportional stark vertreten gewesen und habe sich als eigentliche Stütze der
Westfront herauskristallisiert. Lieb bezeichnet die SS-Divisionen als "Feuerwehr der Westfront" und
setzt damit bewusst einen Kontrapunkt zur bislang vorherrschenden Meinung, die Waffen-SS sei vor
allem im Osten aufgetreten und eine "Feuerwehr der Ostfront" gewesen (443).

Genau wie im Kapitel über den Partisanenkrieg und die Bekämpfung des französischen Widerstands,
bemüht sich Lieb auch bei der Beschreibung der Kämpfe in der Normandie um Ausgewogenheit. Er
zeigt auf, dass Kriegsverbrechen keineswegs nur auf deutscher Seite begangen wurden: So
erschossen alliierte Soldaten immer wieder Gefangene, besonders Angehörige der Waffen-SS und
der Fallschirmtruppe - also jener "Eliteverbände", die aufgrund ihrer Kampfkraft und Hartnäckigkeit
besonders gefürchtet waren (145, 168 f. u. 175 f.). Und schließlich macht der Autor deutlich, dass
die Franzosen für die Befreiung ihres Landes von der deutschen Besatzungsherrschaft einen hohen
Preis zahlen mussten: Während den deutschen Aktionen zur Partisanenbekämpfung circa 15.000
Franzosen zum Opfer fielen, wurde sogar die vierfache Anzahl, nämlich 60.000 Personen, durch
alliierte Luftangriffe getötet (219). Und gelegentlich verhielten sich alliierte Soldaten gegenüber
den Franzosen rücksichtslos und ließen sich zu Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen
hinreißen (165 f. u. 224 f.).

Peter Lieb hat ein Standardwerk zur Geschichte des Krieges im Westen 1943/44 vorgelegt, an dem
sich künftige Forscher orientieren und messen lassen müssen. Sowohl hinsichtlich der
Quellengrundlage, dem Bemühen um Differenzierung als auch der Sachkenntnis, die der Autor
präsentiert, setzt die Arbeit hohe Maßstäbe. Moderne Militärgeschichte par excellence!

Anmerkungen:

[1] Die drei anderen aus dem Projekt hervorgegangenen Monografien sind: Johannes Hürter: Hitlers
Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München
2006 (vgl. hierzu die Rezension von Jochen Böhler, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8; URL:
http://www.sehepunkte.de/2008/07/11499.html), Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht.
Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München
2008 sowie Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland
1941/42, München 2009 (vgl. zu diesen beiden Bänden die Rezension von Roman Töppel, in:
sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2010/07/17107.html).

[2] Gleichwohl hat Lieb auch zu Verbrechen an der Ostfront Forschungsergebnisse vorgelegt: Peter
Lieb: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707.
Infanteriedivision 1941/42, in: VfZ 50 (2002), 523-557; ebenfalls erschienen (und durch eine
Nachbemerkung ergänzt) in: Christian Hartmann / Johannes Hürter / Peter Lieb / Dieter Pohl
(Hgg.): Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, München
2009, 271-304 (vgl. zu diesem Band ebenfalls die Rezension von Roman Töppel, in: sehepunkte 10
(2010), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2010/07/17107.html).

Rezension über:

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Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich
1943/44 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 69), München: Oldenbourg 2007, X + 631 S., ISBN 978-3-486-
57992-5, EUR 49,80

Rezension von:

Roman Töppel
München

Empfohlene Zitierweise:

Roman Töppel: Rezension von: Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und
Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München: Oldenbourg 2007, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011],
URL: http://www.sehepunkte.de/2011/12/11646.html

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