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Adele - möchte die Welt umarmen


(Bd. 1) - Teil 2
Eine Geschichte von Sabine Bohlmann mit Illustrationen von Imke
Sönnichsen-Kerres, erschienen im Loewe Verlag.
So geht es im zweiten Teil weiter.
Kapitel 4: Wie wir Mama aus dem Wäscheberg angelten
Inzwischen waren Malin und Marlene auch von der Schule gekommen und wir

schlichen vorsichtig in die Waschküche.

Bei sechs Kindern braucht man auf jeden Fall zwei Waschmaschinen und

auch zwei Trockner, und trotzdem hängt noch die ganze Waschküche voller

Wäsche.

Papa hat auch für die Wäsche ein super System erfunden. Jedes Kind hat

eine Farbe.

Henry hat Schwarz, weil er Schwarz am liebsten mag, auch wenn alle sagen,

Schwarz wäre keine Farbe.

„Was soll es denn dann sein?“, fragt er darauf immer. »Schwarz ist einfach

eine unbunte Farbe, so sieht es aus!«

Er mag auch Hellgrau und Dunkelgrau. Er ist ja auch schon älter. Da findet

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man solche Farben eben cool, sagt er.

Malin hat Lila, Marlene Rosa, Oskar Gelb, Blümchen Grün und ich Rot.

Jedes Kind hat einen Korb in eben genau dieser Farbe und in den kommt die

schmutzige Wäsche.

Unsere Kleider haben kleine Wollbänder in unseren Farben am Etikett, und so

wissen Mama und Papa immer, wem welches Kleidungsstück gehört.

Außer bei den Socken. Die liegen in einem großen Korb und einmal pro

Woche werden sie sortiert.

Wenn einem vorher die Socken ausgehen, muss man eben selbst in den

Sockenkorb eintauchen und nach den passenden Paaren fischen.

Jedenfalls standen nun Malin, Marlene, Blümchen und ich in der Waschküche,

aber da war auch keine Mama zu sehen,

nur ein riesiger Wäschehaufen auf dem Boden in der Mitte. Plötzlich fing der

Wäschehaufen an, sich zu bewegen.

Er zuckte einmal, dann noch einmal, und dann hörte es sich an, als würde der

Wäschehaufen schluchzen.

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Und dann sahen wir es. Mitten im Haufen kauerte unsere Mama. Sie war fast

nicht zu sehen.

„Mama!“, riefen wir sofort alle im Chor und rannten zu ihr.

Wir angelten sie aus dem Haufen heraus, befreiten sie von Socken und

Unterhosen, die noch an ihr hingen, und brachten sie ins Wohnzimmer.

Dort legten wir sie auf das Sofa. Sie schluchzte immer wieder und ich

verstand nur Wortfetzen.

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„Wäsche … fertig … immer wieder … Socken …!“

Wenn es nicht so ein trauriger Anblick gewesen wäre, wäre es fast auch ein

bisschen lustig gewesen.

Blümchen streichelte ihr über den Kopf, Malin und Marlene standen mit

sorgenvollen Mienen daneben und ich hielt Mamas Hand.

„Was ist denn nur passiert?“, flüsterte ich und versuchte meine Stimme so

einfühlsam klingen zu lassen wie Mamas, wenn sie mich tröstete.

Denn eigentlich ist doch Mama die weltbeste Trösterin!

Doch statt einer Antwort kamen wieder nur ein paar Schluchzer und seltsame

Worte heraus:

„Zu viel … Wäsche … jeden … Tag … immer … neu …!"

Die Wohnungstür ging auf und Oskar und Henry kamen nach Hause.

„Was ist denn hier los?“, fragte Henry. »Oma Radieschen sagt mir gerade,

Mama ist in den Wäscheberg gestürzt!«, sagte Oskar.

„Zusammengebrochen trifft es wohl eher!“, erklärte ich und streichelte Mama

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weiter die Hand.

„Oh! Ich mach ihr einen Kamillentee!“, sagte Henry und ging in die Küche.

„Wir holen Schokolade!“, sagten Malin und Marlene wie aus einem Mund.

Sie hatten das in ihren Köpfen bereits besprochen. Wir deckten Mama zu und

langsam bekam sie wieder ein bisschen Farbe.

Eine dicke Träne kullerte ihre Wange hinunter. Die Worte formten sich

allmählich wieder zu Sätzen, die man verstehen konnte.

Sie nippte vorsichtig an dem Tee, den Henry ihr hingestellt hatte. Ich ließ den

heißen Tee mit meinen Gedanken etwas abkühlen.

Man muss aufpassen, dass man ihn nicht überkühlt und er zu Eis wird, aber

heute hatte ich es perfekt geschafft.

Er war genau richtig kühl, um ihn zu trinken und genau richtig warm, um zu

wärmen.

Henry schrieb Papa eine Nachricht, dass wir Mama im Wäscheberg gefunden

hätten und wir uns Sorgen machten,

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aber Papa hatte wohl gerade eine Besprechung und konnte nicht antworten.

„Is hab Hunger!“, verkündete Blümchen. »Und wenn is nis bald was zu essen

krieg, geh is runter in die Wasküsse und fall wie Mama im Wässeberg um!«

„Wir müssen jetzt alle zusammen helfen!“, sagte ich und übernahm das

Kommando.

„Oskar, kurbel den Tisch runter!“, sagte ich zu meinem Bruder, der hob die

Hand an die Stirn wie ein Seemann und sagte: „Aye, aye, Captain!“

»Malin und Marlene, ihr deckt den Tisch. Henry und ich setzen Wasser auf

und kochen Spaghetti und Blümchen, du bleibst hier bei Mama und passt auf

sie auf!«

»Oma Radieschen fragt, ob ihr nicht was anderes kochen könntet, weil die

Spaghetti ihr schon zu den Ohren rauskommen!«, sagte Oskar.

»Nein, Oma Radieschen, du kannst froh sein, wenn es heute überhaupt was zu

essen gibt.

Abgesehen davon, isst du doch sowieso nicht mit und sitzt nur immer dabei!«,

sagte ich in die Richtung, in der ich Oma Radieschen vermutete.

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Alles lief wie am Schnürchen. Und kaum hatten wir die Spaghetti auf dem

Tisch, kam Papa völlig aufgelöst zur Tür herein.

„Was ist denn nun passiert?“, fragte er aufgeregt. Dann sah er Mama völlig

erschöpft auf dem Sofa liegen.

Er gab ihr einen Kuss und wir erzählten die Wäscheberggeschichte.

Kurze Zeit später saßen wir um den Hängetisch und es gab einen Familienrat.

Ohne Mama, denn die schlief ja noch auf dem Sofa.

„Mama ist mit der Wäsche überfordert!“, sagte Papa. Ich machte mir nun

wirklich Sorgen um Mama.

Denn ich glaube, ich hatte sie noch nie am helllichten Tag schlafen sehen.

„Nur mit der Wäsche? Oder vielleicht mit uns?“, fragte Marlene und guckte

traurig zu Mama rüber, die auf dem Sofa schlief.

Papa beruhigte uns und meinte, dass es nur mit der Wäsche zu tun hätte.

„Wir müssen ihr helfen“, sagte er weiter, »sonst versinkt sie demnächst noch

tiefer im Wäscheberg. Und dabei hat sie diesmal noch Glück gehabt."

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„Was hätte denn noch Schlimmeres passieren können?", fragte Marlene.

Oskar stand auf und setzte sein Gruselgesicht auf. Das kenne ich schon.

Er erzählt dann mit so einer Stimme, die einem richtig Gänsehaut macht.

„Mama hätte so tief in den tiefsten Tiefen des Wäschebergs verschwinden

können, dass wir sie vielleicht nie mehr gefunden hätten!",

flüsterte Oskar und ließ seine Stimme ganz gruselig klingen. „Und wenn man

tief im Wäscheberg verschwindet, wird man irgendwann selbst zu Wäsche.

Zu stinkenden Socken." Ich musste richtig loslachen. Denn stinkende Socken

fand ich fast genauso gruselig wie Gänseblümchen.

„Vielen Dank für die anschauliche Darstellung, Oskar, aber das meine ich

nicht", sagte Papa.

„Also schlimmer, als in der frischen Wäsche zu versinken, wäre gewesen …"

„… in der dreckigen Wäsche zu versinken!“, beendeten wir seinen Satz und

mussten ein bisschen kichern. Aber nur ganz leise, damit Mama nicht

aufwachte.

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„Wir brauchen eine Lösung. Vorschläge erbeten!“, sagte Papa.

„Wie wäre es, wenn jeder nur noch eine Hose und ein T-Shirt und vielleicht

sagen wir … äh … zwei Unterhosen hat.

Dann könnte so ein Wäscheberg überhaupt nicht mehr entstehen!", schlug

Henry vor. Doch Malin meinte, dann würde er noch mehr stinken als jetzt.

Und sie hielt sich die Nase zu. Ich ließ die Wasserkaraffe über den Tisch zu

mir kommen und schenkte mir ein.

Marlene schlug vor, dass wir uns einfach nicht mehr schmutzig machen

sollten, denn dann müsste man gar nichts mehr waschen.

Doch Malin war mit dieser Lösung nicht einverstanden und komplett

dagegen.

Ich musste ihr zustimmen, denn draußen spielen und toben, ohne sich

dreckig zu machen, das geht ja gar nicht.

„Dann gehen wir eben gar nicht mehr raus!“, schlug Marlene vor. »Oma

Radieschen sagt, sie würde ja helfen,

aber sie kann leider nicht. Sie meint, es liegt wohl am Alter!«, erklärte Oskar.

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Wir lachten ein bisschen.

Weil es natürlich daran lag, dass Oma Radieschen nicht mehr lebte und

Geister einfach nichts machen können.

Aber wir sagten es nicht laut, weil Oma Radieschen auf dieses Thema nicht

sehr gut zu sprechen war.

„Und wenn wir alle zusammen helfen?“, überlegte ich. „Wir sind ja jetzt auch

schon ganz schön groß und so viele,

und wenn jeder mithilft, wächst Mama der Wäscheberg nicht über den Kopf!"

Obwohl ich es schon toll fand, Dinge schweben oder zu mir kommen zu

lassen, war es eine Fähigkeit, die man nicht so oft einsetzen konnte.

Nicht direkt unnütz, aber auch nicht wirklich von Nutzen. Viel besser wäre

doch zum Beispiel, man hätte doppelte Hände, damit man schneller Wäsche

zusammenlegen kann.

Oder wenn einer von uns die Zeit anhalten könnte, damit Mama für den

Haushalt einfach mehr Zeit hätte.

„Am besten wäre es immer noch, wenn wir richtige Zauberkräfte hätten, dann

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könnten wir den Dreck einfach von den Kleidern zaubern und alles wäre gut!",

sagte ich.

Denn ich fand schon immer, dass das viel mehr bringen würde. Für die Welt

und für uns, die Familie Anders.

„Also. Generell, finde ich, ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ihr mehr

im Haushalt helfen solltet!

Ich denke, das war nur die Spitze des Wäscheberges", begann Papa und sah

mit einem traurigen Gesicht zu Mama hinüber.

Außerdem hatte er dabei eine sehr ernste Stimme, die fast ein wenig bebte.

„Am Wochenende kann ich Mama helfen, aber unter der Woche müsst ihr sie

unterstützen.

Ihr seid nun groß genug und wer Unordnung machen kann, kann ja auch

Ordnung machen, stimmt’s?"

Wir nickten, aber Blümchen sagte: »Unordnung geht viel leister und sneller

auch!«

„Und ich hab mein Zimmer sowieso immer ordentlich!", sagte Henry und das

stimmte. Dann guckte Papa von einem zum anderen.

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Wir fanden die Idee gut. Papa holte einen Malblock, Lineal und Stifte.

Dann malte er viele Kästchen auf den Block. Eines für jeden Wochentag, also

sieben von rechts nach links, und das genau siebenmal untereinander.

Links schrieb er unsere Namen hin und nun hatte jeder eine komplette Woche

mit Kästchen vor sich.

»Wir nennen unseren Plan: den Plan der kleinen Pflichten!«, sagte Papa

feierlich.

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Und das fanden wir alle gut. Auf Klebezettelchen wurden nun die Aufgaben

aufgemalt.

Gemalt deshalb, weil Blümchen ja noch nicht schreiben und lesen kann und

es außerdem viel schöner aussieht.

Wir malten: einen Mülleimer, ein Waschbecken, einen Staubsauger, Socken,

einen Kochtopf, einen Staubwedel und einen Wischmopp.

Die Zettel wurden jetzt in die Kästchen geklebt und so bekam jeder erst

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einmal eine Aufgabe für diese Woche.

Wir beschlossen, die Zettel jeden Sonntag neu zu verteilen.

Der Plan der kleinen Pflichten kam an die Wand im Flur und nun konnte jeder

genau sehen, wann er was zu tun hatte.

Weil der Plan so toll aussah und jeder seine Aufgabe als Erster erledigen

wollte, rannten wir alle durch das Haus und legten los.

Obwohl heute erst Montag war, war bereits am Abend alles fertig und das

Haus blitzte und blinkte.

Die Wäsche lag fein säuberlich in den dafür vorgesehenen Körben und wir

freuten uns, weil Mama wieder lächelte.

Sie nahm uns in den Arm und knuddelte jeden Einzelnen von uns.

„Morgen geht’s mir wieder besser!“, sagte sie. „Dann kann ich wieder helfen!“

„Aber morgen gibt es nichts zu helfen!“, sagte Malin und grinste.

„Weil nämlich alles schon heute erledigt ist!“, lachte Marlene.

„Und dann wird es dir morgen sicher schrecklich langweilig werden!", sagte

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ich und Mama machte große Augen.

"Ja, so was. Was mach ich denn dann bloß den ganzen Tag?" Doch wir waren

uns sicher, dass ihr schon was einfallen würde!

Am nächsten Tag sah Mama aber immer noch ein bisschen blass aus. Und

wir versuchten sie beim Mittagessen aufzuheitern.

Es war Dienstag und wir waren gerade aus der Schule gekommen.

Blümchen hatte den Salbei im Topf am Küchenfenster um das Doppelte

wachsen lassen,

damit wir mittags Salbeinudeln kochen konnten. Und Oskar und ich arbeiteten

an meinem Meisterstück.

Der schwebende Mensch. Kleine Dinge mithilfe meiner Gedanken zu

bewegen, ist schon ganz schön anstrengend,

das sagte ich ja bereits, aber ein Mensch, das ist die Königsdisziplin, wie

Papa sagt.

Ich übte schon eine ganze Weile an Oskar. Er setzte sich auf einen Stuhl, und

ich strengte mich mächtig an, ihn zum Schweben zu bringen.

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Leider fiel er meistens mitsamt dem Stuhl um.

Und Oma Radieschen kicherte jedes Mal so sehr, dass Oskar Angst hatte, sie

würde sich in die Hose machen.

Was bei einem Geist ja eigentlich völlig egal ist. Trotzdem wollte es Oskar

lieber nicht mitansehen.

„Schau mal, Mama, was ich kann!“, rief ich und konzentrierte mich auf meinen

Bruder.

Doch wieder mal hob er sich keinen noch so kleinen Millimeter vom Boden

ab. Sosehr ich mich auch bemühte.

„Vielleicht muss Oskar auch ein bisschen weniger essen oder du musst mit

Blümchen anfangen.

Die ist doch viel leichter!", sagte Mama, als sie mein enttäuschtes Gesicht

sah.

„Blümchen möchte nicht schweben. Das macht ihr fast genau so viel Angst

wie rote Socken, sagt sie."

„Weißt du was, Mama? Du musst jetzt ganz schnell dein siebtes Baby

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bekommen,

dann hab ich jemanden, der ganz leicht ist und mit dem es sicher viel

einfacher geht. Und dann könnte ich …"

Ich hielt inne, denn jetzt hatte sich Mama einfach auf den Teppich plumpsen

lassen. Wieder kullerte ihr eine Träne über die Wange.

„Was ist denn, Mama?“, fragte ich besorgt und hockte mich neben sie.

„Ist dir schon wieder der Wäscheberg über den Kopf gewachsen?", fragte

Marlene und guckte sie voller Mitgefühl an.

„Is hab extra aufgepasst, dass is mis nis vollklecker!", sagte Blümchen.

„Es ist nicht die Wäsche. Und es tut mir so leid, dass ich gerade nicht so

fröhlich bin, Kinder!",

sagte meine Mama und fing ein bisschen zu weinen an. „Ach, Mama, das

macht doch nichts. Niemand kann immer nur fröhlich sein!",

versuchte ich sie zu trösten und alle stimmten mir zu.

„Aber hoffentlich lässt du dich nicht von uns scheiden!", sagte ich und alle

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sahen mich erstaunt an.

„Bei den Eltern von Lena war das so. Da wurde die Mutter erst traurig und

immer trauriger und dann haben sie sich scheiden lassen!",

erklärte ich und guckte zu Mama, die mich gleich zu sich heranzog und

tröstend in den Arm nahm.

„Nein, nein, so ist es nicht!“, sagte sie und seufzte. Henry, der gerade

hereingekommen war, reichte ihr ein Taschentuch.

Mama schnäuzte sich laut hinein. Dann begann sie zu erzählen.

Dabei sah sie auf ihre Hände und das Taschentuch, das sie knetete, als wäre

es Knetmasse und sie würde daraus etwas formen wollen.

„Es ist nur so: Also so, wie es aussieht, bekomme ich wohl keine Kinder mehr.

Es wird also wahrscheinlich nichts mit Anders Nummer sieben!"

„Was?“, riefen wir alle im Chor und ließen uns um Mama herum auf den

Boden plumpsen. Dann kam Papa herein.

„Ich hab es ihnen gerade gesagt!“, sagte Mama zu Papa und nun plumpste

auch noch Papa auf den Boden.

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Wir waren ein riesiger Familienhaufen und versuchten uns gegenseitig zu

trösten.

„Aber da ist doch noch ein Platz im Auto!“, sagte Marlene traurig.

„Und ein Platz in unseren Herzen auch!“, rief Blümchen und schluchzte.

„In unser aller Herzen!“, ergänzte Oskar. Und ich konnte gar nichts mehr

sagen.

Ich sagte auch nicht, dass ich schon eine Liste angelegt hatte, mit möglichen

Namen für das neue Baby.

Und genau in diesem Moment schossen sie mir alle durch den Kopf, als

würden sie mich ärgern wollen.

Finbar, Oleander, Cosimo, Perdita, Lisette, Mirabella! Es hatte mich viel Mühe

gekostet, diese Namen zu finden und auszuwählen.

Jedenfalls waren wir alle sehr traurig darüber. Jetzt könnte man natürlich

sagen:

„Ihr seid doch schon so viele", oder, wie Frau Knebelding sagt: „zu viele“.

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Aber Mama sagte, sie hätte das Gefühl, da säße noch so ein Seelchen auf

einer Wolke, das zu uns will.

Oskar sagte: „Oma Radieschen sagt dazu nur ›Pff!‹. Und jetzt noch mal: ›Pff!‹

Und sie sagt:

„Wer glaubt denn an so was? Du glaubst sicher sogar noch an den

Weihnachtsmann, was?"

Mama nickte nur stumm. Oma Radieschen wollte nicht an außergewöhnliche

Dinge glauben.

Und das war lustig, war sie doch der größte Beweis dafür, dass es Dinge gab,

die man nicht erklären konnte.

Und Mama und Papa waren ja auch zufrieden mit uns. Sehr sogar. Und

dankbar sowieso für jeden Einzelnen von uns.

So dankbar, dass wir sogar in jede kleine Kirche gingen, an der wir

vorbeikamen,

und dann zündeten wir immer für jeden von uns (einschließlich Oma

Radieschen) eine Kerze an.

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Papa sagt, es wäre ihm dabei egal, wer von uns an Gott, Allah, das Universum

oder an den Gott der Gartenzwerge glaubt.

Danken kann jeder und sollte jeder! Und eine Kerze hätte noch niemandem

geschadet. Das finde ich auch.

Und außerdem sieht es sehr schön aus, wenn da so neun kleine Kerzen

nebeneinander brennen.

Da wird mir immer ganz warm ums Herz. Und ich fühle mich irgendwie

beschützt.

Ich hab schon öfter in den Nachrichten von Kindern gehört, die niemand will,

und da denke ich,

dass die Welt auch manchmal ganz schön ungerecht ist.

Wir hätten ja noch einen Platz zu verschenken und einen Platz im Auto

außerdem und die Liebe würde auch noch ausreichen und dann …

Andererseits gab es ja auch Leute, die gern ein Kind hätten, nur ein einziges,

die könnten auch denken, dass es ungerecht wäre,

dass meine Eltern gleich sechs Kinder hatten. Und das stimmte, es war ja

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auch ungerecht.

Und weil wir nun im Helfen schon so gut waren, wollten wir Mama auch mit

dem siebten Kind helfen.

Wir hatten wirklich gute Pläne. Malin,

Marlene, Oskar und Blümchen hatten

die Idee, ein Baby aus einem Katalog

zu bestellen.

Sie nannten es ihr Geheimprojekt, weil

sie sich schon dachten, dass wir

Großen da nicht mitmachen würden.

Das war so ein Katalog mit Kindersachen und da konnte man eben auch für

Babys was bestellen und damit man sich besser vorstellen konnte,

wie die Babysachen aussahen, waren eben auch Babys abgebildet.

„Da suchen wir uns jetzt das süßeste aus“, sagte Marlene. Das Aussuchen

war dann aber anscheinend doch ganz schön schwierig.

Ich lag in meinem Zimmer im Bett und las und konnte sie durch die Wand

hören.

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Manchmal war das für mich das lustigste Hörspiel, wenn meine kleineren

Geschwister über irgendwelche wichtigen Dinge diskutierten.

Ich liebte das. Und schon bald konnte ich mich nicht mehr auf mein Buch

konzentrieren und lauschte dem Hörspiel aus dem Nebenzimmer.

„Oh, nehmen wir das da mit den Kulleraugen und den Zöpfchen!", sagte Malin

und ihre Stimme wurde dabei ganz hoch und niedlich.

„Nehmen wir lieber das hier, das hat schon zwei Zähne und jeder Zahn ist

schon mal gut

und außerdem kostet das Baby mit Zähnen genau so viel wie das ohne!",

sagte Marlene.

„Und das da, wie wäre es mit dem?“, fragte Oskar. „Das ist doch lustig!“

„Das hat sicher keine Haare und sie haben ihm deshalb eine Mütze

aufgesetzt. Also von vorne!", begann Malin noch mal.

„Es sollte nicht schon zu groß sein, dann gewöhnt es sich besser an uns!",

sagte Marlene.

„Es wäre gut, wenn es noch nis laufen könnte, damit es nis gleich wieder

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wegläuft, wenn es uns sieht",

gab Blümchen zu bedenken, die man ja immer an ihrer süßen Sprache

erkennen konnte.

Schließlich entschieden sich die vier für ein freundliches blondes Baby, nicht

zu groß und nicht zu klein, in einem schönen Strampelanzug mit Sternen

drauf.

Zum Glück konnten Malin und Marlene da schon schreiben, noch etwas

krakelig, aber man konnte alles lesen.

Und so füllten sie das Formular aus, trugen die Nummern der Kreditkarte

unserer Mama ein, die sie aus ihrer Tasche stibitzt hatten

und die sicher nichts dagegen hatte, denn das Baby war mit 19,99 Euro

wirklich ein Sonderangebot.

Und dann hatten sie es tatsächlich geschafft, die Bestellung mitsamt Kuvert

und Briefmarke abzuschicken.

Ich hatte alles mitangehört. Und lächelte vor mich hin. Meine Geschwister

waren einfach die lustigsten Geschwister, die man haben konnte.

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Und wieder wünschte ich mir ganz fest, dass wir das mit dem

Geschwisterchen Nummer sieben irgendwie hinkriegen würden.

Denn ich wollte unbedingt erleben, wie lustig dieses neue Kind vielleicht wäre.

Kurze Zeit später kam ein flaches Paket an.

„Was ist denn das?“, fragte Mama, die das Paket entgegennahm.

Herr Pfifferling, so nennen wir den Postboten, weil er immer irgendein

Kinderliedchen pfeift, meinte:

„Es ist für Herrn Oskar Anders und Frau Malin und Frau Marlene und Frau

Blümchen Anders. Höchstpersönlich."

Wenn Herr Pfifferling die Briefe durch unseren Briefschlitz steckt, kommen

nicht nur Briefe hindurch, sondern auch die Lieder,

die Herr Pfifferling durch den Briefschlitz schickt.

„Hänschen klein„, „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“, „Der Kuckuck und der

Esel“ oder andere Kinderlieder.

Und ob man es will oder nicht, man nimmt die Melodien von Herrn Pfifferling

in seinem Kopf mit und dort bleiben sie meist den ganzen Tag.

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Und wenn man sie zwischendrin mal vergisst, kommen sie wie ein Bumerang

von irgendeinem aus unserer Familie zurückgeflogen.

Jedenfalls freuten sich die vier wahnsinnig, als Mama sie rief und ihnen das

Paket übergab.

„Das ist eine Überraschung!“, sagte Marlene. „Eine Riesenüberraschung!“,

sagte Malin.

„Eine überraschende Überraschung!“, fügte Oskar hinzu und Blümchen drehte

sich noch einmal zu Mama um,

weil sie auch noch etwas sagen wollte, aber sie sagte einfach nur „Jawooohl!“

und dann verschwanden sie aufgeregt in Marlenes Zimmer.

Tür zu. Ich schlich hinterher und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Durch die geschlossene Tür konnte ich Blümchen hören: „Wieso ist das Baby

denn so platt?"

„Ich weiß auch nicht, wie die das in dieses Paket reingekriegt haben!",

antwortete Oskar.

Und dann hörte ich, wie sie alle ganz enttäuscht die Luft einzogen, als ein

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Strampelanzug zum Vorschein kam.

„Und wo ist das Baby?“, fragte Marlene. „Das haben sie wohl vergessen zu

liefern!“, meinte Malin.

Ich klopfte vorsichtig an die Tür und öffnete sie.

„Oder der Pfifferling hat es behalten!“, vermutete Oskar gerade.

Ein bisschen lachen musste ich ja schon, als ich ihre betretenen Gesichter

sah.

„Die Blöden!“, sagte Oskar und ich merkte, wie enttäuscht er war.

„Wir haben ein Baby für Mama in einem Katalog bestellt und alles richtig

ausgefüllt.

Größe und Farbe und so", erklärte Marlene. Sie schniefte.

„Und es war so süß!“, sagte Blümchen traurig. »Wir haben das süßeste

ausgesucht, Adele, echt, und uns so viel Mühe dabei gegeben!«,

Oskar war richtig sauer. „Wir haben nicht das erstbeste genommen. Es

musste ja zur Familie passen!"

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Als Malin mein ernstes Gesicht sah, das natürlich nur so ernst aussah, weil

ich mir das Lachen verkneifen musste, fügte sie noch schnell hinzu:

„Und es war auch gar nicht teuer!“

Und Oskar sagte: „Es ist ein Supersonderangebot! Nur 19,99 Euro".

Das mit dem Baby aus dem Katalog war aber nicht die einzige nicht so gute

Idee, die Blümchen, Oskar, Marlene und Malin hatten.

Als ich an einem Dienstag von der Schule kam, saßen die vier auf dem kleinen

Mäuerchen vor unserem Haus.

Ich hab ihnen gleich angesehen, dass sie irgendetwas ausheckten.

„Na? Was heckt ihr aus?“, hab ich also gefragt.

„Nichts, nichts!“, antwortete Malin, hüpfte von der Mauer und zeichnete mit

Kreide einen großen Kreis auf den Boden.

Oskar sah in die Luft und pfiff und Marlene bekam ganz rote Wangen.

Blümchen dagegen kugelrunde Augen.

Alle taten so unschuldig, dass ich sofort wusste, die hatten irgendetwas vor.

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Als ich auf unsere Haustür zuging, entdeckte ich einen Zettel.

„Babys bitte auf den Fußabstreifer legen!“, stand da, in der krakeligen Schrift

von Malin.

Und sie hatten rechts ein Baby auf das Schild gemalt und links einen Pfeil, der

nach unten auf unsere Fußmatte zeigte.

Langsam ging ich auf meine kleinste Schwester zu. „Blümchen?“, flüsterte ich

zuckersüß.

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„Was soll das heißen?“ Blümchen konnte Geheimnisse nie lange für sich

behalten und darum plapperte sie sofort los:

„Malin hat gesagt, dass manse Leute ihre Babys nis wollen. Und wenn sie sie

nis wollen, sollen sie sie uns auf die Fußmatte legen.

Und wir kümmern uns dann darum. Aber wir warten jetzt son so lange hier

und noch niemand hat sein Baby gebracht."

„Blümchen!“, riefen alle anderen im Chor. „Wir wollten das doch nicht

verraten!“, fuhr Malin sie an.

Wie ihr ja wisst, war Blümchen zu dieser Zeit ja noch winzig klein und Malin

und die anderen auch noch viel kleiner.

Sonst käme man ja gar nicht auf so eine Idee.

„Moment mal!“, begann ich und sah meine Geschwister der Reihe nach an.

"Wer will sein Baby nicht?"

„Na, da gibt es ganz viele Leute!“, sagte Malin. »Papa hat es neulich in der

Zeitung gelesen. Da werden manchmal Babys abgegeben.

Einfach vor eine Tür gelegt. Mitten auf die Fußmatte. Vor ein Krankenhaus

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oder eine Kirche.

Weil die Mutter sich nicht darum kümmern kann. Und da dachten wir, wenn

hier so eine Mutter vorbeikommt und unser Schild liest,

muss sie gar nicht erst bis zum Krankenhaus oder zur Kirche laufen und freut

sich.

Und dann freuen wir uns auch, weil wir dann ein siebtes Kind haben. Und wie

Mama sich erst freuen wird.

Und das Baby freut sich dann auch, weil es uns als Geschwister kriegt."

„Moment, Moment!“, Mama kam auf einmal aus dem Haus. Sie hatte alles

mitangehört!

„Ich finde es ja wirklich entzückend von euch, dass ihr helfen wollt, damit wir

noch ein Baby bekommen.

Und ja, es ist wahr, manchmal wird ein Baby abgegeben, weil sich die Mutter

nicht darum kümmern kann.

Aber diese Babys darf man dann nicht ohne Weiteres behalten!", erklärte sie

und streichelte Blümchen über den Kopf, die besonders enttäuscht aussah.

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„Aber vielleicht vergisst ja mal eine Mutter oder ein Vater, ein Kind aus der

Kita abzuholen!

Wir könnten dort einen Zettel abgeben, auf dem steht, wenn mal ein Kind

übrig bleibt, dann sollen sie uns anrufen!"

Mama versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. „Eine Kita ist doch kein

Tierheim.

Die Kinder werden doch nur dort abgegeben, weil die Eltern arbeiten müssen."

Mama hatte sich zu den Kleinen auf die Mauer gesetzt und Blümchen auf den

Schoß genommen. Meine Mama ist von Beruf Malerin.

Dabei malt sie aber nicht Wände weiß, sondern sie malt Bilder. Künstlerin

kann man auch zu ihr sagen.

Nur hat sie in den letzten Jahren nicht mehr so viel Zeit, um ihre Bilder zu

malen, dafür malt sie viel mit uns und den Kindern aus der Nachbarschaft.

Martha, meine Freundin, und ich lieben es, wenn Mama mit uns allen am

großen Tisch sitzt, Papier austeilt und uns einfach malen lässt.

Neulich haben Martha und ich ein ewig langes Bild von unserer

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Hummelgasse gemalt.

Mit allen Häusern drauf und allen Leuten, die hier wohnen. Wir mussten viele

Papiere aneinanderkleben.

Und Martha meinte, wir werden sicher mal berühmte Künstler und stellen bald

unsere Kunstwerke aus

und die Leute kommen aus der ganzen Welt, um das berühmte Gemälde

»Hummelgasse « zu sehen.

Wir unterschrieben mit Adetha, einer Mischung aus Adele und Martha.

Wir hätten auch Madele schreiben können, aber das klang nicht geheimnisvoll

genug.

Wenn unsere Familie mal ein bisschen Extrageld braucht, was immer mal

vorkommt, dann arbeitet Mama auch hin und wieder im Café als Bedienung,

in der Bücherei als Bücherwiedereinsortiererin oder im Kino Sonne, Mond und

Sterne als Kartenabreißerin.

Aber meistens ist sie eben einfach unsere Mama. Papa hat einen sehr

ungewöhnlichen Beruf.

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Er ist Gebrauchsanweisungsschreiber. Er arbeitet für eine Firma, die nur dafür

da ist, für Geräte oder Spiele Gebrauchsanweisungen zu schreiben.

Außerdem prüft er Spiele, die neu erfunden wurden. Und er wurde letztes Jahr

in seiner Firma „Spieleprüfer des Jahres“.

Das hatte er natürlich ein bisschen auch uns zuverdanken, weil wir uns immer

auf die Spiele stürzen,

die er nach Hause bringt, und die werden dann von uns total gut getestet.

Sogar die Kleinteile haben wir geprüft, da Oskar, als er kleiner war, alles in den

Mund nahm und verschluckt hat

und einige Spielfiguren erst wieder nach ein paar Tagen herauskamen.

Außerdem arbeitet Papa auch noch in der Forschung. Sein Fachgebiet sind

Schnecken.

Seit Jahren erforscht er, wie Schnecken leben, wie sie Kinder kriegen und wie

sie sich miteinander unterhalten.

Im Keller haben wir ein Terrarium mit Schnecken.

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Wegschnecken, Weinbergschnecken, Tigerschnecken, Garten-

Bänderschnecken, Genetzte Ackerschnecken und Rötliche Laubschnecken.

Jedenfalls war Mama noch nicht fertig mit ihrer Ansprache. „Ihr braucht euch

auch nicht eure kleinen Köpfe zu zerbrechen.

Alles ist gut, so wie es ist, und es können nicht alle Wünsche in Erfüllung

gehen!", sagte sie und sah dabei schon wieder ein bisschen fröhlicher aus.

„Und es sind doch sowieso schon sechs meiner größten Wünsche in Erfüllung

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gegangen und fünf davon sitzen hier mit mir auf der Mauer!"

„Bist du dann nicht mehr traurig, weil du kein siebtes Kind mehr bekommst?",

fragte Oskar und sah Mama prüfend an.

Sie überlegte kurz. „Doch, ein bisschen traurig bin ich schon noch.

Weil ich keinen Knopf an mir dranhab, auf den ich drücken kann, damit die

Traurigkeit einfach abgestellt wird.

Aber wenn ich euch hier so sehe, könnte ich fast platzen vor Glück", sagte sie

und lachte.

„Dann mach lieber ganz schnell deine Augen zu!", sagte Marlene. „Wieso?“,

fragte Mama verwundert.

„Na, weil wenn du platzt, wenn du uns siehst, das wäre doch sehr schade,

dann würden wir dich schrecklich vermissen."

„Ja, würden wir, weil eine geplatzte Mama braucht kein Mens!", sagte

Blümchen und darüber mussten wir alle richtig lachen.

Trotzdem war das mit den Babybeschaffungsmaßnahmen noch nicht ganz

vom Tisch.

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Wir wollten, dass auch Mamas kleine Traurigkeit wieder vorbeiging.

Es regnete.

Malin, Marlene, Blümchen und ich saßen gerade im Spielkeller.

Da kam Oskar die Treppe herunter. Und diesmal war es Oma Radieschen, die

sich einmischte.

„Oma sagt„, berichtete Oskar, „dass

man bei Vollmond einen Wunsch frei

hätte.“

„Wie denn das?“, fragte ich und guckte

von meinem Buch auf. Oskar hörte

Oma Radieschen eine Weile zu und dann erklärte er es:

„Wenn man ganz viel Krama sammelt, hat man einen Wunsch frei. Es muss

allerdings etwas sein, was man nicht mit Geld kaufen kann, sagt sie."

Jetzt wurden wir hellhörig.

„Echt? Und wie funktioniert das?“, fragte Malin und kletterte aus dem

Hängenetz, das an der Decke angebracht war und in dem sie so gern

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schaukelte.

„Und was ist überhaupt ein Krama?“, fragte Marlene.

„Das heißt nicht Krama, das heißt Karma“, mischte sich jetzt Henry ein, der

gerade dazugekommen war.

„Oma sagt aber, dass es Krama heißt!", berichtigte Oskar.

„Sie meint aber sicher Karma. Sie verwechselt doch ständig was. Karma ist

ein spirituelles Wort.

In der indischen Religion glaubt man ja an Wiedergeburten und man glaubt,

dass, wenn man viele gute Dinge tut,

man eben dieses Karma sammelt und dafür dann im nächsten Leben ein

besseres Leben hat.

Also das war jetzt einfach erklärt, damit ihr es versteht", sagte unser

Professor.

„Is hab das aber immer noch nis verstanden", sagte Blümchen und sah ihren

großen Bruder fragend an.

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„Und was soll man denn alles Gutes tun?“, fragte Marlene uns.

„Na, da fällt uns schon was ein!“ rief Malin. Wir hatten uns inzwischen im

Kreis auf den Boden gesetzt.

Blümchen legte ihren Kopf auf meinen Schoß und ich streichelte sie ganz

zart. Sie liebte das.

Wir spielten manchmal Lausen. Da suchte ich ihren Kopf nach Läusen ab,

zumindest tat ich so,

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denn dieses Durchkämmen der Haare an der Kopfhaut mit den Fingerspitzen

tat ihr unendlich gut, so gut, dass sie sogar schon öfter dabei eingeschlafen

war.

Aber heute musste sie wach bleiben. Wir hatten schließlich noch etwas vor.

„Alles kapiert?“, fragte Henry und alle bis auf Oskar nickten. „Ich konnte dir

gerade gar nicht zuhören, Henry,

weil Oma Radieschen wie eine Wilde Hilde hier rumrennt und zetert! Sie sagt,

dass sie ja wohl wissen wird, was sie meint.

Und sie meint nicht Karma, sondern Krama, sagt sie!" „So ein Quatsch!“,

entgegnete Henry.

„Es gibt so was nicht. Krama! Unsinn!" – „Das ist kein Unsinn, das ist Sinn!“,

sagte Oskar,

also Oma Radieschen. „Sie sagt, sie wäre schließlich schon viel länger auf

dieser Welt als du Grünschnabel!“

„Sie hat aber vergessen, dass ich schon mehrere Lexika durchgelesen habe

und das ganze Wissen jetzt in meinem Kopf ist."

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Wieder horchte Oskar auf Omas wildes Gezeter.

„Sie sagt, Bücher, papperlapapp! Das Leben zählt und nicht die Bücher und in

Büchern würden auch viele Sachen stehen, die gar nicht stimmen!"

„Ich glaube, sie verwechselt die Bücher gerade mit dem Internet!", sagte ich

und musste kichern.

Oskar bat uns, dass wir aufhören sollen, uns über Oma Radieschen lustig zu

machen, sonst würde sie sich gar nicht mehr beruhigen.

„Also gut, Oma, wie funktioniert das mit diesem ›Krama‹?",

fragte ich und sah in die Richtung, in der ich Oma Radieschen vermutete.

Dann war es erst einmal still.

„Was sagt sie?“, fragte Marlene ungeduldig, doch Oskar starrte nur auf ein

Kissen,

das am Boden lag und auf das sich Oma Radieschen wohl gerade gesetzt

hatte.

„Sie sagt gar nichts mehr!“ „Oje, ich glaub, wir haben sie verärgert“, sagte ich

und sah so lieb ich konnte zum Kissen hinüber.

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„Liebe Oma Radieschen. Du hast bestimmt recht. Sicher hat dein Krama

überhaupt nichts mit dem Karma zu tun,

von dem Henry gerade erzählt hat. Wir möchten Mama so gern helfen und

wenn du meinst, dass es hilft,

wenn wir Krama sammeln, dann tun wir das", versuchte ich, Oma Radieschen

wieder zu versöhnen.

Mir war es egal, ob ich Krama oder Karma oder Koma oder Cola sammeln

würde, Hauptsache,

am Ende würde unser siebtes Geschwisterchen zu uns kommen.

„Und?“, fragte Malin. „Immer noch nichts!“, antwortete Oskar.

„Dann bleibt es wohl bei sechs Anderskindern!“, sagte Malin traurig und zog

die Unterlippe hoch.

Sie zwinkerte mir allerdings zu und ich wusste auch gleich, was sie vorhatte.

Auch Marlene wusste es, denn die beiden waren ja über ihre Gedanken

miteinander verbunden.

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Und deshalb hielt Marlene so lange die Luft an, bis sich ihre Augen mit Tränen

füllten.

„Kein kleines Geschwisterchen!“, schluchzte sie. »Dann bleiben wir ewig so

allein, wie wir sind. Nur wir sechs allein auf der Welt!",

stieg ich theatralisch mit ein. Ich seufzte, so tief ich konnte, und Malin und

Marlene seufzten mit.

„Macht ja nichts, Mama wird schon irgendwann wieder fröhlich. So in ein oder

zwei Jahren!",

fügte ich noch hinzu. Im Theaterspielen war ich schon immer gut.

„Na ja, dann sitzt das kleine Seelchen eben da oben auf seiner Wolke und

bleibt da sitzen.

Was meinst du, wie viele Seelchen da rumsitzen und es nicht schaffen, zu der

Familie zu kommen, zu der sie gehören?",

sagte ich und tat, als würde ich meine Schwester damit trösten wollen.

„Lasst uns rausgehen und spielen. Das lenkt uns ein wenig ab!" Henry stieg in

unser Spiel mit ein.

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Doch gerade, als wir alle schon aufgestanden waren, grinste uns Oskar an.

„Wartet!“, begann er, »Oma Radieschen meint, dann erklärt sie es euch eben

doch."

Wir versuchten, uns nicht anmerken zu lassen, dass wir genau das geplant

hatten, und wussten,

dass Oma Radieschen uns nicht länger beim Traurigsein zusehen konnte.

„Also? Was meint sie – wie geht das mit dem Krama?", fragte ich und Oskar

wiederholte genau das, was Oma Radieschen ihm erzählte:

„Sieben gute Taten muss man begehen, an sieben aufeinanderfolgenden

Tagen. Wenn man das geschafft hat, darf man einen Wunsch aussprechen.

Das muss man in der Nacht des siebten Tages machen und die Nacht sollte

eine Vollmondnacht sein.

Sieben Kinder sollen sich an den Händen halten, unter dem Mond stehen und

ihren Wunsch aussprechen.

Dann klappt es. Es sollte aber etwas sein, was man nicht mit Geld kaufen

kann.

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Also wäre zum Beispiel ein Geschirrspüler nicht möglich!", beendete Oskar

seine Erklärung.

„Aber einen Gesirrspüler brauchen wir auch gar nis. Wir brauchen ein

Geswistersen!", sagte unser kleines Blümchen.

„Sieben gute Taten?“, fragten Marlene und Malin gleichzeitig.

„Das ist doch gar nicht so schwer. Das schaffen wir!", sagte Henry und legte

seine Hand in die Mitte unseres Kreises.

„Wer ist dabei?“ Einer nach dem anderen legte seine Hand in die Mitte. Und

Henry sagte:

„Sammeln wir Kar… äh … Krama für unser siebtes Geschwisterchen!"

Und wir alle riefen: „Für unser siebtes Geschwisterchen!" Dann warfen wir

unsere Hände in die Luft und lachten.

In dieser Nacht konnte ich erst nicht einschlafen. Ich musste ständig an die

kleine Seele denken,

die da auf einer Wolke sitzt und wartet, dass sie zu uns kommen kann.

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„Wir tun, was wir können, hörst du? Hab noch ein bisschen Geduld!", flüsterte

ich

und blickte dabei aus dem Dachfenster über meinem Bett, aus dem ich die

Sterne sehen konnte.

Vielleicht saß es ja auch in diesem Moment auf einem Stern.

Sicher tat es das, denn nachts gab es ja gar keine Wolken.

Oder vielleicht waren sie da und man konnte sie nur nicht sehen, weil es

dunkel war.

So wie die Sterne ja auch am Tag da sind und man sie nur nicht sieht, weil es

so hell ist.

Vielleicht hatte Henry recht und Oma Radieschen hatte sich das alles nur

ausgedacht.

Vielleicht war es aber auch wahr. Auf jeden Fall kann man nicht viel Schaden

anrichten,

wenn man an sieben Tagen sieben gute Taten vollbringt.

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Im Gegenteil. Ich freute mich darauf und gleich morgen nach der Schule sollte

es losgehen mit dem Krama sammeln.

Wie es weitergeht, erfahrt ihr im dritten Teil der Geschichte!

Adele - möchte die Welt umarmen (Bd. 1) - Teil 2


Geschichte aus: Adele - möchte die Welt umarmen (Bd. 1)
Autor: Sabine Bohlmann
Illustration: Imke Sönnichsen-Kerres
Verlag: Loewe
Alterseinstufung: ab 7 Jahren
ISBN: 978-3-7432-0296-2

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