Sie sind auf Seite 1von 140

Nr. 46 / 11.11.

2017
Deutschland €4,90
Printed in Germany
Ungarn Ft 2250,-
Spanien/Kanaren € 6,50
Spanien € 6,30
Slowenien € 6,20
Slowakei € 6,50
Polen (ISSN00387452) ZL 31,–

xıng lái!
Portugal (cont) € 6,30,–
Norwegen NOK 72,–
Österreich € 5,50
Griechenland € 6,80
Italien € 6,30
Frankreich € 6,30
Finnland € 7,80

AUFWACHEN!

Warum China schon jetzt Weltmacht Nr.1 ist –


Dänemark dkr 51,–

ein Weckruf für den Westen


BeNeLux € 5,50

Jamaika-Koalition #MeToo-Debatte Gefahr für Kinder


Christian Lindner: „Alle Wie männlich ist die Dick und traurig durch
Partner müssen abrüsten“ weibliche Sexualität? Smartphone-Sucht
Licht, Jahre voraus.

Denken Sie nicht an ein Auto.


Denken Sie in A8.

Der neue Audi A8 mit faszinierender Lichttechnologie.


Visionäre wie Sie können weiter in die Zukunft blicken als andere. Ab sofort auch im Straßenverkehr.
Mit den HD Matrix LED-Scheinwerfern mit Audi Laserlicht* im neuen Audi A8. So erhöht sich Ihre
Sicht-Reichweite nahezu um das Doppelte. Darüber hinaus setzt die dynamische Lichtinszenierung
der eleganten OLED-Rückleuchten* den neuen Audi A8 beim Öffnen und Schließen eindrucksvoll
in Szene – und begeistert in „Lichtgeschwindigkeit“.

Audi Vorsprung durch Technik


*Optionale Ausstattung.
ANZEIGE

Pr ickelnder
Cava, Sekt, Crémant HO C H genuss GRATIEN & MEYER
Crémant de Loire Brut
und Champagner – Wer Ausschau nach einem bezahlba-
entdecken Sie unsere ren französischen Premium-Schaum-
wein hält, sollte sich von diesem
internationalen Schaum- Prachtexemplar gleich einen Vorrat
anlegen. Nach den strengen Richt-
wein-Favoriten, die jeden linien der „Méthode Traditionelle“
Moment vergolden! gekeltert, glänzt dieser hochwertige
Crémant nach 18 Monaten Reife mit
zarten Blüten- und saftigen Kern-
obstaromen und mit seiner feinen
Perlage. Ein Glanzstück von der Loire!
CAVAS HILL
Cuvée 1887 Brut Frankreich, Loire
Preis/0,75 l: 6,90 € statt 8,90 € UVP
Diese charaktervolle Kostbarkeit ent- Preis/Karton: 6 Flaschen für 41,40 €
stand durch strenge Ertragsreduktion, Preis/Liter: 9,20 €, 12,5 % vol
Flaschengärung und neunmonatige Bestellnr.: SP-25319
Reife. Als ein Vertreter von Spaniens
hochwertigsten Schaumweinen lässt
der Cava ‚Cuvée 1887 Brut‘ keine
Wünsche offen. Intensive Noten von
Apfel und Grapefruit, Nuancen von
getrockneten Früchten, dazu feine
Perlage und goldene Farbreflexe im
Glas – für edle Genussmomente!
Spanien, Cava DO
Preis/0,75 l: 5,90 € statt 7,50 € UVP
Preis/Karton: 6 Flaschen für 35,40 €
Preis/Liter: 7,87 €, 11,5 % vol
Bestellnr.: SP-25288

Gleich bestellen unter:


CHAMPAGNE VEUVE EMILLE www.vicampo.de/spiegel
Champagner Brut
oder 06131 - 30 29 397
IHR MARKTPLATZ
DER WINZER
MENGER-KRUG Versandkostenfrei
Manchmal muss es einfach Champagner
sein! Dieser Vertreter vom Insider-Weingut Rosé Brut Ab 12 Flaschen,
darunter nur 4,90 €
Veuve Emille zeigt, warum Frankreichs Spit- Bernsteinfarben mit kupfernen Reflexen leuchtet
zen-Schaumwein seit Jahrhunderten Weltruf dieser Sekt im Glas. In traditioneller Flaschen- Genuss-Garantie
genießt. Die klassischen Champagner-Reb- gärung und reinsortig aus der Edelrebe Spät- Bei Nichtgefallen erstatten
sorten Pinot Meunier, Pinot Noir und Char- burgunder gekeltert, begeistert er mit typischen wir Ihnen den Betrag
donnay ergeben ein harmonisches Genuss- Beerennoten, dezenter Würze, zarter Säure und
erlebnis aus animierenden Fruchtaromen, feiner Perlage. Der ‚Rosé Brut‘ zaubert ein sinn- Einfache Zahlung
typischen Brioche-Noten, feiner Perlage und liches Trinkvergnügen der Extraklasse – der Pre- Auf Rechnung oder
harmonischem Abgang. Der Klassiker! mit Kreditkarte
mium-Sekt vom Traditionshaus Menger-Krug!
Frankreich, Champagne Deutschland, Pfalz
Preis/0,75 l: 19,90 € statt 24,90 € UVP Preis/0,75 l: 12,50 € statt 14,90 € UVP
Preis/Karton: 6 Flaschen für 119,40 € Preis/Karton: 6 Flaschen für 75,00 €
Preis/Liter: 26,53 €, 12,5 % vol Preis/Liter: 16,67 €, 13 % vol
Bestellnr.: SP-45239 Bestellnr.: SP-25278

ANBIETER: Vicampo.de GmbH, Taunusstraße 57, 55118 Mainz • Alle Preise inkl. MwSt., Versand 4,90 €, ab 12 Flaschen versandkostenfrei innerhalb Deutschlands. Alle Weine
enthalten Sulfite. Nur solange der Vorrat reicht. Abgabe von Alkohol erfolgt nur an Personen ab 16 Jahren. • ABFÜLLER: SP-25288 Cavas J. Hill S.C., Ronavista 2, 08734 Moja • SP-25319
Gratien Meyer S.A.S., Route de Montsoreau, CS 94012, 49412 Saumur cedex • SP-45239 Govenor, Épernay, France; Alleinimport durch: Henkell & Co. Sektkellerei KG, Biebricher Allee 142,
65187 Wiesbaden • HERSTELLER: SP-25278 Menger-Krug Sektkellerei GmbH, Biebricher Allee 142, 65187 Wiesbaden
(LQ+DXVGDVDOOH
Das deutsche Nachrichten-Magazin
PHLQH$QVSU¾FKH
HUI¾OOW")¾UPLFK
Hausmitteilung /HEHQVTXDOLW¦WSXU
Betr.: Sexismus, Jemen, „DEIN SPIEGEL“

Seit Anfang Oktober die Übergriffe des


US-Filmproduzenten Harvey Weinstein
bekannt wurden, vergeht auch in der SPIE-
MARIA FECK / DER SPIEGEL

GEL-Kantine kaum eine Mittagspause, ohne


dass Frauen und Männer diskutieren, wer
was wann darf – oder eben auch nicht. Aus
der #MeToo-Debatte über Sexismus ist
längst eine Debatte über Rollenbilder und
Voigt, Konrad, Becker notwendige Grenzen geworden. Doch wo
steht die Gesellschaft wirklich in diesen Fra-
gen? Redakteur Peter Müller beschreibt aus Brüssel, wie die Europaabgeordneten
politisch um Frauenrechte ringen, einige von ihnen sich gleichzeitig aber selbst
den Sexismusvorwurf gefallen lassen müssen. Georg Diez erzählt am Beispiel des
Schauspielers Kevin Spacey, wie das Hollywoodsystem aus Macht und Missbrauch
auch schwule Sexualität betrifft. Claudia Voigt und Tobias Becker besuchten in
Mein Haus. Meine Welt.
Hamburg die Psychologin Sandra Konrad, deren Thesen „einigen Frauen nicht
gefallen werden“, wie Voigt berichtet. So behauptet Konrad, dass viele Frauen
ihre Lust noch immer der Lust des Mannes unterordnen. Um Identität und Ab-
grenzung geht es auch bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ein
drittes Geschlecht einzuführen. Intersexuelle sollen sich künftig entscheiden dürfen:
männlich, weiblich – oder für ein „weiteres Geschlecht“. Seiten 38, 42, 118, 122

E igentlich sollte es streng geheim bleiben, dass


ein Dutzend Reporter, darunter auch Christoph
Reuter vom SPIEGEL, in den Jemen kommt. Seit
zwei Jahren hat es kaum ein ausländischer Jour-
nalist in das vom Krieg zerrissene Land geschafft.
Dass es nun doch gelang, ist Sultan al-Arada, dem :HUWHVFKDŎHQ:RKQXQG
Gouverneur von Marib, zu verdanken. Er ließ die
Journalisten mit einer schwer bewaffneten Eskorte /HEHQVNRQ]HSWHYHUZLUNOLFKHQ
von einem Flughafen in den Wüstenbergen des 0LWKRKHQ4XDOLW¦WVVWDQGDUGV
Hadramaut abholen. Die Geheimhaltung allerdings Sultan al-Arada, Reuter
scheiterte: Über Facebook, Fernsehen und Rund- XQGGHPXPIDVVHQGHQ6HUYLFH
funk wusste alsbald der ganze Jemen vom Medienbesuch. Die Abreise wurde HLQHV%DXSDUWQHUVGHUZHL¡
für die Journalisten deshalb zur Odyssee: Sechs Stunden waren eingeplant,
um zurück zum Flughafen zu gelangen. Am Ende brauchten Reuter und seine ZDV6LHZROOHQweberhaus.de
Kollegen mehr als viermal so lange, um wieder aus dem Land zu kommen.
Nach dem Raketenangriff der Huthi-Rebellen auf den Flughafen von Riad ließ
Saudi-Arabien den gesamten jemenitischen Luftraum sperren. Den Journalisten
blieb nur ein 900-Kilometer-Umweg nach Oman. Im schaukelnden Reisebus
durchquerten sie dabei auch eine Gegend, die laut Karten noch von al-Qaida
beherrscht wird. „Diese Information stellte sich zum Glück als überholt heraus“,
sagt Reuter. Seite 96

K aum jemand ist einem Kind näher als der Bruder oder
die Schwester. Geschwister lieben und streiten sich.
Sie zoffen sich, wer zuerst ins Bad darf, und sie helfen
einander bei den Schulaufgaben. „DEIN SPIEGEL“, das
Wohnmedizinisch empfohlen
YRQGHU*HVHOOVFKDIWI¾U:RKQPHGL]LQ
Nachrichten-Magazin für Kinder, erzählt in der Titelge-
schichte dieses Monats, warum Geschwister so ein beson- %DXK\JLHQHXQG,QQHQUDXPWR[LNRORJLHH9
deres Verhältnis zueinander haben – und rät, was sich tun
lässt, um weniger zu streiten. Außerdem im Heft: So arbei-
ten Kriminalkommissare. Und: Wie landet möglichst wenig
Essen im Müll? Die neue Ausgabe erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL 46 / 2017 5


Auf der Zielgeraden
Koalition Jamaika rückt näher: Bei den

MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE


Gesprächen zwischen Union, FDP und
Grünen geht es schon um die Postenver-
teilung. Über wichtige inhaltliche Punk-
te wird noch gestritten. Völlig offen ist,
welche positive Botschaft die Partner
ihrem Bündnis geben wollen. Seite 28
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

ALAMY / MAURITIUS IMAGES


MARIA IRL / DER SPIEGEL

Der Rechtsruck „So will ich nicht leben“ Tricksereien ohne Ende
Einheit Zum Jahrestag des Mauerfalls Psychologie Ihr Kind hängt ohne Unter- Steuerflucht Die Paradise Papers offen-
ziehen die AfD-Siege im Osten neue Trenn- lass am Smartphone oder Computer? Es baren Einblicke in einen chronischen Skan-
linien. Ministerpräsidenten und Bürger isst viel zu viel und mag nicht mehr zur dal. Die Politik hat die Hinterzieher
berichten, was sie gegen den Populismus Schule gehen? Dann könnte es am Iso-Syn- und die Steueroasen zwar längst ins Visier
unternehmen. Und ein SPIEGEL-Essay fragt, drom leiden. Wie Tom. Bis er, spät, Hilfe genommen. Doch dieser Kampf kann
warum „Wessis“ nicht im wiedervereinigten in der „Insula“ fand, einem Rehazentrum kaum erfolgreich sein, wenn selbst EU-Län-
Land angekommen sind. Seiten 46, 52 in den Berchtesgadener Alpen. Seite 108 der von Tricksereien profitieren. Seite 74

6
In diesem Heft

Titel Medien
China Der atemberaubende Aufstieg des Debatte Deutschlandradio-Intendant
Landes zur politischen, wirtschaftlichen Stefan Raue fordert im Streit mit den
und technologischen Supermacht 14 Verlagen mehr Kompromissbereitschaft 84

Deutschland Ausland
Leitartikel Das dritte Geschlecht 10 Trumps Asienreise bringt keine Lösung für

DIETER ROESELER / LAIF


Meinung Der schwarze Kanal / So gesehen: das Nordkoreaproblem / Fasst der „Isla-
Nutella neu 12 mische Staat“ auf den Philippinen Fuß? 86
Manuela Schwesig fordert von SPD-Partei- Saudi-Arabien Säuberungswelle oder
chef Martin Schulz mehr Engagement für Reformprojekt? Die Strategie
die Frauen / Im Machtkampf der CSU deutet des Kronprinzen Mohammed bin Salman 88
sich eine Lösung an / Die Klimaschutz- Der Journalist Jamal Khashoggi über
organisation Atmosfair listet die saubersten die zunehmende Unterdrückung kritischer Manuel Charr
und dreckigsten Airlines auf 24 Stimmen in seinem Land 90
Koalition Der schwierige Weg zum USA Scott Pruitt ist Trumps bester Mann – Er wurde in einem Essener
Jamaikabündnis 28 er leitet die Umweltbehörde EPA und Dönerladen angeschossen
FDP Im SPIEGEL-Gespräch nennt Partei- schafft den Naturschutz ab 92 und hat zwei künstliche Hüft-
chef Christian Lindner Kompromisse Jemen Reportage aus Marib, das zur heim- gelenke. Dennoch ist Charr
für die heiße Verhandlungsphase 32 lichen Hauptstadt des Landes geworden ist 96 die größte Hoffnung des deut-
Soziales In Deutschland könnte der schen Berufsboxens. Ende
Renteneintritt flexibler werden 36 Sport
Justiz Die Entscheidung des Verfassungs-
November kämpft er um die
Bundestrainer Joachim Löw erfolgreicher Weltmeisterschaft. Seite 102
gerichts zum dritten Geschlecht hat als die deutschen Legenden / Magische
vielfältige Folgen 38 Momente: Claudia Kohde-Kilsch über
Urteile Der Ethiker Peter Dabrock ihren Triumph beim Federation Cup 101
erläutert, warum die Interessen Boxen Freakshow und die Sehnsucht nach
der Mehrheit Grenzen haben sollten 39 einer neuen Rakete im Ring 102
Sexismus Das Europaparlament klärt
Missbrauchsfälle nur zögerlich auf 42
Wissenschaft
Karrieren Machtkampf um den Vorsitz

SERGE HOELTSCHI / DER SPIEGEL


der Konrad-Adenauer-Stiftung 44 Öko-Rhein lockt Tiere an / Wie schmeckt Bier
Hauptstadt Sind Berliner Polizeischüler aus Bibergeil? / Einwurf: Du kan säga du 106
faul, dumm und korrupt? 45 Psychologie Internetsucht, Übergewicht,
Einheit Im Osten suchen Bürger und Politiker Schulschwänzerei – Ärzte
nach Rezepten gegen den Rechtsruck 46 untersuchen das Iso-Syndrom 108
Essay Warum auch „Wessis“ in Deutschland Verhalten Dreist stehlen Orcas und Pottwale
ankommen müssen 52 Fischern den Fang von der Leine 111
Ermittlungen Wie die Bremer Polizei Medizin Knochen heil, Geist wirr – alte
nach vagen Hinweisen derselben Menschen rutschen nach Operationen Krista Suh
Journalistin zweimal große Anti-Terror- leicht in ein „Delir“ 112
Operationen begann 54 Architektur Der Bauhistoriker Stiewe Sie hat den „Pussyhat“ er-
Islamismus Der Messerattentäter von kämpft für das Comeback des Fachwerks 114 funden, die „Muschimütze“,
Hamburg wird wegen Mordes angeklagt 56 die zum Symbol des Protests
Kultur gegen Donald Trump wurde.
Gesellschaft Ein neuer Louvre in Abu Dhabi / Ein Jahr nach dessen Wahl
Früher war alles schlechter: Gemüse- Ein weiterer missratener Hitler-Film / zeigt sich: Der amerikanische
konsum / Ist Google rassistisch? 58 Kolumne: Besser weiß ich es nicht 116
Sexualität SPIEGEL-Gespräch mit der
Widerstand geht stark von
Eine Meldung und ihre Geschichte Mann Frauen aus. Seite 60
lebt 40 Jahre lang mit einem Plastikspiel- Psychologin Sandra Konrad über
zeug in der Lunge 59 die Lust der Frauen, Pin-up-Posen und
Jahrestage Ein Jahr Donald Trump – die #MeToo-Debatte 118
er macht die männlichste Politik, Filmindustrie Die Vorwürfe gegen Kevin
die das Land je hatte, doch der weibliche Spacey eröffnen einen Blick auf Macht
Widerstand wächst 60 und Missbrauch unter Homosexuellen 122
Homestory Die seltsame Sehnsucht Künstler Der Erfolg des jungen Berliners
der Menschen nach Bergdörfern 66 Julius von Bismarck 124
Literatur „Die Obstdiebin – oder –
Einfache Fahrt ins Landesinnere“, das
Wirtschaft neue Buch von Peter Handke 126
VW droht neuer Ärger mit der BaFin / Dreck- Filme Vanessa Redgrave und Ai Weiwei
schleuder als Dienstwagen / Beitrag zur präsentieren Regiearbeiten zur
Arbeitslosenversicherung könnte sinken 68 Flüchtlingskrise 128
Tarifparteien Die IG Metall kämpft Theaterkritik Milo Rau lässt in Berlin die
DPA

erstmals seit mehr als 30 Jahren wieder Oktoberrevolution von 1917 nachspielen 131
für eine Arbeitszeitverkürzung 70 Mohammed bin Salman
Steuerflucht Die Paradise Papers geben
neue Einblicke in einen alten Missstand 74 Bestseller 130 Er will Saudi-Arabien moder-
FDP-Vize Wolfgang Kubicki hat Vorschläge, Impressum, Leserservice 132 nisieren, Widerspruch ist ge-
wie man Steueroasen bekämpft 76 Nachrufe 133 fährlich. Der junge Thronfol-
Digitalisierung Sony wagt eine Neuauflage
des elektronischen Hunds Aibo 78
Personalien 134 ger ließ Prinzen und Minister
Handel Metro-Chef Olaf Koch könnte sich Briefe 136 verhaften, offiziell wegen Kor-
selbst ausgetrickst haben 80 Hohlspiegel / Rückspiegel 138 ruption. In Wahrheit tobt ein
Mobilität Google testet Autos, in denen der Kampf um die Macht und die
Computer die alleinige Kontrolle hat 81 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ Zukunft des Landes. Seite 88

DER SPIEGEL 46 / 2017 7


DIE NEUE
UNABHÄNGIG
DER NEUE BMW X3.
GRENZENLOS INNOVATIV.

Abbildung zeigt Sonderausstattungen.


KEIT. Freude am Fahren
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Gedöns? Gesetz!
Mann, Frau, divers: Karlsruhes Beschluss zum dritten Geschlecht ist richtig und menschlich.

D
as Kürzel lautet: LSBTI. Es steht für verschiedene Aus der Sicht der Rechten ist da etwas in Unordnung
sexuelle und geschlechtliche Identitäten, man liest geraten, und die Entscheidung des Bundesverfassungs-
es in Szenepublikationen und akademischen Schrif- gerichts bestätigt erfreulicherweise, dass das stimmt. Es
ten und in Kommentaren, deren Autoren das alles für Ge- ist eine ausdrücklich moderne Entscheidung, dass in
döns halten, für absurd. Die Debatte rauscht schon länger deutschen Amtsstuben künftig mit Stempel bestätigt
(Transgender-Toiletten! Ha!), aber nun plötzlich geht es werden soll: Es gibt männlich, weiblich und noch etwas.
nicht mehr um Gedöns, sondern ums Gesetz. Diese Entscheidung spiegelt gesellschaftlichen Wandel.
Die Rede ist vom I im Kürzel: Intersexuell, das sind Zwar ist das Kürzel LSBTI nicht im Alltag der
Menschen, die biologisch weder eindeutig Mann noch ein- Gesellschaft angekommen oder der Sprachgebrauch von
deutig Frau sind; sie sollen künftig, so hat das Bundesver- Regenbogendenker*innen und Genderaktivist_innen, die
fassungsgericht entschieden, einen eigenen Eintrag im Ge- mit Strich und Sternchen zeigen, dass alle erdenklichen
burtenregister bekommen: „Inter“ ist ein Vorschlag, ein Geschlechter gemeint sind; eine Praxis, die das Leben
anderer: „divers“. Sie sind eine Minderheit, etwa 160 000 für manche gerechter und für viele anstrengender
Personen, aber es betrifft die gesamte Republik. Es ist ein erscheinen lässt.
Kulturbruch, der viele irritie- Der Mainstream spricht
ren wird, muss das sein? Es nicht so. Aber der Mainstream
muss. hat sich an anderes gewöhnt.
Es gibt sie immer schon, die An die Dragqueen Olivia
Uneindeutigen, bei denen Jones, die männlich/weiblich
zum Beispiel die Geschlechts- über den Bildschirm und die
chromosomen eine andere Reeperbahn stöckelt, an die
Botschaft tragen als die Hor- Sängerin Conchita Wurst, die
mone, und die Reaktion da- feminin mit Bart den Euro-
rauf, bei Eltern: Schock und vision Song Contest gewinnt.
Scham. Die Stille im Kreissaal Das Spiel mit Geschlechterrol-
nach der Frage: Was ist es len ist etwas anderes als die
denn nun? Das Drängen der körperliche Uneindeutigkeit.
Standesbeamten, das etwas Aber das Spiel hat dazu bei-
milder geworden ist; seit 2013 getragen, den Raum dessen
ist es möglich, auf einen Ein- neu zu vermessen, was als ge-
trag zum Geschlecht des Kin- sellschaftlich akzeptabel gilt.
des zu verzichten. Die ärztli- Die Entscheidung des Ver-
che Praxis über Jahrzehnte: fassungsgerichts war wichtig
SARA D. DAVIS / AFP

Was nicht passt, wird grausam und richtig, ihre Folgen sind
passend gemacht – Hoden so groß, dass sie noch gar nicht
entnommen, Eierstöcke ent- abzusehen sind. Zunächst
fernt – , oft ohne dass der be- ganz praktisch: Wenn das „di-
troffene Mensch erfuhr, was vers“ geborene Kind in der
mit ihm geschah. Anerkennung der geschlechtlichen Iden- Kita vor der Frage steht: „Auf welches Klo, Chris, willst
tität, darum geht es Intersexuellen heute. du gehen?“, kann es selbst entscheiden? Können Eltern
Was für die einen ein Zuwachs an Freiheit ist, bedeutet ohne Rollenzuschreibung erziehen? Sollen sie das tun?
für andere Zumutung, Verunsicherung. „Und Gott schuf Und weit darüber hinaus: Wer bestimmt wann das Ge-
den Menschen als Mann und Frau“? Eben nicht. Wenn er schlecht eines Menschen? Wie oft im Leben kann es neu
(oder sie) etwas schuf, dann waren es mehr als die zwei festgelegt werden? Welche objektiven Kriterien zählen
Geschlechter, von denen die Bibel erzählt. Das ist sicher überhaupt? Die Karlsruher Entscheidung macht die Zu-
schwierig für manche christlich Konservativen, die schon ordnung variabler: Sie schafft mehr Freiheit. Wie weit
schwule Minister zu verkraften haben oder die Ehe für lässt sich das treiben? Wird der Mensch irgendwann ein-
alle. Und die Rechten nehmen es dankbar als Provokation. fach selbst entscheiden, ob er als weiblich, männlich, di-
Gender Studies? Kampf um sexuelle Identitäten? Das ge- vers durchs Leben geht? Und welchen Sinn macht dann
hört zu den Lieblings-Hassthemen der AfD. überhaupt noch die Kategorie Geschlecht?
Es ist kein Zufall, dass die rechte Zeitschrift „Sezession“ Das ist Neuland, neue Unsicherheit, aber es ist deutlich
für eine „Re-Polarisierung der Geschlechter“ wirbt und besser als das, was war: hilflose Eltern, die ihr Kind zu-
für die „Reconquista maskuliner Ideale“. Die Uneindeu- rechtschneiden lassen, damit es der Norm genügt. Die
tigkeit passt nicht zum binären Denken: schwarz oder Entscheidung sagt: Das Kind ist nicht falsch. Es gehört
weiß. Deutsch oder fremd. Mann oder Frau. dazu. Das ist die Wirklichkeit. Barbara Supp

10 DER SPIEGEL 46 / 2017


Unsere Initiative für den Mittelstand:
individuelle Lösungen und Produkte.
Expertise für Ihren Markt, Finanzlösungen für Ihr Portfolio, Inspirationen für Ihr
Investment. Profitieren Sie von den Leistungen der DZ BANK für den Mittelstand.
Als Spitzeninstitut der Genossenschaftlichen FinanzGruppe Volksbanken Raiffeisen-
banken bündeln wir nicht nur Finanzlösungen für mittlere Unternehmen, sondern
auch das Fachwissen der genossenschaftlichen Spezialisten für Ihren Erfolg.
Erfahren Sie mehr unter dzbank.de
Meinung
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Begnadete Verkäufer
Man kann zurzeit viel wortete der Facebook-Jurist betreten. Ob
darüber lesen, wie die die Unternehmensleitung versprechen kön- Der Teufel in
russische Regierung
Einfluss auf die ame-
ne, dass man besser vorbereitet sei, wenn
Anzeigen mit nordkoreanischen Won be-
Schokogestalt
rikanische Wahl ge- zahlt würden? Auch das sei nicht so ein- So gesehen Nutella hat
nommen hat. Ein fach, erklärte der Gesandte aus Kalifor- von nun an mehr Zucker
wichtiges Einfallstor nien. Normalerweise würde man jetzt viel- und wohl weniger Kakao.
für die Propaganda leicht sagen: Die Firma mauert. In dem
scheint Facebook gewesen Fall, fürchte ich, offenbart der Anwalt die Früher war der Apfel die Ver-
zu sein. 126 Millionen Nutzer sollen Texte Wahrheit: Facebook ist wirklich zu doof. suchung. Die Museen sind
erhalten haben, die der Kreml lanciert hat- Ich habe lange in Amerika gelebt. Wenn voller Belege – Holbein,
te, um Donald Trump den Weg ins Weiße die Amerikaner eines beherrschen, dann ist Cranach, Michelangelo, you
Haus zu ebnen. Ich glaube zwar nicht, dass es die Kunst des Verkaufs. Das Model S name it. Heute wäre Evas
die Stahlkocher in Pennsylvania Facebook von Tesla ist ein Auto, das als sportliche Apfel ein einwandfreies An-
brauchten, um ihr Herz für Trump zu ent- Limousine angeboten wird, aber wenn man gebot, ökobilanzmäßig so-
decken. Aber die Sache ist trotzdem ziem- es sportlich fährt, muss man schon nach 140 wieso, gut für die Zähne au-
lich peinlich für ein Unternehmen, dessen Kilometern an die Ladestation. Aus meiner ßerdem, von Vitaminen und
Vorsitzender nach der Wahl gesagt hatte, Sicht ist ein Auto, das man im Tempo eines Vitalstoffen zu schweigen.
dass es eine „irre Idee“ sei anzunehmen, Fiat Uno über die Autobahn bewegen soll- Der Zuckergehalt eines mit-
fremde Mächte könnten es für ihre Zwecke te, um nicht nach 50 Minuten liegen zu blei- telgroßen Apfels wird mit
missbrauchen. ben, das Gegenteil eines Sportwagens. Den- gut zehn Gramm beziffert,
Vergangene Woche sollte der Chefjusti- noch sind alle ganz verrückt danach. eine entsprechende Menge
ziar von Facebook vor einem Kongress- In den Zeitungen stand vor ein paar Mo- Nutella kommt auf ungefähr
ausschuss erklären, wieso man im Silicon naten die Meldung, dass der Konsumgüter- das Fünffache. Der Kakaoan-
Valley von den Aktivitäten der Russen konzern Procter & Gamble seine Zielgrup- teil kann nur geschätzt wer-
nichts mitbekommen hatte. Der Eindruck, pen-Werbung bei Facebook zurückfährt. den, da die Firma Ferrero ihr
den der Mann hinterließ, war kläglich. Ich Der Konzern habe den Glauben verloren, Rezept hütet wie die steuer-
habe ein Video des Auftritts im Internet ge- dass Facebook die Vorlieben seiner Nutzer vermeidende Fetischfabrik
sehen, man kann es leicht googeln. Der so genau kenne, wie das immer behauptet Coca-Cola das ihre.
Justiziar heißt Colin Stretch. Ich kann das werde, lautete die Begründung. Als die Nun haben die Drogenmi-
Video nur jedem zur Ansicht empfehlen, Entscheidung fiel, wussten sie bei Procter scher aus dem Land der Zitro-
der nach wie vor an die Allmacht von & Gamble noch nicht, dass Facebook sich nen und des Berlusconi die
Facebook glaubt. außerstande sieht, von der Währung auf Zusammensetzung den Be-
„Sie sagen, Sie können Milliarden von den Wohnort des Kunden zu schließen. dürfnissen ihrer Klientel wei-
Datenpunkten verknüpfen. Aber Sie sind Möglicherweise ist Facebook ja das Tesla ter angepasst – offiziell un-
nicht in der Lage zu erkennen, dass Werbe- des Internets. schuldige, kleine Menschen,
anzeigen, die in Rubel bezahlt wurden, aus aber allenthalben sind auch
Russland kamen?“, fragte einer der Sena- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Erwachsene zu beobachten,
toren. Das sei alles nicht so einfach, ant- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. die sich die schokofarbene
Paste löffelweise in den Mund
schieben. Es unterscheidet sie
von ihren Kindern nur das
Kittihawk schlechte Gewissen – insofern
ist Ferrero doch ein würdiger
Sachwalter der Erbsünde. Re-
genwald für Palmöl, Hotel-
portiönchen in Plastik, Indus-
triezucker als Einstiegsdroge
der Adipösen – das Bewusst-
sein derart schuldhafter Zu-
sammenhänge lässt sich nur
vergessen, solange die Zunge
damit beschäftigt ist, die jetzt
etwas hellere Klebmasse vom
Gaumen zu lösen. Es handelt
sich, den Angaben des steuer-
vermeidenden Konzerns zu-
folge, um winzige Verschie-
bungen.
Man muss, das wissen alle
Süchtigen, seinem Dealer ver-
trauen. Elke Schmitter

12 DER SPIEGEL 46 / 2017


5 MILLIONEN
MENSCHEN.
53 STÄDTE.
1 METROPOLE.
DIE METROPOLE RUHR IST MEHR ALS NUR EINE STADT.
SIE IST URBANER BALLUNGSRAUM, WIRTSCHAFTLICHES
HERZ EUROPAS, HEIMAT FÜR MILLIONEN – UND NOCH
VIEL MEHR. SIE IST: DIE STADT DER STÄDTE.
MEHR UNTER WWW.METROPOLE.RUHR
Präsidenten Trump, Xi mit Ehefrauen am 8. November in Peking: Der „Führer der freien Welt“ ist auf Abschiedstour

Der hellwache Riese


China Nach 40 Jahren atemberaubenden Aufstiegs hat China die Schwelle zur politischen,
wirtschaftlichen und technologischen Supermacht überschritten. Der Westen hat noch nicht
begriffen, vor welcher Herausforderung er steht. Ein Weckruf.

14 DER SPIEGEL 46 / 2017


Titel

Trumps Reise hat – ungewollt – etwas


von einer Stabübergabe: Der irrlichternde
„Führer der freien Welt“ begibt sich auf
eine Art Abschiedstour. Es ist der Ab-
schied von einer Ära, in der jahrzehnte-
lang die Machtzentren der Welt klar defi-
niert waren und die amerikanische Füh-
rungsrolle nie infrage gestellt wurde.
„Ich zolle China großen Respekt“, sagte
Trump, der Peking noch im Wahlkampf
vorgeworfen hatte, es „vergewaltige“ die
USA mit seiner unfairen Wirtschaftspolitik.
„Wer kann einem Land vorwerfen, dass es
ein anderes Land zum Nutzen seiner eige-
nen Bürger übervorteilt?“
Es war wie ein Kotau, die ritualisierte
Geste, mit der sich ausländische Gesandte
dem Kaiser von China früher zu unterwer-
fen hatten, eine unwürdige Verbeugung
vor der Machtfülle, mit der die Kommu-
nistische Partei Staatschef Xi Jinping auf
ihrem Kongress im Oktober ausgestattet
hatte – und die Trump offenbar imponiert.
Pekings Machtanspruch geht über China
längst hinaus. Es ist ein globaler Anspruch.
Das politische Modell seines Landes, sagte
Xi auf dem Parteitag, sei „eine große
Schöpfung“ und ein Modell für andere
Staaten: „Unsere chinesische Zivilisation
erstrahlt in dauerhafter Pracht und Herr-
lichkeit.“
So haben Chinas Herrscher seit dem
Ende des Kaiserreichs nicht mehr gespro-
chen, nicht einmal Mao Zedong. Dessen
Nachfolger Deng Xiaoping beschwor sei-
ne Genossen, mit Chinas wachsendem
Gewicht behutsam umzugehen. „Verbirg
deine Stärke und warte ab“, lautete sein
Leitsatz.
Mit dieser Doktrin der Zurückhaltung
hat Xi Jinping gebrochen. Seine Parteitags-
rede klang wie der Ruf nach dem „Platz
an der Sonne“, mit dem das wilhelmini-
sche Deutschland vor mehr als hundert
Jahren seinen globalen Anspruch formu-
lierte. Die Welt, sagte Xi, stehe am Beginn
eines neuen „Zeitalters, in dem China ins
Zentrum vorrücken wird“.
JIM WATSON / AFP

Das ist mehr als eine Absichtserklärung,


es ist die Beschreibung einer Realität: Chi-
nas Aufstieg verändert die Welt. Seine poli-
tische und wirtschaftliche Kraft, seine Auf-
rüstung und sein wissenschaftlicher Fort-
schritt haben das Land in den Rang einer

M
it dieser Weltkarte stimmt etwas ragend: China, das Reich der Mitte. Ganz Weltmacht katapultiert, wie sie der Westen
nicht. Sie hängt im Blauen Saal Asien schaut anders auf die Welt als der seit dem Führungswettlauf während des
des Außenministeriums in Peking, Westen, der es jahrhundertelang dominier- Kalten Krieges nicht mehr gesehen hat.
majestätisch groß über einem Podium mit te. Das war schon früher so, es ist nur vie- Wie einst die Sowjetunion ist China
zwei roten Fahnen. Europa liegt auf dieser len Europäern und Amerikanern nicht auf- ein repressiver, leninistisch durchregierter
Karte, ziemlich zerquetscht, am linken obe- gefallen. Je reicher und je selbstbewusster Machtstaat, der Widerspruch nicht duldet
ren Rand, darunter Afrika, das deutlich aber Asiens Großmacht China wird, desto und jeden Einzelnen brechen kann, der
besser zu erkennen ist. Amerika, in west- bedeutender wird Pekings Blick auf den sich dem Ganzen in den Weg stellt. Aber
lichen Atlanten stets auf der linken Seite, Globus. anders als damals die UdSSR ist die Volks-
liegt rechts außen, tief im Osten. Im Zen- Zwölf Tage lang reist US-Präsident Do- republik ökonomisch stark und verfügt
trum der Karte: die Leere des Pazifiks. nald Trump zurzeit durch Asien, am Mitt- über ein hochmodernes Arsenal digitaler
Gleich daneben aber, wie ein mächtiger woch landete die Air Force One auf dem Überwachungs- und Kontrollwerkzeuge.
Bauch aus der eurasischen Landmasse Pekinger Flughafen. Und anders als westliche Politiker regieren

DER SPIEGEL 46 / 2017 15


Titel

Privatvermögen ausgewählter Länder, brutto, in Billionen Euro und produziert mehr Solar- und Windener-
gie als alle anderen.
In der Digitalisierung prescht Peking
Quellen: Allianz Global Wealth ebenfalls vor. China hat die meisten Inter-
Report 2017, Weltbank
netnutzer und Smartphone-Besitzer. Chi-
71,4 nas Softwareingenieure konkurrieren mit
22,5 15,2 den amerikanischen Konzernen auf dem
5,8 5,1
0,8 Zukunftsfeld der künstlichen Intelligenz,
manche US-Experten warnen schon vor
Sparquote in Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts 2015, 2016, jeweils letzter Stand
einem erneuten „‚Sputnik‘-Moment“. Kein
anderes Land erhebt solche Mengen an
Daten und wertet sie so hemmungslos aus.
2016 floss nach Schätzungen der Silicon
19,2 48,4 27,0 27,1 21,3 25,4 Valley Bank zum ersten Mal etwa so viel
Risikokapital nach China wie in die USA;
ein Drittel der weltweit 262 Unicorns –
Start-ups jenseits einer Milliarde Dollar
USA China Japan Deutschland Frankreich Russland Marktwert – kommen aus China.
Auch im Sport, in der Kultur und der
Pekings Führer, ohne sich von demokrati- China profitiert wie wenige andere Län- Wissenschaft verändert China die Weltkar-
schen Wahlen aufhalten zu lassen. der von der heutigen Weltordnung. Es sind te. Einige der größten europäischen Fuß-
Washington, beklagt das US-amerikani- US-Flotten, die die Seerouten sichern, über ballklubs sind heute in chinesischem Be-
sche Magazin „Foreign Policy“, leide unter die Peking seine Rohstoffe bezieht und sei- sitz. Hollywoodstudios richten sich zuneh-
einem „Aufmerksamkeitsdefizit“, wenn es ne Exporte verschifft. Es ist nicht zuletzt mend am chinesischen Kinomarkt aus, wo
um China gehe. Die Trump-Regierung las- Chinas Mitgliedschaft in der Welthandels- sie mit manchen Filmen mehr verdienen
se sich von innenpolitischen Streitereien, organisation, der das Land seinen Wachs- als in der Heimat. Und Peking investiert
dem Antiterrorkampf und Konflikten mit tumsschub verdankt. Das Risiko, diese massiv in Forschungszweige wie Gentech-
Russland, Iran und Nordkorea ablenken, Weltordnung grundlegend zu verändern, nik und Quantentechnologie.
den Volkswirtschaften Nummer 12, 29 und wäre für Peking viel zu hoch, der Nutzen Um der Herausforderung zu begegnen,
113 der Welt – während „China hart daran fraglich. China, kritisierte der damalige US- die Chinas Aufstieg für den Westen bedeu-
arbeitet, die Nummer 1 zu werden“. Präsident Barack Obama einmal, sei ein tet, ist wichtig zu verstehen, was Peking
Das gilt für den Westen insgesamt. China „Trittbrettfahrer“ der Pax Americana. Wa- erreicht hat und worauf es hinauswill. Ein
ist nicht an den nachrichtenträchtigen Krisen rum sollte es daran etwas ändern? Weckruf in fünf ausgewählten Kapiteln:
unserer Zeit beteiligt, es produziert selten China will die Welt nicht chinesisch ma- Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Tech-
Skandale, welche die westlichen Schlagzeilen chen. Anders als das katholische Weltreich nik, Kultur – und Fußball.
bestimmen. Chinas Aufstieg ist ein Langzeit- Spanien und später die kommunistische
projekt. Der kurze Atem unserer Aufmerk- Sowjetunion oder die republikanischen
samkeit, die sich tagtäglich mit den jüngsten Vereinigten Staaten kümmert die Chine- I. GEOPOLITIK
Peinlichkeiten im Weißen Haus befasst, hin- sen nicht, woran andere Völker glauben, Töte das Huhn, um die Affen
dert uns daran, die epochale Verschiebung welcher Ideologie sie folgen oder welche
wahrzunehmen, die von China ausgeht. Regierungsform sie wählen.
zu erschrecken
Spätestens 2050, so die staatliche Nach- China hat keine politische Mission, die Drei US-amerikanische Flugzeugträger
richtenagentur Xinhua, also „zwei Jahr- über seine unmittelbaren wirtschaftlichen kreuzen derzeit mit ihren Verbänden im
hunderte nach den Opiumkriegen, die das und Sicherheitsinteressen hinausginge. Pe- Westpazifik – Donald Trumps Begleitkom-
Reich der Mitte in eine Phase der Krän- king vermeidet die politische Parteinahme mando auf seiner ersten Asienreise.
kung und der Schande stürzten, wird Chi- und unterhält in fast allen großen Konflik- Auf den ersten Blick richtet sich die Flot-
na an die Spitze der Welt zurückkehren“. ten gute Beziehungen zu beiden Seiten – tenparade an Nordkoreas Diktator Kim
Sollte jemand versuchen, diesen weiteren zu Iran und Saudi-Arabien, zu Israel und Jong Un. Er soll daran erinnert werden,
Aufstieg von außen zu stören, so die „Glo- Palästina, zu Russland und der Ukraine. dass seinem Regime die Vernichtung droht,
bal Times“, werde Peking „nicht zögern, Dieses Prinzip der Nichteinmischung be- sollte er es wagen, Amerika anzugreifen.
mit strategischer Kraft zurückzuschlagen deutet aber nicht, dass China keinen Einfluss Der langfristig gewichtigere Adressat aber
oder sich, wenn nötig, auf eine entschei- nähme. Er speist sich nur aus anderen Quel- ist Peking. China will die Hegemonie der
dende Machtprobe vorzubereiten“. len als jenen, die unsere Denkmuster prägen USA im Pazifik brechen, errichtet Stütz-
Greift China wirklich nach der Weltherr- – vor allem aber aus seiner Größe: China punkte im Südchinesischen Meer und rüs-
schaft? Will Peking die Pax Americana, hat mehr als doppelt so viele Einwohner wie tet seine Marine auf – schneller und mit
die seit dem Ende des Kalten Krieges gilt, die Europäische Union (EU), mehr als vier- mehr Geld denn je, seit Xi Jinping regiert.
durch eine andere Weltordnung ersetzen, mal so viele wie die USA und rund zehnmal Im Jahr 2025, warnte US-Generalstabschef
notfalls mit militärischer Gewalt? Will die so viele wie Russland. Kraft dieser Größe Joseph Dunford den Kongress, werde Chi-
KP die „schlotternden Demokratien“ (Xin- verändert China die Welt schon heute stär- na „die größte Bedrohung für unsere Na-
hua) des Westens stürzen und den Erdball ker als jedes andere Land, von der sich zu- tion“ darstellen.
mit autoritären Regimen überziehen? rückziehenden Supermacht USA abgesehen. Nirgends manifestiert sich Chinas neues
Die Angst vor einer totalitären Welt- Wirtschaftlich steuerte China im vergan- Selbstbewusstsein aggressiver als in seiner
macht China ist nachvollziehbar angesichts genen Jahrzehnt ein Drittel zum globalen Nachbarschaft, die Peking zunehmend als
des auftrumpfenden Peking dieser Tage. Wachstum bei. Für 92 Länder der Welt, seine geopolitische Einflusszone versteht.
Doch diese Angst geht am Problem vorbei. darunter Deutschland, ist es der größte Schon lange spürt das die demokratische
Die chinesische Herausforderung ist kom- Handelspartner. China ist der größte Roh- Inselrepublik Taiwan, deren Politiker ihr
plizierter. stoffimporteur und Automarkt der Welt Land als eigenständige Nation betrachten
16 DER SPIEGEL 46 / 2017
GREG BAKER / AFP
FRED DUFOUR / AFP

Soldaten in Peking, Skyline von Shanghai: Der Aufstieg ist ein Langzeitprojekt

DER SPIEGEL 46 / 2017 17


GETTY IMAGES
Bibliothek in Tianjin: Die Welt nicht chinesisch machen

und nicht als Provinz der Volksrepublik. Die Staaten innerhalb der sogenannten rende geopolitische Strategie“ überhaupt.
Es spüren aber auch wirtschaftlich auf Chi- ersten Inselkette, die von Hokkaido im Nor- Es sei falsch, Peking seine großen Pläne
na angewiesene Staaten wie Kambodscha den bis Mindanao im Süden reicht, stehen vorzuwerfen: „Im Gegenteil: Die neue
und Vietnam sowie Großmächte wie In- unter Chinas Beobachtung. Peking will sich Seidenstraße zeigt, wie weitsichtig dort
dien und Russland. den Westpazifik als strategischen Vorhof si- gedacht und gehandelt wird.“
Besonders drastisch erlebte zuletzt Süd- chern – ähnlich wie einst die aufstrebenden Europa müsse Schlüsse aus Pekings Vor-
korea Chinas Machtanspruch. An Seoul USA mit der Monroe-Doktrin die Karibik machtstreben ziehen: „Das Problem ist nicht,
hat Peking ein Exempel statuiert. Die gan- samt Anrainer als ihre Einflusszone defi- dass China eine Strategie hat, sondern dass
ze Welt sollte sehen, was einer Nation wi- nierten. Im Südchinesischen Meer ist die wir keine haben!“ Es sei Zeit, dass sich der
derfährt, die Chinas Willen zuwiderhan- Gefahr am größten, dass China seine Inte- Westen auf eine gemeinsame Linie einige.
delt. Das Chinesische hat ein Sprichwort ressen eines Tages militärisch durchsetzt. Auch an Chinas umstrittenem Aufstieg
für diese Art von Diplomatie: Töte das Mit seiner ganzen ökonomischen Macht zu einem der größten Geldgeber in Afrika
Huhn, um die Affen zu erschrecken. dagegen wendet sich China Richtung Wes- entdecken Experten inzwischen Positives:
Der Anlass für Pekings Unmut: Im Früh- ten. Die „neue Seidenstraße“, Xi Jinpings In einer empirischen Studie haben der Hei-
jahr begann Südkorea, das US-Raketenab- zentrales außenpolitisches Projekt, sieht delberger Entwicklungsökonom Axel Dre-
wehrsystem Thaad zu stationieren, um sich vor, Staaten zwischen China und Europa her und internationale Experten nachge-
gegen die Bedrohung aus Nordkorea zu mit einem Netzwerk von Straßen, Eisen- wiesen, dass Peking sein Geld dort nach-
wappnen. Peking protestierte, weil das Ra- bahntrassen, Häfen und Pipelines zu über- haltig anlegt – zum eigenen und vielfach
dar sich auch dazu eignet, tief nach China ziehen, ganz wesentlich finanziert und auch zum Nutzen der Afrikaner.
hineinzuspionieren. Seoul blieb hart. errichtet von chinesischen Banken, Inge- Peking hilft mit seiner Strategie und sei-
So lernte die elftgrößte Volkswirtschaft, nieuren und Arbeitern. Die 900-Milliarden- nem Geld nicht nur bedürftigen Staaten
was passiert, wenn China seine wirtschaft- Dollar-Initiative, im Westen zunächst be- in Asien, Afrika und Osteuropa. Es erwei-
liche Macht ausspielt. Der Mischkonzern lächelt, nimmt nun Gestalt an. Von Tief- tert gezielt auch seinen Einfluss in inter-
Lotte, auf dessen Gelände Seoul Thaad seehäfen in Malaysia und Pakistan bis zu nationalen Organisationen: In der Uno
stationiert hatte, wurde mit einer „patrio- Industriezonen in Polen und Weißrussland stellt es inzwischen eines der größten Blau-
tischen“ Kampagne überzogen; Dutzende wird immer deutlicher sichtbar, wie ambi- helm-Kontingente – und unterdrückt zu-
der etwa hundert Lotte-Märkte in China tioniert Chinas Ziele sind. gleich den Widerstand gegen Menschen-
mussten schließen, weil Pekings Behörden Die neue Seidenstraße, sagt Bundes- rechtsverletzungen. In der Weltbank und
dort „unzureichenden Brandschutz“ fest- außenminister Sigmar Gabriel, sei keine im Internationalen Währungsfonds möchte
gestellt hatten. Vergangene Woche, unmit- sentimentale Erinnerung an den venezia- China seine Anteile vergrößern – damit
telbar vor Trumps Besuch, „einigten“ sich nischen China-Reisenden Marco Polo, son- aber auch seine Stimmrechte.
Peking und Seoul dann plötzlich. Südkorea dern „nach einem eventuellen Rückzug Wo es an Grenzen stößt, gründet Peking
versprach, keine weiteren Thaad-Batterien der USA aus der liberalen Welt- und Han- eigene Institutionen mit umständlichen Na-
mehr zu bestellen. delsordnung die weltweit einzige existie- men, aber erkennbarem Ziel: die „Shang-
18 DER SPIEGEL 46 / 2017
Titel
ALESSANDRO GANDOLFI / PARALLELOZERO

Porsche-Fahrerinnen in Shanghai: Die meisten Selfmade-Milliardärinnen der Welt

haier Organisation für Zusammenarbeit“, Deutsche Großstädter sind skeptisch, Und China kauft strategisch ein: Der
in die Russland und Indien eingebunden wenn es um Neubaugebiete geht. „Chine- staatliche Chemieriese ChemChina hat
sind; die „Regional Comprehensive Econo- sen hingegen sehen hier moderne Woh- den Schweizer Agrarkonzern Syngenta er-
mic Partnership“, zu der Australien und Ja- nungen, gute Infrastruktur und die zentra- worben (38 Milliarden Euro), die Midea-
pan gehören; die „Asiatische Infrastruktur- le Lage“, sagt Lin Dattner, 48. Die Men- Gruppe den deutschen Roboterhersteller
Investmentbank“, der zahlreiche Mitglied- schen in China sind daran gewöhnt, dass Kuka (4,6 Milliarden Euro), der Elektro-
staaten der EU beigetreten sind. China will aus Baustellen schnell Häuser werden. konzern Haier die Haushaltsgerätesparte
in den Weltfinanz- und Sicherheitsorgani- Lin Dattner ist in China geboren und von General Electric (5 Milliarden Euro).
sationen eigene Standards setzen. lebt seit mehr als 25 Jahren in Deutschland. Wer genau bei solchen Deals investiert,
Auf seiner letzten Peking-Reise im Sep- 2008 hat sie ein Maklerbüro gegründet, Privatunternehmen oder der Staat, ist im
tember wurde Sigmar Gabriel von Ina Lepel Anjia Immobilien & Consulting. Die Firma Geflecht von Chinas Planwirtschaft oft
begleitet, der Leiterin der neuen Asien-Ab- ist auf Chinesen spezialisiert, die in Frank- schwer zu sagen. Und obwohl Peking zu-
teilung, die das Auswärtige Amt in diesem furt am Main oder im Taunus Immobilien letzt einige Investitionen stoppte, scheinen
Jahr erst eingerichtet hat. erwerben wollen. Ein Drittel von Dattners die Mittel nach wie vor unerschöpflich.
Man könnte sagen: Es war Zeit. Wäh- Kunden braucht eine eigene Bleibe, die Mit ihrer hohen Sparquote von 48 Pro-
rend das Kanzleramt China immer als meisten aber suchen eine Kapitalanlage. zent (Deutschland: 27) haben es die Chi-
Chefsache verstand und Angela Merkel Mehr als 25 Milliarden Dollar haben Chi- nesen auch zu großem Privatvermögen ge-
insgesamt zehnmal in Peking war, firmier- nesen 2016 für Immobilien im Ausland aus- bracht. China zählt heute nach den USA
te die neue Weltmacht im Außenministe- gegeben. In Europa ging der größte Anteil die meisten Milliardäre der Welt – und die
rium bislang in der „Politischen Abteilung bislang nach London, heute verteilt sich das meisten Selfmade-Milliardärinnen: Laut
3“ – zusammen mit dem Nahen Osten, La- Geld chinesischer Investoren auch auf an- dem Magazin „Hurun Report“ belegen
teinamerika und Afrika. dere „Gateway Cities“ wie Frankfurt. Chi- Chinesinnen auf der Liste der zehn reichs-
nas Wirtschaftsaufschwung hat enorme Ver- ten Frauen, die ihr Oligarchenvermögen
mögen aufgetürmt. Das gilt ebenso für den selbst erarbeitet haben, sechs Plätze.
II. FINANZEN Staat, der mit gut drei Billionen Dollar den Insgesamt 22,5 Billionen Euro (Deutsch-
Immobilien, Flugzeuge und größten Devisenschatz der Welt besitzt. land: 5,8 Billionen, siehe Grafik Seite 16)
Es gilt aber auch für viele chinesische haben Chinas Haushalte laut einer Studie
Schweinefleisch Unternehmen, die ihren Reichtum nutzen, der Allianz angespart.
Im neuen Frankfurter Europaviertel, hinter um weltweit Firmen aufzukaufen. Laut ei- Ihre wahre Kraft entfaltet die chinesische
der Messe und dem Hauptbahnhof gele- ner Studie des Mercator Instituts für Chi- Wirtschaft in China selbst. Die Chinesen
gen, herrscht Baustellenatmosphäre. Noch nastudien (Merics) sind Chinas Auslands- kaufen die meisten Roboter der Welt, die
ragen hier mehr Kräne als Bäume und be- investitionen 2016 auf 189 Milliarden Dollar meisten Luxusartikel, das meiste Schweine-
zugsfertige Häuser in den Himmel. Es sieht angestiegen, das sind 40 Prozent mehr als fleisch, das meiste Milchpulver. Sein riesiger
ein bisschen aus wie in China. im Vorjahr, in der EU sogar 77 Prozent. Bedarf an Importgütern hat somit Abhän-
DER SPIEGEL 46 / 2017 19
Titel

gigkeiten geschaffen, die alarmierend sind,


gerade für Exportländer wie Deutschland.
Zwischen 2015 und 2034 dürfte China
Prognosen zufolge 6300 Passagierflugzeuge
kaufen, das sind sechs Jets pro Woche, ein
Großteil der Gesamtproduktion von Airbus
und Boeing. Der deutsche Autokonzern
Volkswagen verkaufte mehr als ein Drittel
seiner Autos und erzielte geschätzt fast die
Hälfte seines Gewinns in China. Hätte Pe-
king nicht vor Jahren entschieden, grund-
sätzlich keine Pkw mit Dieselantrieb zuzu-
lassen – VW hätte den Abgasskandal wahr-
scheinlich nicht überstanden.
Der chinesische Konsument ist nicht nur
ein Profiteur der Globalisierung, sondern

LI SIXIN / IMAGINECHINA / LAIF


auch eine ihrer wichtigsten Ressourcen.
Gut 7000 Euro kostet ein Hochhausqua-
dratmeter in Frankfurt am Main durch-
schnittlich, bei Luxusimmobilien können
es bis zu 19 000 sein. Eine Durchschnitts-
wohnung zwischen dem dritten und vierten
Ring in Peking liegt umgerechnet bei 8000 QR-Code-Formation von Studenten in Zhengzhou: Datenschutz spielt keine Rolle
Euro pro Quadratmeter. Zu den Investoren
zählen nicht nur Privatanleger. Der chine-
sische Staatsfonds CIC hat deutschlandweit ziel vor: 2030 soll das Land KI-Weltmarkt- ternehmen. Bei der Spracherkennung er-
16 000 Wohnungen übernommen. führer sein. reicht Baidu nach eigenen Angaben eine
Lin Dattner warnt ihre Kunden dabei im- Die „Werkbank der Welt“ als Exporteur Trefferquote von 97 Prozent, bei der Ge-
mer wieder vor zu hohen Renditeerwar- digitaler Spitzentechnologie? Ein Zensur- sichtserkennung von 99,7. Baidus Sprachas-
tungen. „Man kann den deutschen Markt staat als Informatikpionier? sistent gilt als ähnlich leistungsfähig wie Ama-
mit China nicht vergleichen“, sagt sie. Die Chancen dafür stehen überraschend zons „Alexa“. Die Spracheingabe entwickelt
„Deutschland ist ein entwickeltes Land, da gut: Laut Experten wie Chris Boos, dem sich gerade zur neuen Schnittstelle zwischen
sind solche Spekulationsblasen nicht mög- Gründer des Frankfurter KI-Hauses Arago, Mensch und Maschine, könnte Displays und
lich.“ Dafür bekomme man hier eine ga- rangiert das Land hinter den USA bereits Tastaturen überflüssig machen. Sie funktio-
rantiert solide Bausubstanz auf einem sta- an zweiter Stelle. Auf einzelnen Feldern niert, wie eine Baidu-Studie ergab, dreimal
bilen Markt mit transparenter Gesetzeslage. seien Chinas Forscher auf Augenhöhe mit schneller als das Tippen auf Mobilgeräten –
den Amerikanern, sagt Boos, der selbst und sie ist präziser: Bei der Eingabe in Man-
Chinesen in seinem Team hat – das zeige darin sank die Fehlerquote um 64 Prozent.
III. TECHNIK sich nicht nur an der Anzahl und Qualität Aus der Mischung von Industriepolitik
„Wer die künstliche Intelligenz chinesischer Patente, sondern auch in KI- und der Innovationskraft der Unterneh-
Wettbewerben, die als Leistungsmesser in men sei in China eine Dynamik entstan-
beherrscht, beherrscht die Welt“ der Szene eine wichtige Rolle spielen. den, die im Ausland stark unterschätzt wer-
So also könnte das Restaurant der Zukunft Die Bedeutung dieser Informatiksparte de, sagt Björn Conrad vom Berliner Mer-
aussehen: Bei einer Hähnchenbraterei im ist kaum zu überschätzen. Es geht darum, cator Institut für Chinastudien.
ostchinesischen Hangzhou bestellen Gäste Computer darin zu trainieren, aus unstruk- Wie schnell diese Dynamik unseren Alltag
ihre frittierten Chicken Wings an einem turierten Datenmassen eigenständig Wissen verändern könnte, zeige ein aktuelles Test-
Computerterminal. Bezahlt wird mittels aufzubauen und „intelligente“ Entschei- projekt in Shanghai: Gerät ein Autofahrer
3-D-Gesichtserkennung und Telefonnum- dungen zu treffen. Wer sich im Bereich dort in die falsche Spur, wird der Verstoß
mer. Nur wenige Sekunden dauert diese der künstlichen Intelligenz durchsetze, sag- von der Videoüberwachung erkannt und ein
Prozedur. Es geht darum, Fast Food noch te der russische Präsident Wladimir Putin, paar Hundert Meter weiter auf einem Moni-
schneller zu machen – und Daten zu sam- werde die Welt beherrschen. tor am Straßenrand angezeigt. Sekunden
meln. Der Werbespruch dazu lautet: „Zah- Chinas gute Ausgangsposition basiert später landet der Strafzettel auf dem Handy
len Sie mit einem Lächeln.“ auf Erfolgen, die europäische Industrie- des Autofahrers. Per Knopfdruck kann er
Die Gesichtserkennung hat sich in China politiker neidisch machen: Das Land hat sofort bezahlen. China wirke auf ihn gera-
tief in den Alltag eingeschlichen: Flugge- durch seine Marktabschottung riesige On- de „wie ein riesiges Testlabor für neue KI-
sellschaften scannen am Gate die Gesich- lineplattformen wie Baidu, Alibaba und basierte Anwendungen“, sagt Conrad.
ter ihrer Passagiere statt die Bordkarten. Tencent geschaffen. Unternehmen wie Chinas Ambitionen werden nicht nur aus
Hotels, Schulen, Kindergärten nutzen die Huawei, Oppo und Xiaomi sind in die Top Wettbewerbsgründen aufmerksam verfolgt.
Technik bei der Einlasskontrolle. Von den Ten der Smartphone-Hersteller aufgerückt. Peking will die Fortschritte im Umgang mit
176 Millionen allgegenwärtigen Über- Vor allem aber fallen in China mit sei- Big Data auch militärisch nutzen. Die Streit-
wachungskameras ganz zu schweigen. Es nen 750 Millionen Internetnutzern riesige kräfte versprechen sich Fortschritte in der
ist genau, was Chinas Führung will. Datenmengen an. Westliche Vorstellungen Technik für Raketen und Drohnen – von
Im Sommer erklärte der Staatsrat „künst- von Datenschutz spielen dabei keine Rolle. der autonomen Steuerung über die Bildaus-
liche Intelligenz“ (KI), mit der Computer Beim Trainieren von KI-Algorithmen ist wertung bis zur Zielauswahl. Der Rüstungs-
zuverlässig Gesichter erkennen und ge- das ein zentraler Wettbewerbsvorteil. wettlauf ist in vollem Gang.
sprochene Anweisungen verstehen kön- Der Pekinger Baidu-Konzern zählt mitt- Früher als andere haben Chinas Führer
nen, zur Schlüsseltechnik und gab ein Plan- lerweile zu den weltweit führenden KI-Un- erkannt, wie gut sich das Internet als effi-
20 DER SPIEGEL 46 / 2017
die zu chinesischen Klubs gewechselt sind.
Es sind Dokumente des Irrsinns.
So erhält der italienische Nationalspieler
Graziano Pellè, der im Sommer 2016 vom
FC Southampton nach China wechselte, nun
ein Grundgehalt von 10 Millionen Euro pro
Saison. Der Brasilianer Hulk kommt auf ein
Netto-Festgehalt von 15 Millionen Euro, der
Argentinier Ezequiel Iván Lavezzi auf 56,7
Millionen Dollar für knapp zwei Jahre.
Wohl kaum ein europäischer Verein ver-
spürt den Abgang seines besten Spielers
nach China derzeit aber so schmerzlich
wie der 1. FC Köln: In der letzten Saison
schoss der Stürmer Anthony Modeste
den FC mit 25 Saisontoren in die Europa
League, dann wechselte er zu Tianjin
Quanjian. Sportlich ergab dieser Wechsel
keinen Sinn, finanziell schon: Modeste hat
GETTY IMAGES

sein Gehalt vervielfacht.


Der Expansionskurs von Chinas Fußball-
magnaten beschränkt sich aber nicht auf
Eingekaufter Fußballer Modeste: Das Gehalt vervielfacht den heimischen Markt. In fast allen Kern-
bereichen der Branche bieten die Chinesen
mit, sie richten ganze Wertschöpfungsket-
zientes Herrschaftsinstrument nutzen lässt. ren will, muss ihn bespielen. Die englische ten ein, zielgerichtet und strategisch: Un-
Spätestens 2020 wird China ein verpflich- Premier League macht es vor. Das erste ternehmen aus China kaufen europäische
tendes „Social Credit“-System einführen Samstagsspiel beginnt dort in der Regel Rechteagenturen, die das Spiel vermarkten;
und damit eine Art von Gesellschaftskon- mittags um halb eins, das erste Sonntags- sie kooperieren mit Verbänden wie dem
trolle, die „Big Brother“-Dystopien ver- spiel um zwölf – live zur besten chinesi- Deutschen Fußball-Bund und umgarnen
blassen lässt. Der Staat verteilt dabei digi- schen Sendezeit. deren Spitzenfunktionäre – und sie beteili-
tale Kopfnoten für Bürger und Unterneh- China ist seit Jahrzehnten eine Super- gen sich an Klubs mit großen Namen.
men: Hat eine Firma den Plan übererfüllt, macht des Sports. Doch bislang waren es In Italien übernahmen chinesische In-
kann sie beim nächsten Kredit mit günsti- vor allem Einzeldisziplinen, in denen das vestoren den AC Mailand und Anteile an
geren Zinsen rechnen. Umgekehrt wird erbarmungslose Fördersystem Olympiasie- Inter Mailand, in England die Wolverhamp-
sanktioniert, was die Partei als Fehlverhal- ger in Serienproduktion hervorbrachte. Im ton Wanderers. Beim spanischen Spitzen-
ten wertet – auch missliebige Kommentare Fußball aber ist China ein Land unter vie- klub Atlético Madrid stieg Wang Jianlin
in sozialen Netzwerken. len. Im aktuellen Fifa-Ranking steht die ein, der Chef des Mischkonzerns Wanda
In Shanghai haben Softwareingenieure Volksrepublik auf Platz 57. Group. Wang übernahm auch die Schwei-
bereits eine App mit dem euphemistischen Chinas Staatschef Xi Jinping gefällt das zer Firma Infront, die Fernseh- und Ver-
Namen „Ehrliches Shanghai“ entwickelt, nicht. Er möchte, dass China sich endlich marktungsrechte an der Fußball-WM für
die mittels Gesichtserkennung und natio- wieder für eine Weltmeisterschaft qualifi- Asien hält. Ein smarter Zug. So hat Chinas
naler Identifikationsnummer Informatio- ziert, das Turnier selbst ausrichtet – und fünftreichster Mann nicht nur Zugang zur
nen erteilen soll, wie vertrauenswürdig der den Titel gewinnt. Fifa, sondern auch das Wohlwollen von
jeweilige Nutzer ist. Die Score-Werte sind Im Frühjahr 2015 sprach Xi ein Machtwort: Staatschef Xi Jinping.
öffentlich für jeden möglichen Geschäfts- China müsse endlich auch im Fußball zu An Bundesligavereinen sind chinesische
partner abrufbar. Auch die Partei selbst einer Großmacht werden. Seither ist der Investoren derzeit nicht ernsthaft interes-
will die neuen Technologien nutzen. Eine Markt entfesselt. Und die Konzernlenker siert. Noch sorgt die sogenannte 50 + 1-Re-
„rote Cloud“ soll künftig bewerten, wie aus der Immobilienbranche, der Konsumgü- gel dafür, dass Ausländer nur Minderheits-
standhaft ihre Mitglieder sind. terindustrie und dem Internethandel über- anteile an deutschen Profiklubs kaufen
bieten sich gegenseitig mit obszönem Einsatz können. „Sollte die eines Tages fallen, ren-
– egal ob es um die Vermarktung des Spiels nen uns die Chinesen die Bude ein“, sagt
IV. FUSSBALL oder Investitionen in einzelne Spieler geht. der Berater eines Bundesligaklubs, der be-
Dokumente des Irrsinns Die Preise für die TV-Übertragungsrech- reits den Markt sondiert.
te der Super League haben sich verzwan-
Kasper Rorsted, der Vorstandsvorsitzende zigfacht. Für die Jahre von 2016 bis 2020
des Sportartikelriesen Adidas, hatte kürz- zahlt der Fernsehsender China Sports Me- V. KULTUR
lich eine ungewöhnliche Idee. Er könne dia den 16 Klubs rund 1,2 Milliarden Dollar. „Warum ist China so uncool?“
sich vorstellen, sagte er, das DFB-Pokalfi- Für die fünf Jahre zuvor waren es gut
nale eines Tages nicht mehr in Berlin, son- 60 Millionen Euro gewesen. Am Ende sind es die Chinesen, die Matt
dern in China auszutragen. Auch Ablösesummen für ausländische Damon retten, den Helden des Science-
Was Fußballromantiker für eine Grotes- Spieler sind in absurde Höhen vorgesto- Fiction-Films „Der Marsianer“: Sie leihen
ke der Globalisierung halten dürften, ist ßen, vor der Saison 2016 lagen die Trans- den Amerikanern eine Trägerrakete, mit
für umsatzgetriebene Konzernchefs wie ferausgaben chinesischer Vereine über de- deren Hilfe es gelingt, den Astronauten
Rorsted selbsterklärend: Auch im Sportbu- nen der Premier League. Die Enthüllungs- vom Roten Planeten heimzuholen.
siness ist China der Markt der Zukunft, plattform Football Leaks hat dem SPIEGEL Auch Sandra Bullock überlebt in „Gra-
und wer von diesem Riesenmarkt profitie- Dutzende Verträge von Profis zugespielt, vity“ ihren Unfall im Orbit nur, weil sie
DER SPIEGEL 46 / 2017 21
Titel

Staatschef Xi Jinping. Sie stellen in fast


allen Ländern des Westens die größte Zahl
ausländischer Studierender.
Ist das ein Trost? Ist es ein Zeichen dafür,
dass all die Macht, das Geld, die Dynamik
und das neue Selbstbewusstsein Chinas
am Ende doch nicht konkurrieren können
mit den Errungenschaften des Westens –
GIULIA MARCHI / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF

den Werten der Aufklärung, dem Rechts-


staat, der Freiheit der Wissenschaft und
den universellen Menschenrechten?
Dieser Befund wäre eine große Beruhi-
gung für Europas und Amerikas verunsi-
cherte Eliten. Doch er könnte ein Trug-
schluss sein: Rund vier Fünftel der Auslands-
studenten kehren inzwischen nach China
zurück. Ihr Land bietet Wachstum und
Aufstiegschancen – auch wenn Chinas
Wohlstandsschere inzwischen weiter aus-
Filmfestivalplakate in Pingyao: Chinesen kommen in Hollywood erstaunlich häufig vor einanderklafft als in vielen westlichen Staa-
ten. Es bietet die höchsten Brücken, die
schnellsten Züge und die dynamischsten
sich in eine chinesische Raumstation retten das erste Konfuzius-Institut eröffnet. Chi- Städte der Welt – auch wenn die Luft dort
kann. Während George Clooney in den na, das damals über ein Drittel seiner heu- oft so giftig ist, dass ohne Schutzmaske
Tiefen des Weltalls verschwindet, kehrt sie tigen Wirtschaftskraft verfügte, wollte es keiner ins Freie will. Es bietet die größten
heil auf die Erde zurück. Großbritannien, Frankreich und Deutsch- Onlineshops und modernsten sozialen Netz-
Die Chinesen kommen in Hollywood land gleichtun und ein globales Netzwerk werke – auch wenn die Regierung die ra-
erstaunlich häufig vor und verdächtig gut von Kulturinstituten aufbauen, benannt sende Digitalisierung nutzt, um einen na-
davon. Immer öfter werden in große Pro- nach seinem größten Philosophen. hezu perfekten Überwachungsstaat zu
duktionen chinesische Figuren und Hand- Heute gibt es mehr als 500 Konfuzius- schaffen. Vor allem bietet China die Zuver-
lungsstränge eingeflochten – in Kino- Institute. Sie bieten Sprachkurse an und sicht, dass das Heute besser als das Gestern
Blockbustern wie „Independence Day: fördern den akademischen Austausch. Es ist und das Morgen besser als das Heute.
Wiederkehr“ und „Iron Man 3“ sowie Kult- ist, wie auf so vielen Feldern, rein statis- Aber ist es ein Land, dessen Vorherrschaft
serien wie „House of Cards“. tisch eine chinesische Erfolgsstory: China sich seine Nachbarn beugen werden? Ist es
Das hat nicht nur mit originellen Dreh- hat in nur 13 Jahren dreimal so viele Kul- eine Großmacht, mit der sich andere Groß-
büchern zu tun, sondern auch mit Chinas turinstitute gegründet wie Deutschland in mächte wie Indien oder Russland arrangie-
Streben nach „Soft Power“, jener flüchti- fast sieben Jahrzehnten. Und trotzdem, ren können? Ist es die neue „Weltleitkul-
gen Substanz, nach der sich die Herrscher Universitäten in Lyon, Stockholm und Chi- tur“, der wir gern folgen möchten? Oder
aufstrebender Weltmächte immer schon cago haben sich von ihren Konfuzius-Zen- sind es nur die Machtfantasien eines Re-
verzehrten. In China hat die „Soft Power“ tren getrennt, die amerikanische Associa- gimes, die sich verflüchtigen, wenn China
eine unverkennbar wirtschaftliche Note. tion of Scholars ruft dazu auf, ihnen zu an die Grenzen stößt, an die noch jede
Der chinesische Kinomarkt ist der zweit- folgen: Die direkt aus Peking gesteuerten Weltmacht irgendwann gestoßen ist?
größte der Welt – und wächst. Amerikani- Institute seien intransparent und verbrei- „Der Westen hat keine Ahnung, was ihn
sche Studios, die direkt mit chinesischen teten ein geschöntes China-Bild. mit Chinas Aufstieg erwartet“, schreibt
Partnern zusammenarbeiten, verdienen in Die Mandarinkurse der Institute sind Australiens ehemaliger Premier Kevin
China oft mehr als in jedem anderen Land. zwar hervorragend. Doch die Soft Power, Rudd, Mandarin-Sprecher und Präsident
Der Fantasyfilm „Warcraft“ spielte in Chi- die britische Popmusik, französische Mode des Asia Society Policy Institute. „Es wäre
na viermal, das Hundedrama „Bailey“ fast oder amerikanisches Kino ausstrahlen, ver- verwegen anzunehmen, dass China auf sei-
anderthalbmal so viel ein wie in den USA. mitteln die Institute nicht. nem Übergang zur globalen Vorherrschaft
Der Grund: Chinas Gaming-Konzern Ten- „Warum ist China so uncool?“, fragte der unter dem Gewicht seiner inneren Wider-
cent kennt fast jeden chinesischen „War- in den USA aufgewachsene und kürzlich sprüche zusammenbrechen wird.“ Es sei
craft“-Spieler und der Onlinehändler Ali- ins Heimatland seiner Eltern zurückgekehr- nicht China, sondern der Westen, der „mit
baba die Hundebesitzer. Beide Gruppen te Student George Gao in einem Beitrag sich selbst beschäftigt, von sich eingenom-
wurden mit Werbung eingedeckt. für „Foreign Policy“. Seine Antwort: „Chi- men und selbstzufrieden“ ist.
Seit einigen Jahren gehen Chinas Unter- nas Popkultur fehlt es an Emotionalem, an Und dann zitiert Rudd einen berühmten
nehmen auch den umgekehrten Weg und Künstlerischem, an Sex-Appeal.“ China Europäer. „China ist ein schlafender Rie-
investieren Milliarden in die US-Unterhal- „verführe“ nicht. Auch die Erfolge von Pe- se“, hat Napoleon vor 200 Jahren geschrie-
tungsindustrie – der Unternehmer Wang kings Hollywoodstrategie blieben letztlich ben. „Lasst ihn schlafen. Denn wenn er auf-
Jianlin, Mitbesitzer eines spanischen Fuß- aus: „Trotz eines hohen Grades an Natio- wacht, wird er die Welt bewegen.“
ballklubs und von Europas wichtigster Sport- nalismus und steigenden Einkommen in Rafael Buschmann, Marcel Rosenbach,
rechteagentur, hat auch eine der größten Ki- China wenden sich die Menschen immer Simone Salden, Christoph Schult, Wieland Wagner,
noketten Amerikas und das Filmstudio „Le- noch den USA, Europa, Südkorea und Ja- Michael Wulzinger, Bernhard Zand
gendary“ („Batman“, „Hangover“) gekauft. pan zu, wenn sie sich amüsieren wollen.“
Peking wendet enorme Mittel auf, um Das gilt auch für die Bildung. Mehr als Video:
neben seinem politischen und ökonomi- vier Millionen Chinesen haben seit 1978 Zu Besuch bei Feinden
schen Gewicht auch seinen kulturellen Ein- im Ausland studiert, die meisten davon in spiegel.de/sp462017china
fluss zu erweitern. 2004 wurde in Seoul den USA, darunter auch die Tochter von oder in der App DER SPIEGEL

22 DER SPIEGEL 46 / 2017


Digitale
Zukunft?
Bauen wir.
GigaNetz für
Deutschland
Mit dem größten privaten
Investitionsprogramm eines
rein privatwirtschaftlichen Tele-
kommunikationsunternehmens*
versorgen wir Deutschland mit
Gigabit-Anschlüssen.
vodafone.de/giganetz
The future is exciting.
Ready?
* Zu 100 % in privater Hand. Vodafone GmbH · Ferdinand-Braun-Platz 1 · 40549 Düsseldorf
DANIEL KARMANN / DPA
Söder

CSU

Wende im Machtkampf
Markus Söder soll zur Ämtertrennung bereit sein.
In den Streit um die Nachfolge von Horst Seehofer kommt sichtsreichster Nachfolger, falls Horst Seehofer sein Amt als
Bewegung: Der bayerische Finanzminister Markus Söder sei Ministerpräsident niederlegt.
zu einer Ämtertrennung bereit, heißt es in der CSU. „Wenn Seehofer wird seit dem schlechten Abschneiden der CSU
er Ministerpräsident werden kann, verzichtet Markus zur bei der Bundestagswahl in seiner Partei stark kritisiert. Er
Not auch auf den Parteivorsitz“, sagt ein Vertrauter. Regie- will sich nach Abschluss der Sondierungsgespräche zu seiner
rungschef in Bayern sei aus CSU-Sicht ohnehin das wichtige- Zukunft äußern. Eine Trennung der Ämter wäre für Seehofer
re Amt. Auch Söders Gegner in der Parteispitze wie Wirt- vermutlich die einzige Möglichkeit, eine vollständige Macht-
schaftsministerin Ilse Aigner oder der stellvertretende Partei- übernahme Söders zu verhindern. Die beiden verbindet eine
chef Manfred Weber halten dieses Modell für denkbar. intensive Abneigung. Die Parteiführung wird Mitte Dezem-
Den beiden werden Ambitionen auf den CSU-Vorsitz nach- ber neu gewählt. In der CSU wird befürchtet, dass es zu einer
gesagt. Ein weiterer Anwärter wäre CSU-Landesgruppen- Spaltung in der Partei wie vor zehn Jahren kommen könnte.
chef Alexander Dobrindt, der wie Aigner aus dem mitglie- Damals wurde der CSU-Vorsitzende und bayerische Minister-
derstärksten Bezirk Oberbayern kommt. Söder gilt als aus- präsident Edmund Stoiber zum Rückzug gedrängt. ran

Klimaschutz lerdings würden solche Ma- britische TUI Airways die kli- here Auslastung steigern. Al-
TUI fliegt voraus schinen – wie die Boeing 787-9 maverträglichste Fluggesell- lerdings ist es aus Klimasicht
oder der Airbus A350-900 – schaft. Die deutsche Schwes- ein Manko, dass die Lufthan-
Mit modernen, sparsamen nur wenig eingesetzt, klagt ter TUIfly landet auf Platz sa weniger Sitzreihen in ihre
Flugzeugen können heute die Klimaschutzorganisation drei des Rankings. Die größte Maschinen packt, also weni-
Reisende selbst auf ungüns- Atmosfair. Derzeit gehöre deutsche Fluggesellschaft, ger Passagiere mitnimmt als
tigen Langstrecken mit nur eine von hundert Maschi- Lufthansa, liegt mit Platz 65 die Konkurrenz. Auf den hin-
weniger als 3,5 Liter Kero- nen im weltweiten Einsatz zu im Mittelfeld. Im Vergleich zu teren Plätzen liegen Emirates
sin pro Passagier und diesen hocheffizienten Flug- den Vorjahren konnte sie sich (111), Singapore Airlines (116)
100 Kilometer Flugstrecke zeugen. Nach den Berechnun- zwar durch eine Modernisie- und, als Schlusslicht, Kenya
transportiert werden. Al- gen der Organisation ist die rung der Flotte und eine hö- Airways (125). mif

24 DER SPIEGEL 46 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Presse Mandatehäufung will dem Landtag von Baden-
Geheimdienst muss Arbeitgeber Württemberg weiterhin als
Auskunft geben Meuthen Abgeordneter angehören.
Ihm werden deshalb zusätz-
Der Bundesnachrichtendienst Mit seinem geplanten Wech- lich eine steuerfreie Kosten-
(BND) muss unter bestimm- sel ins Europäische Parlament pauschale von 2169 Euro

EFREM LUKATSKY / AP
ten Umständen offenlegen, wird der AfD-Bundessprecher und ein Vorsorgebeitrag von
ob er Informationen an Jour- Jörg Meuthen künftig über 1720 Euro gewährt, hierzu
nalisten weitergegeben hat. ein großes Budget für Mitar- gibt es laut Landtag „keine
Das geht aus einer einstweili- beiter verfügen. Neben den Ausschlussregelung“. Für die
gen Anordnung des Bundes- bis zu 24 164 Euro pro Monat Dauer des Doppelmandats Asow-Demonstranten
verwaltungsgerichts hervor. für Personalausgaben als EU- ruht nur die eigentliche
Anlass ist die Klage eines Re- Parlamentarier stehen ihm da- Diät von 7776 Euro monat- Rechtsextremismus
dakteurs des Berliner „Tages- für bis zu 10 438 Euro monat- lich. Meuthen hatte bei der Neonazi-Söldner in
spiegel“, der wissen will, lich im Stuttgarter Landtag
ob Journalisten über Geheim- zu. Meuthen darf nach Aus-
Bekanntgabe seines Wechsels
finanzielle Einbußen
der Ukraine
diensterkenntnisse zum kunft der Landtagsverwal- hervorgehoben. Diese treten Das rechtsextremistische
Putschversuch in der Türkei tung auch Leistungen für aber vor allem durch den Freiwilligenbataillon Asow,
informiert wurden, bevor „EDV-Ausstattung“ und „Rei- Rückzug vom Fraktionsvor- das im Ukrainekonflikt ge-
sich BND-Chef Bruno Kahl se-/Übernachtungskosten“ in sitz ein – einem Amt, in gen prorussische Separatisten
dazu im SPIEGEL (12/2017) Anspruch nehmen. Der der- welchem Meuthen seit Lan- kämpft, bekommt verstärkt
erstmals öffentlich geäußert zeitige Fraktionschef der AfD gem umstritten ist. fri Zulauf aus Europa, auch aus
hatte. Der BND hatte sich ge- Deutschland. Kämpften 2014
weigert, die Auskunft zu noch rund 850 Söldner in der
erteilen. Kahl hatte im März Miliz, sind es heute nach An-
dem SPIEGEL erklärt, er SPD allen Ebenen der Partei stär- gaben von Sicherheitsbehör-
habe keine Anzeichen dafür, Schwesig kritisiert ker beteiligen und ihre Le- den bereits über 2500. Grund
dass die Gülen-Bewegung
hinter dem Putsch stecke. Schulz bensrealitäten besser abbil-
den“, sagt Schwesig. In einer
ist eine Rekrutierungsoffen-
sive für eine „Rückeroberung
Das Gericht entschied nun, In der SPD gibt es Unmut Überarbeitung des Leitan- Europas“, mit der das Regi-
die verlangten Auskünfte sei- über den Kurs von Parteichef trags für den nächsten Partei- ment auch unter deutschen
en keine „geheimhaltungsbe- Martin Schulz. Die stellver- tag hat die Regierungschefin Neonazis um Nachwuchs
dürftige Tatsache“. Im weite- tretende Vorsitzende Manue- von Mecklenburg-Vorpom- wirbt. So wurden im Juli auf
ren Verfahren wollen die la Schwesig wirft Schulz vor, mern an mehreren Stellen einem Rechtsrock-Festival im
Richter prüfen, ob der BND bei seinen Reformplänen die Änderungswünsche hinterlas- thüringischen Themar unter
auch offenlegen muss, was er Interessen von Frauen zu ver- sen. So fordert sie, im Willy- den Besuchern Flyer verteilt,
Journalisten vertraulich mit- nachlässigen und keine Ange- Brandt-Haus eine Stabsstelle die dazu einluden, „in die
geteilt hat. Zuvor hatte das bote für Wählerinnen zu ma- für Gleichberechtigung einzu- Reihen der Besten“ einzutre-
Berliner Verwaltungsgericht chen. „In unserem Leitantrag richten. Zudem will sie „fami- ten, um „Europa vor dem
in erster Instanz Kanzlerin findet sich bislang nichts zu lienfreundliche Sitzungszei- Aussterben“ zu bewahren. In
Angela Merkel dazu ver- dem Versprechen, dass die ten“ und „Fortbildungen zum sozialen Netzwerken tauch-
pflichtet mitzuteilen, welche SPD weiblicher werden muss. Thema Gender“. „Wenn die ten bereits Fotos deutscher
Journalisten sie 2016 zu ver- Das ist ungenügend. Wir SPD Volkspartei bleiben will, Neonazis auf, die in Kampf-
traulichen Gesprächen getrof- brauchen jetzt konkrete Maß- muss sie vielfältiger denken“, anzügen mit Asow-Symbolen
fen hat. ran nahmen, wie wir Frauen auf sagt Schwesig. vme posieren. mba, kno

Zeitgeschichte risten hatten den Flugkapitän


Geheimnisse der erschossen und forderten die
„Landshut“-Entführung Freilassung von Gesinnungs-
genossen aus deutscher und
Das Bundesinnenministerium türkischer Haft. Die GSG 9
hält 40 Jahre nach dem Ein- tötete bei der Befreiung drei
satz der Antiterrortruppe Terroristen; die vierte Geisel-
GSG 9 in Mogadischu immer nehmerin, eine Stewardess
noch Unterlagen zurück. Die und ein GSG-9-Mann wurden
Polizeieinheit hatte 1977 die verletzt. Unter den Geheim-
entführte Lufthansa-Maschi- papieren finden sich die Ein-
C. RIEWERTS / DER SPIEGEL

ne „Landshut“ mit mehr als satzberichte, vermutlich auch


80 Geiseln befreit. Minister das Einsatztagebuch und
Thomas de Maizière (CDU) Unterlagen aus den Einsatz-
hat nun die Geheimhaltungs- besprechungen mit den GSG-
frist für die GSG-9-Akten bis 9-Männern. De Maizière
2037/2038 verlängert. Die beruft sich auf „polizeitakti-
Entführte „Landshut“ 1977 vier palästinensischen Terro- sche Gründe“. klw

DER SPIEGEL 46 / 2017 25


Deutschland

CDU
Charmeoffensive für
die Basis
Noch im November will die
CDU-Spitze die Stimmung
an der Parteibasis verbessern
und die Mitglieder deutsch-
landweit in Regionalkonfe-
renzen auf die geplante
Jamaikakoalition einschwö-
ren. Wie aus einem internen

HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS


Terminplan des Konrad-
Adenauer-Hauses hervor-
geht, bereitet die Parteizen-
trale für die CDU-Vorsitzen-
de Angela Merkel in der Wo-
che vom 19. bis 25. Novem-
ber fünf Treffen in Leipzig,
De Maizière Darmstadt, Stuttgart, Düssel-
dorf und Hannover vor. Auf
Bundespolizei Kinder oder pflegebedürftige gedeckt sei. Das Familien- diesen Terminen werden die
Zoff mit dem Angehörige zu ersetzen. ministerium widerspricht. Amts- und Mandatsträger
Ministerium Dies soll auch bei ungeplan-
ten Einsätzen gelten. Dem
Da „polizeiliche Einsätze
nach dem Bundesreisekos-
der CDU die Gelegenheit
haben, mit der Parteiführung
Die Bundespolizei liegt im Hauptpersonalrat der Bun- tengesetz abgefunden“ wür- nicht nur die Ergebnisse
Clinch mit dem Bundesminis- despolizei teilte das Innen- den, seien diese Kosten der Jamaika-Sondierungsge-
terium des Inneren (BMI). ministerium jedoch mit, dass durchaus erstattungsfähig, spräche zu besprechen, son-
Grund ist eine Empfehlung ein durch „Einsatzbefehl heißt es in einem Schreiben dern auch, den Bundestags-
des Familienministeriums, statt Dienstreiseantrag ange- von Staatssekretär Ralf wahlkampf aufzuarbeiten,
allen Bundesbeamten bei ordneter Einsatz“ keine Kleindiek ans BMI. Das der zum schlechtesten Wahl-
Dienstreisen zusätzlich anfal- Dienstreise sei und daher gebiete schon das Bundes- ergebnis der CDU seit 1949
lende Betreuungskosten für nicht von der Empfehlung gleichstellungsgesetz. aul geführt hat. ama

Landwirtschaft kumentieren. Um diese Taube: Produktive Landwirt- Andererseits sind die Um-
„Endlich restriktiv“ Novelle tobt ein Streit.
Warum?
schaft ist stets mit Nährstoff-
überschüssen verbunden, be-
weltbelastungen inzwischen
aber dramatisch – und die
Friedhelm Taube: Wir haben mit der sonders bei Tierhaltung. Und Auflagen etwa in Dänemark
Taube, 62, Kie- Stoffstrombilanz erstmals ei- da der Fleischkonsum hierzu- oder den Niederlanden
ler Agrarexperte nen rechtlichen Rahmen da- lande konstant hoch ist, kann deutlich strenger als bei uns.
und Mitglied für, dass Nährstoffflüsse wie man die Bauernverbände ver- Auch wir brauchen daher
des Wissen- Dünger und Futtermittel in stehen, die befürchten, dass endlich restriktive Regeln,
schaftlichen Bei- den Betrieb hinein und auch die Tierhaltung bei mehr Auf- um unsere Gewässer nicht ir-
rats des Bun- aus ihm heraus dokumentiert lagen ins Ausland abwandert. reversibel zu schädigen. ab
deslandwirtschaftsministeri- werden. Damit zeigt sich das
ums, über den Streit um stren- tatsächliche Ausmaß der
gere Düngeregeln Umweltbelastung. Die Werte
des überschüssigen Stick-
SPIEGEL: Deutschland hat auf stoffs sind teilweise doppelt
die Klage der EU wegen der so hoch wie zuvor geschätzt.
Verletzung der Nitratricht- Der Streit geht um die Be-
linie mit einer neuen Dünge- wertung dieser Überschüsse:
verordnung reagiert. Wird Wie viel ist noch „gute fach-
durch die seit Juni geltende liche Praxis“? Und da stellen
Regelung das Grundwasser sich einige Bundesländer auf
ausreichend geschützt? die Seite der Wasser- und
Taube: Leider nein. Die be- Umweltverbände, die deut-
schlossenen Regeln lassen zu lich strengere Limits fordern
viele Schlupflöcher. als der Bauernverband –
PATRICK PLEUL / DPA

SPIEGEL: Ab Januar 2018 sol- und mit ihm der Bundesland-


len größere tierhaltende wirtschaftsminister in seiner
Betriebe ihre Stickstoffüber- Novelle.
schüsse nun mittels einer SPIEGEL: Wem geben Sie
Stoffstrombilanz genau do- recht? Güllewagen

26 DER SPIEGEL 46 / 2017


End-to-End-Sicherheit.
Unbegrenzte Möglichkeiten.
Mit ihrer neuen Region in Deutschland bietet Google Cloud
Platform Ihrem Unternehmen die Geschwindigkeit, Sicherheit und
Analysemöglichkeiten, die es für die Skalierung braucht.

Weitere Informationen erhalten Sie unter cloud.google.com


Der Vierkampf
Koalition Über Wochen haben sich die Parteien in den Sondierungsgesprächen
gestritten, zwischendurch standen sogar Neuwahlen im Raum. Doch hinter den Kulissen
wird bereits über Posten gesprochen. Wie kann das Experiment Jamaika gelingen?

A
m Montag trafen sich die Spitzen des Bundestagspräsidenten weggelobt hat- zu der eine FDP gehört, die sich gerade
von Union, Grünen und FDP auf te, verstand nicht nur Lindner so, wie es erst aus der Gruft erhoben hat und nun
Einladung Angela Merkels im auch gemeint war: als Geste an die FDP. mit Schrecken feststellt, dass sie aus der
Kanzleramt. Eigentlich hatte die CDU- Dafür versuchte Merkel, den Grünen Apo direkt auf die Regierungsbank wech-
Chefin ihre Kollegen zu sich gebeten, um das Außenministerium schmackhaft zu ma- seln muss.
in aller Ruhe einige inhaltliche Streitpunk- chen. Cem Özdemir und Katrin Göring- Der Porschefahrer Lindner könnte dort
te aus dem Weg zu räumen. Aber bald war Eckardt zeigten sich wenig begeistert, das mit dem Grünen Anton Hofreiter sitzen,
die Runde es leid, so zähe Themen wie Außenministerium habe ja über die Jahre der Verbrennungsmotoren lieber heute als
den Europäischen Stabilitätsmechanismus immer mehr Kompetenzen verloren, erwi- morgen verbieten würde. Geführt wird das
durchzukauen. derten die beiden. Sie würden eher das Bündnis von einer Kanzlerin, die bisher
„Stellen Sie sich mal vor, Kubicki zieht Umweltministerium beanspruchen und noch jeden Partner geschrumpft hat. Als
ins Finanzministerium ein“, sagte FDP- dazu ein Ressort mit wirtschaftlichem Ge- mahnendes Beispiel dient CSU-Chef See-
Chef Christian Lindner zu Merkel und deu- wicht. Am Schluss meldete sich CSU-Chef hofer, für den die Sondierungsgespräche
tete auf seinen Vize. Eigentlich mag es Mer- Horst Seehofer zu Wort und scherzte: „Wir nach dem desaströsen Abschneiden der
kel nicht, schon vor dem Abschluss von nehmen dann alles, was von euch nicht CSU nur eine Art Gnadenfrist darstellen.
Koalitionsgesprächen über Posten zu reden, besetzt werden will.“ Kann das gut gehen?
aber eine Spielverderberin wollte sie auch Dass Union, Grüne und FDP schon über Die Wege von Koalitionen sind mitunter
nicht sein, also sagte sie: „Sie tun ja so, als die Verteilung von Ministerien reden, ist unergründlich. Als die ausgelaugte SPD
hätten wir das Finanzministerium bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass im Jahr 2005 bei Merkels Union andockte,
preisgegeben.“ Das wiederum fanden eini- Deutschland bald von einer Jamaikaregie- kam eine solide Regierung dabei heraus,
ge in der Runde amüsant. Denn die Tatsa- rung geführt werden könnte. Die Republik, die die Rente mit 67 wagte und die Finanz-
che, dass Merkel ihren langjährigen Finanz- danach sieht es im Moment aus, bekommt krise gemeinsam meisterte. Als die FDP
minister Wolfgang Schäuble auf den Posten ein unmögliches Bündnis: eine Koalition, im Jahr 2009 nach elf Jahren Opposition
MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE

MICHAEL KAPPELER / DPA

Verhandlungspartner Merkel, Lindner, Seehofer: Mehr als der übliche Argwohn

28 DER SPIEGEL 46 / 2017


Deutschland

wieder in ihrem Wunschbündnis mit der das Land zu regieren. Eigentlich wäre es Die Strategie ging auf: Auch die FDP
Union gelandet war, wurde aus Euphorie Angela Merkels Aufgabe gewesen, dem neu- schaltete im Lauf der Woche notgedrungen
schnell Größenwahn. Am Ende flog die en Bündnis eine Idee einzuhauchen. Aber von Angriff auf Abrüstung um. Nachdem
FDP aus dem Bundestag. sie wirkte bei den Verhandlungen so lustlos, Özdemir öffentlich die grüne Forderung
Deutschland hat in den vergangenen als sei sie selbst nicht ganz sicher, ob sie nach einem Aus für den Verbrennungsmo-
Wochen einen merkwürdigen Rollen- sich weitere vier Jahre den Mühen einer tor bis zum Jahr 2030 aufgegeben hatte,
tausch erlebt. Die Grünen, die einst ange- Kanzlerschaft unterziehen will. Erst als am rückte FDP-Chef Lindner von der Forde-
treten waren, das System das Fürchten zu vergangenen Wochenende das Wort Neu- rung seiner Partei für eine große Steuer-
lehren, wurden in den Verhandlungen zur wahlen durchs Regierungsviertel waberte, entlastung ab.
staatstragenden Partei. Die Liberalen hin- kamen die Verhandler zur Besinnung. Zähneknirschend stellt man in der FDP-
gegen, deren Lebenselixier über Jahrzehn- Den Beginn machten die Grünen. Am Spitze fest, dass man auch ein Opfer von
te das Regieren war, schreckten vor der Sonntag trafen sich 14 Spitzenleute zu ei- Merkels Verhandlungsführung ist. Diese
Verantwortung zurück, ganz so, als seien ner Klausur in einem umgebauten Stadt- habe im Wesentlichen darin bestanden, die
sie plötzlich zu der Erkenntnis gelangt, bad im Prenzlauer Berg. Sechs Stunden drei kleinen Parteien aufeinanderzujagen
dass Macht etwas Schmutziges ist. saßen die Verhandler zusammen und gin- und sich streiten zu lassen, um sich an-
Nun, vor dem Ende der Sondierungs- gen die Themen für die zweite Sondie- schließend in ihrer Paraderolle als große
gespräche am kommenden Freitag, gibt sich rungsphase durch. Am Ende stand eine Vermittlerin zu inszenieren, wie es ein
Lindner plötzlich kompromissbereit. „Wir ganz neue Verhandlungsstrategie. FDP-Präside beschreibt. Als sie Anfang
stünden für eine Koalition bereit, die Still- „Wir hatten den Eindruck, dass einer an- der Woche das Gerede um Neuwahlen kri-
stand und politische Lebenslügen überwin- fangen muss“, sagt Göring-Eckardt. Aus- tisierte, hatte Merkel vor allem den FDP-
det“, sagt er im SPIEGEL-Gespräch (siehe gerechnet in grünen Kernanliegen, bei Chef im Visier. „Fast hatte man den Ein-
Seite 32). Es soll am Ende nicht heißen, dass Benzin- und Dieselmotoren und beim Koh- druck, dass die CDU-Vorsitzende die Ver-
er die Schuld dafür trägt, dass die Deut- leausstieg, einigte man sich auf Kompro- handlungen bewusst treiben lässt, ohne
schen erneut an die Wahlurne gehen müs- missangebote. Hofreiter, Vertreter des Position zu beziehen“, sagt der stellvertre-
sen. Die Angst vor der AfD, die dabei wohl linken Flügels und eigentlich glühender tende FDP-Fraktionsvorsitzende Michael
am meisten profitieren würde, ist noch grö- Verfechter der Idee, ab 2030 keine Autos Theurer. „Dadurch rückte der Streit in den
ßer als die Angst vorm Regieren. Die Frage mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen, Vordergrund.“
allerdings ist, ob die Furcht vor Neuwahlen schlug den Kurswechsel vor. Es gab eine

Z
eine Klammer ist, die ein Regierungsbünd- kurze Diskussion. Einige fürchteten den u jeder Verhandlung gehört auch
nis vier Jahre lang zusammenhalten kann. Vorwurf, die Grünen würden ihre Prinzi- das Drama, die Parteimitglieder wol-
Deutschland hat drei unerfreuliche Wo- pien verraten. Aber man war sich rasch ei- len sehen, dass den Oberen der
chen erlebt, in denen es manchmal so schien, nig: Es sei besser, selbst Kompromisse an- Schweiß der Anstrengung auf der Stirn
als sei es für CSU und FDP eher eine Last, zubieten, als von FDP und Union dazu ge- steht. Das gehört zum Ritual. Aber zwi-
den Auftrag des Wählers anzunehmen und zwungen zu werden. schen Union, Grünen und FDP lag zu Be-
MAURIZIO GAMBARINI / DPA

MICHAEL KAPPELER / DPA

Grünenpolitiker Kellner, Özdemir, Kanzleramtschef Peter Altmaier: Ganz neue Strategie

DER SPIEGEL 46 / 2017 29


Deutschland

ginn mehr als der übliche Argwohn. Vor plötzlich verschwunden. Özdemir erklärte dürfen sie sich der Union nicht an den Hals
allem die FDP war nicht angetan von der sich bereit, die Liste über Nacht aus seinen werfen, schließlich muss das Ergebnis der
Idee, in eine Regierung einzutreten. Von Notizen wiederherzustellen. Als Lindner Sondierungen in zwei Wochen vor einem
den 80 FDP-Abgeordneten sind die meis- sie am nächsten Tag erhielt, traute er sei- Parteitag Bestand haben. Der soll dann
ten politische Novizen, weshalb Lindner nen Augen nicht: Aus dem Konsenspapier die Aufnahme von Koalitionsverhandlun-
fürchtete, in einer Jamaikakoalition zer- war ein grünes Papier geworden. Die Uni- gen beschließen.
rieben zu werden. onsparteien fühlten sich ebenfalls über- Entsprechend riskant waren die Zuge-
Dazu kommt das Trauma des Jahres rumpelt. Es brauchte stundenlange Ver- ständnisse der vergangenen Woche. In so-
2009. Damals stürzten sich die Liberalen handlungen, bis FDP, CDU und CSU ihre zialen Netzwerken hieß es, die Grünen sei-
unter Guido Westerwelle in ein Bündnis Forderungen wieder berücksichtigt sahen. en „eingeknickt“, in der Parteizentrale lie-
mit der Union, griffen nach fünf Minister- Auch die Grünen werden von den Schat- fen Beschwerde-Mails ein. Schließlich sah
posten und versäumten es, im Koalitions- ten der Vergangenheit verfolgt. Sie schlep- sich Geschäftsführer Michael Kellner zu
vertrag ihre wichtigsten Ziele zu veran- pen den Vorwurf mit sich herum, durch einer ungewöhnlichen Maßnahme genö-
kern. „Von den Fehlern, die wir damals ge- ideologische Verbohrtheit 2013 eine tigt. Am Dienstagmittag verschickte er
macht haben, sollte die FDP sich die ge- schwarz-grüne Koalition verhindert zu ha- eine Rundmail an Parteimitglieder, Betreff:
samte Legislaturperiode über nicht mehr ben. Das grüne Trauma wirkt umgekehrt „Sprachregelung Kohleausstieg und Ver-
erholen“, schreibt Parteichef Lindner in wie das liberale. Gerade weil Schwarz- kehrswende“. Die Grünen „müssen zur
seinem kürzlich erschienenen Buch „Schat- Grün vor vier Jahren nicht zustande kam, Kenntnis nehmen“, dass sie das Enddatum
tenjahre“. setzt die Führung der Ökopartei alles da- für den Verbrennungsmotor nicht als ein-
Entsprechend hartleibig trat Lindner zu- ran, dass es dieses Mal klappt. „Die Grü- zige Partei durchsetzen könnten, schrieb
nächst in den Sondierungen auf. Schon nen treten demonstrativ staatstragend Kellner. Das sei nur „realistisch“.
beim ersten Treffen mit CDU und CSU auf“, sagt ein Verhandler der Union. Während über die Inhalte noch heftig
am 18. Oktober übermittelten die Libera- Als Hauptverantwortlicher für das Schei- gestritten wird, sind die Posten am Kabi-
len der Unionsführung einen Katalog mit tern von 2013 gilt in der Union der Partei- nettstisch schon so gut wie vergeben. Gö-
gut 50 Fragen. Lindner wollte wissen, wie linke Jürgen Trittin. Nun ist aus allen Par- ring-Eckardt und Özdemir, die beiden Spit-
sich bestimmte Entscheidungen der Gro- teien zu hören, dass Trittin in den Sondie- zenkandidaten, gelten als gesetzt. Der lin-
ßen Koalition auf die kommende Legisla- rungen besonders konstruktiv auftrete. ke Flügel hat sich auf Hofreiter als Minister
turperiode auswirken und ob sie auch zu- Schon in der ersten Sondierungsrunde zum verständigt, er hat den ersten Zugriff. Seit
rückgenommen werden können. Thema Finanzen, das Trittin für die Grü- Sonntag zeichnet sich auch ab, auf welche
Lindner achtet in den Sondierungen pe- nen koordiniert, räumte er die grüne For- Ministerien es die Grünen abgesehen ha-
nibel darauf, die Kontrolle zu behalten. derung nach einer Vermögensteuer ab. ben. Bei der Klausur verständigte man sich
Vor allem gegenüber den Grünen hegt er Auch beim Abbau des Solidarzuschlags darauf, dass die Grünen das Umweltressort
Misstrauen. In dieser Woche wurde das bot er Kompromisse an. In einer Sitzung einfordern werden und dazu entweder das
durch eine Computerpanne befördert, die der Arbeitsgruppe Finanzen wandte sich
Göring-Eckardt widerfuhr. Die Grünen- Trittin suffisant lächelnd an Jens Spahn, 86
politikerin protokollierte am Montagabend den Rechtsaußen der Union. Nun müsse
in der Spitzenrunde der vier Parteien, auf er aber Spahn zur Seite springen, sagte
welche Schwerpunkte man sich in der letz- Trittin: „Es muss wirklich aufs Geld geach-
ten Phase der Sondierungen konzentrieren tet werden.“
wolle. Als Lindner Göring-Eckardt bat, die Der konziliante Kurs ist für die Grünen
Liste herumzuschicken, war die Datei eine Gratwanderung. Allzu offensichtlich
65

58
Regierungsbildung
Vom Wahltag bis zur Vereidigung 47
46 47 Stand:
des Kabinetts, in Tagen 10. Nov.
44 44
Q Koalitionsverhandlungen
37 37
32 32 31
30 30
26
24 24

1949
Regierungskoalition
1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976* 1980 1983 1987 1990/ 91 1994 1998 2002 2005 2009 2013
? 2017

*Wegen des frühzeitigen Wahltermins – mehr als zwei Monate vor Ablauf der Wahlperiode ist die Berechnungsmethode nicht anwendbar. Quelle: Datenhandbuch Deutscher Bundestag

30 DER SPIEGEL 46 / 2017


Landwirtschafts- oder das Verkehrsminis- Videokommentar: Deutschland das Angebot, die EU zu stär-
terium. Statt des Auswärtigen Amtes wol- Warum Jamaika gelingen muss ken. Die Mehrheit der Deutschen will, dass
len die Grünen nach dem Sozialministeri- das Land offen bleibt, auch für Flüchtlinge,
spiegel.de/sp462017jamaika aber zugleich eine Kontrolle der Zuwan-
um greifen. Dazu gab es keinen offiziellen oder in der App DER SPIEGEL
Beschluss, dafür sind die Dinge noch zu derung. Keine Aufgabe wiegt schwerer als
sehr im Fluss. Aber in der Runde gibt es Kreuzer, der Chef der CSU-Landtagsfrak- der Stopp des Klimawandels.
einen breiten Konsens, dass es den Grünen tion, fragte die Kanzlerin, wie weit sie sich Es wäre ein Fehler, sollte sich die FDP
nichts bringt, wenn sie das inzwischen eher eigentlich noch verbiegen wolle, um ihre in der Klimapolitik zum Anwalt der Indus-
einflusslose Außenamt besetzen. Kanzlerschaft zu retten. Es gehe hier schon trie machen. Die ist beim Thema gespalten.
Dabei würde es die Kanzlerin gern se- auch um das Wohl des Landes, erwiderte Bislang schießt der Bundesverband der
hen, wenn der Grüne Özdemir den Posten Merkel spitz. Deutschen Industrie (BDI) aus allen Roh-
übernähme. Ein Deutscher mit türkischen Nicht nur die bevorstehende Landtags- ren gegen den „ständigen Anstieg der
Wurzeln auf dem prestigeträchtigen Pos- wahl macht die CSU nervös. Auch der Energiekosten“ und die negativen Folgen
ten, das könnte dem neuen Bündnis etwas Machtkampf, der nach dem schlechten Ab- für die Industrie, sollten sich die Grünen
Glanz verleihen. Doch auf die Personal- schneiden nach der Bundestageswahl aus- bei den Verhandlungen durchsetzen.
entscheidungen der Grünen hat Merkel gebrochen ist, lähmt die Partei. Seehofer Allerdings hat der BDI eine Studie in
keinen Einfluss, und das ist nicht ihr einzi- will einen Erfolg der Verhandlungen, weil Auftrag gegeben, die das Gegenteil nach-
ges Kümmernis. er nur dann noch eine Chance hat, seine weist. Darin wird untersucht, was es für
Offiziell ist sie zwar die Verhandlungs- Nachfolge gesichtswahrend zu regeln. die Unternehmen bedeuten würde, wenn
führerin für die Union. Aber in Wirklich- Wenn Jamaika scheitert, ist er als Partei- bis zum Jahr 2050 die Treibhausgasemis-
keit verhandeln CDU und CSU in vielen chef und Ministerpräsident erledigt. sionen um 80 Prozent im Vergleich zu 1990
Fragen getrennt. Merkel will um jeden Andere wie Dobrindt und Generalsekre- eingespart würden. Fazit der Studie der
Preis, dass das Jamaikabündnis ihr den tär Andreas Scheuer positionieren sich für Boston Consulting Group: „Der 80 % Kli-
Weg in eine vierte Amtszeit öffnet. In der eine eventuelle Zeit nach Seehofer. Als mapfad ist auch im nationalen Alleingang
CSU fragen sich inzwischen viele, ob die die Grünen diese Woche ihre Forderung mit neutralem bis positivem Effekt für das
Koalition ihrer Partei nicht den Weg in nach einem Verbot von Verbrennungsmo- Bruttoinlandsprodukt möglich.“
den Abgrund ebnet. Nach der jüngsten toren bis 2030 aufgaben, sprach Seehofer Eine Reihe von Unternehmen im BDI
Umfrage des Instituts Insa liegt die CSU von einem förderlichen Schritt. Dobrindt versucht gerade, den Interessenverband,
in Bayern derzeit bei 37 Prozent. Und im dagegen pöbelte: „Wenn man Schwach- der sich offiziell nicht äußern will, zu einer
nächsten Herbst sind Landtagswahlen. sinnstermine abräumt, dann ist das ja noch Veröffentlichung der Studie zu drängen.
In einer Vorbesprechung der Unionssei- kein Kompromiss.“ Dobrindts harte Linie Dies könnte Union und FDP helfen, das
te vor Beginn der Sondierungsgespräche kommt in der Partei gut an. ökologische Erneuerungsprogramm zu ak-
leistete sich Seehofer eines seiner typi- Das macht es Merkel nicht leicht, eine zeptieren.
schen Witzchen. „Eins ist klar: Der Rechts- Linie zu finden, hinter der sich CDU und Ein Fortschritt wäre es, wenn Jamaika
ruck ist nicht verhandelbar“, sagte er. In CSU versammeln können. Seehofer ver- ein Einwanderungsgesetz schafft, das die
der Runde herrschte bestürztes Schweigen. langt, dass die neue Regierung die Erwei- Arbeitsmigration steuert. Gleichzeitig ist
In der Union wird heftig darüber gestritten, terung der Mütterrente beschließt, was es nötig, die humanitäre Zuwanderung
ob CDU und CSU rechte Wähler stärker rund sechs Milliarden Euro pro Jahr kosten über Kontingente zu begrenzen. Die Lehre
ansprechen sollten. „Entspannt’s euch, war würde. Merkel lehnt das ab. Bislang war aus dem Flüchtlingssommer 2015 lautet,
nur ein Scherz“, sagte Seehofer. der Streit nicht aufzulösen, und so werden dass politisch entschieden werden muss,
Den meisten in der CSU ist allerdings CDU und CSU in diesem Punkt mit unter- wie viel Humanität sich Deutschland leis-
nicht zum Lachen zumute. Als die Grüne schiedlichen Positionen in die Schlussrun- ten will. Alles andere stärkt die Populis-
Claudia Roth die Position ihrer Partei zur de der Verhandlungen gehen. ten.
Flüchtlingsfrage darstellte, sachlich und Und Europa? Die EU braucht ein Bud-

D
ohne Polemik, wie Politiker von FDP und eutschland hatte immer dann get, mit dem es Not leidenden Regionen
CDU fanden, fühlte sich CSU-Landesgrup- Glück, wenn Regierungsbündnisse und Ländern helfen kann. Aber das geht
penchef Alexander Dobrindt schon provo- auch den Zeitgeist widerspiegelten. auch ohne die Möglichkeit, gemeinsam
ziert. Ob die Grünen aus der Wahl über- 1969 war das der Fall, als die sozialliberale Schulden aufzunehmen. Schon jetzt zeich-
haupt nichts gelernt hätten, schnauzte er Koalition erstmals einen Sozialdemokra- net sich ab, dass das Jamaikabündnis mehr
Roth an: „Wir werden keiner Koalition zu- ten ins Kanzleramt wählte. Die rot-grüne Geld nach Brüssel überweisen wird. Das
stimmen, die nicht zur Begrenzung der Regierung im Jahr 1998 vertrieb den Mief ist richtig.
Flüchtlingsfrage führt.“ der Kohl-Jahre, sie ermöglichte gleichge- Bei etwas gutem Willen also sollte es
Die Stimmung drohte zu kippen. „Es schlechtliche Partnerschaften und läutete möglich sein, Kompromisse zu schließen.
macht keinen Sinn, jetzt weiter zu reden“, das Ende des Atomzeitalters ein. Das setzt allerdings voraus, dass sich alle
sagte Merkel. „Wir sollten uns zunächst Im Moment sieht es so aus, als sei der Beteiligten vertrauen, vor allem die Politi-
untereinander beraten.“ Bei dem Treffen Kitt von Jamaika die Alternativlosigkeit. ker von FDP und Grünen. Lindner und
der Unionsverhandler schlug sie ein Tref- Die SPD ist zu schwach, um noch einmal Göring-Eckardt jedenfalls haben einen ers-
fen der Parteichefs vor, um die Situation in eine Große Koalition einzutreten. ten Schritt gemacht. Noch im Wahlkampf
zu entspannen. Dem stimmten FDP und Wenn sich Union, Grüne und FDP nicht hatte der FDP-Chef die grüne Spitzenkan-
Grüne schließlich zu. zusammenraufen, dann führt kein Weg an didatin als Moralapostel verspottet. Vor
Für Merkel ist die CSU inzwischen der Neuwahlen vorbei. Das will niemand. ein paar Tagen bot Göring-Eckardt dem
schwierigste Partner, das weiß die Kanzle- Aber reicht das, um ein Bündnis zu be- fast 13 Jahre jüngeren Lindner, als Zeichen
rin spätestens seit Donnerstag der vergan- gründen? tätiger Milde, das Du an. Der Christian
genen Woche. Führende Politiker von Es gäbe genug Aufgaben, die sich Jamai- nahm die Offerte gern an.
CDU und CSU hatten sich in der Bayeri- ka stellen könnte. Europa ist zerstritten Christiane Hoffmann, Ann-Katrin Müller,
schen Landesvertretung getroffen, um eine wie nie, und gleichzeitig macht Frank- Peter Müller, René Pfister, Ralf Neukirch,
Bundesratssitzung vorzubereiten. Thomas reichs Präsident Emmanuel Macron Christoph Schult, Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 46 / 2017 31


„Aus Jamaika kann etwas werden“
SPIEGEL-Gespräch FDP-Chef Christian Lindner, 38, über die Aufgaben einer
Jamaikakoalition, sein Verhältnis zu den Grünen und die Bildungsförderung in Burundi

SPIEGEL: Herr Lindner, dürfen wir Sie zu


einem kleinen Ratespiel einladen?
Lindner: Bitte sehr.
SPIEGEL: Von wem stammen folgende Sätze:
„Wir wollen die Elektromobilität voran-
bringen; wir wollen die Erfolgsgeschichte
der Energiewende ausbauen und setzen
uns für einen verantwortungsbewussten
Ausstieg aus der Kohlekraft ein“?
Lindner: Ich weiß nicht, wer der Autor die-
ser Sätze ist. Aber ich kann mir die Aus-
sage zu eigen machen.
SPIEGEL: Die Sätze stammen aus dem Ko-
alitionsvertrag der neuen Landesregierung
in Kiel, an der auch die FDP beteiligt ist.
In den vergangenen Wochen jedoch konn-
te man den Eindruck gewinnen, dass Ihre
Partei bei den Sondierungsgesprächen in
Berlin eine ganz andere Linie verfolgt:
Kohlestrom, ja bitte.
Lindner: Der Eindruck ist falsch. Die FDP
steht zu den Klimazielen von Paris. Zu-
gleich haben wir aber die Verantwortung
für eine bezahlbare und sichere Energie-
versorgung. Diese Ziele müssen mit Ver-
nunft verbunden werden, denn sie sind
gleichrangig.
SPIEGEL: Uns kam es eher so vor, als woll-
ten Sie den Konflikt mit den Grünen auf
die Spitze treiben.
Lindner: Davon kann keine Rede sein.
Schauen Sie, bei den Sondierungsgesprä-
chen in Berlin sitzen vier Parteien am Tisch,
die teils widersprüchliche Wähleraufträge
haben. Das Kunststück wäre, daraus einen
gemeinsamen Arbeitsplan zu entwickeln,
der nicht schlicht die Politik der Großen
Koalition fortsetzt, sondern eine neue Ba-
lance schafft: zwischen ökonomischer Ver-
nunft und ökologischer Verantwortung,
zwischen wirtschaftlicher Dynamik und
sozialer Sensibilität, zwischen Freiheit und
Sicherheit. Das ist nicht trivial.
SPIEGEL: Bislang war weniger von Aus-
gleich, aber dafür umso mehr von Attacke
die Rede. Etwa, wenn Sie den Grünen vor-
geworfen haben, ihre Flüchtlingspolitik sei
ein Konjunkturprogramm für die AfD.
Lindner: Ich respektiere die humanitären
Motive der Grünen, aber ich werde weiter
darauf aufmerksam machen, dass die Ein-
OLAF BLECKER / DER SPIEGEL

wanderung eine der brennendsten Fragen


in Deutschland ist. Eine Koalition der neu-
en Balance müsste eine Koalition für die
Mitte des Landes sein – und nicht für die
Elite von Berlin-Mitte.
SPIEGEL: Sie klingen plötzlich so konziliant.
Dabei hatten viele Verhandler bei Union Liberaler Lindner: „In der ungewöhnlichen Konstellation könnte eine Chance liegen“

32 DER SPIEGEL 46 / 2017


Deutschland

und Grünen zuletzt den Eindruck, die FDP konstellation ist dieses Vorhaben nicht rea- lichen Strukturwandels gesehen. Wieso
und insbesondere Sie wollten gar keine lisierbar. Deshalb konzentrieren wir uns positionieren sich die Liberalen plötzlich
Jamaikaregierung. auf die Abschaffung des Solidaritätszu- als Kohlepartei?
Lindner: Ob man eine solche Regierung schlags. Das muss in den nächsten vier Jah- Lindner: Nicht die FDP hat sich gegen das
wollen kann, werden wir auch erst am ren abgeschlossen werden. Wort vom Kohleausstieg in den Sondie-
Ende der Gespräche wissen. Wir stünden SPIEGEL: Wenn Sie den Soli abschaffen, pro- rungspapieren verwahrt, sondern die Bun-
für eine Koalition bereit, die Stillstand fitieren davon vor allem die oberen Ein- deskanzlerin. Die FDP hat in den Neunzi-
und politische Lebenslügen überwindet, kommensschichten. Hatte die FDP im gern als erste Partei den Ausstieg aus den
um das Land nach vorn zu bringen. Nie- Wahlkampf nicht angekündigt, vor allem wirtschaftlich unsinnigen Steinkohlesub-
mand darf die Augen davor verschließen, Klein- und Mittelverdiener entlasten zu ventionen gefordert – und auf den Weg
dass wir mit der AfD einen neuen Faktor wollen? gebracht.
haben. Eine künftige Regierung muss Ant- Lindner: Ja, eine Entlastung der Familien SPIEGEL: Sie schließen einen Ausstieg aus
worten geben auf die drängenden Fragen und vom Altenpfleger bis zur Ingenieurin der Kohle nicht aus?
der verantwortungsbewussten, ungeduldig ist weiter unser Ziel. Dazu wäre eine Steu- Lindner: Das war und ist nur eine Frage
gewordenen Mitte des Landes – und da erreform nötig, für die man die Zustim- der Zeit. Die Grünen wollen, dass
könnte in der ungewöhnlichen Konstella- mung der SPD im Bundesrat benötigt. Da Deutschland anders als Frankreich zeit-
tion der vier Parteien vielleicht eine Chance stünden wir am Ende mit leeren Händen gleich aus der Kern- und der Kohleenergie
liegen. da. Deshalb schlagen wir vor, mit dem Soli aussteigt. Das ist nicht nur eine politische,
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf? zu beginnen. Wir erinnern an unser Modell das ist vor allem eine physikalische He-
Lindner: Die CSU steht Mitte-rechts, die von 2015, ihn im ersten Jahr für Einkom- rausforderung.
Grünen stehen links, die FDP sieht sich men bis 50 000 Euro entfallen zu lassen, SPIEGEL: Deutschland hat sich aber ver-
im Zentrum. In der Flüchtlingsfrage ver- im zweiten Jahr und noch vor der nächsten pflichtet, den Ausstoß klimaschädlicher
handeln wir damit stellvertretend für die Wahl dann komplett. Sobald der Bundes- Treibhausgase in den nächsten Jahren mas-
Konfliktlinien im Land. Der Konsens könn- tag die Abschaffung des Soli beschlossen siv zurückzufahren. Welche Vorschläge hat
te sein: Wir helfen Menschen während der hat, könnte man danach ein zweites Ge- die FDP, wie das zu schaffen ist?
Zeit der Not, aber wir erkennen zugleich, Lindner: Verbote, Quoten und Subventio-
dass Deutschland dabei an die Grenzen nen sind altes Denken. Die Kosten, um
seiner Möglichkeiten gestoßen ist. Es „Eine Elf-Prozent-Partei CO2 zu vermeiden, gehören bei uns zu
braucht ein Einwanderungsgesetz mit kla- den höchsten der Welt. Wir schlagen ein
ren Regeln, das unser Land aber nicht ab- kann nicht den Weg neues Denken vor. CO2 braucht überall
schottet. Wer vor der Schaffung dieses neu- Deutschlands und auch einen Preis, damit wir die Innovationsma-
en Regelwerks dafür sorgen will, dass im schine des Marktes anwerfen, neue Tech-
Wege des Familiennachzugs womöglich
nicht der EU diktieren.“ nologien zur Energiespeicherung und Be-
Zehntausende weitere Einwanderer nach reiche wie das Heizen ins Spiel bringen.
Deutschland kommen, gefährdet die Ak- setzgebungsverfahren für eine Steuerre- Automatisch, effizient und sozial verträg-
zeptanz einer Regierung, noch bevor sie form prüfen, die die Entlastung unter dem lich wird die Kohle dann zurückgehen. Au-
im Amt ist. Strich in der Mitte der Gesellschaft kon- ßerdem wollen wir den Blick dahingehend
SPIEGEL: Bisher war in den Sondierungsge- zentriert. weiten, dass wir mit unseren Mitteln im
sprächen von Konsens weniger die Rede. SPIEGEL: Das wird bei Ihrer Klientel aber Ausland zu günstigeren Preisen mehr CO2
Uns schien es eher, als wollten sich die Be- nicht nur Begeisterung auslösen. Schon in einsparen können als bei uns.
teiligten am Umgangston der schwarz-gel- den vergangenen Wochen war das Wort SPIEGEL: Das andere Thema, bei dem die
ben Koalition der Jahre 2009 bis 2013 ori- „Umfaller“ zu hören, als von solchen Ideen Jamaikaparteien weit auseinanderliegen,
entieren, als man sich wechselseitig als die Rede war. ist Europa. Teile der Union und die Grü-
„Gurkentruppe“ oder „Wildsäue“ be- Lindner: Häufiger habe ich gehört, die FDP nen haben die Pläne des französischen Prä-
schimpfte. sei zu kompromisslos. Wir bemühen uns sidenten Emmanuel Macron für ein eige-
Lindner: Die Lehre ist, dass man Konflikte jedenfalls um die breite Akzeptanz unserer nes Budget der Eurozone begrüßt, die FDP
besser vor der Bildung einer Koalition aus- Finanzpolitik. Genauso sollten die Grünen ist dagegen. Am Mittwoch haben Sie in
trägt als danach. Es geht uns um eine Poli- nicht einfach sagen: „Weg mit der Kohle“, Berlin mit Macrons Wirtschafts- und Fi-
tik, die auf Klugheit, Ausgewogenheit und egal was das für Strompreise und Arbeits- nanzminister Bruno Le Maire gesprochen.
Verhältnismäßigkeit basiert und dazu bei- plätze bedeutet. Was haben Sie ihm gesagt?
trägt, die politische Tonalität in Deutsch- SPIEGEL: Für die Grünen ist der schrittweise Lindner: Die Freien Demokraten haben ein
land zu beruhigen. Da wird keiner Maxi- Abschied von der Kohle aber unverzicht- hohes Interesse, dass es Macron gelingt,
malpositionen durchsetzen. Es wäre nicht bar, weil anders die Klimaziele für das Jahr Frankreich erfolgreich zu erneuern. Wir
wünschenswert, wenn eine Jamaikakoali- 2020 nicht zu erfüllen sind. Sind Sie bereit, unterstützen seine Pläne für eine europäi-
tion als Kombination einer als quasireligiös Ihrem künftigen Koalitionspartner in die- sche Verteidigungsgemeinschaft, für den
empfundenen Klimawende, der Verwal- sem Punkt entgegenzukommen? Schutz der EU-Außengrenzen und für eine
tung des sozialdemokratischen Status quo Lindner: Realisten müssen erkennen, dass bessere Zusammenarbeit bei der Terroris-
und einer Entlastung von Einkommensmil- man Versäumnisse früherer Regierungen musbekämpfung. Ein Budget für die Eu-
lionären denunziert würde. wie den schleppenden Netzausbau nicht rozone, das am Ende nicht Investitionen
SPIEGEL: Anfang der Woche haben die Grü- ad hoc vollständig korrigieren kann, ohne finanziert, sondern Konsumausgaben zu-
nen in wichtigen Streitfragen erste Kom- soziale Verwerfungen zu riskieren. Davor lasten nötiger Reformen, ist für uns ausge-
promisssignale ausgesendet. Wie werden hat das SPD-geführte Wirtschaftsministe- schlossen. Ich werte dieses Vorhaben al-
Sie reagieren? rium gerade gewarnt. Deshalb gibt es diese lerdings nicht mehr als konkreten Vor-
Lindner: Wir haben längst reagiert. Der Diskussion. Entscheidend für das Pariser schlag aus Paris, sondern eher als einen
Wirtschaftsflügel der Union und die FDP Abkommen ist ohnehin 2030. Denkanstoß. Wir teilen indessen die Ziel-
wollten steuerliche Entlastungen von 30 SPIEGEL: Die FDP hat sich früher eher als setzung, in ganz Europa mehr Investitio-
bis 40 Milliarden Euro. In einer Jamaika- Förderer eines unvermeidlichen wirtschaft- nen in neue Technologien anzuregen. Wir
DER SPIEGEL 46 / 2017 33
IN DER SPIEGEL-APP
Deutschland

glauben aber, dass es dafür bessere Instru-


mente gibt.
SPIEGEL: Welche?
Lindner: Beispielsweise mit dem Juncker-
Plan und der Europäischen Investitions-
bank existieren bereits Mittel, um Projek-
te in der Realwirtschaft zu finanzieren.
Das kann praxistauglicher gehandhabt
werden. Im Haushalt der Europäischen

OLAF BLECKER / DER SPIEGEL


Union sollte weniger Geld für Agrarsub-
ventionen und mehr für neue Technolo-
gien eingeplant werden. Ich habe im Zuge
der Sondierungsgespräche etwa vorge-
schlagen, eine deutsch-französische Indus-
trieinitiative für Batterietechnologien für
Elektroautos zu starten. Sie sehen also, Lindner beim SPIEGEL-Gespräch*
die FDP denkt im Interesse Europas wie „Jetzt veranstalte ich mal ein Ratespiel“
des Klimaschutzes.
SPIEGEL: Daran gibt es berechtigte Zweifel. nicht gesprochen haben: die Bildungspoli-
Viele EU-Länder haben zum Beispiel mit tik. Dass die Konkurrenz von 16 Ländern
Entsetzen zur Kenntnis genommen, dass die Qualität der Bildung verbessert, ist
die FDP den europäischen Rettungsschirm eine deutsche Lebenslüge. Wir wollen
ESM auslaufen lassen will, der bei der Be- eine Revolution. Der Bund muss die Mo-
wältigung der Eurokrise eine große Rolle dernisierung der Bildung finanzieren und
gespielt hat. Halten Sie an den Vorhaben dafür auch Qualitätsvorgaben aussprechen
fest? können.
Lindner: Als Elf-Prozent-Partei kann man SPIEGEL: Da müssen Sie mit dem erbitterten
nicht Deutschland und ganz Europa den Widerstand des bayerischen Ministerprä-
Weg diktieren. Dennoch stehen wir in den sidenten und CSU-Chefs Horst Seehofer
weiteren Debatten zu unserem Kerngedan- rechnen.
ken. Die Eigenverantwortung der Euro- Lindner: Und dem seines Kollegen Winfried
staaten für ihre Finanzen muss wieder Kretschmann aus Baden-Württemberg. Ich
gestärkt werden. Die Teilung von Haf- bin aber zuversichtlich, dass wir die beiden
tungsrisiken bei privaten Banken und die davon überzeugen können, dass es hier
Vergemeinschaftung von Schulden gehen um eine Zukunftsaufgabe geht, die nicht
Teheran in eine falsche Richtung. Das gilt auch für
die Bankenunion: Wenn deutsche Spar-
an kleinlichen Zuständigkeitsfragen schei-
tern darf. Es kann nicht sein, dass die Bun-
entschleiert kassenkunden für italienische Bankpleiten
beansprucht werden könnten, setzt man
desregierung die Schulen in Botswana und
Burundi unterstützen darf, aber nicht in
Zar Amir Ebrahimi war ein Seifenopern- die Zustimmung zu Europa aufs Spiel. Bamberg oder Bremen. Ich erhoffe von
SPIEGEL: Was schwebt Ihnen vor? der CSU, dass sie sich beim Kooperations-
star im iranischen Staatsfernsehen.
Lindner: Wir diskutieren, ob wir bei der verbot bewegt.
Doch dann taucht ein Sexvideo auf, das Weiterentwicklung der Wirtschafts- und SPIEGEL: Wie wollen Sie Ihre Gegner über-
angeblich Ebrahimi und ihren Freund Währungsunion unseren Gedanken veran- zeugen?
zeigt. Die Karriere vorbei, Ebrahimi flieht kern könnten. Der ESM hat in den letzten Lindner: Die Probleme sind doch evident.
nach Europa – und findet wie so viele Jahren Kompetenz bei der Überwachung Bayern ist besser als Bremen, aber wir ste-
iranische Künstler ein Ventil im Anima- der Stabilitätsziele aufgebaut, die objekti- hen im internationalen Wettbewerb. Die
tionsfilm. In „Teheran Tabu“ knüpft sie ver ist als die der EU-Kommission und die Digitalisierung der Bildung und das lebens-
an Filme wie „Persepolis“ oder „The eine Rolle spielen könnte, wenn der Inter- begleitende Lernen würden Länder und
Green Wave“ an und zeigt die Schizo- nationale Währungsfonds sich aufgrund Kommunen überfordern. Jetzt veranstalte
des Einflusses anderer globaler Player aus ich mal ein Ratespiel: Was glauben Sie,
phrenie ihres Landes, in dem nichts Europa zurückzieht. Wenn der ESM bleibt, was herauskäme, wenn man die Bevölke-
wichtiger zu sein scheint als Jungfräu- könnte er ein Instrument für mehr Diszi- rung nach den Prioritäten eines Jamaika-
lichkeit und religiöse Moral – und in dem plin werden. Ein Umverteilungsinstrument vertrags fragen würde?
zugleich Prostitution und Partys mit mit mehr Geld wird er mit Unterstützung SPIEGEL: Sie haben die Antwort bestimmt
Drogen und Sex allgegenwärtig sind. der FDP aber nicht. schon im Kopf.
Sehen Sie die Visual Story im digitalen SPIEGEL: Das klingt, als wären auch bei den Lindner: Erstens: Ordnung bei der Einwan-
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. vermeintlichen Bruchpunkten „Klima“ derung. Zweitens: beste Bildung. Drittens:
und „Europa“ Kompromisse denkbar. Kön- Ökonomie und Ökologie versöhnen. Vier-
nen wir also davon ausgehen, dass sich die tens: Entlastung der Mitte, damit die Men-
Jamaikaverhandler nächste Woche ver- schen vorankommen im Leben. Fünftens:
ständigen werden? mehr Sicherheit durch europäische Zusam-
Lindner: Das ist offen. Zumal wir über eine menarbeit. Wenn wir uns an diesen Prio-
der für uns wichtigsten Fragen noch gar ritäten orientieren, kann aus der Expedi-
tion nach Jamaika vielleicht etwas werden.
* Mit den Redakteuren Christoph Schult und Michael SPIEGEL: Herr Lindner, wir danken Ihnen
JE TZ T DI G I TAL L E S E N Sauga in der FDP-Parteizentrale in Berlin. für dieses Gespräch.
34 DER SPIEGEL 46 / 2017
Deutschland

Alter Schwede
Soziales Die angehenden Jamaikakoalitionäre wollen den Renteneintritt flexibler machen und
starre Altersgrenzen aufbrechen – eine überfällige Reform. Vorbild dafür ist Skandinavien.

D
er Feierabend kommt früh. In Som- Kommission beraten werden. Doch in Sa- Über Jahrzehnte galt es als fair, eine ein-
mernächten währt die Dunkelheit chen Altersgrenze gibt es Hoffnung: Aus- heitliche Altersgrenze für alle in das Ge-
nur kurz. Und in der Landesspra- gerechnet in der Sozialpolitik, rituell ein setz zu schreiben. Heute liegt sie bei 65
che heißt die staatliche Sozialversicherung Schauplatz ideologischer Kulturkämpfe, Jahren und sechs Monaten, eine Hürde mit
„Försäkringskassan“. Es gibt Dinge, an die könnte sich Jamaika am Ende als Innova- nachhaltiger Wirkung: Erstens enden die
sich deutsche Arbeitnehmer beim Umzug tionstreiber beweisen. meisten Arbeitsverträge automatisch mit
nach Schweden schnell gewöhnen. Ökonomen fordern seit Jahren, die star- diesem Tag. Zweitens bestimmt das Datum
Um angehenden Auswanderern die nor- re Altersmarke aufzuweichen. „Man sollte die Höhe der Rente. Wer vor dem Stichtag
dische Arbeitswelt näherzubringen, hat jedem Arbeitnehmer mehr Autonomie ge- in den Ruhestand wechselt, muss in der
die Deutsche Rentenversiche- Regel ein Rentnerleben lang mit
rung eine Broschüre herausge- Abschlägen kämpfen. Es geht
geben. Der Kulturschock ver- Ruhestand um Geld, um viel Geld sogar
steckt sich auf Seite zehn: Hier Tatsächliches Renteneintrittsalter für Otto Normalarbeitnehmer.
erfährt der Leser, dass es in in ausgewählten Ländern So kommt es, dass jede De-
Schweden kein festes Renten- Quelle: OECD Europas, 2014 batte über ein pauschales Rauf
alter mehr gibt. Einfach abge- oder Runter des gesetzlichen
schafft, vor Jahren schon. „Eine Rentenalters zu Eruptionen
Altersrente können Frauen und Q Frauen Q Männer führt. Dass mit Franz Müntefe-
Männer flexibel zwischen 61 ring ausgerechnet ein sozialde-
und 67 Jahren erhalten“, steht mokratischer Arbeitsminister
in dem Heftchen zu lesen. Un- die Rente mit 67 auf den Weg
geheuerlicher noch, in Fett- brachte, haben viele Gewerk-
druck: Die Beschäftigung brau- schafter der SPD bis heute nicht
che man nicht aufzugeben, man verziehen. Dass die Große Ko-
könne einfach weiterarbeiten. alition als Wiedergutmachung
Und im Zweifel lasse sich der die Rente mit 63 für langjährig
Rentenbezug „auch ganz hi- 66 Versicherte einführte, brachte
nausschieben“. Schweden umgekehrt die Arbeitgeber zur
Lesern in Deutschland muss Weißglut. Inzwischen wächst
65
man so etwas schonend beibrin- Groß- die Erkenntnis, dass es auch
gen. Politikern übrigens auch. britannien politisch klug sein könnte, pau-
Die kleine Broschüre ist in Ber- 64 schale Vorgaben für alle durch
lin eine viel gelesene Lektüre, Nieder- individuelle Lösungen für jeden
das gilt vor allem für die Mit- lande zu ersetzen. Gerade die Kanz-
glieder der angehenden Jamai- Deutschland 63 lerin soll bei den ersten Sondie-
kakoalition. Schweden gilt als Polen rungen eifrig genickt haben, als
Vorzeigeland in der Renten- 62 es um flexiblere Altersgrenzen
politik, als Vorbild für eine mu- Italien ging.
tige Reform, mit der inzwischen Unterschiedliche Biografien
auch Sondierer liebäugeln. Ent- 61 verlangen unterschiedliche Lö-
decke die Möglichkeiten, auch Frank- sungen. Auch viele Beschäftigte
für die Rente. reich sehen das inzwischen so.
60
Es ist eine vage Formulierung, Für Eberhard Waibler zum
eine luftige Festlegung. Aber Beispiel kam die Rente mit 65
tatsächlich haben sich die Un- 59 nicht infrage. Der Physiker hat
terhändler von Union, FDP und seinen 66. Geburtstag längst hin-
Grünen vorgenommen, das ver- ter sich und fährt noch immer
krustete Sozialrecht an einer Stelle aufzu- ben, selbst zu entscheiden, wann er in Ren- an zwei Tagen in der Woche ins Bosch-
brechen: Käme es zu einer Jamaikakoali- te geht“, sagt etwa DIW-Präsident Marcel Werk in Stuttgart-Feuerbach. „Arbeiten
tion, stünden „ein flexibler Renteneintritt Fratzscher. bedeutet für mich, jeden Tag etwas Neues
und gleitende Übergänge von Erwerbstä- Klug gemacht, könnte ein solcher Schritt zu lernen“, sagt Waibler. Auf diesen Kick
tigkeit in den Ruhestand“ ganz oben auf helfen, die Rentenkasse zu füllen und den möchte er nicht verzichten, auch jetzt
ihrer To-do-Liste. So haben es die Partei- befürchteten Fachkräftemangel zu lindern. nicht, da man ihn in der Statistik zu den
experten bei ihrem ersten Sondierungstref- Er könnte jene Menschen, die es wollen, „Alten“ zählt.
fen in der vergangenen Woche notiert. Der länger im Erwerbsleben halten, und jene, Für Talih Ince war die Rente mit 65
Weg dahin ist offen, ob die Idee tatsächlich die in belasteten Berufen schuften, würdi- ebenfalls keine Option. In seinem früheren
umgesetzt wird, bleibt unklar, schon am ger in den Ruhestand begleiten. Was indi- Leben hat der 59-Jährige als Maurer gear-
Donnerstag gab es wieder Streit über die vidualistisch anmutet, ist in Wahrheit ein beitet, 39 Jahre verbrachte er auf dem Bau.
Rentenpolitik. Das Thema soll nun in einer großes Gerechtigkeitsprojekt. Doch die Knie spielen nicht mehr mit, sehr

36 DER SPIEGEL 46 / 2017


Mein

lange schon, auch die Bandscheibe macht


nun Probleme. Mit 54 Jahren stellte er
unteren Ende der Arbeitswelt? Welche Per-
spektiven gibt es für Ex-Bauarbeiter Ince,
Erfolgsrezept?
einen Antrag auf Erwerbsminderungsren- der sich in keinem „Expertenpool“ findet
te, erst zwei Jahre später bekam er sie und um den sich kein Arbeitgeber müht? Entlastung bei kaufmännischen
auch. Ince verzichtet nun auf sehr viel, vor Sozialforscher empfehlen, jeden Men-
allem auf viel Geld. Das Renteneintrittsal- schen durch dauerhafte Weiterbildung in Aufgaben!
ter war für ihn eine unerreichbare Hürde. die Lage zu versetzen, möglichst lange im
Die Lebenswege von Waibler und Ince Erwerbsleben zu bleiben. Irgendwann
zeigen, warum es viele Gründe gibt, das könnte auch ein Bauarbeiter dann in ein
deutsche System besser zu machen. wohltemperiertes Büro wechseln. Auf
Am oberen Rand des Arbeitsmarkts, in mehr „lebenslanges Lernen“ haben sich
Waiblers Welt der Experten, verfluchen die Jamaikasondierer schon verständigt.
die Unternehmen heute jede Altersgrenze, Allerdings gibt es Grenzen. Ince hat es
weil ihnen die Fachkräfte abhandenkom- versucht, hat seiner alten Firma angeboten,
men und die Zukunft das Problem noch als Planer zu arbeiten. Doch die, erzählt
verschärfen wird. Dass ein Gesetz das Sig- er, akzeptierte nur einen richtigen Maurer.
nal setzt, das Berufsleben wegen eines Einen, der acht Stunden arbeiten kann und
Stichtags zu beenden, halten Personalchefs auch am Samstag kommt.
schlicht für verrückt. In Deutschland zählt Ince heute zu den
Um das Spezialwissen reiferer Experten Verlierern des Sozialstaats. Wer sich die
zu bewahren, hat der Automobilzulieferer Knochen oder die Seele am Band oder auf
Bosch eine Tochterfirma gegründet, die dem Bau zerrieben hat und vor der Regel-
ehemalige Mitarbeiter ins Unternehmen altersgrenze in Rente geht, der erlebt, dass
zurückholt. Mehr als 1500 „Senior-Exper- die Abschläge kleine Renten auf Hartz-IV-
ten“ umfasst die Datenbank mittlerweile, Niveau drücken. Auch die Rente mit 63
sie arbeiten auf Projektbasis. Als Experte konnte daran wenig ändern, weil sie nur
für Messtechnik ist Waibler am Motoren- für Beschäftigte mit mindestens 45 Bei-
prüfstand noch immer gefragt. „Die Arbeit
mit den Kollegen bereichert mein Leben“,
sagt er. Zu Hause könne er sich nur in der Starre Altersgrenzen
Theorie weiterbilden, noch dazu sei er al-
lein. Die Kinder seien aus dem Haus, die benachteiligen die
Enkel nicht jeden Tag bei ihm. Wie lange schwer Arbeitenden und
er noch arbeiten will? „Da will ich mich
nicht festlegen“, sagt er. Die wenigsten Äl-
die gering Gebildeten.
teren wollen das.
Ausgerechnet dort, wo es keine feste Al- tragsjahren gilt. Wer aber aus gesundheit-
tersgrenze mehr gibt, bleiben Senioren be- lichen Gründen nicht einmal bis 60 ar-
sonders lange im Berufsleben. So zeigte beiten kann, der ist auf die noch schmale-
eine Untersuchung des Instituts für Ar- re Erwerbsminderungsrente angewiesen.
beitsmarkt- und Berufsforschung, dass EU- Kaum ein Armutsrisiko ist größer.
weit durchschnittlich 8,7 Prozent der über Es ist ein grundlegender Webfehler: Das
65-Jährigen einer Arbeit nachgehen. In Rentensystem mit seinen Altersgrenzen
Schweden sind es 16,4 Prozent, das ist Re- benachteiligt die körperlich schwer Arbei-
kord in der EU. Und ein Großteil dieser tenden, die Armen und die gering Gebil-
Seniorarbeiter sind Menschen wie Waibler: deten, die auch eine geringere Lebenser-
gut ausgebildet, qualifiziert. wartung hätten, argumentiert der Ökonom
Die Studie erschien im vergangenen Thomas Straubhaar von der Universität
Jahr. Auch damals mühten sich Scharen Hamburg. „Ich werbe dafür, in der Ren-
deutscher Politiker, das Wunder im hohen tenpolitik völlig neu zu denken.“
Norden zu ergründen. Deutschland könne Die Schweden beispielsweise haben eine
von den Erfahrungen „profitieren“, schrie- Lösung für sich gefunden: ein Auffangsys- Die digitalen DATEV-Lösungen unterstützen Sie bei
ben die Wissenschaftlichen Dienste des tem für alle Geringverdiener. Ihnen steht allen kaufmännischen Aufgaben – vom Angebot über
Bundestags in einem Bericht. eine steuerfinanzierte Mindestrente zu. die Kassenführung bis hin zur Buchführung. So ge-
Ab 61 können die Beschäftigten in In einer ähnlichen Kombination könnte winnen Sie Freiräume und mehr Zeit für die Betreuung
Schweden jederzeit in den Ruhestand ge- auch der Reiz für die potenziellen Jamai- Ihrer Kunden. Informieren Sie sich im Internet oder bei
hen. Die Höhe der Rente ist dabei an die kapartner liegen. Die Liberalen verfolgen
Ihrem Steuerberater.
durchschnittliche Lebenserwartung gekop- seit Jahren ausdrücklich das Ziel, die Re-
pelt, auch das halten Ökonomen für vor- gelaltersgrenze flexibler zu machen. Die
bildlich. Wen es früh in den Ruhestand Grünen träumen von einer steuerfinanzier-
zieht, der muss mit Abschlägen rechnen. ten Mindestabsicherung, die Union unter- Digital-schafft-Perspektive.de
Je länger die Senioren der Berufswelt er- stützt mehr Hilfe für Erwerbsgeminderte.
halten bleiben, desto mehr steigt ihre Ren- Diese Konzepte widersprechen sich nicht,
te, auch nach dem 67. Geburtstag noch. im Gegenteil. Sie ließen sich vereinen.
Für hoch qualifizierte Rentner wie Waib- Man müsste nur noch einmal nach Nor-
ler wäre es die perfekte, unbürokratische den blicken.
Lösung. Das Problem ist nur: Was tun am Benedikt Becker, Cornelia Schmergal

DER SPIEGEL 46 / 2017 37


Deutschland

zig Männer und Frauen gibt. Das gilt vor


allem für das Familienrecht, wo bisher nur
von Mutter und Vater die Rede ist. Kann
etwa auch ein Intersexueller rechtlich Mut-
ter oder Vater sein? Oder muss die Eltern-
schaft neutraler gefasst werden, indem im
Familienrecht künftig nur noch von den
„Elternteilen“ die Rede ist?
Die Frage, ob Menschen, die weder als
Mann noch als Frau registriert sind, heira-
ten dürfen, hat sich durch die Einführung
der Ehe für alle erledigt: Nach altem Ehe-
recht wäre das nicht gegangen, da war die
Ehe ein Bündnis von „Mann und Frau“.
JAN WOITAS / PICTURE ALLIANCE / DPA

Mittlerweile ist nur noch von einer Ver-


bindung von Partnern „verschiedenen
oder gleichen Geschlechts“ die Rede –
dazu lassen sich nun auch Menschen eines
dritten Geschlechts zählen.
Auswirkungen gibt es auch im Arbeits-
recht. Was ist mit Mutterschutz, der bislang
ausdrücklich nur bei Frauen greift? Oder
Intersexuelle Person Vanja in Leipzig 2016: Ein fein orchestriertes Zusammenspiel in der Arbeitsstättenverordnung, wo für
Betriebe bisher getrennte Toiletten nur für
weibliches und männliches Personal vor-

Nicht nur ein „X“ geschrieben sind? Auch bei Behörden,


staatlichen Krankenhäusern, Hochschulen,
Schulen oder Kitas könnte man nachden-
ken, ob der Verzicht auf eine Toilette für
Justiz Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum dritten intersexuelle Menschen diese in ihren
Geschlecht hat Folgen in juristischer, behördlicher und medizinischer Grundrechten verletzt. Und selbst in der
Kommunikation stellt sich die Frage, wel-
Hinsicht – vor allem aber im gesellschaftlichen Umgang. che Anrede beispielsweise künftig in be-
hördlichen Schreiben gewählt werden

D
as Recht schafft Realität, und das schlechteridentität nicht eindeutig festzu- muss bei Personen dritten Geschlechts –
Recht spiegelt Realität, das ist der legen ist. oder ob diese dann einfach wegfallen kann.
ambivalente Doppelcharakter die- Der Karlsruher Beschluss deckt sich mit Die biologischen Grundlagen der Ge-
ser gesellschaftlichen Institution. Gerichte den Empfehlungen des Ethikrats, die das richtsentscheidung sind dabei noch kom-
wiederum schaffen Klarheit oder regeln Gremium bereits 2012 im Auftrag der da- plexer. Ob im Mutterleib eine Tochter oder
Unklarheit, das hat das Bundesverfassungs- maligen Bundesregierung erarbeitet hat. ein Sohn heranwächst, bestimmt ein fein
gericht gerade im Fall der Intersexualität „Die Stellungnahme war in eine umfang- orchestriertes Zusammenspiel aus Chromo-
gezeigt. reiche Recherche eingebettet“, sagt der somen, Genen und Hormonen. Und längst
Es gibt, so stellte das Karlsruher Gericht heutige Vorsitzende Peter Dabrock, Pro- nicht immer ist dessen Ergebnis das, was
nun in einem gesellschaftspolitisch weg- fessor für Systematische Theologie an der Medizin und Gesellschaft lange als binäre
weisenden Beschluss fest, ein drittes Ge- Universität Nürnberg-Erlangen. „Das war Norm anerkannten: dass nämlich Jungen
schlecht, das weder Mann noch Frau ist, in der Geschichte des Ethikrats einmalig, mit Penis und der chromosomalen Formel
und gab damit der „beschwerdeführenden die Betroffenen sind im Vorfeld vorbildlich 46, XY, zur Welt kommen und Mädchen
Person“ recht, die geklagt hatte: Vanja, 27, gefragt und beteiligt worden.“ mit einer Vagina und der Formel 46, XX.
aus Leipzig, geboren mit einer genetischen Dies ist das erste Mal, dass sich das Bun- Bis zur sechsten Woche gibt es keine
Anomalie: Vanja fehlte das zweite Chro- desverfassungsgericht überhaupt mit Inter- Unterschiede zwischen männlichen und
mosom, das entweder das weibliche oder sexualität befasst hat – im internationalen weiblichen Embryonen. Jedes dieser Zell-
männliche Geschlecht hätte bestimmen Vergleich ist Deutschland damit fortschritt- knäuel würde zum Mädchen heranwach-
können. lich. Die ausdrückliche Zuordnung zu einem sen – liefe nicht bei Trägern von Y-Chro-
Heute wird Vanja mit Testosteron be- dritten Geschlecht ist bisher nur in Pakistan, mosomen ein genetischer Prozess an, der
handelt und trägt einen Vollbart – will sich Indien, Nepal und einigen Staaten der USA Hoden und Nebenhoden, Samenleiter und
aber weder als Mann definieren lassen sowie Australiens möglich. In Reisepässen Penis entstehen lässt. Nur das männliche
noch, wie bisher vorgesehen, in Dokumen- dagegen ist es schon jetzt international Geschlechtschromosom trägt den Bauplan
ten als juristische wie auch gesellschaftli- verbreitet, dass statt „M“ oder „F“ immer- für ein bestimmtes Eiweiß, den Hoden-de-
che Leerstelle gelten. hin ein „X“ eingetragen werden kann. terminierenden Faktor TDF – der dann ge-
Für solche Fälle hat das Bundesverfas- Juristisch unmittelbare Folgen hat die nau das bewirkt, was sein Name verheißt.
sungsgericht nun entschieden: Das dritte jetzige Entscheidung aus Karlsruhe zwar Manchem Y-Chromosom jedoch fehlt
Geschlecht muss als solches benannt wer- nur für Geburtsurkunden und das soge- dieser Bauplan – seine Träger können kein
den, es darf nicht einfach in Geburtsurkun- nannte Personenstandsregister. Die mittel- TDF bilden und entwickeln sich trotz eines
den offengelassen werden, wie es die bis- baren rechtlichen Auswirkungen betreffen männlichen Chromosomensatzes augen-
herige Praxis war. Bundesweit betrifft das aber alle Fälle, in denen der Staat eine scheinlich zu Mädchen. Oft wird das
Urteil damit Schätzungen zufolge bis zu Festlegung auf ein Geschlecht verlangt „Swyer-Syndrom“ erst im Jugendalter ent-
160 000 intersexuelle Menschen, deren Ge- oder jedenfalls davon ausgeht, dass es ein- deckt – durch die ausbleibende Geschlechts-

38 DER SPIEGEL 46 / 2017


reife. Andere Abweichungen vom Mäd-
chen-Junge-Schema dagegen sind schon bei
der Geburt offensichtlich. Manche Kinder
Humanität der Grauzone
kommen mit äußeren Geschlechtsorganen
zur Welt, die als irgendetwas zwischen klei- Urteile Es ist gut, den Interessen der Mehrheit manchmal
nem Penis und großer Klitoris erscheinen. Einhalt zu gebieten, sagt der Ethiker Peter Dabrock.
Bis Anfang der 1990er-Jahre galt es als wich-
tigstes Ziel, solchen Babys schnellstmöglich Dabrock, 53, ist Professor für evangeli- Der Karlsruher Beschluss berücksich-
ein eindeutiges Geschlecht zuzuordnen – sche Theologie und Vorsitzender des tigt auch die Verletzlichkeit, die sich
oft durch chirurgische Eingriffe. Deutschen Ethikrats. Das Gremium ver- aus den Uneindeutigkeiten menschli-
Meist wurde, wer kein eindeutiges Ge- fasste 2012 eine Stellungnahme zur cher Existenz speist.
schlecht aufwies, zum Mädchen umope- Situation Intersexueller in Deutschland. SPIEGEL: Hat es damit eine Symbol-
riert. Eine Vagina lässt sich leichter formen kraft, die über den Fall hinausweist?
als ein Penis, im Bauchraum liegende Ho- SPIEGEL: Herr Dabrock, begrüßen Sie Dabrock: Die Verfassungsrichter wei-
den gelten als Krebsrisiko und wurden häu- die Entscheidung des Bundesverfas- sen uns auf eine grundlegende
fig entfernt. Inzwischen haben immer sungsgerichts? Verrücktheit unserer Gegenwart hin:
mehr Ärzte den Mut, den Eltern Zeit zu Dabrock: Ich weiß von vielen Men- Einerseits wird die Welt dank techno-
geben für solche Entscheidungen. schen, die als Kinder verstümmelt logischem und wissenschaftlichem
„Ein Umdenken in der Medizin dauert worden sind, weil sie mithilfe chirurgi- Fortschritt immer komplexer. Orien-
aber sehr lange“, sagt Katinka Schweizer scher Operationen an ein Geschlecht tierung wird schwieriger. Andererseits
vom Institut für Sexualforschung und Fo- angepasst werden sollten. Viele von stülpen wir der Wirklichkeit oft
rensische Psychiatrie am Hamburger Uni- ihnen waren am Ende zutiefst ver- schlichte, verkürzte Erklärungen über.
versitätsklinikum Eppendorf, „und immer wundete Persönlichkeiten. Anders als Der Erfolg populistischer Politiker
noch beugen sich Ärzte dem Druck der er- Eltern und Ärzte es erhofft hatten, und Parteien ist ja eine Folge davon.
schrockenen Eltern, die ein möglichst nor- fühlten sie sich identitätslos, obwohl Gegen diesen Trend der einfachen
males Kind möchten.“ sie biologisch gesehen nun vermeint- Lösungen spricht das Gericht ein kla-
Solche – und viele andere – Intersex- lich eine eindeutige Identität besaßen. res Wort: nein!
Formen nennen medizinische Fachgesell- Manche wollten ihr Leben beenden. SPIEGEL: Überhöhen Sie die Entschei-
schaften in einer 2016 erschienenen Leit- Es geht in dem Senatsbeschluss dung da nicht zu sehr?
linie nun „Varianten der Geschlechtsent- also um elementare Schicksalsfragen. Dabrock: Im Gegenteil, sie erinnert
wicklung“ – für Forscherin Schweizer ein Darüber hinaus ist er sehr uns an eine entscheidende Stärke unse-
großer Schritt. Die meisten Betroffenen, grundsätzlich ein riesiger Schritt. rer Gesellschaftsordnung: In einem
sagt sie, „wollen nicht mehr als krank oder SPIEGEL: Inwiefern? demokratischen Rechtsstaat kann das
dysfunktional dargestellt werden“. Dabrock: Das Verfassungsgericht hat Recht den Interessen der Mehrheit
Falls die Ärzte diese Leitlinie umsetzen, die binäre Fixierung unseres Alltags auch Einhalt gebieten. Hätte Demos,
verschafft sie den Eltern intersexueller Kin- aufgebrochen. Wir leben bisher, als das Staatsvolk, entschieden, wäre es
der vor allem eines: Zeit, ihr Kind kennen- gälte auch für die menschliche Exis- aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem
zulernen, bevor sie ihm eine biologische tenz der Satz aus der Metaphysik des weniger humanen Ergebnis gekommen.
Identität überstülpen müssen, die es viel- Aristoteles: Ein Drittes gibt es nicht. SPIEGEL: Sind die Hoffnungen, die
leicht zeitlebens unglücklich macht. SPIEGEL: Sie meinen eine Logik, in der nun an den Senatsbeschluss geknüpft
Wenn damit Varianten der Geschlechts- es nur Schwarz oder Weiß geben werden, nicht zu groß? „Divers“
entwicklung keine Krankheit seien, heißt kann? oder „anders“ im Pass anzugeben
es in der Handreichung für Kinderchirur- Dabrock: Dieses Prinzip haben wir führt ja nicht automatisch zu einem
gen, Endokrinologen und Urologen, so er- breitflächig auf unser Leben übertra- stabilen Gefühl von Identität.
übrige sich auch die Bemühung um Heil- gen: Wir sind entweder krank oder Dabrock: Es ist aber deutlich mehr, als
barkeit: „Keine medizinische oder psycho- gesund. Die anderen sind entweder wir bislang hatten. Und die Politik
logische Intervention wird an dem Zustand für oder gegen uns. Im Kern unserer sollte diese richterliche Entscheidung
der Uneindeutigkeit per se etwas ändern“, Existenz finden sich Grauzonen, das mitten in den Koalitionsverhandlun-
schreiben die Autoren. „Der Umgang mit spiegelt sich ja auch in unserem oft gen als Beginn einer grundsätzlichen
Menschen mit einer Variante der Ge- widersprüchlichen Verhalten wider. Debatte begreifen: Welche geschlechts-
schlechtsentwicklung ist in der Regel ein abhängigen Benachteiligungen, wel-
gesellschaftspolitisches Problem und muss che Rollenbilder existieren in unserer
im gesamtgesellschaftlichen Rahmen be- Gesellschaft? Wie lassen sie sich auf-
dacht werden.“ weichen? Aber auch: Wie können wir
So sieht es auch Psychologin Schweizer. uns die Entscheidung kulturell an-
Für Ende November hat sie zu einer inter- eignen? Wir brauchen Geduld, es han-
nationalen Konferenz an der Uniklinik delt sich um jahrtausendealte kul-
Hamburg Eppendorf geladen. Sexualfor- turelle Muster. Wir müssen der Versu-
INGA KJER / PHOTOTHEK.NET

scher, Ethiker, Künstler und Betroffene chung widerstehen, nun möglichst


werden dann über einen zeitgemäßen Um- rasch festlegen zu wollen, was ein Be-
gang mit Intersexualität diskutieren. Den griff wie „divers“ umfasst oder aus-
Abschluss bildet konkrete Hilfe für Fami- schließt. Sonst sind wir sofort wieder
lien – eine Diskussion zum Thema „Unser in der alten binären Logik verhaftet.
Kind ist intergeschlechtlich. Was brauchen Und die soll ja um der Menschen wil-
wir, was braucht es für einen guten Start Theologe Dabrock len aufgeweicht werden.
ins Leben?“ „Beginn einer grundsätzlichen Debatte“ Interview: Katja Thimm
Georg Diez, Dietmar Hipp, Julia Koch, Katja Thimm

DER SPIEGEL 46 / 2017 39


Politik sagt
gestalten.
Wirtschaft sagt
verkaufen.
Ich sage
leben. 

Der neue
SEAT Arona.
Do your thing.
Wohin geht die Reise? Für dich immer dahin,
wo du sein willst. Dein perfekter Ort: am
Steuer des neuen SEAT Arona. Ein urbaner
City-Crossover für alle, die ihren eigenen
Weg gehen. Mit dabei: einzigartiges Design,
Full Link-Technologie1 und Wireless Charger2.
Du musst nur einsteigen.

SEAT Arona Kraftstoffverbrauch: kombiniert 5,1–4,0 l/100 km; CO2-Emissionen:


kombiniert 115–105 g/km. CO2-Effizienzklassen: B–A.
1
Optional für Style. Serie für XCELLENCE und FR. 2 Optional ab Style. Abbildung zeigt Sonderausstattung.
seat.de/arona
Deutschland

ein grassierendes Sexismus-Problem ver- Victoria, damals 22 Jahre alt, saß neben

Nächtliche nachlässigt.
Seit sich mit der #MeToo-Kampagne in
den USA immer mehr Frauen als Opfer se-
dem Deutschen. „Auf einmal schob sich
seine Hand unter meinen Po“, erinnert sie
sich. „Ich saß da wie versteinert und wuss-

Stalker xueller Belästigung outen, melden sich auch


in Brüssel Frauen zu Wort. Inzwischen hat
das Parlament eine Resolution verabschie-
te nicht, was ich tun sollte.“ Die Hand
blieb da, fünf Minuten oder länger. Als
zwei Kolleginnen nach draußen gingen,
Sexismus Das Europaparlament det, in der es die Hausspitze auffordert, un- um zu rauchen, schloss Victoria sich ihnen
abhängige Experten zurate zu ziehen. „Wir an, obwohl sie Nichtraucherin ist.
in Brüssel tut sich schwer können das nicht intern klären“, sagt der Terry Reintke, 30, gehört zu jenen in
damit, Missbrauchsvorwürfe französische Sozialist Edouard Martin. Brüssel, die Übergriffen wie diesen ein
„Wer das Thema intern klären will, macht Ende machen wollen. Selbst Parlamenta-
in den eigenen Reihen es klein.“ Das Problem: Auch wenn die Re- rierinnen seien vor sexistischen Bemerkun-
aufzuarbeiten. solution im Parlament eine große Mehrheit gen nicht sicher, berichtet Reintke, eine
fand, ist sie rechtlich nicht bindend. grüne Abgeordnete aus Gelsenkirchen. So

J
eanne Ponté will gerade nach Hause Hinweise auf Missstände gibt es schon lobte ein polnischer Abgeordneter der
gehen, als ihr am Ausgang ein Mann seit Längerem. Bereits im Januar 2017 rechtskonservativen PiS bei einer Aus-
den Weg versperrt. Die Französin wandten sich Mitglieder des sogenannten schusssitzung den hohen Frauenanteil im
kommt von einem Treffen mit Lobbyisten. parlamentarischen Anti-Belästigungs-Ko- Europaparlament: „Da habe ich wenigs-
Schon im Konferenzraum war ihr der älte- mitees mit einem Beschwerdebrief an den tens was zum Angucken“, so der Mann.
re Mann aufgefallen, der sie immer wieder damaligen Parlamentspräsidenten Martin Reintke ist eine der wenigen Frauen, die
anstarrte. Jetzt, am Ende der Veranstal- Schulz. Die Vorkehrungen gegen Belästi- sich trauen, offen über sexuelle Belästi-
tung, fängt er die Frau ab wie ein Jäger gungen und Missbrauch müssten verbes- gung zu sprechen. Schon Anfang Septem-
seine Beute. Seine Hand greift den Tür- sert werden, forderten sie, und zwar ber, als vor der #MeToo-Kampagne, be-
posten, der Arm liegt wie eine Schranke „schnellstmöglich“. Doch erst jetzt, ein richtete sie in einer Rede im Parlament,
knapp unterhalb ihrer Brust. Der Abge- knappes Jahr und einige handfeste Skan- wie sie selbst kurz zuvor am Bahnhof in
ordnete sagt: „Du scheinst Duisburg belästigt worden
neu hier zu sein. Sollten wir war. „Ein Mann kam von
nicht was trinken gehen?“ hinten und griff mir zwi-
Jeanne Ponté ist eine schen die Beine“, sagte sie.
selbstbewusste junge Frau, Von ihren Kollegen bekam
sie hat Jura studiert und Reintke viel Respekt für den
einen Abschluss der Europa- Auftritt, auf Facebook je-
Eliteuni in Brügge. Doch doch hagelte es Häme und
jetzt weiß sie nicht, wie sie Hass. „Hat dich endlich mal
reagieren soll. Sie arbeitet jemand angefasst“, war
erst seit wenigen Wochen im noch einer der milderen
Europaparlament und will Kommentare.
nicht gleich bei einem ihrer Es ist bekannt, dass tradi-
SEEGER / EPA-EFE/ REX / SHUTTERSTOCK

ersten offiziellen Termine tionelle Machtstrukturen –


für Aufsehen sorgen. „Ich männlicher Chef, weibliche
wollte kein Drama daraus Angestellte – Missbrauch er-
machen“, sagt sie heute. leichtern. Dazu kommt, dass
Schließlich fasst sie sich ein Abgeordnete und Assisten-
Herz, und stößt den Arm tinnen in Brüssel meist weit
beiseite. Der Mann, ein deut- von zu Hause entfernt arbei-
scher Europaabgeordneter, ten, Empfänge und reichlich
sitzt noch immer im Brüsse- #MeToo-Debatte im Europaparlament: „Wir können das nicht intern klären“ Alkohol ersetzen oft das
ler Parlament. Abendbrot mit der Familie.
Die beklemmende Situation im Juli 2014 dale später, bequemt sich Schulz’ Nachfol- Besonders ausgeprägt ist dieses Klassen-
wird der erste Eintrag in ein Tagebuch, das ger, der Italiener Antonio Tajani, tätig zu fahrtgefühl, wenn die Parlamentarier ein-
Jeanne Ponté, 27, seitdem führt. In dem werden. Bis zum Jahresende will er seine mal im Monat in Straßburg tagen.
kleinen Heft mit Blümcheneinband proto- Vorschläge präsentieren. Darüber hinaus ist das Europaparlament
kolliert sie Belästigungen, die ihr und ihren Für Victoria* kommen sie zu spät. Die noch immer Auslaufstation für Männer,
Kolleginnen im Brüsseler Europaparla- Britin sitzt in einem Café gegenüber dem die früher einmal wichtig waren. Ex-Kom-
ment widerfahren. „Ich will nicht akzep- mächtigen Parlamentsbau, ein bunter missare, ehemalige Parteichefs und so man-
tieren, dass so ein Verhalten normal ist“, Sprachmix dröhnt durch den Raum, Mit- che ehemalige Regierungsgröße verbrin-
sagt sie. „Ich will Solidarität unter den Be- tagszeit im Europaviertel. Victoria spricht gen hier ihren politischen Lebensabend.
troffenen schaffen.“ Über 50 Fälle hat sie leise, sie erzählt, wie sie als junge Parla- „Viele haben das Gefühl, mir kann hier kei-
gesammelt, der letzte Eintrag ist gerade mentsassistentin belästigt wurde. Im Juni ner was“, sagt Sozialist Martin.
mal zwei Wochen alt. 2009 hatte sie ihren Chef mit einigen Mit- Entsprechend schwierig ist es, Hilfe für
Das Europaparlament ist gern vorne mit arbeitern zu einem Mittagessen begleitet, betroffene Frauen zu organisieren. Zwar
dabei, wenn es darum geht, Frauenrechte der anstehende Wahlkampf sollte geplant gibt es seit einigen Jahren sogenannte Bera-
in der Dritten Welt zu unterstützen. Wenn werden, ein deutscher Politikberater war tungskomitees für Belästigungsbeschwerden,
es um den Schutz von Frauen in den eige- dazu eingeladen. doch bislang blieb deren Arbeit weitgehend
nen Reihen geht, ist man weit weniger eif- wirkungslos. „Es ist weltfremd zu glauben,
rig. Die Institution hat offenbar jahrelang * Name geändert. dass sich betroffene Frauen an ein Gremium

42 DER SPIEGEL 46 / 2017


Für SPIEGEL-Abonnenten:
wenden, das mit Europaabgeordneten be-
setzt ist“, sagt Terry Reintke, „also den Leu-
ten, die ihre eigenen Sitznachbarn oder
Digital-Upgrade nur € 0,50.
Fraktionskollegen anprangern müssten, da-
mit sich was bewegt.“ So erklärt es sich,
dass der ehemalige französische Umweltmi-
nister und Europaabgeordnete Yves Cochet
einer der wenigen ist, denen bislang offen
Belästigung vorgeworfen wird. Die „Sunday Jetzt
Times“ hatte berichtet, dass der Mann einer
25-jährigen Mitarbeiterin unpassende Avan- 4 Wochen
cen gemacht haben soll. Sie solle „Passionen, gratis
Träume und Fantasien“ mit ihm teilen, soll
er in einer SMS geschrieben haben. testen
Schon im Juli 2013, vor mehr als vier Jah-
ren, hatte der Europäische Bürgerbeauftrag-
te, eine unabhängige Beschwerdeinstanz,
beschieden, dass das Anti-Belästigungs-Ko-
mitee seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.
Eine Frau, die im Mai 2011 wegen sexueller
Belästigung Hilfe gesucht hatte, konnte erst
im Oktober 2012 persönlich ihre Sicht der
Dinge vortragen. „Die Zehn-Tage-Deadline
für eine erste Anhörung wurde eindeutig
nicht eingehalten“, lautet das vernichteten-
de Urteil der EU-Kontrolleure.
Dennoch wehrt sich die Vorsitzende
des Anti-Belästigungs-Komitees, Elisabeth

Rosenzweig & Schwarz, Hamburg


Morin-Chartier, dagegen, bei der Behand-
lung einzelner Fälle Rat von außen hinzu-
zuziehen. „Das muss ein vertraulicher und
interner Prozess bleiben“, sagt sie.
Jeanne Ponté hat es schon geholfen, dass
ihr Chef Edouard Martin sein Büro neu or-
ganisierte. Die Französin sitzt im 14. Stock
des Brüsseler Parlamentsbaus und hält ihr
Tagebuch in den Händen, das Missbrauchs-
protokoll, ein gepresstes Ginkgo-Blatt liegt
zwischen den Seiten.
In einem der Einträge beschreibt sie, wie
ihr ein Fraktionsmitarbeiter mitten in der Ohne Verpflichtung lesen
Nacht eine E-Mail mit Fotos schickte, die
Bereits ab freitags 18 Uhr
er am Tag zuvor bei einer Sitzung heimlich
von ihr gemacht habe. Der Mann hatte sie Auch offline lesbar
schon mehrfach aufgefordert, mit ihm aus-
zugehen. Am Morgen nach der nächtlichen Auf bis zu 5 Geräten
Mail fragte er, wie ihr seine Fotos gefallen
hätten. „Ich habe noch mehr davon“, sagte Inklusive SPIEGEL DAILY – Die neue digitale Tageszeitung
er. Jeanne Ponté zog einen Anwalt zurate,
ihr Chef sorgte dafür, dass künftig ein an-
derer Assistent für die Zusammenarbeit
mit dem Stalker zuständig war.
Jeanne Ponté will den Namen des nächt-
lichen Schreibers nicht in der Zeitung le-
sen, genauso wenig wie den des deutschen Ja, ich möchte den SPIEGEL digital testen!
Abgeordneten, der sie an ihren ersten Ta-
gen als Assistentin an der Tür bedrängte. Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach als
„Mir geht es nicht um eine schnelle Mel-
dung“, sagt sie, „ich will, dass sich struk- SPIEGEL-Abonnent für nur € 0,50 statt € 4,10 pro Ausgabe.
turell etwas ändert.“ Peter Müller Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit zur
nächsterreichbaren Ausgabe kündigen.
Lesen Sie auch
Seite 118 Gespräch mit der Psychologin
Sandra Konrad: Warum sich Frauen immer
noch dem männlichen Begehren unterwerfen Einfach jetzt anfordern:
Seite 122 Über Macht und Missbrauch
unter homosexuellen Männern in Hollywood abo.spiegel.de/upgrade
DER SPIEGEL 46 / 2017 43
Vertraute Merkel, Schavan
„Man wird für ein solches Amt vorgeschlagen“

doch ins Privatleben zurückziehen wollte.


Dazu passe die Kandidatur für den Stif-
tungsvorsitz schlecht. Schavan soll Lam-
mert sogar selbst im Sommer angespro-
chen haben, ob er sich nicht für den bald
frei werdenden Spitzenposten beim Deut-
schen Roten Kreuz erwärmen könne. Das
sei doch eine höchst angesehene Position.
Lammert soll wenig erfreut reagiert haben.
Da Schavans Zukunft nur von Merkels
Gnaden abhängt, fürchten Kritiker, dass
die KAS unter ihr zum Machtinstrument

HENNING SCHACHT
der Parteichefin geraten könnte. Von Lam-
mert erwartet man sich nicht nur mehr
Rückgrat, sondern auch mehr intellektuel-
len Glanz. „Die KAS soll kein verlängerter
Arm der CDU sein, sondern zur politi-
Norbert Lammert an. Es formiert sich auch schen Debatte in diesem Land beitragen“,

Der Sack eine Phalanx einflussreicher Politiker, alt-


gedienter KAS-Mitglieder und Stipendia-
ten. Der Postenstreit gerät zur Machtprobe
sagt der Historiker Andreas Rödder, der
im KAS-Vorstand sitzt. „Das heißt natür-
lich auch, im besten Sinne kritisch zu sein.“

und der Esel mit CDU-Chefin Merkel.


Was nach einem Repräsentationsjob in
einem leicht angestaubten Apparat klingen
Wissenschaftler Rödder ist unabhängig,
aber im CDU-Kosmos prallen zwei Macht-
systeme aufeinander: Hinter Lammert for-
Karrieren Um den Spitzenposten mag, ist tatsächlich eine Position mit er- miert sich ein Old-Boys-Network, das teils
heblicher Machtfülle. Die KAS ist der Par- in die Ära Kohl zurückreicht. Auf der an-
der Konrad-Adenauer-Stiftung tei-Thinktank mit einem Jahresbudget von deren Seite steht Merkels Seilschaft: „Man
läuft ein Machtkampf. Die Füh- 164 Millionen Euro, einem Netzwerk von schlägt den Sack und meint den Esel“ –
13 000 ehemaligen Stipendiaten und, vor der Satz fällt unter KAS-Insidern oft. Eini-
rungsfrage berührt Angela Mer- allem, einem Reservoir von Versorgungs- ge stören sich an Merkels Politik, andere
kels Autorität als CDU-Chefin. posten für verdiente CDU-Leute. Kraft Sat- am Modernisierungskurs für die CDU oder
zung hat die KAS nur 55 Mitglieder, hier an ihren Personalrochaden zwischen Kanz-

A
llzu viele Dienstreisen unternimmt sitzt das Who’s who der CDU. leramt, Parteizentrale, Stiftung und diver-
Bernhard Vogel nicht mehr. Mitte Im Gespräch mit Vogel will Merkel wohl sen Ministerien. Keine unübliche politische
Dezember feiert der ehemalige Mi- sondieren, welche Chancen Schavan hat. Praxis, gegen die aber nun rebelliert wird.
nisterpräsident Thüringens seinen 85. Ge- Dem Usus der Stiftung folgend müsste die Als Paradebeispiel für Letzteres gilt KAS-
burtstag. Aber ein einflussreiches Ehrenamt CDU-Chefin in der Vorstandssitzung am Generalsekretär Michael Thielen, der aus
hat Vogel noch, und wenn er in den nächs- 22. November ihren Personalwunsch Schavans Bildungsministerium kam. Seine
ten Tagen in dieser Funktion nach Berlin präsentieren, am 1. Dezember wählen die Nachfolgerin im Staatssekretärsjob wurde
reist, wird sogar CDU-Chefin Angela Mer- Mitglieder. Niemand rechnet ernsthaft mit ausgerechnet seine Gattin, Cornelia Quen-
kel den greisen Parteifreund im Kanzleramt einer Kampfkandidatur, zumal Pöttering net-Thielen, eine alte Vertraute Merkels.
empfangen. Vogel ist als Ehrenvorsitzender angekündigt hat, seine Bewerbung notfalls Schavans Frauennetzwerk kann aber ihr
Mitglied im engsten Führungskreis der Kon- zurückzuziehen – aber nur zugunsten größtes Manko nicht heilen: die Plagiats-
rad-Adenauer-Stiftung (KAS), und bis Jah- Lammerts. affäre. Schavan würde eine Stiftung führen,
resende muss sich klären, wer in der CDU- Schavan übt sich offiziell in Demut: die 434 Promotionsstipendiaten und 2610
nahen Organisation bald den Chefposten „Man kandidiert nicht, man wird für ein Studierende fördert. Zu ihren Fehlern hat
einnehmen wird. solches Amt vorgeschlagen.“ Es gebe aber sich Schavan nie wirklich bekannt; sie sieht
Merkel braucht Vogel als Ratgeber und Leute, die es richtig fänden, wenn sie KAS- sich als Opfer einer Kampagne.
Königsmacher. Denn zum wohl ersten Mal Vorsitzende würde. „Wenn ich vorgeschla- Nun läuft eine reale Kampagne gegen
in der KAS-Geschichte birgt die Frage des gen werde, werde ich mich damit beschäf- sie. „Als Altstipendiaten hielten wir es für
Vorsitzes politischen Sprengstoff: Drei tigen“, verspricht sie. unpassend, wenn die KAS von einer Per-
Kandidaten treten an, und ihr zunehmend In CDU-Kreisen ist aber ein offenes Ge- son ohne berufsqualifizierenden Abschluss
scharfer Wahlkampf ist bis in die CDU- heimnis, dass Schavan ihre Rückkehr nach geleitet würde“, sagt Ralf Höcker, Gründer
Spitze zu spüren. Denn nur eine Frau im Berlin vorbereitet, und zwar mit vollem des merkelkritischen Stipendiatenzirkels
Rennen hat Merkels bedingungslosen Einsatz. „Ich kann nur hoffen, dass Frau „Konrads Erben“. In Facebook-Gruppen
Rückhalt: Annette Schavan. Schavan in Rom eine Flatrate hat“, ätzt und Mail-Verteilern der Stipendiaten ma-
Die an einer Plagiatsaffäre gescheiterte ein KAS-Mann. Die Botschafterin betreibe nifestiert sich die Stimmung pro Lammert
Ex-Bildungsministerin, die nun als Bot- intensive Telefondiplomatie in eigener Sa- schon in einer Unterschriftenliste.
schafterin im Vatikan amtiert, ist bis heute che. Es eilt, denn Schavans Zeit in Rom Letztlich dürfe alles davon abhängen,
Merkels Vertraute. Als Kandidatin hat läuft ab. Nach SPIEGEL-Informationen hat ob Merkel ihr ganzes Gewicht für Schavan
Schavan aber wohl die schlechtesten Chan- das Auswärtige Amt ihren Posten verlän- in die Waagschale wirft. Schlägt sie ihre
cen. Gegen sie treten nicht nur Amtsinha- gert – aber nur bis Mai 2018. Freundin gar nicht erst vor, dürfte schon
ber Hans-Gert Pöttering und der Stiftungs- Bei ihren Werbeanrufen soll Schavan dies in der CDU als Niederlage gelten.
vize und einstige Bundestagspräsident süffisant betont haben, dass Lammert sich Melanie Amann, Ralf Neukirch, Klaus Wiegrefe

44 DER SPIEGEL 46 / 2017


Deutschland

„Hauptsache, durchkommen“ sei heute die Belege für den Clan-Vorwurf gebe es

Alles außer Devise vieler Schüler. Viele hätten zudem nicht, sagt die Polizei und beklagt einen
Probleme, sich verständlich auszudrücken. diffamierenden Generalverdacht gegen
Unter jungen Männern in der Akademie arabisch- und türkischstämmige Schüler.

Mördern seien antidemokratische Einstellungen und Allein deren Fehler zu thematisieren sei
Verhaltensmuster verbreitet. Es gebe frau- „zu einfach und hilft am Ende nieman-
enfeindliche Sprüche auf dem Flur und im dem“, sagt ein Polizeilehrer: „Wir haben
Hauptstadt An der Berliner Unterricht, außerdem antisemitische Witze viele Migranten, die Superleistungen brin-
sowie türkischen Nationalismus. gen.“ Auch gebe es genug deutschstämmi-
Polizeiakademie häufen sich die „Keine Ahnung, wie lange es gut geht, ge Anwärter, die schlechte Sprachkennt-
Skandale. Die Verantwortlichen wenn harte Erdoğan-Fans auf kurdischen nisse und ein niedriges Niveau mit in die
Demonstrationen im Einsatz sind“, sagt Ausbildung brächten.
wiegeln ab, die Ausbilder ein praktischer Ausbilder. „Viele unserer Schuld am aktuellen Schlamassel sind
fühlen sich alleingelassen. Schüler versagen gerade in Stresssitua- aus Sicht der Ausbilder nicht die Schüler,
tionen.“ sondern die missglückten Reformpläne der

A
n Kandidaten mangelt es der Berli- In einem der letzten Jahrgänge sei fast Berliner Polizeispitze.
ner Polizei nicht. Jedes Jahr neh- eine ganze Klasse durch das Schießtraining Undurchsichtig sei die zukünftige Struk-
men Tausende am Bewerbungsver- gefallen, sagt ein anderer Beamter: „Wenn tur der Fächer Politische Bildung und Ge-
fahren für den mittleren Dienst teil. die schon praktisch nichts können, wie schichte. „Diese sind so wichtig wie der
Nicht immer sind es geradlinige Lebens- sieht es dann erst mit den rechtlichen richtige Umgang mit der Schusswaffe“, so
läufe, die dabei auf den Tischen der Ver- Grundlagen aus?“ ein Lehrer. „Wenn das schiefgeht, haben
antwortlichen landen. „Außer Mördern Viele Vorwürfe richteten sich in den ver- wir in ein paar Jahren die Hölle auf der
habe ich schon alles gesehen“, sagt einer, gangenen Tagen gegen Polizeischüler mit Straße.“ NS-Vergangenheit, Identitäre Be-
der die Akten der Bewerber gut kennt. Migrationshintergrund. Sie stellen immer- wegung, Islamisten: „Darüber müssen die
„Körperverletzungen, Sexualdelikte und hin 45 Prozent der Anwärter für den mitt- jungen Beamten Bescheid wissen“, sagt
Diebstahl, das Strafgesetzbuch rauf und leren Dienst. In Einzelfällen würden sogar der Beamte, sonst könnten sie in kritischen
runter.“ Angehörige krimineller Clans die Polizei- Polizeieinsätzen nicht bestehen.
Die Geschichten aus der Berliner Nach- akademie unterwandern. „Das ist der Ein weiteres Problem sind offenbar feh-
wuchsschmiede erinnern fast schon an den Feind in unseren Reihen“, hieß es in einer lende Bezugspersonen für die jungen An-
Hollywood-Klamaukfilm „Police Acade- anonymen WhatsApp-Nachricht, die vori- wärter, die häufig erst 17 oder 18 Jahre
my – dümmer, als die Polizei erlaubt“. ge Woche bekannt wurde. alt sind. Früher hatten jeweils 25 Schüler
Faul, dumm, beleidigend, aggressiv, kor- feste Ansprechpartner, zu de-
rupt und womöglich verbandelt mit krimi- nen sie ein Vertrauensver-
nellen Clans: Die Anschuldigungen gegen hältnis aufbauen konnten
die jungen Staatsdiener in Berlin sind und die ihre Ausbildung
kaum noch zu übertreffen. Wenn die komplett begleiteten. Heute
Vorwürfe stimmen, hat die Polizeiakade- sehen die Klassenlehrer ihre
mie der Stadt zahlreiche Qualitätsstan- Schüler viel seltener, vielen
dards fallen lassen, um verzweifelt Nach- fällt es schwer, den Gesich-
wuchs zu gewinnen. tern vor ihnen Namen zuzu-
Am Mittwoch steuerte die lange schwe- ordnen. „Hier waren noch
lende Affäre im Berliner Abgeordneten- nie nur Heilige“, sagt ein
haus auf einen vorläufigen Höhepunkt zu. Ausbilder über die Schüler –
Die Opposition forderte einen Sonder- nun würden sie mit ihren
ermittler, während die Polizeiführung von manchmal problematischen
„falschen Behauptungen“ sprach. Ansichten oder mit Alltags-
Sind die Vorwürfe also alle haltlos und dingen wie Geldsorgen und
„an keiner Stelle belegt“, wie der Berliner Liebeskummer sich selbst
Polizeipräsident und sein Innensenator überlassen.
meinen? „Bei den Umstrukturierun-
Der SPIEGEL konnte in den vergange- gen wird immer mehr auf
nen Monaten mit mehreren Ausbildern an Masse statt Klasse gesetzt“,
der Akademie sprechen. Sie zeichnen das kritisiert Tom Schreiber, In-
Bild einer zerrissenen Einrichtung, in der nenexperte der Berliner SPD.
Mitarbeiter frustriert sind und die Ausbil- Gingen früher 500 Männer
dungsqualität unter andauernden Refor- und Frauen pro Jahr auf die
men leidet. Akademie, sind es heute
In der Polizeiakademie herrsche dem- 1200.
MICHAEL KÖRNER / ACTION PRESS

nach das Gegenteil preußischer Tugen- Die Ausbilder fordern des-


den – zum Verdruss mancher Ausbilder. halb dringend mehr Personal
Viele junge Staatsdiener treten ungepflegt an der Akademie und wollen
zum Dienst an, sie vergessen ihre Uniform aktiv in die Reformen einge-
zu Hause und kommen unpünktlich zum bunden werden. „Es muss
Unterricht. hier wieder um die Menschen
„Disziplin und Ordnung leiden hier seit gehen, wir sind nicht nur
längerer Zeit“, sagt ein langjähriger Aus- Polizeianwärter bei Schießübung Nummern und Zahlen.“
bilder. Und dann erst der mangelnde Fleiß: „Disziplin und Ordnung leiden“ Maik Baumgärtner

DER SPIEGEL 46 / 2017 45


Der Riss
Einheit 28 Jahre nach dem Mauerfall gibt es in diesem Jahr wenig zu feiern. Was sind die Gründe
für den Rechtsruck in Ostdeutschland? Und wie kann er überwunden werden?

E
in Vormittag im Landtag von Thü- sammengehört, zusammengewachsen, so gela Merkels Wahlkampfauftritten in die-
ringen. Die Abgeordneten disku- klang die Botschaft. Aber stimmte sie auch? sem Sommer.
tieren. Stimmt sie noch? Die bisher vorgetragenen Thesen grün-
„Peinlich“, ruft der erste. Was ist nur mit dem Osten los? Seit der den meist auf zwei Annahmen. Entweder
„Die NPD hätte es nicht besser sagen Bundestagswahl versuchen Leitartikel zu sind die wirtschaftlichen Verhältnisse
können“, der nächste. erklären, warum die neuen Bundesländer schuld, das noch immer existierende Wohl-
„Ich bin entsetzt.“ am weitesten nach rechts gerückt sind und standsgefälle. Oder es wird eine kollektive
„Das ist ja wohl eine Frechheit.“ weshalb Deutschtümelei und Fremden- seelische Störung attestiert, die mit der
„Ich verbitte mir, dass Sie permanent feindlichkeit dort scheinbar zwangsläufig versäumten Verarbeitung von zwei Dikta-
lügen!“ immer lauter werden, von den Pegida-Mär- turerfahrungen zusammenhänge.
„Sie wissen gar nicht, wie das Wort An- schen über Freital und Heidenau bis zu Aber so einfach ist es nicht. Ein Team
stand geschrieben wird!“ den Wutausbrüchen im Publikum bei An- von SPIEGEL-Journalisten hat in den ver-
„Halten Sie einfach mal die Klappe!“
„Ich finde es angebracht, dass wir uns
hier als Parlament nach diesem Beitrag
entschuldigen.“
Auf der Tagesordnung steht eine Debat-
te über den NSU, über ein Mahnmal, das
an den Terror des Thüringer Trios erinnern
soll. Zwei Abgeordnete der AfD nutzen
die Gelegenheit, um die anderen Parteien
zu provozieren.
Rot-Rot-Grün wolle den Thüringern und
„dem deutschen Volk“ bloß eintrichtern,
„dass sie im Grunde im Dritten Reich stecken
geblieben sind“, sagt einer von ihnen. Die
Koalition wolle den Menschen einhämmern,
„wie verkommen sie doch sind“. Zudem wer-
de nur der Opfer des NSU gedacht, nicht
aber jener des islamistischen Terrors: „Wir
sollen gläubige Untertanen eines neuerli-
chen sogenannten Antifaschismus werden.“
Im Plenum – einem lichten Neubau mit
viel Glas – sitzt Bodo Ramelow, der linke
Regierungschef von Thüringen. Mal schaut
er fassungslos auf den Redner, mal schlägt
er die Hände vor dem Gesicht zusammen.
Schließlich geht er selbst ans Pult.
„Ich schäme mich für solche Reden hier
im Landtag“, sagt der Ministerpräsident.
Etwas hat sich verändert in Deutschland.
Ein Land, das noch vor Kurzem in Umfra-
gen zum beliebtesten der Erde gekürt wur-
de, ist mit Selbstzweifeln beschäftigt und
mit der Suche nach seiner Identität. Der
Siegeszug der AfD hat die Republik er-
schüttert, im Westen, wo Rechtspopulisten
in allen Ländern nun in den Bundestag
gewählt worden sind. Vor allem aber im
Osten, wo die Alternative für Deutschland
zur zweitstärksten, in Sachsen sogar zur
stärksten Partei aufgestiegen ist.
Am 9. November jährte sich der Fall der
Berliner Mauer. Es ist kein rundes Jubiläum
wie 2014, als Deutschland ein rauschendes
Fest geschmissen hat mit Feuerwerk und
Gästen aus aller Welt. Das vereinte Land
war erwachsen geworden, wirtschaftsstark,
modern und tolerant. Endlich war, was zu-
46 DER SPIEGEL 46 / 2017
Deutschland

gangenen Wochen Menschen getroffen, Der Bauschutt ist zu kleinen Bergen zusam- wohner profitieren vom Tourismus, Bad
die den Rechtsruck im Osten beobachtet, mengeschoben. Dazwischen liegen Plastik- Muskau ist eine ostdeutsche Erfolgsge-
begleitet, befördert oder bekämpft haben: säcke. „Mineralwolle – kann Krebserkran- schichte. Trotzdem stimmte fast jeder Drit-
Wähler und Abgeordnete, Ministerpräsi- kungen hervorrufen“, warnen Aufdrucke. te bei der Bundestagswahl für die AfD.
denten, Kommunalpolitiker und Vertreter „Schutzausrüstung tragen“ steht darunter, 3,6 Prozentpunkte mehr als in Weißwasser.
der Zivilgesellschaft. mit dickem Ausrufezeichen und dem Pik- Eigentlich, sagt Tino Chrupalla, „sind
Herausgekommen ist ein Bild mit vielen togramm einer Gasmaske. wir hier schon eine ganz normale Volks-
Facetten, es zeigt völkische, rassistische Es sind die Reste einer DDR-Platten- partei“. Die AfD sei in der Oberlausitz für
und antidemokratische Farben, aber auch bausiedlung, die keiner mehr braucht. alle da, die Abgehängten, die Einheitspro-
helle Töne und Wege, die aus der Populis- Weißwasser in der Oberlausitz ist eine lee- fiteure: „Selbst Pfarrer wählen uns.“ Im
musfalle hinausführen. re Stadt, viele haben das Weite gesucht, September hat er der CDU den Wahlkreis
Einig waren sich fast alle in einem und wer geblieben ist, kann sich als Ver- nach einem Vierteljahrhundert einfach ab-
Punkt: Die jüngste Wahl war ein Schrei lierer der Einheit fühlen. Knapp 28 Pro- gejagt. Er gewann sein Direktmandat aus-
nach Aufmerksamkeit. 28 Jahre nach zent von ihnen wählten bei der Bundes- gerechnet gegen Michael Kretschmer, den
der Wende ist es für Ost und West an tagswahl die AfD. Generalsekretär der sächsischen Union.
der Zeit, einander endlich mal zuzuhören. Neun Kilometer östlich, an der Neiße, Wenn Chrupalla spricht, klingt es
Damit die deutsche Einheit nicht bloß liegt Bad Muskau. Es gibt ein Schloss und freundlich, offen, geradeheraus. Der 42-
ein Anlass für Feuerwerke wird wie beim einen Park, der für viele Millionen Euro Jährige schwärmt gern von den goldenen
25. Jahrestag des Mauerfalls vor drei restauriert wurde und zum Unesco-Welt- Zeiten Weißwassers, damals in der DDR,
Jahren. erbe zählt. Das Städtchen und seine Be- als viele Menschen noch Arbeit in der
Braunkohle oder in den Glaswerken hatten
und gute Wohnungen in modernen Plat-
tenbauten.
„Ich hatte eine tolle Kindheit“, sagt er,
„schön und sicher.“ Auf dem Land standen
die Häuser offen, Einbrüche gab es selten,
und wenn, wurden die Täter schnell gefasst
von den Genossen der Volkspolizei. „Mei-
ne Eltern mussten sich nie sorgen, wo ich
spielen gehe.“
Nach der Wende wurde Helmut Kohl
sein neues Idol. Er trat in die Junge Union
ein, gemeinsam mit seinem damaligen Par-
teifreund Kretschmer habe er den Einheits-
kanzler in Bonn besucht. Chrupalla be-
gann eine Lehre als Maler, machte seinen
Meister und gründete einen eigenen Be-
trieb. Die Geschäfte liefen gut, er heiratete,
die Wende hat ihm nur Glück gebracht.
Doch das Land wurde ihm fremder. Tau-
sende Arbeitsplätze verschwanden, Weiß-
wasser verlor die Hälfte der Einwohner,
Busverbindungen ins Umland wurden aus-
gedünnt, in den Oberlausitzer Dörfern
schlossen Läden und Schulen. Und über
die offene Grenze kamen Banden aus Ost-
europa und klauten Autos.
Nicht nur die Region, auch Deutschland
veränderte sich. Finanzkrise, Eurokrise,
Flüchtlingskrise und dann noch die Ehe
für alle. „Wir wurden nie gefragt“, sagt
Chrupalla. Er besuchte die Pegida-De-
monstrationen in Dresden, schließlich trat
er der AfD bei und bewarb sich für die
Bundestagskandidatur.
„Ich habe im Traum nicht daran gedacht,
meinen Wahlkreis zu verlieren“, sagt Chru-
pallas alter Weggefährte Michael Kretsch-
mer. Der CDU-Politiker hatte die Oberlau-
sitz bisher im Bundestag vertreten, er trug
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

dazu bei, dass Forschungsgelder in die Re-


gion flossen, öffnete Bürgermeistern Türen
in Berlin. „Ich glaube, ich war ein guter
Abgeordneter“, sagt Kretschmer.
Doch im Wahlkampf spürte er, dass sei-
ne Wähler „Denkzettel verpassen“ woll-
Straßenszene in Wittenberg ten, nicht seinetwegen, glaubt er, sondern
DER SPIEGEL 46 / 2017 47
Deutschland

anderen für einen friedlichen Wandel be-


tete und dann draußen auf dem Marktplatz
demonstrierte.
Heute prägen radikale Rechte das Klima.
Und die Frage für den CDU-Politiker ist,
wie es dazu kommen konnte.
„Gott sucht die Missetaten der Väter
heim an Kindern und Kindeskindern bis
ins dritte und vierte Glied.“ So hat er es
vor Kurzem sonntags in der Kirche gehört,
in einer Lesung aus dem zweiten Buch
Mose. „Sie können sich also ausrechnen“,
sagt der Ministerpräsident, „wie lange wir
noch an der Last und an der Schuld des
20. Jahrhunderts zu tragen haben.“
Schicht für Schicht versucht er freizu-
legen, was die Wurzeln des heutigen Un-
friedens verdeckt, angefangen mit der Öko-
nomie: „Stellen Sie sich mal vor, die Hälfte
der Bevölkerung im Land hatte keine re-
guläre Arbeit“, sagt Haseloff, der in den
Neunzigerjahren Direktor des örtlichen
Arbeitsamts war. 49,3 Prozent der Sach-
sen-Anhalter waren damals offiziell ar-
beitslos oder in einer Beschäftigungsmaß-
nahme geparkt. „Wir sind von einer Insol-
venz in die nächste gestolpert.“
Gleichzeitig halbierten sich die Gebur-
tenzahlen in der Region. „So einen Bruch“,
sagt er, „hat es zu Friedenszeiten in Deutsch-
land noch nie gegeben.“
Jede Woche demonstrieren in Wittenberg
Gegner der Hartz-IV-Reformen, seit 15 Jah-
ren, Haseloff hat oft mit ihnen gesprochen.
Aber an diesem Nachmittag hat sich eine
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

andere Gruppe auf dem Marktplatz ver-


sammelt. Es sind erzürnte Christen, die ge-
gen die „Judensau“ protestieren. Das anti-
semitische, jahrhundertealte Relief an der
Außenfassade der Stadtkirche solle entfernt
werden, fordern die Demonstranten.
Haseloff kennt das Thema gut, 1988 hat
er mit anderen Christen dafür gesorgt, dass
Ministerpräsident Haseloff in Wittenberg: „Gott sucht die Missetaten der Väter heim“ unterhalb der „Judensau“ eine Gedenk-
platte in den Boden eingelassen wurde.
wegen der Kanzlerin, der Bundes-CDU, zu wichtigen Themen nicht mehr befragt. Die Skulptur in der Fassade müsse aber
der Flüchtlingspolitik. „Die Menschen“, „Der Geist ist aus der Flasche, die Men- bleiben, sagt er. „Wenn wir sie wegneh-
sagt Kretschmer, „hatten das Gefühl, nicht schen lassen sich das nicht länger bieten.“ men, würden wir nicht mehr gemahnt wer-
mehr ernst genommen zu werden.“ den, uns unserer Geschichte zu stellen.“
Trotzdem hat sich die Protestwahl auch Die Familie Haseloff lebt seit 600 Jahren in Die Demonstranten sind nicht über-
für ihn gelohnt. Im Dezember soll er Nach- Wittenberg und Umgebung. In vielen Ge- zeugt. Sie schlagen einen Bogen von der
folger von Ministerpräsident Stanislaw Til- nerationen hat sie dort Politiker gestellt, „Judensau“ zur aktuellen Politik, zur AfD.
lich werden, der frustriert aufgab. Kretsch- aktuell ist Reiner Haseloff an der Reihe, „Da kommt etwas hoch, das wir noch nicht
mer, der Wahlverlierer aus der Oberlausitz, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. abschätzen können“, sagt einer von ihnen.
soll dann die Sachsen-Union und den Frei- Wenn der 63-Jährige durch seine Hei- Vielleicht wurde im Osten zu wenig dis-
staat vor der AfD retten. matstadt führt, ist jeder Schritt eine Be- kutiert in den vergangenen Jahren, viel-
Sein Rivale Chrupalla macht ebenfalls gegnung mit seiner und der deutschen Ge- leicht waren viele zu sehr damit beschäf-
Karriere, in Berlin ist er zum AfD-Frak- schichte. Hier die Linde beim Lutherhaus, tigt, ihr Leben in den Griff zu bekommen.
tionsvize aufgestiegen. „Ich freue mich, die Stelle, wo Haseloff seiner Frau den „Wir sind Transformationsgetriebene ge-
dass ich als kleiner Malermeister die säch- Heiratsantrag machte. Dort der Platz vor wesen“, sagt Haseloff.
sische Union ins Wanken gebracht habe“, der Universität, eine der ältesten im Land, Jetzt, da die Arbeitslosigkeit sinkt, die
sagt er. Friedrich der Große war schon da, später Wirtschaft endlich wächst und auch die
Chrupalla ist bislang nicht als Demagoge Napoleon. Dann die Stadtkirche, in der Bevölkerungszahl wieder zunimmt, fällt
aufgefallen, er unterscheidet sich von Björn Luther predigte und zum ersten Mal die die lange Abwesenheit von Diskurs, von
Höcke und den anderen Scharfmachern in Messe in deutscher Sprache gefeiert wurde. Auseinandersetzungen über die eigene
der AfD. Im Gespräch beklagt er eine „Ero- Haseloff weiß noch, wie er im Oktober Identität umso deutlicher auf. In diese Lü-
sion der Demokratie“, Parlamente würden 1989 unweit von Luthers Kanzel stand, mit cke stoßen die Rechten gezielt vor.
48 DER SPIEGEL 46 / 2017
Im März 2016 gewann die AfD bei der ziehen und isolieren, bis es knallt“, sagt
Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 24,3 Pro- der 45-Jährige. „Demokratie heißt eben
zent, deutschlandweit ihr bisher höchstes auch sich mühen müssen.“
Ergebnis auf Landesebene. Die neu ge-
wählten Abgeordneten marschierten im Wie verändert das Leben in einer Diktatur
Gleichschritt im Landtag auf. Haseloff die Menschen? Diese Frage beschäftigt
wirkte geschockt, als der SPIEGEL ihn da- Wolfgang Freese schon lange. „Demokra-
mals in seinem Magdeburger Büro besuch- tie ist plötzlich was unheimlich Anstren-
te. Der Ministerpräsident fühlte sich an die gendes, wenn einem vorher alle Entschei-
späte Weimarer Republik erinnert. Ihm sei dungen abgenommen wurden“, sagt er.
klar geworden, sagte Haseloff, „wie fragil Er steht im Ratssaal der Kreisverwal-
die Demokratie in Deutschland doch ist“. tung Ostprignitz-Ruppin, einem großen
Und heute? Bei der Bundestagswahl hat Raum mit hohen Decken und holzvertä-

SVEN DOERING / DER SPIEGEL


Sachsen-Anhalt eine kleine Trendwende felten Wänden in der Innenstadt Neurup-
geschafft. Im Vergleich zur Landtagswahl pins, und erinnert sich an 1989. Draußen,
sank das AfD-Ergebnis um fünf Punkte auf den Simsen des Mauerwerks, flacker-
auf 19,6 Prozent. ten Tausende Kerzen als Zeichen des fried-
„Wir brauchen keinen Rechtsruck“, sagt lichen Protests gegen das DDR-Regime.
Haseloff. Es reiche aus, alle bestehenden Drinnen erstritt Freese für die Opposi-
Verträge und Gesetze konsequent umzu- AfD-Abgeordneter Chrupalla* tionsgruppe Neues Forum demokratische
setzen. „Die anderen dürfen keine Gele- „Wir sind hier eine normale Volkspartei“ Mitspracherechte. Bis heute nimmt Freese
genheit bekommen, uns mit unseren Defi- hier regelmäßig Platz. Als Grünen-Abge-
ziten zu treiben“, sagt er, „wir dürfen nicht Seit vorigem Jahr ist Kammer Ortsvor- ordneter berät er im Saal mit anderen
zulassen, dass sie uns mangelnde Rechts- steher. Ein Ehrenamt, eigentlich aber ein Politikern über die Belange des Kreises.
staatlichkeit vorhalten können.“ Vollzeitjob. Oft würden die Einwohner nur Schon damals beschäftigte ihn, wie die
zum Meckern in seine Sprechstunde kom- ostdeutsche Gesellschaft fortan mit Ar-
Fürstenwerder in der Uckermark ist das Ge- men. „Da liegt ein Ast auf dem Weg, da beitslosigkeit und Ausländern klarkom-
genteil von abgehängter Provinz. Es gibt muss das Gras mal wieder gemäht wer- men könnte, in einem Land, das beides
zwar nur 650 Einwohner, aber zwei Arzt- den“, heiße es dann. Aber kaum einer wol- kaum kannte. Mit Arbeit und ohne Migra-
praxen, eine Grundschule, einen Bäcker, le sich selbst engagieren. Für das Problem tion – für viele sei die DDR auch deswegen
einen Fleischer, außerdem ein Heimat- seid ihr doch da, macht was, bekommt ein kuscheliges System gewesen.
museum und eine Buchhandlung mit guter Kammer oft zu hören. Neuruppin hat in den vergangenen Jah-
Stube, wo sich der Damenstammtisch zum Und wenn sie ein Anliegen vortrügen, ren viel erreicht. Die Arbeitslosigkeit sinkt,
Rotkäppchen-Sekt trifft und Nachbarn erwarteten die Bürger, dass sich alles so- es gibt ein lebendiges Kulturleben, zahl-
Eier gegen Kooperativenkaffee mexikani- fort ändere. Sie könnten nicht verstehen, reiche Bürger sind zivilgesellschaftlich ak-
scher Zapatisten tauschen. dass er vorher noch mit den zuständigen tiv, das Bündnis „Neuruppin bleibt bunt“
Bei der Bundestagswahl erzielte die Ämtern sprechen müsse. „Da geht nichts hat viel im Zusammenleben von Flüchtlin-
AfD in Fürstenwerder 24 Prozent. von heute auf morgen“, sagt er ihnen gen und Einheimischen bewirkt.
An einem Oktobernachmittag sitzt Nils häufig. Und doch war Freese, der als Sonder-
Graf in seinem Buchladen mit dem Orts- Kammer, der für die Bürgerfraktion in pädagoge und DJ arbeitet, über die Jahre
vorsteher Dirk Kammer zusammen und der Gemeindevertretung sitzt, will nun auf immer wieder irritiert. „Wolfgang, ich habe
diskutiert über den Rechtsruck. offene Gesprächsrunden im Dorf setzen. dich gewählt, obwohl du bei den Grünen
Kammer, ein Tischlermeister, kann es Alle sollen sich aussprechen und informie- bist“, hätten Wähler ihm erzählt. Oder
immer noch nicht fassen. „Wenn man sich ren können. „Niemand darf sich zurück- dass ihre Erststimme an ihn gegangen sei,
müht, so wie man sich überall in Deutsch- die Zweitstimme aber an die NPD.
land mühen muss, kann man hier gut le- In den vergangenen Monaten hat er auf
ben, sich entwickeln“, sagt er. den Straßen Flugblätter gegen die AfD ver-
Natürlich hat die Flüchtlingspolitik auch teilt und versucht, mit deren Anhängern ins
Fürstenwerder beschäftigt. Ein junger Syrer, Gespräch zu kommen. Freese, der in Neu-
der offenbar an Schizophrenie leidet, sorgt ruppin fast jeden zu kennen glaubt, war
mit übergriffigem Verhalten für Unruhe im überrascht über die vielen Gesichter, die er
Ort. Fremdenfeindlich sind die Bürger von noch nie zuvor gesehen hatte. Eines Tages
Fürstenwerder mehrheitlich deshalb aber traf er auf einen alten Bekannten, mit dem
nicht. Fünf Familien aus Syrien haben zwi- er 1989 in der Bürgerrechtsbewegung aktiv
schenzeitlich hier gelebt. Um sie kümmerte gewesen war. Inzwischen ist der Mann bei
sich nicht nur die Gemeinde, sondern auch der AfD. Wenn er Merkel und Gabriel sehe,
ein Willkommensbündnis aus dem Dorf. erzählte ihm der alte Mitstreiter, müsse er
Wieso dann also der Erfolg der AfD? an das Zentralkomitee der SED denken.
Die Rechten hätten in der Region auch „Da hört doch alles auf“, sagt Freese. „Wie
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

Stimmen von Anwohnern bekommen, die soll man da noch argumentieren?“


Spenden für Flüchtlinge sammeln, sagt Der Kommunalpolitiker ist jetzt 61 Jahre
Graf. „Das sind kleine, selbstständige alt. Er will weitermachen und nach vorn
Handwerksleute, die glauben, dass die schauen, Haltung zeigen, öffentlich und
AfD sich um ihre Belange kümmern will.“ privat. Auch wenn es manchmal schwer-
Diese hätten sich einen Punkt aus dem
Wahlprogramm gepickt, der ihnen passe. Ortsvorsteher Kammer* * Oben: in Weißwasser; unten: mit Buchhändler Nils
„Der Rest interessiert sie nicht.“ Zum Meckern in die Sprechstunde Graf (r.) in Fürstenwerder.

DER SPIEGEL 46 / 2017 49


Deutschland

falle. „Wer will schon den Geburtstag der platz einer Moschee von Gegnern errichtet sind keine Ausländer da“, sagt Ramelow,
Tante versauen“, fragt er, „um problema- wurden. Die Muslime seien schuld, jetzt bevor er die dritte Karte öffnet, Wahlsiege
tische Aussagen zu korrigieren?“ Schwei- gebe es mehr Kriminalität, mehr Vergewal- der AfD. Der ganze Osten dunkelblau.
gen, sagt Freese, sei keine Lösung. Es gehe tigungen, bald müssten wir alle Kopftuch Aber wie hängen diese Grafiken mit-
darum, Menschen in ihren Echokammern tragen: „Das ist der Blues“, sagt Ramelow, einander zusammen? Und warum äußern
anzusprechen, falsche Nachrichten zu kor- „den ich nun oft zu hören bekomme.“ so viele Menschen ihren Frust in völki-
rigieren und aufgeregten Streit zu versach- „Der Adrenalinspiegel ist hoch“, sagt er. schen, ausländerfeindlichen Tönen?
lichen. „Steter Tropfen höhlt den Stein“, In der AfD mache sich eine selbstherrliche Wer in der DDR aufgewachsen ist, kennt
sagt Freese vorsichtig lächelnd. Haltung breit, die für die anderen Parteien „Schwester Agnes“. Der Defa-Film von 1975
so ähnlich klinge wie: Bald seid ihr weg, erzählt die Geschichte einer Gemeinde-
Bodo Ramelow sitzt in der Erfurter Land- bald haben wir euch vertrieben. schwester in der Oberlausitz, die sich be-
tagskantine, die Debatte über das NSU- Dann holt Ramelow sein Telefon hervor. herzt um die Nöte der Dorfbewohner küm-
Mahnmal liegt gerade hinter ihm. Jetzt Er hat drei bunte Deutschlandkarten da- mert; für jedes Problem findet sie eine Lö-
erzählt der Ministerpräsident von jenem rauf gespeichert. Sie sollen die Malaise im sung, egal was die Funktionäre sagen.
Moment, als er zum ersten Mal eine voll Osten erklären. Die erste zeigt, wo die Bei Auftritten redet Ramelow seit einiger
verschleierte Frau in Thüringen sah, aus- Menschen am wenigsten verdienen und Zeit gern davon. „Das funktioniert immer“,
gerechnet hier im Landtag. Es handelte der Mindestlohn am stärksten wirkt. „Da sagt er. Er erzählt dann, wie er als zugezo-
sich um die AfD-Abgeordnete Wiebke ist die alte DDR wiederzusehen“, sagt Ra- gener Wessi das erste Mal eine Postkarte
Muhsal, die damit gegen die Entwürdigung melow, „und zwar in kraftvollster dunkler mit dem Schwester-Agnes-Motiv sah. Wie
von Frauen protestieren wollte. Farbe.“ Er wechselt zur nächsten Karte, er sich kaputtlachte, wie er dachte, das ist
Und er beschreibt die Kreuze mit ange- es geht um Ausländer, Thüringen hat den doch bescheuert. „Hinterher habe ich be-
nagelten Schweinsköpfen, die auf dem Bau- zweitniedrigsten Wert bundesweit. „Es griffen: Das ist Identifikation, das ist Heimat
und in Sachen Gemeindeschwester sogar
zutreffend.“ Weil es eine Welt zeigt, die sich
viele zurückwünschen, ohne dabei an die
DDR Honeckers zu denken. Sondern an
eine Gesellschaft, in der es in jedem Ort me-
dizinische Versorgung gab und der Dorfkon-
sum mit seinem in der Erinnerung gar nicht
so kargen Angebot gleich um die Ecke lag.
„Je länger etwas weg ist, desto schöner
wird es in der Erinnerung“, sagt Ramelow.
Es gibt mehrere Arten von Wut, eine
leise, die sich hinter den Vorhängen zu
Hause artikuliert, und eine laute, die auf
den Marktplätzen hinausgebrüllt wird. In-
zwischen erklingt sie auch in den Parla-
menten. Ramelow und seine Kollegen müs-
sen sich fragen, wie sie auf diesen Sound
der Unzufriedenen reagieren, in der Ge-
sellschaft und im Plenum.
Fast jede Partei wendet sich dem Thema
Heimat zu, auch Ramelow und die Linke.
Es gehe nicht darum, AfD-Wähler zu be-
schimpfen, sagt er. Sondern darum, die
Menschen ernst zu nehmen bei Themen
wie Kinderbetreuung und Altersarmut.
„In Berlin müssen sich die Parteien
schnell auf eine Regierung einigen, damit
wir Ostländer mit ihnen über ostspezifi-
sche Ungerechtigkeiten, aber auch bessere
soziale Angebote und mehr Investitionen
verhandeln können“, sagt Ramelow. Die
Parteien jenseits der AfD müssten zügig
Lösungen entwickeln. „Wenn man diese
Leute unterschätzt, wird die Demokratie
Schaden nehmen.“

Kein Flutlicht erhellt an diesem Dienstag-


abend das „Karli“, wie das Karl-Lieb-
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

knecht-Stadion in Potsdam-Babelsberg lie-


bevoll genannt wird. Die Ränge sind leer,
nur wenige Büros des SV Babelsberg 03
im Gebäude nebenan sind beleuchtet.
Katharina Dahme, 31, sitzt vor einer
Wand mit Pokalen und Wimpeln und er-
Fußballfunktionärin Dahme in Potsdam: Sitzblockaden gegen Neonazis zählt, wie Fußball und Politik in Potsdam
50 DER SPIEGEL 46 / 2017
zusammenhängen: „Wir machen Sitzblo- Auch Patzelt, 70, will in vier Jahren ab-
ckaden gegen Neonazi-Aufmärsche, pro- treten. Bis dahin möchte er seinen Wahl-
testieren gegen die AfD und engagieren kreis gegen die Parolen der Populisten
uns für Geflüchtete“, sagt Dahme, die Mit- wappnen. Mit seinen Kollegen von der
glied des Aufsichtsrats ist. „Das alles ist SPD, den Linken, Grünen und der FDP
hier eine Selbstverständlichkeit.“ wird er über die Dörfer ziehen, Schulen
2014 gründete der Verein eine eigene und Gasthäuser besuchen, als Werbetour
Mannschaft für Flüchtlinge, den Welcome für die Demokratie. „Seit der Wende ha-
United 03, und meldete ihn für den offi- ben wir das Privileg, dass wir Bürger selbst
ziellen Spielbetrieb an. Gleich in der ers- über unsere Zukunft entscheiden können“,
ten Saison stieg der Verein auf, was aber sagt Patzelt. „Die Begeisterung dafür
nicht allen gefallen hat: „Affenlaute, dis- möchte ich wiedererwecken.“
kriminierende T-Shirts und Beleidigungen

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


von Fans und Spielern anderer Mannschaf- Wenige Tage nach der Bundestagswahl
ten sind leider keine Seltenheit“, sagt Dah- stellte die Bertelsmann-Stiftung eine Stu-
me. Bei einem Spiel im vergangenen Jahr die vor, die versucht, Erklärungen für den
trugen mehrere Fußballer eines gegneri- Erosionsprozess der Volksparteien zu lie-
schen Teams unter ihren Trikots T-Shirts fern. Dabei konstatierten die Sozialwis-
mit der Aufschrift „Refugees not welcome“, senschaftler eine Trennung der Gesell-
die Stimmung war aggressiv. Kommunalpolitiker Freese in Neuruppin schaft in Modernisierungsbefürworter und
Nach ihrer Beobachtung hat der Erfolg „Demokratie ist anstrengend“ Modernisierungsskeptiker.
der AfD viele Menschen ermuntert. „Anti- Modernisierungsskeptiker möchten dem-
semitische Parolen grölen oder den Hitler- jenen Tag, als Gauland die Taten der Wehr- nach den Prozess der gesellschaftlichen,
gruß machen, direkt in die Kamera“, das macht im Zweiten Weltkrieg rühmte und wirtschaftlichen und kulturellen Verände-
habe wieder zugenommen, sagt sie. Dah- verteidigte. „Da war für mich ein Punkt rung aufhalten. Sie sehnen sich nach einer
me glaubt, dass die AfD dafür mitverant- erreicht, wo ich von Zuhören auf Bekämp- harmonischen Ordnung, national und si-
wortlich ist. „Wenn die Leute das im Par- fen umschaltete“, sagt Patzelt. cher, mit steigenden Löhnen und einem
lament sagen, kann ich das auch machen“ Seine Großplakate wurden fast alle be- starken Sozialstaat. So wie die Bundes-
sei die Denke. schmiert. „Volksverräter“ oder „Merkels republik früher mal war.
Vor Kurzem traf der Babelsberger Wel- Marionette“ stand darauf. Aber Patzelt, Der Osten mit seinen Wahlergebnissen
come United erneut auf die vor einem Jahr der zu DDR-Zeiten ein katholisches Kin- wäre nach dieser Lesart die Heimat be-
so aggressive gegnerische Mannschaft: kei- derheim geleitet hatte, ließ sich nicht be- sonders vieler Modernisierungsskeptiker,
ne Spur mehr von offener Diskriminierung, irren. Er blieb bei seinen Positionen, für während im Westen mehr Modernisie-
keine menschenverachtenden Aussagen. die ihn die Anwohner kannten. rungsbefürworter zu finden wären, Men-
„Unsere Arbeit wirkt“, sagt Dahme. 2014 hatte er die Bürger in einem Brief schen, die den Veränderungen der vergan-
Die Babelsberger hoffen, dass sich ihr aufgefordert, bei sich zu Hause Flüchtlinge genen Jahre mehrheitlich positiv gegen-
Engagement auch andernorts auszahlt. unterzubringen; die Brandenburger hätten überstehen.
Mitte September haben sie die Kampagne schließlich privat genügend Gästezimmer Wenn dieser Eindruck zuträfe, stünde
„Nazis raus aus den Stadien“ initiiert, der und Geld, um Fremde zu bewirten. Patzelt Deutschland vor einer neuen Spaltung.
Schriftzug verbreitet sich auf T-Shirts ak- erinnerte daran, dass deutsche Vertriebe- Die Trennlinie verliefe ziemlich exakt ent-
tuell bundesweit. nenfamilien wie die seine nach dem Zwei- lang der früheren innerdeutschen Grenze.
Im eigenen Stadion jedoch hatten die ten Weltkrieg ebenfalls auf Hilfe und Oder ist dieser Befund nur wieder die ty-
Babelsberg-Fans Probleme, als sie, auf Hit- Barmherzigkeit angewiesen waren. Er pisch westdeutsche, herablassende Sichtwei-
lergrüße aus dem Block der Gastmann- selbst nahm zwei Männer aus Eritrea auf, se auf einen unverstandenen Landesteil zwi-
schaft reagierend, „Nazischweine raus“ rie- danach bekam er Morddrohungen. schen Ostsee, Harz, Oder und Erzgebirge,
fen. Der Nordostdeutsche Fußballverband Einen Rechtsruck, wie es in der Union der sich bereits radikal modernisiert hat?
verhängte eine Geldstrafe. jetzt viele fordern, lehnt Patzelt strikt ab. Reiner Haseloff hat lange darüber nach-
„Wir lassen das nicht auf uns sitzen“, „Das macht solche Parolen salonfähig, und gedacht, warum die AfD mit ihren Ressen-
sagt Dahme. „Bei uns steht das ganze Sta- im Zweifel wählen die Menschen dann lie- timents im Osten erfolgreicher ist als im
dion für einen antirassistischen Konsens, ber gleich das extreme Original.“ Diese Westen. „Wer hat diese Partei gegründet?
darauf bin ich stolz.“ Haltung hat sich für ihn gelohnt. Patzelts Wer führt sie, wer sind die geistigen Steue-
Ergebnis bei den Erststimmen war bei der rer? Und welche Gesellschaft hat sie her-
Als Alexander Gauland den Wahlkreis Bundestagswahl besser als der Zweitstim- vorgebracht?“ Er verweist auf Bernd Lucke,
Frankfurt (Oder) ins Visier nahm, sah es menwert der CDU. auf Alexander Gauland und Björn Höcke,
aus, als hätte er leichtes Spiel, als könnte Und nun? In seiner Zeit als Frankfurter die alle aus Westdeutschland stammen.
er dort auf Anhieb ein Direktmandat er- Oberbürgermeister, von 2002 bis 2010, hat Der Ministerpräsident ist ein höflicher
ringen. Viele Bürger waren frustriert, in er die Jungen in der Stadt ermuntert, im Mensch. „Westler setzen sich gern hin und
Gasthäusern jubelten sie dem prominenten Westen Ausbildungsplätze zu suchen. In philosophieren über uns“, sagt Haseloff.
Spitzenkandidaten der AfD zu. der Hoffnung, dass sie später zurückkom- Er möchte sich davon unterscheiden und
Es kam anders. Der Mann, der Angela men und hier Familien und Unternehmen den Westen nicht bewerten: „Ich maße mir
Merkel und die CDU, wie er am Wahl- gründen. Diese Rechnung ist nicht aufge- kein Urteil an.“ Er hat genug damit zu tun,
abend sagte, „jagen“ will, verlor gegen gangen. Jetzt geht außerdem jene Gene- seine eigenen Bürger zu verstehen.
Martin Patzelt, einen freundlichen älteren ration in Rente, die nach der Wende in Das aber sei nur ein Teil der Geschichte,
Herrn, der seit mehr als 20 Jahren in der der Region mit Handwerksbetrieben, Ge- sagt Haseloff. „Diese Debatte muss im
Region für die CDU Politik macht. schäften oder Bauernhöfen etwas Neues Westen ehrlich geführt werden.“
Wenn man Patzelt nach seinen Lehren aufgebaut hat. Viele finden keinen Nach- Maik Baumgärtner, Markus Deggerich,
aus dem Wahlkampf fragt, erinnert er an folger. Frank Hornig, Andreas Wassermann

DER SPIEGEL 46 / 2017 51


Ankommen
Essay Warum fragt keiner, wie es den Westdeutschen mit der Einheit geht?
Von Stefan Berg

Z
u den Gepflogen- Ich habe beobachtet,
heiten des Herbs- dass auch Westdeut-
tes gehört es, sche erst „ankommen“
beim Jubiläum von mussten oder müssen
Mauerfall und Wieder- in Deutschland. Es ist
vereinigung die Frage allerdings schwer, mit
nach dem Stand der in- ihnen über ihre Ängste
neren Einheit zu stel- zu reden, sie sind es
len. Auch dieses Jahr nicht gewohnt. Über
lief es darauf hinaus, eigene Schwächen
dass untersucht wurde, sprechen Westdeutsche
wie die Ostdeutschen nicht gern. Nein, nein,
im vereinten Deutsch- es sei alles „super“, sa-

AFP / GETTY IMAGES


land klarkommen. gen sie. Westdeutsche
Bei der Erforschung sind Fassadenexperten.
der Ost-Seele geht es Kürzlich aber traf
gemeinhin ähnlich zu ich einen sehr bele-
wie bei den Untersu- Verlauf der ehemaligen Berliner Mauer senen Westdeutschen
chungen von Kindern, Angst vor der Verostung meines Alters, aus dem
genannt U1 bis U9. Die es mitten im Gespräch
Beweglichkeit wird kontrolliert, das Sprachvermögen, herausbrach: Oh ja, er habe eine ganze Weile gebraucht,
Wachstum, Standfestigkeit, getestet wird, ob die Kleinen um in „Deutschland“ anzukommen. Er habe doch gelernt,
nach links und rechts blicken können. „Weltbürger“ und „Europäer“ zu sein. „Deutschland“ und
Ich frage mich allerdings: Warum wird eine derartige „deutsch sein“? Bloß nicht. Paris sei ihm vertrauter als
Fürsorge nicht auch dem Westen zuteil? Haben die West- Leipzig gewesen, Florenz näher als Dresden, genannt Elb-
deutschen weniger Aufmerksamkeit verdient als die Ost- Florenz. Und die mediterrane Küche war ihm lieber als
deutschen? deutsche Kartoffelsuppe.
Stillschweigend wird davon ausgegangen, dass die West- Ich redete auf ihn ein, ich beruhigte ihn, niemand könne
deutschen bereits im Westen groß geworden sind und sich etwas für seine Herkunft, er könne auch in Zukunft
deshalb nicht hätten umstellen müssen. Das ist nicht ganz mediterran speisen. Keiner von den Ostlern wolle einen
falsch. Es hat auch eine gewisse Logik, schließlich ist die wöchentlichen Deutsche-Küche-Day oder Ähnliches ein-
DDR ja der Bundesrepublik beigetreten, nicht umgekehrt. führen.
Für die Westdeutschen habe sich folglich nichts verändert, Die Begegnung erinnerte mich an den Westbesuch, den
so die landläufige Annahme. Das wird zwar nicht ausge- wir damals erhielten. Den Verwandten war der Osten ir-
sprochen, aber gedacht. gendwie zu „deutsch“, die DDR fanden sie jedenfalls
Aber ist es richtig? „deutscher“ als ihr Rest-Deutschland, was ich damals nicht
In Ostdeutschland münden die Reihenuntersuchungen kapierte.
immer in eine Frage: Sind die einstigen DDR-Bürger in Später verstand ich: Viele DDR-Bürger wollten unbe-
der Bundesrepublik „angekommen“, wobei das Wort „an- dingt Deutsche bleiben und sich die „Einheit der Nation“
kommen“ nur der Höflichkeit halber verwendet wird. Ge- nicht ausreden lassen, weder von der DDR-Obrigkeit noch
meint ist: „anpassen“. Es geht allein darum, ob sie sich vom Westbesuch. Deutsch sein, das war eine Form der
gut genug angepasst haben. Ankommen jedoch klingt viel Westbindung. Die DDR-Deutschen freuten sich, dass die
netter, es klingt nach einem schönen Reiseziel, von dem Eisenbahn immer noch Deutsche Reichsbahn hieß. Eine
man eine Postkarte schickt. Kirchenzeitung in Thüringen hieß „Glaube und Heimat“.
Und die Westdeutschen, mussten sie nicht auch „an- In der DDR-Schule wurde bis 1989 – noch so ein Unwort –
kommen“ in Deutschland? Wahrscheinlich hatten viele Heimatkunde unterrichtet, im Westen verschwanden Fach
von ihnen angenommen, das vereinte Land werde ledig- und Wort nach 1968 allmählich aus den meisten Lehrplä-
lich eine XXL-Version der Bundesrepublik, so wie Helmut nen, stattdessen gibt es Sachkunde. Das Wort „Heimat“
Kohl ja auch eine XXL-Version von einem Kanzler war. gehörte zu den Heimatvertriebenen, kurz den Reaktionä-
Und vermutlich haben sie gehofft, der Finanztransfer wer- ren, den Nazis unter ihnen.
de für sie die einzige Zumutung. Wenn ich mich unter den gebildeten linksliberalen West-
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte einst deutschen umhöre, scheint mir, dass es ihnen überhaupt
gesagt: „Die deutsche Frage ist offen, solange das Bran- unangenehm ist, einem Volk zuzugehören. Und nun aus-
denburger Tor zu ist.“ Dieser Logik zufolge bestand seit gerechnet zum deutschen? Er habe Jahre gebraucht, er-
dem 9. November 1989 keine Notwendigkeit mehr, nach zählte mir mein westdeutscher Gesprächspartner, um zu
Deutschland zu fragen. sagen: Ja, er sei Deutscher.

52 DER SPIEGEL 46 / 2017


Deutschland

Frau aus dem Osten, eine Frau aus dem Pfarrhaus, eine
Im Osten litten Und woran mussten sich die
Westdeutschen noch alles gewöh- Frau die gut Russisch spricht, aber wohl noch nie gekifft
die Leute unter nen? Sächsisch wird nun auch im
Bundestag gesprochen. Das Hän-
hat. Das alles macht es manchen Westdeutschen schwer,
von „ihrer Regierung“ zu reden, von „unserem Land“.
kollektiver Man- deschütteln, im Osten üblich, im Manche meiner modernen, welterfahrenen Altersgenossen
Westen vielerorts aus der Mode stießen sich an Joachim Gauck und dessen mecklenburgi-
gelerfahrung, im gekommen, liegt nun gesamt- schem Pastorenpathos im Präsidentenamt.
Westen unter deutsch im Trend. Innenminister
Thomas de Maizière hält es in-
Hinzu kommt, dass Ostdeutsche im Westen oft herab-
lassend und – ja fast schon – in Siegerpose auftreten. Ich
mangelnder Kol- zwischen für einen Teil der deut- war häufig unterwegs im Westen, und natürlich fiel auch
schen Leitkultur. Auf Soziolo- mir auf, in welchem Zustand die Brücken dort sind, die
lektiverfahrung. gisch könnte man es vielleicht so Radwege, der Radweg am Rhein etwa, eine Katastrophe,
beschreiben: Im Osten litten die er führte durch das Gelände einer Glasfabrik. Und die
Leute unter kollektiven Mangelerfahrungen, im Westen Asbestplatten an den Häusern. Und diese Fußgänger-
unter mangelnder Kollektiverfahrung. Man muss aber an- zonen-Monotonie.
erkennen, dass sich manche Westdeutsche bemühen: Ge- Aber ich habe nichts gesagt, kein abfälliges Wort, kein
bürtige Rheinländer stehen jetzt sogar im Stadion An der Vorwurf. Schließlich haben die Leute auch hier nur gear-
Alten Försterei beim 1. FC Union in Ostberlin und singen beitet. Ich habe mich geärgert, wenn Ostdeutsche aus
„Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? – Eisern Union“. ihren Reisebussen stiegen und mit dem Finger auf irgend-
Es wäre interessant, wenn Ostdeutsche und Westdeut- ein Haus zeigten und laut fragten: Wann ist denn hier
sche einmal ihr „Ankommen“ beschrieben, auf einer Post- zum letzten Mal saniert worden? Schlimmer noch: In ei-
karte, so wie nach dem Erreichen eines Reiseziels. „Hallo, nem Hotel traf ich auf Ostdeutsche, die an einem Pater-
ich bin gut angekommen.“ Und dann notierten, was ihnen noster standen und laut riefen: Ist ja hier wie im Museum!
gefällt und was sie vermissen. Was würden wohl die West- Ich sage dann immer: Die Leute hätten es sicher auch
deutschen als Gewinn vermelden? Keine Pakete mehr in gern schöner, hätten auch lieber so viele Spaßbäder wie
den Osten schicken zu müssen? Oder: Jetzt auch Gregor wir im Osten.
Gysi wählen zu können? Und was vermissen sie? Den Vielleicht ist es Zeit für einen Appell: Macht es den
„Bericht aus Bonn“? Fürchten sie eine Verostung? Wessis nicht zu schwer, ladet sie ein, und lasst euch deren
Manche Westdeutsche haben nach meinem Eindruck Geschichten erzählen. Ihr müsst ihnen ja nicht gleich
einfach Verlustängste, seitdem Angela Merkel regiert, eine Pakete schicken. I

Jetzt schon ran


an die Geschenke!
Super Sägen Wochen
noch bis 23.12.2017

Freuen Sie sich auf die Super Sägen Wochen: Einfach eine ausge- oder Schutzbekleidung sichern. Ihr STIHL Fachhändler berät Sie
wählte Motorsäge kaufen und bis zu 100 € für praktisches Zubehör gerne. Einen Fachhändler in Ihrer Nähe finden Sie unter stihl.de
*Teilnehmende Fachhändler und Teilnahmebedingungen unter www.stihl.de/ssw
Deutschland

Bea, der Clan und die Salafisten


Ermittlungen Schon zum zweiten Mal folgte die Bremer Polizei den vagen
Hinweisen ein und derselben Journalistin – und begann eine große Anti-Terror-Operation.

D
ie schwer bewaffneten Polizisten Auch Spezialkräfte aus Niedersachsen und fanden, waren kriminelle Salafisten aus
des Sondereinsatzkommandos war- Beamte des französischen Staatsschutzes Bremen und Nizza.
teten in der Wohnung der Gold- machten mit. Für die Polizisten der Hansestadt muss
schmiedin. Als die beiden Verdächtigen Die Polizei war überzeugt, dass die Män- es ein unangenehmes Déjà-vu gewesen
den winzigen Schmuckladen in Osterholz- ner, allesamt Mitglieder der Salafistensze- sein. Denn zweieinhalb Jahre zuvor, im
Scharmbeck bei Bremen betraten, stürm- ne, Juweliere ausrauben wollten, um mit Februar 2015, hat es schon einmal einen
ten sie die Treppe hinunter und nahmen den Einnahmen Waffen zu kaufen. So großen Terroreinsatz in Bremen gegeben –
die Männer fest. schildert es der Sprecher der Bremer der sich im Nachhinein als falscher Alarm
Für die 67-jährige Ladenbesitzerin war Staatsanwaltschaft, Frank Passade. Der erwiesen hat. Die wichtigste Hinweis-
der Einsatz ein Schock: „Ich bin immer Verdacht: Die Maschinenpistolen könnten geberin der Behörden war in beiden Fällen
noch ganz fertig.“ Für die Bremer Polizei für einen Terroranschlag eingesetzt wer- dieselbe: Beate Krafft-Schöning, 52, eine
war der Einsatz der Höhepunkt des größ- den. Seit Juni führt die Behörde ein Ver- Journalistin und Buchautorin.
ten Staatsschutzverfahrens der vergange- fahren wegen Verstoßes gegen das Kriegs- 2015 hatte Krafft-Schöning von Uzis
nen Jahre. waffenkontrollgesetz. berichtet, Maschinenpistolen israelischen
Jedenfalls zunächst. Doch inzwischen stellt sich die Frage: Typs, die in der Bremer Salafistenszene
Vorausgegangen war eine aufwendige Gab es überhaupt eine Terrorgefahr? verteilt worden sein sollen. Die Journalistin
Ermittlung. Die Beamten hatten etliche Te- An jenem 29. September fanden die hatte keine Belege, sie habe mit einem In-
lefone abgehört, ein Auto und einen Imbiss Bremer Beamten keine Kriegswaffen, formanten aus dem Miri-Clan gesprochen,
in Bremen-Gröpelingen verwanzt. In der nicht bei den Festgenommenen und nicht der in die Geschichte verwickelt sei. Die
Schlussphase der Ermittlungen, Ende Sep- bei den anschließenden Wohnungsdurch- Miris sind eine libanesischstämmige Groß-
tember, überwachten Observationsteams suchungen. Sie fanden nicht mal eine Pis- familie, die in Bremen für Organisierte Kri-
aus Bremen, Hamburg und Schleswig-Hol- tole. Und keinen einzigen Beleg, dass es minalität bekannt ist. Ein V-Mann des Zolls
stein sechs Verdächtige rund um die Uhr. überhaupt einen Waffendeal gab. Was sie schien die Geschichte zu bestätigen.
Nach diesen Hinweisen zogen bis an die
Zähne bewaffnete Polizeibeamte am Bahn-
hof und in der Bremer Innenstadt auf, sie
besetzten Verkehrsknotenpunkte. Eine Fa-
milie, die irrtümlich unter Terrorverdacht
geriet, wurde stundenlang festgehalten.
Die Bremische Bürgerschaft beleuchtete
den falschen Terroralarm in einem par-
lamentarischen Untersuchungsausschuss,
sie stellte „strukturelle Mängel“ und „in-
dividuelle Fehler“ bei den Behörden fest.
Auch der Umgang mit Informanten wurde
kritisiert.
Im Juni dieses Jahres begann der zweite
Einsatz damit, dass sich ein Libanese bei
der Polizei meldete und erzählte, ein Bre-
mer Salafist namens „Kamal“ sei mit meh-
reren Franzosen bei einem hochrangigen
Miri-Mitglied gewesen, um Kalaschnikows
zu kaufen. Die Waffen sollten in Frank-
reich eingesetzt werden. Er selbst, sagte
der Informant, habe das nicht direkt mit-
bekommen, sondern nur davon gehört.
Der Mann, den die Salafisten aufgesucht
hätten, sei Alaeddine M. Der ist eine schil-
lernde Figur der Bremer Unterwelt, mehr-
fach vorbestraft. M. heißt nicht Miri, ge-
hört aber zu den Führungsfiguren des Miri-
Clans und ist ein Vertrauter des Chefs der
verbotenen Rockerbande Mongols.
CARMEN JASPERSEN / DPA

In der Bremer Polizei entschied man


sich, Alaeddine M. zu besuchen. Er bat
die Beamten ins Wohnzimmer, wollte aber
keine Aussage machen. Nur so viel: An
dem Waffendeal sei schon was dran. Und
Spezialkräfte beim Einsatz im Februar 2015 in Bremen: Déjà-vu bei der Polizei Bea wisse darüber Bescheid.

54 DER SPIEGEL 46 / 2017


Beate Krafft-Schöning ist bei
den Miris als Bea bekannt. Sie
Laderaum. Die vermeintlichen
Terroristen durften weiterreisen.
Steuern?
hat vor Jahren ein Buch über
den in weiten Teilen kriminel-
Vier Tage lang fuhren die bei-
den Brüder aus Nizza mit „Ka-
Lass ich machen.
len Bremer Clan geschrieben: mal“ durch die Gegend. Mal
„Der Miri-Komplex“. Viele Mit- trafen sie Alaeddine M., mal

CHRISTINA KUHAUPT
glieder der weitverzweigten fuhren sie nach Osterholz-
Familie kennt sie persönlich – Scharmbeck zu dem Schmuck-
auch Alaeddine M. laden. Sie prüften die Entfer-
Als ein Polizist sie daraufhin nung zur nächsten Polizeista-
anrief, erzählte Krafft-Schöning Krafft-Schöning tion. Sie unterhielten sich über
von der angeblichen Waffen- Uzis für „Kamal“ Gold und Silber, über einen
geschichte, die Alaeddine M. Container, dessen Inhalt man
ihr mitgeteilt habe. Sie dürfe davon berich- stehlen könnte. Nur nicht über Waffen
ten, das sei mit ihm abgesprochen. Auch oder Terroranschläge.
sie erwähnte einen Algerier namens „Ka- Beate Krafft-Schöning betrieb eine Knei-
mal“, der Alaeddine M. 8000 Euro Provi- pe in Osterholz-Scharmbeck: Bea’s Pub.
sion geboten habe, falls er den Kauf von Als verdächtige Miri-Leute auf einen Whis-
Maschinenpistolen vermitteln könne. Es ky bei ihr vorbeikommen wollten, ließ sich
sei nicht um Kalaschnikows, sondern um die Polizei auch für dort einen Lausch-
Uzis gegangen. angriff genehmigen.
Genau wie 2015. Das Haus der Journalistin am Stadtrand
Dann sagte sie noch, sie glaube, es gebe von Osterholz-Scharmbeck ist mehrfach
bereits einen möglichen Lieferanten für gesichert: ein hoher Holzzaun, eine Über-
die Waffen, vielleicht einen Albaner. Es wachungskamera am Eingang und ein gro-
habe ein Treffen in einer Garage gegeben, ßer Dobermann. Krafft-Schöning sitzt auf
womöglich seien die Uzis schon bei den dem Sofa im Wohnzimmer und erzählt,
Salafisten. Solche Waffendeals kämen häu- sie sei mehrfach bedroht worden. Mal von
figer vor. Aber offiziell aussagen, das wolle Salafisten, mal von Albanern. Manchmal
sie nicht. habe sie nachts merkwürdige Gestalten
Die Story der Journalistin ähnelte der auf ihrem Grundstück gesehen.
von 2015 ziemlich stark, aber skeptisch „Vielleicht“, sagt sie, „liegt das daran,
machte das die Polizei nicht. Die Staats- dass ich immer wieder Hinweise an die
schützer waren wie angefixt. Vielleicht Polizei und den Verfassungsschutz gege-
war ja doch etwas dran, an den Hinweisen ben habe.“ Sie kenne sich gut aus in der
über brisante Waffenkäufe im Salafisten- Szene und vertraue einem Beamten bei
milieu. Und war es nicht ohnehin geboten, der Bremer Polizei besonders. Mit ihm
jeden noch so absonderlich klingenden habe sie oft telefoniert. Das sei losgegan-
Hinweis ernst zu nehmen? Die Bremer un- gen, als sich vor einigen Jahren die Ro-
terrichteten das Gemeinsame Terrorab- ckerbanden Hells Angels und Mongols be-
wehrzentrum von Bund und Ländern in kämpften. Krafft-Schöning sagt, die Füh-
Berlin. Die Ermittlung erhielt den Code- rung des Clans habe von den Kontakten
namen „Theo“. gewusst: „Die Miris waren immer einver-
Und tatsächlich schienen sich die Hin- standen.“
weise diesmal zu verdichten. Schnell fan- Die Waffendeals, sagt Krafft-Schöning,
den die Ermittler den verdächtigen „Ka- habe es sehr wohl gegeben. 2015 und in
mal“, einen bekannten Bremer Salafisten. diesem Jahr. „Es waren dieselben Leute
Der heute 50-jährige Algerier war 1992 beteiligt“, sagt die Journalistin, nur die Sa-
VLH.
nach Deutschland eingereist, hatte mit 21 lafisten seien andere gewesen. Warum wur-
falschen Identitäten hantiert und war unter den dann keine Uzis gefunden? Die Polizei
anderem wegen Passfälschung und Ban- habe eben nicht an den richtigen Stellen
denhehlerei aufgefallen. Die Behörden gesucht.
Wir machen Ihre
hörten die Telefone von „Kamal“ ab. Ir- Alle Beschuldigten bestreiten Waffen-
gendwann rief ein Mann aus Nizza an: käufe. Alaeddine M., gegen den die Staats- Steuererklärung.
„Kamal“ sagte ihm, er solle ein Motorrad anwaltschaft ebenfalls ermittelt, sagte dem
mitbringen. SPIEGEL, die Geschichte sei „Unfug“, es
Die Bremer Ermittler schalteten die fran- habe nie einen Waffendeal gegeben. Der
zösischen Behörden ein. Der Mann aus Polizei erklärte er, sein silberner Mercedes
Nizza, ein Frankoalgerier namens Ataf K., habe 100 000 Euro gekostet. „Daran sehen www.vlh.de
war ebenfalls als Salafist aufgefallen. Er Sie, dass ich kein Krimineller bin. Welcher
betrieb in der südfranzösischen Stadt eine Kriminelle kann sich so ein Auto leisten?“
Shishabar und eine kleine Baufirma. „Kamal“ wurde inzwischen nach Alge-
Am 24. September brachen K. und sein rien abgeschoben. Ataf K. aus Nizza sitzt
Bruder mit einem Transporter an der Côte wegen des mutmaßlich geplanten Über-
d’Azur auf. In Freiburg kontrollierten Strei- falls noch in Haft. Beate Krafft-Schöning
fenbeamte die Franzosen und beschlag- hat ihren Pub geschlossen, ihre Szenekon-
nahmten einen gestohlenen Motorroller im takte will sie weiter pflegen. Hubert Gude
DER SPIEGEL 46 / 2017 55
Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Deutschland

„Ja, ich bin Terrorist“


Islamismus Der Messerattentäter von Hamburg-Barmbek wird wegen Mordes angeklagt.
Vorbild für den Palästinenser war wohl eine ähnliche Attacke in Israel.

A
ls Ahmad A. um 15.09 „Islamischen Staat“ (IS) fanden
Uhr den Edeka-Markt in sie nicht, auch wenn A. sich nach
der Fuhlsbüttler Straße der Tat zu dessen Anführer Abu
betritt, geht er direkt zum Regal Bakr al-Baghdadi bekannte.
mit den Messern. Er reißt eines Reue zeigte der Palästinenser kei-
aus der Packung, Klingenlänge ne, im Gegenteil: Er hätte gern
20 Zentimeter, und stürmt auf noch mehr Menschen umge-
einen Mann zu, der gerade fürs bracht und selbst als Märtyrer
Wochenende einkaufen will. A. sterben wollen, sagte A. bei der
sticht unvermittelt auf den Kun- Vernehmung. Auf den Beleh-
den ein, in die Brust, in den rungsbogen kritzelte er: „Ja, ich
Oberschenkel, in den Bauch. bin Terrorist.“ Dem psychia-
Mathias P., ein 50-jähriger Inge- trischen Gutachter verriet er spä-
nieur, stirbt noch im Laden. ter, er wünschte sich die Todes-
Ahmad A. ist wie im Blut- strafe für sich, aber die gebe es
rausch. Er ruft „Allahu Akbar“, in Deutschland leider nicht.
Gott ist groß, und rammt an der Es bleibt ein Fall mit Fragezei-
Fleischtheke einem weiteren chen. Denn der Mann, der an je-
Mann das Messer zwischen die nem Freitag im Sommer zum
Rippen. Auf der Straße setzt der Messer griff, hat wenig zu tun mit
Palästinenser seine Attacken fort, dem Mann, den Flüchtlingshelfer
er greift scheinbar wahllos Män- im Herbst 2015 kennenlernten,
ner wie Frauen an. Als mehrere als er in die Containersiedlung in
Passanten mit ausländischen Hamburg-Langenhorn zog.
Wurzeln versuchen, ihn aufzu- In Norwegen, Spanien und
halten, ruft er ihnen zu, er habe Schweden war er mit Asylanträ-
es nicht auf sie abgesehen, son- gen gescheitert, seit gut sechs
ZUMA PRESS / ACTION PRESS

dern auf Deutsche und Christen. Jahren irrte er in Europa umher.


Die Männer lassen sich nicht Er hätte nach den geltenden
beeindrucken, sie greifen zu Regeln eigentlich sofort wieder
Stühlen und Stangen, sie werfen nach Skandinavien zurückge-
mit Steinen, um ihn zu stoppen. schickt werden können, aber die
Ein Treffer am Kopf lässt A. be- deutschen Behörden verbummel-
wusstlos zu Boden sacken. Tatort Edeka-Markt am 28. Juli ten die Frist. A. durfte vorerst
Die Messerattacke in Ham- „Beitrag zum Dschihad gegen die Ungläubigen“ bleiben und hoffte nun auf An-
burg-Barmbek am 28. Juli schre- gela Merkels Bundesrepublik.
ckte Deutschland auf. Gerade mal ein hal- tinensers stellten „terroristische Gewaltak- Zunächst schien Ahmad A. bereit, sich
bes Jahr nach dem Anschlag vom Berliner te“ dar, so die Ankläger, er habe seine zu integrieren. Er lud Deutsche ein, kochte
Weihnachtsmarkt war wieder ein junger Messerattacke als „Beitrag zum weltweiten für sie und sang mit ihnen, ging in die Dis-
Mann, der als Asylbewerber nach Deutsch- Dschihad gegen die Ungläubigen“ ver- co, lernte Frauen kennen.
land gekommen war, zum Attentäter ge- standen. Im Heim galt der junge Mann aus Gaza
worden. Nur das Motiv blieb rätselhaft. Als Gutachter beauftragten die Bundes- als hilfsbereit, er übersetzte für andere
Der Hamburger Innensenator Andy anwälte den renommierten forensischen Bewohner. In einem Videointerview mit
Grote (SPD) sprach von einer Mischung Psychiater Norbert Leygraf aus Essen. Er Asylaktivisten sagte er: „Ich glaube an
aus „psychischer Problematik und einer konnte an mehreren Tagen mit Ahmad A. Werte, an gute Werte. Ich hoffe auf Frie-
islamistischen Radikalisierung“. Bekannte in der Untersuchungshaft sprechen. Ley- den, und ich hasse niemanden“ (SPIEGEL
meldeten sich zu Wort: Ahmad A. sei „ko- grafs vorläufige Einschätzung: A. sei zum 32/2017).
misch im Kopf“ gewesen. Mal trank er und Zeitpunkt der Tat wohl weder vermindert Doch spätestens im Jahr 2016, so glau-
kiffte, dann war er plötzlich strenggläubig, schuldfähig oder gar schuldunfähig gewe- ben die Ermittler, fing Ahmad A. an, sich
hielt wirre Reden und wurde aggressiv. sen, eine Psychose schließe er aus. A. mit dem Dschihad zu beschäftigen. Er
Tötete hier ein religiös motivierter Ter- konnte demnach erkennen, was Recht und verfolgte die Propaganda des „Islami-
rorist? Oder ein geistig Unzurechnungs- was Unrecht war. schen Staats“, schaute sich Fotos von
fähiger? Bleibt es bei dieser Bewertung, droht A. Hinrichtungen an und hängte in seinem
Gut drei Monate nach der Tat hat die eine lebenslange Gefängnisstrafe. Der Pro- Zimmer eine kleine selbst gebastelte
Bundesanwaltschaft in Karlsruhe nun An- zess gegen ihn wird voraussichtlich im Ja- Fahne auf, die der des IS ähnelte. Er
klage gegen Ahmad A. erhoben. Die obers- nuar vor dem Hanseatischen Oberlandes- begann gelbe Zettel an die Wand zu kle-
ten Strafverfolger Deutschlands werfen gericht beginnen. ben mit den 99 schönsten Namen Gottes.
dem 26-Jährigen Mord sowie sechsfachen Die Ermittler halten Ahmad A. für einen In einem Notizbuch befasste er sich mit
versuchten Mord vor. Die Taten des Paläs- Einzeltäter. Direkte Verbindungen zum dem Märtyrertod.
56 DER SPIEGEL 46 / 2017
In langen Gesprächen nen dringenden Hand- in Jerusalem, der in jenen Tagen blutig es-
hat Ahmad A. dem psychi- lungsbedarf. Es sei weder kaliert. Es ist wohl der letzte Auslöser für
atrischen Gutachter Ley- eine akute Gefährdung seine Tat.
graf Einblicke in die Gene- noch eine Straftat ersicht- Am Tag, bevor er im Supermarkt zu-

RUEDIGER GAERTNER / RUEGA


se seiner Radikalisierung lich, vermerkte eine Beam- sticht, ist er wieder im Netz unterwegs. Er
ermöglicht. Die verlief of- tin Ende Januar. Ahmad A. liest auf der Seite des arabischen Senders
fenbar in mehreren, immer schien sich wieder beruhigt Al Jazeera einen Text über einen palästi-
heftigeren Schüben. zu haben, doch der Ein- nensischen Attentäter, der als Vergeltung
Im Frühjahr 2016 habe druck täuschte. Im Internet für die zeitweise Abriegelung der Aksa-
er festgestellt, dass sein bis- beschäftigte er sich weiter Moschee drei Israelis mit einem Messer
heriges Leben falsch gewe- Angeklagter Ahmad A. mit islamistischer Propa- erstach.
sen sei, berichtete A. Er „Komisch im Kopf“ ganda, wie die Ermittler Am nächsten Morgen wirkt A. zunächst
habe zum ersten Mal rich- später herausfanden. unauffällig. Er besucht einen Sprachkurs
tig den Koran gelesen und sich wie neuge- Ahmad A.s Hass steigerte sich womög- in der Nähe der Alster, danach geht er zur
boren gefühlt. Von da an habe er die Men- lich auch deshalb, weil ihm eine Rückkehr Ausländerbehörde. Dort wiederholt er,
schen um sich herum in Gläubige und Un- in den Gazastreifen verwehrt wurde. Nach- dass er so schnell wie möglich nach Gaza
gläubige eingeteilt. dem Deutschland seinen Asylantrag abge- ausreisen wolle, doch die Dokumente
Die plötzliche Veränderung fiel auch sei- lehnt hatte, wollte er zurück in die alte fehlen immer noch.
nen Freunden auf. Ohne erkennbaren An- Heimat, zu seiner Familie. Doch die paläs- Am frühen Nachmittag nimmt A. am
lass weinte A. stundenlang. Im April mel- tinensischen Behörden stellten ihm die nö- Freitagsgebet in einer Moschee in Barm-
dete sich erstmals ein Kurde bei der Polizei: tigen Papiere nicht aus. Und so steckte A. bek teil. Das Thema, ausgerechnet: der
Er berichtete, dass sein Bekannter A. auf- in einem Land fest, das ihn nicht wollte, Konflikt um den Tempelberg. Obwohl der
gehört habe, Alkohol zu trinken und Can- ihn aber auch nicht loswurde. Ein Land, Imam alles andere als eine aufwiegelnde
nabis zu rauchen, und sich nun offen zum das er inzwischen für ein „Land des Un- Predigt hält, scheint sich A. nun entschie-
IS bekenne. Doch der Hinweis versickerte glaubens“ hielt, wie er es nach seiner Fest- den zu haben: Er will heute zum Attentä-
zunächst monatelang im Behördenapparat, nahme formulierte. ter werden. Als er kurz vor 15 Uhr den
wegen einer Namensverwechslung. Im Juli 2017 kapselt sich Ahmad A. ab Edeka-Markt betritt, kauft er zunächst nur
Die erste radikale Phase hielt bei Ah- und meidet den Kontakt zu anderen Men- Toastbrot und verlässt das Geschäft wieder.
mad A. nur wenige Monate an, zu verlo- schen. Seine alten Freunde sind für ihn Er zögert. Zwölf Minuten später stürmt er
ckend waren offenbar die Drogen, der Al- nur noch „Hunde“. Über das Internet ver- in den Laden zurück.
kohol, die Frauen. Doch im Herbst 2016 folgt er den Konflikt um den Tempelberg Wolf Wiedmann-Schmidt
schlug das Pendel wieder in die andere
Richtung.
Ahmad A. tauchte in einem langen Ge- DasErste.de
wand im Flüchtlingscafé an der Hamburger
Universität auf, wo er lange Zeit ein gern
gesehener Gast war. Er verlas einen selbst
verfassten Text aus seinem Notizbuch, wo-
nach die Muslime weltweit unterdrückt
würden. Daran sei auch Deutschland
schuld. „Wie könnt ihr alle glücklich zu-
sammensitzen“, soll er gerufen haben,
„der Terror wird auch zu euch kommen.“
Die Café-Besucher reagierten entsetzt.
In der Untersuchungshaft erzählte Ah-
mad A. dem Sachverständigen, er habe
sich absichtlich auffällig gekleidet und Leu-
te provoziert. Er habe Angst und Panik
verbreiten wollen, damit die Deutschen
spürten, wie es den Muslimen in vielen
Ländern erginge. Zum Töten sei er damals
noch nicht entschlossen gewesen.
Ende November lehnte das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge Ahmad A.s
Asylantrag ab. Kurz danach sprachen
Hamburger Beamte erneut mit seinem Be-
kannten, dem Kurden, der schon Monate
zuvor vor ihm gewarnt hatte. Er berichtete,
A. sei in schlechter Verfassung, er sei trau-
rig und sehe „scheiße“ aus. Der Heimleiter
meldete der Polizei, dass der Palästinenser
nachts durch die Unterkunft laufe und wild
gegen die Türen trommle.
MONTAG 13. NOVEMBER
Anfang 2017 empfahl der Verfassungs- 22∶45 Uhr
schutz, der seit Monaten in den Fall einge-
bunden war, den sozialpsychiatrischen
Dienst einzuschalten. Die Polizei sah kei-
DER SPIEGEL 46 / 2017 57
Q UELLE: BMEL
Früher war alles schlechter
Nº 98: Gemüsekonsum

Wirtschaftsjahr 1960 / 61:


Ein Einwohner Deutschlands verzehrte
48,8 Kilogramm Gemüse.
2015/ 16:
93,8 Kilogramm

Wachsender Gemüsehunger. Deutsche gelten als Fleisch-Fetischis- Zucchini und Auberginen im Supermarktregal, auch im
ten, für ihre Brokkoli-Liebe waren sie bisher kaum bekannt. Dezember. Im globalen Vergleich aber zeigt sich, dass Russen,
Was ungerecht ist, denn die Deutschen wachsen zu einer Ge- Marokkaner, auch Chinesen einen noch höheren Gemüse-
müsenation heran: Seit 1960 hat sich der jährliche Pro-Kopf- verbrauch haben. Im Tschad dagegen, wo das Nationalgericht
Konsum beinahe verdoppelt, auf 93,8 Kilogramm. Die Tomate aus einem Hirsekloß mit Soße besteht, gibt es am wenigsten
ist mit 26,2 Kilo pro Kopf das Königsgemüse, gefolgt von Möh- Grünes auf dem Speiseplan: Gemüse ist in einigen afrikani-
ren und Zwiebeln. Neben wachsendem Gesundheitsbewusst- schen Ländern Mangelware, schlecht anzubauen, nicht selten
sein hat der neue Gemüsehunger vor allem technische Grün- importiert und teuer. Da erscheint die Empfehlung der Deut-
de. Gemüse ist ein hochverderbliches Lebensmittel, und die schen Gesellschaft für Ernährung beinahe luxuriös: 400 Gramm
Möglichkeiten der Lagerung haben sich stark verbessert. Auch Gemüse am Tag senkten das Risiko für Krebs und Herz-Kreis-
war der Konsum früher saisonalen Schwankungen unterlegen lauf-Krankheiten. Den Deutschen fehlen demnach nur noch
und das Angebot übersichtlich. Heute liegen dank Welthandel rund 140 Gramm zum Glück. dialika.neufeld@spiegel.de

Internet erfahrung abfragt, dafür ande- Wahrscheinlichkeit, mit der


Ist Google rassistisch, Frau Jaume-Palasí? re Kriterien weglässt, wird das Personen wieder kriminell wer-
Frauen diskriminieren, weil sie den – und diskriminierte dabei
Lorena Jaume-Palasí, 38, SPIEGEL: Warum haben Algo- weniger Führungserfahrung Afroamerikaner.
Philosophin und Gründerin von rithmen Vorurteile? haben. Ein anderes Beispiel: In SPIEGEL: Merken User über-
AlgorithmWatch, über Dis- Jaume-Palasí: Der Algorithmus den USA gab es ein Programm, haupt, dass sie diskriminiert
kriminierung durch Programme übernimmt Vorurteile der Ge- das entscheiden sollte, wer auf werden?
sellschaft. Er gibt sie wieder, Bewährung freikommt. Der Jaume-Palasí: Den meisten ist
SPIEGEL: Gibt man bei Google wie ein Kind, das spiegelt, Algorithmus berechnete die das nicht bewusst. Als
„Flüchtlinge müssen“ ein, er- was es zu Hause gelernt User hat man das Ge-
scheinen folgende Suchvor- hat. Das andere Risiko fühl, dass man online
schläge: „zurück“, „raus“, liegt beim Entwickler: Al- eine individuelle Er-
„Geld abgeben“. Ist der Algo- gorithmen sind eine Spra- fahrung macht, auf Face-
rithmus ein Rassist? che, und diese wird von book, bei Google oder
Jaume-Palasí: Was der Algo- Menschen entwickelt, die, Ebay, aber in Wirklich-
rithmus von Google macht, bewusst oder unbewusst, keit werden die Men-
ist, uns einen Spiegel vorzu- ihre Weltsicht in das Pro- schen einem Kollektiv
halten. Die Daten, die da gramm hineinschreiben. zugeordnet, in ein
entstehen, sind Daten, die die SPIEGEL: Wie werden Men- Profil gesteckt, das
Gesellschaft vorgibt. Man schen durch Algorithmen manchmal nicht zu ih-
sieht an den Vorschlägen, benachteiligt? nen passt. Algorithmen
dass Menschen diese Gedan- Jaume-Palasí: Wenn ein Un- kennen keine Indivi-
ken haben und häufig nach ternehmen in einem Bewer- duen. Und sie sind nie-
solchen Ergebnissen suchen. bungsverfahren Führungs- mals neutral. dne

58 DER SPIEGEL 46 / 2017


Gesellschaft
sechs Wochen später hin. Er nahm eine Kamera an einem
Der Hütchenmann Kabel in den Mund und schaute auf einem Monitor zu,
wie die Kamera in seiner Luftröhre nach unten rutschte.
Der Arzt sagte, er sehe da etwas, aber sein Instrument sei
Eine Meldung und ihre Geschichte Wie ein zu kurz. Baxter dachte, wenn der Verdacht auf ein Lun-
genkarzinom bestünde, würde ihm ein Arzt sagen, da be-
Engländer 40 Jahre mit einem stehe der Verdacht auf ein Lungenkarzinom. Baxter mach-
Spielzeug in der Lunge überlebte te einen neuen Termin, kam vier Wochen später wieder
und schaute sich ein zweites Mal an, wie der Arzt eine

D
as erste Mal, als seine Lunge rasselte, war Paul Kamera in seinen Hals schob. Dieses Mal war das Instru-
Baxter 18 Jahre alt, er hustete, und es fühlte sich ment lang genug.
an, als würde ihm jemand in die Flanke stechen. „Es ist orangefarben“, sagte der Arzt, dann begann er
Ein Arzt nahm eine Spritze, die an einem Schlauch hing zu lachen. Baxter wollte mitlachen, was schwierig war,
und die in Baxters Erinnerung einem Degen ähnelt, bohrte weil ein Kabel in seiner Luftröhre steckte.
sie durch sein Rippenfell und ließ die austretende Flüssig- Er sah auf dem Monitor zu, als der Arzt ihm etwas aus
keit in einen Eimer laufen. „Wie Rotwein“, sagt Baxter. der Lunge operierte. Ein Verkehrshütchen. Orangefarben
Das zweite Mal, vor 13 Jahren, hatte sich Baxter beim an der Kante, am Zylinder schwarz vom Zigarettenrauch.
Briefeaustragen einen scheppernden Husten gefangen. Baxter hatte das Hütchen 40 Jahre zuvor schon mal gese-
Eines Morgens lag er im Bett und brabbelte wirr. Im Kran- hen, als er als Siebenjähriger mit seiner Plastik-Polizeista-
kenhaus behandelten ihn die Ärzte, als hätte er eine Hirn- tion der Firma Matchbox spielte. Er habe damals, sagt
hautentzündung, und merkten nach drei Tagen, dass er Baxter, gern Spielzeug gegessen. Er habe zum Beispiel
eigentlich einen Schlaganfall erlitten hatte, weil der Infekt alle Räder seiner Autos abgenagt, weil er das lustig fand.
aus seiner Lunge aufs Hirn ge- Nicht wegen des Geschmacks,
sprungen war. sagt er. Beim Versuch, das Hüt-
Paul Baxter und seine Frau chen zu verspeisen, muss er es
Hellen lachen, als sie das er- eingeatmet haben.
zählen. „Was passiert, pas- Der Arzt bat Paul Baxter,
siert“, sagt Hellen Baxter, und die Geschichte aufschreiben
als sie das sagt, lächelt ihr zu dürfen. Diesen Herbst er-
Mann und nickt, als sei das ein schien der Text in der Ärzte-
schlauer Satz. Baxter streichelt zeitung, und Paul Baxter wur-
die Ohren seines Pudels und de berühmt. Er ist jetzt der
hustet ein wenig, bevor er sei- Hütchenmann.
ne Geschichte erzählt. Man Es ist eine seltsame Welt, in
hört diesen Husten und ahnt, der ein Mensch Ruhm erlangt,
dass er viel und gern raucht. weil er ein Spielzeug einatmet.
Paul Baxter, 50, Postbote, Baxter, Röntgenaufnahme seiner Lunge Banal, könnte man sagen.
Dauerbewohner eines Wohn- Aber wer sich zu Paul Baxter
wagens außerhalb Manches- in den Wohnwagen des Typs
ters in England, hat eine er- „Senator“ setzt und ihm zu-
staunlich ruhige Art, von sei- hört, begreift die Leistung
nem Leiden zu sprechen. dieses Mannes: Er ist arm, oft
Das dritte Mal kam der Hus- krank, aber er macht weiter.
ten vor drei Jahren. Die Ärztin Er lebt. Die Stoiker haben eine
legte ein Stethoskop an Bax- Von der Website 20min.ch ganze Philosophie darauf ge-
ters Rücken und horchte. Sie gründet, auf diese Art dem
ließ seine Lunge röntgen, sah eine Verschattung und sagte: Schicksal zu trotzen. Monty Python haben ein Lied da-
„Das gefällt mir nicht.“ Sie riet Baxter, ins Krankenhaus rüber geschrieben, eine Zeile lautet: „Life’s a piece of shit
zu fahren. when you look at it (…) always look on the bright side of
Die Familie der Baxters ist nicht mit Gesundheit geseg- life.“ Hellen Baxter sagt es so: „Die Zeit tickt, während
net. Pauls Mutter starb jung an Leukämie, Hellens Vater du dich sorgst, deshalb kannst du sie genauso gut zum
starb jung an einem Hirntumor. Viele Menschen hätten Leben nutzen.“
sich an Baxters Stelle gefürchtet vor Verschattungen. Paul Baxter raucht weiter, trinkt weiter Ale, grillt weiter
Man könnte sich Paul Baxter anschauen, mit seinen ka- auf Holzkohle, verteilt seine Briefe, sagt Hellen jeden Tag,
riösen Zähnen und den nikotingelben Fingern. Man könn- dass er sie liebt, er gibt sein Geld aus, wenn was da ist.
te sich seine Frau Hellen anschauen, die einen Arbeiter- Am Dienstag vor einer Woche sind Hellen und Paul
akzent hat und während des Gesprächs „Bubble Tetris“ Baxter von einer Kreuzfahrt heimgekehrt. Sie waren von
auf ihrem iPad spielt. Man könnte sich den Wohnwagen Kopenhagen nach Miami geschippert, das Geld dafür hat-
anschauen, der nach Duftbaum, Variante „Bali“, riecht, ten sie gespart. Als die Baxters die Bermudas erreichten,
man könnte den dreckigen Teppich betrachten, den halb morgens um sieben, stellten sich die beiden aufs Oberdeck.
irren Pudel Eric oder den Megafernseher. Und man könnte Sie schauten ins türkisfarbene Wasser und auf die alten
denken, das sind Leute, die es nicht weit gebracht haben Häuser am Kai und waren glücklich. Die Sonne ging ge-
und die, weil sie filterlos rauchen, viel Bier trinken und rade auf.
Grillfleisch essen, jung sterben werden. „Komm“, sagte Hellen an diesem Morgen zu ihrem
Paul Baxter sorgte sich nicht weiter um die Verschattung, Paul, „lass uns von diesem Schiff runter, lass uns was ent-
machte entspannt einen Termin im Krankenhaus und fuhr decken gehen.“ Takis Würger

DER SPIEGEL 46 / 2017 59


Die Stimmen der Frau
Jahrestage Donald Trump, vor einem Jahr zum US-Präsidenten berufen, regiert nach
dem Motto: Make America Male Again. Wie leben die Amerikanerinnen
mit dem Mann, den sie gewählt haben? Fünf Frauen erzählen. Von Maren Keller
Liebe Hillary Clinton, mühelos geschlagen. Doch während Oba- Laura Loomer, eine rechtskonservative
ich heiße Lily Bo Holu. Ich bin 9 Jahre alt. ma 95 Prozent der schwarzen Wähler 2008 Pro-Trump-Aktivistin in New York, die je-
Ich habe erfahren, dass du auch antrittst. für sich gewann, stimmten nur 54 Prozent den Feminismus als linke Lüge versteht.
Und zuerst habe ich lauter Girlpower in der Frauen für Clinton. Schlecht schnitt Da ist Kate Schatz, eine kalifornische Best-
mir gespürt, aber dann träumte ich nachts, Clinton bei jenen Frauen ab, die ihr am sellerautorin, die, seit Trump an der Macht
dass Trump gewonnen hat. In meinem ähnlichsten sind: den weißen und den ver- ist, ihre ganze Nachbarschaft politisiert.
schrecklichen Traum tötete er alle Mäd- heirateten. Es war eine der unglaublichsten
Und da ist Krista Suh, die Erfinderin
chen auf der ganzen Welt und versklavte Zahlen der Nachwahlanalysen vor einem
der Muschimütze.
alle Tiere. Das war der Moment, in dem Jahr: Während 94 Prozent der schwarzen
ich beschloss, allen Leuten klarzumachen, Frauen Clinton ihre Stimme gaben, hatte Der weibliche Widerstand nach Trumps
dass Mädchen regieren können. Wir sind eine Mehrheit von 52 Prozent der weißen überraschendem Sieg formierte sich rasch
mächtig. Du kannst den Leuten das be- Amerikanerinnen – für Trump gestimmt. und gewaltig. Es kam am Tag nach dessen
weisen. Deswegen stimmen ich und meine Für Trump, den Chauvinisten, den Grap- Amtseinführung, am 21. Januar 2017, zur
Mama und mein Papa für dich. scher, den Frauenfeind. „vielleicht größten Protestaktion der ame-
Liebe Grüße In den Wochen nach der Wahl, so rikanischen Geschichte“, wie das „Time“-
Lily Bo schreibt Clinton, seien viele Frauen mit Magazin schätzte, und der Protest war
schlechtem Gewissen auf sie zugekommen, weiblich. In Washington und in nicht we-

E
s sind 15 Monate vergangen, seitdem auf der Straße, im Theater, bei Auftritten. niger als 400 weiteren Orten des Landes
die kleine Lily Bo diesen Brief an „Einmal kam eine ältere Dame zu mir, sie waren insgesamt mehr als drei Millionen
Hillary Clinton geschrieben hat, hatte ihre erwachsene Tochter im Schlepp- Menschen, mehrheitlich Frauen, zum „Wo-
während des US-Wahlkampfs, und ein Teil tau und nötigte diese, sich bei mir dafür men’s March“ angetreten, dem Marsch der
ihres Albtraums ist danach Wirklichkeit zu entschuldigen, dass sie der Wahl fern- Frauen gegen Trump. Die oppositionelle
geworden: Donald Trump ist Präsident der geblieben war. Das tat die Tochter auch, Kraft, die sich hier zeigte, so glaubten da-
Vereinigten Staaten, vergangene Woche, mit schamvoll gesenktem Haupt. Ich hätte mals viele, könnte ein ähnliches Potenzial
am 8. November, jährte sich der Tag seiner ihr gern gesagt: ‚Wie, Sie haben nicht ge- entwickeln wie einige Jahre zuvor auf der
Wahl. Die Stimmen von Lilys Eltern und wählt? Wie konnten Sie das tun? Sie haben anderen Seite des politischen Spektrums
die Stimmen der Frauen, auf die das Mäd- Ihre Bürgerpflicht zum schlimmstmög- die erzkonservative Tea-Party-Bewegung.
chen gehofft hat, haben nicht gereicht, das lichen Zeitpunkt vernachlässigt! Und jetzt Und in diesen Frauenmassen auf den Stra-
zu verhindern. wollen Sie, dass ich dafür sorge, dass Sie ßen sah man Tausende Köpfe, die mit
Und so blieb der weiße Anzug der Sie- sich besser fühlen?‘ Natürlich habe ich einer pinkfarbenen Strickmütze bedeckt
gerin, den Hillary Clinton in der Wahl- nichts von alldem gesagt.“ Nur 63 Prozent waren: dem Pussyhat, der bald auf dem
nacht hätte tragen wollen, im Schrank, wie der wahlberechtigten Frauen waren zur Cover der „Time“ landete und zum Sym-
sie jetzt in ihrem Buch „What happened“ Urne gegangen, ein niedrigerer Wert als bol des weiblichen Kampfs gegen den
verriet, in dem sie im Detail nacherzählt, bei den drei Präsidentschaftswahlen davor. Mann im Weißen Haus wurde.
„was passiert ist“, wie es zu ihrer Nieder- Ein Jahr seit Trump also. Als Krista Suh, 30, eine zierliche Kali-
lage kam. Weiß, als Tribut an die Suffra- Ja, was ist passiert, seitdem? Wie ist es fornierin mit asiatischen Wurzeln, nach
getten-Bewegung, die den US-Frauen vor den Frauen Amerikas ergangen mit dem der Wahl zum ersten Mal vom geplanten
langer Zeit zum Stimmrecht verhalf, weiß, Mann, den sie gewählt haben? Wie lebt es Women’s March hörte, wusste sie sofort:
als Reverenz an das Weiße Haus, weiß, als sich als Frau im Lande Trump? Es gibt un- „Da muss ich hin.“ Und genauso sofort be-
Zeichen des Triumphs der Frau. Stattdes- gefähr 160 Millionen Frauen in den Ver- gann sie darüber nachzudenken, was sie
sen trug Hillary Clinton in den Stunden einigten Staaten, und natürlich sind das an diesem Tag tragen könnte. Sie steht
nach der Wahl Dunkelgrau und Lila. 160 Millionen verschiedene Geschichten jetzt im Wohnzimmer eines sandsteinfar-
Die Frauen in den USA hatten vor einem und politische Überzeugungen und Ideen. benen Häuschens in einer hügeligen Land-
Jahr Gelegenheit, Geschichte zu schreiben. Der SPIEGEL ist deshalb durch die USA schaft außerhalb von Los Angeles, ihre
Sie hätten erstmals eine Frau zur Präsiden- gereist, um mit ein paar dieser Frauen zu schwarzen Haare reichen ihr bis zur Taille
tin ihres Landes machen, erstmals eine Frau reden, in Kalifornien, in Texas, in Ohio, und auf ihren Turnschuhen wackeln bei je-
in das mächtigste politische Amt der Welt in New York. Mit Frauen, die Trump ver- dem Schritt zwei pinkfarbene Glitzerpom-
wählen können. Aber sie wollten nicht. achten und mit Frauen, die ihn verehren. pons hin und her. Sie sagt: „Kurz habe ich
Viele hatten damals die Hoffnung, dass Mit Frauen, die jetzt nach Auswegen su- mit dem Gedanken gespielt, nackt zu ge-
Clinton die Frauen auf ähnliche Weise mit- chen, und mit Frauen, die ihr Land endlich hen.“ Aber dann fiel ihr ein, dass die Idee
reißen könnte wie Barack Obama acht Jah- wieder auf dem richtigen Pfad wähnen. sich unter der kalifornischen Sonne wohl
re davor die Schwarzen. Und wenn ihr das Da ist zum Beispiel die ehemalige Miss besser anfühlt als bei einer Demonstration
gelungen wäre, wenn die Frauen ihr bei- Texas Dena Miller, Vorsitzende der „Trum- im Januar in Washington. In Washington,
gestanden hätten, wenn sie ihrem Slogan pettes Global“. Da ist Dianne Schubeck, im Winter, wäre eine Mütze gut.
„I’m with her“ („Ich bin für sie“) gefolgt eine Frauenärztin in Ohio, die das alles Ihre Idee hatte Pop, und sie hatte eine
wären, hätte Clinton Trump deutlich und nicht für möglich gehalten hätte. Da ist aggressive Ironie. Pink, die lieblich-harm-
60 DER SPIEGEL 46 / 2017
Gesellschaft

ALLISON V. SMITH / DER SPIEGEL

Trump-Bewunderin Miller: „Kurse in Weiblichkeit“

DER SPIEGEL 46 / 2017 61


lose Barbie-Prinzessinnen-Mädchen-Farbe,
umgedeutet zum Kampfsignal. Pussy, weil
Trump sich bekanntlich und unfassbarer-
weise damit brüstete, den Frauen an eben-
diese fassen zu dürfen, wenn ihm danach
sei. Und da Pussy im Englischen nicht nur
das Slangwort für das weibliche Ge-
schlechtsorgan ist, sondern auch „Kätz-
chen“ bedeutet, erhielt Suhs rosarote Müt-
ze Katzenohren obendrauf. Dass der Pus-
syhat gestrickt ist, passt auch, weil Stricken
als urweibliche Kulturtechnik gilt und zum
Klischee eines konservativen Hausfrauen-
daseins gehört. Die Muschimütze aber kün-
digte nun eine Art Strickaufstand der Frau-
en an – Idee und Strickmuster verbreiteten
sich über Social Media rasend schnell. Der
Widerstand gegen Trump, so sah es damals
aus, würde weiblich sein, oder er würde
nicht sein.
Krista Suh bezeichnet sich als „Ambas-
sador of Fun and the Feminine“, als Bot-
schafterin für Spaß und die Sache der Frau –
nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Auf
ihrer Website läuft ein Countdown unter
dem entschlossenen Motto „Holen wir uns
das Kongresshaus zurück!“, der die Wochen,
Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis
zu den US-Kongresswahlen am 6. Novem-
ber 2018 herunterzählt, der Stunde der

SERGE HOELTSCHI / DER SPIEGEL


Wahrheit für Trump und die Republikaner.
Und für die amerikanischen Anti-Trump-
Frauen. Erst die sogenannten Midterm-
Elections werden zeigen, wie nachhaltig die
Kraft dieser neuen, bunten, vielgestaltigen
Frauenbewegung ist. Krista Suhs Count-
down steht gerade bei 51 Wochen, 5 Tagen,
16 Stunden, 3 Minuten und 40 Sekunden. Pussyhat-Erfinderin Suh: Botschafterin für Spaß und die Sache der Frau
Und was macht eine Feminismusbot-
schafterin den ganzen Tag? Heute arbeitet
Suh mit einer Freundin an ihrem Projekt manche Frauen, wie Trumps Pressespre- sie irgendwie auch. Und sie haben, wie es
„100 Bücher“. Über Instagram und andere cherin Sarah Huckabee Sanders oder seine in einem Trumpettes-Slogan heißt, „eine
Kanäle ruft sie ihre Follower dazu auf, Beraterin Kellyanne Conway, wurden gar Trompete erschallen“ hören in ihrem Land,
100 Bücher von Frauen und von Farbigen zu wichtigen Wortführerinnen seiner „für diesen Mann, für diese Mission, für
zu lesen. Um so etwas zu promoten, Agenda. Unter seinen Unterstützerinnen diese Bewegung, um Amerika wieder groß-
braucht man erst einmal hübsche Fotos sind Frauen, die sein Verhalten gegenüber artig zu machen“.
dieser Bücher, und deswegen liegt da jetzt, Frauen nicht mögen, aber sich sehr für die „Fieses Wetter heute“, sagt Dena Miller,
zum Beispiel, ein Buch von Hannah Deregulierung der Finanzmärkte interes- 54, Vorsitzende der Trumpettes in Texas,
Arendt auf dem Gehweg vor dem Haus, sieren. Und es sind Frauen darunter, die als sie in pastellfarben karierten Gummi-
adrett arrangiert zwischen Mangas und Trumps Stil keineswegs als anstößig emp- stiefeln über das Gelände des Poloklubs
Konfetti, und wird abgelichtet. „Was wir finden. in Oak Point im Norden von Texas spa-
machen, ist eine Lifestyle-Revolution“, ziert, das an diesem Tag ein einziges
So wie Dena Miller.
sagt Suh. Sie möchte die Lebensgewohn- Schlammfeld ist. Hier soll am Wochenende
heiten junger Frauen so beeinflussen, dass Das Erkennungszeichen der „Trumpettes“, eines der Pro-Trump-Wohltätigkeitsturnie-
diese irgendwann Instagram-Fotos von eines Klubs vermögender Trump-Unter- re stattfinden, die sie organisiert, aber alles
Hannah Arendt so selbstverständlich be- stützerinnen, zu denen sich Miller zählt, auf der Veranda ist durchnässt und schmut-
trachten wie jene von Beyoncé. sind zwei aneinandergelegte Finger, die zig, Tische, Stühle, der Boden. Miller hebt
Suhs 100-Bücher-Aktion, ihre Mütze, zusammen ein „T“ formen, T wie Trump, ihr strassbesetztes Handy ans Ohr, um ih-
das sind zarte Blüten einer nirgends zen- und nicht selten sind diese Finger sorgfältig ren Mann anzurufen, damit der den Haus-
tral organisierten Bewegung, die sich mal manikürt und mit Diamantringen ge- meister schickt.
„The Resistance“ nennt, Widerstand, mal schmückt. Die Trumpettes-Frauen haben Sie sagt: „Man muss den Männern im-
„Indivisible“, unteilbar, und deren bekann- ökonomisch und kulturell mit den „angry mer das Gefühl geben, sie zu brauchen.“
teste Gesichter die Politaktivistin Linda white men“, den frustrierten weißen Män- Nicht nur dem Hausmeister oder dem Ehe-
Sarsour oder die Abgeordnete Maxine Wa- nern in den Rust-Belt-Staaten des ameri- mann, allen Männern. Auch wenn es gar
ters sind. Aber natürlich wollen sich bei kanischen Nordostens, mit denen zusam- nicht so ist.
Weitem nicht alle Amerikanerinnen ihren men sie Trump zum Präsidenten gemacht Frauen und Männer seien zutiefst unter-
Lebensstil revolutionieren lassen, und haben, nichts gemein. Aber wütend sind schiedlich, sagt Miller, und fast alles Übel
62 DER SPIEGEL 46 / 2017
Gesellschaft

komme daher, dass Frauen das Gleiche Demnach erhalten internationale Hilfs- dem, dass es keineswegs nur junge Frauen
machen wollten wie Männer. Das schönste organisationen keine Fördergelder mehr, sind, die aufbegehren, eher im Gegenteil:
Kompliment, das ihr Mann ihr je gemacht wenn sie Schwangerschaftsabbrüche 50 Prozent gehören der Gruppe der 46- bis
habe, war dieses: „Du bist die weiblichste anbieten oder sich befürwortend dazu 65-Jährigen an.
Frau, die ich jemals getroffen habe. Du äußern.
So wie Dianne Schubeck.
solltest Kurse in Weiblichkeit geben.“ Und ‣ Im April strich Trump Zuschüsse für den
wenn man sie dann fragt, was sie in diesen Bevölkerungsfonds der Vereinten Natio- Schubeck, Gynäkologin, ist 59 Jahre alt
Kursen unterrichten würde, dann sagt sie, nen, der sich weltweit unter anderem und lebt in Ohio zwischen Feldern und
dass eine weibliche Frau sich pflegen und für Familienplanung und Empfängnis- Bäumen am Rand eines kleinen Dorfes na-
auf ihr Äußeres achtgeben solle. Vor allem verhütung einsetzt. mens Garrettsville. Jeden Morgen steigt
aber solle sie ihrem Mann „das Gefühl ge- ‣ Im Juni wurde öffentlich, dass Trump sie in ihr Auto und fährt zum nächsten
ben, auf ihn angewiesen zu sein“. einen Gleichstellungsrat, den „White Krankenhaus, ihrem Arbeitsplatz. „Mein
Es fällt etwas leichter, Dena Miller zu House Council on Women and Girls“, Job“, sagt sie, „ist mein Beitrag dazu, das
verstehen, wenn man weiß, wie sie aufge- abschaffen will. Leben von Frauen besser zu machen.“ Es
wachsen ist. In einer armen Familie, in ‣ Im August unterband Trump eine Maß- sieht nur so aus, als würde das allein nicht
einer armen Gegend von Mississippi. Sie nahme für mehr Lohngerechtigkeit zwi- mehr ausreichen.
war White Trash, jetzt ist sie weiße Ober- schen Geschlechtern und Ethnien. Sie war nicht auf dem Marsch der Frau-
schicht. Der Vater hat die Essensmarken ‣ Im September nahm die Regierung eine en, weil sie das Gefühl hat, in ihrem Leben
für seine Spielsucht verbraucht. Weil es in Richtlinie für den Umgang von Hoch- schon auf genug Demonstrationen gewe-
ihrem Leben so war, glaubt Miller, dass schulen mit sexuellem Missbrauch zu- sen zu sein. Sie hat, wie die meisten Ame-
das staatliche Sozialsystem nicht funktio- rück, weil sie ihr zu opferfreundlich er- rikanerinnen, keine Zeit, den ganzen Tag
nieren kann. Und weil Miller dann nach schien. die politischen Diskussionen auf Twitter
Texas zog und enge Oberteile trug und ‣ Im Oktober weichte Trump eine Rege- oder Facebook zu lesen. Schubeck ist kein
kellnern ging und von einem Bauunterneh- lung Obamas auf, die vorsah, dass die aktiver Teil des Widerstands, und sie weiß
mer angesprochen und erwählt wurde, Kosten für Verhütungsmittel wie die Pil- auch nicht so recht, wie sie die Muschi-
glaubt sie, dass auch das Land nur von le von der Krankenkasse übernommen mützen finden soll – immerhin hat sie ihr
einem reichen Mann gerettet werden kön- werden. Berufsleben auch damit verbracht, Frauen
ne. Einem Mann wie Trump. Es gibt also reichlich Gründe für einen beizubringen, ohne Scham und sachlich
„Eigentlich habe ich mich nie für Politik Aufstand der Frauen – und ein beliebtes korrekt über den eigenen Körper zu spre-
interessiert“, sagt Dena Miller. Und auch Mittel des Protests ist das Telefon. Platt- chen. Vulva. Klitoris. Vagina.
wenn sie jetzt gern hymnische Trump- formen wie DailyAction.org rufen die US- Sie kann das bloß einfach alles nicht fas-
News in den sozialen Netzwerken weiter- Bürger dazu auf, ihre gewählten Abgeord- sen, was jetzt passiert: die Rückschritte für
verbreitet – Mehr Jobs dank Trump! Börse neten anzurufen, um Druck auszuüben, die Frauen, diesen Dinosaurier in Washing-
auf Rekordhoch dank Trump! –, bekommt um sich über Maßnahmen wie die oben ton, als hätte es die Emanzipation nie ge-
man doch das Gefühl, dass sich das nicht aufgeführten zu beschweren oder sie zu geben. Sie hat in den Siebzigern und Acht-
geändert hat. Man kann sich für Trump verhindern. Was die Amerikanerinnen of- zigern für Gleichberechtigung gekämpft,
begeistern, ohne sich für Politik zu inte- fenbar auch zu Zehntausenden tun. Eine als für Frauen noch der Platz am Herd und
ressieren. Wahrscheinlich kann man sich Umfrage von DailyAction.org ergab im bei den Kindern vorgesehen war, und sie
sogar leichter für Trump begeistern, wenn April, dass volle 86 Prozent ihrer Nutzer hat, wie Millionen andere Amerikanerin-
man sich nicht für Politik interessiert. Frauen sind. Die Erhebung zeigte außer- nen, gedacht, dieser Kampf sei geführt und
Miller mag den Politiker Trump gar im Großen und Ganzen gewonnen. „Und
nicht so sehr. Aber sie mag den starken jetzt das!“, sagt sie, mit immer noch un-
Mann, den er für sie darstellt. „Frauen mö- gläubigem Staunen.
gen nun mal Alphatiere“, sagt sie. Und Auf Frauen wie Dianne Schubeck wird
dass dieses Tier Frauen gern angrapscht, es ankommen, auf die vielen, die dachten,
das stört sie kein bisschen? Sie sagt nur das Rad der Zivilisation könne nicht zu-
„Männer!“ und lacht. rückgedreht werden. Werden sie sich mo-
Dann steigt Dena Miller in ihren riesigen bilisieren lassen? Es gibt Umfragen, die
weinroten SUV, auf dessen Rückbank ihre dafür sprechen. Bei den regelmäßig erho-
Tochter sitzt, Gigi. Sie ist 15 und hebt den benen Zustimmungswerten zu Trump exis-
Blick selten von ihrem Handy. Gigi sagt, tiert ein markanter Gender-Gap: In einer
sie möchte später Musik studieren und Gallup-Umfrage Anfang November gaben
nach Europa reisen, vor allem nach Paris. 45 Prozent der Männer an, mit Trumps Leis-
Die Mutter, Gummistiefel auf dem Gaspe- tungen als Präsident zufrieden zu sein, aber
dal, hat ein wenig Bedenken, sie hat von nur 31 Prozent der Frauen antworteten in
den islamistischen Anschlägen auf „Char- diesem Sinne. Ein ähnlicher Unterschied
lie Hebdo“ und auf das Konzert im Bata- ergab sich im August in einer Untersuchung,
clan gehört. „Ich lass dich erst nach Paris“, die danach fragte, ob der Präsident seines
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL

sagt Dena Miller, „wenn Trump vorher den Amtes enthoben werden sollte: Fast jede
‚Islamischen Staat‘ erledigt hat.“ zweite Frau (47 Prozent) bejahte dies, aber
Das Jahr mit Trump begann schlecht für nur jeder dritte Mann (32 Prozent).
Amerikas Frauen und wurde immer Am Abend, wenn sie nach zu vielen Pa-
schlimmer. Der neue Mann im Weißen tientinnen an einem zu langen Tag nach
Haus vergeudete keine Zeit, um ihnen das Hause kommt, lässt Dianne Schubeck sich
Leben schwer zu machen. Frauenärztin Schubeck auf ihr Sofa fallen und trinkt ein Glas Wein,
‣ Im Januar ging er gegen Abtreibungen Vulva, Klitoris, Vagina derzeit gern auch ein zweites. Ihr Heim
vor und reaktivierte eine alte Verfügung. gleicht einer Arche Noah. Im Hof gackern
DER SPIEGEL 46 / 2017 63
SERGE HOELTSCHI / DER SPIEGEL
Rechte Aktivistin Loomer: Mit Burka ins Wahllokal

Hühner. Im Schuppen liegt eine Hündin als irgendwie „weiblich“. Trumps berühm- limin. Zuvor hatte sie versucht, Clintons
zwischen ihren Welpen. Schubeck enga- ter Slogan könnte also auch lauten: Make Wahlkampfteam illegale Spenden anzudre-
giert sich für den Tierschutz – dass auch America Male Again. hen. Dann hat sie während einer Inszenie-
der Frauenschutz noch mal zur dringlichen Trotzdem gibt es Frauen, die sich mit al- rung von Shakespeares „Julius Cäsar“ eine
Frage werden könnte, das hat sie nicht für ler Kraft für Trump einsetzen. Die für ihn New Yorker Bühne gestürmt, weil der Re-
möglich gehalten. Sie sagt müde: „Es ist auf die Straße gehen, für seine Mauer de- gisseur die Idee hatte, seinen Cäsar, dessen
ja noch nicht einmal alles Trumps persön- monstrieren, für ihn in Mikrofone brüllen. Ermordung das Stück zeigt, als Donald-
liche Schuld. Ich hasse nur, wofür er steht.“ Trump-Lookalike darzustellen. Ihre Auf-
So wie Laura Loomer.
Wofür steht Trump? Dieser Präsident tritte lässt Loomer filmen, worauf Akteure
mache „die männlichste Politik, die wir „Der Feminismus war einmal eine aner- der neurechten Alt-Right-Bewegung die
jemals hatten“, sagt etwa der New Yorker kannte Ideologie“, schreit Loomer an Clips verbreiten. In ihrem Twitter-Feed hat
Soziologe Michael Kimmel. Was heißt das, einem Samstagmorgen auf dem New Yor- sie einmal ein Foto von sich mit einem Pla-
männliche Politik? In Zeiten, in denen die ker Foley Square ihrem Publikum zu, „aber kat gepostet, auf dem steht: „I WANT DO-
Frage, welche Toilette Transsexuelle be- er ist zu einem Kampfmittel der verlogenen NALD TRUMP TO GRAB MY PUSSY!“
nutzen dürfen, zu riesigen Debatten führt, Linken verkommen!“ Der Applaus ist spär- Tja. Was ist das? Dummheit? Antifemi-
ist es keine Frage mehr, ob das Geschlecht lich, weil das Publikum spärlich ist, 50 Leu- nismus? Bloße Provokationslust? Es zeigt
politisch ist. Die größere Frage ist: Hat te vielleicht, mehr nicht, sind auf diese Pro- zumindest erneut, dass es auch Frauen gibt,
auch die Politik insgesamt ein Geschlecht? Trump-Kundgebung gekommen, ein paar die sich an Donald Trumps übergriffigem
Ein Hinweis darauf liegt im Spottbegriff Männer mit roten Trump-Kappen, dazu Verhalten nicht stören. Und obwohl die
des Nanny State, Kindermädchenstaat, ihre Frauen. Es sollte, das war der Plan, Liste von Trumps diesbezüglichen Verfeh-
der ein Staatswesen beklagt, das mit zu Stimmung gemacht werden für Trumps res- lungen länger geworden ist in seinem ers-
vielen Regeln das Leben seiner Bürger kon- triktive Einreisepolitik und „gegen die ten Amtsjahr, scheint das dem Präsidenten
trollieren, bemuttern wolle. Der Nanny- Scharia“, aber die New Yorker scheinen weiterhin nicht zu schaden. Selbst in den
Staat nehme hart arbeitenden, starken Besseres zu tun zu haben. vergangenen Wochen, während im Zuge
Männern das Geld weg, um Schwachen Man darf Laura Loomer, eine blonde des Harvey-Weinstein-Skandals und der
Zuwendungen zu geben, die ihnen nicht Frau von 24 Jahren, durchaus eine Kra- nachfolgenden #MeToo-Welle in den USA
zustünden. Ist es Zufall, dass das Wort wallnudel nennen. Die Rechtsaktivistin und anderswo immer weitere alte Herren
weiblich ist? Wenn rechtskonservative jüdischer Herkunft hat sich einen Namen seiner Generation als Sexisten geoutet wur-
Kommentatoren die Amtszeit Obamas kri- gemacht mit öffentlichkeitswirksamen den und werden, blieb Donald Trump von
tisieren, dann sagen sie manchmal, er habe Guerillaaktionen für die rechte Sache. Am alldem seltsam unberührt.
den Staat verweiblicht. Bereiche wie Mili- 8. November 2016 erschien sie voll ver- Das ging so weit, dass einige der Frauen,
tär, Kohleabbau oder Infrastruktur sind schleiert mit einer Burka in einem Wahl- die Missbrauchsvorwürfe gegen Trump vor-
männlich konnotiert, Bereiche wie Kunst, lokal und gab sich als Huma Abedin aus, gebracht hatten, sich über die Ungleichbe-
Bildung und Umweltschutz, die die Trump- die bekannte ehemalige persönliche Assis- handlung beklagten. Eine davon, Temple
Administration zurückstutzen will, gelten tentin Hillary Clintons, zufällig eine Mus- Taggart, ehemalige Miss Utah, sagte, dass
64 DER SPIEGEL 46 / 2017
Gesellschaft

sie zwar erfreut sei über den Absturz des großer amerikanischer Frauen, sitzt an die- Hillary Clinton dürfte dennoch skep-
Hollywoodmoguls Weinstein, aber „trau- sem Tag in einem rot gestrichenen Garten- tisch bleiben. Sie gab kürzlich während
rig“ darüber, dass gleichzeitig alles, was holzstuhl vor ihrem Haus, das aussieht, als der Tournee für ihr Buch eine erstaunliche
Trump betreffe, „unter den Teppich ge- hätte man Pippi Langstrumpf eine Polit- Antwort auf die Frage, warum ihr vor
kehrt wird“. Taggart wirft Trump vor, sie zentrale entwerfen lassen. An der Haus- einem Jahr nicht mehr Frauen ihre Stimme
mehrmals unvermittelt auf die Lippen ge- front ist ein Banner gespannt: „Resist“, gegeben haben: „Frauen“, so sagte sie,
küsst zu haben. Es gibt mehr als ein Dut- steht darauf, leiste Widerstand. „stehen unter enormem Druck. Sie stehen
zend Frauen, die solche Vorwürfe gegen Mit Schatz hat etwas Neues in der unter enormem Druck durch ihre Väter,
Trump erhoben haben, darunter die Jour- Haight Avenue Einzug gehalten. Man ihre Ehemänner, ihre Partner, ihre männ-
nalistin Natasha Stoynoff, die er in seiner könnte es eine Repolitisierung des Privaten lichen Arbeitgeber, damit sie nicht für ‚die
Residenz Mar-a-Lago begrapscht, die Yoga- nennen, Schatz nennt es Solidarity Sun- Frau‘ stimmen.“ Sondern für den Kandi-
lehrerin Karena Virginia, der er an den Bu- days. Es begann vor ein paar Monaten mit daten, den der Mann bevorzugt.
sen gefasst, oder die Geschäftsfrau Jessica einer sonntäglichen Diskussionsrunde in Die Theorie scheint allzu simpel, wird
Leeds, die er während eines Fluges sexuell ihrem Haus zum Thema Waffenrecht, zu aber von amerikanischen Studien zum
belästigt haben soll. Als Leeds diesen Vor- dem Schatz ihre Nachbarinnen eingeladen weiblichen Wahlverhalten bestätigt: Wäh-
fall aus den Achtzigerjahren publik machte, hatte, sie offerierte Sekt, eine Freundin rend alleinstehende Frauen oft im Sinne al-
wies Trump alles als Fiktion zurück und brachte einen Wackelpudding. Schatz ler Frauen oder für eine abstrakte „Sache
verhöhnte seine Anklägerin mit den Wor- brachte die Frauen dazu, bei Senatoren der Frau“ abstimmen, wählen verheiratete
ten: „Glaubt mir, die wäre nicht meine ers- anzurufen, Protestbriefe zu schreiben. Es Frauen viel häufiger so, wie es ihnen für
te Wahl.“ gab seither etliche Solidaritätssonntage bei ihre Familie und für ihren Ehemann am bes-
Er kommt mit alldem davon. Er kommt Schatz, und „jedes Mal“, so sagt sie, „ka- ten erscheint. Deswegen gewinnen in US-
davon, wenn er Frauen „Hündinnen“, „fet- men mehr Frauen dazu“. Je nach Nach- Wahlen traditionell die Republikaner eine
te Schweine“ oder „Schlampen“ nennt. Er richtenlage debattieren sie über Steuer- Mehrheit der Stimmen der Ehefrauen, ob-
kommt davon, wenn er, wie in diesem Jahr gerechtigkeit, Abtreibung oder den russi- wohl die Demokraten eine frauenfreund-
geschehen, eine irische Journalistin wäh- schen Einfluss auf die Wahlen. lichere Politik machen. Für die vielen Mil-
rend einer Pressekonferenz nach vorn zi- Wenn man mit Kate Schatz und ihren lionen Frauen, die auch heute noch ökono-
tiert, um sie für das „hübsche Lächeln in Mitkämpferinnen spricht, hat man das Ge- misch von ihren Männern abhängig sind,
ihrem Gesicht“ zu loben. Es passiert ihm fühl, dass Donald Trump der Weckruf war, ist das weniger irrational, als es klingt. Und
nichts, wenn er die puerto-ricanische Bür- dessen es bedurfte, um dieser Bewegung es muss nicht unbedingt richtig sein, was
germeisterin Carmen Yulín Cruz als „nas- Schwung zu verleihen. Aber ob das rei- Michelle Obama, die vorherige First Lady,
ty“ beleidigt – eklig, fies, hässlich. Kritik chen wird? Werden Amerikas Frauen wirk- vor ein paar Wochen auf einem Podium
an solchem Rüpeltum tut der Präsident lich aufstehen, in ausreichender Zahl? sagte: „Jede Frau, die gegen Hillary Clinton
gern ab mit Sätzen wie diesem: „Niemand Vor ein paar Tagen taten sie es, bei den gestimmt hat, hat gegen ihre eigene Stimme
hat mehr Respekt vor Frauen als ich.“ Wahlen im US-Bundesstaat Virginia, ihre votiert“ („voted against her own voice“).
Stimmen sicherten dem demokratischen Die Wahrheit ist womöglich, dass es die
Aber nicht vor Frauen wie Kate Schatz.
Kandidaten Ralph Northam den Sieg über Stimme der Frau gar nicht gibt. Frauen
Schatz, 36, lebt in Alameda bei San Fran- den republikanischen Gegner Ed Gillespie, sind keine auch nur annähernd einheitliche
cisco und sagt: „Wir müssen die Verant- der mit einem Trump-Programm angetre- soziale Gruppe, so wie es in den USA viel-
wortung dafür übernehmen, dass wir ten war. 50 Prozent der Männer entschie- leicht die Farbigen sind, oder die Latinos,
Trump möglich gemacht haben.“ Sie, Au- den sich für Gillespie, aber 61 Prozent der oder die Stahlarbeiter. „Die Frauen“ ha-
torin eines Bestsellers mit Kurzporträts Frauen wählten Northam. ben nicht mehr gemeinsame Interessen,
nicht mehr Loyalität untereinander als
„die Männer“. Frauen sind getrennt durch
Wohlstand, Bildung, Religion, Kultur,
Hautfarbe. Und wer auf die Stimme der
amerikanischen Frauen hoffte, so schrieb
die „New York Times“ nach Clintons Nie-
derlage, sei auch in der Vergangenheit im-
mer wieder enttäuscht worden, die Stimme
der Frau sei nicht mehr als ein „Traum“
und ein „Mythos“.
Wie geht es weiter für die Frauen mit
Trump?
Kate Schatz diskutiert weiter über ihn.
Dena Miller sammelt Geld für ihn.
Krista Suh strickt Mützen gegen ihn.
Dianne Schubeck könnte kotzen wegen
ihm.
WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL

Und Laura Loomer hat sich ihre Nase


operieren lassen – für sich selbst.
Alle denken sie jeden Tag an ihn.

Video: Zwei Frauen, so


unterschiedlich wie Amerika
Feministin Schatz: „Wir haben Trump möglich gemacht“ spiegel.de/sp462017usa
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 46 / 2017 65


Gesellschaft

der verklebten Tanzfläche. Ich tanzte mit, dann machte


es einen Augenblick lang Spaß. Häufiger stand ich auf
einer Empore, nippte an meinem Jägermeister Bull wie
an teurem Scotch. Was konnte ich da schon erleben? Wen
treffen, den ich noch nicht kannte?
Um Mitternacht mussten wir gehen, wir waren ja noch
Heimat keine 18. Der letzte Zug in mein Dorf ging eine halbe
Stunde später. Wir torkelten die Straßen entlang zum
Bahnhof, um diese Uhrzeit gehörten sie uns fast allein.
Homestory Warum ich die Sehnsucht der Am nächsten Nachmittag lag ich dann auf dem Liege-
stuhl im Garten, starrte auf mein Nokia ohne Empfang,
Menschen nach Bergdörfern nicht verstehe Internet hatten wir nicht zu Hause, das kam erst, als ich
18 war. Oder ich nahm den Bus, wenn er denn fuhr, und

I
ch bin aufgewachsen in Oberbayern, in Arzbach, einem traf mich mit zwei Freundinnen aus der Schule. Mit ihnen
Ort in den Bergen mit 800 Einwohnern und ein paar Kü- saß ich auf einer Kirchenmauer, in der Hand ein Eis, Strac-
hen. Die Luft in der Gegend ist perfekt beziehungsweise ciatella, Pistazie, und beobachtete die Alten, wie sie mit
„therapeutisch wirksam“, wie es im Internet heißt. Jedes ihren Weidenkörben Gewürze einkauften in der Kräuter-
Jahr lockt diese Luft Millionen Menschen her. Sie lieben die hexe und Hosen im Jeansstadl. Alles war vorgezeichnet,
Ruhe, laufen die Lenggrieser Denkalm hoch auf 970 Meter, so schien es mir zumindest, man musste gar nicht heraus-
oben lehnen sie ihre Wanderstöcke gegen eine Holzbank, finden, was man selbst eigentlich wollte. An solchen Tagen
streichen Obatzten auf ihre Brezen und schauen kauend auf war ich überzeugt: Ich verpasse auf dieser Kirchenmauer
Tannenbaumwipfel. Im Hintergrund: Kuhglockengebimmel. mein Leben.
So klingt meine Heimat. Ich kann sie nicht ertragen. Neulich war ich mit einer Freundin, die in meiner Hei-
Das Wort „Heimat“ ist schwer greifbar für meine Ge- mat geblieben ist, in unserem Lieblingsbistro essen. Ich
neration, für Menschen unter 30. In der Jugendzeitschrift fragte: Wie hältst du das aus hier? Sie legte den Kopf
„Neon“ stand vor einiger Zeit: schief, sagte dann: „Na ja,
„Wo ist zu Hause? Heimat ist jetzt habe ich ein Auto und
in unserer mobilen Welt zu kann weg, wenn es mich
einem diffusen Gefühl gewor- nervt.“ Und: „Es kann auch
den. Doch wir brauchen so schön hier sein.“
einen Ort zum Glücklichwer- Es stimmt. Natürlich gab es
den.“ Alle wollen eine Hei- auch die großartigen Momen-
mat, heute. Die Grünen trau- te. Die, in denen ich um zwei
en sich an das Wort wie an ein Uhr nachts aufstand, mir den
Tabu. Heimatministerien wer- Reißverschluss meiner Fleece-
den gegründet, Ministerien jacke bis unters Kinn zog und
für ein Gefühl. mit einer Freundin über
Stimmt etwas nicht mit mir, Schluchten kletterte und mit
weil ich mich fremd in meiner ihr über die Trampelpfade auf
Heimat fühle? Viele meiner den Gipfel stieg. Dann warte-
Freunde sitzen schon am Don- ten wir, bis wir im Morgen-
nerstagnachmittag im Zug, licht Brezen frühstücken konn-
um zu den Routen fürs Moun- ten. Oder die Nachmittage,
tainbike, den Bergen zum wenn ich mit meinem Schäfer-
Klettern, zu Mutters Sauerbra- hundmischling durch Wälder
ten zurückzufahren. Ich sträu- streifte und keinem Menschen
be mich gegen eine Rückkehr, begegnete. Die Böden waren
sooft es geht. übersät mit Tannennadeln
Nach meinem Abitur bin ich abgehauen. Wenn ich heu- und Wurzeln, nur an manchen Stellen fielen Sonnenstrah-
te in einer U-Bahn sitze, denke ich manchmal daran, was len durch die Äste. Alles war still.
ich zwischen 13 und 17 alles verpasst habe. Damals träumte Bei meinem Besuch neulich stand ich im Haus meiner
ich von der Großstadt, von Straßenlaternen, die nicht um Mutter, und die Zeit lief plötzlich langsamer. Ich holte
elf Uhr nachts ausgehen, von Nächten in Bars mit Fremden mir einen Krimi von Patricia Cornwell, es gab nichts Inte-
und ihren Geschichten, die man anhören und erzählen ressanteres, und setzte mich damit auf die Terrasse. Vom
kann, von den Konzerten meiner liebsten Bands. Stuhl aus betrachtete ich mein Dorf: das Brauneck, die
Im Dorf schien mir das alles unerreichbar. Damals fand bayerische Wirtschaft gegenüber mit dem Schweinebraten
ich neue Musik in der Drogerie. Die Theke mit drei Kopf- für 9,80 Euro, und meinen Nachbarn. Er stand in der Auf-
hörern zum Probehören war mein Tor zu einer anderen fahrt, den Schlauch seines Dampfstrahlreinigers in der
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

Welt, einer Welt der Möglichkeiten, der Entscheidungen. Hand. Den ganzen Nachmittag spritzte er seine Fahrzeuge
Hier mussten wir froh sein, wenn überhaupt ein Termin ab: sein Auto, sein erstes, zweites und drittes Trial-Motor-
im Veranstaltungskalender stand. Manchmal gingen meine rad und das Wohnmobil, das er fast nie fährt. Ich glaube,
Freunde und ich ins Blue, am ehesten dann, wenn Rock- sie zu reinigen, ist sein liebstes Hobby. Und mir fiel nichts
nacht war. In guten Minuten wummerte aus den Boxen ir- Besseres ein, als ihm dabei zuzusehen. Immerhin wusste
gendetwas von Nirvana, in den schlechten der Poprock ich: Der Zug zurück zur Großstadt geht in ein paar Stun-
von Nickelback. Dabei umhüllte der Qualm von Zigaretten den. Der Zug in meine Heimat, dachte ich.
und der Nebelmaschine die Theke und die Menschen auf Cathrin Schmiegel

66 DER SPIEGEL 46 / 2017


€ 100 zum Einkaufen für Sie!
LESEN SIE 1 JAHR DEN SPIEGEL DIGITAL, UND GEHEN SIE AUF EINKAUFSTOUR.

100 € Amazon.de Gutschein € 100,– Geldprämie


Über eine Million Bücher sowie DVDs, Erfüllen Sie sich einen Wunsch:
Technikartikel und mehr zur Auswahl. € 100,– als Geldprämie.

Ja, ich möchte den SPIEGEL digital lesen und wähle


eine Prämie!

52 x den SPIEGEL digital lesen


Ich lese 52 Ausgaben des
Bereits ab freitags, 18 Uhr
SPIEGEL digital inklusive
SPIEGEL DAILY für nur € 4,10 Auch offline lesbar
pro Ausgabe und erhalte Auf bis zu 5 Geräten
eine Prämie meiner Wahl. Inklusive SPIEGEL-E-Books
Wunschprämie dazu

Jetzt neu: Inklusive SPIEGEL DAILY


Die neue digitale Tageszeitung
SD17-005

Jetzt bestellen: www.spiegel.de/digital17


FRIEDER BLICKLE / LAIF
VW-Werk in Wolfsburg

Dieselskandal

Sagte Winterkorn der Regierung zu viel?


Bankenaufsicht prüft neuen Vorwurf gegen Volkswagen.
Dem VW-Konzern und seinem ehemaligen Chef Martin heiklen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gehe. Am Tag
Winterkorn droht neuer Ärger von der Finanzaufsicht darauf unterrichtete Winterkorn den Chef des Kraftfahrt-
BaFin. Die Behörde untersucht seit Kurzem, ob VW im Bundesamtes, Ekhard Zinke, und Verkehrsminister Alexan-
Zuge der Dieselaffäre Insiderinformationen unbefugt der Dobrindt darüber. Erst am 22. September veröffentlich-
an Dritte weitergegeben hat. Hintergrund sind die Ereignis- te der Konzern eine entsprechende Ad-hoc-Meldung. „Wir
se bei VW am 20. und 21. September 2015 (SPIEGEL sehen uns diesen Vorgang mit Blick auf eine möglicher-
44/2017). Bei einer Krisensitzung am 20. September sollen weise unbefugte Weitergabe von Insiderinformationen an“,
VW-Techniker erklärt haben, nicht nur in den USA sei bestätigte eine BaFin-Sprecherin. Die Finanzaufsicht geht
Schummelsoftware eingesetzt worden, sondern auch in an- bereits seit 2015 dem Verdacht auf Insiderhandel nach. Wegen
deren Teilen der Welt, betroffen seien mehrere Millionen Marktmanipulation ermittelt die Staatsanwaltschaft Braun-
Autos. Ein weiteres Ergebnis der Sitzung sei gewesen: Man schweig. VW erklärt, man habe die „kapitalmarktrechtliche
müsse die Bundesregierung informieren, ehe man mit den Publizitätspflicht ordnungsgemäß erfüllt“. fdo, sh, mhs

Versicherung gen gewünscht sind“. Die Viele Berater geben jedoch gen gebe es nicht. „Wir haben
Allianz verhindert Allianz hatte zum Oktober an, nach erfolgten Wechseln jedoch in der Vergangenheit
Tarifwechsel neue Preisgruppen bei der
Autoversicherung eingeführt,
von Vorgesetzten zu einer
Stellungnahme aufgefordert
vermehrt Tarifumstellungen
beobachtet, die ohne Bera-
Die Allianz drängt offenbar die für den Kunden einfacher oder zum persönlichen tung des Kunden stattgefun-
ihre Vertreter, Kunden nicht zu verstehen und wettbe- Gespräch gebeten worden zu den haben.“ Neben dem
auf neue, günstigere Kfz- werbsfähiger sein sollten. Je sein. Jede Umstellung werde Preis hätten sich aber auch
Versicherungen umzustellen. nach Fall sind die neuen Ta- offenbar „nach oben“ ge- Produkteigenschaften verän-
In einem geschützten Forum rife für Autobesitzer billiger: meldet. Das Verhalten der Al- dert. „Auf Wunsch des Kun-
im Netz ärgern sich mehrere Sein eigenes Fahrzeug wäre lianz sei „so nicht tragbar“, den und nach einer erfolgten
Vertreter über E-Mails und mit einem neuen Tarif 140 findet ein Berater. Die Alli- Beratung“ sei „selbstver-
Anrufe von Vorgesetzten, Euro günstiger im Jahr, hat anz erklärt, ein „generelles ständlich eine Umstellung auf
„dass keine Tarifumstellun- ein Vertreter ausgerechnet. Verbot“ von Tarifumstellun- den neuen Tarif möglich.“ ase

68 DER SPIEGEL 46 / 2017


Wirtschaft
Arbeitsagentur Hybridautos schonend gelten. Die Ministe-
Dickes Polster Beschwerden über rien sehen gut aus, wenn

Der florierende Arbeitsmarkt Dienstwagen Ökoverbände sie nach dem


CO2-Ausstoß ihrer Autoflotte
füllt die Kassen der Bundes- Spitzenbeamte in den Bundes- fragen. Doch die Werte exis-

BURGER / PHANIE / SCIENCE PHOTO LIBRARY


agentur für Arbeit (BA). Bei ministerien sind zunehmend tieren offenbar nur auf dem
einem gleichbleibenden Bei- frustriert über ihre neuen Papier. Die Irritation in der
tragssatz von drei Prozent für Dienstwagen mit Hybridan- Bundesregierung ist groß, weil
die Arbeitslosenversicherung trieb. Ihre Fahrer klagen darü- man die Plug-in-Hybride mit
könnten die Rücklagen der ber, dass die Autos nur kurze in die Elektromobilitätsförde-
BA bis 2022 voraussichtlich Strecken elektrisch zurückle- rung aufgenommen hatte, was
auf 43,3 Milliarden Euro an- gen. Bei längeren Fahrten, den Kunden einen Umwelt-
steigen. Zu diesem Ergebnis wenn der Verbrennungsmotor bonus von 3000 Euro sichert.
kommt die mittelfristige Fi- anspringt, seien die Verbräu- Der Zuschuss scheint mit
nanzeinschätzung der Bun- Herstellung eines Krebsmittels che exorbitant hoch, zumal Blick auf den wahren CO2-
desagentur auf der Basis der die Wagen wegen der Elektro- Ausstoß nicht wirklich ge-
aktuellen ökonomischen Eck- Pharma motoren schwerer sind. rechtfertigt zu sein. BMW be-
werte der Bundesregierung. Preisanstieg für Wegen kleinerer Tanks müss- stätigt die „Rückmeldungen
Bereits für das kommende
Jahr rechnet die BA damit, Krebsmittel ten die Chauffeure ständig
nachtanken, heißt es. Zwei
aus dem Fuhrpark“ der Minis-
terien, verweist darauf, dass
dass die Einnahmen aus der Die Pharmaindustrie hat in Staatssekretären aus Bundes- die Diskrepanz zwischen an-
Arbeitslosenversicherung den vergangenen Jahren auf finanz- und Verkehrsministe- gegebenem und realem Ver-
rund 2,7 Milliarden Euro hö- ihrem wichtigsten Markt die rium reicht es nun: Sie haben brauch „nicht nur von BMW-
her sein werden als die Aus- Preise für die meisten Che- sich beim Hersteller BMW Kunden beobachtet wird“.
gaben. Dadurch werden ihre motherapeutika erhöht. Im über ihren Dienstwagen vom Das stundenlange Warten auf
Rücklagen von 16,1 Milliar- Verlauf von acht Jahren wur- Modell 740e iPerformance be- die Ministerialen mit Stand-
den Euro in diesem Jahr auf den 24 gängige Krebsmittel – schwert. Hybridwagen sind heizung würde die „verfügba-
18,9 Milliarden Euro im Jahr etwa von den Herstellern Pfi- derzeit sehr beliebt in der Ber- re Reichweite für das elektri-
2018 steigen. 2019 erwartet zer oder Bristol-Myers liner Politik, weil sie als klima- sche Fahren reduzieren“. gt
die Bundesagentur eine Rück- Squibb – in den USA im Mit-
lage von 24,3 Milliarden Euro. tel um 25 Prozent teurer.
Das Polster gibt Union, FDP Zieht man die Inflationsrate
und Grünen in den Verhand- ab, liegt die Preissteigerung
lungen zu einer Jamaikakoa- durchschnittlich bei 18 Pro-
lition Spielraum, den Bei- zent. Zu diesem Ergebnis
tragssatz zur Arbeitslosenver- kommt ein Forscherteam aus
sicherung zu senken. In den Israel um den Onkologen Da-
Sondierungsgesprächen ha- niel Goldstein vom Rabin Me-
ben alle drei Parteien bekräf- dical Center. Ein Wirkstoff
tigt, die Sozialbeiträge bei 40 wurde innerhalb der Beob-
Prozent halten zu wollen. Ge- achtungszeit inflationsberei-

RAINER HÄCKL / BMW


meinhin gilt eine BA-Rückla- nigt um 57 Prozent teurer.
ge von 20 Milliarden Euro als Weder neu hinzukommende
ausreichend, um auch die Fol- Wettbewerber noch neue Zu-
gen größerer Wirtschaftsein- lassungen änderten etwas an
brüche abzufedern. mad der Teuerung. mum BMW-Hybridlimousinen am Münchner Flughafen

Geldfrage Was tun, wenn meine Lebensversicherung verkauft wird?


Inhaber von Lebensversicherungen brauchen derzeit Firmen zumindest vorerst kein Interesse daran haben,
starke Nerven. Immer mehr Versicherer denken darü- die Öffentlichkeit zu verschrecken. Schließlich wol-
ber nach, ihre Lebensversicherungsbestände an len sie weitere Bestände kaufen. Prognosen der Ra-
Finanzinvestoren und spezialisierte Abwicklungs- tingagentur Fitch zufolge dürfte bis 2022 ein Fünftel
gesellschaften abzutreten: die Axa etwa, die Genera- aller Lebensversicherungen in die Abwicklung ge-
li oder die Ergo-Versicherung. Allein bei der Ergo gangen sein. Es gibt also noch einiges zu erwerben,
wären rund sechs Millionen Policen betroffen. Das doch die Finanzaufsicht muss jeden Deal absegnen.
schreckt viele Kunden, wer wird schon gern abge- Dazu haben die Abwicklungsgesellschaften Kostenvor-
wickelt? Aber wie dramatisch ist ein solcher Verkauf wirk- teile, schon weil sie keinen Außendienst bezahlen. Das
lich? Einige kleinere Unternehmen haben ihre Bestände be- kommt auch den Kunden zugute. Nicht zuletzt haben viele
reits abgetreten – an Gesellschaften, hinter denen zum Teil Altverträge einen Garantiezins von bis zu vier Prozent. So
Private-Equity-Firmen und Finanzinvestoren stecken. Man viel Rendite bringt derzeit keine andere sichere Geldanlage.
sollte nicht allzu viel Menschenfreundlichkeit im Umgang mit Man sollte sich also erst einmal ansehen, wie der neue Haus-
den Kunden erwarten, es müssen ja keine neuen mehr gewor- herr sich benimmt, bevor man überstürzt seinen Vertrag kün-
ben werden. Zu hoffen ist allerdings, dass die entsprechenden digt. Das lohnt sich bei Lebensversicherungen fast nie. ase

DER SPIEGEL 46 / 2017 69


Wirtschaft

Zeit ist mehr als Geld


Tarifparteien Zum ersten Mal seit dem Kampf um die 35-Stunden-Woche fordert die
IG Metall wieder eine Verkürzung der Arbeitszeit. Es droht eine erbitterte
Auseinandersetzung – mit grundsätzlicher Bedeutung für die ganze Wirtschaft.

70 DER SPIEGEL 46 / 2017


Lohn fordert die IG Metall, viel zu viel na- nicht mehr allein der Arbeitgeber entschei-
türlich in den Augen der Gegenseite, aber den können, sondern der Arbeitnehmer.“
keine Zahl, die die Arbeitgeber wirklich Die Gegenseite interpretiert die Forde-
schreckt. Darüber ließe sich reden, auf einen rung der IG Metall ganz anders: als groß-
Kompromiss könnte man sich, nach den üb- flächigen Einstieg in die 28-Stunden-Wo-
lichen nächtlichen Verhandlungsrunden und che. Und die will sie unter allen Umstän-
dem einen oder anderen Warnstreik, einigen. den verhindern.
Mit den üblichen Ritualen wird die Ta- Von den geplanten Lohnzuschüssen sei
rifauseinandersetzung in der Metallindus- die Mehrheit der Belegschaften betroffen,
trie jedoch kaum zu bewältigen sein. Sie wenn man alle Begünstigten zusammen-
beginnt in der kommenden Woche, und zähle. „Da kommen Sie locker auf 60 Pro-
schon jetzt sind die Fronten „total verhär- zent“, sagt Dulger. Als geschäftsführender
tet“, wie Rainer Dulger, der Präsident des Gesellschafter der Prominent Dosiertech-
Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, sagt. nik GmbH kennt er die betriebliche Praxis.
„Die Unternehmen sind vollkommen ver- Das Familienunternehmen beschäftigt
unsichert, das habe ich noch nie so erlebt.“ weltweit 2500 Mitarbeiter, 600 davon am
Zum ersten Mal seit dem erbitterten Stammsitz in Heidelberg.
Kampf um die 35-Stunden-Woche fordert Eine Arbeitszeitverkürzung kommt für
die Gewerkschaft für die 3,9 Millionen Be- die Arbeitgeber nur unter zwei Bedingun-
schäftigten in der deutschen Metall- und gen infrage: „Wenn jemand an einer Stelle
Elektroindustrie wieder eine Arbeitszeitver- weniger arbeitet, muss jemand an anderer
kürzung, zusätzlich zur Lohnsteigerung. Bei Stelle mehr arbeiten dürfen“, sagt Dulger.
manchen Beteiligten werden Erinnerungen „Darüber können wir immer reden.“ Und:
wach an das Jahr 1984, als die IG Metall den „Es muss bei dem Grundsatz bleiben: Wer
Einstieg in die verkürzte Wochenarbeitszeit mehr arbeitet, verdient mehr, und wer we-
in einem der längsten Arbeitskämpfe der niger arbeitet, verdient weniger.“
bundesdeutschen Geschichte durchsetzte. Diesen Grundsatz sehen die Arbeitge-
Nun soll, so will es die IG Metall, jeder ber bei den Gewerkschaftsforderungen ver-
Beschäftigte das Recht bekommen, seine letzt. Nach ihren Berechnungen würde ein
Arbeitszeit für längstens zwei Jahre auf Schichtarbeiter mit einem Durchschnitts-
bis zu 28 Stunden zu reduzieren – verbun- einkommen von 56 300 Euro, der seine Ar-
den mit dem verbrieften Anspruch, danach beitszeit um zehn Tage pro Jahr verkürzt,
wieder auf seine Vollzeitstelle zurückkeh- monatlich netto nur rund 48 Euro weniger
ren zu können. Einen generellen Lohnaus- verdienen, wenn sich die IG Metall mit
gleich soll es nicht geben. ihrem Teilentgeltausgleich durchsetzte.
Doch die Forderung enthält zwei ge- In den Augen der IG Metall sind die
wichtige Ausnahmen: Festbeträge von 200 Euro monatlich oder
‣ Arbeitnehmer, die in Teilzeit gehen, um 750 Euro im Jahr dagegen lediglich ein Zu-
Kinder unter 14 Jahren zu betreuen oder schuss – und kein weitgehender Ausgleich
Familienangehörige zu pflegen, sollen der Lohneinbuße. Ihre Rechnung klingt
einen festen monatlichen Zuschuss von ganz anders: Bei einem monatlichen Brut-
200 Euro erhalten – wenn sie ihre wö- toverdienst von 2500 Euro und einer Ar-
chentliche Arbeitszeit um mindestens beitszeitreduzierung von 3,5 Stunden im
3,5 Stunden reduzieren; Monat würden sich Arbeitgeber und Mit-
‣ Beschäftigte in Schichtarbeit oder ande- arbeiter die Kosten zur Hälfte teilen. Jede
ren gesundheitsbelastenden Arbeitszeit- Seite nimmt sich das Beispiel, das ihre Ar-
modellen sollen einen Zuschuss von gumentation am besten stützt.
jährlich 750 Euro bekommen, wenn sie Was die Arbeitgeber an den Forderun-
ihre Jahresarbeitszeit verkürzen. gen der Gewerkschaft – neben den Lohn-
GERHARD WESTRICH / LAIF

Für Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender zuschüssen – vor allem stört, ist das Recht
der IG Metall, ist das auch eine Frage der der Teilzeitbeschäftigten, nach zwei Jahren
Gerechtigkeit: „Wir wollen, dass eine Re- auf einen Vollzeitarbeitsplatz zurückzu-
Arbeiter der Mecklenburger Metallguss GmbH duzierung der Arbeitszeit nicht nur mit kehren. Das bringe die komplette Arbeits-
hohen Einkommen möglich ist, sondern organisation durcheinander, argumentie-
auch für die Menschen, die weniger gut ren sie. Wo immer es möglich sei, könnten
verdienen, eine echte Option wird.“ die Mitarbeiter doch schon heute wieder

G
eld ist nicht das Problem. Der Das klingt nicht nach der Neuauflage al- von Teil- in Vollzeit wechseln. Es sei doch
Metallindustrie geht es, nach acht ter geschlagener Schlachten, eher nach dem auch im Interesse der Betriebe, qualifizier-
Jahren des Aufschwungs, so gut Gegenteil. 1984 wurde, als Ausgleich für tes Personal länger zu beschäftigen, statt
wie lange nicht mehr. Die größte Gefahr die arbeitnehmerfreundliche Arbeitszeit- neue Mitarbeiter einzustellen.
scheint die Überhitzung der Konjunktur verkürzung, eine arbeitgeberfreundliche Das mag in vielen Fällen so sein, doch
zu sein, vor der die Ökonomen des Sach- Flexibilisierung der Arbeit vereinbart. Heu- „derzeit hängen wir vom Wohlwollen des
verständigenrats gerade gewarnt haben. te sagt Hofmann: „Wir wollen in dieser Run- Arbeitgebers ab“, sagt Florian Mayer, Fer-
Da könnte die kommende Tarifrunde de keine kollektive Regelung der Arbeits- tigungstechniker bei Airbus. „Da ist man
eigentlich ein Selbstläufer sein. zeit für alle, sondern individuelle Lösungen in einer Bittstellerrolle.“
Wenn es denn um Geld ginge. Aber das für den Einzelnen.“ Es folgt allerdings ein Tanja Steinau ist seit 1995 Disponentin
geht es nur zum Teil. Sechs Prozent mehr Nachsatz: „Über die Flexibilisierung soll in der Ersatzteilversorgung beim Hambur-
DER SPIEGEL 46 / 2017 71
Umfrage zu Arbeitszeiten
Vertraglich vereinbarte Tatsächlich geleistete
Stundenzahl Stundenzahl
über 48
ger Gabelstapler-Hersteller Still, seit der 41 bis 48 1,4 % Rund jeder fünfte arbeitet regelmäßig
Geburt ihrer Tochter arbeitet sie Teilzeit. 40 22,2 % Schicht.
Damit sie irgendwann wieder zur Vollzeit 22,6 % Zugleich aber hat sich in der Gesell-
zurückkehren kann, hat sie ihre Stelle schaft das Verhältnis zu Geld und Arbeit
nicht fest auf Teilzeit umgeschrieben. „Das gewandelt. Im vergangenen Jahr schloss
bedeutet aber, dass ich Jahresverträge be- 36 bis 39 20,8 % 20,3 % die Eisenbahngewerkschaft EVG einen Ta-
komme, und das ist natürlich unsicher.“ rifvertrag mit der Deutschen Bahn AG.
Sicherheit, in die Vollzeit zurückzukehren, Wochen- Dieser sah eine Tariferhöhung in zwei Stu-
arbeitszeit
gebe es trotzdem nicht. „Einigen Kollegen in Stunden fen vor. Für die zweite Stufe ab Januar
ist das auch nicht gelungen, andere hatten 32,8 % 2018 konnten sich die Beschäftigten zwi-
Glück“, sagt sie. „Wenn die Forderungen Befragung der schen 2,6 Prozent mehr Lohn und mehr
durchkommen, würde sich das ändern.“ 35 47,8 % IG Metall unter
Beschäftigten Freizeit entscheiden. 56 Prozent wählten
der Metall- und
Mehr Geld oder mehr Freizeit – und Elektroindustrie sechs Tage mehr Urlaub im Jahr.
mehr Flexibilität auch aufseiten der Ar- und des Hand- Für die Arbeitgeber ist das ein Problem:
15,8 % werks im Januar
beitnehmer: Das sind die Streitfragen in und Februar In Zeiten des demografischen Wandels
diesem Tarifkonflikt. Und deshalb reicht bis 34 2017; 681 241 werden Fachkräfte zunehmend knapp –
Teilnehmer
er weit über die Metallindustrie hinaus. und viele Qualifizierte wollen auch noch
Die flexible Arbeitswelt, angetrieben weniger arbeiten. Zumindest aber wollen
und beschleunigt durch Digitalisierung und In der Metallindustrie reichen die ver- sie flexiblere Arbeitszeiten, über die sie
technischen Fortschritt, stellt die Tarif- traglichen Arbeitszeiten je nach Tätigkeit auch selbst bestimmen können.
parteien vor grundsätzliche Fragen: Wer von 32 bis über 40 Stunden, häufig im sel- Die Gewerkschaft hat im kommenden Ta-
bestimmt darüber, wie die flexiblen Ar- ben Betrieb. In der Realität ist die 35-Stun- rifkonflikt deshalb den Zeitgeist auf ihrer
beitszeiten der Beschäftigten auszusehen den-Woche eher eine Leitlinie. Seite. „Das Modell Vollzeit plus, Überstun-
haben? Droht eine Spaltung der Beleg- Die tatsächlichen Arbeitszeiten liegen den plus, Flexibilisierung plus, Leistungsver-
schaften? Die einen können aufgrund ihrer höher, im Schnitt aller Vollzeitbeschäf- dichtung ohne Ende ist überholt und geht
Tätigkeit mehr oder weniger frei ihre Ar- tigten sogar bei 43,5 Stunden – knapp fünf an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
beitszeiten einteilen, die anderen werden Stunden mehr als vertraglich vereinbart. Sie wollen Arbeitszeiten, die zum Leben pas-
flexibilisiert, weil ihre Arbeit an die Lauf- Das ergab eine Befragung der Bundes- sen“, sagt IG-Metall-Vorsitzender Hofmann.
zeiten von Maschinen und rigide Arbeits- anstalt für Arbeitsschutz und Arbeits- Die Gewerkschaft rechnet, wie die Ar-
abläufe gekoppelt ist. medizin unter 20 000 Erwerbstätigen. beitgeber, mit einer harten Tarifrunde.

Dieser Frosch ist eine verzauberte Sekretärin:


Wegen der grünen Farbe wurde die Stenorette
1954

1978

auch Laubfrosch genannt. Ihr wiederbespielbares


Magnetband nimmt Geschäftsdiktate auf und
gibt sie auf Knopfdruck wieder.

Geschwindigkeitsrekord auf der Daten-


autobahn: 1978 wird Deutschlands erstes
Glasfaserkabel installiert. Hergestellt mit
hochreinen Chlorsilanen – für schnellste
Datenübertragung.

Immer dabei, auch wenn Sie

Wie lautet das Erfolgs-


1974

1984

geheimnis der Bürohilfe,


die seit 43 Jahren weltweit
Karriere macht? Ganz
einfach: Sie kann sich
alles merken und trägt
auf ihrer Rückseite
einen rückstandslos Die ersten Bürodrucker waren oft sehr
ablösbaren Kleber. einsam. Wegen ihrer Lautstärke wurden
sie in Einzelzimmer verbannt. Erst seit
spezielle Farbstofftinte den geräusch-
armen Tintenstrahldruck möglich macht,
können alle ein Büro teilen.
Wirtschaft

„Teile der Arbeitgeber sind extrem rück- mit ihr einherging, legte den Grundstein immer geartete Arbeitszeitverkürzung
wärtsgewandt“, sagt Hofmann, „die wol- für den Erfolg der deutschen Industrie heu- kann die IG Metall am Ende keinen Tarif-
len sich mit Händen und Füßen dagegen te. Seither gibt es Arbeitszeitkonten, neue vertrag unterzeichnen.
wehren, Verantwortung zu übernehmen.“ Schichtmodelle, variable Arbeitszeiten für Eine mögliche Kompromisslinie, zumin-
Wer von „Stilllegungsprämie“ bei Kinder- Mitarbeiter in ein und demselben Betrieb. dest aus Sicht der Gewerkschaft: Die IG
erziehung oder „Freizeitausgleich“ spre- Der Preis aber war hoch. Die 35-Stun- Metall will das Recht zur Rückkehr aus
che, habe die Zeichen der Zeit nicht er- den-Woche löste eine brutale Rationalisie- Teil- in Vollzeit zwar im Manteltarifvertrag
kannt. rungswelle und eine Verlagerung von Ar- verankern. Es müsste aber nicht vom ers-
Richtig Fahrt wird die Auseinanderset- beitsplätzen ins Ausland aus. ten Geltungstag des Tarifvertrags an in
zung erst nach Ende der Friedenspflicht Hofmann ist trotz des zu erwartenden Kraft treten, stattdessen könnte eine Über-
zum Jahreswechsel aufnehmen. In der Widerstands zuversichtlich, dass sich seine gangsfrist vereinbart werden. Damit be-
zweiten Januarwoche wird die IG Metall Gewerkschaft am Ende durchsetzen wird: stünde die Möglichkeit, passende Lösun-
zu Warnstreiks aufrufen, wenn in den Ver- „Angesichts der blendenden Auftragslage gen für die Umsetzung in den Betrieben
handlungen keine Fortschritte erzielt sein haben die Unternehmen kein Interesse an selbst zu finden.
sollten. Und dafür spricht vieles. einer langen Auseinandersetzung – und „Wenn die IG Metall den Manteltarifver-
Bei den Arbeitgebern wirkt das Trauma wir auch nicht.“ trag kündigt“, warnt dagegen Gesamtme-
des Kampfes um die 35-Stunden-Woche Doch auch die IG Metall muss beweisen, tall-Präsident Dulger, „öffnet sie die Büch-
noch immer nach. Aus Protest verließen dass sie ihre Mitglieder hinter sich hat. Ob se der Pandora. Dann wird die Tarifrunde
damals viele Unternehmen den Arbeit- die bereit sind, nicht nur für mehr Geld, unheimlich schwer beherrschbar.“ Der
geberverband Gesamtmetall. Auch jetzt sondern auch für Teilzeit zu streiken – und Manteltarifvertrag enthält in jedem Bezirk
gibt es schon erste Austritte, 25 Anträge auf einen Teil der möglichen Lohnerhöhung eigene, sehr spezifische Regelungen, einige
lagen zu Beginn der Woche bereits vor, zu verzichten, um für andere einen Lohn- könnten davon im Gegenzug von Arbeit-
über 50 Firmen haben damit gedroht. Sie zuschuss zu erkämpfen. Sophia Kielhorn, geberseite infrage gestellt werden.
wollen sich nicht den drohenden Tarifver- Betriebsratsvorsitzende bei Airbus in Ham- Dennoch: Einen Streik wollen beide Sei-
einbarungen unterwerfen, viele wollen burg, ist dennoch „überzeugt davon, dass ten vermeiden. „Das Schwierige an einem
sich auch dem möglichen Arbeitskampf wir unsere Mitglieder mobilisieren können“. Streik ist nicht, ihn anzufangen, sondern
entziehen. Ganz gleich, wie solidarisch die Arbeit- ihn zu beenden“, sagt Dulger.
Dabei hatte die Arbeitszeitverkürzung, nehmer hinter ihrer Gewerkschaft stehen Der Arbeitskampf im Jahr 1984 dauerte
aus heutiger Sicht betrachtet, durchaus und wie hart der Widerstand der Arbeit- sieben Wochen.
positive Seiten, die Flexibilisierung, die geber auch sein mag: Ohne eine wie auch Markus Dettmer, Armin Mahler, Antonia Schaefer

Was macht das Büro? Läuft!


2026

Mobiler als heute war das


2017

Berufsleben noch nie. Schon


jeder Dritte arbeitet mit
Smartphones oder Tablets,
die dank Mikrochips aus
hochreinem Silizium
immer kleiner und leis-
tungsfähiger werden.

mobil arbeiten: Ihre Chemie.

Es ist auch ein Verdienst der Chemie, dass immer mehr Menschen ihre
Büroarbeit heute locker in die Tasche stecken können. Sie entwickelte
2020

das Magnetband für Diktiergeräte, sie bringt neue Drucktechniken ins


Homeoffice und macht Computer immer kleiner und mobiler. Wenn neue
Technik den Büroalltag erleichtert, dann im Team mit der Chemie.

Entdecken Sie mehr unter www.ihre-chemie.de.


Spiel der Reichen
Steuerflucht Die Paradise Papers offenbaren Einblicke in einen dauernden Skandal. Die Politik hat
den Tricksern zwar längst den Kampf angesagt, fraglich ist aber, ob der erfolgreich ausgeht.

A
nfang der Woche schreck- schiedlich, als dass sie alle gleicher-
ten Enthüllungen über welt- maßen zufriedenzustellen wären.
weite Steuertricksereien die Es gibt positive Entwicklungen.
Finanzwelt auf. Ein internationales Die Kooperation der Finanzverwal-
Recherche-Netzwerk, unter ande- tungen etwa kennt mittlerweile vie-
rem Journalisten der „Süddeut- le Ebenen. Die großen Industrie-
schen Zeitung“, hatte 13,4 Millio- und Schwellenländer arbeiten bei-
nen Datensätze ausgeschlachtet, spielsweise im Rahmen der G 20 bei
die als Paradise Papers Schlagzeilen der sogenannten BEPS-Initiative
machten. zusammen. Die Finanzverwaltun-
Bei diesen Fällen geht es um ähn- gen der beteiligten Länder dürfen
liche Sachverhalte wie schon bei nicht mehr bloß auf Nachfrage, son-
der Vorgängerenthüllung, die als dern müssen automatisch Informa-
Panama Papers Furore machte: Die tionen untereinander austauschen.
Daten beschreiben, wie Vermögen- Die Regelung ist seit September die-

THOMAS SAMSON / AFP


de und Supervermögende, Stars ses Jahres in Kraft, 50 Staaten wen-
und Konzerne versuchen, sich vor den sie bereits an, etwa genauso
dem Zugriff des heimischen Fiskus viele wollen folgen.
in Sicherheit zu bringen. Es ist ein Internationale Abmachungen sol-
Spiel der Reichen. len zudem erschweren, dass Kon-
Die Akteure sind meist interna- Demonstrantin gegen Apple in Paris: Am Pranger zerne ihre Gewinne von einem ins
tionale Konzerne, die mit unüber- andere Land verlagern, bis sie am
sichtlichen Konstruktionen ihre Ende dort landen, wo die gerings-
Steuerlast klein zaubern. Schon Steueroasen in Europa Beispiele ten Steuern anfallen. Beliebte Ve-
wieder steht der Digitalmulti Apple Kanalinseln hikel der Konzerne sind dabei über-
als Übeltäter am Pranger, ebenso wie Jersey und Guernsey oder höhte Verrechnungspreise oder Li-
das Sportartikelunternehmen Nike. auch die Isle of Man in der zenzgebühren.
Irischen See leben oft von
Auch die Gehilfen der Trickser Offshore-Geschäften. Hier
Zudem wurde ein internationales
ähneln sich. Stets werden die Deals parken Reiche gern ihr Register eingeführt, das die Eigen-
über Steueroasen abgewickelt, vor- Geld und sparen Steuern.
Niederlande tümer von Firmen offenlegt, auch
neweg die Bermudas, britischer Durch Verknüpfung jene, die sich an Steuersparmodel-
Kronbesitz wie die Isle of Man oder Irland mehrerer in- und aus-
len beteiligen. Das schafft Transpa-
bietet Konzernen Steuer- ländischer Firmen
Jersey, ebenso Luxemburg, die Nie- können Unternehmen renz, für den Geschmack der alten
vorteile und niedrige
derlande oder Irland. ihre Steuern drücken. Bundesregierung aber nicht genug.
bürokratische Auflagen.
Und auch die Fragen, die sich der Sie hätte gern gehabt, dass auch alle
Politik stellen, sind jedes Mal die- Unternehmen oder Personen auf-
ISLE OF MAN
selben: Wie kann es sein, dass Steu- geführt werden, die letztlich von
erschlupflöcher noch immer nicht der Konstruktion profitieren.
gestopft sind? Vor allem: Wie kann Doch die weiter gehenden Pläne
es sein, dass Mitgliedstaaten der EU GUERNSEY scheiterten am Widerspruch von
immer wieder dadurch auffallen, Malta Großbritannien und den Niederlan-
gewährt niedrige effek-
dass sie ihren Partnerländern Steu- JERSEY tive Steuerlast für aus- den. Ex-Finanzminister Wolfgang
eraufkommen abspenstig machen? ländische Unternehmen Schäuble (CDU) und seine Mitstrei-
Die Empörung ist verständlich, und starke Investitions- ter aus anderen Ländern waren
allerdings in manchen Punkten anreize in Form von machtlos, weil in der EU Steueran-
überholt. Viele der Steuervermei- Sonderregelungen. gelegenheiten einstimmig geregelt
dungsstrategien würden heute nicht werden müssen.
mehr funktionieren, weil sich zahl- Aus dem gleichen Grund gibt es
reiche Länder weltweit zusammen- für Unternehmen in der EU auch
getan haben, um Steuerschlupflö- keinen generellen Mindestsatz bei
cher zu stopfen. Was die Panama der Unternehmensbesteuerung. Was
und Paradise Papers offenbaren, schon deshalb absurd ist, weil solche
gleicht manchmal einem Blick in Luxemburg Schweiz Zypern Mindestgrenzen bei der Tabak- oder
den Rückspiegel. lockte Unternehmen Bankgeheimnis und Geringe Unternehmen- Umsatzsteuer bereits greifen. Bei bei-
Wahr ist allerdings auch: Es ist mit Absprachen, die Diskretion dienten steuersätze machen die den Einnahmen dürfen die Tarife
ein mühseliges, mitunter frustrie- eine extrem niedrige über Jahrzehnte dazu, Insel attraktiv. EU-weit eine bestimmte Marke nicht
Steuerlast bewirkten. Geschäfte intranspa-
rendes politisches Geschäft – die rent abzuwickeln und unterschreiten. Einen generellen Min-
ökonomischen Interessen der betei- Geld am Fiskus deststeuersatz für Unternehmen je-
ligten Länder sind viel zu unter- vorbeizuschleusen. doch verhindert zum Beispiel Malta.
74 DER SPIEGEL 46 / 2017
Wirtschaft

Das Land fällt auch dadurch auf, dass Allgemeinheit sperren sich die Regierun- Die attraktiven Tarife müssten sie auch der
es gezielt Inhaber kleiner Firmen anlockt. gen beider Länder. heimischen Wirtschaft gewähren. Dabei
Eröffnen sie auf der Insel ein Büro, müssen Steuerexperten der Bundesregierung ha- verlöre ein Land wie Deutschland mehr
sie bei einem Jahresgehalt bis zu fünf Mil- ben durchaus Verständnis für nationale Ei- Steuereinnahmen, als es gewönne.
lionen Euro nur 15 Prozent Steuern bezah- genheiten. „Das ist wie im Privatleben“, Erschwerend kommt hinzu, dass die
len. Alles, was darüber liegt, kassieren sie sagt einer und wählt einen freizügigen Ver- größte Volkswirtschaft der Welt, die USA,
steuerfrei. gleich: „Nicht jeder, der nackt in die Ba- beim Kampf gegen Steueroasen eher halb-
Nur bei einem sehr kleinen Steuer- dewanne steigt, zeigt sich auch gern unbe- herzig unterwegs ist. Zum einen bietet der
schlupfloch konnten sich die Gegner von kleidet am FKK-Strand.“ Bundesstaat Delaware Hunderttausenden
Steuervermeidung durchsetzen. Seit Kur- Der Transparenzansatz wird derzeit Briefkastenfirmen einen anonymen Unter-
zem gilt für sogenannte Lizenzboxen ein politisch nicht forciert. Ein solcher Versuch schlupf. Zum anderen zeigen sich die ame-
informeller Mindeststeuersatz. Bei diesem wäre aussichtslos. Würden alle anderen rikanischen Regierungen, gleich welcher
Modell werden zum Beispiel Erträge aus Staaten weiter gehende Schritte beschlie- Couleur, seit je vergleichsweise duldsam
Patenten gesondert ausgewiesen und nied- ßen, würden Japan und die USA die bis- gegenüber den steuerlichen Streuverlusten
rig besteuert. Für diese Konstruktionen herige Vereinbarung aufkündigen. Der in aller Welt. Dabei stünden die Steuerer-
gilt in Irland und den Niederlanden, dass Schaden fiele größer aus als der zusätzli- sparnisse von Google, Apple, Amazon und
sie mit dem halben regulären Körperschaft- che Nutzen. Co. eigentlich dem US-Fiskus zu.
steuersatz belastet werden müssen. Ein weitere Möglichkeit, Steueroasen So wie nahezu sämtliche Gewinne der
Das Problem: Nirgendwo ist im EU- das Wasser abzugraben, könnte darin be- deutschen Automobilbauer in Wolfsburg,
Recht eindeutig festgelegt, ab wann ein stehen, ihnen Konkurrenz zu machen. München oder Stuttgart versteuert werden,
Körperschaftsteuersatz zu niedrig ausfällt. Doch dieser Weg verbietet sich für große müssten die Abgaben auf die Erträge von
Eine weitere Transparenzoffensive schei- entwickelte Volkswirtschaften. Bei solchen US-Multis in die amerikanische Staatskas-
tert bislang am Widerstand der USA und Wettrennen um den niedrigsten Tarif kön- se fließen. Denn weltweit gilt das Prinzip,
Japans. Dabei geht es um die Steuerzah- nen sie nur verlieren. Für Länder ohne gro- dass dort Steuern anfallen, wo produziert
lungen, die international tätige Unterneh- ße industrielle Basis wie Malta oder Zy- wird.
men in den einzelnen Ländern leisten. Bis- pern mag es sich lohnen, Gewinne mit Doch das amerikanische Steuerrecht
lang sollen nur die Steuerverwaltungen in Niedrigstsätzen anzulocken. Industriestaa- hält seit Jahrzehnten ein Schlupfloch für
den beteiligten Staaten erfahren, wie viel ten und Volkswirtschaften mit breiter Pro- heimische Unternehmen offen. Es erlaubt
welcher Konzern im jeweiligen Land be- duktionspalette dagegen zahlen bei dem diesen, ihr geistiges Eigentum, also vor
rappt. Gegen eine Veröffentlichung für die Versuch unweigerlich drauf. Der Grund: allem Patente, Lizenzen oder Filmrechte,

www.volkswagen.de

Bewahrt den Abstand. Sie die Ruhe.

Der Passat. Mit optionalem Stauassistent.


Der teilautonome Stauassistent im Passat bremst und beschleunigt automatisch.
DER PASSAT. JETZT BESONDERS
So kommen Sie entspannter durch den Stau – ganz gleich, wer vor Ihnen fährt. GÜNSTIG MIT 1,99 % FINANZIERUNG
FÜR 249 € MONATLICH.¹
Wir bringen die Zukunft in Serie.

Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert 7,3–3,8; CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert 167–96. ¹Ein Finanzierungsangebot der Volkswagen Bank GmbH, Gifhorner Straße 57, 38112
Braunschweig, beim teilnehmenden Volkswagen Partner für einen Passat Variant Trendline 1,4 l TSI 92 kW (125 PS) 6-Gang (Kraftstoffverbrauch in l/100 km: innerorts 6,9–6,8, außerorts
4,6–4,4, kombiniert 5,4–5,3; CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert 126–123), 48 Monate Laufzeit, 10.000 km jährliche Fahrleistung, Anzahlung 8.000,00 €, Nettodarlehensbetrag
19.825,00 €, Sollzinssatz (gebunden) p. a. 1,97 %, effektiver Jahreszins 1,99 %, Schlussrate 11.520,44 €, Gesamtbetrag 21.072,44 €. Gilt für Privatkunden und gewerbliche Einzelabnehmer
(ohne Sonderabnehmer). Bonität vorausgesetzt. Es besteht ein gesetzliches Widerrufsrecht für Verbraucher. Abbildung zeigt Sonderausstattung gegen Mehrpreis.
„Das können wir im Alleingang“
Finanzpolitik Wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki, 65, europäische Steueroasen trockenlegen will

SPIEGEL: Herr Kubicki, seit Jahren tun sen, dass irgendwo auf der Welt Erträ- Kubicki: Wieso?
sich die Finanzminister aller möglichen ge steuerfrei kassiert werden, verwei- SPIEGEL: Weil dann China und Indien
Länder zusammen, um Steuerschlupf- gern wir den Abzug als Betriebsausga- sich bestärkt fühlen könnten, Gewinne
löcher zu stopfen. Trotzdem kommen be. Dann kommt der deutsche Fiskus deutscher Autobauer in ihrem Land zu
immer wieder Steuertricksereien ans wenigstens zum Teil auf seine Kosten. besteuern. Jetzt kassieren vor allem
Tageslicht. Wundert Sie das? Dazu brauchen wir keine bilateralen deutsche Finanzämter bei BMW, VW
Kubicki: Das sind keine Tricksereien. Vereinbarungen, und wir müssen auch und Daimler.
Die meisten der beschriebenen Fälle die EU nicht fragen. Kubicki: Ich glaube nicht, dass der deut-
sind durchaus legal. Wir sollten Men- SPIEGEL: Ihr Parteivorsitzender Christian sche Fiskus dabei draufzahlt. Fest steht
schen und Unternehmen, die sich Lindner will auch amerikanische Multis doch, dass wir auch künftig weltweit
gesetzeskonform verhalten, nicht vor- wie Apple stärker zur Kasse bitten, die immer mehr solcher Geschäfte haben
werfen, dass sie das tun. in Deutschland kaum Steuern zahlen. werden. Da müssen wir schon darauf
SPIEGEL: Nicht alles, was legal ist, ist Wollen Sie das durch eine Sonderabga- achten, dass wir einen gerechten An-
auch legitim. be erreichen? teil vom Steueraufkommen im Lande
Kubicki: Eine gehörige Mitschuld an Kubicki: Nein, ich möchte nur, dass halten.
den Zuständen tragen doch die Staaten Gleiches gleich behandelt wird. Ein SPIEGEL: Halten Sie es für legitim, dass
selbst. Sie schaffen es nicht, ordentli- ausländisches Unternehmen soll bei Finanzminister Peter Altmaier die an
che Gesetze zu erlassen. Seit Jahrzehn- vergleichbarem Geschäft genauso be- den jüngsten Enthüllungen beteiligten
ten schlagen sich die Finanzverwaltun- lastet werden wie ein einheimisches, Zeitungen aufgefordert hat, dem Fi-
gen mit dem Phänomen der Steuer- auch wenn es nicht hier produziert. nanzministerium die Daten zur Verfü-
oasen herum, und das Ärgerliche dabei Das lässt sich mit Maßnahmen im Kör- gung zu stellen?
ist, dass es sie nicht nur auf den Ber- perschaftsteuerrecht erreichen. Kubicki: Ich finde das Ansinnen merk-
muda- oder Cayman-Inseln gibt, son- SPIEGEL: Weltweit gilt das Prinzip, würdig, weil die Zeitungen damit Ge-
dern direkt vor unserer Haustür. dass dort besteuert wird, wo die Wert- fahr laufen würden, ihre Quellen preis-
SPIEGEL: Sie spielen an auf Malta … schöpfung stattfindet. Wenn Sie das zugeben. Das stößt sich mit dem Prin-
Kubicki: … die Niederlande, Irland, aufweichen, schaden Sie deutschen In- zip der Pressefreiheit. Ich finde die
Luxemburg und andere, ganz genau. teressen. Aufforderung zudem peinlich.
Über deren Steuerregime muss man SPIEGEL: Warum?
nachdenken, gerade wenn man die eu- Kubicki: Die Bundesregierung würde
ropäische Einigung vorantreiben will. damit zum Trittbrettfahrer. Warum
Es kann doch nicht sein, dass sich schickt sie nicht selbst Beamte nach
einige Mitgliedstaaten der EU auf Kos- Panama oder in die anderen Steuerpa-
ten ihrer Partner bereichern. radiese? Die meisten Auskünfte über
SPIEGEL: Etwas genauer, bitte. Anleger aus dem Ausland sind dort öf-
Kubicki: Die Niederlande erheben auf fentlich zugänglich.
Lizenzgebühren, die ein deutsches Un- SPIEGEL: Ex-Finanzminister Steinbrück
ternehmen an seine niederländische spricht Ihnen die Befähigung zum Fi-
Holding überweist, keine oder nur sehr nanzminister ab, weil Sie als Strafver-
geringe Steuern. In Deutschland sind teidiger auch Beschuldigte im Cum-Ex-
die Lizenzkosten aber als Betriebsaus- Steuerskandal verteidigen. Sind Sie be-
gaben steuerlich abzugsfähig. Unter eu- fangen?
ropäischer Solidarität stelle ich mir et- Kubicki: Mir fehlen die Worte, dass
was anderes vor. So etwas muss man Peer Steinbrück die Prinzipien
sich doch nicht zehn, fünfzehn Jahre des Rechtsstaats offensichtlich nicht
lang angucken. verstanden hat. Strafverteidiger
SPIEGEL: Die Finanzminister verweisen sichern von Gesetzes wegen die Ord-
gerne darauf, dass steuerliche Maßnah- nungsgemäßheit eines Verfahrens.
men in der EU nur einstimmig verab- Ihnen ist aufgegeben, ihre Mandanten
schiedet werden können, was schwer vor staatlicher Willkür zu bewahren.
zu erreichen sei. Durch sein bekannt nassforsches
Kubicki: Das Argument halte ich für vor- Auftreten will er offensichtlich davon
geschoben. Niemand, auch die EU ablenken, dass er es, aus welchen
HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF

nicht, kann uns vorschreiben, wie wir Gründen auch immer, als Finanzminis-
unser Steuerrecht auszugestalten ha- ter unterlassen hat, die Lücken
ben. Das Problem mit niederländi- im Steuerrecht zu schließen. Das,
schen Lizenzboxen können wir im Al- was Wolfgang Schäuble 2012 gemacht
leingang lösen. hat, hätte Steinbrück schon 2006
SPIEGEL: Wie denn? vollziehen können. Dem deutschen
Kubicki: Wir können ganz einfache Re- Fiskus wären mehrere Milliarden
geln im deutschen Steuerrecht aufstel- FDP-Politiker Kubicki Euro an Steuererstattungen erspart
len. In allen Fällen, in denen wir wis- „Vorgeschobenes Argument“ geblieben.

76 DER SPIEGEL 46 / 2017


Wirtschaft

im Ausland bei Tochtergesellschaften zu


parken, was zur Folge hat, dass deren
DER SPIEGEL
Gewinne auch an deren Standorten ver-
steuert werden. Deshalb kam Apple, wie
die neuen Papiere nahelegen, nicht auf
die Idee, seine Gewinne zu Hause zu ver-
im Gespräch mit
steuern, nachdem ein Schlupfloch in Irland
gestopft wurde. Stattdessen klapperte das
Unternehmen mithilfe eines regelrechten
Fragebogens infrage kommende Steuer-
Kirsten Niehuus und
Tom Tykwer: live
oasen ab, um optimalen Unterschlupf zu
finden.
Warum lässt die amerikanische Regie-
rung dies zu, warum ändert sie nichts an
der seit Langem bekannten Schieflage?
Die Saumseligkeit hat zwei Gründe: Zu
Beginn diente die Regelung dazu, den ame-
rikanischen Fiskus vor Einnahmeverlusten

Joachim Gern

Sabine Engels

privat
Auf der Suche nach
optimalem Unterschlupf
klapperte Apple
Steueroasen ab.
zu bewahren. Wenn Unternehmen ihre Ge-
winne im Inland nicht zu versteuern brau-
chen, dürfen sie ihre roten Zahlen eben-
falls nicht steuerlich geltend machen. Tom Tykwer Kirsten Niehuus Lars-Olav Beier
Doch auch als sich die hochinnovativen
Konzerne als dauerhaft rentabel erwiesen,
drehten die Steuerbehörden das Prinzip
nicht um. Der Grund: Noch jede US-Re-
gierung sah die Regelung als eine Art Ex- Mit der Fernsehserie „Babylon Berlin“ hat der Regisseur
portsubventionierung für ihre heimische Tom Tykwer („Lola rennt“, „Das Parfüm“) einen großen Erfolg
Wirtschaft an. Ihnen ist die Weltgeltung
geschaffen. Kirsten Niehuus, Geschäftsführerin der Filmförderung
der US-Unternehmen wichtiger als die ent-
gangenen Steuermilliarden. des Medienboard Berlin-Brandenburg, fördert seit 2004 Filme und
Bleibt der Kampf gegen Steueroasen Serien und hat auch „Babylon Berlin“ unterstützt.
deshalb vergebens? Eher nicht, aber er ist
ein mühsames Unterfangen, bei dem sich Das Fernsehen erlebt gerade einen enormen Boom –
die Erfolge nicht schnell zeigen. bedroht es das Kino? Ist der klassische Spielfilm ein Auslaufmodell?
Auch der neuen Bundesregierung wird
nichts anderes übrig bleiben, als weiter zu Lassen sich gute Geschichten endlos fortspinnen?
versuchen, mit Ausdauer und Augenmaß Wo werden die Stars von morgen herkommen?
darauf hinzuwirken, den Steueroasen in
aller Welt den Zufluss von frischem Geld Und was wünschen sich die Zuschauer?
abzugraben. Manch ein Akteur unter den
Jamaika-Sondierern, etwa FDP-Vize Wolf-
gang Kubicki, schätzt die nationalen Mög- Moderation: Lars-Olav Beier, Redakteur im Kulturressort
lichkeiten, Druck auf Steueroasen auszu-
üben, viel höher ein, als es zuweilen den
Anschein hat. Er hält es für denkbar, dass Montag, 27. November, 20.00 Uhr, Delphi Filmpalast,
Deutschland manches Problem im Allein- Kantstraße 20 a, 10623 Berlin
gang lösen könnte (siehe Seite 76).
Der künftige Finanzminister sollte sich
dabei vor allem darauf konzentrieren, die
Partner in der EU zu überzeugen, keine Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de.
ungebührlichen Steuerprivilegien zu ge- Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 8 Euro, Abonnenten 8 Euro, zzgl. Gebühren.
währen – und auch die USA dafür zu ge- Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
winnen. Denn beim Kampf gegen Steuer-
oasen ist es wie beim Klimawandel: Ohne
die größte Volkswirtschaft der Welt lässt
sich kaum etwas ausrichten.
Christian Reiermann

DER SPIEGEL 46 / 2017 77


Wirtschaft

Smarter Köter
Digitalisierung Japan hat jahrelang auf tier- und menschenähnliche Roboter gesetzt. Ein kom-
merzieller Erfolg waren sie nicht. Nun will Sony den elektronischen Hund Aibo wiederbeleben.

T
omoaki Kasuga, 61, erinnert sich gangenen anderthalb Jahrzehnten ver- Nun meldet sich ausgerechnet Sony als
noch genau an seinen letzten Ar- loren auch andere japanische Konzerne Roboterwerkstatt zurück. Mit einer neuen
beitstag bei Sony. Er dachte nur da- ihren Ehrgeiz, Roboter für Unterhaltungs- Version des Aibo. Im Januar wolle man
ran, möglichst schnell selbst eine Firma zu zwecke zu entwickeln: Autobauer Toyota den Roboterhund reanimieren, kündigte
gründen und eigene Roboter zu entwi- besitzt zwar Zweibeiner, die Trompete der Konzern vergangene Woche in Tokio
ckeln. Seine Bosse bei Sony, das spürte er oder Geige spielen – aber auch um die an. Dann soll der smarte Köter nicht mehr
seit Langem, interessierten sich kaum noch wurde es still. Asimo, der Roboter von nur mit dem Kopf wackeln können und
für Aibo, den Roboterhund, den Kasuga Konkurrent Honda, macht höchstens noch über Wohnzimmerteppiche krabbeln. Aus-
mitentwickelt hatte. mal von sich reden, wenn er ausländischen gestattet mit künstlicher Intelligenz soll
Das war 2001, fünf Jahre später stellte Staatsgästen die Hände schüttelt. Aibo auch mit dem Internet verbunden
der japanische Elektronikhersteller die Pro- Zwar produzieren die Japaner nach wie sein. Als eine Art lernendes und sich lau-
duktion des Aibo ein. Fortan war Sony vor Armeen von Industrierobotern – Spe- fend erneuerndes Cyberhaustier. Zum Ein-
mit sich selbst beschäftigt und mit seinem zialhersteller wie Fanuc oder Yaskawa ge- stiegspreis von 1500 Euro.
Niedergang als Kultmarke. Nach und nach hören zu den Weltmarktführern. Doch der Aibos geplante Wiederbelebung passt
zog sich das Unternehmen auch aus der japanische Traum, dem auch Ex-Sony- in die industriepolitische Landschaft.
Herstellung von Laptops und Flachbild- Mann Kasuga anhängt, schien ausge- Premier Shinzo Abe hat eine „Roboter-
schirmen zurück. träumt: Roboter zu ertüfteln, die auf zwei revolution“ ausgerufen, er will verstärkt
Japan war einmal das „Roboter-König- oder vier Beinen gehen und Menschen im Automaten mobilisieren, um den Perso-
reich“ – so ein Buchtitel. Doch in den ver- Alltag begleiten. nalmangel in der alternden und schrump-

KIM KYUNG-HOON / REUTERS

Roboterhund Aibo

78 DER SPIEGEL 46 / 2017


fenden Gesellschaft zu lindern. Arbeiten über Roboter“, sagt Taka-
Allein in der Altenpflege dürften nishi. „Aber wenn die Firmen un-
in Japan Schätzungen zufolge im sere Erkenntnisse nicht nutzen, um
Jahr 2025 rund 380 000 Arbeits- marktreife Produkte zu entwickeln,
kräfte fehlen. fallen wir global zurück.“
Der Anstoß für die geplante Re- Stattdessen kaufen die Japaner
naissance der Roboter kommt von verstärkt Know-how im Ausland.
außen: Amerikanische Herausfor- Masayoshi Son, der koreanisch-
derer wie Google oder Amazon stämmige Gründerboss des Tele-
sind dabei, den Alltag mithilfe kombetreibers Softbank, hat es
künstlicher Intelligenz umzuwäl- mit Firmenkäufen und -beteiligun-
zen. Japan fürchtet, immer weiter gen zum Internetmilliardär ge-
zurückzufallen. bracht. Er sieht kluge Roboter als
Als der frühere Aibo-Entwickler Schlüssel für die nächste Stufe der
Kasuga von der Wiederkehr des IT-Revolution.
Roboterhundes erfuhr, freute er Vor einigen Jahren erwarb
sich. Als er den Prototyp dann Softbank Aldebaran, den fran-
aber im Fernsehen sah, war er zösischen Hersteller des Roboters
nur noch enttäuscht. Sony habe Pepper. In japanischen Banken
sich, meint er, wenig Neues einfal- und Geschäften begrüßt Pepper
len lassen. „Der neue Aibo sieht bereits die Kunden. An seiner

ANDRONIKI CHRISTODOULOU / AGENTUR FOCUS


zwar etwas niedlicher aus, dagegen Brust ist ein Tabletcomputer befes-
wirkte der frühere aber moderner, tigt. Pepper bewegt sich auf Rollen
futuristischer.“ und spricht mit piepsiger Stimme.
Künftig soll Aibo über WLAN Er ist der erste marktreife Huma-
mit einer Cloud verbunden sein. noide, der menschliche Emotionen
„Doch dafür braucht man keinen deuten kann, etwa anhand der
Roboter“, bemängelt Kasuga, „da- Stimme seines Gesprächspartners.
für kann man sich auch einen Laut- Pepper wird auch in Altersheimen
sprecher mit künstlicher Intelligenz in Tokio als Betreuer eingesetzt.
etwa von Google oder Amazon hin- Er animiert Greise zu Gymnastik-
stellen.“ Sony fehle offenbar der Ingenieur Takanishi mit Kobian: Mimik für sechs Gefühle übungen. Indes ist er nicht in der
Mut, die Roboter-Evolution voran- Lage, menschliche Pfleger voll
zutreiben und die Welt mit etwas völlig an der Waseda-Universität in Tokio stellt zu ersetzen. Er ist vor allem ein Spiel-
Neuem zu überraschen. er seine bislang klügste Kreatur vor. Ko- kamerad.
In welche Richtung sich die nächste Ge- bian heißt der Maschinenmensch, er misst Demnächst könnte Sonys Aibo ihm
neration der Unterhaltungsroboter entwi- 1,45 Meter. Damit sei er etwa so groß wie Gesellschaft leisten. Mit dem Roboterhund
ckeln müsste, führt Kasuga bei Speecys, eine durchschnittliche Japanerin, sagt will Sony offenbar beweisen, dass es seine
seiner Tokioter Firma, vor. Kosaka Cocona Takanishi. Mit seiner Mimik kann er sechs Krise überwunden hat. Für das laufende
heißt das jüngste Geschöpf aus seiner Pro- Gefühle ausdrücken: Angst, Glück, Über- Geschäftsjahr, das am 31. März endet,
duktion. Sie ist bildhübsch, hat blaue Au- raschung, Trauer, Ärger, Abscheu. rechnet es mit einem Rekordgewinn von
gen und rote Haare. Sie sieht aus wie eine „Wenn Roboter Emotionen verstehen, 630 Milliarden Yen. Neue Geräte tragen
Comicfigur, und sie bewegt sich exakt so, könnten sie Menschen dienen, ohne auf nur noch relativ wenig zur Bilanz bei.
wie ihr Besitzer es gern möchte. Kommandos zu warten.“ In etwa fünfzig Sony ist heute der führende Zulieferer von
Kasuga tippt einen Befehl in den Com- Jahren, hofft Takanishi, können Huma- optischen Sensoren, damit beliefert es
puter: Kosaka Cocona hebt die Arme und noide so viel leisten wie Menschen. Auch insbesondere Smartphone-Hersteller wie
beginnt zu tanzen. Im Rhythmus einer Pop- Fahrzeuge sollen sie dann steuern. Das Apple. Auch der wiedererweckte Aibo soll
melodie wiegt sie den Kopf und schiebt hält der Professor für praktikabler, als mithilfe der Sensoren seine Umwelt wahr-
ein Bein vor das andere. Die Figur ist be- selbstfahrende Autos zu entwickeln. nehmen.
sonders leicht, weil ihre 34 Gelenke nicht Doch er sorgt sich um die Zukunft. Hei- Das heutige Sony hat nur noch wenig
mehr von einzelnen Motoren bewegt wer- mische Hersteller schaffen es meist nicht, gemein mit der coolen Marke, die einst
den, sondern von dünnen Kunststofffäden für ihre Roboter attraktive Software zu Weltneuheiten wie den Walkman erfand.
– und die werden von einem zentralen An- entwickeln. Die Situation sei ähnlich wie „Die Kreativität ging verloren“, sagt der
trieb aus gelenkt. bei den Handys, bei denen Apple die einst frühere Sony-Mann Kasuga. Wenn jemand
„Roboter sollten elegant sein“, sagt Ka- führenden Japaner mit dem iPhone über- eine brillante Idee geäußert habe, hätten
suga. Sein Tanzroboter ist individuell pro- trumpft hat. zehn Kollegen sogleich Bedenken ange-
grammierbar und 45 Zentimeter groß. Der- Besserung ist nicht in Sicht: Die Nation meldet. Er ist froh, dass er nicht mehr da-
zeit entwickelt Kasuga eine Version, die der Mechaniker hat es versäumt, genügend bei ist. Sonst hätte sein innovativer Man-
mehr als dreimal so groß sein wird. Er will Informatiker auszubilden, die zum Beispiel ga-Roboter Kosaka Cocona nie das Licht
sie an Manga-Fans verkaufen und an Ge- Algorithmen für künstliche Intelligenz ent- der Welt erblickt. Wenn Roboter denn
schäfte, die damit Kunden anlocken. wickeln. Insgesamt fehlen rund 130 000 blicken können. Wieland Wagner
Japaner sind von der Idee besessen, IT-Experten, bis 2020 könnte sich der Fehl- Mail: wieland.wagner@spiegel.de
menschenähnliche Roboter, sogenannte bestand gar auf 190 000 Fachkräfte erhö-
Humanoide, zu erschaffen. Einer, der den hen, schätzt die Regierung in Tokio. Video: Mensch oder
Traum nie aufgegeben hat, ist Atsuo Den Konzernbossen mangelt es über- Maschine?
Takanishi, Präsident der Gesellschaft für dies an Risikobereitschaft. „In Japan ver-
spiegel.de/sp462017roboter
Robotik. In seinem Institut für Humanoide öffentlichen wir viele wissenschaftliche oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 46 / 2017 79


Wirtschaft

Verpatzte
ternehmen haben wir jederzeit im Ein- abgestimmt haben. Dafür spricht, dass alle
klang mit den gesetzlichen Vorschriften drei eine Vereinbarung mit Metro getrof-
gehandelt.“ fen haben, die darauf abzielt, dass sie ihre

Entschärfung
Doch die Vorwürfe der Staatsanwalt- Aktien fünf Jahre lang nicht an Erich Kel-
schaft sind nicht die einzige Gefahr für lerhals verkaufen. Dem Feind, den man
Olaf Koch. Im Zuge der Ermittlungen gerade aus dem Konzern gestoßen hatte,
könnten Dinge ans Licht kommen, die wollte man so die Tür zuhalten.
Handel Metro-Chef Olaf Koch kaum weniger brisant sind. Es wäre ungewöhnlich, hätte eine der
Um ihren Verdacht zu erhärten, werden Familien sich ein solches Verkaufsverbot
wollte mit der Aufspaltung des die Ermittler nachforschen, wann ein Zu- auferlegt, ohne zu wissen, ob es auch die
Konzerns einen Befreiungsschlag standekommen der Abspaltung wahrschein- anderen tun.
lich war. Sehr genau werden die Ermittler Haniel und Beisheim wollten sich dazu
schaffen. Die Aktion könnte ihn untersuchen müssen, wann die drei Eigen- nicht äußern, Schmidt-Ruthenbeck war für
jedoch den Job kosten. tümerfamilien der Metro, Haniel, Schmidt- eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Ruthenbeck und Beisheim, ihre Zustim- Ein abgestimmtes Verhalten aber wäre

D
ie Kundschaft, die am vergangenen mung zu der Aufspaltung gaben. Die drei brisant: Es könnte dazu führen, dass die
Freitag beim Großhandelskonzern hielten knapp die Hälfte der Aktien, mit neue Metro körperschaftsteuerliche und
Metro in Düsseldorf vorstellig wur- ihrem Okay war die Sache praktisch durch. gewerbesteuerliche Verlustvorträge in
de, war unerwünscht. Sie kam in Beglei- Im Metro-Umfeld heißt es, die Familien Höhe von 5,6 Milliarden Euro nicht gel-
tung der Polizei, ging mit mutmaßlich teu- hätten erst bei der Hauptversammlung im tend machen darf. Entgangene Steuerer-
rer Ware und zahlte nicht einmal: eine Februar 2017 zugestimmt. Es ist allerdings sparnis: 500 Millionen Euro.
Staatsanwältin mit drei männlichen Kolle- realitätsfremd anzunehmen, dass sich das Das Management zeigt sich überzeugt,
gen, begleitet von zwei Frauen der Finanz- Metro-Management auf so ein Vabanque- diese Verlustvorträge auch künftig nutzen
aufsicht. Sie suchten Beweismaterial für spiel eingelassen hätte. zu können. Das ginge jedoch nur, wenn
den Verdacht des Insiderhandels und der Wahrscheinlicher ist, dass die Familien die Finanzbehörden die Familien nicht als
Marktmanipulation durch Topmanager des schon früher signalisiert haben, den Deal sogenannte Erwerbergemeinschaft betrach-
Konzerns. zu unterstützen – und dass sie sich darüber ten. Metro verweist dazu im Aufspaltungs-
Eine Razzia und jede Menge bericht auf eine verbindliche Aus-
Ärger. Dabei wollte Metro-Chef kunft des Finanzamts, die dem Kon-
Olaf Koch eigentlich für Ruhe sor-
Die neue Metro-Struktur zern das bestätige.
gen, als er im März 2016 die Auf- An der Aussagekraft dieser Aus-
spaltung des Konzerns in Großhan- Familie kunft bestehen jedoch Zweifel. In
del und Elektronikgeschäft ankün- Großhandel/ Lebensmittel 10% Unterhaltungselektronik Kellerhals dem Auskunftsantrag der Metro an
digte. Und Ruhe hieß: Über den die Behörden soll eine wesentliche
Umweg des Konzernumbaus sollte Information fehlen: die Vereinba-
der streitlustige Miteigentümer bei 100% 100% 78,4 % 21,6 %
rungen der Metro mit den Familien,
der Metro-Tochter Media-Saturn- nicht an Kellerhals zu verkaufen.
Holding, Erich Kellerhals, aus dem Metro Real Media-Saturn-Holding Die Ermittler und womöglich
Konzern herausgedrängt werden. Cash & Carry Media Markt, Saturn, Redcoon auch die Steuerbehörden dürften
Leider gehen Bomben manchmal sich nun dafür interessieren, wie
gerade dann hoch, wenn man sie und wann die Vereinbarungen ge-
entschärfen will. Die Aufspaltung troffen wurden.
könnte Koch den Job kosten. Für Metro-Chef Koch könnte die
Vier Beschuldigte führt die Sache heikel werden, wenn er die
Staatsanwaltschaft in Sachen Steuererklärung für das Geschäfts-
Insiderhandel. Aufsichtsratschef jahr 2016/17 unterschreibt und sich
Jürgen Steinemann und Vorstand herausstellt, dass sie einen Verlust-
Pieter Boone kauften kurz vor der vortrag geltend macht, der auf
Aufspaltungsankündigung Aktien, fragwürdige Weise zustande gekom-
die Ermittler haben den Verdacht, men ist.
dass sie da schon wussten, was kurz Dabei hatte sich der Aufspal-
darauf kam. Zudem soll ein Mit- tungsdeal für Koch und seine
arbeiter unterhalb der Führungs- Kollegen erst einmal richtig gelohnt.
ebene Informationen an seinen Va- 47 Millionen Euro an Boni wurden
ter weitergegeben haben, der habe dem Topmanagement im Zuge des
dann Aktien gekauft. Umbaus zugesagt. Größtenteils wa-
Der Vorwurf der Marktmanipu- ren es Zahlungen, die ohnehin ge-
INA FASSBENDER / PICTURE ALLIANCE / DPA

lation dagegen trifft Koch selbst. Er flossen wären und wegen der Auf-
und der gesamte damalige Metro- spaltung vorgezogen wurden. Bei
vorstand sollen dafür verantwort- den Aktionären kamen sie dennoch
lich sein, dass die Aufspaltung zu nicht gut an. „Wenn unsere besten
spät, nämlich erst am 30. März 2016, Jahre erst noch kommen sollen, ist
gemeldet wurde, was den Börsen- Ihr bestes Jahr schon gewesen“,
preis beeinflusst haben könnte. spottete damals der Aktionärsver-
Metro erklärt zu allen Vorwürfen: treter Hans-Martin Buhlmann.
„Bei der Aufteilung der Metro Susanne Amann, Martin Hesse
Group in zwei selbstständige Un- Metro-Großmarkt in Dortmund: Eine Razzia und viel Ärger Mail: martin.hesse@spiegel.de

80 DER SPIEGEL 46 / 2017


JULIA WANG / AP
Waymo-Mitarbeiter, selbstfahrendes Auto auf Forschungsgelände in Kalifornien: „Einen besseren Fahrer bauen“

über teilautonome Autos und Fahrerassis- Die über acht Jahre gesammelte Erfah-

Alleinige tenzsysteme gehen, sondern dem Roboter rung der Ingenieure macht sich in der neu-
die alleinige Kontrolle übergeben. esten Ausführung des Google-Projekts
„Wir bauen kein besseres Auto, sondern deutlich bemerkbar, der Minivan fährt flüs-

Kontrolle einen besseren Fahrer“, sagt Krafcik, der sig und zumindest in der Testsituation per-
früher das US-Geschäft des koreanischen fekt. 25 000 virtuelle Google-Autos legen
Autoherstellers Hyundai leitete. Die Way- jeden Tag zehn Millionen Meilen im Simu-
Mobilität Der Google-Ableger mo-Ingenieure sind überzeugt, dass dies lator zurück. Dazu kommen 10 000 Meilen
der einzige verantwortungsbewusste Weg täglich auf echten Straßen, nicht nur auf
Waymo hat auf einem lange sei, denn teilautonome Autos seien zu ge- dem Testgelände, sondern im Silicon Val-
geheimen Testgelände erstmals fährlich: Der menschliche Fahrer trage bei ley, in Texas und Arizona. In einem Vorort
diesem System die Verantwortung und von Phoenix läuft seit diesem Frühjahr ein
fahrerlose Minivans vorgestellt, müsse stets bereit sein einzugreifen – sei erster öffentlicher Test: Registrierte Nutzer
die völlig autonom sind. aber ständig versucht, das zu vergessen können die vollautomatischen Autos wie
und der Technik zu sehr zu vertrauen. Taxis bestellen und sich chauffieren lassen.

D
as Central Valley ist der vergessene Eine gefährliche Kombination, so Kraf- Das Auto werde sich grundlegend ver-
Hinterhof von Kalifornien, heiß cik, und zum Beweis zeigt er Videos von ändern, sagt Krafcik, über 100 Jahre sei es
und trocken, abgelegen und spär- Google-Testfahrern aus früheren Jahren. auf den Fahrer ausgerichtet gewesen,
lich besiedelt. Genau deswegen hat die Den Testern sei eingeschärft worden, im- selbstfahrende Autos aber müssten für den
Google-Mutter Alphabet hier ihre wohl mer voll aufmerksam zu sein, aber die Passagier designt sein. Erste Versuche sind
wichtigste Forschungsbasis errichtet, um Aufnahmen zeigen einen Fahrer, der bei im Innenraum des Pacifica zu sehen: Mo-
den intelligentesten Roboter der Welt zu 90 Stundenkilometern auf dem Highway nitore zeigen den Mitfahrern grafisch auf-
bauen: Geschützt von meterhohen Zäunen hinter dem Steuer schläft, und eine Fah- bereitet, was das Auto mit all seinen Sen-
und Wachmannschaften drehen auf rund rerin, die sich bei Tempo 80 auf der Land- soren in bis zu 300 Meter Entfernung sieht.
37 Hektar jeden Tag Dutzende selbstfah- straße schminkt. Solcher Leichtsinn lasse Mithilfe eines Kontrollpanels kann der Mit-
rende Autos endlose Runden. sich nur ausschalten, wenn die Maschine fahrer die Fahrt starten und abbrechen,
Google übernahm das Gelände, einen immer allein die Kontrolle habe. Wenn et- Hilfe rufen oder die Türen entriegeln.
ehemaligen Stützpunkt der amerikani- was schiefläuft, greift in den Waymo-Autos „Um sich gut zu fühlen, müssen Passa-
schen Luftwaffe, 2013 und baute neue Stra- nicht der Mensch, sondern ein zweiter giere das Gefühl haben, die Kontrolle zu
ßen und Verkehrskreisel, Bahnübergänge Computer ein. haben“, sagt Juliet Rothenberg, zuständig
und Wohnheime für die aus dem 200 Kilo- Bei einer Probefahrt über das Gelände für die „User Experience“ in den Minivans.
meter entfernten Silicon Valley anrei- sitzt deshalb auch kein Ingenieur mehr zur Zuletzt hat Waymo viele Leute darauf an-
senden Ingenieure. Alles mit einem Ziel: Sicherheit hinter dem Lenkrad. Der Test- gesetzt, diese Nutzererfahrung zu gestalten,
„In den Startlöchern zu stehen für eine wagen ist ein Minivan von Fiat Chrysler, ein Signal, dass Waymo sich konkret auf
Welt mit vollautonomen Autos.“ So sagte Modell Pacifica. Rund 100 dieser Autos hat einen Marktstart für seine vollautonomen
es John Krafcik, Chef von Waymo, der Waymo bislang zum vollautonomen Mobil Autos vorbereitet. Krafcik bleibt jedoch
Google-Schwesterfirma für selbstfahrende umgebaut, erstes sichtbares Ergebnis der vage, wann genau es losgehen soll, er sagt
Autos, vorige Woche in einer Werkstatt- im Frühjahr 2016 geschlossenen Koopera- nur: „Wir sind nah dran.“
halle des Testgeländes zwischen zerlegten tion zwischen dem Digital- und dem Auto- Klar ist, dass Waymo keine Autos bauen
Radareinheiten und Lasersensoren. konzern. 500 weitere folgen nun. wird, sondern ein technologisches System,
Google ist der Pionier der selbstfahren- Zügig fährt der Minivan durch zahlrei- eine Art Roboter mit Führerschein, einzu-
den Autos, aber inzwischen arbeiten nahe- che Teststationen, weicht Radfahrern aus kaufen wie ein Softwarepaket. Krafcik sagt:
zu alle Autokonzerne und mehrere andere und Autos, die aus verdeckten Einfahrten „Einmal gebaut, können wir unseren Fahrer
Techfirmen an eigenen Projekten. Wer das schießen, hält an ausgefallenen Ampeln, an vielen Stellen einsetzen.“ Thomas Schulz
Rennen gewinnen wird, ist längst nicht reduziert die Geschwindigkeit an Baustel-
mehr sicher, deshalb bemüht sich Waymo len. Nach zwei Minuten schon ist verges- Video: So funktioniert das
zu beweisen, dass Google immer noch in sen, dass kein Mensch am Steuer sitzt – Google-Auto
einer eigenen Liga spielt: Im Gegensatz zur auch wenn sich das Lenkrad geradezu ge- spiegel.de/sp462017auto
Konkurrenz will Waymo nicht den Umweg spenstisch vor dem leeren Fahrersitz dreht. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 46 / 2017 81


6 Prämien zur Wahl!
JETZT LESER WERBEN – SIE MÜSSEN SELBST NICHT ABONNENT SEIN.

100 € Amazon.de Gutschein Wagenfeld-Tischleuchte WG 24


Über eine Million Bücher sowie 250 000 CDs, Der Bauhaus-Klassiker! Aus vernickeltem
DVDs, Spiele, Technikartikel und vieles mehr Metall, Klarglas und Opalglas. Nummeriert.
stehen zur Auswahl. Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung nur € 149,–.

TomTom START 42 CE T € 100,– Geldprämie


Karten für 19 Länder Europas. Mit 4,3"-Touchscreen, Erfüllen Sie sich oder Ihren Lieben einen
4-GB-Speicher. Inkl. Halterung, Autoladegerät und besonderen Wunsch, oder legen Sie die € 100,–
USB-Kabel. Ohne Zuzahlung. für eine größere Anschaffung zurück!
Teasi One3 eXtend Navi Neu: iPad 32 GB Wi-Fi Space Grau
Für Rad, Wandern, Ski und Boot. Mit Arbeiten, spielen, surfen und mehr. Mit 9,7"-Retina-
8,8-cm-Display, Routing, Gratiskarten Display, Fingerabdruck-Sensor und 8-Megapixel-
und 3-D-Kompass. Ohne Zuzahlung. Kamera. Gewicht: 469 g. Zuzahlung nur € 269,–.

 
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile  Wertvolle Wunschprämie für den Werber. Frau
ğšwğšĒğšŋųťťťğŅĒťŭłğĴō^V0(>>ğťğšťğĴō  -ğšš
Fćŋğ, vœšōćŋğ
ųŋvœšųĬťŝšğĴťťŭćŭŭǽōųšǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ>ĴğĨğšųōĬ
ųĨwųōťĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽ"ǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ 19
^V0(>#œœłť ^ŭšćŬğ+-ćųťōš Geburtsdatum

Wunschprämie ǾǽǽŋćœōĚğ(ųŭťĔığĴō ("ǽ5"* V> Lšŭ


wćĬğōĨğŅĚeĴťĔıŅğųĔıŭğ(-5-* ŅĬǾ1
eğćťĴLōğ-ğ|ŭğōĚFćžĴ("-*
eğŅğĨœō)ĨŸšğžğōŭųğŅŅğZŸĔłĨšćĬğō* DćĴŅ)ĨŸšğžğōŭųğŅŅğZŸĔłĨšćĬğō*
(ŅČųĒĴĬğš0ĚğōŭĴĪłćŭĴœōťōųŋŋğš"ǽǽǽǽǽǽǽ-ǽǿǽ

ĴVćĚ-ǿ(#^ŝćĔğ(šćų("".-* ŅĬǿ1
eœŋeœŋ^eZeǿ4e ("* Gleich mitbestellen! :ćĴĔıŋŘĔıŭğųťČŭŅĴĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽ"ǽ
ŝšœųťĬćĒğĒğĴğığōťŭćŭŭĨŸšĴŋĴōğŅłćųĨ ^Ǿ5ǽǾ"
 Ǿǽǽ1(ğŅĚŝšČŋĴğ(ǿǾǽ*. DğĴō<œōŭœĨŸšĚĴğpĒğšſğĴťųōĬ
 :ć ĴĔı ſŸōťĔığ ųōžğšĒĴōĚŅĴĔığ ōĬğĒœŭğ Ěğť ^V0(>vğšŅćĬť ųōĚ Ěğš ŋćōćĬğš ŋćĬćĴō vğšŅćĬťĬğťğŅŅťĔıćĨŭ
DE )ųğĴŭťĔıšĴĨŭğō#ŸĔığšōĒœōōğŋğōŭťLōŅĴōğVšœĚųłŭğōųōĚvğšćōťŭćŅŭųōĬğō*ŝğšeğŅğĨœōųōĚ+œĚğšDćĴŅDğĴō
ĴōžğšťŭČōĚōĴťłćōōĴĔıĿğĚğšğĴŭſĴĚğššųĨğō
0#F
Anschrift des Werbers: ğšōğųğĒœōōğōŭŅĴğťŭĚğō^V0(>ĨŸšųōČĔıťŭ"ǿųťĬćĒğōĨŸšųšğĴŭǽŝšœųťĬćĒğťŭćŭŭǽĴŋĴōğŅłćųĨ
Ěğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅųťČŭŅĴĔıĨŸšǽ"ǽŝšœųťĬćĒğćťĒœōōğŋğōŭžğšŅČōĬğšŭťĴĔıĿğſğĴŅťųŋſğĴŭğšğ"ǿųťĬćĒğō
Frau ſğōōōĴĔıŭťğĔıťwœĔığōžœšōĚğĚğť#ğųĬťğĴŭšćųŋťĬğłŸōĚĴĬŭſĴšĚ
 -ğšš
Fćŋğ, vœšōćŋğ Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* žĴğšŭğŅĿČıšŅĴĔı".ǽĚĴĬĴŭćŅğųťĬćĒğıćŅĒĿČıšŅĴĔıǾ-1
ĴğDćōĚćŭťšğĨğ
DE šğōſĴšĚťğŝćšćŭ
mitgeteilt.
^ŭšćŬğ+-ćųťōš 0#F
^VǾ5Ǿǽ
V> Lšŭ ćŭųŋ kōŭğšťĔıšĴĨŭĚğťōğųğō>ğťğšť
Coupon ausfüllen und senden an:
DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg 040 3007-2700 www.spiegel.de/p17
ğšwğšĒğšğšıČŅŭĚĴğVšČŋĴğĔćžĴğšwœĔığōōćĔıćıŅųōĬťğĴōĬćōĬĚğťĒœōōğŋğōŭĒğŭšćĬťğšvœšųĬťŝšğĴťžœōǽ"ǽĨŸšĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĬĴŅŭōųšĴōvğšĒĴōĚųōĬŋĴŭğĴōğŋŅćųĨğōĚğō#ğųĬĚğšVšĴōŭćųťĬćĒğğōŭıćŅŭğōťĴōĚǽĨŸšĚćťVćŝğš
#ğĴ^ćĔıŝšČŋĴğōŋĴŭųćıŅųōĬĬŅǿ1FćĔıōćıŋğĬğĒŸıšŅŅğVšğĴťğĴōłŅųťĴžğDſ^ŭųōĚvğšťćōĚćťōĬğĒœŭĬĴŅŭōųšĴōğųŭťĔıŅćōĚ-ĴōſğĴťğųĚğō(#ųōĚĚğŋwĴĚğššųĨťšğĔıŭĪōĚğō^ĴğųōŭğšſſſťŝĴğĬğŅĚğ+ćĬĒ^V0(>vğšŅćĬZųĚœŅĨųĬťŭğĴō
(ŋĒ-34œ<(šĴĔųťťŝĴŭğǾǿǽ"5-ćŋĒųšĬeğŅğĨœōǽǽ-ǽǽ5ǿ5ǽǽDćĴŅćĒœťğšžĴĔğ6ťŝĴğĬğŅĚğ
* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Raus aus den Gräben
Debatte Warum die öffentlich-rechtlichen Sender und die Verlage mehr
gemeinsame Interessen als Konflikte haben. Von Stefan Raue

JORG GREUEL / MIKE HILL / GETTY IMAGES

E
in Montagabend in Bonn. Die Medienpreise der nem durch den Kopf, wenn man sich mit so einer einzig-
Deutschen Bischofskonferenz und der katholischen artig guten Reportage beschäftigt und spürt, welchen ho-
Publizisten werden vergeben. Prämiert wird eine hen Wert seriöse, sensible, elegante, empathische, präzise
Reportage von Claas Relotius, die im SPIEGEL erschienen und verständliche Angebote der Qualitätsmedien in sich
ist. Eine packende, präzise und im besten Sinne empathi- tragen. Relevant und schön, wichtig und auch unterhalt-
sche Reportage über zwei Geschwister aus Aleppo, die sam, auf ganz besondere Weise.
nach der Flucht in der Türkei gestrandet sind und dort Das ist keine Einzelmeinung eines Journalisten, der vor
300 Kilometer voneinander entfernt für einen Hungerlohn Kurzem Intendant geworden ist. Das Hohelied der ge-
ihr Leben fristen. Eine Schauspielerin trägt den bewegen- druckten Reportage wird von fast allen Kolleginnen und
den Text vor, der traumhaft sicher den Ton trifft, eine Kollegen der Öffentlich-Rechtlichen gesungen. Ohne Über-
schöne und klare Sprache ohne Betroffenheitsfloskeln. treibung: Es gibt keine größeren Fans der deutschen Qua-
Die Laudatorin würdigt zu Recht die Sogwirkung dieses litätszeitungen und -zeitschriften als die Mitarbeiter von
unprätentiösen, aber so trefflichen Textes. ARD, Deutschlandradio, ZDF und Co. Überspitzt: Wenn
Als Zuhörer kommt man ins Grübeln, gerade in diesen ich mir die Abo-Listen der Redaktionen anschaue, frage
hysterischen Monaten, in denen es scheinbar um die Zu- ich mich manchmal, wer noch Zeitungen lesen wird, wenn
kunft der Printverlage und des öffentlich-rechtlichen Rund- es die Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr geben sollte.
funks geht. In Zeiten, in denen alle seriösen Medien unter Wenn sie „abgestorben“ sind, wie es zwei bis dahin hoch-
dem Trommelfeuer der „Lügenpresse“-Schreihälse weiter geschätzte Kollegen einer Sonntagszeitung angeregt haben.
ihrer Arbeit und ihrer Aufgabe nachgehen müssen. Man Genau das macht die große Verwirrung dieser Tage aus.
kommt als Zuhörer ins Grübeln, wie es gelingen konnte, Viele Kollegen, die beim Rundfunk arbeiten, haben wie
aus der Diskussion über die Nachverwertung von Film- ich wichtige Phasen ihres Werdegangs bei Zeitungen erlebt,
produktionen im Netz und die Neuformulierung eines Te- waren Reporter oder Redakteure bei kleinen oder großen
lemedienauftrags für die Öffentlich-Rechtlichen einen ve- Verlagen. Die Liebe zu Print ist uns allen auch nach vielen
ritablen Bruder- und Schwesternkrieg zwischen Printbran- Jahren geblieben, und nun das. Seit Monaten ein Dauer-
che und öffentlich-rechtlichem Rundfunk vom Zaun zu beschuss. Zeitungen, in denen sonst auch komplexe The-
brechen, der, und das ist sicher, tief greifende Folgen für men auf 80 Zeilen reduziert werden, räumen ganze Seiten
das Verhältnis von Zeitungen und öffentlich-rechtlichem frei. Manche Texte stehen beispielsweise in der „Frank-
Hörfunk und Fernsehen haben wird. Das alles schießt ei- furter Allgemeinen Zeitung“, im „Handelsblatt“ und in

84 DER SPIEGEL 46 / 2017


Medien

der „Welt“. Auch in einem SPIEGEL-Titel war in einer Pole- kriegerische Vokabular auch im Konjunktiv oder Irrealis
mik vom „Staatsfunk“ die Rede. eigentlich weit unter Niveau.
In wutschnaubenden Texten von sonst abgewogen und War es das wert? Der Kampf um den Markt im Internet?
zierlich formulierenden Autoren verschwimmen die Gren- Glauben die Verlage wirklich, dass die Vernichtung oder
zen von Kommentar und Bericht, die Angegriffenen kom- das „Absterben“ der Öffentlich-Rechtlichen die Finanzie-
men in der Regel nicht zu Wort, inhaltliche Kritik wird mit rung der Zeitungen über ihre Bezahlangebote im Netz si-
falschen Gehaltsangaben und angeblichen Privilegien der cherstellen können? Seit einigen Jahren gibt es Tages-
öffentlich-rechtlichen Redakteure vermischt, es wimmelt schau.de im Netz, hat das die Vormachtstellung von
von Reizwörtern wie „aufgeblasen“, „unnütz“, „büro- Bild.de, SPIEGEL ONLINE und Focus.de in irgendeiner
kratisch“, „träge“, „überaltert“, „überflüssig“ – bis hin zur Weise gefährdet? Nein! Würde die Verdrängung der Öf-
unseligen „Nordkorea“-Provokation des Springer-Chefs fentlich-Rechtlichen aus dem Netz dazu führen, dass es
Mathias Döpfner, den man als Meister der Formulierung keine kostenlosen Info-Angebote mehr gibt? Nein! Face-
kennt und der den Dreiklang „Öffentlich-Rechtliche/Staats- book und andere Giganten bieten jederzeit über ihre
rundfunk / Nordkorea“ genauso komponiert wie beabsich- Newsfeeds kostenlose Informationen, die von knapp 50 Pro-
tigt hat. Die Protagonisten dieser Kampagne machen ihren zent der jungen Nutzer in den USA als wichtige Nachrich-
Lesern selten deutlich, dass sie hier journalistisches Terrain tenquelle gesehen werden. Und weiter: Gibt es die sagen-
verlassen und selbst Partei sind. Wochenlang verging kaum haften presseähnlichen Seiten überhaupt noch im Netz?
ein Tag ohne Angriffe unter die Gürtellinie. Das offensicht- Nein! Wer die Angebote der Verlage betrachtet, findet
liche Ziel: die öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Mit- dort alles, was mit Pressetext kaum noch etwas zu tun hat.
arbeiter lächerlich zu machen, ihnen den professionellen Fotogalerien, Bewegtbild, animierte Grafiken, Streaming,
Respekt zu entziehen, sie zu delegitimieren. Das sind keine TV-Produktionen ohne Lizenz, die privaten Angebote ha-
Kollegen, heißt die Botschaft, und das schmerzt uns öffent- ben sich in den letzten Jahren den Multimediaangeboten
lich-rechtliche Zeitungsfans, und diese Erfahrung werden der Öffentlich-Rechtlichen spürbar angenähert. Warum?
wir eine ganze Weile mit uns herumtragen, auch wenn der Weil presseähnliche Auftritte im Netz für ein breites Pu-
Pulverdampf verzogen ist. blikum nur wenig attraktiv sind. Warum also dieser Krieg
der Verleger für ein Verbot der presseähnlichen Angebote

U
m es klar zu sagen: Das duale System mit kom- für ARD und andere, für ein Verbot von Angeboten, die
merziellen und öffentlich-rechtlichen Medien ist sie selbst überhaupt nicht mehr produzieren lassen, weil
politisch gewollt, verfassungsrechtlich geboten und sie ihnen offensichtlich nicht lukrativ genug erscheinen?
publizistisch fruchtbar. Und dieses Konkurrenzverhältnis War es das wert? Meine Antwort mag wenig überra-
bedeutet Spannungen, Interessenkonflikte und Streit. Nur schend sein: Ich finde, dass der Interessenkonflikt zwi-
braucht dieser Streit keine polemischen Leerformeln wie schen den Verlegern und den Öffentlich-Rechtlichen die-
Staatsrundfunk oder Kapitalistenpresse. Wir sind alle er- sen giftigen, selbstzerstörerischen und kleingeistigen Krieg
wachsen und professionell genug, um mit politischem oder nicht wert war. Wer immer noch nicht begriffen hat, wel-
ökonomischem Druck umzugehen. Natürlich ist Kritik an che Gefahren wirklich drohen, der konnte bei den Me-
uns Öffentlich-Rechtlichen und unseren Programmen not- dientagen in München vor wenigen Wochen einen guten
wendig, wichtig und erwünscht. Und natürlich hat auch Einblick erhalten. Der Burda-Manager Philipp Welte schil-
manches im eigenen Umgang mit den Verlagen und Print- derte dort, auf wie dramatische Weise die Werbeerlöse
kollegen zur Entfremdung zwischen den beiden journa- von den klassischen Medien weg zu den neuen globalen
listischen Säulen unserer Gesellschaft beigetragen. Wie Konzernen wie Facebook, Google und Co. verlagert wer-
viele Themen saugen wir täglich aus den Zeitungen, ohne den. Und auch die RTL-Chefin Anke Schäferkordt machte
die Quelle unserer Erkenntnisse immer korrekt zu nen- deutlich, wie übermächtig stark und alles verschlingend
nen? Wie oft geht der eine oder andere Welterklärer in diese globalen Player auch den europäischen Medienmarkt
unseren Redaktionskonferenzen mit Anregungen und tief greifend verändern werden.
Kommentaren hausieren, die wir später in ganz ähnlichen

W
Formulierungen in den Leitartikeln der Tageszeitungen enn der Pulverdampf hierzulande sich irgend-
lesen? Haben wir den wirtschaftlichen Kampf der Verlage wann verzogen hat, sollten die Gräben wieder
nach dem Einbruch des Anzeigengeschäfts wirklich ernst verlassen werden. Kompromiss heißt das Zauber-
genommen? Hat es uns nachdenklich gemacht, als viele wort, das in den letzten Wochen der rüden Kapitulations-
Verlage mit ihren Pressehäusern aus den Innenstädten in forderungen so aus der Mode gekommen zu sein scheint.
die Gewerbegebiete vor der Stadt gezogen sind? Waren Wo sind die zentralen wirtschaftlichen Interessen der Ver-
wir solidarisch, als Zeitungstitel aufgegeben und viele Re- leger im Netz? Können sich die öffentlich-rechtlichen
dakteure und Redakteurinnen entlassen wurden? Haben Angebote aus diesen Bereichen zurückziehen, ohne ihre
wir die neue Welt des Internets nicht zunächst bloß als Kernaufträge aufzugeben? Wo gibt es Kooperationsmög-
neuen und grenzenlosen Kontinent gesehen, den es zu er- lichkeiten, die den Wettbewerb nicht verzerren? Gibt es
obern galt? Nein, auch bei den Öffentlich-Rechtlichen gab möglicherweise Clearingstellen, durch die die Konflikte
und gibt es kleine und große Sünden, die zur Folge haben, kollegial und kompromissorientiert bereinigt werden, ohne
dass sich viele Printkolleginnen und -kollegen in ihrer be- das lautstarke Herbeirufen des Staats? Ich bin derzeit nicht
sonders angespannten Situation wenig respektiert und besonders optimistisch, es ist viel zerstört worden in den
nicht kollegial behandelt fühlen. Und vielleicht sind wir Monaten der großen Kampagne. Aber vielleicht hat ja einer
manchmal auch etwas empfindlich, wenn wir jede Kritik der Beteiligten den Mumm, mal die Verlegerkongresse sein
an uns gleich als Angriff auf die Demokratie überhaupt zu lassen und Kompromisse zu wagen. Wir öffentlich-recht-
interpretieren. lichen Zeitungsfans hoffen es.
Dennoch: Die seit Monaten andauernde Kampagne
einiger Verlagshäuser ist von anderem Kaliber, der unver- Raue, 58, ist seit September dieses Jahres Intendant von
hohlene Druck auf Staat und Parteien ohne Maß und das Deutschlandradio.

DER SPIEGEL 46 / 2017 85


Wächserne Lady
Sie hätten bei Madame Tussauds in
London eine bessere Woche abwarten
sollen, um die Wachskopien von
Premierministerin Theresa May und
Außenminister Boris Johnson zu
enthüllen. Denn in der nicht so schönen
Realität mussten gerade zwei von
Mays Ministern zurücktreten, weitere
könnten folgen. Zudem erweist sich
der Brexit als so komplex, dass er fast
unmöglich erscheint. Vermutlich
hätte May da gern eine Doppelgänge-
rin, die ihr ein paar Probleme abnimmt.
DYLAN MARTINEZ / REUTERS

Kommentar

Trump im Nebel
Warum der US-Präsident ausgerechnet in Seoul plötzlich ganz zahm klingt
Es hätte ein starker Auftritt werden können: US-Präsident Trump im Dilemma. Greift er Kim an, riskiert er Zehntausen-
Donald Trump am 38. Breitengrad, der Demarkationslinie de Tote in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, eine Wirt-
zwischen den verfeindeten Koreas, den Blick nach Norden ge- schaftskrise, womöglich gar einen dritten Weltkrieg.
wandt, Richtung Pjöngjang. Doch vor der Landung musste Daher versuchte er es auf seiner Asienreise zur Abwechs-
Trumps Hubschrauber vergangenen Mittwoch wieder abdre- lung mit gemäßigten Tönen. Es sei in Pjöngjangs Interesse,
hen – wegen Nebel. Der vereitelte Grenzausflug symbolisiert „an den Tisch zu kommen und einen Deal zu vereinbaren“,
die Widrigkeiten, mit denen Trump es auf der koreanischen warb er. Gleichzeitig drängte er seine Gastgeber in Tokio und
Halbinsel zu tun hat. Er ist angetreten, Diktator Kim Jong Un Seoul erfolgreich zum Kauf amerikanischer Waffen im
von dessen Atomprogramm und der Entwicklung von Lang- Wert von Milliarden Dollar. Die Verbündeten sollen sich für
streckenraketen abzubringen. Mal drohte er dem Norden mit den Ernstfall rüsten, den Trump erst denkbar gemacht hat.
„Feuer und Zorn“, mal mit „völliger Zerstörung“. Mit seinen Auf die zentrale Frage aber bleibt Trump eine Antwort
Twitter-Tiraden hat er die Spannungen in Ostasien angeheizt schuldig: Wie will er Kim auf friedliche Weise von dessen ge-
wie kein US-Präsident vor ihm. fährlichem Atomkurs abbringen? Dazu wären zähe Gespräche
Aber stoppen konnte er Kim bislang nicht. Nicht mit Sank- zwischen Washington und Pjöngjang nötig. Dass Trump das
tionen, nicht mit Säbelrasseln, nicht mit Appellen an China und schafft, ist nach dieser Reise genauso zweifelhaft wie zuvor.
Russland, Nordkorea unter Druck zu setzen. Und so steckt Wieland Wagner

86 DER SPIEGEL 46 / 2017


Ausland
USA schen Druck, die Gesetze so
Schusswaffendichte
Mehr Waffen, Anzahl auf 100 Einwohner weich zu belassen, wie sie
mehr Täter 90
USA
sind. Dabei zeigen Studien in-
zwischen: Einzig die Verfüg-
Wieder ein Amoklauf, der barkeit von Waffen ist verant-
wohl ohne Konsequenzen 80 wortlich für Massenschieße-
bleibt: 26 Menschen starben Amokläufe von 1966 bis 2012,
reien und Amokläufe. Die
am Sonntag in Texas, als ein 70 nur Länder über 10 Mio. Einwohner Amerikaner machen 4,4 Pro-
Quelle: Adam Lankford; „New York
Schütze in einer Kirche das Times“; Small Arms Survey zent der Weltbevölkerung aus,
Feuer eröffnete, unter ihnen 60 ihnen gehören aber 42 Pro-
sieben Kinder und eine zent der global in Privatbesitz
Jemen
Schwangere. Dennoch wird befindlichen Schusswaffen.
50
auch dieses Attentat, wie so Zwischen 1966 und 2012 wur-
viele zuvor, kaum Auswir- Irak de fast jeder dritte Amoklauf
kungen auf die Waffendebat- 40 oder Massenmord mit Schuss-
Kanada
te haben. Auch der jüngste Frankreich waffen in den Vereinigten
Vorstoß von Demokraten, 30 Staaten begangen. Die Zahlen
die eine schärfere Kontrolle entstammen einer Studie des
der Waffenkäufer fordern, 20 Deutschland Wissenschaftlers Adam Lank-
wird von den Republikanern ford von der Universität Ala-
ziemlich sicher abgeblockt 10 bama. Soziale Spannungen,
werden. psychische Erkrankungen
Seit Jahren scheitern Ver- Afghanistan oder die Nutzung von Compu-
0
suche, den Zugang zu Schuss- 0 10 20 30 40
terspielen stehen dagegen
waffen einzudämmen – die Amokläufe mit Schusswaffen nicht in direktem Zusammen-
Waffenlobby ist einfach zu für jedes Land umgerechnet auf hang mit den vielen Gewalt-
stark. Das erhöht den politi- 100 Mio. Einwohner taten in den USA. cx

Philippinen bündet und in unterirdischen Dureza: Unser Signal ist klar,


„Wir verstehen hier Lagern in der Stadt über Mo- wir verstehen hier auf den Phi-
keinen Spaß“ nate Waffen angehäuft. Und
so wachten wir eines Tages
lippinen keinen Spaß. Wir
eliminieren IS-Führer gezielt.
Jesus Dureza, 69, Berater der auf, und die Terroristen führ- Aber wir wissen auch, dass die
Regierung Duterte, über den ten sich auf, als hätten sie ein Extremisten weiter versuchen
Terror der Islamisten im Süden Kalifat errichtet. werden, Anhänger zu rekru-
der Philippinen SPIEGEL: Womöglich war Ihre tieren, vor allem unter jungen
Regierung zu sehr mit dem Muslimen sind sie erfolgreich.
SPIEGEL: Fünf Monate dauerte Krieg gegen die Drogen be- SPIEGEL: Der islamisch gepräg-
es, die Stadt Marawi von Ter- schäftigt? te Süden, vor allem die Insel-
roristen zu befreien, die sich Dureza: Die Terroristen waren gruppe Mindanao, gilt als be-
mit dem „Islamischen Staat“ in den Drogenhandel ver- nachteiligte Region.
verbündet haben. Warum so wickelt, durch ihn haben die Dureza: Wir haben jetzt die
Fußnote lange? Aufständischen sich finan- Gelegenheit, diese historische
Dureza: Die Terroristen war- ziert. Unser Krieg gegen Dro- Ungerechtigkeit zu beseiti-

50
Männer und Frauen haben
sich in Simbabwe für das
en schwer bewaffnet. Sie
hatten alle strategischen Orte
im Zentrum eingenommen
und hielten Geiseln. Wir
mussten bei der Bombardie-
rung vorsichtig sein. Doch
gen ist also auch Terror-
bekämpfung.
SPIEGEL: Der IS verliert im
Nahen Osten an Boden. Wird
Südostasien sein neuer Rück-
zugsraum?
gen, denn darin liegt die Wur-
zel des Terrors. Die philippi-
nischen Muslime fordern seit
Jahrzehnten mehr Selbstbe-
stimmung.
SPIEGEL: Was wollen Sie tun?
Amt des Henkers bewor- wir haben es geschafft, Dureza: Wir sind da-
ben. Seit 2005 wurden die lokalen Anführer zu tö- bei, den Friedenspro-
in dem südafrikanischen ten; es starben rund 600 Ter- zess voranzubringen
Land keine Todesurteile roristen. Etliche von ihnen und die vor Jahren
mehr vollstreckt. Doch nun stammten aus dem Nahen unterzeichneten Ab-
sprach sich Diktator Ro- Osten, aus Indonesien und kommen mit den Re-
bert Mugabe für ein Ende Malaysia. bellen umzusetzen.
des Moratoriums aus. Die SPIEGEL: Wie konnten Sie die Neue Gesetze sollen
DONDI TAWATAO / REUTERS

Mordrate im Land steigt, Stadt einnehmen? den Muslimen mehr


und die Haftanstalten wer- Dureza: Die Extremisten hat- Rechte geben. Sie sol-
den voller. Derzeit warten ten es leicht, weil Sie unter len ihre Traditionen,
92 Verurteilte in den Ge- den Muslimen im Süden ak- ihren Glauben leben
fängnissen des Landes auf zeptiert waren. Sie hatten dürfen – und Teil un-
ihre Hinrichtung. sich mit lokalen Clans ver- Philippinischer Soldat nach Einsatz seres Landes sein. kku

DER SPIEGEL 46 / 2017 87


TASNEEM ALSULTAN/THE NEW YORK TIMES / LAIF
Kronprinz bin Salman (M.) in Riad: Weitgehende Vollmachten dank eines königlichen Dekrets

Angst und Ambition


Saudi-Arabien Mit einer beispiellosen Säuberungswelle, auch in der eigenen Familie,
markiert Kronprinz Mohammed bin Salman seinen absoluten Machtanspruch.

E
s geschehen unglaubliche Dinge in Prinzen, Milliardäre und Minister verhaf- schnell, so radikal, wie es die Welt noch
diesen Tagen in Riad. Etwa als Pro- tet. Da tritt zum anderen der libanesische nicht gesehen hat?
fessor Saad Albazei im Zelt des Kul- Premier zurück, und spekuliert wird, er Sechs Kilometer nördlich vom Kultur-
turzentrums Sasca das Bild „Tod des Sar- sitze in Riad im Hausarrest. Und dann for- zelt im Hotel Ritz-Carlton ließen sich viel-
danapal“ von Eugène Delacroix zeigt, auf dert Saudi-Arabien auch noch alle seine leicht Antworten auf einige dieser Fragen
dem die Diener des assyrischen Sagen- Landsleute auf, den Libanon zu verlassen. finden. Dort sitzt die politische und wirt-
königs dessen nackte Konkubinen schlach- Und gerade erst hat der junge Kronprinz schaftliche Elite des Landes, allerdings
ten. Verschleierte Akademikerinnen sitzen Mohammed bin Salman das Projekt einer nicht ganz freiwillig. Sie wurden von
in Professor Albazeis Vortrag über „Orien- spektakulären Hightechstadt am Roten schwarzen Limousinen aus ihren Luxusvil-
talismus in der Kunst“. Auch Dichter und Meer vorgestellt, mit selbstfahrenden Au- len abgeholt und in das Hotel gebracht,
Ingenieure in Thaub und Guthra sind ge- tos und Frauen ohne Schleier. In Riad spa- den wohl luxuriösesten Knast der Welt.
kommen, sie alle trauen ihren Augen zieren Verheiratete Hand in Hand, viele Auch der reichste Geschäftsmann Sau-
kaum: Nie zuvor haben sie so eine Malerei, religiöse Fundamentalisten sind entweder di-Arabiens, Prinz Alwaleed Bin Talal,
so viele unverhüllte Frauenleiber gesehen. still oder im Gefängnis. Und, auch das wurde in eine der komfortablen Suiten ein-
Saudi-Arabien befindet sich in diesen noch, bald sollen Frauen sogar Auto fahren gesperrt, ebenso Wirtschaftsminister Adel
Tagen und Wochen in einem Schockzu- dürfen. Etwas ändert sich also im Land, Fakeih, der König Salman noch offiziell
stand. Als wäre es aus dem Tiefschlaf ge- die Frage ist nur: Was bedeutet das alles? beim G-20-Gipfel in Hamburg vertreten
rissen und in den Orbit geworfen, mit noch Droht da nun ein neuer großer Krieg? hatte. Das Königshaus wirft ihnen Unge-
unbekanntem Ziel. Da werden zum einen Oder wird da ein Land modernisiert, so heuerliches vor: Korruption, Geldwäsche,
88 DER SPIEGEL 46 / 2017
Ausland

Vorteilsnahme. Ungeheuerlich, nicht weil Diabetesmedikamente gehalten haben, bis Finanztransaktionen von Personen und Fir-
diese Vorwürfe überraschend oder unbe- dieser seinem eigenen Rücktritt als Innen- men nachvollziehen. Es gibt nun nieman-
rechtigt wären. Sondern weil die Beschul- minister zustimmte. Seither lebt er in sei- den, der mächtiger ist als Mohammed bin
digten bisher als unantastbar galten. nem Palast in Dschidda unter Hausarrest. Salman. Nur: Was will er mit dieser Macht
In einem weitläufigen Büro in einem Ob die Geschichten stimmen oder nicht, anfangen?
Hochhaus von Riad sitzt ein Regierungs- lässt sich nicht nachprüfen. Aber dass sie Wer wissen will, in welche Richtung es
berater, der anonym bleiben will. „Das ist in diesen Tagen erzählt werden, sagt schon gehen kann, der muss sich nur seine bis-
der Anfang eines neuen Saudi-Arabiens“, viel über den Zustand des Landes aus. herige Bilanz anschauen. Seinen verhee-
sagt er, seine Stimmung ist blendend. Viele Saudi-Araber sehen die Verhaf- renden Krieg gegen die Huthi-Rebellen im
„Diese Leute haben schlimme Sachen tungen mit Gefallen, trifft es doch zum Jemen, der Tausende getötet hat – ohne
gemacht, nicht nur ein bisschen Geld hin- ersten Mal die Reichen. „Prinz Naif hat dem Ziel näher gekommen zu sein, im Ge-
terzogen.“ Sondern angeblich rund 90 Mil- nun wenigstens einmal die Schmerzen ge- genteil. Oder die so rigorose wie sinnlose
liarden Euro in drei Jahren – das ist fast spürt, die er so vielen von uns als Innen- Blockade von Katar wegen seiner angeb-
ein Drittel des bundesdeutschen Haushalts. minister zugefügt hat“, sagt ein 28-jähriger lich zu proiranischen Politik.
Bestechung und Erpressung hätten bei vie- Blogger, der sein Geld als Kalligraf ver- Es sieht so aus, als wolle da jemand mög-
len zum ganz normalen Geschäftsgebaren dient. Viele seiner Freunde sitzen im Ge- lichst viel Disruption, als wolle er alles
gehört, sagt der Berater. fängnis. Bisher habe es nur die Aufmüp- Alte auf einen Schlag zertrümmern. Sau-
Da sei zum Beispiel der ehemalige Bür- figen getroffen, „jetzt aber haben alle di-Arabien soll seine bisherige geopoliti-
germeister von Dschidda. Aus Geldgier Angst, niemand ist mehr sicher, auch die sche Zurückhaltung aufgeben, eine Füh-
habe er die Flutgebiete der Stadt als Bau- Milliardäre nicht.“ rungsrolle im Nahen Osten erobern und
land ausgewiesen, ein Kanalsystem wurde Iran zurückdrängen. Eine erzkonservative
bezahlt, aber nie gebaut. Mehr als hundert Monarchie soll im Zeitraffer zum Zukunfts-
Menschen starben bei Überschwemmun- land umgebaut werden. Aber zu viel Dis-
gen, als Bauten unterspült wurden. ruption in einem so erstarrten Land kann
Die meisten Verdächtigen würden an- auch zu gefährlichen Erschütterungen füh-
geklagt, sagt er, ein ziviles Gericht werde ren. Ein politischer Neuling, ausgestattet
sie verurteilen. Alles ganz transparent also, mit fast absoluter Macht – das ist eine ris-
streng nach dem Gesetz, das ist die Bot- kante Mischung.
schaft. Ob er nicht fürchtet, dass diese Wie riskant, das zeigt sich nun an bin
mächtigen Prinzen und Geschäftsleute ir- Salmans Einmischung in den Libanon. Am
gendwann zurückschlagen könnten? Nein, Freitag, dem 3. November, landete das
sagt er, 90 Prozent der Saudi-Araber „tan- Flugzeug von Premier Hariri in Riad, so
zen doch auf der Straße vor Freude“ und viel steht fest. Dann soll er verhaftet wor-
außerdem: Seit drei Jahren arbeite man an den sein, ihm wurde angeblich das Handy
diesen Fällen. Jetzt sei es endlich so weit entzogen – und er zum Rücktritt gezwun-
gewesen, dass man zuschlagen konnte. gen. Jetzt stehe er in Riad unter Hausar-
Ständig werden neue Festgenommene rest. So berichten es zumindest unter-
in das provisorische Gefängnis geschafft, schiedliche Quellen aus seinem Umfeld in
Prinzen, Minister, Ex-Regierungsmitglie- Beirut. Riad bestreitet den Hausarrest.
der und Geschäftsleute. Zur Stunde sind Hariri ist eigentlich eng mit dem Königs-
FAHAD SHADEED / REUTERS

es laut Generalstaatsanwalt 208 Verdäch- haus in Riad verbunden, zugleich aber


tige, von denen bisher nur sieben „ohne regiert er ein Land, das de facto von der
Anklage“ wieder freikamen. Hisbollah beherrscht wird – und mit der
Seit der Verhaftungswelle vom vergan- Hariri, wohl oder übel, paktiert. Die His-
genen Wochenende geht die Angst um im bollah jedoch ist ein Handlanger von Iran,
Königreich. Interviewanfragen werden Geschäftsmann Bin Talal dem Erzfeind Saudi-Arabiens. So kompli-
nicht beantwortet, niemand ist mehr be- In einer komfortablen Suite eingesperrt ziert, so verwirrend verlaufen die Front-
reit, sich öffentlich zu äußern, schon gar linien im Nahen Osten.
nicht kritisch. Aber es geht dem Kronprinzen sicher In seiner Rücktrittsrede warf Hariri Iran
Was sich hier abspielt, ist ein Coup des nicht allein um Gerechtigkeit, um den und der Hisbollah vor, Unfrieden in den
erst 32-jährigen Kronprinzen Mohammed Kampf gegen die Korruption. Er konsoli- arabischen Staaten zu stiften. Er sagte zu-
bin Salman gegen die eigene Elite. Seit Ta- diert mit diesen Verhaftungen seine Macht, dem, er fürchte seine Ermordung. Sein Va-
gen erteilte die Luftfahrtaufsicht keine nun wird es niemand mehr wagen, ihn of- ter Rafiq al-Hariri, ebenfalls einst Premier-
Starterlaubnis mehr für Privatmaschinen, fen zu kritisieren. Schon jetzt ist Kritik minister, wurde 2005 ermordet, vermutlich
auch nicht für die königliche Familie. Im kaum noch möglich, in den vergangenen von der Hisbollah.
Ritz-Carlton sind die Telefone abgestellt. Monaten wurden so viele Kritiker wie sel- Es sieht so aus, als drohe nach der Ka-
Der Kronprinz, der de facto schon mit ten zuvor verhaftet oder unter Hausarrest tarkrise nun die Libanonkrise, mit noch
dem Plazet seines Vaters König Salman gestellt. Ein neues Antiterrorgesetz droht sehr viel gravierenderen Folgen. Eine Wirt-
regiert, fing schon vor fünf Monaten an allen, die den König oder den Kronprinzen schaftsblockade und der Abzug saudi-ara-
aufzuräumen. Er entmachtete den ehema- direkt oder indirekt angreifen, mit bis zu bischen Geldes aus der libanesischen Zen-
ligen Innenminister Prinz Mohammad bin zehn Jahren Haft. tralbank wären möglich, das würde den
Naif, der bis Juni 2017 als potenzieller Ein königliches Dekret, erlassen am Tag ohnehin instabilen Libanon in eine schwe-
Thronfolger gehandelt wurde – bis der Kö- der Verhaftungen, sichert dem Kronprin- re Staats- und Wirtschaftskrise reißen. Und
nig seinen Sohn Mohammed bin Salman zen zudem weitgehende Vollmachten zu. sogar ein Krieg gegen die Hisbollah ist
in der Thronfolge vorzog. Der junge Kron- Als Vorsitzender des Antikorruptionsaus- nicht ausgeschlossen. Dem allmächtigen
prinz soll den alten Rivalen seines Füh- schusses kann er außerdem Vermögen ein- Kronprinzen wäre das leider zuzutrauen.
rungsstabs beraubt und ihn so lange ohne frieren, Reisebeschränkungen erlassen, Susanne Koelbl

DER SPIEGEL 46 / 2017 89


Ausland

Der allmächtige Kronprinz


Essay Mohammed bin Salman will Saudi-Arabien reformieren, aber um sein Ziel zu
erreichen, unterdrückt er jegliche Kritik. Das ist der falsche Weg. Von Jamal Khashoggi

Z
wei Tage vor seiner Verhaftung schickte mir Prinz bin Salman Kronprinz ist, folgt die Vergeltung für jede
Alwaleed Bin Talal eine lange Textnachricht, in der Kritik prompt. Als ich also gewarnt wurde, hielt ich mich
er mich für meine Meinungsartikel in der „Washing- zurück. Ich war verstummt, ja, aber natürlich nicht taub,
ton Post“ und der „Financial Times“ tadelte. Ich hatte es und meine Besorgnis wuchs seither mehr und mehr.
gewagt, Saudi-Arabiens neuen Kronprinzen Mohammed Dass Alwaleed Bin Talal sich von mir fernhielt, störte
bin Salman, meist nur MbS genannt, zu kritisieren. Für, mich nicht weiter. Die Nachricht, die er mir kurz vor
nun ja … Verhaftungen! seiner Verhaftung schickte, hätte nicht loyaler gegenüber
Alwaleed ist ein Neffe des saudischen Königs, ein mil- dem Thronfolger sein können. Er schrieb, ich sollte mich
liardenschwerer Investor und Hotelbesitzer. Ihm gehörte dessen Projekt anschließen: „Unter Führung meines
der Nachrichtensender Al-Arab mit Sitz in Bahrain, den Bruders, Prinz Mohammed bin Salman, wird der vierte
ich einst leitete. Nach drei Jahren der Vorbereitung gingen saudi-arabische Staat errichtet. Unser Land braucht
wir im Februar 2015 auf Sendung. Doch nach gerade mal kluge Köpfe wie dich. Du musst zurückkehren und mit-
elf Stunden beendete Bahrain unsere Übertragung, das machen.“
war das Aus für den Sender. Warum? Vermutlich weil wir Bevor ich antworten konnte, war er schon verhaftet
schiitischen Aktivisten genauso viel Sendezeit gewidmet worden, zusammen mit zehn weiteren Prinzen und meh-
hatten wie der sunnitischen Regierung. reren Dutzend Beamten. Ihnen werden Korruption, Be-
In den vergangenen zwölf Monaten habe ich nur unre- stechung und Geldwäsche vorgeworfen. Doch auch wenn
gelmäßig von Alwaleed gehört, aber das hat mich kaum diese Verhaftungen weltweit Schlagzeilen machten – sie
überrascht. Denn mir war inzwischen verboten worden, sind beileibe nicht die einzigen. In den vergangenen drei
meine Kolumne in der saudi-ara- Monaten wurden mehr als 70 angesehene Intellektuelle,
bischen Tageszeitung „al-Wa- Geschäftsleute und Geistliche weggesperrt – mit Beschul-
Muss ich zusehen, tan“ zu veröffentlichen, danach
durfte ich auch nicht mehr für
digungen, die darauf abzielen, jede Form von Kritik zu
unterdrücken. Die meisten von ihnen sind außerhalb Sau-
wie Freunde die Zeitung „Al Hayat“ schrei- di-Arabiens unbekannt, anders als die nun „Verhafteten“
ben, die ebenfalls saudi-arabi- im Ritz-Carlton. Die meisten sind keine Radikalen, viele
verhaftet werden? sche Besitzer hat. Ebenso wurde unterstützen Reformen, zum Beispiel dass Frauen Auto
Muss ich alles ich angewiesen, nicht mehr zu
twittern, nachdem ich meine Re-
fahren dürfen.
Wie die Stimmung im Land ist, zeigt eine Onlinekam-
gut finden, was gierung mehrfach dafür kriti- pagne, die die Bürger dazu aufruft, sich gegenseitig zu
siert hatte, dass sie sich so klar melden. So soll eine schwarze Liste von Kritikern erstellt
die Regierung tut? auf die Seite von Präsident Do- werden. Die Initiative geht aus von einem hohen Beamten
nald Trump geschlagen hatte. am Königshof, Saud Al-Qahtani. Das sind verabscheu-
Immer wieder werde ich gefragt: „Wer sagt das?“ Nun, ungswürdige Methoden, sie erinnern mich an die Stasi
es sind Leute aus der Regierung und ihre Verbündeten, damals in der DDR. Das ist auch der Grund, warum man
und sie senden eine klare Botschaft, die alle, die die Linie heute nur noch die Leute hört, die Mohammed bin Salman
der erlaubten Kritik schon mal überschritten haben, nur unterstützen. Niemand anderes wagt es, sich zu äußern.
zu gut kennen. Diese Botschaft lautet: Entweder du hörst Was dieser Tage in Riad geschieht, sind grundlegende
auf und stellst deine Kritik ein – oder du riskierst Konse- Umwälzungen, die vielleicht zu einem gerechteren Regie-
quenzen. Erst darfst du nicht mehr reisen, dann folgt Haus- rungssystem führen könnten. Doch danach sieht es leider
arrest, womöglich sogar Gefängnis. nicht aus, zumindest bislang. Wir haben stattdessen nun
Aus den Jahrzehnten, in denen ich diese Linie immer einen Anführer, der noch nicht einmal der offizielle Staats-
wieder überschritten habe, weiß ich, dass heute keine Dis- chef ist – aber der sich mit seiner Verhaftungswelle die
krepanz mehr erlaubt ist zwischen der offiziellen Regie- absolute Macht gesichert hat, zivil wie militärisch.
rungsposition und dem, was die Bürger sagen. Früher hat- Ein Freund rief mich vor ein paar Wochen an und fragte,
ten wir einen erheblich größeren Spielraum. Keine wirk- warum ich MbS so kritisch sehe, ob ich nicht seine Vision
liche Meinungsfreiheit, natürlich nicht. Aber es war eben für Saudi-Arabien verstünde, den Hunger nach Verände-
auch kein von oben verordneter blinder Gehorsam. Und rung. Ich erwiderte mit einer Gegenfrage: Warum dürfen
oft war es auch nicht so sehr die Regierung, die ein Pro- wir heute nicht mehr sagen, was wir denken, wie wir es
blem damit hatte, was einer sagte oder schrieb, sondern bisher getan haben? Ein anderer Freund, ein im Westen
die Ulama, die muslimischen Rechtsgelehrten, die sehr ausgebildeter Saudi-Araber, der Teil des Machtapparats
empfindlich auf Kritik reagieren. Jetzt allerdings ist es die des Kronprinzen ist, sagte mir, wir müssten diese Verhaf-
Regierung, die keine Form von Kritik toleriert. Nichts ist tungswelle tolerieren. Das sei der notwendige Preis für
mehr erlaubt, weder die politische Satire des nun verhaf- das große Ziel: Reform und Wohlstand.
teten Unternehmers Jamil Farsi noch die Forderung nach Tatsächlich? Muss ich wirklich dabei zusehen, wie
mehr Demokratie durch den Gelehrten Salman Al Odah, Freunde verhaftet werden, die nichts anderes getan haben,
der seit September im Gefängnis sitzt. Seit Mohammed als zu sagen, was sie denken? Muss ich wirklich ausnahms-

90 DER SPIEGEL 46 / 2017


FAYEZ NURELDINE / AFP
Militärparade vor Porträts von König Salman (M.), Kronprinz Mohammed bin Salman (l.): Verordneter blinder Gehorsam

los alles gut und edel finden, was unsere Regierung tut? fürchten ihn, keiner will ihn verärgern oder angreifen. Sie
In was für einer Zeit wollen wir denn leben, im 21. oder setzen alle darauf, dass sie, wenn sie als standfeste Getreue
im 17. Jahrhundert? gesehen werden, noch weiter aufsteigen können. Diese
Im Jahr 2011 erhoben sich nach dem Selbstmord des tu- jungen Prinzen sitzen nun an den Hebeln der Macht, die
nesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi Millio- früher nur den Älteren vorbehalten waren.
nen junge Araber. Sie forderten Jobs, ja – sie verlangten Doch absolute Herrschaft ist der falsche Weg, egal wie
aber auch, dass man ihnen zuhört, anstatt sie zum Schwei- klug der Herrscher ist, wie ernst er es meint mit seinem
gen zu bringen. Jobs ohne Mitspracherecht, das mag viel- Reformkurs, egal wie sehr das Land sich nach Rettung
leicht das Modell von Präsident Xi Jinping für China sein. sehnt. Wir Araber haben schon zu oft schlechte Erfahrun-
Doch die meisten Araber bevorzugen eher den Weg einer gen mit vermeintlich ehrlichen, patriotischen Anführern
Angela Merkel. Immer wieder höre ich von jungen Saudi- gemacht, die sich allzu schnell in Diktatoren verwandelt
Arabern, dass sie zutiefst besorgt über den Kurs des Kron- haben. Sie sind verantwortlich für unser Leid, unsere miss-
prinzen sind. Sie wünschen sich zwar Veränderungen, liche Lage, unsere Niederlagen und Bürgerkriege.
aber sie wollen an diesem Prozess teilhaben. Es ist ihnen Der Kampf gegen die Korruption in Saudi-Arabien
wichtig, die Initiative zu ergreifen, eine Stimme zu haben. mag nun im Gange sein, gewiss, aber es ist eher so, als
schlüge man der Medusa einen Kopf ab, während ständig

S
eit 1979 gab es keine solche Paranoia wie derzeit. neue nachwachsen. Deshalb fordere ich einen echten,
MbS ist nicht nur dabei, seinem Vater nachzufolgen, ernst gemeinten Kampf gegen die Korruption, keinen,
er inszeniert sich gerade so, als wäre er unserem der nur auf einige wenige zielt – was lediglich das Ver-
Staatsgründer und erstem König Abdulaziz Ibn Saud eben- trauen der Investoren erschüttert und die Wirtschaft
bürtig. Seine Unterstützer nennen ihn sogar den „zweiten schwächt. Ich will den Extremismus stoppen – aber ich
Staatsgründer“. Wenn er eine Konferenz oder eine Sitzung möchte nicht religiöse Fanatiker durch Faschisten erset-
besucht, dann geht er stets allein voraus, alle anderen fol- zen, die die Tugenden des „großen Führers“ in den Him-
gen ihm. Er wird lediglich mit seinem Vater, dem 81 Jahre mel loben und jede abweichende Meinung gnadenlos un-
alten König Salman, abgebildet. Ohne dessen Unterstüt- terdrücken. Ich wünsche mir, dass mein Land Irans Ein-
zung könnte der Kronprinz seine waghalsigen – manche flussnahme in Syrien, im Jemen und im Libanon entge-
sagen sogar: gefährlichen – Vorhaben nicht durchführen. gentritt und sie beendet – aber ohne einen Krieg anzu-
Zwar hat der Kronprinz das königliche Protokoll auf fangen, der beide Länder zerstören könnte. Ich wünsche
den Kopf gestellt, doch die Grundlagen des Patronagesys- mir ein Saudi-Arabien, das Einfluss in der Region hat –
tems hat er nicht angetastet. Nachdem er im Juni zum aber ohne die kleinen Länder zu drangsalieren, mit denen
Kronprinzen gekürt worden war – und damit seinen wir uns verbünden sollten.
Cousin Mohammad bin Naif verdrängte –, beförderte er Wir müssen den Geist des Arabischen Frühlings an-
40 junge Mitglieder der königlichen Familie in wichtige nehmen, statt ihn zu bekämpfen.
Positionen. Zuvor hatte er bereits 30 junge Mitglieder in
wichtige Ämter berufen. Er stellte dabei sicher, dass die Khashoggi wurde 1958 in Medina geboren, er ist ein bekannter
Ernannten alle Flügel der Familie repräsentieren. Seine Publizist und gefragter politischer Kommentator. Er hat Saudi-
Partner sind diese Leute nicht, eher Gefolgsleute. Sie Arabien inzwischen verlassen und lebt in den USA.

DER SPIEGEL 46 / 2017 91


Ausland

Vergiftetes Land
USA Von wegen erfolglos – bei der Abwicklung des Umweltschutzes ist die Trump-Regierung
erschreckend effektiv. Die Politik diktieren Industrie und Klimawandelleugner.

E
inen Kilometer vom Weißen Haus 1970 wurde die Umweltbehörde gegrün- becken für giftige Abwässer. Sie leben hier
entfernt sitzt ein Mann in einem det, unter Richard Nixon, ausgerechnet eigentlich nicht mehr auf dem Land. Son-
holzgetäfelten Chefzimmer, mit lich- einem Republikaner, und lange Zeit war dern mitten in einem Industriegebiet. Die
tem Haar und gedrungener Figur, so un- Umweltschutz Konsens. Doch die Radika- Anlagen liegen neben Häusern und Schu-
auffällig, dass man ihn sofort wieder ver- len in der republikanischen Partei wurden len; 1,5 Millionen Menschen in Pennsylva-
gisst. Seine Tweets machen keine Schlag- seither immer mächtiger, sie bekämpfen nia leben im Umkreis von einer halben
zeilen, er wütet nicht, er droht nicht mit den Staat und seine Regeln. Dazu kommen Meile um eine der 108 176 aktiven Quellen
Feuer und Zorn, nein, aber das heißt nicht, Unternehmer aus der Energiebranche wie und Weiterverarbeitungsanlagen.
dass er weniger Schaden anrichtet. die Koch-Brüder, die klimawandelskepti- Erdgas, das ist vor allem Methan, doch
Sein Name ist Scott Pruitt, er ist Ameri- sche Gruppen und Politiker mit Hunderten es trägt mit sich Nebenprodukte, toxisch
kas oberster Umweltschützer, Herr über die Millionen Dollar unterstützen. und unsichtbar, etwa flüchtige organische
Environmental Protection Agency, kurz Beim Kampf gegen den Klimaschutz ver- Verbindungen, die zur Ozonbildung bei-
EPA, die größte Umweltbehörde der Welt. mengen sich seither finanzielle Interessen tragen. Außerdem ist Methan das drittwich-
Doch in seiner Antrittsrede kamen „Um- und konservative Ideologie; die Rechten tigste Treibhausgas – und 25-mal schäd-
weltschutz“ und „Klima“ nicht vor, und das sehen im Klimaschutz einen Angriff auf licher als Kohlendioxid.
war kein Versehen. Seither sorgt er dafür, die Freiheit, auf Amerikas Stärke, auf ihr Nasenbluten, Asthma, Ausschläge, Al-
dass die Luft weiterhin verschmutzt werden christliches Weltbild. Es sind Leute, die lergien, Halsschmerzen zählt Bower-Bjorn-
darf, dass Seen und Flüsse vergiftet und vom „klima-industriellen Komplex“ reden son auf, sie hat all das bei ihren vier
schädliche Pestizide auf Obst und Gemüse wie von einer weltweiten Verschwörung. Kindern beobachtet. Auch Krebs und Fehl-
gesprüht werden dürfen. Die Klimapolitik ist also der perfekte geburten kämen in ihrer Gemeinde über-
52 Umweltstandards wurden seit seinem Schauplatz, um zum Helden der Rechten proportional oft vor. Die EPA selbst gibt
Amtsantritt im Januar abgeschafft oder aufzusteigen. Trump hat es so gemacht, zu, dass die Nebenprodukte der Erdgas-
eingefroren. Wölfe dürfen jetzt in Alaska als er im Wahlkampf das Ende des „Krie- förderung krank machen können.
gejagt werden, Bohrungen in der Arktis ges gegen die Kohle“ versprach. Und In dem Bezirk, in dem Scenery Hill liegt,
sind erlaubt, eine umstrittene Pipeline Pruitt, so scheint es, hat Ähnliches vor. haben sie mit großer Mehrheit für Trump
wird gebaut. Der Austritt aus dem Pariser Es gibt zwei Orte, um zu verstehen, wel- gestimmt, 60,8 Prozent; in ganz Pennsyl-
Klimaabkommen wurde verkündet, der che Folgen diese Abwicklung des Umwelt- vania waren es deutlich weniger, nur
Clean Power Plan, Herzstück des Kampfes schutzes hat. Einer ist die riesige Cafeteria 68 000 Stimmen lag Donald Trump vor Hil-
gegen den Klimawandel, blockiert. Pruitt im Untergeschoss der Behörde, dort kann lary Clinton. Er ist also auch wegen der
hat Wissenschaftler entlassen, er hat Infor- man Menschen treffen, die fassungslos Bewohner von Scenery Hill Präsident ge-
mationen zum Klimawandel unterschla- sind angesichts dessen, was ihr Vorgesetz- worden. Und es sind diese Menschen, die
gen, er hat Führungspositionen mit Klima- ter anrichtet. Elizabeth Southerland ge- Trump vielleicht meint, wenn er von Ame-
wandelleugnern besetzt und will ausge- hört dazu, 33 Jahre bei der EPA, sie hat rikas „vergessenen Männern und Frauen“
rechnet einen Kohlelobbyisten zu seinem schon viele Regierungen erlebt. „Aber bis- spricht, denen er helfen wolle. Aber seine
Stellvertreter machen. her war das Ziel immer der Umweltschutz. Regierung tut genau das Gegenteil.
Damit ist dieser Umweltschützer, der die Jetzt ist es das Gegenteil.“ Bis Anfang Juni dieses Jahres hatten die
Umwelt nicht schützen will, Donald Trumps Um sie soll es später noch einmal gehen. Energiekonzerne Zeit, Teile einer Verord-
bester Mann, in keinem Bereich wird so viel Der zweite Ort liegt fünf Autostunden nung umzusetzen, verabschiedet noch unter
von der Politik des Präsidenten umgesetzt nordwestlich von Washington, dort, wo die Obama: Sie sieht vor, dass die Unternehmen
wie hier, wird so viel zertrümmert vom Erbe Marcellus-Formation beginnt, ein Gasfeld den Austritt von Methan beim Fracking mi-
Barack Obamas. Es gibt wohl kaum einen von der Fläche Westdeutschlands, der be- nimieren sollen. Die Luft in Scenery Hill
Ort, an dem der Trumpismus so blüht wie deutendste Teil liegt in Pennsylvania. Einst wäre sauberer, die Menschen wären gesün-
in Pruitts EPA, dieser Mischung aus Inkom- war die Gegend ein Zentrum der Kohle- der, und gut fürs Klima wäre es auch.
petenz, Paranoia, Wissenschaftsfeindlichkeit industrie, heute ist der Bundesstaat der Zudem sollen alle Energiekonzerne mes-
und Interessenpolitik. zweitgrößte Förderer von Erdgas, das beim sen, wie viel Methan aus ihren Anlagen
Und das ist erst der Anfang. Denn es Fracking mit gewaltigem Druck und Einsatz überhaupt entweicht; so ließe sich erstmals
geht nicht nur darum, ein paar Standards von Chemikalien aus der Erde gepresst wird. der Umfang des Problems abschätzen.
zurückzudrehen, sondern das größte Pro- Ausgerechnet Scenery Hill heißt der Ort, Doch was macht Scott Pruitt, der Mann,
jekt der Umweltbehörde zu beerdigen: den Panoramahügel könnte man das überset- der Menschen und Umwelt schützen soll?
Kampf gegen die Erderwärmung. zen. Und wenn die Tanzlehrerin Lois Bo- Am 1. März geht bei der EPA ein Schrei-
Eine Gefahr ist das, nicht nur für Ame- wer-Bjornson, 51, aus ihrem Haus tritt, brei- ben von Justizministern und Gouverneu-
rika, sondern für die ganze Welt. Die USA tet sich da tatsächlich ein Panorama aus. ren aus elf Bundesstaaten ein; sie fordern,
sind nach China der zweitgrößte Produ- Allerdings nicht mehr nur aus grünen Hü- die Methan-Evaluation einzustellen. Ihre
zent von Treibhausgasen. Und der Ver- geln, sondern aus Förderanlagen. Befürchtung verheimlichen die Antragstel-
such, die Erderwärmung zu begrenzen, Als Bower-Bjornson und ihr Mann aus ler nicht: Wenn der Umfang des frei wer-
wie gerade wieder bei der Klimakonferenz dem nahen Pittsburgh hierherzogen, war denden Methans bekannt werde, könne
in Bonn, rückt in die Ferne, wenn die Ame- ihr Haus umgeben von Wiesen. Inzwi- das „zur Auferlegung von erdrückenden
rikaner beim Klimaschutz nicht mehr mit- schen stehen überall Bohrtürme, Kompres- Klimastandards bei bereits bestehenden
machen. soren, Pipelines, Flüssiggastanks, Auffang- Anlagen führen, was zu enormen Kosten

92 DER SPIEGEL 46 / 2017


und Ausgaben führen würde“. Der Brief
schließt mit dem Satz: „Wir hoffen, dass
diese erdrückenden Obama-Klimabestim-
mungen nie das Licht der Welt erblicken.“
Einen Tag später stellt Pruitt das Projekt
mit sofortiger Wirkung ein.
Und Anfang Juni, kurz bevor die Un-
ternehmen die Auflagen zur Methan-Kon-
trolle erfüllt haben müssen, setzt Pruitt sie
aus. Erst für 90 Tage, dann für zwei Jahre.
Pruitt, sagt ein früherer EPA-Mitarbeiter
in Washington, arbeite eine Liste ab: „Er
schafft alle Maßnahmen ab, die die Indus-
trie stören. Er ist ihr oberster Lobbyist.“
Dabei zeigen Berechnungen, dass es
nicht nur gut für die Umwelt wäre, das ent-
weichende Methan aufzufangen, sondern
dass die Firmen profitieren würden. „Denn
das ist Methan, das man verkaufen kann“,
sagt der Mann, der daran beteiligt war, die
Standards zu formulieren. Er ist im Januar
ausgeschieden und will anonym bleiben.
„Aber Scott Pruitt versucht, der Indus-
trie Zeit zu kaufen. Bis dahin machen seine
Freunde weiter Geld und zahlen nichts für
die Umweltverschmutzung“, sagt er voller
Wut. „Aber die Kosten dieser Verzögerung
sind absolut niederschmetternd – es wird
mehr Luftverschmutzung geben, mehr
Emissionen, mehr vorzeitige Todesfälle.“
Bevor Pruitt die Umweltbehörde über-
nahm, war er Justizminister in Oklahoma,
einem Staat, der beherrscht wird von der
Öl- und Gasindustrie. Ohne sie kann kein
Politiker etwas werden, und Scott Pruitt
wollte etwas werden. Er ließ sich von den
LEXEY SWALL / DER SPIEGEL

Firmen seine Wahlkämpfe bezahlen, und


als Justizminister half er ihnen dann, alle
Einschränkungen für das Fracking ab-
zuschütteln. Er stellte Verfahren gegen
Umweltsünder ein und verklagte die EPA
14-mal wegen angeblicher Regulierungs-
Erdgasförderung in Scenery Hill: 108 176 aktive Quellen und Anlagen allein in Pennsylvania wut. Für seine Petitionen übernahm er die
Vorlagen der Industrie, Wort für Wort.
Die meisten Klagen verliefen erfolglos,
aber sie verschafften den Konzernen ein
paar Jahre Zeit. Eine der Folgen des unre-
gulierten Frackings ist, dass es in Oklahoma
inzwischen ein, zwei Erdbeben gibt – am
Tag. Früher waren es so viele in einem Jahr.
Oklahoma, das ist nun Pruitts Modell
für die EPA, für ganz Amerika.
Man würde diesen Mann gern sprechen,
aber Pruitt gibt selten Interviews. Nicht
mal seine Mitarbeiter bekommen einen
Termin bei ihm, die wenigsten haben ihn
je gesehen. Ihr Chef reist lieber durchs
Land und trifft die Vertreter von Öl-, Gas-
und Kohlefirmen, von Agrarkonzernen
und Autobauern. Er sei im Wahlkampf, sa-
LEXEY SWALL / DER SPIEGEL

gen die EPA-Mitarbeiter in der Cafeteria,


er wolle Senator werden, gar Gouverneur
von Oklahoma. Dafür brauche er die Un-
terstützung der Rechten, der Klimawan-
delleugner, vor allem brauche er: ihr Geld.
Pruitts eigentliches Angriffsziel ist daher
Familie Bower-Bjornson: Asthma, Ausschläge, Allergien noch größer, es trägt den sperrigen Namen
DER SPIEGEL 46 / 2017 93
Ausland

Ein Bericht der Umweltorganisation En-


vironmental Integrity Project zeigt, dass
die Zahl der Geldbußen für Umweltsünder
in den ersten Monaten unter Pruitt stark
gesunken ist.
„Das Problem ist: All das, was Pruitt
macht, kostet viel Geld – wegen all der
Anwälte, die seine Entscheidungen vertei-
digen müssen, wegen all der Abteilungen,
die nur damit beschäftigt sind, seine An-
ordnungen umzusetzen. Er wird die meis-
ten dieser Verfahren verlieren. Aber er
wird der EPA am Ende massiv geschadet
und sie gelähmt haben.“
Als Elizabeth Southerland diese Sätze
in der Cafeteria in Washington sagt, ist sie
noch bei der EPA, doch wenig später wird
sie in Ruhestand gehen – und einen Ab-
schiedsbrief veröffentlichen, in dem sie vor
den Gefahren der Deregulierung für Ge-

ZUMA PRESS / IMAGO


sundheit und Sicherheit nachfolgender
Generationen warnt. Sie muss sich nicht
mehr zurückhalten, im Gegensatz zu den
anderen Mitarbeitern, die nur anonym re-
Politiker Trump, Pruitt bei der Aufkündigung des Klimavertrags*: 52 Umweltstandards abgeschafft den, weil sie um ihren Job fürchten müssen.
Die Paranoia sei groß, sagt Southerland,
„Endangerment Finding“, in etwa: Gefähr- Er wirbt dafür, ganz aus dem Klima- sie selbst schreibe Wichtiges nur noch auf
dungsfeststellung. Sie ist das Rückgrat im schutz auszusteigen. „Das Pariser Abkom- Papier, „weil sie unsere Computer und
Kampf gegen den Klimawandel – und das men und das Endangerment Finding sind Mails kontrollieren“. Pruitt selbst geht es
Hassobjekt der Rechten. Denn seit die EPA die beiden herausragenden Themen.“ Die offenbar auch nicht besser, er hat sich eine
2009 offiziell konstatiert hat, dass Treib- Abschaffung von beiden sei nötig, um die- abhörsichere Zelle in seinem Büro einrich-
hausgase schädlich für die Gesundheit und ses Land wieder auf den richtigen Weg zu ten lassen, er hält seine Termine geheim
fürs Klima sind, ist sie dazu verpflichtet, bringen, sagt Ebell auf einer Konferenz. und lässt sich rund um die Uhr bewachen;
diese Emissionen auch zu regulieren. Er ist ungehalten darüber, dass Pruitt die das hat noch kein EPA-Chef getan.
Könnte Pruitt Zweifel säen, dass die Erd- Grundlage für die CO -Regulierung nicht Elizabeth Southerland ist eine höfliche
²
erwärmung menschengemacht ist, wären längst direkt attackiert. Dame, aber wenn sie über Pruitt redet, wird
die Maßnahmen der EPA ohne Grundlage. Aber Pruitt weiß, dass dies seine sie zornig. Bei der EPA war sie in führender
Schwer ist dieser Beweis, eigentlich un- schwerste Schlacht wird – und dass er mit Position, Chefin von 120 Mitarbeitern, zu-
möglich. Oder doch nicht? einem Aufschrei rechnen muss. Seine Stra- letzt damit beschäftigt, Kohlekraftwerken
Pruitt will nun eine öffentliche Debatte tegie scheint daher zu sein, öffentlich zu verbieten, das Grundwasser mit Schwer-
austragen zwischen Leugnern und Unter- Zweifel zu säen und hinter den Kulissen metallen zu vergiften. 2015 wurden schär-
stützern, so als wäre der Klimawandel nicht so viele Klimaschutzmaßnahmen wie mög- fere Regeln verabschiedet, bis 2018 sollten
längst Wirklichkeit, sondern eine Hypothe- lich abzuräumen. Etwa die Methan-Regu- die Kraftwerke neue Filter einbauen.
se. 58 Prozent der Amerikaner glauben an lierung. „Doch dann wurde Donald Trump ge-
den vom Menschen verursachten Klima- Wird die Maßnahme tatsächlich ausge- wählt – und die ersten Konzerne, die be-
wandel, aber vielleicht nicht unbedingt so setzt, könnten die Energiekonzerne ohne reits mit den Vorbereitungen begonnen
fest, dass sich das nicht ändern könnte. Auflagen jede Menge neue Öl- und Gas- hatten, haben damit sofort aufgehört“, sagt
„Die Frage ist nicht, ob sich das Klima än- quellen bohren, nicht nur in Pennsylvania, Southerland. Im März schickten die Kraft-
dert. Das Klima ändert sich ständig. Es gibt sondern auch in Texas, New Mexico, Ohio, werklobbyisten eine Petition an die EPA,
Phasen, in denen es sich erwärmt, es gibt überall, wo Erdgas ist. Und es ist sehr viel zwei Wochen später setzte Pruitt die Ver-
abkühlende Phasen, aber darüber wird nicht Erdgas da. Das würde nicht nur Lois Bo- ordnung auch offiziell aus; so wie er es
diskutiert“, sagt Pruitt seiner Heimatzeitung wer-Bjornson in Scenery Hill betreffen, eben schon oft getan hat. Auch dieser Fall
„The Oklahoman“. „Es gibt Fragen, die ge- sondern alle, denn der Ausstoß des Klima- ist nun vor Gericht, und wieder wird es
stellt und beantwortet werden müssen. Ist gases würde sprunghaft zunehmen. Jahre dauern, bis es eine Entscheidung
der Klimawandel nicht aufzuhalten? Ist er Zwar laufen mehrere Klagen von Bun- gibt, geschenkte Zeit für Umweltsünder.
eine signifikante Bedrohung? Kennen wir desstaaten und Umweltorganisationen ge- Zur Klimakonferenz in Bonn übrigens
die ideale globale Durchschnittstemperatur, gen Pruitt und sein Rollback. Der Versuch, wird Pruitt nicht kommen, eine EPA-De-
oder wissen wir, wo sie liegen sollte?“ die Methan-Kontrolle zu verzögern, ist legation wird wohl vorbeischauen, und ein
Während Pruitt sich in der Öffentlichkeit von Gerichten zunächst abgewiesen wor- paar Industrielobbyisten werden für Kohle
vorsichtig äußert, sagen andere offen, wo- den. Aber selbst wenn er in zwei, drei Jah- und Atomkraft werben. Immerhin, es gibt
rum es ihnen geht. Leute wie Myron Ebell, ren einige dieser Prozesse verliert, so ist keinen Dominoeffekt der Klimaverweige-
einst Mitglied in Trumps Übergangsteam die Behörde bis dahin blockiert. Und über- rung nach dem US-Ausstieg, im Gegenteil.
und einer der lautesten Klimawandelleug- haupt – was sind Umweltstandards wert, Nach Nicaragua will jetzt sogar Syrien das
ner, angestellt beim Competitive Enter- wenn die Regierung deren Einhaltung gar Pariser Abkommen unterschreiben. Damit
prise Institute, einem dieser vielen erzkon- nicht überprüfen will? sind die USA das einzige Land, das sich
servativen Thinktanks in Washington, die nicht am Klimaschutz beteiligen will.
nun enormen Einfluss haben. * Am 1. Juni in Washington. Juliane von Mittelstaedt

94 DER SPIEGEL 46 / 2017


SPIEGEL Semester-Sparabo!
STUDENTEN LESEN EIN HALBES JAHR ZUM HALBEN PREIS.

26 x
DER SPIEGEL
für nur
€ 63,70

Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

Ja, ich möchte von den Vorteilen profitieren!

Ich lese als Student(in) den SPIEGEL 6 Monate für nur € 63,70
statt € 127,40 im Einzelkauf und kann danach jederzeit zur
nächsterreichbaren Ausgabe kündigen!

Gleich mitbestellen: Einfach jetzt anfordern:

Das Digital-Upgrade für Tablet, abo.spiegel.de/sparabo


Smartphone und PC/Mac für
nur € 0,50 pro Ausgabe extra. 040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP17-205)
Die Kriegsgewinnler
Jemen Die Stadt Marib war einst verrufen als Hochburg von al-Qaida. Nun ist sie zur heimlichen
Hauptstadt geworden – während der Rest des Landes im Chaos versinkt. Von Christoph Reuter

C
holera? Nein, Cholera ist hier nicht zur De-facto-Metropole des Landes, vom Zweieinhalb Jahre später ist das Land
das Schlimmste“, sagt der Kranken- Kaff zur Boomtown, die Firmen, Flücht- keiner Entscheidung näher gekommen,
hausdirektor. Die fatale Epidemie, linge, Fachleute und Banken aus dem ge- sondern zum größten humanitären Krisen-
die sich seit acht Monaten im Jemen aus- samten Jemen anzieht. Marib funktioniert. herd der Welt geworden. Ein Viertel der
breitet, etwa 800 000 Menschen infiziert Mehr als zwei Jahrzehnte lang waren 27 Millionen Jemeniten ist akut von einer
und über 2000 getötet hat, „kommt als To- die Stadt mit einst 40 000 Einwohnern und Hungersnot bedroht, seitdem Saudi-Ara-
desursache bei uns in Marib erst auf Platz die ganze Provinz als Qaida-Zuflucht ver- bien die Einfuhr von Lebensmitteln weit-
drei oder vier. Hier bringen Landminen rufen, gefährlich selbst für Jemeniten und gehend verhindert. Und erst recht, seit es
die meisten Menschen um“, so Dr. Moham- für Ausländer erst recht, beherrscht von am 6. November sämtliche Häfen und Flug-
med al-Qubati. Stämmen, die Pipelines und Stromleitun- häfen des Jemen geschlossen hat.
Durch das Wüstental von Marib, 172 Stra- gen sprengten, um Geld zu erpressen. Be- Sanaa und die großen Städte werden
ßenkilometer östlich der Hauptstadt Sanaa, kannt höchstens dafür, dass die USA hier entweder von den zunehmend paranoiden
verlief monatelang eine der am heftigsten regelmäßig echte oder vermeintliche Qai- Huthis kontrolliert und von den Saudi-Ara-
umkämpften Frontlinien des Bürgerkriegs, da-Männer mit Drohnen umbrachten. bern bombardiert, liegen direkt an der
vergruben die angreifenden Huthi-Milizen Doch dann begann der Untergang des Front wie Taizz oder wurden erst vor einer
ab 2015 Zigtausende Minen auf Wegen, in Jemen – und damit der Aufstieg von Marib. Weile von al-Qaida befreit wie die Hafen-
Feldern und Gärten. Heute liegt die Front 2011 waren, wie in vielen Staaten der ara- stadt Mukalla. Und in Aden führen die je-
35 bis 100 Kilometer außerhalb der Stadt. bischen Welt, auch im Jemen Hunderttau- menitischen Verbündeten der VAE und
Aber die Minen sind noch da, treffen Sol- sende für ein Ende der Diktatur auf die Saudi-Arabiens nach der Vertreibung der
daten wie Zivilisten. „Und wir haben doch Straßen gegangen. Nach mehr als drei Jahr- Huthis nun gegeneinander Krieg.
nur 120 Betten, sind dauerbelegt. Schauen zehnten an der Macht willigte Präsident Bleibt Marib. Vor rund 3000 Jahren war
Sie selbst, II. Stock!“ Ali Abdullah Saleh Ende 2011 schließlich es schon einmal Hauptstadt, die des Rei-
Über dem Eingang dort steht ein Schrift- ein zurückzutreten. ches von Saba, wovon noch die berühmten
zug aus bunten Klebepunkten: „Willkom- Die eher symbolische Wahl seines Vizes Tempelruinen mit ihren viereckigen Säu-
men! Orthopädische Abteilung“. Dahinter Abd Rabbuh Mansur Hadi ohne Gegen- len zeugen. Damals wie heute verdankte
beginnt der Korridor der Amputierten. kandidaten sollte Stabilität für eine Über- es seinen Aufstieg der Lage. Schon in der
Wer hier nur mit einem zerschmetterten gangsperiode schaffen, um zwei aufbegeh- Antike versorgte das Wasser hinter dem
Bein liegt, zusammengehalten von Schrau- rende Fraktionen einzubinden: Im Norden Damm von Marib die Oase. Auch in diesen
ben und Schienen, hat Glück gehabt. Die hatte es bereits seit 2004 immer wieder Tagen ist der See gut gefüllt.
anderen haben nur noch ein Bein oder gar Kämpfe zwischen Armee und den schiiti- Weihrauchkarawanen, die im Altertum
keines mehr, Soldaten zumeist, aber auch schen Huthi-Rebellen gegeben. Im Süden Marib reich werden ließen, gibt es keine
Bauern und eine alte Frau. Es sind bloß wollten Sezessionisten die mit der Wieder- mehr. Aber nahe der Stadt produziert die
die Fälle der letzten Tage und Wochen, vereinigung 1990 verlorene Unabhängig- staatliche Ölfirma Safer täglich 1900 Ton-
der Schorf auf den Splitterwunden ist oft keit der einstigen sozialistischen Volksre- nen Kochgas, Diesel und Schweröl für die
noch frisch. Nur ein Teil der Verletzten, publik zurückerobern. Kraftwerke – die einzige Energiequelle des
erzählt Qubati, überlebe den stundenlan- Hadi versuchte, die Huthis aus dem Nor- Landes, von deren Erlösen 20 Prozent an
gen Transport hierher. den gegen die Südisten auszuspielen. Aber die Provinzregierung fließen.
Ein Stockwerk tiefer stapeln sich Plas- er war seinem Vorgänger nicht gewachsen. Nach dem Ende der Kämpfe zwischen
tikwaden und -füße, Schaumstoffblöcke Saleh, der Großmeister der wechselnden Huthis und Hadi-Getreuen seit Ende 2015
und Metallschienen: die Prothesenwerk- Allianzen, lauerte auf eine Chance zur hat sich hier eine Art positiver Domino-
statt. Der Stolz des Direktors. Im Neben- Rückkehr. Dass er die Huthis jahrelang hat- effekt eingestellt: 1,5 bis 2 Millionen Flücht-
raum wird am 13-jährigen Naif, der beim te bombardieren lassen, hinderte ihn nicht linge aus allen Landesteilen kamen nach
Spielen im Garten beide Füße durch eine daran, sich mit ihnen zu verbünden. Über- Marib, der Zuzug hält bis heute an. Es kom-
Mine verlor, gerade Maß genommen. dies waren ihm Eliteverbände der Armee men Arme, aber auch Unternehmer, Ärzte
„Wir bilden hier Fachleute aus“, sagt Qu- loyal geblieben. Als Hadi im Sommer 2014 wie der Krankenhausdirektor Dr. Qubati.
bati, „bauen mittlerweile alles selbst!“ Pro- auf Druck des Weltwährungsfonds eine Es kommen Juristen, Journalisten, Künstler,
thesen in Marib, sagt er, das habe Zukunft. massive Kürzung der Treibstoffsubventio- die vor all dem fliehen, was den Rest des
Das kleine Krankenhaus am Rand der nen verkündete, fanden von den Huthis Landes in den Abgrund reißt: den Willkür-
Wüste ist ein Ort der Extreme, stets organisierte Proteste gewaltigen Zulauf. verhaftungen der Huthis in Sanaa, den
schwankend zwischen Horror und Hoff- Im Januar 2015 überrannte die Huthi-Sa- Kämpfen, al-Qaida, der Korruption.
nung. Und spiegelt somit die Lage in die- leh-Allianz die Hauptstadt Sanaa. Hadi Und es kommen die Reichen zurück, die
sem Teil des Landes. Denn dass dieses floh. Am 26. März 2015 begann die „Ope- vor Jahrzehnten ausgewandert sind. Wie
Krankenhaus überhaupt noch existiert, ration Entscheidungssturm“, die Interven- Mohammed Zubaiyen: Der 26-jährige
dass erfahrene Ärzte hier arbeiten, die tion durch Saudi-Arabien und die Verei- Spross der im gesamten Nahen Osten ope-
Stromversorgung gesichert ist und die Cho- nigten Arabischen Emirate (VAE) – anfangs rierenden Handels- und Bau-Holding
lera-Rate auch dank einer leidlich funktio- vor allem mit Luftangriffen, die Militär- ZTCO verließ die Stadt, als er neun war,
nierenden Trinkwasserversorgung niedrig stellungen trafen, ebenso Krankenhäuser, ging in Cambridge zur Schule, in Dubai
bleibt, ist dem spektakulären Aufstieg der Trauerzüge und Wohnhäuser. Aus Iran ka- zur Amerikanischen Universität: „Warum
Stadt Marib zu verdanken: vom Terrornest men Raketen und Minen für die Huthis. hätte ich hierbleiben sollen? Welchen Ruf
96 DER SPIEGEL 46 / 2017
Ausland

ABDULLAH HASSAN / AFP


1
CHROMORANGE / FOTOFINDER

1 Kämpfer am Stausee von Marib


2 Gewürzhändler auf dem Markt
2
3 Patient Naif im Krankenhaus

DER SPIEGEL 46 / 2017 97


hatte Marib denn vor 20 Jahren? Drei Stra-
ßen und lauter Geiselnehmer.“
Noch vor zwei Jahren „hätten wir im
Traum nicht daran gedacht, hier zu inves-
tieren.“ Doch mit dem plötzlichen Massen-
zuzug gingen die Land- und Immobilien-
preise in die Höhe. Hunderte neuer Firmen
haben aufgemacht, von der Ziegelbren-
nerei bis zur Trinkwasser-Abfüllfabrik, die

ADAM SCHRECK / PICTURE ALLIANCE / AP / DPA


Arbeitskräfte brauchen. Überall wird ge-
baut. Seitdem 2016 die nach Aden abgezo-
gene jemenitische Zentralbank eine Filiale
in Marib eröffnete, haben sich vier weitere
Banken in der Stadt niedergelassen.
Eine Weile lang schauten sich Moham-
meds Vater und zwei Onkel die Lage in ih-
rer alten Heimatstadt genau an. Ihr Geld
1
verdienten sie da längst als Subunterneh-
mer des südkoreanischen Hyundai-Kon-
zerns mit Großbauprojekten wie dem
Kernkraftwerk in Abu Dhabi. Schließlich
entschieden die vier Zubaiyens: Marib
lohnt sich, geschäftlich. Auf 6,5 Quadrat-
kilometer Land soll nun „Sheba City“ ent-
stehen, ein komplett neuer Stadtteil: 1200
Wohnblocks, drei Malls, Büros, Industrie.
Keine Fremdinvestoren, sondern nur Ei-
genkapital, etwa eine Viertelmilliarde Dol-
lar, vor allem für die Erschließung.
„Dafür brauchen wir Tausende Bauar-
beiter“, so Mohammed Zubaiyen, der im
August aus Dubai nach Marib zurückkehr-
te. Es sei ein Wagnis, bekennt er, und na-
türlich würden sie vom Krieg profitieren:

AFP / GETTY IMAGES


„Selbst wenn Städte von den Huthis oder
al-Qaida befreit wurden, gehen die meis-
ten Flüchtlinge nicht zurück. Denn eines
2
bleibt immer gleich: die Korruption und
Unfähigkeit der lokalen Mächtigen.“ Ma-
ribs Verwaltung gilt dagegen als integer. 1 Einwohner vor einem Kleidergeschäft im Stadtzentrum
Dass die Stadt zum Nutznießer des sie 2 Regierungstreue Kämpfer westlich von Marib
umgebenden Chaos wurde, anstatt darin
3 Schülerinnen beim Morgenappell an einer Mädchenschule
zu versinken, verdankt sie ganz wesentlich
einem Mann, der mit seiner Glasbaustein-
brille und dem unprätentiösen Habitus
leicht unterschätzt wird. Sultan al-Arada,
59, ist seit 2012 Gouverneur der Provinz.
Zugleich ist er einer der wichtigsten Stam-
mesführer der Umgebung, dessen Familie
ihr Renommee durch alle Untiefen der ver-
gangenen Jahrzehnte gerettet hat. Er hat
die mächtigen Stämme von Marib auf sei-
ner Seite. Die wollen sich weder den Huthis
unterwerfen noch als Qaida-Sympathisan-
ten von den USA bombardiert werden. Die
Stämme waren stets das Rückgrat aller
Macht in den Bergen und der Wüste des Je-
men. Nicht so sichtbar in ruhigen Zeiten,
aber Ultima Ratio jeder Herrschaft.
Der langjährige Parlamentsabgeordnete
Arada agiert vorsichtig, aber planvoll: Un-
ter Ali Abdullah Saleh wollte er nicht Kar-
riere machen. Zur saudischen Königsfami-
SANA'A CENTER

lie hat seine Familie seit zwei Generatio-


nen enge Kontakte gepflegt. Zu Präsident
3
Hadi verhält er sich loyal – aber macht
letzten Endes, was er will.
98 DER SPIEGEL 46 / 2017
Ausland

So wie auch bei dieser Reise. Nur wenig erzählt Sultan al-Arada, „aber der meinte
von dem, was im Jemen geschieht, wird VAE nur, ich solle mir einen Anwalt nehmen.“
weltweit wahrgenommen. Weder die Hu- Letztlich sei die Einmischung der Aus-
this noch Saudi-Arabien und die VAE wol- SAUDI- OMAN länder an allem schuld, ist immer wieder
len Journalisten ins Land lassen. Und so ARABIEN in Marib zu hören: der Iraner vor allem,
war es Sultan al-Arada, der in Zusammen- der Amerikaner immer schon, des Westens
arbeit mit dem Sanaa Center for Strategic Huthi-Gebiet generell. Die Huthis auf der anderen Seite
Studies, einem kleinen Team gut vernetz- der Front sehen das auch so, nur ist für sie
ter Jemeniten, die Einreise von einem Dut- JEMEN Saudi-Arabien der Schurke. Geflissentlich
zend ausländischer Journalisten für diese Sanaa 200 km wird ignoriert, wie sehr Jemens Eliten selbst
Marib
Recherche erst möglich gemacht hat. Mukalla ihr Land zerstören und die Interventionen
n
Dank Arada kommen auch die besten n Ade von außerhalb erst möglich machten.
Golf vo
Stand:
Köpfe des Landes nach Marib. Zwei Drittel Aden 9. November Wie gleichgültig Jemeniten aller Fraktio-
der Professoren an der von 1200 auf 5000 nen gegenüber der humanitären Katastro-
Studenten gewachsenen Universität stam- die Institutionen des Jemen, sondern auch phe in ihrem eigenen Land sind, lässt sich
men von außerhalb. Wohin auch sonst soll- gegen seine Identität. Die Huthis beharren in Marib jeden Morgen pünktlich ab neun
ten sie gehen? darauf, dass nur ein Nachfahre von Imam Uhr morgens beobachten: Dann fahren die
Von den Studierenden sind die Hälfte Hussein (ein Heilsbringer der schiitischen Katlaster vor, bringen die frische Lieferung
Frauen, denen die Stadtverwaltung einen Glaubensrichtung) das Land beherrschen junger Triebe des Katstrauchs, die eine
Busservice stellt, um konservative Fami- dürfe. Aber das funktioniert nicht, nie.“ mild berauschende Wirkung haben. Die
lien zu ermutigen, ihre Töchter zur Univer- Wie schwierig die Balance im Vakuum Wagen kommen aus Arhab im Huthi-
sität zu schicken. In den völlig überfüllten des nicht mehr existierenden Staates ist, Gebiet, nur in den dortigen Höhenlagen
Hörsälen und in neuen Wellblechbaracken zeigt sich beim langen Kampf, al-Qaida aus wächst Kat. Sie queren auf Umwegen die
auf dem Campus werden beide Geschlech- Marib zu vertreiben. Für jene, die sich aus Front zwischen den Todfeinden, denn der
ter gemeinsam unterrichtet. Bei den Inge- Verbitterung und für Geld den Radikalen gesamte Jemen kaut Katblätter. Das Land
nieuren überwiegen die Männer, bei den angeschlossen hatten, gibt es nun neue Mög- versinkt in Trümmern, leidet an Hunger
Erziehungswissenschaften dominiert der lichkeiten – so auch für den ehemaligen und Cholera – doch am kollektiven Nach-
schwarze Block der Verschleierten. Eine Nachbarn des Bauunternehmers Moham- mittagsrausch hat sich nichts geändert.
19-Jährige sitzt neben ihrer 38-jährigen med al-Zubaiyen: „Als ich klein war, wohn- Kat wächst dort, wo einst Lebensmittel
Mutter, die endlich Lehrerin werden will: te er sechs Häuser weiter, wir haben zu- gepflanzt wurden, verbraucht das Wasser,
„Mein Mann ist dagegen“, sagt die Mutter, sammen gespielt. Später wurde er al-Qai- dessen Fehlen die Cholera-Epidemie be-
„es gibt jeden Abend Streit. Aber ich ver- da-Kommandeur, ein technischer Virtuose, günstigt, aber wird weiter angebaut, weil
suche, ihn glücklich zu machen, damit er der ein Auto in einen Panzer verwandeln es profitabler ist als Weizen. Die Kaufkraft
uns in Ruhe lässt.“ konnte, Raketen frisierte und Fahrzeuge im Land ist gesunken, doch neue Großab-
Keine Frau ist hier auf der Straße ohne für Selbstmordattentäter baute.“ Nun habe nehmer kaufen täglich Tonnen an Kat: die
Nikab zu sehen, den Gesichtsschleier, der er umgesattelt, panzere Geländewagen zum Oberkommandos aller Truppen, von Hadis
nur die Augen freilässt. Aber die kleinen Verkauf an die Regierung. Armee wie von den Huthis, für die Solda-
Veränderungen, die man nur in privaten An die Qaida-Ideologen war schwerer ten. Ohne Kat keine Offensive, das bestä-
Gesprächen erfährt, verraten mehr über heranzukommen. Manche, so Arada, seien tigen auch die Amputierten in Dr. Qubatis
die Pläne Aradas als die Facebook-Verlaut- festgenommen, manche getötet worden, überfülltem Krankenhaus.
barungen seiner Provinzregierung. „vor allem hat es geholfen, dass deren ei- Marib wird weiter aufsteigen, solange
Der junge Radiojournalist Raschid al- gene Familien sie verstoßen haben“. das Land weiter untergeht. Ein jäher Frie-
Mulaiki setzte sich im März aus Sanaa ab, Aber immer noch schlagen die Raketen de könnte die Stadt wieder in Provinziali-
nachdem immer wieder Reporter von Hu- der amerikanischen Drohnen wie aus dem tät zurückfallen lassen. Aber danach sieht
this in Zivilkleidung verschleppt wurden Nichts auch rund um Marib ein, treffen es nicht aus. Saudi-Arabiens offizieller
und ohne Anklage in den Gefängnissen am zweiten Tag unseres Aufenthalts vier Kriegsgrund war, Präsident Hadi wieder
verschwanden. Bei Radio Marib betreut er Männer in einem Auto nördlich der Stadt. ins Amt zu bringen. Doch es hält ihn in
gemeinsam mit einer Co-Moderatorin seit „Die Drohnenangriffe töten auch Zivilis- Riad unter Hausarrest.
einem Monat die neue Sendung „Baituna“, ten“, sagt Arada, „sie treiben al-Qaida Der Jemen ist der Austragungsort des
„Unser Haus“: ein Programm über Fami- mehr Leute zu als deren eigene Propagan- eskalierenden Machtkampfs zwischen Sau-
lienprobleme. Reinster Sprengstoff. da. Wir wünschen uns, die Amerikaner gä- di-Arabien und Iran geworden. Es geht
„Wir haben erst mal angefangen, über ben uns die Chance, Leute zu verhaften, wohl niemandem um den Erhalt des Lan-
harmlose Dinge zu sprechen“, erzählt er, bevor sie selbst angreifen.“ des, jede Interventionsmacht sichert sich
„wie Facebook die Familien verändert, Pro- Doch der Terror ist im Jemen seit Jahren ihr Stück vom Jemen.
bleme zwischen Vätern und Söhnen. Der ein Instrument der verfehdeten Fraktionen. Und niemand spricht mehr von einem
Gouverneur unterstützt uns, aber wir müs- Aradas eigener Bruder Khalid steht als „al- nahen Ende der Kämpfe. Auch der Mann
sen uns vorantasten. Wir planen eine Sen- Qaida-Finanzier und -Anführer“ auf der auf der Holzbank vor der Orthopädischen
dung zum Thema: Die Tochter will studie- schwarzen Liste der US-Regierung. Darauf Abteilung, der leise murmelt, dass der
ren, ihr Vater ist dagegen. Wir werden Gäs- gesetzt hat ihn schon vor sechs Jahren der Krieg vorbei sei, schränkt ein, dass dies
te und Anrufer reden lassen, aber keine damalige Geheimdienstchef und Neffe von nur für ihn gelte. Sein rechter Arm ist aus
Empfehlung abgeben. Das wäre zu heikel.“ Ex-Präsident Saleh. Eine Lüge, um ihn zu Kunststoff, ebenso sein rechtes Bein, er
Alles im Jemen sei letztlich eine Frage treffen, sagt der Gouverneur. Mittlerweile wartet auf die Justierung seiner Prothesen.
der Balance, sagt Sultan al-Arada beim helfen die Amerikaner, Salehs Truppen zu
Treffen im Gouverneurssitz. Deshalb sei bombardieren, aber töten immer noch die Video:
es so schwierig, mit den Huthis eine Ver- Leute von dessen Terrorliste. Eine paradoxe „Eine skurrile Recherche“
handlungslösung zu erreichen: „Ihre Macht- Situation. „Ich habe den US-Botschafter in spiegel.de/sp462017jemen
übernahme war nicht nur ein Putsch gegen Riad gebeten, meinen Bruder zu streichen“, oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 46 / 2017 99


Balloon Dog (Red), 1994 –2000 © Jeff Koons

J E F F
KOONS

regiert DIE WELT.


Einmal im Jahr gestaltet ein zeit-
genössischer Künstler DIE WELT.
Am 16. November 2017 erscheint
die achte Kunstausgabe.
Sport
Bilanz der deutschen Bundestrainer und Teamchefs nach dem Zweiten Weltkrieg
Durchschnittliche Bundestrainer
Trainer/Teamchef Amtszeit Spiele Siege Remis Nieder- Punktezahl
lagen pro Spiel* Legende Löw
Sepp Herberger bis 1964 97 52 14 31 1,75 Die meisten Siege, die
beste Bilanz pro Spiel –
Helmut Schön 1964 bis 1978 139 87 31 21 2,10 Weltmeister. Joachim
Löw, 57, ist der erfolg-
reichste Bundestrainer der
Jupp Derwall 1978 bis 1984 67 44 12 11 2,15 Geschichte. Zu seiner drit-
ten WM als Chefcoach
fährt Löw im kommenden
Franz Beckenbauer 1984 bis 1990 66 34 20 12 1,85 Jahr nach Russland mit
dem Selbstbewusstsein,
die Legenden des deut-
Berti Vogts 1990 bis 1998 102 66 24 12 2,18 schen Fußballs bei Weitem

A N DY RA I N / D PA
übertrumpft zu haben.
Die Weltmeistertrainer
Erich Ribbeck 1998 bis 2000 24 10 6 8 1,50 Sepp Herberger und Franz
Beckenbauer gewannen
Rudi Völler 2000 bis 2004 53 29 11 13 1,85 kaum mehr als jedes zwei-
te Spiel – sie waren damit
nicht viel besser als Erich
Jürgen Klinsmann 2004 bis 2006 34 20 8 6 2,00 Ribbeck und Rudi Völler,
die zwischen 1998 und
Joachim Löw seit 2006 156 106 27 23 2,21 2004 verantwortlich wa-
ren. Löw hingegen siegte
Stand: 9. November *Drei Punkte pro Sieg, ein Punkt pro Remis. in zwei von drei Spielen.

Magische Momente
„Die waren total stinkig“
Die ehemalige Tennisspielerin Claudia Kohde-Kilsch, 53, über den Triumph im Federation Cup vor 30 Jahren

SPIEGEL: Sie gewannen 1987 wonnen hatten, wurden die derlage bis heute nicht ver- Boden krachte. Ich weiß noch,
an der Seite von Steffi Graf Amerikanerinnen spürbar daut hat. dass unser Mannschaftsarzt
erstmals für Deutschland den nervös. SPIEGEL: Haben Sie in Van- verzweifelt versuchte, eine
Federation Cup. Die Ent- SPIEGEL: Sie entschieden den couver gefeiert? Delle auszubeulen.
scheidung im Spiel gegen die dritten Satz mit 6:4 für sich. Kohde-Kilsch: Wir waren bei SPIEGEL: Angeblich hat Ihnen
USA fiel in einem Doppel, Die Sensation war perfekt. einem Millionär, den unser Steffi Graf nach dem Sieg
in dem es lange nicht gut für Kohde-Kilsch: Steffi und ich Teamchef Klaus Hofsäss ein besonderes T-Shirt ge-
Sie aussah. waren keine engen Freun- kannte. Dabei gab es einen schenkt.
Kohde-Kilsch: Wir lagen dinnen, aber in diesem Schockmoment, als der Kohde-Kilsch: Stimmt. Ich war
schnell 1:6 und 0:4 hinten. Augenblick fielen wir uns in Siegerpokal plötzlich auf den damals großer Fan von Bryan
Pam Shriver und Chris Evert die Arme. Selbst unsere Adams, und sie war
gelang alles – uns gelang verfeindeten Väter, Gott vorher backstage bei
nichts. Wir wollten uns aber hab sie selig, umarmten einem Konzert von
auch nicht kampflos abschie- sich kurz. Der Erfolg ihm gewesen. Ich glau-
ßen lassen und erinnerten überstrahlte alles. be, es war sogar ein
uns an ein Match von Jimmy SPIEGEL: Wie reagierten Autogramm darauf.
Connors. Ihre Gegnerinnen? SPIEGEL: Welchen Stel-
SPIEGEL: Helfen Sie uns auf Kohde-Kilsch: Die waren lenwert hat der Sieg in
die Sprünge. total stinkig und sagten Ihrer Karriere?
Kohde-Kilsch: Connors hatte gar nichts. Im August Kohde-Kilsch: Dieser
1987 in Wimbledon ein dieses Jahres habe ich Weltmeistertitel steht
Spiel gedreht, in dem er völ- auf Facebook gepostet, auf einer Stufe mit mei-
lig aussichtslos hinten lag. dass der Sieg von nem Wimbledon-Sieg
SPIEGEL: Und dann? Vancouver einer der im Doppel gemeinsam
Kohde-Kilsch: Wir holten auf, schönsten meiner Kar- mit Helena Suková und
und auch Steffi, die wahrlich riere war. Pam Shriver der Bronzemedaille
SVEN SIMON

keine Volleyspezialistin war, hat den Post prompt mit Steffi bei den
traf am Netz plötzlich alles. kommentiert. Sie Olympischen Spielen
Als wir den 2. Satz 7:5 ge- schrieb, dass sie die Nie- Kohde-Kilsch, Graf 1987 in Vancouver 1988 in Seoul. pk

DER SPIEGEL 46 / 2017 101


Sport

„Richtig bumm!“
Boxen Der einstmals drittbeliebteste Sport der Deutschen ist zu einer Freakshow
verkommen. In Oberhausen tritt jetzt ein Profi mit künstlicher Hüfte
zu einem Kampf um die Weltmeisterschaft an. Ist die Branche noch zu retten?

F
ür Axel Schulz ist Boxen immer noch sportlich nicht mehr viel. Schlagzeilen mehr abgeliefert hat, gleich für einen WM-
der schönste Sport der Welt. „Zwei machte Charr erst wieder vor zwei Jahren, Kampf nominiert wird, ist trotzdem nicht
Leute steigen in einen Ring, kämp- als er in einem Essener Dönerimbiss nie- leicht zu verstehen.
fen, danach haben sich alle wieder lieb. dergeschossen wurde. Axel Schulz sagt, er habe aufgehört, sich
Wunderbar!“ Manuel Charr zieht sein Hemd bis über über irgendetwas in der Branche zu wun-
Schulz, 49, ist im Auto unterwegs nach den Bauch hoch, zum Vorschein kommt dern. Vor einem Monat kam es bei einer
Frankfurt am Main zu einer Autogramm- eine große Narbe. „Bauchschuss, überall Boxgala in Stuttgart zu einer Schlägerei
stunde. Der ehemalige Schwergewichtler war Blut“, sagt er. Die genauen Hinter- auf der Tribüne. Es werden Kämpfe vorher
stand vor elf Jahren das letzte Mal gründe der Tat liegen bis heute im Dunk- abgesprochen, Ringrichter manipuliert.
im Ring, aber die Fans haben ihn nicht len. Der Angreifer soll einer Clanfamilie Und immer wieder kommt es zu Fights,
vergessen. Zusammen mit Henry Maske angehört haben, er wurde zu einer Haft- die jegliches Niveau vermissen lassen.
löste Schulz den Boxboom der Neunzi- strafe verurteilt. Der tiefe Fall des deutschen Boxens ist
gerjahre aus, mit ausverkauften Hallen Charr steckt sein Hemd wieder in die auch eine Folge des einstigen Hypes um
und Rekordquoten im Fernsehen. Ob- Hose und bestellt Tee. „Als ich nach der Maske und Schulz. 18 Millionen Menschen
wohl er die meisten seiner großen Titel- Notoperation im Krankenhaus aufgewacht sahen 1995 die Übertragung des WM-
kämpfe verlor, liebte das Publikum den bin, waren da überall Frauen. Ich dachte, Kampfes zwischen Schulz und dem Süd-
Riesen aus Frankfurt (Oder), weil er im- ich bin im Himmel.“ afrikaner Frans Botha. Danach gierten die
mer sein Bestes gab und kein Sprü- Sender nach weiteren Titelkämpfen
cheklopfer war. und Rekordquoten. Sie pumpten
Nachdem Schulz und Maske ihre Millionen in den Boxmarkt. Die
Karriere beendet hatten, begann der Promoter witterten das schnelle
Abstieg des deutschen Boxens. Der Geld. Statt Talente ordentlich aus-
einstmals drittbeliebteste TV-Sport zubilden, schickten sie unfertige
nach Fußball und Formel 1 ist heute Athleten ins Feuer, Durchschnitts-
kein Quotenbringer mehr. In einer boxer wie Sven Ottke oder Mar-
Expertenanalyse der Onlineplatt- kus Beyer wurden zu Weltmeistern
form Stadionwelt über die Zukunfts- hochgejazzt. Oder Boxer mit aus-
aussichten verschiedener Sportarten ländischen Wurzeln für das deut-
bekam Boxen eine ähnlich schlechte sche Publikum umbenannt. Der
Prognose wie Hockey. bosnische Mittelgewichtler Adnan
Wie konnte es so weit kommen? Ćatić hieß plötzlich Felix Sturm,
„Och nee“, brummt Schulz. Er hat Muamer Hukić aus Serbien nannte
die Ausfahrt verpasst. Er hasse es, sich Marco Huck.
PIXATHLON

unpünktlich zu sein. „Gehört sich Die Qualität der Fights nahm ste-
nicht.“ In den vergangenen Jahren tig ab, irgendwann hatte das Publi-
hat er sein Geld als Werbefigur und Schwergewichtler Charr im Kampf gegen Vitali Klitschko 2012 kum es satt. Die Quoten brachen
Kommentator verdient. Die großen Eine verlorene Seele ein. Vor drei Jahren flog Boxen aus
Sender sind jedoch einer nach dem dem Hauptprogramm der öffentlich-
anderen aus dem Boxen ausgestiegen und Es waren die Stationspflegerinnen, die rechtlichen Sender. Und eine Rückkehr ist
zeigen keine Kämpfe mehr. Schulz muss ihn in den Wochen danach aufpäppelten. nicht abzusehen. „Ich sehe im deutschen
sich was anderes überlegen. „Ich sehe aber Nach sechs Monaten begann Charr wieder Berufsboxen nichts, was im Ersten Deut-
nicht schwarz“, sagt er. Der Boxsport habe mit dem Training, nach neun Monaten be- schen Fernsehen ausgestrahlt werden müss-
immer noch Potenzial: „Was wir brauchen, stritt er seinen Comeback-Kampf in einem te“, sagt ARD-Sportchef Axel Balkausky.
ist eine Rakete, die richtig durchstartet.“ Autohaus in Kassel. Inzwischen hat er wei- Der PR-Experte Bernd Bönte läuft bei
In einem Café in der Kölner Südstadt tere Aufbaukämpfe absolviert. Vor sieben der Amateurboxweltmeisterschaft Anfang
steht der Mann, der die Rakete sein möch- Monaten musste er sich einer Hüftgelenks- September in Hamburg durch die Wett-
te. Der Schwergewichtler Manuel Charr, operation unterziehen. Es sei aber alles su- kampfhalle. Die Luft ist stickig, es riecht
33, Kampfname Diamond Boy, wird am per gelaufen. Keine Beschwerden. Charr nach Schweiß und alten Socken. Bönte
25. November in der Arena Oberhausen hat die Röntgenbilder über soziale Netz- ist seit Jahren Manager der inzwischen
gegen den Russen Alexander Ustinow um werke verbreitet. Er fühle sich topfit: „Ich zurückgetretenen Klitschko-Brüder. Die
den vakanten WM-Titel der World Boxing werde Geschichte schreiben.“ beiden ehemaligen Weltmeister waren
Association (WBA) antreten. Die bisherige Charr bekommt seine Chance, weil ein die Letzten, die den Nerv des deutschen
Geschichte des Boxers Charr ist schnell er- Boxer, der in der Rangliste der WBA vor
zählt. Vor fünf Jahren verlor er einen Ti- ihm stand, positiv auf Doping getestet wur-
* Boxer Leon (3. v. r.), Co-Trainer Marko Reinhardt, Mut-
telkampf gegen den damaligen Champion de. Dass ein Mann mit künstlicher Hüfte, ter Melanie, Vater Bernd, Bruder Allen, Schwester Keana,
Vitali Klitschko durch K. o., danach kam der seit Jahren keinen vernünftigen Kampf Rapper Jay Unique.
102 DER SPIEGEL 46 / 2017
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

Team Bauer*: Der Löwe aus der Pfalz

DER SPIEGEL 46 / 2017 103


eingeladen. Charr sprühte vor Energie und
erklärte, er könne sich gut vorstellen, nach
dem Sieg in Oberhausen die Rolle der
Klitschkos zu übernehmen.
Bernd Bönte irritieren solche Sprüche:
„Ja, wo sind wir denn? Bei Münchhausen?“
Es gibt Experten, die meinen, das deut-
sche Boxen sei nur noch eine Freakshow.
Neulich trat in der riesigen Barclaycard-
Arena in Hamburg ein junger Selfmade-
Millionär, der zuvor noch nie groß in

TORSTEN HELMKE / ACTION PRESS


Erscheinung getreten war, in einem Haupt-
kampf an. Der Mann hatte die Veranstal-
tung zum Teil selbst mitfinanziert, inklusi-
ve eines Gegners, der kaum zurückschlug.
Das Publikum verfolgte das absurde Schau-
spiel ungläubig staunend.
ARD-Mann Balkausky sagt, der deut-
Boxer Feigenbutz, Manager Gottwald (r.): Chat mit Gaddafis Sohn sche Boxsport müsse eine „integre Persön-
lichkeit mit einem Alleinstellungsmerk-
mal“ hervorbringen, um wieder auf die
Beine zu kommen. Axel Schulz klingt das
zu akademisch, er sagt: „Wat wir brauchen,
is ne Type.“
Vor anderthalb Jahren kletterte ein jun-
ger Bursche, blass, schlaksig und damals
gerade 17 Jahre alt, in einen Boxring im
MGM Grand Garden in Las Vegas. Es war
sein achter Profikampf. Er gewann einstim-
mig nach Punkten gegen einen Gegner,
der acht Jahre älter war. Anschließend
kam der große Roy Jones Junior aus Flori-
da auf den Knaben zu und meinte, er müs-
se noch an seiner Balance arbeiten, aber
dann hätte er das Zeug zum Champion.
„Ich bin einfach dafür gemacht“, sagt
Leon Bauer.
Auf dem Terrassentisch der Bauers in
Hatzenbühl, einem Kaff in der Nähe von
Karlsruhe, steht ein Krustenbraten, Vater
SVEN SIMON

Bernd hat gekocht. Der Sohn trägt eine


Jogginghose, ein schwarzes T-Shirt voller
Idol Maske im November 1996 in München: Durchschnittsboxer zu Weltmeistern hochgejazzt Sponsorenlogos und ein Basecap, auf dem
steht: „Team Bauer“.
Massenpublikums trafen. Zwei riesenhafte dem Rapper Bushido, der ihn angeblich be- Team Bauer, das ist eines der spannends-
Kerle, die reihenweise ihre Gegner umhau- leidigt hatte. Immer wieder wurden Charr ten Experimente im deutschen Boxsport.
ten, ansonsten aber ganz lieb waren und Kontakte in die Halbwelt nachgesagt. Team Bauer, das sind: Leon Bauer, 19, Ju-
freundlich redeten. „Vitali und Wladimir Nun hat er seit einer Weile einen Gönner, niorenweltmeister im Super-Mittelgewicht.
haben es geschafft, die Herzen der Men- den Geschäftsmann Christian Jäger aus Sein Vater, der ihn trainiert, seit Leon lau-
schen zu erobern“, sagt Bönte. Österreich. Sie haben sich voriges Jahr bei fen kann. Seine Mutter Melanie, die die
Bönte sucht jetzt nach neuen Kandida- einer Party kennengelernt. Der Unterneh- Tickets für die Kämpfe verkauft. Die Oma,
ten mit Starpotenzial. Er steht nah am mer vertreibt unter anderem einen Fitness- die zu jedem Kampfabend mitreist. Der
Ring, notiert sich dies und das auf einem anzug, der über Elektroden leichte Strom- Kampfhund Brockhaus, der das Grund-
Zettel. Aber da ist nicht viel. Es kämpfen impulse versendet. Die Methode soll das stück der Bauers bewacht. Der Rapper Jay
Kubaner, Usbeken, Kasachen in den WM- Muskelwachstum fördern. Charr schwört Unique aus Germersheim, der einen Song
Finals, doch keine Boxer aus Deutschland. auf das Textil. Er spannt wie zum Beweis geschrieben hat über das Team Bauer,
Bönte gähnt und zieht ab in den VIP- seinen mächtigen Bizeps an und grinst: „eine Einheit, eine Familie, vereint, fokus-
Raum. „Macht richtig bumm!“ Drei Männer an ei- siert, um Geschichte zu schreiben“.
Manuel Charr sagt, vielen jungen deut- nem Nachbartisch unterbrechen ihre Mahl- Gleich neben dem Wohnhaus der Eltern
schen Boxern fehle der Mumm. Ein Pro- zeit und machen Handyfotos. gibt es eine kleine Halle, die sie zu einem
blem der Wohlstandsgesellschaft. Vor ein paar Wochen gab Charr in Köln Trainingsgym ausgebaut haben. Bernd
Der Diamond Boy ist zum Mittagessen eine Pressekonferenz in einem Nobelhotel. Bauer, ein ehemaliger Kampfsportler, hat
bei seinem Stammitaliener in Köln einge- Vor der Tür eine weiße Stretchlimousine, seinem Sohn den attraktiven, aber riskan-
kehrt und sitzt vor einer Dorade mit viel im Blauen Salon überlebensgroße Fotos ten amerikanischen Boxstil mit hängenden
Gemüse. Charr gehörte lange zu den ver- des Diamond Boy in seinem Fitnessanzug. Fäusten beigebracht. Um Erfahrung zu
lorenen Seelen des Boxsports. Er lieferte Gegner Ustinow, mit 41 Jahren nicht mehr sammeln, wurde Leon, Kampfname „Der
sich einen wirren öffentlichen Streit mit der Jüngste im Boxgeschäft, war auch noch Löwe aus der Pfalz“, schon mit 16 Jahren

104 DER SPIEGEL 46 / 2017


Sport

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 12. 11., 23.50 – 0.35 UHR | RTL
Profi. Inzwischen hat der Löwe seinen Ju- Hauruckstil bevorzugte, das klassische, de-
nioren-WM-Titel zweimal verteidigt. Im fensive Boxen mit Doppeldeckung und al- Schwarzkittel – Grenzüberschreiten-
Oktober wurde Bauer bei den German Bo- lerlei taktischen Finessen. Gottwald hat de Wildschweinplage auf Usedom;
xing Awards in Hamburg zum Newcomer auch die Ziele seines Kämpfers korrigiert. Einer gegen alle – Umwelthilfechef
des Jahres gekürt. Nicht mehr die WM als Profi stehe im Mit- Resch und sein Kampf gegen die
Ist er die Rakete? telpunkt, sondern die Qualifikation für die Autolobby; „Es gibt Kinder, die weinen
Vor einigen Monaten erklärte der Pro- Olympischen Spiele 2020 in Tokio. den ganzen Tag“ – Reportage über das
moter Rainer Gottwald noch, Leon Bauer Zum Kampf in Schwerin sind auch ein Waisenhaus in Mossul.
habe das Zeug, ein „ganz Großer“ zu wer- Konditionstrainer, ein Physiotherapeut
den. Aber dann waren ein paar Sachen an- und der Vater von Feigenbutz angereist.
ders gelaufen, als der Manager das geplant Er ist Zahntechniker und baut seinem ARTE RE:
hatte, und deshalb, sagt er, sei er sich heute Sohn den Mundschutz. Das spare eine DIENSTAG, 14. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE
nicht mehr so sicher. Menge Geld. Gottwald verteilt an alle
Drei Tage vor einem Kampfabend der Vitamindrinks. „Is gesund und sauteuer – Re: Tödliche Raserei – Harte
World Boxing Super Series in Schwerin in- also runter damit“, sagt er. Strafen für illegale Rennen
spiziert Gottwald die Veranstaltungshalle. In der Boxszene machen sich manche Illegale Autorennen werden zuneh-
Arbeiter bauen den Ring und die Beleuch- über Gottwald lustig, wegen seiner Hyper- mend zum Problem. Neben härte-
tung auf. Es ist kalt und ziemlich duster, aktivität, wegen seiner verspiegelten Son- ren Strafen soll intensivere Polizei-
aber der Manager setzt seine Fliegerson- nenbrillen. Aber das sei nur Neid, sagt er. arbeit die Raser abschrecken. In
nenbrille auf und macht ein paar Selfies. Er habe ein Näschen. Gottwald war lange
Gottwald, ein platinblonder Hüne, war auch der Manager von Leon Bauer. Er hat
mal Kampftaucher. Später hatte er eine ihn entdeckt, aufgebaut, verschaffte ihm
Tauchstation in Thailand, die beim Tsuna- die ersten Sponsorenverträge. Vor fünf Wo-
mi-Unglück 2004 zerstört wurde. Er ging chen beendeten die Bauers die Zusammen-
als Experte für Wassersport im Auftrag des arbeit, weil Gottwald zu viel um die Ohren
Internationalen Olympischen Komitees habe, sich nicht genug um Leon kümmern
nach Libyen und gehörte dort, warum könne.
auch immer, zu den Vertrauten Gaddafis. „Boxen in Deutschland ist ein verdamm-
Als 2011 Nato-Flugzeuge Tripolis bombar- tes Haifischbecken“, sagt Gottwald. Er ist
dierten, zog Gottwald nach Deutschland enttäuscht. Das Team Bauer werde schei-
zurück. Zu einem Sohn Gaddafis habe er tern, wenn Leon, der Löwe, nicht bald ei-
immer noch Kontakt, erzählt er in der Kon- nen erfahrenen Proficoach bekomme, sagt
gresshalle in Schwerin. Gottwald zeigt auf Gottwald.
dem Handy einen Chat. Er habe auch von Zwei Tage später steigt Vincent Feigen-
Plänen für die Rückkehr der Gaddafis zur butz in der Kongresshalle in Schwerin in Autorennen in Brilon
Macht gehört, erzählt er. den Ring. In Runde elf sieht er die Lücke
Er rückt die Sonnenbrille zurecht. James in der Deckung des Argentiniers Gaston einigen deutschen Städten rücken
Bond in Mecklenburg-Vorpommern. Alejandro Vega und schickt ihn auf die die Ermittler der Szene mit groß
Im nächsten Moment ist die Weltpolitik Bretter. angelegten Kontrollen und Under-
wieder aus der Halle geweht. Vincent Fei- Vielleicht ist Feigenbutz die Rakete. cover-Beschattung zu Leibe.
genbutz, Gottwalds Hauptkämpfer, kommt Leon Bauer sagt: „Sport ist ein Geschäft,
vom offiziellen Wiegen zurück. „Passt al- wenn man es nicht bringt, wird man aus-
les?“, fragt der Manager. „Passt“, antwor- getauscht, das wird auch bei mir so sein, SPIEGEL GESCHICHTE
tet Feigenbutz und hält sich mit Schatten- also werde ich es bringen.“ MITTWOCH, 15. 11., 23.55 – 0.40 UHR | SKY
boxen warm. Manuel Charr fährt den Rhein entlang
Vincent Feigenbutz, 22, aus Karlsruhe Richtung Kölner Dom und überlegt, was Das Diesel-Rätsel
gehört zu den größten Boxtalenten in er im Falle eines Sieges in Oberhausen mit Die Dokumentation gibt Einblick in
Deutschland, von 29 Kämpfen als Profi ge- einem WM-Titel anfangen könnte. die Erfindung des Dieselmotors
wann er 23 durch K. o. Voriges Jahr verlor Der letzte deutsche Champion im Schwer- Ende des 19. Jahrhunderts und lässt
er in Offenburg einen Fight um den vakan- gewicht war 1932 Max Schmeling. „Ich das bewegende Schicksal von
ten WM-Gürtel der WBA gegen den Ita- könnte mich als der neue Schmeling ver- Rudolf Diesel lebendig werden.
liener Giovanni De Carolis. Seither hat die markten“, sagt der Diamond Boy, „oder
Euphorie um den gelernten Feinmechani- als erster arabischer Schwergewichtswelt-
ker ein wenig nachgelassen. meister.“ ARTE RE:
Ein Boxkampf ist eine existenzialistische Charr ist in Beirut geboren. Es wäre eine DONNERSTAG, 16. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE
Erfahrung. Es gehört Mut dazu, sich im Möglichkeit. Als er am Dom angekommen
Ring einem Gegner zu stellen, der – egal, ist, hat er auch ein Angebot für Angela Re: Einsatz unter Lebensgefahr –
wie gut oder schlecht Kämpfer trainiert Merkel. „Ich könnte für die Kanzlerin die Deutsche Helfer im Irak
sind – hart zuhauen kann. Brücke zum Nahen Osten sein“, sagt Charr. Die deutsche NGO Cadus ist dort
„Vince hat die Niederlage gut wegge- Einer, der so zuhauen könne wie er, dem im Einsatz, wo sich große Organisa-
steckt“, sagt Gottwald. Der Manager hat würden die Leute zuhören. tionen aus Sicherheitsgründen zu-
seinem Schützling einen zweiten Trainer Malte Müller-Michaelis, Gerhard Pfeil rückgezogen haben. Cadus versorgt
besorgt, den Rumänen Valentin Silaghi, direkt hinter der Front Menschen,
Gewinner einer olympischen Medaille, der Video: die im Krieg gegen den IS verletzt
hauptamtlich am Olympiastützpunkt in Im Ring mit Leon Bauer oder verwundet wurden. Das Team
Heidelberg arbeitet. Der neue Coach ver- spiegel.de/sp462017boxer arbeitet in Reichweite feindlicher
mittelt Feigenbutz, der bislang eher den oder in der App DER SPIEGEL Raketen und Granatwerfer.
DER SPIEGEL 46 / 2017 105
Wissenschaft+Technik
Kulinarik SPIEGEL: Deutsche Biere gel-
„Hefepilze aus dem ten weltweit als besonders
Zottelbart“ gut – zu Recht?
Raupach: Auf jeden Fall ha-
ben wir hier die angesehens-
ten Ausbildungsstätten sowie
die führenden Brautechnolo-
giehersteller, Mälzereien und
BRITTA PEDERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA

Hopfenhändler der Welt. Au-


ßerdem schützt das Reinheits-
gebot vor dem Einsatz pro-
zessbeschleunigender Chemi-
kalien. Also: ja. Das deutsche
Bier hat eine sehr stolze Ge-
schichte und seinen guten
Ruf zu Recht.
SPIEGEL: Liebhaber diskutie-
ren derzeit viel über Craft-
Der Biersommelier und Mit- Beer-Hersteller, die manch
gründer der Deutschen Bier- bizarres Gebräu liefern.
akademie in Bamberg, Markus Raupach: Allerdings. Kürzlich
Raupach, 43, über bizarre habe ich „Rogue Beard Beer“
Gerstensäfte, die Qualität der getrunken, für dessen Her-
deutschen Brautechnologie stellung der Brauer Hefepilze
und die Trinkrecherchen zu aus seinem Zottelbart iso-
seinem neuen Buch lierte. Erst habe ich mich
geekelt, aber das Gebräu
SPIEGEL: Sie haben in den ver- war gut und schmeckte er-
gangenen Jahren mehr als staunlicherweise nach Rosen
5000 verschiedene Biere pro- und Jasmin. Nicht ganz so
biert. Welches war das beste? lecker war das schwedische
Raupach: Das mag manche „Närke Bäver“, gebraut mit
Leser überraschen, aber es Castoreum, auch Bibergeil
war kein deutscher, sondern genannt. Dabei handelt es
ein amerikanischer Bierstil: sich um ein Sekret aus Haut-
ein Barley Wine. Es wurde säcken des Bibers, mit dem
1999 gebraut und war 16 die Tiere ihr Revier markie-
Jahre perfekt gelagert wor- ren. Das Bier schmeckte
den. Für Brauer ist das ein fürchterlich, nach Gummi
Schatz – das Bier schmeckte und Verwesung.
nach Marzipan und Trocken- SPIEGEL: Haben Sie sich wäh-
früchten. Aber natürlich muss rend Ihrer Trinkrecherche
man nicht so weit fahren, auch schon mal den Magen
um richtig gute Gebräue zu verdorben? Oder einen Kater
bekommen. Da kann man bekommen?
auch getrost in Deutschland Raupach: Nein. Aber ich trin-
und insbesondere in Franken ke auch immer nur ein biss-
bleiben. chen von den einzelnen Bie-
ren. Wenn ich die Gläser
Markus Raupach: „Bier: Geschichte und leeren würde, wäre meine
Genuss“. Palm; 208 Seiten; 19,95 Euro. Leber längst am Ende. gui

Fußnote Was guckst du?


732,2 Milliarden
E-Mails werden dieses Jahr in Deutschland versandt – Spam
Was aussieht wie die glühenden Augen eines monströsen
Ungetiers, sind: Saugnäpfe. Und das Geschöpf wirkt nicht nur
so, als wäre es einem Albtraum entsprungen. Es ist ein
Schweinebandwurm, sein Hauptwirt der Mensch, sein Zwi-
bereits abgezogen. Das geht aus einer Analyse der Portale schenwirt das Schwein. Der Schmarotzer saugt und krallt
GMX und Web.de hervor, bei denen mehr als 40 Millionen sich in der Dünndarmschleimhaut fest und wächst auf eine
Postfächer registriert sind. Die Zahl ist so hoch wie nie und Länge von bis zu sieben Metern heran. Man bemerkt den Mit-
bedeutet, dass jeder Bundesbürger etwa 25 E-Mails am Tag bewohner meist nicht, klandestin lebt er im Unterleib, selten
verschickt. Geschäftliche und private Post halten sich welt- verursacht er Schmerz. Das Bild zählt zu den Gewinnern des
weit betrachtet in etwa die Waage, schätzen die Anbieter. „Nikon’s Small World“-Mikro-Fotografiewettbewerbs 2017.

106 DER SPIEGEL 46 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Ökologie zu schärferen Umweltgeset-
Rückkehr der zen und Renaturierungsmaß-
nahmen, Flussufer wurden
Störche zurückverwandelt in Über-
Der Rhein ist in den vergan- schwemmungsgebiete. All
genen Jahren nicht nur saube- das zahlte sich aus: Von 179
rer geworden, er lockt auch Auenabschnitten im Rhein-
wieder deutlich mehr Tiere delta, die die Wissenschaftler
an. Zu diesem Ergebnis kom- untersuchten, zeigen 137 eine
men niederländische For- Zunahme der Biodiversität.
scher der Universitäten Besonders die Artenvielfalt
Utrecht und Nimwegen nach von Säugetieren und Vögeln
der Analyse von etwa zwei habe zugenommen, schreiben
Millionen Daten aus Feldbe- die Forscher. Das gilt auch
obachtungen. Jahrzehntelang für den Storch, der erheblich
wurden viele europäische von der Renaturierung der
Ströme begradigt und in en- Auen profitiert. Allerdings
gere Betten gezwängt – das reichten die Maßnahmen
half der Schifffahrt und mach- nicht aus; zu alter Vielfalt
te den Rhein zur verkehrs- hätten die Tier- und Pflanzen-
reichsten Binnenwasserstraße arten nicht zurückgefunden.
Europas. Es litten: Flora und Dafür seien sie zu vielen
Fauna. Über die Jahre setzte „Stressfaktoren“ ausgesetzt,
ein Umdenken ein; das führte bilanzieren die Forscher. gui

Einwurf

Ich bin die Angela


Viele Deutsche sehnen eine schwedische Duz-
kultur herbei, doch die taugt nicht als Vorbild.
Die Schweden begehen derzeit das Jubiläum einer Reform,
die das Land nachhaltiger verändert hat als die Gründung von
Ikea: Vor 50 Jahren unterbreitete der damalige Generaldirek-
tor der Gesundheitsbehörde seinem Personal, dass er fortan
geduzt und bei seinem Vornamen „Bror“ genannt werden
wolle. Dieser Moment wird als Stunde null der schwedischen
Duzkultur angesehen. Seitdem duzt dort (fast) jeder jeden.
Eine solche Regelung würde nach Meinung vieler Deut-
scher auch die hiesige Situation entspannen. Zumal wir be-
reits in einer Art Zwischenwelt leben, in der manch Prakti-
kant einfach so seine Chefin ankumpelt und umgekehrt Vor-
gesetzte den Neuling ungefragt ins „Du“ treiben.
Arbeitspsychologen und Soziologen sehen das durchaus
skeptisch, doch die Verfechter des Duzens lassen sich nicht be-
irren; gern verweisen sie auf das englische „You“. Linguistisch
betrachtet funktioniert der Vergleich aber gar nicht, denn
Engländer und Amerikaner differenzieren durchaus. Sie spre-
chen sich entweder mit Vor- oder Nachnamen an und pflegen
zusätzlich die gestelzten Anreden „Sir“ und „Madam“.
Im Falle Schwedens ist es wichtig zu wissen, dass es Bror
Rexed vor 50 Jahren nicht zuvörderst darum ging, für eine
kuschelige Arbeitsatmosphäre zu sorgen, sondern eine mittel-
alterliche Anredepraxis zu überwinden. Höhergestellte Per-
sonen wurden nämlich meist indirekt über Namen und Titel
angesprochen. Beispiel: „Wünscht der Generaldirektor Süß-
stoff zum Kaffee?“ Eine Absonderlichkeit, die nun nur noch
beim Umgang mit den schwedischen Royals gepflegt wird.
Da kann man froh sein, dass es in Deutschland keinen
König mehr gibt, sondern bloß eine Kanzlerin. Im Falle einer
TERESA ZGODA

Duzreform nach schwedischem Vorbild dürfte hier also


wirklich jeder geduzt und beim Vornamen genannt werden.
Auch Angela. Guido Kleinhubbert

DER SPIEGEL 46 / 2017 107


208 Kilo Unglück
Psychologie Am Smartphone spielen, Süßes futtern, Schule schwänzen – viele
Jugendliche geraten in einen Strudel schädlichen Verhaltens, der ihr Leben zerstören
kann. Ein Forscher spricht bereits von einer neuen Krankheit: dem Iso-Syndrom.

Tägliche Onlinenutzung*
M
aurice war ein normaler Schüler, Schule fehlte. An einem Punkt waren sich
als er mit sieben seine erste Play- Mutter und Sohn einig: Durch das viele
station bekam. Der Junge spielte bei den 12- bis 19-Jährigen in Deutschland, Computerspielen gebe es „zu Hause oft
gern damit, aber noch ging die Schule vor. in Minuten ernsthaften Ärger und Streit“.
In der sechsten Klasse fing er an, auch mal Am Smartphone oder Computer spielen,
krankzumachen. Er hockte daheim vorm Snacks futtern, Schule schwänzen – diese
Bildschirm, aß Kartoffelchips, trank Cola Phänomene träten mittlerweile bei so vie-
und wurde dick. 99 len jungen Leuten so oft zusammen auf,
In der zehnten Klasse war Maurice Clan- 2006 dass man von einer neuen Krankheit spre-
führer im Spiel „Metin2“, einer fernöst- chen könne, sagt Wolfgang Siegfried, 62,
lichen Fantasysaga. Dort kämpfte er 117 der Ärztliche Leiter der Insula. „Wir sehen
manchmal 24 Stunden am Stück. Maurice 2008 diese Trias so häufig – ich finde, sie ver-
fand es cool, um vier Uhr in der Nacht am dient einen eigenen Namen.“
Rechner zu hocken und zu wissen: Alle Iso-Syndrom hat Siegfried das Leiden
anderen sind jetzt im Bett. In die Schule getauft, I für Internetsucht, S für schulver-
ging er gar nicht mehr. Er wog 208 Kilo. meidendes Verhalten sowie O für Obesitas,
„Meine Mutter hat nicht mehr eingese- krankhaftes Übergewicht. Die Betroffenen
hen, dass ich mit 17 noch zu Hause bin
und nix mache“, sagt Maurice, inzwischen
138 hätten ein Symptom und bekämen die
zwei anderen hinzu. Jedes könne mit je-
2010
18. Und er bekam mit, wie es „Metin2“- dem verknüpft sein, sagt Siegfried. „Aber
Spieler aus seinem Clan erging, die waren aus unserer Wahrnehmung ist es schon so,
schon älter und ebenfalls extrem dick. „Ich dass am Anfang am häufigsten die Medien-
habe dann mit denen ein bisschen gelabert, sucht steht.“
und da ist mir irgendwann aufgefallen: So Das Erfinden einer neuen Krankheit
will ich nicht leben.“ 131 birgt die Gefahr, dass normale Wechselfäl-
Seit einiger Zeit wohnt Maurice nun in 2012 le und gewöhnliche Verhaltensweisen in
der Insula, einem Rehazentrum für über- einen pathologischen Zustand umgedeutet
gewichtige Jugendliche und junge Erwach- werden. Es kann aber auch ein bisher über-
sene, das malerisch in den Berchtesgade- sehenes Problem in den Brennpunkt rü-
ner Alpen liegt. Maurice ist zwei Meter cken. Beim Iso-Syndrom geht es um drei
groß und so blass, als würde er die Nächte Phänomene, die jeweils ein Ausmaß er-
noch immer durchzocken. Er trägt graue reicht haben, mit dem niemand zufrieden
Klamotten, auf der Nase eine Brille mit sein kann.
starken Gläsern. In einer Gesprächspause Die Zahl der Kinder und Jugendlichen,
zieht er gleich sein Smartphone aus der 192 die starkes Übergewicht haben, hat sich in
Hosentasche. 2014 den vergangenen vier Jahrzehnten welt-
Maurice’ Geschichte lassen sich Dutzen- weit verzehnfacht, das offenbarte im Ok-
de zur Seite stellen. Eine 15-Jährige ist 1,65 tober eine Studie des Imperial College Lon-
Meter groß und wog am Tag ihrer Aufnah- don und der Weltgesundheitsorganisation.
me in die Insula 114 Kilo. Das Mädchen In Deutschland sind nach einer Erhebung
spielte, wie es in einem Fragebogen angab, des Robert Koch-Instituts 19 Prozent aller
täglich neun Stunden und 30 Minuten auf Menschen im Alter von 11 bis 17 Jahren
dem Smartphone und fehlte meistens in übergewichtig und 10 Prozent krankhaft
der Schule. Sie müsse immer mehr essen, dick. Letztere haben häufig erhöhten Blut-
erklärte die Jugendliche, um sich satt zu druck, Fettleber, Knick-Senk-Spreizfuß
fühlen.
Ein 15-jähriger Gymnasiast, der bei
200 und nachlassende Insulinwirkung.
Die Zeit, die junge Menschen mit Me-
2016
einer Körpergröße von 1,84 Meter 138 Kilo dien verbringen, ist in den vergangenen
schwer war, sagte, er habe oft mehr geges- Jahren deutlich gestiegen. Im Jahr 1970 be-
sen, als ihm guttat, und jeden Tag „League schäftigten sie sich jeden Tag drei Stunden
of Legends“ oder „Minecraft“ gespielt. Je- 2006 und 27 Minuten mit Medien, so die Studie
doch habe er seine Spielzeit gut kontrol- „Massenkommunikation“. Neben Fernse-
lieren können. Seine Mutter, so zeigt die hen und Radio nutzten sie Zeitungen und
Akte, sah das genau anders. Dafür war ihr Quelle: Jim-Studie 2016 Magazine. Im Jahr 2015 verbrachten Ju-
entgangen, dass ihr Kind manchmal in der *Montag bis Freitag, Selbsteinschätzung, inkl. mobilen Endgeräten gendliche und junge Erwachsene jeden Tag

108 DER SPIEGEL 46 / 2017


Wissenschaft

PETER NITSCH / PLAINPICTURE


MARIA IRL / DER SPIEGEL

MARIA IRL / DER SPIEGEL


Insula-Bewohner Maurice, Tom: „Wenn ich aufgestanden bin, habe ich gemerkt, mein Leben ist total inhaltslos“

sieben Stunden und 57 Minuten mit Me- sammenhang wurde in mehr als 30 wis- Generell scheint übermäßiger Medien-
dien. Der Zuwachs geht auf die Internet- senschaftlichen Untersuchungen nachge- konsum mit schlechten Leistungen in der
nutzung zurück. wiesen. Schule zusammenzuhängen. Viele Kinder
So gut wie jeder in der Gruppe der 12- Da sich die tägliche „Screen Time“, also können sich kaum noch längere Zeit mit
bis 19-Jährigen besitzt ein Smartphone die Zeit, die man auf einen Bildschirm ihren Hausaufgaben befassen, weil sie wäh-
oder Mobiltelefon, drei Viertel von ihnen guckt, in den vergangenen 20 Jahren dra- renddessen auf ihr Smartphone schielen,
haben einen eigenen Computer, wie die matisch erhöht hat, dürfte der Medienkon- Nachrichten verschicken oder spielen. Vor
Jim-Studie 2016 ergab. Und fast jeder zwei- sum einen immer stärkeren Anteil an der einiger Zeit konstatierte eine Analyse des
te Jugendliche verfügt zu Hause über eine gegenwärtigen Adipositas-Epidemie ha- Kriminologischen Forschungsinstituts Nie-
eigene mobile oder stationäre Spielkonso- ben. Wenn ein Jugendlicher sich viel mit dersachsen: „Je mehr Zeit Schülerinnen
le. Beide Geschlechter konsumieren elek- dem Internet beschäftigt oder oft Serien und Schüler mit Medienkonsum verbrin-
tronische Medien. Mädchen sind mehr in schaut, dann geht das zulasten seiner kör- gen und je brutaler dessen Inhalte sind,
den sozialen Netzwerken unterwegs, Jun- perlichen Bewegung, wie eine Befragung desto schlechter fallen die Schulnoten aus.“
gen spielen Computerspiele. von mehr als 2000 jungen Leuten in Diese Zusammenhänge beweisen noch
In Deutschland schwänzen rund eine Deutschland ergab. Und das begünstigt nichts, aber sie spiegeln sich in den Ge-
halbe Million Schüler regelmäßig den Un- Speckpolster, wie wiederum eine Studie schichten der jungen Leute, die in die In-
terricht, wie eine Studie der Bertelsmann- unter Kindern und Jugendlichen in Iran sula kommen. Tom, ein 25-Jähriger mit Wu-
und der Hertie-Stiftung vor einiger Zeit zeigte. Jene mit ausgeprägter Screen Time schelkopf, war als Kind zwar füllig, aber
ergab – das entspricht einem Anteil von waren besonders bewegungsarm und über- oft an der frischen Luft, um mit Freunden
fünf Prozent der Schulkinder. Eine aktuel- gewichtig, was sich an ihrem Taillenum- Fußball zu spielen. Als er 14 wurde, verän-
le, genaue Statistik für den Bund fehlt, weil fang ablesen ließ. derten sich zwei Dinge in seinem Leben.
die Schulen Sache der jeweiligen Bundes- Dicke Kinder werden in der Schule ge- Seine alleinerziehende Mutter, die noch
länder sind. hänselt; viele bleiben lieber daheim vorm eine Tochter bekommen hatte, litt nach der
Die drei Phänomene scheinen einander Monitor und tauchen in eine virtuelle Welt Geburt oft an Ängsten und Depressionen.
zu bedingen, darauf deuten etliche Stu- ab, in der sie nicht nach ihrem Aussehen Und er bekam einen Internetanschluss.
dien hin. Wer viel vor der Mattscheibe beurteilt werden – und ihre Identität wech- Tom fühlte sich verpflichtet, den Tag
sitzt, neigt zum Übergewicht – dieser Zu- seln können. über bei der Mutter und der kleinen

DER SPIEGEL 46 / 2017 109


Den Eklat hat Siegfried zum An-
lass genommen, einen Medienraum
einzurichten, den die Patienten so-
fort „Game Zone“ getauft haben. Er
ist abgedunkelt und hat schwarze
Lautsprecher und einen riesigen

MARIA IRL / DER SPIEGEL


Bildschirm. Vormittags nutzen die
Therapeuten den Raum, um das Me-
dienverhalten neuer Patienten zu er-
fassen. Nachmittags dürfen all jene,
die bei der Therapie gut mitmachen,
Diät halten und Gewicht verlieren,
hier spielen – allerdings nicht länger
als zwei Stunden in der Woche. Die
Insula-Therapeuten versuchen erst
gar nicht, den gegenwärtig 50 Pa-
tienten das persönliche Smartphone
zu verbieten – dann würden die
meisten wohl sofort abreisen.
Immer wieder sind die Ärzte und
Psychologen erstaunt, wie wenig
Eltern darüber wissen, was genau
ihr Kind mit dem Smartphone oder
dem Computer macht. Der Sozial-
arbeiter Tim Wanders gleicht die
MARIA IRL / DER SPIEGEL

MARIA IRL / DER SPIEGEL


Angaben der Kinder und der Eltern
ab und denkt oft: „Hey, das sind
doch Spiele ab 16 oder 18 – warum
hat euer 13-jähriges Kind diese
Spiele?“
Insula-Leiter Siegfried, Sozialarbeiter Wanders: „Hey, warum hat euer 13-jähriges Kind diese Spiele?“ Auch wenn es schnell zu Streit
führen könne, sollten Eltern schau-
en, was die Kinder spielen. „Natür-
Schwester zu bleiben, und er begann, weil Tom an einem achtjährigen Mädchen vor- lich muss man kontrollieren“, sagt Wan-
ihm langweilig wurde, „World of Warcraft“ beiging, so erzählt er, habe es gesagt: ders. Dabei gelte es, den Medienkonsum
zu spielen. Samstags begleitete er seinen „Pass auf, dass du mich nicht berührst! nicht gleich zu verteufeln, sondern sich er-
Opa beim Wocheneinkauf, um sich mit Meine Mama will das nicht.“ klären zu lassen, was die Kinder da tun.
Gummibärchen einzudecken, seine Leib- Die Leitung der Kinderpflegeschule do- Und je mehr Freizeitangebote man ihnen
speise, wenn er spielte. Die Schule schaffte kumentierte zwar sofort schriftlich, dass mache, desto geringer sei das Risiko, dass
er trotz der Fehlzeiten, aber sein berufs- nichts geschehen war, aber Tom war ent- sie in die virtuelle Welt abtauchten.
vorbereitendes Jahr brach er ab. Er schlief setzt. „Die Mama sagt der Kleinen, dass In der Insula erklärt Wanders den Ju-
bis zwölf Uhr und saß von da an bis um ich wahrscheinlich so ein ekliger, dicker gendlichen, warum Computerspiele wie
drei Uhr nachts am PC. Typ bin, der Kinder anfasst. Das hat mich Suchtmittel wirken können und was im
„Wenn ich aufgestanden bin, habe ich so erschüttert, dass ich da nicht mehr sein Netz mit den persönlichen Daten passiert.
gemerkt, mein Leben ist total inhaltslos. wollte.“ Tom ließ sich krankschreiben, Sein aufklärerischer Ansatz scheint zu
Das macht alles keinen Spaß“, erzählt spielte wieder exzessiv am Computer und fruchten.
Tom. „Dann habe ich gespielt, dabei konn- verlor am Ende die Ausbildungsstelle. Ge- Maurice hat 57 Kilogramm abgenom-
te man das gut wegdrücken, aber die wah- rade macht er seine zweite Therapie in men und glaubt, jetzt mit seiner Medien-
ren Gedanken waren, dass da nichts vo- der Insula. sucht klarzukommen. Er geht wieder zur
rangeht in meinem Leben.“ Anfangs dachten Wolfgang Siegfried Schule und hofft, in Bayern den qualifizie-
Schließlich wurde die Mutter auf die In- und seine Therapeuten, sie könnten neuen renden Hauptschulabschluss zu schaffen.
sula aufmerksam. Tom, der 1,93 Meter Patienten die Medien gleichsam kalt ent- Tom ist auf 117 Kilo runter, spielt weniger
groß ist, wog 152 Kilo, als er in der Heilan- ziehen. Maurice etwa war seine ersten und sagt, es gehe „wieder ein bisschen
stalt ankam. Tage im Zentrum vom Internet abgeschnit- bergauf im Leben“. Er träumt davon, Syn-
Die Ernährungsumstellung in der Insula, ten; dann rastete er abends plötzlich aus. chronsprecher zu werden.
psychologische Angebote und das Bewe- Er bedrohte eine Patientin und erzwang Wolfgang Siegfried arbeitet weiter da-
gungsprogramm halfen Tom, sein Gewicht sich so einen Zugang zum Internet. Die ran, die Befindlichkeiten seiner Patienten
auf 106 Kilo zu verringern. Und er begann junge Frau packte am nächsten Morgen zu erforschen. Sobald der Arzt hundert
eine Ausbildung als Kinderpfleger in einer ihre Sachen. Fälle ausgewertet hat, will er entscheiden,
Kinderpflegeschule. Doch dann beging er ob er der Fachwelt ein neues Leiden prä-
einen Fehler. In seine erste eigene Woh- sentieren kann.
nung stellte er sich einen PC. Er fing an, Tom sagt, es gehe „ein Ob das Iso-Syndrom den Rang einer
nach der Arbeit zu spielen. Er ernährte eigenständigen Krankheit bekommt, wird
sich von Tiefkühlpizza und wurde wieder bisschen bergauf“. Er sich zeigen. Klar ist: Mediensucht, Fettlei-
dick. träumt davon, Synchron- bigkeit, Schulversagen – schon einer dieser
Der angehende Kinderpfleger, riesig Umstände allein hat das Zeug, Kinder ins
wie ein Bär, war nicht jedem geheuer. Als
sprecher zu werden. Unglück zu treiben. Jörg Blech

110 DER SPIEGEL 46 / 2017


Wissenschaft

wie „Mann beißt Hund“. Oder wie eine schwer. Die Tiere scheinen am Klang der
Sushi für etwas unbeholfene Lobbykampagne für
höhere Fischfangquoten oder Subven-
tionen.
Motoren bestimmte Fischerboote wieder-
zuerkennen – und dieses Wissen ihrem
Nachwuchs zu vermitteln.

Moby Dabei könnte der Futterneid genau da-


durch verschärft worden sein, dass seit
1995 die Fangsaison verlängert wurde –
Seit Jahren versucht eine Arbeitsgruppe
namens Southeast Alaska Sperm Whale
Avoidance Project, die schlimmsten Wie-
Verhalten Gefräßige Pottwale wodurch sich Wal und Mensch häufiger in derholungstäter mit Trackingsendern zu
die Quere geraten. verfolgen, damit Fischer ihnen aus dem
und Orcas jagen Fischern ihren Eigentlich sind bei Konflikten zwischen Weg tuckern können. Der Erfolg hält sich
Fang ab. Abschreckmanöver Land- und Meeressäugern Letztere stets in Grenzen, das Problem weitet sich aus.
laufen ins Leere – die Tiere lernen im Hintertreffen, spätestens seit dem ers- Längst kommen auch Schwertwale auf
ten Walfangboom Anfang des 19. Jahrhun- den Geschmack. Viele Exemplare der min-
ständig neue Tricks. derts. Vor allem Pottwale wie Moby Dick destens 1500 schwarz-weißen Schönlinge
waren damals begehrt. im Meer vor West-Alaska lassen sich von

M
ensch jagt Wal, das kennt man Unmengen dieser Tiere wurden zu Tode den Fischern verwöhnen; dabei knabbern
spätestens, seit Käpt’n Ahab gejagt, im Rekordjahr 1964 waren es rund sie doppelt so viel vom köstlichen Kohlen-
Moby Dick über die Weltmeere 29 000. Die globale Population brach von fisch weg wie Pottwale, was die Erfolgs-
hetzte, kreuz und quer durch die mehr als mehr als einer Million Tiere auf ein Drittel quote der Fischer teils um 70 Prozent
800 Seiten des legendären Romans von zusammen, schließlich wurden Wale unter drückt. Zu diesem Ergebnis kam unlängst
Herman Melville (1851): „Bis zum Letzten Schutz gestellt, woran sich auch die meis- ein Beitrag im Fachblatt „ICES Journal of
ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle ten Nationen halten. Marine Science“.
stech ich nach dir, dem Hass zuliebe spei Die Tiere lernten, dass ihnen kein Un- Weder das Verscheuchen noch die
ich meinen letzten Hauch nach dir!“ heil mehr droht – im Gegenteil: Nun erle- Flucht scheinen zu funktionieren. Daher
Heute haben sich die Rollen scheinbar ben sie den alten Todfeind als Wohltäter. hofft man nun aufs Verschließen: Statt An-
verkehrt: Der Jäger von einst fühlt sich „Wale machen die unglaublichsten Dinge gelhaken, die verlockend frei zugänglich
von Walen verfolgt, jedenfalls vor Alaska. mit Menschen“, sagt Janice Straley, Profes- sind, könnten sogenannte Pots, Fischfallen,
Ganze Gruppen von teils 50 Schwert- sorin für Meeresbiologie an der University die Beute vor den Wal-Gangs schützen,
walen (Orcas) stellen Fischkuttern nach, of Alaska Southeast in Sitka. Vergebens schlagen Meeresbiologen wie Boris Worm
oft meilenweit. Sobald die Fischer ihre ha- versuchen Fischer, die Pottwale mit Tricks von der Dalhousie University im kana-
kenbewehrten Langleinen mit einem Fang zu verjagen. Sie befestigen Kugeln, die dischen Halifax vor: „Das erhöht die Qua-
aus Kohlenfisch oder Heilbutt aus der Tiefe die Ortung erschweren, an den Langleinen, lität des Fangs, weil die Fische lebend an
hieven, schlagen die hungrigen Wale aus beschallen die Tiere mit tösendem Sonar Bord genommen werden, und der Beifang
dem Hinterhalt zu – und schnappen die oder krachendem Heavy Metal. Doch rasch reduziert sich.“ An Metallkäfigen sollten
Beute von der Schnur. lernen die riesigen Meeressäuger dazu – eigentlich selbst die gerissensten Meeres-
„Wir befinden uns in einer Art archai- und fortan bedeuten Störgeräusche oder säuger scheitern. Oder?
schem Kampf“, sagte der Fischer Buck Musik für sie: Fressen fassen! „Ich traue Pottwalen fast alles zu“, warnt
Laukitis aus Homer der Zeitung „Alaska Zwar ist das Pottwalgehirn, gemessen Meeresbiologin Straley. „Das sind die
Dispatch News“. „Du weißt, wie du fi- am Körpergewicht (bei Männchen oft über klügsten Tiere, mit denen ich je gearbeitet
schen musst, du weißt, dass da Fische sind, 30 Tonnen), kleiner als das des Menschen, habe.“ Hilmar Schmundt
du hast die Ausrüstung, du hast es oft ge- aber immerhin noch rund acht Kilogramm Twitter: @hilmarschmundt
macht, aber die Wale können alles zunich-
temachen“, so Laukitis. Und: „Wir sind ge-
rade dabei, diese Schlacht zu verlieren.“
Kutterkapitäne fühlen sich ausgebeutet
als Kellner, die den Meereslümmeln Sushi
à la carte servieren müssen, ohne Lohn,
ohne Dank, ohne Trinkgeld.
Mehr als fünf Tonnen feinsten Heilbutt
hätten die tierischen Seeräuber ihm bereits
geklaut, beschwerte sich Kapitän Robert
Hanson unlängst bei der für die Fanggrün-
de vor Alaska zuständigen Verwaltung für
Fischereiangelegenheiten. Auf der Flucht
vor der „ständigen Belästigung“ durch die
tierische Konkurrenz habe er 15 000 Liter
Sprit verballert.
Einmal spielte Hanson einfach toter
Mann. Er schaltete den Schiffsmotor aus
und wartete. 18 Stunden lang. Er habe ge-
hofft, dass sich die Unterwasser-Gang
wieder verziehe, schrieb er in einem
B.COLE / WILDLIFE

Brandbrief an den Fischereirat: „Aber die


lungerten einfach um mich herum.“ Nach
zwei Tagen gab Hanson entnervt auf.
Fischer verarmen, und Moby wird dick?
Auf den ersten Blick wirkt das so absurd Orcas auf der Lauer: „Die lungerten einfach um mich herum“

DER SPIEGEL 46 / 2017 111


Wissenschaft

Flusen zupfen, Spreu pflücken


Medizin Viele alte Menschen geraten nach einer Operation in tiefe Verwirrung. Etliche werden
dadurch zum Pflegefall, nicht wenige sterben. Dabei lässt sich das „Delir“ oft verhindern.

re liegen ruhig im Bett, können aber kei-


nen klaren Gedanken fassen.
„Während meines Studiums habe ich lan-
ge in der Pflege gearbeitet“, erinnert sich
Holger Reinecke, heute Leiter der Abtei-
lung für Angiologie am Universitätsklini-
kum Münster. „Ich weiß noch, dass man-
che alten Patienten damals nach einer OP
regelrecht durchgedreht sind. Mehrere sind
sogar aus dem Fenster gesprungen und zu
Tode gekommen.“
Insbesondere alte Menschen sind gefähr-
det. Da sie zunehmend größeren Opera-
tionen unterzogen werden, ist davon aus-
zugehen, dass das Delir zukünftig häufiger
auftritt.
Trotzdem nehmen viele Ärzte es immer
noch nicht ernst – oder diagnostizieren es
erst gar nicht. Helge Güldenzoph war über
30 Jahre lang Leiter der Abteilung für Ge-
riatrie am Malteser Krankenhaus in Bonn.
Er muss lachen, wenn er an die absurden
Fehldiagnosen denkt, die er im Laufe der
Jahre anstelle der Diagnose „Delir“ in den
Verlegungsbriefen aus der Chirurgie gele-
sen hat. „,Seit drei Tagen dement‘ war ein
Klassiker“, erzählt er. Was natürlich nicht
sein könne, weil sich eine Demenz sehr
langsam, über Jahre hinweg, entwickle.
Oft verharmlosen Mediziner das Delir
als „Durchgangssyndrom“ oder sagen ab-
LARS BERG / DER SPIEGEL

schätzig, der Patient sei „durch den Wind“.


Damit er den Stationsalltag nicht stört und
sich selbst nicht gefährdet, wird er mit se-
dierenden Medikamenten mitunter regel-
recht „abgeschossen“, wie es im Klinikjar-
Patientin Olsen, Delir-Team des Uniklinikums Münster: „Da stimmt was nicht“ gon heißt. Früher wurden solche durchge-
knallt wirkenden Kranken auch schnell

M
argarethe Olsen, 89, eine zierliche litt vielmehr an einem postoperativen De- mal ans Bett gefesselt.
Dame mit schlohweißem Haar, lir. Diese Art von Delir hat nichts mit Al- Dabei ließe sich das Delir in etlichen
liegt zugedeckt in ihrem Bett auf kohol zu tun, es ist ein Zustand tiefer Ver- Fällen verhindern, abmildern oder, wenn
der Orthopädiestation des Uniklinikums wirrung, der vor allem ältere Menschen es doch auftritt, erfolgreich behandeln –
Münster. Vor rund zwei Wochen haben nach einer Operation oder bei einer schwe- mit großem Nutzen für den Patienten.
Chirurgen ihre künstlichen Hüftgelenke ren Krankheit befallen kann – und zwar Denn anders als der Begriff „Durchgangs-
erneuert, die hatten sich gelockert. erschreckend häufig: Je nach Vorerkran- syndrom“ suggeriert, handelt es sich kei-
Die Operation hatte Olsen, die eigentlich kungen und Art der Behandlung bekom- nesfalls um ein vorübergehendes Problem,
anders heißt, gut überstanden, aber am Tag men Studien zufolge 20 bis 80 Prozent der das stets folgenlos abheilt. Nach einem De-
danach, auf der Intensivstation, war sie chirurgischen Patienten über 65 ein Delir. lir bleiben Studien zufolge bei jedem zwei-
plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Der griechische Arzt Hippokrates (um ten Betroffenen auf Dauer kognitive Defi-
Unbedingt wollte sie aufstehen, sofort, nur 400 v. Chr.) kannte diesen Zustand; er be- zite, 40 Prozent der zuvor selbstständig le-
mit Mühe konnten die Pfleger sie zurück- schrieb die Delirierenden so: „Sie fuchteln benden Patienten kommen im Alltag nicht
halten. Olsen wusste nicht mehr, wo sie mit den Händen in der Luft umher, zupfen mehr zurecht und müssen dauerhaft ge-
war, sie redete wirr und hörte offenbar auf der Bettdecke Flusen und pflücken pflegt werden. Die Sterblichkeit ist zeit-
Stimmen. „Es war wie am Telefon, wenn Spreu von der Wand.“ All diese Zeichen weise um das 20-Fache erhöht.
man den Hörer abnimmt“, erzählt sie heute. seien „ungünstig“. Langsam erkennen einige Ärzte und
„Ich habe gedacht: Da stimmt was nicht.“ Manche Patienten schreien stundenlang, Forscher die Bedeutung des Delirs. In Stu-
Es war kein Anfall plötzlichen Irrsinns, versuchen, Infusionsschläuche herauszu- dien konnte gezeigt werden, dass sich die
der sich da Olsens bemächtigt hätte. Sie reißen, beißen, irren nachts umher. Ande- Delir-Raten durch Präventionsprogramme

112 DER SPIEGEL 46 / 2017


erheblich senken lassen: in einer Untersu- sich beispielsweise Begriffe viel“, sagt Angiologe Rei-
chung an Patienten mit Hüftgelenksopera- über einen längeren Zeit-
Delir necke. „Da bricht man sich
tionen beispielsweise von 60 auf 7 Prozent. raum merken, komplizierte Die postoperative auch als Internist keinen
Verwirrtheit tritt vorwiegend Zacken aus der Krone,
In anderen Studien an Operierten von Sätze nachsprechen, rück-
bei älteren Patienten auf. wenn man einen Rat an-
über 20 auf unter 5 Prozent. wärts rechnen, das Ziffer-
Anja Schneider, Direktorin der Klinik blatt einer Uhr zeichnen. nimmt.“
für Neurodegenerative Erkrankungen und Wer in diesem Test nicht Sollte ein Delir dennoch
Gerontopsychiatrie am Universitätsklini- gut abschneidet, dem lässt auftreten, muss es zuverläs-
kum Bonn, hat das Delir zu einem ihrer Dunings Team eine Rund- sig und rechtzeitig erkannt
Forschungsschwerpunkte gemacht. „Man umbetreuung angedeihen. werden. Was schwieriger
vermutet, dass es durch eine Entzündungs- Die Risikopatienten wer- ist, als man denkt, denn die
reaktion im Gehirn ausgelöst wird, die am den jeden Tag eine halbe Studien zufolge leiden bis zu Symptome kommen und
Ende zu einem Ungleichgewicht von Bo- Stunde lang von derselben
tenstoffen führt“, sagt sie. Wirklich ver- Vertrauensperson besucht, 80 %
der über 65-jährigen
gehen – das ist typisch für
den postoperativen Nebel
standen sei es aber noch nicht. es wird ihnen immer wie- im Kopf. Wer das nicht
Damit sich die Situation der Patienten der gesagt, wo sie sind, wa- chirurgischen Patienten weiß und einen Patienten
jetzt schon verbessert, hat ein Team um rum sie im Krankenhaus in stationärer Behandlung nur fünf Minuten bei der
den Neurologen Thomas Duning vor drei sein müssen und was als darunter. Visite sieht, kann ein Delir
Jahren an der Universitätsklinik Münster Nächstes mit ihnen passie- deshalb leicht übersehen.
Die Sterblichkeit erhöht sich Und in knapp einem Drittel
die Stabstelle „Demenzsensibles Kranken- ren wird. „Das war sehr
dabei zeitweise um das der Fälle sind die Patienten
haus“ eingerichtet. Wichtigstes Ziel: Delire schön“, erinnert sich Mar-
verhindern. garethe Olsen. „Weil diese
Viele Ärzte des Klinikums, die zunächst Menschen mir auch sehr
20 -Fache. zwar verwirrt – aber sehr,
sehr still.
skeptisch waren, hat Duning mittlerweile aufrecht begegnet sind.“ Das habe er erst lernen
überzeugt, auch den Angiologen Reinecke. Außerdem werden die
Früher, gibt Reinecke zu, sei er davon aus- Risikopatienten von Du-
40 % müssen, berichtet Reine-
cke. „Die Patienten sitzen
der Betroffenen sind nach
gegangen, dass es einem verwirrten Pa- nings Team zum OP beglei- einem Delir dauerhaft dann im Bett, sind schein-
tienten zu Hause automatisch wieder gut tet und nach der Operation auf Pflege angewiesen. bar glücklich und sagen ja,
gehe. „Es war ein Schock zu lernen, dass aus dem Aufwachraum ab- ja, ja.“ Früher habe er das
dem nicht so ist.“ geholt, Brillen werden ih- für den Idealzustand gehal-
Reinecke behandelt sehr viele alte Men- nen schnell wieder auf- und Hörgeräte ein- ten, inzwischen frage er lieber noch einmal
schen, oft mit einem klassischen Eingriff, gesetzt, damit Stress, Angst und Orientie- nach, ob die alte Dame oder der alte Herr
nicht sehr aufwendig, nicht sehr riskant: rungslosigkeit – alles mögliche Auslöser wirklich alles verstanden habe. „Und dann
Blutgefäße im Bein wieder durchgängig für ein Delir – gar nicht erst aufkommen. merkt man oft: Der Patient ist in einem
machen. Damit lassen sich Amputationen Auch eine Vollnarkose zu vermeiden und Delir und macht völlig dicht.“
verhindern. „Wir therapieren, damit unse- stattdessen lokal zu betäuben könnte güns- Patienten mit Delir werden in Münster,
re Patienten weiter ihr Leben leben kön- tig sein. anders als in vielen anderen Krankenhäu-
nen“, sagt er. „Aber was nützt es, wenn „Am Anfang wurden wir ja etwas belä- sern, längst nicht mehr einfach nur stark
jemand sein Bein behält, aber dann wegen chelt“, sagt Krankenschwester Liane Jan- sediert. „Medikamentös wird ganz vorsich-
anhaltender Verwirrung ins Pflegeheim ßen, die, bevor sie zu Dunings Team stieß, tig rangegangen“, sagt Krankenschwester
muss?“ in der Chirurgie gearbeitet hat. „Aber in- Janßen. Wer Stimmen höre und verwirrt
Wer geistig nicht mehr ganz auf der zwischen höre ich von meinen alten Kol- sei, bekomme zum Beispiel für kurze Zeit
Höhe ist, kann leichter ein Delir bekom- legen immer: ,Es ist so gut, dass es euch moderne, hochpotente Neuroleptika in
men – es ist wahrscheinlich der wichtigste gibt!‘“ Was das Krankenhauspersonal niedriger Dosierung, die das Denken wie-
Risikofaktor. Und einer, der im Klinikall- freut: Die Patienten sind umgänglicher ge- der ordneten, erklärt Duning. Erste Zahlen
tag leicht übersehen werde, sagt Duning: worden. Auf den besonders intensiv be- aus Münster belegen: Durch eine konse-
bei Patienten, die einfach nur ein bisschen treuten Pilotstationen konnte die Delir- quente Therapie lässt sich die Dauer eines
schusselig sind: „Wenn ein Rate mehr als halbiert Delirs von etwa zehn auf rund fünf Tage
Arzt während der Visite werden: von etwa 15 auf halbieren.
nett mit jemandem plau- nur noch 6 Prozent. Die Stabsstelle kostet circa eine halbe
dert, bekommt er eine Auch bestimmte Medi- Million Euro pro Jahr. Das Universitäts-
leichte kognitive Ein- kamente tragen zum Ab- klinikum Münster finanziert die Arbeit des
schränkung gar nicht mit.“ rutschen in die Verwirrt- Teams aus dem laufenden Etat. „Wir
Deswegen untersucht heit bei. Es gilt, diese zu machen keinen Gewinn“, gibt Duning zu,
Dunings Team alle Patien- vermeiden oder sie zumin- „im Gegenteil.“ Als er das Konzept vorge-
ten ab 65, die in den Ab- dest so niedrig wie mög- stellt habe, sei der Aufsichtsrat über die
teilungen für Orthopädie, lich zu dosieren. Ben- Kosten erschrocken gewesen. „Aber die
Unfallchirurgie und Ne- zodiazepine, die viele alte Probleme mit den vielen deliranten Patien-
phrologie der Uniklinik Menschen als Schlafmittel ten auf den Stationen wurden immer drän-
behandelt werden, und nehmen, fallen darunter, gender.“ Zudem könne das Klinikum zu-
LARS BERG / DER SPIEGEL

auf Anfrage auch Risiko- ebenso einige Antibiotika mindest einen Teil der investierten Summe
patienten der anderen und Antidepressiva. Auch durch kürzere Liegezeiten und weniger
Fachbereiche. Um das Ri- Parkinson-Mittel sollten, aufwendige Pflege an anderer Stelle ein-
siko einschätzen zu kön- wenn möglich, reduziert sparen. „Am Ende“, sagt Duning, „haben
nen, überprüfen die Medi- werden. „Diese Beratun- alle gesagt: Wir müssen einfach den Mut
ziner die Hirnleistung. Neurologe Duning gen zu den Medikamen- haben, etwas zu machen.“
Dazu müssen Patienten Das Denken wieder ordnen ten bringen sehr, sehr Veronika Hackenbroch

DER SPIEGEL 46 / 2017 113


Wissenschaft

befreit, meint Stiewe. Bis in die Gegenwart Selbst da, wo gutwillige Stadtväter die

Liebreiz in behaupteten Gelehrte von zweifelhafter


Gesinnung, die Zimmerleute von einst hät-
ten in der nach außen sichtbaren Orna-
Renaissance des Fachwerks nach Kräften
gefördert hätten, sei die Entwicklung von
deren Nachfolgern torpediert worden. So

Vollendung mentik germanische Geheimbotschaften


versteckt, etwa in Form von Runen. „Das
ist Blödsinn“, sagt Stiewe, „dafür gibt es
wird die von restaurierten Fachwerkbau-
ten dominierte Altstadt der niedersächsi-
schen Rattenfängerstadt Hameln seit 2008
Architektur Ein Historiker überhaupt keinen Beleg.“ durch ein Einkaufszentrum verunstaltet,
Warum nur, wundert sich der Baufor- das wie ein Ufo in die Mittelalterkulisse
preist das Fachwerk als geniale scher, stehen in Deutschland Tausende von geplumpst ist.
Baukunst – nun will er Fachwerkhäusern leer und gammeln ihrem Im mittelfränkischen Ansbach war vor
Abriss entgegen? gut 30 Jahren der reichlich vorhandene Be-
der mittelalterlichen Technik zu Der Bauhistoriker gehört zu einer Be- stand an Fachwerk zur Freude der Anwoh-
einer Renaissance verhelfen. wegung von Heimatforschern, Geschichts- ner saniert worden. Seit Ende der Neunzi-
kundlern und Denkmalpflegern, die der gerjahre lockt allerdings ein in der Nach-

D
er 8. Februar 1989 verändert alles Bauweise aus dem Mittelalter zu einem barschaft gelegenes Shopping-Quartier die
im Leben von Heinrich Stiewe: Auf zweiten Comeback verhelfen will; die ers- Kundschaft, sodass die liebreizende Alt-
dem Weg zur Universität Münster te Welle zeitgenössischer Fachwerkbegeis- stadt selbst zur Hauptgeschäftszeit einer
legt der Student einen Zwischenstopp ein, terung endete nach Meinung der Tradi- Ödnis gleicht.
um ein altes, verlassenes Bauernhaus zu tionalisten vielerorts im Desaster. Vorbei die Zeit, als deutsche Städte in
inspizieren. Der angehende Bauhistoriker In den Siebzigerjahren des vergangenen einer grassierenden Mittelaltereuphorie
gilt unter Fachleuten damals bereits als Jahrhunderts begannen neubaumüde Städ- darum zankten, welcher Ort das älteste
passionierter Kenner histo- Fachwerkhaus beherbergt.
rischer Baukunst. Dabei können die Bauhis-
Doch an diesem Tag be- toriker inzwischen anhand
geht er einen verhängnisvol- der Jahresringe im verbau-
len Fehler. ten Holz häufig punktgenau
Auf dem Dachboden des bestimmen, in welchem
westfälischen Hallenhauses Jahr die zum Bau eines Hau-
lässt er für kurze Zeit alle ses benötigten Bäume ge-
Vorsicht außer Acht; der fällt wurden. Das älteste
morsche Boden unter ihm Fachwerkhaus Deutschlands
gibt nach. Stiewe fällt knapp steht nach dem aktuellen
drei Meter tief und schlägt Stand der Forschung in Ess-
mit den Füßen zuerst auf. lingen am Neckar und wur-
Dann spürt er seine Beine de 1266 hochgezogen.
nicht mehr. Gelegentlich müssen Ge-
Seit diesem Tag ist Stiewe meinden nun sogar pein-
querschnittgelähmt. Aus ei- liche Umdatierungen hin-
gener Kraft kann der For- nehmen. In Göttingen etwa
scher, der heute im Freilicht- taxierten die Fachwerk-
museum Detmold arbeitet, forensiker in jüngster Zeit
HARTMUT REEH / DPA

die Treppen eines Fachwerk- einen historischen Bau auf


hauses nicht mehr erklim- die Jahre 1425/1426, der zu-
men. Dieses Handicap hat vor auf das rekordverdäch-
den Mann indes nicht davon tige Jahr 1276 geschätzt wor-
abgehalten, etliche histori- Fachwerkhäuser in Freudenberg (Siegerland): „Murks der Deutschtümelei“ den war. Untersuchungen
sche Bauten in Europa per- brachten ans Licht, dass in
sönlich zu untersuchen. Für seine Inspek- ter, sich für die alten Bauern- und Bürger- dem Haus lediglich einige Balken aus frü-
tionen muss er Helfer organisieren, die ihn häuser zu interessieren. Gemeinden und herer Zeit erneut verbaut worden waren.
in die oberen Etagen schleppen. Städte hübschten die Fassaden ihrer ge- Verblüfft notieren die Historiker, dass
Inzwischen trage die Plackerei von Jahr- schichtsträchtigen Siedlungen auf und ver- die Technik des Fachwerkbaus offenbar
zehnten Früchte, meint der Forscher. Das schönerten dadurch das Erscheinungsbild bereits im Mittelalter ausgereift war. „Es
Fachwerk sei so gut erforscht wie nie zu- ihrer Ortschaften. Ein Scheinerfolg aus gab keine Evolution hin zum Besseren. Die
vor – und erhalte unter Experten endlich Sicht jener Puristen der Gegenwart, deren handwerkliche Holzbautechnik war schon
die gebührende Anerkennung. „Diese Bau- Ansichten etwa in der Zeitschrift „Der am Anfang vollendet“, schwärmt Stiewe.
weise ist genial – und genial einfach“, sagt Holznagel“ Ausdruck finden. Der Hausforscher bewohnt in seiner
Stiewe. Die Lebensqualität sei in den Do- Im Zuge von „katastrophalen Totalsa- westfälischen Heimatgemeinde natürlich
mizilen aus Gebälk, Bruchstein und Lehm nierungen“ sei vom alten Fachwerk mit- Fachwerk – ein starkes Bekenntnis an-
oft deutlich höher als in modernen Wohn- unter wenig mehr übrig geblieben als die gesichts der Tatsache, dass Stiewe sich in
silos; die Ökobilanz der verwendeten Bau- Fassade und das stützende Holzgerippe, einem solchen Haus beinahe das Genick
stoffe falle für herkömmliche Neubauten sagt Stiewe. „Viele Häuser, die im Origi- gebrochen hätte. Frank Thadeusz
im Vergleich verheerend aus. Zudem trot- nalzustand erhalten waren, wurden ihrer
zen die elastischen Holzkonstruktionen historischen Bausubstanz beraubt“, klagt Video: Was macht ein gutes
sogar Erdbeben und Orkanen. er – durch Haustüren aus Aluminium, Fachwerkhaus aus?
Auch vom „Murks der Deutschtümelei“ Fenster aus Kunststoff und einem moder- spiegel.de/sp462017fachwerk
sei die urtümliche Baukunst inzwischen nen Innenausbau aus Beton. oder in der App DER SPIEGEL

114 DER SPIEGEL 46 / 2017


€ 150,– Belohnung!
SICHERN SIE SICH IHREN GUTSCHEIN FÜR EINEN NEUEN SPIEGEL-LESER.

€ 150,– DriversChoice-
Tankgutschein Prämie
Benzingeld für Sie: Der Tankgutschein
ist deutschlandweit bei über 8500
zur Wahl
Tankstellen gültig. Gute Fahrt!

€ 150,– BestChoice-
Universalgutschein
Machen Sie sich eine Freude! Über 200
Händler mit über 25 000 Filialen oder
Online-Shops stehen zur Auswahl.

 
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
Frau
Die SPIEGEL-Vorteile: Herr
Name/Vorname
Wertvolle Wunschprämie für den Werber. 19
Straße/Hausnr. Geburtsdatum
Der Werber muss selbst kein
SPIEGEL-Leser sein.
PLZ Ort

Auf Wunsch den SPIEGEL digital für nur


Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206

€ 0,50 je Ausgabe inkl. SPIEGEL-E-Books. Telefon (für eventuelle Rückfragen) E-Mail (für eventuelle Rückfragen)

Gleich mitbestellen! Ja, ich möchte zusätzlich den SPIEGEL digital für nur € 0,50
pro Ausgabe beziehen statt für € 4,99 im Einzelkauf. SD17-019
Ja, ich wünsche unverbindliche Angebote des SPIEGEL-Verlags und der manager magazin Verlagsgesellschaft
Wunschprämie € 150,– Tankgutschein (5430) € 150,– Universalgutschein (5429) (zu Zeitschriften, Büchern, Abonnements, Online-Produkten und Veranstaltungen) per Telefon und/oder E-Mail.
Mein Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen.
Anschrift des Werbers: Der neue Abonnent liest den SPIEGEL für mindestens zwei Jahre für zurzeit € 4,60 pro Ausgabe statt € 4,90 im
Einzelkauf, den SPIEGEL digital zusätzlich für € 0,50 pro Ausgabe. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein
Frau
weiteres Jahr, wenn nicht sechs Wochen vor Ende des Bezugszeitraums gekündigt wird.
Herr
Name/Vorname Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* vierteljährlich € 59,80, digitale Ausgabe halbjährlich € 13,–
Die Mandatsrefe-
DE renz wird separat
mitgeteilt.
Straße/Hausnr. IBAN
SP17-103
PLZ Ort Datum Unterschrift des neuen Lesers

Coupon ausfüllen und senden an:


DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg 040 3007-2700 www.spiegel.de/150
Der Werber erhält die Prämie ca. vier Wochen nach Zahlungseingang des Abonnementbetrags. Der Vorzugspreis von € 0,50 für den SPIEGEL digital gilt nur in Verbindung mit einem laufenden Bezug der Printausgabe, enthalten sind € 0,49 für das E-Paper. Bei Sach-
prämien mit Zuzahlung zzgl. € 2,– Nachnahmegebühr. Alle Preise inklusive MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Hinweise zu den AGB und dem Widerrufsrecht finden Sie unter www.spiegel.de/agb. SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG,
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon: 040 3007-2700, E-Mail: aboservice@spiegel.de
* SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige den Verlag, Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von acht
Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
GIUSEPPE CACACE / AFP
GIUSEPPE CACACE / AFP

Jacques-Louis-David-Gemälde
„Napoleon überquert die Alpen“,

GIUSEPPE CACACE / AFP


um 1800, Gilles-Guérin-Skulptur
„Pferde der Sonne“, um 1670,
Innenraum des Louvre Abu Dhabi

Museen
Licht in der Wüste
ge Geld, um deren Kultur bewundern zu dürfen. Es gab viel
Kritik an der Idee, Meisterwerke des Abendlands dort auszu-
stellen, wo es lange weder Kunstgeschichte noch ein passen-
Auf einer Sandinsel im Persischen Golf wird an diesem Wo- des Bürgertum dafür gab. Na und? Die Herrscher der Emirate
chenende nach zehnjähriger Bauzeit und mit fünfjähriger Ver- haben ihre Scheichtümer zu Knotenpunkten im globalen Hin
spätung der Louvre Abu Dhabi eröffnet, ein – wie es heißt – und Her gemacht und erweitern ihr Portfolio jetzt um Kunst.
„universelles Museum für das 21. Jahrhundert“. Das Emirat Längst sind große Museen und ihre Besucher so universal, wie
bezahlt knapp eine Milliarde Euro, um 30 Jahre lang den es ihr Anspruch immer schon war. In Tokio wird gerade van
Namen Louvre sowie Expertise und Fundus französischer Mu- Gogh gezeigt, im Museum von Melbourne bald die Geschichte
seen zu verwenden. Die linsenförmige Kuppel des Gebäudes der Wikinger. Apropos: Die ägyptische Sammlung im Origi-
von Jean Nouvel soll das Zwielicht einer Medina oder eines nal-Louvre ist von Napoleon zusammengeräubert worden. Es
Palmenhains wiedergeben. Folgen sollen bis 2025 ein Natio- ist nicht weniger absurd, in Berlin-Dahlem eine der reichsten
nalmuseum und ein Ableger des Guggenheim, jeweils entwor- Sammlungen aus der Südsee anzuhäufen, als in Abu Dhabis
fen von Norman Foster und Frank Gehry. Eine ehemalige Wüste ein Madonnenbild Giovanni Bellinis hängen zu haben.
Kronkolonie zahlt einer ehemaligen Kolonialmacht eine Men- Jedenfalls ist die Provenienz geklärt. asm

Literatur und alle sollen staunen. Prä- Reich – Szenen auf dem Weg kamen. Die Jury erkennt da-
Flüstern und miert wird ein Buch, aber in die Katastrophe, die den mit eine deutliche Tendenz in
Strippenziehen damit ist auch eine Deutung
des ganzen Landes impliziert.
Zeitgenossen entweder unbe-
deutend oder großartig vor-
der französischen Literatur
an, die Belletristik mit den
Es gibt in Frankreich Jahres- So geschieht es auch in die- Mitteln der Wissenschaft
zeiten, die hierzulande un- sem Jahr: Der Prix Goncourt oder der journalistischen Re-
bekannt sind. Eine davon ist für Éric Vuillards „L’ordre cherche zu verbinden. Das
„la rentrée“, jene Woche du jour“ ist eine ordentliche gilt auch für das Buch über
nach den Sommerferien, in Überraschung. Denn es han- die letzten Jahre von Josef
denen die Schule wieder be- delt sich um eine Mischform Mengele in Südamerika des
ginnt. Alle zeigen ihre neuen von historischer Darstellung Journalisten Olivier Guez,
Kleider und fragen sich: Wie und literarischer Erzählung. der den Prix Renaudot er-
steht es um Frankreich? Eine Vuillard schildert Episoden hielt. So erweitert das litera-
weitere solche Jahreszeit ist aus der Geschichte des rische Establishment in Paris
die Saison der Literaturprei- 20. Jahrhunderts: die Sitzung, das Feld der Belletristik und
JOEL SAGET / AFP

se. Im November kommt das in der deutsche Unternehmer erhöht die Relevanz der
monatelange Lesen, Flüstern beschlossen, für Hitler zu ohnehin schon beneidenswert
und Strippenziehen der di- spenden, und den Anschluss gut aufgestellten französi-
versen Jurys zum Abschluss, Österreichs an das Deutsche Vuillard schen Literatur. nm

116 DER SPIEGEL 46 / 2017


Kultur
Kunstmarkt worden, der Meister habe den Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Erlöser als Trophäe Entwurf geliefert und „nur
hier und dort etwas überar- All das, na klar
Am kommenden Mittwoch beitet“. Bemerkenswert auch:
will Christie’s in New York Das Werk werde nicht in Hannah Arendt: beste Gesellschaft. Das
ein Gemälde versteigern, das damaligen Quellen erwähnt – wird sich auch der Mann im tauben-
zum Streitfall werden könnte. im Gegensatz zu allen ande- blauen Anzug gedacht haben, grauer
Das Auktionshaus preist die ren nach 1497 entstandenen Schopf, Stimme weich, im Engli-
Jesusdarstellung als eines der Bildern Leonardos. Der Jesus schen gerade mäßig genug, um bei
wenigen erhaltenen Werke in Erlöserpose, ein „Salvator seinem Vortrag auf das allgemeine
des Italieners Leonardo da Mundi“, tauchte 2005 an der Wohlwollen rechnen zu dürfen.
Vinci an. Schätzpreis: 100 Mil- Oberfläche des Kunstmarkts Im legendären Bard College bei
lionen Dollar. Der in Leipzig auf: Ein Konsortium erwarb New York, akademische Heimat der Phi-
lehrende Kunsthistoriker die Tafel aus amerikanischem losophin Arendt und ihres Mannes Heinrich Blücher, bei-
Frank Zöllner hält die Zu- Privatbesitz, ließ das Werk de Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutsch-
schreibung jedoch für „über- restaurieren. 2011 wurde es in land: Marc Jongen, ein Schüler Peter Sloterdijks und so-
trieben“, sie sei dem „Gesetz einer Schau in London als genannter Vordenker der neuen Rechten, mit deren
der Sensation“ geschuldet Schöpfung Leonardos vorge- ungustiösen Reflexionen sich zu befassen allenthalben
sowie dem Wunsch, „eine stellt. 2013 ging es für 127,5 empfohlen wird. Was mich betrifft, so kann ich seit dem
Trophäe“ im Angebot zu ha- Millionen Dollar an den Mil- Besuch einer höheren Schule in Nordrhein-Westfalen,
ben. Es handle sich um die liardär Dmitri Rybolowlew, vielen Dank, liebe Bildungsreformer, noch immer im
„Zuspitzung auf einen Maxi- einen gebürtigen Russen. Da Halbschlaf abmurmeln, wie man von der raunenden Be-
malautor“ – dabei sei das Bild ist der jetzige Schätzpreis fast fassung mit den alten Griechen über den Heilsgedanken
eher von Gehilfen geschaffen ein Schnäppchen. uk der Nation unter Zuhilfenahme eines wohlinszenierten
empörten Volksempfindens in eine reale wie moralische
Trümmerlandschaft gerät; das zu verstehen ist kein
Hexenwerk und sogar möglich, ohne Martin Heidegger,
Filme spektiv zu Wort kommen. Carl Schmitt et alii im Original zu buchstabieren. Zu den
Evas Pirouetten Pölking und Pollfuß verlassen
sich auf den naiven Blick der
wenigen positiven Folgen der wahren deutschen Bil-
dungskatastrophe gehörte immerhin beinahe siebzig Jah-
Lässt sich ein monumentaler Zeitgenossen, die alles sehen, re lang, dass bestimmte Vokabeln kontaminiert waren
Verbrecher nur mit einem aber nichts verstehen. Zudem und so der Unbefangenheit entzogen. Inzwischen haben
monumentalen Werk darstel- reichern sie die Stummfilme wir uns wieder an Figuren gewöhnen müssen wie einen
len? Der Regisseur Hermann mit Texten an, denen häufig ex-linken Dogmatiker, vormals Redakteur der Zeitschrift
Pölking und sein Produzent jede Beziehung zum Gezeig- „konkret“, der sich vorstellt mit dem Satz: „Mein Name
Thorsten Pollfuß sind davon ten fehlt. Da dreht Eva Braun ist Jürgen Elsässer, und meine Zielgruppe ist das Volk.“
offenbar überzeugt. Ihre Pirouetten auf Schlittschuhen, Und es ist offenbar auch nicht zu ändern, dass in so schö-
Dokumentation ner wie naiver Verkennung der Idee des herrschaftsfreien
Wer war Hitler, die Diskurses Denker-Darsteller wie Jongen sich im befreun-
nun in die Kinos deten Ausland als Opfer deutschen Rigorismus vorstellen
kommt, zieht sich dürfen, der ihnen zu Hause das Reden verbiete. Es darf
in der Kinoversion aber daran erinnert werden, dass die Partei, als deren
über gut drei, in Abgeordneter der Mann im taubenblauen Anzug tätig ist,
der Festivalfassung sich die Zeit im historischen Wartestand mit Vergnü-
sogar über mehr gungen vertreibt, auf die Jongen am College Hannah
als sieben Stunden Arendts jedenfalls ungern angesprochen würde.
hin. Die beiden In der Facebook-Gruppe „Die Patrioten“, die Dutzen-
haben gründlich in de AfDler zählt, erschien kürzlich, drei Wochen nach
BPK

Archiven recher- Jongens Vortrag in New York, eine Collage mit dem Ge-
chiert und eine Braun in „Wer war Hitler“ sicht Anne Franks auf einer Pizzapackung und der Auf-
Filmbiografie der schrift „Die Ofenfrische. Locker & knusprig zugleich“.
besonderen Art erstellt: ein und dazu wird ein Hitler-Text Soll man das – inzwischen entfernt, juristische Verfol-
wildes Sammelsurium aus verlesen, in dem es um vieles, gung garantiert – beschweigen? Ich denke nein. Denn
Amateur-, Wochenschau- und aber nicht um Eva Braun wenn sich dieser Trupp deutschnationaler Ungustln aufs
Propagandafilmen, die das geht. Da wird aus der Predigt historisch Episodische beschränkt, dann werden wir das
Leben Adolf Hitlers aus- des Bischofs von Galen zi- nicht der argumentativen Widerlegung und feinsinnigen
schließlich aus der Sicht von tiert, der die Euthanasie kriti- Entzauberung ihres akademischen Personals verdanken,
Zeitzeugen dokumentieren. sierte, und das Bild eines sondern der schlichten und wiederholten Feststellung,
Der künstlerische Anspruch Mannes beim Pfeiferauchen mit wem wir es hier zu tun haben, wer hinter denen pö-
erinnert an Claude Lanz- gezeigt, der definitiv nicht belt und marschiert, die gepflegt mit dem Taktstock we-
manns geniales Großprojekt der Bischof ist. Die Filmema- deln und so Sätze säuseln wie: „Of course I’m against di-
„Shoa“, doch leider wird cher sind stolz auf ihr „sur- scrimination, racism and all that.“ Auch Jongen ist gegen
„Wer war Hitler“ diesem An- realistisches“ Verfahren, die Diskriminierung, Rassismus und dieses ganze Zeug.
spruch nicht gerecht. Lanz- Zuschauer dürften am Ende Dieses „all that“ hat mir am besten gefallen.
mann ließ Überlebende und eher befremdet und kein biss-
Täter des Holocaust retro- chen klüger sein. dy An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL 46 / 2017 117


#MeToo und die Folgen Seit vor fünf Wochen die Übergriffe des Diskriminierung und sexueller Gewalt berichtet. Es ist auch eine
Filmproduzenten Harvey Weinstein bekannt wurden, haben Debatte über Rollenbilder und notwendige Grenzen. Männer sind
unzählige Frauen unter dem Hashtag #MeToo von Erfahrungen mit davon ebenso betroffen, wie der Fall Kevin Spacey zeigt.

„Die neue Frau ist der alte Mann“


SPIEGEL-Gespräch Warum sie will, was er will: Die Psychologin und Buchautorin Sandra
Konrad, 42, behauptet, dass sich Frauen noch immer dem männlichen Begehren unterwerfen.
SPIEGEL: Frau Konrad, seit der sexuellen die Bilder, denen wir ausgesetzt sind, in der Konrad: Weil sie geschockt sind, weil sie
Revolution sind rund 50 Jahre vergangen, Werbung, in der Pornografie. Da werden Angst haben und weil sie zu wenig Rückhalt
aber die große #MeToo-Debatte der ver- Frauen tatsächlich zu Objekten gemacht. in der Öffentlichkeit bekommen. Die Frau-
gangenen Wochen hat gezeigt, dass Grap- SPIEGEL: Die Vielzahl der sexuellen Über- en sind mit der Abwehr ihrer Ohnmacht
schen und Übergriffe jeden Tag zigfach ge- griffe ist erschreckend, aber auch, dass sie beschäftigt, oft versuchen sie sogar, so zu
schehen. Sind Frauen für Männer immer offensichtlich über Jahre verschwiegen tun, als ob alles okay wäre. Auf diese Weise
noch Objekte? wurden. Wieso war die Hemmschwelle für unterstützen sie unbewusst die Missstände.
Konrad: Wir müssen unterscheiden zwi- Frauen so hoch, sich offensiv zu wehren? SPIEGEL: Der Versuch, souverän zu sein, be-
schen intimen Liebesbeziehungen und der Konrad: Sie ist noch immer groß. Die Frau- wirkt genau das Gegenteil?
Öffentlichkeit. Die Machtverhältnisse in en, die im Fall Harvey Weinstein an die Konrad: Niemand will Opfer sein. Selbst
Beziehungen sind viel ausgeglichener ge- Öffentlichkeit gegangen sind, haben selber wer eine Gewalttat erlebt hat, wehrt diese
worden. Wenn Liebe im Spiel ist, dann ist Macht, es sind Frauen, die prominent sind. Rolle erst mal ab. Sie passt nicht zum
bei Männern und Frauen das Bedürfnis Hätten sie diesen Schritt viele Jahre eher Selbstbild der allermeisten: Wir wollen
nach einer partnerschaftlichen Lösung unternommen, dann wäre ihnen die Erfah- stark sein, souverän, selbstbewusst. Das
groß. In der Öffentlichkeit sieht es ganz rung der allermeisten Frauen nicht erspart ist das zeitgemäße Frauenbild. Es nimmt
anders aus. Sexismus wird gepusht durch geblieben: Übergriffe werden verleugnet den Frauen aber den Spielraum, sich und
oder bagatellisiert, die Opfer werden be- anderen einzugestehen, dass sie auch heu-
Sandra Konrad: „Das beherrschte Geschlecht. Warum schämt. Oft wird ihnen sogar eine Mit- te noch in bestimmten Situationen zum
sie will, was er will“. Piper; 384 Seiten; 24 Euro. Erscheint schuld gegeben. Opfer gemacht werden. Dass sie unter Se-
im Dezember.
Das Gespräch führten die Redakteure Tobias Becker und SPIEGEL: Wieso fällt es weiblichen Opfern xismus und natürlich unter sexualisierten
Claudia Voigt. so schwer, angemessen zu reagieren? Übergriffen leiden.

JAN-PETER BOENING / LAIF

#MeToo-Demonstration: „Frauen haben mehr Macht, als ihnen bewusst ist“

118 DER SPIEGEL 46 / 2017


Kultur

SPIEGEL: Frauen wollen nicht mehr das geht es, um die Frage: Warum schweigen mit Freundinnen zu Sextoy-Partys wie frü-
schwache Geschlecht sein – und werden Frauen? Dahinter steht die jahrhunderte- her zu Tupperpartys, sie gucken Pornos,
es durch diesen Wunsch umso mehr? lange Beschämung des weiblichen Ge- sie tindern und suchen sich dort gezielt
Konrad: Zumindest dann, wenn wir die Rea- schlechts. Die fixe Zuschreibung, dass jüngere Partner, sie haben One-Night-
lität von Verletzungen und damit auch uns Frauen, die sich wehren, nerven, dass sie Stands und Affären und sprechen offen da-
selbst verleugnen. Seit Jahrhunderten wird zu laut sind, zu fordernd. rüber. Und doch schreiben Sie in Ihrem
Frauen gesagt, wie sie ihre Sexualität leben SPIEGEL: Welche Rolle spielen die Männer Buch, Frauen seien sexuell nicht befreit.
sollen. Das setzen wir auf diese Weise sehr dabei? Ist das nicht eine gewagte These?
subtil fort. Konrad: Die allermeisten können sich nicht Konrad: Ich unterscheide zwischen sexuel-
SPIEGEL: Im Dezember wird ein Buch von vorstellen, wie das ist, wenn man sich ler Freiheit und sexueller Selbstbestim-
Ihnen zum Thema weibliche Sexualität er- einen blöden Spruch nach dem anderen mung. Mit der Freiheit kamen für die Frau-
scheinen, das den Titel „Das beherrschte anhören muss, wenn man ständig damit en neue Normen. Heute gilt es, sexuell
Geschlecht“ trägt. Sie haben dem Buch rechnen muss, irgendwie angefasst zu wer- aufgeschlossen zu sein, vieles auszupro-
ein Zitat von Oscar Wilde vorangestellt: den. Weil Männer so etwas kaum erleben, bieren und mitzumachen. Aber was ist mit
„Alles in der Welt dreht sich um Sex. fällt es ihnen mitunter schwer, empathisch den Frauen, die noch gar nicht wissen, was
Außer Sex. Bei Sex geht es um Macht.“ zu sein. Die gute Nachricht ist, dass dies – sie wollen? Es ist unattraktiv geworden,
Haben Frauen nicht längst so viel Macht, zumindest bei manchen – nun geschieht. als Frau Nein zu sagen.
dass das nicht mehr gilt? Wir leben in einer Welt und in einer Zeit, SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Konrad: Frauen haben mehr Macht, als in der Männer und Frauen nicht mehr ge- Konrad: Ich habe viele Interviews mit Frau-
ihnen bewusst ist. Aber sie trauen sich oft geneinander kämpfen sollten. en geführt, und gerade bei den jüngeren
nicht, diese Macht auch auszuüben. Durch SPIEGEL: Für Sie ist #MeToo keine Ge- ist mir diese Haltung wiederholt begegnet:
die prominenten Frauen, die sich in der schlechterkampfdebatte? Ich bin jung, ich bin hip, ich tindere, ich
#MeToo-Debatte geäußert haben, bekom- Konrad: Es gibt verschiedene Fraktionen: mache mit. Aber es fehlt das Bewusstsein
men jetzt auch normale Frauen einen Zu- Frauen, die mit den Frauen mitfühlen. für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen.
gang zum Neinsagen. Das ist das Tolle da- Frauen, die mit der männlichen Macht Was mich in den Gesprächen mit diesen
ran – dass Frauen endlich Grenzen setzen, koalieren. Und Männer, die alles von sich jungen Frauen am meisten überraschte,
dass sie sagen: Das tut mir weh, das möch- weisen und Nebelbomben werfen. Das ist war die Diskrepanz zwischen Selbstbild
te ich nicht mehr. wie immer. Was diesmal neu ist: Es gibt und Verhalten: Sie sprachen von Macht
SPIEGEL: Ist so viel Optimismus wirklich Männer, die reflektieren und diesen Pro- und Selbstbewusstsein, verhielten sich
schon angebracht? zess auch öffentlich machen. In der #Me- aber absolut angepasst, norm- und regel-
Konrad: Nun ja. Eine der ersten Schauspie- Too-Debatte zeigt sich viel Solidarität zwi- konform. Sie beteuerten, selbstbestimmt
lerinnen, die sich zum Fall Weinstein ge- schen Männern und Frauen. zu sein, und berichteten gleichzeitig, wie
äußert hat, twitterte: „Ladys, euer Schwei- SPIEGEL: Frauen engagieren heute Stripper sie physisch und psychisch über ihre Gren-
gen ist ohrenbetäubend.“ Genau darum für Junggesellinnenabschiede, sie gehen zen gegangen sind, und zwar nicht um ihre

WATTIE CHEUNG / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS

Popstar Cyrus: „Den Körper als Währung und Ware einsetzen“

DER SPIEGEL 46 / 2017 119


Kultur

bewertet. Das normative Bild heut- nografie und Prostitution eine große Rolle,
zutage ist das der aufgeschlossenen, die Sexindustrie und deren wirtschaftliche
promisken Frau. Dagegen gibt es Interessen. Auch die sozialen Medien.
nichts einzuwenden. Es wäre nur SPIEGEL: Mädchen und junge Frauen insze-
schön, wenn sich jede Frau erst mal nieren diese Bilder von sich zum Teil selbst.
selber befragen würde, was ihre Auf Instagram zeigen sie sich in Pin-up-
Wünsche sind. Posen.
SPIEGEL: Sie schreiben, weibliche Se- Konrad: Wie bewusst ist den jungen Frauen,
xualität habe sich nicht emanzi- was da passiert? Wir leben in Zeiten eines
piert, sondern lediglich maskulini- globalen Narzissmus. Macht wird auch
siert. Was soll das sein: „maskuline über den Blick von anderen generiert. Das
Sexualität“? ist aber eine brüchige Macht, die ist in dem
Konrad: Die neue Frau erscheint in Moment weg, wo der andere sagt: Du bist
vielerlei Hinsicht wie der alte dick, du hast Cellulite oder Falten, du bist
Mann: Frauen sollen heute sexuell alt geworden.
aktiv sein, und sie sollen Sex und SPIEGEL: Warum wollen Frauen gefallen:
Gefühle fein säuberlich trennen die 17-Jährigen genauso wie 50-Jährige,
können. Besonders in jungen Jah- die sich ihre Falten wegspritzen lassen?
ren unterdrücken viele die Sehn- Konrad: Das ist die Tradition, in der das
sucht nach einer Liebesbeziehung, Frauenbild steht. „Will er mich“ ist wichti-
MARIA FECK / DER SPIEGEL

um nicht schwach und abhängig zu ger als „Was will ich“. Frauen hatten über
erscheinen. Jahrhunderte nur eine Möglichkeit, an
SPIEGEL: Die sexuelle Selbstbestim- Macht zu kommen: über ihre Äußerlich-
mung der Frauen ist also nicht so keit. Heute hätten sie viel mehr Möglich-
weit fortgeschritten wie die sexuelle keiten, viele Frauen nutzen die ja auch,
Psychologin Konrad Freiheit? aber die junge Generation scheint wieder
Wo ist das weibliche Begehren? Konrad: Es gab Machtverhältnisse, zurückzufallen in alte Muster.
und es gibt sie noch heute. Aus mei- SPIEGEL: Wieso schwingt das Pendel zu-
eigene Lust zu erkunden, sondern um ner Sicht ist die Fremdbeherrschung der rück?
Männern zu gefallen. Frau heute in eine Selbstbeherrschung Konrad: Na ja, wie werden die jungen Frau-
SPIEGEL: Miley Cyrus fasst sich in einem übergegangen. Viele gesellschaftliche For- en und auch die jungen Männer heute so-
berühmten Musikvideo zwischen die Bei- derungen haben sich zu weiblichen Wün- zialisiert? Unter anderem durch Pornogra-
ne, so wie viele Jahre zuvor Elvis oder Mi- schen gewandelt. Weshalb viele Frauen fie. Wir dürfen die Bilder nicht unterschät-
chael Jackson. Ist das ein starkes Symbol sich selber glauben machen, sie wollten zen, mit denen wir überflutet werden.
für das neue sexuelle Selbstbewusstsein das alles so. Aber unterm Strich hat sich SPIEGEL: Können die Zuschauer und Zu-
der Frau? für sie wenig geändert. Sexuelle Freiheit schauerinnen von Pornos denn nicht un-
Konrad: Miley Cyrus ist ein Prototyp des bedeutet heute wie damals: Sie will, was terscheiden zwischen Fiktion und Realität?
immer noch sexistischen Zeitgeistes: Als er will. Bei gewalttätigen Kriminalfilmen gelingt
15-Jährige trug sie einen sogenannten Pu- SPIEGEL: Ist der Mann besser dran? ihnen das doch in der Regel auch.
rity Ring und versprach, bis zur Ehe ent- Konrad: Ich glaube, dass beide Geschlechter Konrad: Es gibt dazu verschiedene, sich
haltsam zu bleiben. Mit 24 gibt sie die Sex- unter starren Rollenbildern leiden. Denken zum Teil widersprechende Studien. Wel-
bombe und beschwört ihre vermeintliche Sie an die klassische Pornografie: der gro- che Folgen der enorme Pornokonsum für
sexuelle Befreiung. Aber ist es tatsächlich Kinder und Jugendliche hat, wissen wir
ein Zeichen für die Befreiung und Eman- daher noch nicht mit Sicherheit. Es ist ein
zipation der Frau, wenn sie ihre Erotik ver- „Welche Folgen hat der gesellschaftliches Großexperiment. Ich bin
marktet? Ich glaube, dass in der fortschrei- davon überzeugt, dass all die Bilder – nicht
tenden Sexualisierung der Frau für viele Pornokonsum für Jugend- nur Pornografie, auch die sexualisierten
Frauen ein Problem liegt. Nicht für alle, liche? Es ist ein gesell- Bilder auf Instagram – ins Unbewusste ein-
aber für viele. sickern. Denken Sie an den Ekel vor In-
SPIEGEL: Die Selbstinszenierung von Pop-
schaftliches Experiment.“ timbehaarung oder an die zunehmende
stars wie Miley Cyrus trägt für Sie zu die- Anzahl von Brustvergrößerungen, das sind
sem Problem bei? be Mann, der immer will und kann, der nur zwei Beispiele dafür, wie weit der Por-
Konrad: Na ja, Superstars mögen von die- seinen Trieben ausgeliefert ist. Viele Män- no-Chic im Mainstream angekommen ist.
sem sexualisierten Image profitieren, aber ner mögen sich damit nicht identifizieren SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, Frau-
gilt das auch für normale Mädchen? Miley und haben mit diesem Rollenbild schwer en ließen sich auf bestimmte sexuelle Prak-
Cyrus ist ein Vorbild, über das Millionen zu kämpfen. Ein wichtiger Unterschied be- tiken nur ein, weil sie einem Mann gefallen
von Teenagermädchen lernen, wie wichtig steht allerdings darin, dass Männer lange wollen. Die Frauen erbrächten „sexuelle
es ist, sexy zu sein, sie sehen, dass man die Macht hatten, Rollenbilder zu defi- Gefälligkeiten“. Aber gilt das nicht umge-
den Körper auch als Währung und Ware nieren. kehrt ebenso? Geht es darum beim Sex
einsetzen kann. SPIEGEL: Wenn beide Geschlechter unter nicht immer auch: erregt zu werden davon,
SPIEGEL: Gab es diese Art von Vorbildern den Zuschreibungen leiden, warum ändert dass der andere erregt ist?
nicht immer schon? sich so wenig? Konrad: Ich würde auch hier wieder unter-
Konrad: Es gehört zur Geschichte der weib- Konrad: In den verbindlichen Beziehungen scheiden: Sprechen wir von einer intimen
lichen Sexualität, dass von außen bestimmt ist das ja schon passiert. Jetzt geht es um Beziehung oder von Gelegenheitssex? Da
wurde, was richtig und was falsch ist: Die die öffentlichen und die kulturellen Bilder. gibt es einen Unterschied. Männer können
Frau war entweder zu lustvoll oder zu lust- Und die werden von sehr unterschiedli- sehr viel selbstverständlicher damit um-
los. Sogar der weibliche Orgasmus wurde chen Einflüssen geprägt. Da spielen Por- gehen, dass es bei Gelegenheitssex um
120 DER SPIEGEL 46 / 2017
WAHRE SEKTKULTUR SEIT 1838
Getreu der Gründertradition von 1838 entstehen in unserer Breisacher
Kellerei feinste Geldermann Sekte in traditioneller Flaschengärung.
Marc Gauchey, Chef de Cave, kreiert die charaktervollen Cuvées mit
deutsch-französischer Handwerkskunst. Genießen Sie unseren neuen
Brut, Rosé Sec oder Classique Sec!

Mehr über echten Sektgenuss auf www.geldermann.de


ihre eigene Befriedigung geht. Und Frauen
sind darauf trainiert, eher Lustspenderin
zu sein als Lustempfängerin. Vor allem
jungen Frauen geht es bei unverbindlichen
sexuellen Kontakten eher darum, über se-
xuelle Erfahrungen sprechen zu können
und dabei möglichst gut bewertet zu wer-
den, weniger um eine lustvolle, befriedi-
gende Erfahrung an sich. Gut im Bett zu
sein ist wichtiger, als sich im Bett gut zu
fühlen.
SPIEGEL: Wieso kommen Frauen in Bezie-
hungen eher auf ihre Kosten?
Konrad: Weil die Angst geringer wird, be-
wertet zu werden. Wenn die Frauen sicherer
sind, geht es nicht mehr so sehr darum, was
sie nach außen darstellen wollen, sondern
eher um das innere Erleben. Und Sie haben
völlig recht: Natürlich ist Sexualität Geben
und Nehmen. Aber da gibt es eben Unter-
schiede zwischen Männern und Frauen. Es
fängt damit an, dass fast alle Jungs, wenn
sie die erste sexuelle Beziehung eingehen,
bereits Masturbationserfahrung haben, Mäd-
chen aber viel seltener; die Schätzung liegt
bei gut 40 Prozent.
SPIEGEL: Die #MeToo-Debatte ist dank der
sozialen Medien durchgestartet. Sind sie
ein Segen – oder auch eine Gefahr auf dem
Weg zur sexuellen Selbstbestimmung?
Konrad: Seit Facebook, Instagram, YouPorn
und Co. verbreiten sich Normen schneller
und zwingender als je zuvor. Wir brau-

SUNSET BOX / ALLPIX / LAIF


chen auf jeden Fall mehr Aufklärung
über Internetpornografie, auch in den
Schulen. Die Schüler gucken die Videos
ja sowieso.
SPIEGEL: Auch die jungen Frauen?
Konrad: Studien sagen: 60 Prozent aller Schauspieler Spacey: Wolf im Rudel
Männer, 10 Prozent aller Frauen. Von den
jungen Frauen, die ich befragt habe, hatte
jede schon Pornos gesehen, ausnahmslos,
einige schauen sie sehr bewusst.
SPIEGEL: Wie ist die Reaktion?
Konrad: Meine Interviewpartnerinnen su-
„Er ist so nett“
chen sich das Material, das ihnen gefällt. Filmindustrie Eine Vielzahl von Erfahrungsberichten offenbart
Was ihnen nicht gefällt, gucken sie nicht
mehr. Sachen, die man eklig findet, schaut auch die Drangsalierung vor allem junger Männer.
man sich vielleicht mal gemeinsam an und

A
grenzt sich davon ab. Ähnlich scheint das ls der Mann, den er bewunderte, te, was man dafür manchmal alles tun
bei Jungs auch zu sein. ihm zwischen die Beine griff, da muss, war überrascht vom Charme und
SPIEGEL: Das ist aber ein ganz emanzipier- dachte Harry Dreyfuss vor allem der Freundlichkeit von Kevin Spacey, der
ter Umgang damit. daran, wen er beschützen musste. Drey- das Old Vic von 2004 bis 2015 leitete. „Er
Konrad: Ja. Aber wieso machen die Frauen fuss, ein 18-Jähriger, war ein Missbrauchs- ist so nett“, sagte er sich immer wieder,
die Normen nicht selbst? Heute studieren opfer, das im Moment der Verletzung „er ist so nett.“
so viele Mädchen wie Jungs, Frauen darauf bedacht ist, dass der Täter keinen Bis zu dem Abend, als die drei bei Spa-
können Kanzlerin werden, doch sie sind Schaden nimmt. cey zu Hause waren, um zu arbeiten. Der
umgeben von Bildern weiblicher Sexuali- Es war aber auch eine zu verwirrende ältere Dreyfuss war in seine Rolle vertieft,
tät, die sie bevormunden. Es geht wirklich Situation. Dreyfuss war nach London ge- während der jüngere Dreyfuss auf dem
darum, dass jede und jeder für sich selber kommen, um seinen Vater zu besuchen, Sofa saß und Spacey sehr nah an ihn
sorgt. Und dazu braucht man Mut. Die den berühmten Schauspieler Richard Drey- heranrückte. Und ihm dann die Hand mit
#MeToo-Debatte wurde von Frauen an- fuss, der mit dem noch berühmteren klarer Absicht erst auf den Schenkel legte
gestoßen, die Mut hatten. Jetzt kommen Schauspieler Kevin Spacey ein Stück am und immer höher schob, in den Schritt.
hoffentlich immer mehr Frauen und Män- allerberühmtesten Theater Old Vic ein- „Ich war wie leer“, schreibt Dreyfuss in
ner nach. studierte. seinem eindrucksvoll nüchtern und zu-
SPIEGEL: Frau Konrad, wir danken Ihnen Der junge Dreyfuss, der selbst Schau- gleich schmerzvollen Erfahrungsbericht,
für dieses Gespräch. spieler werden wollte und noch nicht ahn- der auf der amerikanischen Website Buzz-
122 DER SPIEGEL 46 / 2017
Kultur

Feed erschienen ist. „Ich hob den Kopf brauchs beschuldigt hatte, mit dem Be- an Leukämie erkrankt, als er zehn Jahre
und sah ihn an. Ich schaute ihm in die Au- kenntnis seines Schwulseins verband. alt war.
gen und schüttelte so schwach wie nur „Wie kannst du es wagen?“, schäumte Er wollte weg, er zog nach Los Angeles.
möglich den Kopf. Ich wollte ihn warnen, etwa der „Guardian“-Kolumnist Owen Er war glücklich, als er einen Manager
ohne die Aufmerksamkeit meines Vater Jones, der fürchtet, dass Spacey mit der fand, auch als der ihm sagte, dass er seinen
zu erregen, der immer noch auf den Text Verbindung von Missbrauch und Homo- schwulen Stil loswerden müsse, wenn er
starrte.“ sexualität die „böse Lüge“ über schwule Erfolg haben wolle. Am gleichen Abend
Das war 2008. Und nun, fast zehn Jahre Männer weiterverbreitet: die Verbindung ließ sich dieser Manager von Curtis oral
später, nachdem immer mehr junge Män- von schwulem Sex und Pädophilie. befriedigen.
ner davon erzählen, wie sie von Spacey Manche der Männer, die Spacey sich Es sind solche Geschichten, die den
bedrängt wurden, ist Dreyfuss noch immer aussuchte, waren extrem jung und ihm Abgrund beschreiben, an den Hollywood
verwundert, wie Spacey es wagen konnte, ziemlich ausgeliefert: Anthony Rapp war ziemlich viele Menschen gebracht hat.
ihn zu begrapschen, während sogar sein 14, als Spacey sich auf ihn legte, mit einem „Wir schwulen Männer“, schreibt Curtis,
Vater dabei war. „Am meisten ekelt mich damals 14-jährigen Jungen hatte Spacey inzwischen 31, „dürfen nicht die sein, die
an Kevin“, schreibt Dreyfuss, „wie sicher wir sind. Um zu arbeiten und unsere Träu-
er sich fühlte.“ me zu verfolgen, müssen wir die Essenz
Was Spacey so sicher sein ließ, war ein Das Hollywood-System dessen verraten, was uns ausmacht.“
System, in dem viele schwiegen, weil sie Was Brit Marling über Frauen in Holly-
abhängig waren; ein System, in dem Miss- von Macht und sexuellem wood erzählt, das beschreibt Simon Curtis
brauch von Frauen wie Männern derart Missbrauch zerfällt für Männer. Kevin Spacey ist für ihn nur
selbstverständlich war, dass die Täter keine ein Wolf in einem Rudel, „dessen Macht
Angst vor dem Absturz haben mussten.
vor den Augen der Welt. in Hollywood tief verankert ist“. Für junge
Jemand wie der Produzent Harvey homosexuelle Männer bedeutet das, so
Weinstein, mit dessen Fall vor mehr als 1983 eine sexuelle Beziehung, einen Curtis, mehr als die sprichwörtliche Beset-
fünf Wochen dieser systemische Großskan- 16-Jährigen lud Spacey zu sich nach Hause zungscouch: Er spricht von „psychologi-
dal begonnen hatte, schickte Anwälte, Pri- ein und zeigte ihm Schwulenpornos; aus schen Kriegsspielen“, bei denen die jungen
vatdetektive, Journalisten los, um die Op- der Bar des Old Vic wie vom Set von Männer gezwungen werden, ihre Homo-
fer mit Geld oder üblen Gerüchten zum „House of Cards“ wird berichtet, wie über- sexualität zu verstecken, und auf diese
Schweigen zu bringen. Sein Fall legt nun griffig Spacey sich hier bewegte. Weise schwach und zum Opfer werden –
erstmals offen, wie alltäglich, wie unaus- Ein Journalist, den Spacey nach einem und „eine ganze Industrie – Schauspieler,
weichlich, wie erniedrigend und trauma- Interview „aggressiv“ begrapschte, ent- Agenten, Regisseure, Manager und Produ-
tisierend die Verbindung von Macht und schied sich, den Vorfall zu verschweigen, zenten – ist mitschuldig an diesem Umfeld,
Sex war und ist – was sich in Hollywood weil er davor zurückschreckte, Spacey als das fast ein Jahrhundert bestehen konnte“.
nun so spektakulär wie detailliert zeigt. homosexuell zu outen. Dass er nicht offen Was bei all dem deutlich wird: Miss-
Dort begannen die Opfer zu reden, weil schwul war, schützte Spacey auf widersin- brauch verläuft im heterosexuellen wie im
sie sich ermutigt fühlten und die Angst vor nige Weise: Schwule Sexualität wird in homosexuellen Bereich nach ähnlichen
Absturz und Ausgrenzung nachgelassen Hollywood immer noch unterdrückt – was Mustern, es gibt mehr Gemeinsamkeiten
hat. Es sind persönliche Erzählungen wie wiederum den Missbrauch und dessen Ver- als Unterschiede.
die von Harry Dreyfuss, die dem Schmerz tuschung befördert. Missbrauch als System erscheint gerade
eine Form geben, ein kollektiver Real-Ro- Was das bedeutet, schildert etwa der in Hollywood in seiner ganzen Mechanik –
man gegen die Mythenfabrik Hollywood. Schauspieler Simon Curtis. Auch er hat, und zerfällt vor den Augen der Weltöffent-
Zunächst fingen Daryl Hannah, Kate wie Harry Dreyfuss, einen Text geschrie- lichkeit. Ein Spektakel von shakespeare-
Beckinsale, Léa Seydoux, Cara Dele- ben – ein Text bietet noch immer die Mög- scher Düsternis, dessen Helden Gestalten
vingne, Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie, lichkeit, Herr über die eigene Geschichte sind wie Präsident Underwood in „House
Asia Argento, Ashley Judd an zu sprechen, zu sein. of Cards“: kalt und gewissenlos und eigen-
berühmte und weniger berühmte Schau- Curtis wuchs in Oklahoma auf. Er be- tümlich faszinierend.
spielerinnen. „Raubtier“, das ist das Wort, schreibt, wie seine Familie ihn verstieß, als Die Geschichten der Opfer allerdings,
das für Männer wie Weinstein verwendet sie herausfand, dass er homosexuell ist. Er wie sie jetzt erzählt werden, öffnen eine
wird. Die Frauen, so die Schauspielerin war 18 Jahre alt. „Wir wünschten, du wä- andere Sicht. Es sind reale Geschichten,
Brit Marling, galten als „Frischfleisch“. rest gestorben, als du ein Kind warst“, sag- die die shakespearesche Dramaturgie nicht
Die Vorwürfe und Enthüllungen nun, ten seine Eltern zum Abschied. Curtis war brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.
die Kevin Spacey betreffen – der vom Auch kommen darin lange Phasen des
Streamingdienst Netflix während der Pro- Schweigens vor; erzwungene Handlungs-
duktion der letzten Staffel der Präsiden- pausen, wie Überwältigung und Überfor-
tenserie „House of Cards“ gefeuert wur- derung sie oft erzwingen.
de –, verlagern die Frage nach sexuellem Harry Dreyfuss kann sich bis heute nicht
Missbrauch in einen anderen Bereich, in erinnern, wie er an jenem Abend nach
den des schwulen Hollywood, das bis heu- Hause kam oder was er dort gemacht hat;
te mit vielen Verklemmungen und Vor- und er schwieg über Jahre. Er wollte sich,
urteilen betrachtet wird. schreibt er, die Chance nicht verbauen, mit
Eines dieser Vorurteile betrifft die an- Spacey zu arbeiten.
geblich andere, schwule Sexualität – pro- Manchmal erzählte er Freunden in An-
miskuitiver, permissiver, krasser, vielleicht deutungen davon, aber eher wie einen
auch lustvoller und freier. Auch deshalb Witz. Er erinnerte sich an den Satz der
war die Aufregung groß, als Kevin Spacey Schauspielerin Carrie Fisher: „Wenn mein
seine Entschuldigung an den Schauspieler Dreyfuss-Tweet Leben nicht witzig wäre, wäre alles wahr,
Anthony Rapp, der ihn als Erster des Miss- „Ich war wie leer“ und das wäre inakzeptabel.“ Georg Diez

DER SPIEGEL 46 / 2017 123


Kultur

Natur, erhaben wie hilflos


Künstler Julius von Bismarck reist Wirbelstürmen hinterher, sprengt Gestein, löst Blitze aus –
und schafft Werke, die von der Schönheit der Katastrophe leben.

D
as Atelier befindet sich, fast schon men unterscheiden sich so deutlich von aufnahme eines gerade berstenden Steines.
typisch für Berlin, in einer alten denen, die die TV-Reporter machten, als Eine Einheit, brachial in lauter Teile auf-
Fabrik. Splitter zersprengter Find- wären sie auf einem anderen Planeten ent- gelöst. Die Wolfsburger Schau, in der auch
linge liegen auf dem Boden, undefinier- standen. Auf seinen langsamen, grauen diese Arbeit zu betrachten ist, heißt pas-
bare Gerätschaften stehen herum, da- Filmbildern wirkt die Feuchtigkeit in der senderweise „Gewaltenteilung“.
zwischen Kübel mit Pflanzen. Auch ein Luft beinahe dreidimensional, die Äste Im Mittelpunkt steht die gewaltige, auch
Exemplar der Bismarck-Palme ist dabei, und Blätter der Bäume und Palmen bewe- überwältigende Natur – und was Men-
benannt nach dem einstigen deutschen gen sich, als hätte sie jemand dirigiert, als schen so mit ihr anstellen.
Reichskanzler. So viel Ironie Bismarck hat den Kunstpreis
muss sein. der im Wolfsburger Schloss an-
Julius von Bismarck, 33, ein sässigen Städtischen Galerie ge-
Nachfahre des Bruders des wonnen, die Ausstellung ist ein
ehemaligen Kanzlers und mit Teil der Ehrung. Die Auszeich-
seinem Mut zum Experiment nung wird nur alle drei Jahre
einer der wichtigsten Künstler verliehen, bekannte Leute wie
seiner Generation, nutzt die Katharina Fritsch oder Angela
Räume gemeinsam mit Kolle- Bulloch haben sie erhalten, er
gen. Aber Steine und Grünzeug selbst ist aber auch auf dem
gehören ihm, alles ist Arbeits- Weg zum Weltruhm. Im globa-
material und dient der Kunst, len Kunstbetrieb gibt es kaum
auch die mehrfach gekrümmte jemanden, der noch nicht von
Metallstrebe, die an der Wand ihm gehört hat.
neben seinem Schreibtisch Ihm sei klar, sagt er, dass vie-
lehnt. Aus Hunderten solcher le auf die unzugängliche Kunst-
Stangen ließ er eine Meereswel- welt schimpften, aber er sehe
le nachformen und von Schwei- das nicht so verbissen. Man
ßern an einer Saaldecke im müsse eben Geld auftreiben, in-
Wolfsburger Schloss installie- vestieren und „einfach krasse
ren, wo an diesem Wochenende Sachen machen“.
seine neue Ausstellung eröffnet Am krassesten sind vielleicht
wird. Man kann dann durch die- die Blitze, die er selbst erzeugt
se Stahlwoge spazieren, die im hat.
JULIUS VON BISMARCK / COURTESY ALEXANDER LEVY, BERLIN

Raum zu schweben scheint. Dreimal flog er mit einem


Er selbst hat solch gigan- Team jeweils für einige Wochen
tische Aufwallungen des Mee- nach Südamerika. Sie fuhren in
res (und des Wetters überhaupt) eine Gegend von Venezuela, in
in echt und in nass erlebt, in Ir- der es häufig gewittert. Mit einer
land, als dort der Orkan „Ophe- kleinen Rakete, die aussieht wie
lia“ tobte, in Miami, als im Sep- ein übergroßer Bleistift, lösten
tember der Hurrikan „Irma“ sie Blitze aus – und lenkten und
viele Leute in die Flucht trieb. begradigten sie auch noch. Denn
Der Mann aus Berlin aber ist der Blitz nimmt, wenn alles
„Irma“ eigens entgegengereist; klappt, die Spur eines stromlei-
nach Kuba hatte er es nicht ge- tenden Fadens auf, der am Ge-
schafft, aber nach Florida. Er Preisträger Bismarck schoss hängt.
traf mit einem Künstlerkumpel Den Urwald neu angemalt, das Meer in Stahl gegossen Die Ausrüstung hatten er und
und einer Zeitlupen-Filmkame- seine Leute zum Teil ins Land
ra ein, die er zuvor bei einem Zwischen- hätten sie sich einer höheren Choreografie schmuggeln lassen, weil man das, was man
stopp in Los Angeles als Gebrauchtware unterworfen. Die Natur erscheint bei ihm braucht, um Raketen zu zünden, nicht ein-
erstehen konnte. Überhaupt hatte er erhaben und hilflos zugleich. fach importieren kann. „Dann sitzt man
Glück, der Fernsehsender ABC war in Flo- Im Grunde ist die Kunst für ihn ein Ex- da in einem Fischerdorf am Ende der
rida mit einem eigenen Tanklaster unter- perimentierkasten, auch Mutprobe, aber Welt“ – und das Wichtigste sei plötzlich
wegs, und er erhielt eine Benzinspende. am Ende kommt seltsamerweise das he- Geduld. „Es muss sich erst etwas zusam-
Ein Hotel, das nur noch für Journalisten raus: Schönheit, Staunen. menbrauen, genügend Spannung in der
geöffnet war, hatte Erbarmen mit den deut- Wie bei der Skulptur, die Bismarck aus Luft sein.“ Hunderte Versuche haben sie
schen Künstlern und nahm sie auf. den Einzelteilen eines Felsbrockens gestal- unternommen, vier sind geglückt.
Von dort aus fuhren sie los, und dann tete, den ein Sprengmeister im Berliner Vor etlichen Jahren wurde sein Auto
hat er den peitschenden Regen gefilmt, Fabrikareal auf sein Geheiß hin in die Luft vom Blitz getroffen, das war beim Campen
den Wind, die Wucht – und seine Aufnah- gejagt hatte: Sie wirkt wie die Moment- in Italien, er hatte darin geschlafen, stand
124 DER SPIEGEL 46 / 2017
unter Schock. „Inzwischen bin ich ver- Selbst an seinen Erfolg hat er sich bis Der Künstler beherrscht, das hat er be-
rückt nach Blitzen, ich muss das machen“. her nicht gewöhnt, obwohl schon alle über wiesen, auch anderes, Performances etwa.
Aber er wisse ja auch nie, was hinterher ihn sprachen, als er noch studierte. Das Auf der Messe Art Basel hielt er sich 2015
an Kunst herauskomme, vielleicht nur drei war im vergangenen Jahrzehnt; er hatte in einer rotierenden Betonschale auf, ar-
Fotos, ein Video, im schlimmsten Fall gar ein Gerät erfunden, das er den „Image beitete am Laptop, nahm eine Mahlzeit zu
nichts. Wenn Bilder und Filme gelingen, Fulgurator“ nannte, viele wollten es ihm sich, legte sich auf eine Matratze. Jeder
dann handeln sie auch davon, wie wir Na- abkaufen, vor allem Werbeagenturen konnte ihn sehen, er durfte niemanden an-
tur wahrnehmen – oder wie wir sie eben meldeten sich. Er hätte reich werden kön- schauen – hätte er über den sich drehenden
nicht mehr wahrnehmen. Keiner spreche nen, aber er meldete 2007 lieber ein Pa- Tellerrand hinausgeblickt, wäre ihm
noch davon, sagt er, dass man die Natur tent an. schwindelig geworden.
bezwingen müsse. Er selbst habe sich mit Der Apparat ist eine Art Bildercrasher, Man könnte vieles mehr erwähnen, sei-
seinen Arbeiten darüber eher immer lustig er dient der Sabotage fremder Fotos. Wenn ne Form der „Landschaftsmalerei“ zum
gemacht. jemand zum Beispiel eine Touristenattrak- Beispiel: In Mexiko heuerte er Helfer an,
Für die Wolfsburger Schau konnte er tion oder eine berühmte Persönlichkeit fo- die für ihn in die Wüste und in den Dschun-
dank des Preisgeldes seine neuen Arbeiten tografiert, und Bismarck steht mit seinem gel zogen und die Landschaft anmalten,
finanzieren, und wenn man sie sieht, wird Fulgurator in der Nähe, dann befinden sich die Bäume im Urwald zum Beispiel erst
deutlich: Mehr denn je will er weiß, anschließend wieder grün.
die Natur und ihre Brutalität Doch welcher Grünton passt?
ästhetisieren. „Irma“ in Zeitlu- Und dann das leuchtende Rie-
pe zeigt eine fast malerische sensmiley, den er in verschiede-
Kraft, sogar die Skulpturen er- nen Städten auf Dächer setzte
innern an erstarrte Bewegung – und der die Mimik der gefilmten
als hätte jemand auf die Stopp- Passanten in ein Grinsen oder
taste gedrückt. Man könnte einen grimmigen Ausdruck
daher meinen, dass Bismarck übersetzte. Was Bismarck
Bilder für die Ewigkeit schaffen macht, kann auch sehr amüsant
wollte, doch er will eher andeu- sein – und auf einer anderen
ten, dass es mit der Ewigkeit Ebene ziemlich ernst.
schnell vorbei sein kann. Die Kurz hatte er überlegt, Wissen-
Menschen, an Naturereignissen schaftler zu werden, sein Groß-
nicht mehr unbeteiligt oder un- vater war Astronom und Astro-
schuldig, sind zugleich von ih- physiker, sein Bruder ist Physiker,
nen fasziniert, und das will er der Vater Geologe und Volkswirt;
sozusagen mitfilmen. wegen eines seiner Jobs wuchs
Mensch und Natur stehen in Bismarck die ersten sieben Jahre
einer widersprüchlichen Bezie- in Saudi-Arabien auf. Als er, der
hung zueinander. Gewaltfrei ist Künstler in der Familie, vor ein
die Verbindung eben nicht. paar Jahren selbst einige Monate
Doch für viele, so sagt er, sei im Kernforschungszentrum Cern
JULIUS VON BISMARCK / COURTESY SIES + HÖKE, DÜSSELDORF

die Natur zugleich so etwas wie verbringen durfte, spürte er gele-


eine neue Religion. Superrei- gentlich Neid, aber im Grunde
che Neohippies pilgerten zu In- weiß er die Freiheiten der Kunst
dianern, Wissenschaftler wie- zu schätzen.
derum zur Antarktis, als wäre Er war Meisterschüler beim in
das ein heiliger Ort, weil er von Berlin ansässigen Dänen Olafur
den Menschen noch nicht so Eliasson. Auch er, einer der ge-
besudelt sei. In seiner Genera- fragtesten Künstler weltweit, ver-
tion glaubten viele nicht an ei- steht sich als jemand, der eine
nen christlichen Gott, aber an forschende Kunst betreibt, er ge-
Organisationen, die Tierliebe staltet Solarlampen, veröffent-
über Menschenrechte stellten. licht auf seiner Website Statisti-
Früher, sagt er, hätten Kirche ken zur Erderwärmung, lässt Eis-
und Politik über die Welt be- Bismarck-Fotografie „Talking to Thunder (Palm Tree)“, 2017 brocken auf öffentlichen Plätzen
stimmt, heute seien es Politik „Ich bin verrückt nach Blitzen, ich muss das machen“ schmelzen. Bismarcks Ansatz
und Wissenschaft, die Deu- wirkt weniger didaktisch, ist irri-
tungshoheit einforderten. Und wenn diese später auf den Abbildungen seltsame Zei- tierender, schwelgender. Sein Kunstbegriff
Instanzen kollidierten, wenn sich etwa US- chen, die man in der Situation so nicht ist ein erweiterter und klassischer zugleich.
Präsident Trump gegen den Klimavertrag sehen konnte. Wer, als er vor Jahren nach Er, der in der Kunst die Zeit anhalten
ausspreche, dann erzeuge eben auch das Peking reiste, das Mao-Porträt am Platz kann, hat angeblich nur ein Problem: das
eine besondere Spannung. Diese Entwick- des Himmlischen Friedens ablichtete, sah eigene Zeitmanagement. Manchmal ist
lungen interessieren ihn, sie sagen viel aus später auf den Aufnahmen außerdem eine erst eine Stunde vor Ausstellungseröffnung
über den Zustand der Menschheit, der Friedenstaube. In Berlin eröffnete 2008 die alles an seinem Platz, er tüftelt gern immer
Welt, und er will sie, auf seine Weise, do- umstrittene O -World, auf Fotos des da- weiter.
²
kumentieren. mals Regierenden Bürgermeisters Klaus Man kann so oder so Adrenalin erzeu-
Bismarck wirkt überhaupt wie jemand, Wowereit tauchte das Firmenlogo dank gen. Wie Zeus Blitze schleudern oder All-
der weiß, was er will, der schon eine Ewig- Bismarck ebenfalls auf – auf dem Anzug- tägliches wie eine Uhr ignorieren.
keit mitmischt – aber nicht abgebrüht ist. revers des Politikers. Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL 46 / 2017 125


Kultur

Der oft einzige Bienenstich


Literatur Peter Handke wird 75. Sein neues Buch „Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt
ins Landesinnere“ wirkt, als wolle er seine Nachfolge regeln.

W
ohin führt sie, diese Straße in kannt wurde als eine Art literarischer sich kurz danach auf; es entstand der My-
Chaumont-en-Vexin, nordwest- Beatle. 1966, mit 23 Jahren, veröffentlichte thos, sie habe sich vom Vernichtungsschlag
lich von Paris? Einfach nur in die er sein Theaterstück „Publikumsbeschimp- dieses jungen Österreichers nicht erholt.
französische Hauptstadt, ins Umland oder fung“, im selben Jahr sein Angriff auf die Peter Handke sah aus wie einer der wilden
vielleicht doch ganz woandershin, in die in Princeton versammelten Schriftsteller Kerle auf den Plattenhüllen, mit langen
Kulturgeschichte oder in eine Sphäre jen- der Gruppe 47, denen er „Beschreibungs- Haaren, dunkler Brille; bald war er ein
seits von Raum und Zeit? Eine junge Frau impotenz“ vorwarf. Die Gruppe 47 löste Star wie sie. 1970 erschien „Die Angst des
steht an dieser Straße, ihr Name ist Alexia,
die Obstdiebin genannt. Sie ist die Haupt-
figur in Peter Handkes neuem Buch, un-
tertitelt: „Einfache Fahrt ins Landesinne-
re“. Es ist ja nicht schwer, in Chaville bei
Paris, wo Handke wohnt, ein Ticket für
die Vorortbahn zu kaufen, doch wohin
soll eine derartige Reise ohne Rückfahr-
schein führen?
In die Literatur des Mittelalters viel-
leicht. Der Suhrkamp Verlag hatte „Die
Obstdiebin“ als das „Letzte Epos“ ange-
kündigt. Diese Bezeichnung ist in der
fertigen Version verschwunden, ein Epos
jedoch ist das Buch allemal, mag es auch
in der Gegenwart spielen. Es ist ein Werk
in der Tradition Wolfram von Eschen-
bachs, der Anfang des 13. Jahrhunderts
die Geschichte des Gralsritters Parzival
verfasste. In zwei vorigen kleineren Stü-
cken hatte Handke seine Hauptfigur schon
erwähnt, sie, einer winzigen Vorankündi-
gung gleich, hineingeschrieben in seinen
Peter-Handke-Kosmos, in dem sich seit
Jahrzehnten vieles, wenn nicht alles auf-
einander bezieht: „Parzivals Schwester
folgt nach, im Gewand einer Obstdiebin“,
hieß es 2015 im Schauspiel „Die Unschul-
digen, ich und die Unbekannte am Rand
der Landstraße“.
In Handkes neuem Buch nun steht die
Obstdiebin am Straßenrand in Chaumont-
en-Vexin: „Ein Fußgängerstreifen über die
fast autobahnbreite, mehrspurige Umfah-
rungsstraße, ampelgesteuert. Viel Zeit,
jetzt am Sonntagnachmittag, kaum Ver-
kehr, sie zu überqueren, auf den Zebra-
streifen zudem gemächlich, ein ums
andere Mal, die großen Schritte nachzu-
spielen, mit denen, mehr als ein halbes
Jahrhundert ist das nun her, John Lennon,
Paul McCartney, George Harrison und
Ringo Starr für das Coverfoto die Zebra-
ROBERTA VALERIO / AGENTUR FOCUS

streifen der Abbey Road ausschritten.“


Vielleicht haben sich Handke und sein
Lektor bei Suhrkamp verrechnet, „Abbey
Road“ erschien erst 1969, ganz sicher aber
ist es mehr als ein halbes Jahrhundert her,
dass Peter Handke selbst schlagartig be-

Peter Handke: „Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt Tisch in Handkes Garten in Chaville: „Aber ich bestimmte es so“
ins Landesinnere“. Suhrkamp; 560 Seiten; 34 Euro.

126 DER SPIEGEL 46 / 2017


sen, auch das womöglich eine
Tormanns beim Elfmeter“, Reverenz an Wolfram von
nicht sein bestes Buch, aber Eschenbach, der dem „Parzi-
das mit dem wohl meistzi- val“ eine Geschichte von Par-
tierten Titel. In einer Zeit, zivals Vater vorangestellt hat.
in der Schriftsteller noch Die Obstdiebin tritt auf, ein
Größen waren, auf die sich Zug ist stehen geblieben, ir-
sogar der literaturferne Teil gendwo am Rande eines Gleis-
der Öffentlichkeit bezog, bettes geht sie über ein Stop-
zählte er zu jener Handvoll pelfeld: „Ab und zu bückte sie
Leute, deren Name fast au- sich nach einer auf Teer und
tomatisch fiel, wenn es um Schotter verwehten ungeern-

MANFRED SIEBINGER / IMAGO


deutschsprachige Autoren teten Weizenähre und steckte
ging. sie sich hinters Ohr wie eine
Der große Bruch kam in Zigarette.“ Nun ist es die Obst-
den Neunzigern. Handke diebin, die das Land um Paris
veröffentlichte „Eine win- durchschreitet, mal begleitet
terliche Reise zu den Flüs- sie ein Rabe, mal horcht sie
sen Donau, Save, Morawa Schriftsteller Handke, Tochter Léocadie 2012 dem blechernen Ruf eines
und Drina oder Gerechtig- „Eminem ist ihr Sänger“ Fasans, mal stiehlt sie einen
keit für Serbien“, setzte Pfirsich oder pflückt Sauer-
sich mit dem Krieg in Jugoslawien ausei- meinem stillen Haus“ hatte er 1997 bereits kirschen, schließlich begegnet sie einem
nander, schrieb: „Allzu schnell nämlich im Titel die Struktur beschrieben, die er Burschen, „ansteckend jung“ wie sie
waren für die sogenannte Weltöffentlich- seitdem allen seinen großen Erzählungen selbst.
keit auch in diesem Krieg die Rollen des gegeben hat: Ein Mensch bricht auf und Immer wieder hat Peter Handke seine un-
Angreifers und des Angegriffenen, der rei- schlägt sich im Hinterland durch, allein, mittelbare Familiengeschichte als Stoff her-
nen Opfer und der nackten Bösewichte, etwa so wie in den alten Epen die Vogel- genommen für seine Bücher; in „Wunsch-
festgelegt und fixgeschrieben worden.“ freien, die von der Gesellschaft ausgeschlos- loses Unglück“ schrieb er ganz direkt vom
Handkes Blick war nicht der eines Politi- senen. „Die Obstdiebin“ unterscheidet sich Selbstmord seiner Mutter, in der „Links-
kers oder Meldungsschreibers, sondern der von „In einer dunklen Nacht ging ich aus händigen Frau“ nicht sonderlich verhüllt
eines Schriftstellers, eines Beobachters, der meinem stillen Haus“ strukturell nur da- über das Scheitern seiner Ehe, in der „Kin-
sich mit Sprachregelungen nicht abfinden durch, dass das Buch bei Tag beginnt. dergeschichte“ vom Aufwachsen seiner
will; der Großteil der Öffentlichkeit aber Der Erzähler wird in seinem Garten von erstgeborenen Tochter. Seine jüngere Toch-
hatte kein Verständnis für seine Suche einer Biene gestochen: „Inzwischen weiß ter Léocadie hatte einen Auftritt in der
nach Ambivalenzen, zu sehr war die Zeit ich, dass diese Tage des ersten und oft ein- „Morawischen Nacht“, und man könnte
vom Schrecken des Völkermords auf dem zigen jährlichen Bienenstichs in der Regel vermuten, dass auch die Obstdiebin Ale-
Balkan geprägt. Die Formulierung „anders- zusammenfallen mit dem Sichauftun der xia nicht allein die Schwester Parzivals ist,
gelb“, die Handke für die Beschreibung weißen Kleeblüten, der erdbodennahen, sondern auch Züge dieser Handke-Tochter
von Nudeln verwendet hatte, wurde zum worin sich die Bienen halbversteckt tum- trägt. „Die Obstdiebin war einmal Musik-
Synonym für den gewollt naiven Blick meln.“ Bald danach geht er los, hinaus in närrin gewesen, und war das fallweise
des Poeten. die Welt oder zumindest in Richtung des immer noch. Am tiefsten war ihr der Rap
1968 hatte der junge Autor in einem Auf- benachbarten Départements: „Hinauf zur gegangen. Ah, Eminem, mit wahrem Na-
satz festgestellt, die Kritik an der „Bild“- Landstraße durch die Zypressenallee. In men ‚Marshall …‘ Es war erst ein paar Jah-
Zeitung werde in Sätzen geäußert, die ähn- Wirklichkeit war es ja weder eine Land- re her, dass sie, wie anders als allein, eins
lich mechanisch verwendbar seien wie die straße, noch war die Allee eine Zypressen- der Elendsviertel von Detroit mit Namen
Sprache der „Bild“-Zeitung selbst. 30 Jah- allee. Aber ich bestimmte es so, für diese ‚8 Miles‘ = 8 Meilen, weg vom Zentrum,
re später wurde sein Versuch, ein Nach- Geschichte und, in meinem Selbstbewusst- aufgesucht hatte, wo der Rapper seine,
richtenereignis in einer Sprache zu be- sein episodisch nach dem eines Wolfram heißt es, jammervolle Kindheit zugebracht
schreiben, die sich nicht der Mechanik der von Eschenbach, über die Geschichte hat, in der Hoffnung, der Erwachsene, Star
Nachrichtensprache unterwarf, fast ebenso hinaus.“ Er mustert den Quittenbaum in oder nicht, werde sich, und wenn auch nur
scharf angefeindet wie einstmals die der Hoffnung auf „anders gelbe“ Quitten, aus der Ferne, umso besser, einen Moment
„Bild“-Zeitung. Es war die Zeit, in der die er begegnet einem Nachbarn, passiert die lang zeigen.“ Zumindest diese Szene ver-
rot-grüne Bundesregierung an die Macht Spezialeinheit, die den Bahnhof bewacht. weist eindeutig auf Léocadie, Peter Hand-
kam und sich mittels des Jugoslawienkon- Die den Alltag der Franzosen überschat- ke war selbst mit ihr in Detroit, auf ihren
flikts an der deutschen Vergangenheit ab- tende Gefahr eines Terroranschlags ist Wunsch. „Eminem ist ihr Sänger“, hat er
arbeitete: „Nie wieder Auschwitz“, so der auch in Handkes Universum eingedrungen, gesagt.
Satz, den der damalige Außenminister das ja eigentlich schon lange ein Parallel- In Peter Handkes Büchern geht es oft
Joschka Fischer auf das Kosovo übertrug. universum bildet zur Realität eines mittel- um das Wort Schwelle und den Moment
Einzelgänger war Handke, der einstige europäischen Ballungsraums mit seinen des Übergangs. Auch „Die Obstdiebin“
Lieblingsautor der nun regierenden Gene- Abertausenden Menschen, rasenden Ver- lässt sich als Werk des Übergangs lesen.
ration, schon zuvor gewesen, nun wurde kehrs- und Nachrichtenströmen. Das Maß Am 6. Dezember wird Handke 75 Jahre
er zum Außenseiter. Dieses Außenseiter- von Peter Handkes Geschichten ist das alt. Zeit, die eigene Nachfolge zu regeln;
tum hat er in allen seinen folgenden Bü- Maß des vormodernen Menschen: das des Zeit, der nächsten Generation die Stoppel-
chern stilisiert. Man versteht sie nur, wenn menschlichen Schrittes, das der direkten felder, die Wälder und Brachen um Paris
man Handkes Geschichte kennt, die Ge- Wahrnehmung. zu überlassen. Und vielleicht sogar Zeit,
schichte des gefallenen Stars. In seinem Ro- Es dauert etwa hundert Seiten, und der selbst etwas Neues zu wagen. Das Alters-
man „In einer dunklen Nacht ging ich aus Erzähler hat die Geschichte wieder verlas- werk. Sebastian Hammelehle

DER SPIEGEL 46 / 2017 127


Kultur

Mission Mitmensch
Filme Die Schauspielerin Vanessa Redgrave und der Künstler Ai Weiwei schildern ihre Sicht
auf das globale Flüchtlingsdrama – ein heikles, aber auch ergreifendes Unterfangen.

E
inmal wird die Stimme der stolzen, nen aber sieht man syrische, irakische und sima Wagner gespielt und in Kinowerken
oft in forscher Lautstärke sprechen- afghanische Bootsflüchtlinge, die in Grie- von „Mord im Orient-Express“ (1974) über
den Schauspielerin Vanessa Redgrave chenland anlanden und von Ai Weiwei mit „Mission: Impossible“ (1996) bis „Abbitte“
verblüffend warm und sanft. „Ich saß eines Worten und Schulterklopfen begrüßt wer- (2007) ein Massenpublikum begeistert.
Abends in London am Radio und war pa- den. „Mir war lange nicht klar, warum ich Ein bisschen berüchtigt ist Redgrave in
nisch vor Angst, dass der Faschismus zu- so eine starke Beziehung zu Flüchtlingen ihrer Rolle als Politaktivistin. In den Sech-
rückkehrt“, sagt Redgrave. Sie sitzt auf dem habe“, sagt Ai Weiwei. „Ich musste ihnen zigern engagierte sie sich gegen den Viet-
Sofa eines Nürnberger Hotelzimmers, rückt meinen Respekt zeigen. Ich musste sie be- namkrieg, in den Siebzigern für die trotz-
ein Stück nach vorn und lässt ihre berühm- rühren.“ kistische Workers’ Revolutionary Party, in
ten blauen Augen strahlen. Sie schildert Es gibt ein paar Gemeinsamkeiten zwi- den Achtzigern gegen Nuklearwaffen, und
eine Kindheitserinnerung; sie war damals, schen der britischen Schauspielerin Red- bis heute ist sie eine verlässliche Aktivistin
1948, keine zwölf Jahre alt. „Der BBC-Spre- grave und dem chinesischen Künstler Ai für die Sache der Palästinenser. Als sie
cher las die Allgemeine Erklärung der Men- Weiwei, so verschieden ihre Herkunft, 1978 den Oscar für die Rolle einer jüdi-
schenrechte vor, Artikel für Artikel. Und ihr Denken und ihre Arbeitsweise sein mö- schen Widerstandskämpferin in einem
ich beschloss, dafür zu kämpfen, dass diese gen – unter anderem die, dass beide, in- Film namens „Julia“ erhielt, nannte sie die
Rechte auch durchgesetzt werden. Das war dem sie sich im Handwerk der Filmregie vor der Hollywoodgala demonstrierenden
der Moment, in dem ich zu einem politisch versuchen, sich ziemlich weit entfernt von israelfreundlichen Protestierer, die Redgra-
denkenden Menschen wurde.“ den Jobs abrackern, für die sie bislang in ves Sympathien für palästinensische Ge-
Der Künstler Ai Weiwei sitzt an einem der Welt Anerkennung fanden. walttäter anprangerten, „zionistische Strol-
Holztisch in seiner Berliner Werkstatt, ver- Redgrave ist berühmt als Schauspielerin. che“. Im Jahr 2017 sagt Redgrave in Nürn-
knotet seine erstaunlich zarten Hände auf In ihrer glanzvollsten Rolle, in Michelan- berg: „Ich habe viele Fehler gemacht in
der Tischplatte und berichtet in brummi- gelo Antonionis „Blow Up“ aus dem Jahr meinem Leben, natürlich. Aber ich habe
gem Verschwörerton von seiner Arbeit. Für 1966, verkörpert sie eine zauberhaft stör- immer Menschen gefunden, die verstan-
eine kurze Weile dimmt er die Stimme auf rische, kluge und rätselhafte Frau, die sich den, dass ich mit offenem Herzen sprechen
Flüsterlautstärke herunter. „Fast meine gan- in einem Park mit einem Fotografen um muss.“ Ob heftige, mitunter berechtigte
ze Kindheit über war meine Familie geäch- dessen Kamera balgt. Redgrave hat Thea- Kritik einen davon nicht manchmal abhal-
tet“, sagt er. „Kurz nach meiner Geburt tertriumphe mit Shakespeare und Ibsen ten sollte? „Das finde ich nicht.“
hat man uns von Peking aus in den äußers- gefeiert, in einer noblen Fernsehserie Co- Der Künstler Ai Weiwei ist von ähnlicher
ten Nordwesten Chinas verbannt, später Unbeirrbarkeit geprägt. Weltbekannt wur-
in den äußersten Nordosten, weil mein Va- de er durch eine Konzeptkunst, die mit kla-
ter plötzlich als Feind des Kommunismus ren Zeichen arbeitet, und durch seine un-
galt. Man nannte das Umerziehung. Seit beugsame Haltung gegenüber den staatli-
dieser Zeit weiß ich, was es bedeutet, ein chen Autoritäten in China. Er präsentierte
Vertriebener, ein Outlaw zu sein.“ in der Londoner Tate Modern einen Raum,
Die Schauspielerin Redgrave ist 80 Jahre voll mit hundert Millionen handbemalten
alt und reist derzeit durch die Welt, weil Sonnenblumenkernen aus Porzellan, und
sie einen Film bekannt machen will, bei stellte den Lichthof des Berliner Martin-
ALESSIA PARADISI / ABACA / DPA

dem sie selbst Regie geführt hat. Er heißt Gropius-Baus mit einer Installation aus
„Sea Sorrow“ und hatte im Mai beim Fes- 6000 antiken Holzschemeln zu. Er doku-
tival in Cannes Premiere. Er zeigt unter mentierte in einem Blog die Gleichgültig-
anderem die Not syrischer, irakischer und keit der chinesischen Autoritäten gegen-
afghanischer Bootsflüchtlinge, die vor der über Zehntausenden Erdbebenopfern und
griechischen Küste aus Schlauchbooten ge- drehte kritische Videos über Chinas Wirt-
rettet und dann an Land von Vanessa Red- schaftsboom. Im Jahr 2011 wurde er unter
grave befragt und aufgemuntert werden. dem Vorwand der Steuerhinterziehung mo-
„Ich musste mich einmischen“, sagt Red- natelang interniert. Seit 2015 lebt er vor-
grave. „Freundliche Worte allein bedeuten wiegend in Europa; zeitweise auf Lesbos
noch gar nichts. Man muss handeln und und meist in Berlin. „Meine Arbeit hat
helfen. Alles andere ist nutzlos.“ nicht unbedingt mit Mut zu tun“, sagt er
Der Künstler Ai Weiwei ist 60 Jahre alt in seinem Atelier in einem ehemaligen
PIERO OLIOSI / POLARIS / LAIF

und kommt gerade von einer wochenlan- Brauereikellergewölbe. „Ich tue und sage
gen Reise durch die USA, Südamerika und die Dinge, von denen ich glaube, dass sie
ein paar europäische Länder zurück. Über- getan und gesagt werden müssen.“
all, wo er zu Besuch war, hat er auch sei- Redgraves Film „Sea Sorrow“ ist ein
nen Film vorgestellt. „Human Flow“ hatte Pamphlet. Zu Beginn zeigt er einen syri-
Anfang September beim Festival in Vene- schen Jungen in Großaufnahme, der er-
dig Premiere und zeigt zum Beispiel Regisseure Redgrave, Ai Weiwei zählt, wie vor seinen Augen seine Eltern
Flüchtlingslager in Kenia, im Libanon und „Man muss handeln und helfen“ hingerichtet wurden. Es folgen historische
in Jordanien. In den dramatischsten Sze- Aufnahmen von Kindertransporten, mit

128 DER SPIEGEL 46 / 2017


HUMAN FLOW UG / NFP
Szene aus Ai-Weiwei-Film „Human Flow“: Irritierend schöne Bilder aus dem Leben der Vertriebenen und Entrechteten

denen jüdische Kinder aus Nazideutsch- an den Grenzanlagen zwischen Mexiko nicht helfen will. Niemand anderes als die
land nach Großbritannien gerettet wurden. und den USA und vom Regen durchnässte Politiker der EU sind verantwortlich!“ Der
Man sieht Eleanor Roosevelt im Jahr 1948 Kinder, Frauen und Männer am Grenz- Deal mit der Türkei zur Verhinderung wei-
die Erklärung der Menschenrechte vortra- zaun zwischen Griechenland und Maze- terer Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa
gen und den Schauspieler Ralph Fiennes donien. Immer wieder sieht man den sei „inhuman“ und verstoße gegen die
im Jahr 2016 einen Monolog aus Shake- Regisseur, dessen Team in 23 Ländern Menschenrechtskonvention. Noch schlim-
speares „Sturm“ aufsagen. Das Zentrum unterwegs war, selbst im Bild: wie er mit mer: „Man bezahlt Konzentrationslager in
dieses Bekennerfilms ist Vanessa Redgrave gezückter Handykamera Helfer befragt, Libyen, in denen Flüchtlinge gefoltert wer-
selbst. Sie spricht mit brüchiger Stimme wie er mit einem syrischen Mann Pässe den!“ Ausdrücklich lobt Vanessa Redgrave
über die Pflicht der Politiker, Kindern zu tauscht, wie er mit dem Vater des toten die Politik Angela Merkels. „Sie ist eine
helfen, sie lässt sich von der Kamera bei Flüchtlingsjungen Alan Kurdi zu sprechen mutige Frau. In Großbritannien sind die
der Besichtigung des Flüchtlingslagers im versucht. Vor anderthalb Jahren gab es Politiker fast ausschließlich Feiglinge.“
französischen Calais begleiten. Sie hört empörte Reaktionen, als sich Ai Weiwei Ai Weiwei sagt in Berlin: „Mein Film
afrikanischen und arabischen Frauen in am Strand der Insel Lesbos in genau jener soll begreiflich machen, dass diese Krise
Griechenland und Italien zu, erkundigt Haltung fotografieren ließ, in welcher der alle Menschen angeht.“ „Human Flow“ sei
sich bei Unicef-Helfern nach den Bedin- Leichnam des kleinen Jungen Alan ange- kein journalistisches Werk und kein politi-
gungen ihrer Arbeit und mahnt Zuschauer spült worden war. Auch für „Human Flow“ sches Plädoyer, sondern ein Appell an die
und Politiker zum Mitgefühl. Ein boshafter bekam er ein paar böse Kritiken, die ihm Kinozuschauer, Flüchtlinge als ihresglei-
britischer Kritiker nannte Redgraves Werk Selbstinszenierung vorwarfen. chen zu begreifen. „Die Politik und die
eine „amateurhafte Polemik zur Flücht- „Ich verstehe meinen Film als einen Akt Wirtschaft in den reichen Ländern haben
lingskrise“, die „besser als Familienschatz der Ermutigung“, sagt Vanessa Redgrave sich großartig entwickelt, Deutschland,
gehütet worden wäre“. in Nürnberg, wo sie mit „Sea Sorrow“ das China oder die USA haben in unfassba-
Ai Weiweis Film ist eine monumentale Internationale Filmfestival der Menschen- rem Ausmaß von der Globalisierung pro-
Großansicht des globalen Flüchtlings- rechte eröffnet. „Ich möchte vom Horror fitiert. Gerade deshalb ist es eine Schande,
elends. In irritierend schönen Drohnen- und von der Angst all dieser Menschen er- wenn die Bewohner dieser Länder vor
aufnahmen zeigt „Human Flow“ Bara- zählen. Und davon, dass wir alle verpflich- dem, was in den armen Ländern passiert,
ckenlager in Kenia, Zeltstädte in Grie- tet sind, sie zu retten. Sehen Sie sich die die Augen verschließen.“ Ai Weiweis „Hu-
chenland und hässliche Betonbauten im Kinder an!“ Sie redet sich in Rage. „Es ist man Flow“-Aufnahmen sind immer wie-
Gazastreifen. Ai Weiwei filmt Polizisten ein Skandal, dass die EU diesen Kindern der mit Gedichtzeilen berühmter Poeten

DER SPIEGEL 46 / 2017 129


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control); geschmückt. Sie stehen in merkwürdigem
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Gegensatz zu den Zahlen, Fakten und
Pressezitaten, die der Regisseur einblen-
Belletristik Sachbuch den lässt: als wäre die Lyrik ein Gegengift
zu düsteren Prognosen und Statistiken.
Er habe noch in China ohne Reisepass
1 (5) Lucinda Riley 1 (3) Rolf Dobelli Die Kunst
Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro des guten Lebens Piper; 20 Euro
festgesessen, als er entschieden habe, seine
Künstlerwerkstatt nach Lesbos zu verlegen,
2 (2) Dan Brown 2 (2) Peter Wohlleben Das geheime sagt Ai Weiwei. „Ich hatte keine Wahl. Ich
Origin Lübbe; 28 Euro Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro wollte bei diesen Menschen sein.“ Fast je-
den Tag erführen die Bewohner der reichen
3 (1) Sebastian Fitzek 3 (4) Gregor Gysi Länder von zerstörten Städten in Syrien
Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro oder Amokläufen in Las Vegas oder einem
4 Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt texanischen Dorf. „Wir werden mit solchen
4 (4) Daniel Kehlmann (7)
Nachrichten zugeschüttet und verlieren un-
Tyll Rowohlt; 22,95 Euro
Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
ser Empfinden für das, was Menschsein aus-
5 (5) Axel Hacke Über den Anstand macht.“ Ai Weiwei stockt eine Kunstpause
5 (3) Robert Menasse
in schwierigen Zeiten und die Frage, lang. „Ich wollte am Strand von Lesbos sein
Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro
wie wir miteinander umgehen und diesen Frauen und Männern und Kin-
6 (6) Ken Follett Das Fundament Kunstmann; 18 Euro dern Respekt zeigen. Ich wollte ihnen sagen,
der Ewigkeit dass ich mit ihnen leide.“
Lübbe; 36 Euro
6 (11) Christian Lindner Tatsächlich ist es anrührend zu beobach-
7 (7) Kerstin Gier Schattenjahre Klett-Cotta; 22 Euro
ten, wie die beiden prominenten Flücht-
Wolkenschloss Fischer; 20 Euro 7 (6) Peter Wohlleben Das geheime lingsfreunde im Angesicht ihrer Schützlin-
Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro ge auftauen und aus ihren öffentlichen Rol-
8 (8) Maja Lunde len kippen. In „Sea Sorrow“ sieht man die
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro 8 (14) Herfried Münkler Der Dreißigjährige strenge, stets mit gerecktem Haupt durch
Krieg Rowohlt; 39,95 Euro Kulissen und Camps stapfende Vanessa
9 (–) Sabine Ebert Schwert und Krone.
Richard David Precht Redgrave einige Male herzlich lachen, als
Der junge Falke Knaur; 19,99 Euro 9 (1)
Erkenne dich selbst Goldmann; 24 Euro
sie mit Kindern scherzt oder sie beim Spie-
10 (9) Marc-Uwe Kling len anfeuert. In „Human Flow“ tapert der
QualityLand Ullstein; 18 Euro 10 (8) Gerald Hüther Raus aus bullige Künstler Ai Weiwei einmal völlig
der Demenz-Falle! Arkana; 18 Euro hilflos um eine weinende ältere Frau he-
11 (–) Robert Harris rum, die mit dem Rücken zur Kamera sitzt.
München 11 (16) Ferdinand von Schirach / Irgendwann steckt ihr der Regisseur verle-
Heyne; 22 Euro Alexander Kluge Die Herzlichkeit gen zerknüllte Taschentücher zu.
der Vernunft Luchterhand; 10 Euro
„Human Flow“ kommt nun in die deut-
Robert Harris rehabilitiert schen Programmkinos, für „Sea Sorrow“
einen viel Gescholtenen: den 12 (12) Yuval Noah Harari
britischen Premier Chamber- Homo Deus C.H. Beck; 24,95 Euro wird Vanessa Redgrave wohl weder in
lain und dessen Appease- Deutschland noch in Großbritannien einen
ment-Politik gegenüber Hitler 13 (9) Andreas Michalsen Heilen mit Kinoverleiher finden. Man kann manche
der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro technischen, argumentativen oder erzäh-
12 (11) Jojo Moyes 14 (13) Eckard von Hirschhausen Wunder
lerischen Unzulänglichkeiten dieser Filme
Kleine Fluchten Wunderlich; 12 Euro
wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
beklagen. Man kann sich bei der Erkennt-
nis ertappen, dass man sehr viele ähnliche
13 (10) Jo Nesbø 15 (–) Elli H. Radinger Bilder arabischer und afrikanischer Flücht-
Durst Ullstein; 24 Euro Die Weisheit der Wölfe linge bereits gesehen zu haben glaubt in
Ludwig; 19,99 Euro den vergangenen Jahren. Aber man muss
14 (12) Mariana Leky Was man von hier schon sehr hartherzig sein, um die Begeis-
aus sehen kann DuMont; 20 Euro
terung und den glühenden Willen zur An-
Wölfe haben einen schlech-
15 (13) Sven Regener
ten Ruf – zu Unrecht, wie teilnahme nicht zu spüren, die Vanessa
Elli H. Radinger meint. Die Redgrave und Ai Weiwei in diesen Arbei-
Wiener Straße Galiani; 22 Euro Menschen könnten von den
Tieren sogar lernen ten angetrieben haben.
16 (15) Walter Moers Prinzessin Insomnia & Beide zeigen Mut zum Pathos schon mit
der alptraumfarbene Nachtmahr den Symbolen, die sie benutzen, um für
16 (20) Reinhold Messner
Knaus; 24,99 Euro ihre Botschaft zu werben. Vanessa Red-
Wild S. Fischer; 20 Euro
grave hat eine Rettungsdecke in ihr Hotel-
17 (16) Elena Ferrante Die Geschichte 17 (10) Thorsten Schulte zimmer in Nürnberg mitgebracht. „Fassen
der getrennten Wege Suhrkamp; 24 Euro
Kontrollverlust Kopp; 19,95 Euro Sie das Ding ruhig an“, sagt sie. „Diese
Decke macht für viele Menschen den Un-
18 (–) Elena Ferrante Meine 18 (15) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis terschied zwischen Leben und Tod aus.“
geniale Freundin Suhrkamp; 22 Euro Kann weg! Gräfe und Unzer; 17,99 Euro In Berlin reicht Ai Weiwei dem Besucher
19 (18) David Lagercrantz 19 (–) Alexander Gorkow ein Baumwollarmband mit der Aufschrift
Verfolgung Heyne; 22,99 Euro Hotel Laguna Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro „Human Flow“ über den Tisch. „Das ist ein
Geschenk“, sagt er. „Wer es trägt, hat be-
20 (17) Carmen Korn 20 (–) Nadia Murad griffen, dass die Menschen aller Zeiten
Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro Ich bin eure Stimme Knaur; 19,99 Euro Flüchtlinge sind.“ Wolfgang Höbel

130 DER SPIEGEL 46 / 2017


Kultur

und diskutierten über die Leitsätze einer „Charta für das


21. Jahrhundert“. Eine Minenarbeiterin aus Südafrika be-
richtete über den Mord an streikenden Kollegen, der bra-
silianische Gewerkschafter eines Volkswagen-Werks über
selbst erlittene Folterqualen, eine Tierrechtlerin über die
Niedertracht der Fleischindustrie. Am Ende gab es so
Sturm im Glühweinglas herzliche Uneinigkeit, dass die oft kompliziert angereisten
Parlamentarier zu keiner endgültigen Einigung kamen.
In Teil drei des Revolutionspakets, dem am Dienstag an-
Theaterkritik Der Regisseur Milo Rau spielt gesetzten „Sturm auf den Reichstag“, musste Milo Rau des-
in der Schaubühne und vor dem halb auf die Übergabe eines Pamphlets verzichten. Die Char-
ta soll nachgereicht werden. Sie soll den Bundestagsabge-
Reichstag ein bisschen Weltrevolution. ordneten klarmachen, dass ihre Beschlüsse sich weltweit
oft verheerend auswirken. „Der deutsche Bundestag ist kri-

E
s riecht nach feuchter Erde und altväterlichen Joints minell in dem Sinn, dass nicht einmal fünf Prozent der von
auf der Wiese vor dem Berliner Reichstag, als die seiner Politik Betroffenen darin vertreten sind“, sagt Rau.
Aufständischen sich zum Kampf formieren. „Nicht Der Regisseur ist 40 Jahre alt und als politischer Kopf in
zu breit werden, bitte!“, ruft der Regisseur, um die Menge der Theaterwelt geachtet. Er hat in Russland die juristische
aus rund 200 Frauen und Männern zu ordnen. Vorn stehen Verfolgung von Regimegegnern nachgestellt („Die Moskau-
zwei Fahnenträger, von denen einer die rote Fahne des er Prozesse“, 2013) und im Kongo einen Schauprozess mit
Aufruhrs trägt, der andere die blaugrüne der Roma. Hinten Vertretern von Rohstoffkonzernen, Bürgerkriegs-Warlords
stehen drei Polizeibeamte in dicken Schutzpanzern, einer und Verbrechensopfern organisiert („Das Kongo Tribunal“,
hat eine gelbe Leuchtweste mit den Lettern „Verbindung 2015). Er hat belgische Kinder auf der Bühne die Taten des
zum Veranstalter“ übergestreift. Mitten im Menschenpulk Kindermörders Marc Dutroux nacherzählen lassen („Five
ist auf einer drei Meter hohen Metallstange eine Kamera Easy Pieces“, 2016), womit ihm ein Theaterhit gelang.
montiert. Als sie einsatzbereit ist, stürmt die Menge in Rau ist in seiner Doppelrolle als Politaktivist und En-
Richtung Reichstagsgebäude – und in Ermangelung bes- tertainer ein toller und nicht uneitler Einzelkämpfer, dem
serer revolutionärer Parolen rufen die Menschen „Wow!“ es zu schmeicheln scheint, dass er öfter mit Christoph
und „Wuh!“, bis sie 20 Meter vor den Stufen des Parla- Schlingensief oder Rainer Werner Fassbinder verglichen
mentsgebäudes an einem Absperrgitter jäh-
lings stoppen und sich ohne Murren in die
Dämmerung trollen.
Es ist eine Mischung aus sportlichem Jux
und Demo für eine gerechtere Welt, die da
an einem eisig kalten Dienstagnachmittag
in Berlin zelebriert wird. Der Schweizer Re-
gisseur Milo Rau setzt zum 100. Jubiläum
der russischen Oktoberrevolution auf der
Reichstagswiese ein sogenanntes Reenact-
ment in Szene. Er stellt ein historisches Er-
eignis nach. Die etwa 200 Freiwilligen, unter
denen Schauspieler und Politiker sind, imi-
tieren mit einigem Eifer den Sturm auf das
Petersburger Winterpalais am 7. November

MICHAEL KAPPELER / DPA


1917, der nach dem seinerzeit dort geltenden
Kalender an einem Oktobertag stattfand.
Mit der Erstürmung des Gebäudes durch
die Bolschewiken – die, wie die Revolutio-
näre von heute auch, durch die Tore und
Türen normal hätten eintreten können – Rau-Aktion „Sturm auf den Reichstag“ am 7. November in Berlin: „Nicht zu breit werden!“
begannen ein Bürgerkrieg und ein revolu-
tionärer Weltenbrand. Beide kosteten viele Millionen Men- wird. Nach dem „Sturm auf den Reichstag“ lässt er auf
schen das Leben. Milo Rau sagt trotzdem: „Wir brauchen einem mit Plakaten beklebten Transporter am Rande der
einen neuen Anlauf zur Weltrevolution.“ Reichstagswiese eine öde deutschsprachige Jazzpopband
Der Regisseur Rau hat sich einen Dreierpack von Thea- spielen. Die Zuhörer trinken Glühwein. Die zur Betreuung
teraktionen ausgedacht, um auf spielerische, aber ernst ge- der Theaterrevolutionäre eingeteilten Polizisten sagen den
meinte Weise auf die Notwendigkeit einer basisdemokrati- Presseleuten, die Reichstagserstürmer hätten sich vorbild-
schen globalen Neuordnung hinzuweisen. Er begann mit lich diszipliniert verhalten. Der Schaubühnen-Intendant
der Premiere eines selbst geschriebenen Stücks Mitte Ok- Thomas Ostermeier wiegt seinen Lulatschkörper im No-
tober in der Schaubühne, das „Lenin“ hieß und an den his- vemberwind und sagt, er bewundere Milo Rau für seinen
torischen Revolutionär erinnerte. Vom Freitagabend ver- politischen Furor – und dafür, dass er „mit den Gesetzen
gangener Woche an ließ Rau dann am selben Ort rund der Aufmerksamkeitsindustrie zu spielen versteht wie kein
20 Stunden lang in einer Show mit dem Titel „General As- anderer“. Der Weltumstürzler Wladimir Iljitsch Lenin, der
sembly“ ein vom ihm einbestelltes „Weltparlament“ tagen. die Oktoberrevolution des Jahres 1917 organisierte, hat
60 Zeitzeugen und Wissenschaftler aus vielen Ländern mal in etwa gesagt: „Sage mir, wofür man dich lobt, und
der Welt schilderten im Theatersaal Fälle bösen Unrechts ich sage dir, worin dein Fehler besteht.“ Wolfgang Höbel

DER SPIEGEL 46 / 2017 131


Impressum Service
Leserbriefe
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Mail spiegel@spiegel.de
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966
E-Mail: leserbriefe@spiegel.de
HERAUSGEBER Rudolf Augstein CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, MOSKAU Christian Esch, Glasowskij Hinweise für Informanten
(1923 – 2002) Anke Jensen (stellv.) Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Infor-
Tel. +7 495 22849-61, mationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
CHEFREDAKTEUR Schlussredaktion: Gesine Block; Christian
Fax 22849-62
Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.) Albrecht, Gartred Alfeis, Ulrike Boßerhoff, Wege zur Verfügung:
Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca NEW YORK Philipp Oehmke, 10 E 40th Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1,
STELLV. CHEFREDAKTEURE Hunekuhl, Ursula Junger, Dörte Karsten, Street, Suite 3400, New York, NY 10016,
Sylke Kruse, Christine Kuhlmann, 20457 Hamburg
Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit, Tel. +1 212 2217583, Fax 3026258 Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Investigativ“
Alfred Weinzierl Katharina Lüken, Stefan Moos, Reimer
Nagel, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck, PA RIS Julia Amalia Heyer, E-Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ
HAUPTSTADTBÜRO Leitung: René Pfister, Sebastian Schulin 137 Rue Vieille du Temple, 75003 Paris, Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung, wie
Michael Sauga, Christiane Hoffmann Produktion: Petra Thormann, Reinhard Tel. +33 1 58625120, Fax 42960822 Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine
(stellv.). Redaktion Politik und Wirtschaft: Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können.
Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Markus PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170,
Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Dettmer, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Peking 100101, Tel. +86 10 65323541,
Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg,
Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, Chris- Martina Treumann, Rebecca von Hoff,
Fax 65325453 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
toph Schult, Anne Seith, Britta Stuff, Katrin Zabel RIO DE JANEIRO Jens Glüsing,
Gerald Traufetter. Autoren, Reporter:
BILDREDAKTION Leitung: Michaela Caixa Postal 56071, AC Urca, Redaktioneller Leserservice
Markus Feldenkirchen, Konstantin von
Hammerstein, Marc Hujer, Christian Herold, Claudia Jeczawitz (stellv.); Tinka 22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
Reiermann, Marcel Rosenbach Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Tel. +55 21 2275-1204 E-Mail: leserservice@spiegel.de
Thorsten Gerke, Andrea Huss, Elisabeth
DEUTSCHL AND Leitung: Cordula Meyer, Kolb, Petra Konopka, Matthias Krug, ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9, Nachdruckrechte / Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Laura Parvin Nazemi, Peer Peters, Anke Wellnitz 00187 Rom, Tel. +39 06 6797522, Nachdruck und Speicherung in digitalen Medien nur mit
Backes, Katrin Elger, Michael Fröhlings- Fax 6797768
dorf, Hubert Gude, Charlotte Klein, E-Mail: bildred@spiegel.de schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Miriam Olbrisch, Andreas Ulrich, Michael SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz, Für Deutschland, Österreich, Schweiz:
Wulzinger. Meldungen: Annette Bruhns. Tel. +1 212 3075948 1 Post Street, Suite 2750, San Francisco, E-Mail: lizenzen@spiegel.de, Telefon: 040 3007-3540
Autoren, Reporter: Jan Fleischhauer, An- CA 94104, Tel. +1 212 2217583 Fax: 040 3007-2966
GRAFIK UND MULTIMEDIA Leitung: Jens
nette Großbongardt, Julia Jüttner, Beate
Lakotta, Bruno Schrep (frei), Hans-Ulrich
Radü. Grafik-Team: Cornelia Baumer- TEL AVIV P.O. Box 8387, Für alle anderen Länder: The New York Times Syndicate
mann, Thomas Hammer; Ludger Bollen, Tel Aviv-Jaffa 61083 E-Mail: ilaria.parogni@nytimes.com, Telefon: +1 212 556-
Stoldt, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe Max Heber, Anna-Lena Kornfeld, Gernot
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Matzke, Cornelia Pfauter, Michael Walter.
5118
TO KIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sven Multimedia-Team: Alexander Epp, Minami 2-31-15 B, Suginami-ku, Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
Becker, Sven Röbel, Michael Sontheimer Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828
(frei), Andreas Wassermann, Wolf Riedmann wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
Wiedmann-Schmidt. Autoren, Reporter: WA RS C H AU P.O. Box 31, WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versand-
L AYOUT Leitung: Jens Kuppi, Reinhilde
Stefan Berg, Martin Knobbe
Wurst; Michael Abke, Lynn Dohrmann,
ul. Waszyngtona 26, 03-912 Warschau, kostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler,
Tel. +48 22 6179295
Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Ralf Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Susanne Amann (stellv.), Markus Brauck Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa Hundert- WAS H I N GTO N Christoph Scheuermann,
(stellv.). Redaktion: Simon Hage, Isabell mark, Louise Jessen, Nils Küppers, www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
1202 National Press Building, Washington,
Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Annika Loebel, Leon Lothschütz,
Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann- Sebastian Raulf, Florian Rauschenberger,
D.C. 20045, Tel. +1 202 3475222, Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
Fax 3473194
Kathrin Nezik, Simone Salden. Autoren, Barbara Rödiger Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
Reporter: Hauke Goos, Michaela Schießl DOKUMENTATION Leitung: Dr. Hauke Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
TITELBILD Leitung: Katja Kollmann,
AU S L A N D Leitung: Britta Sandberg, Johannes Unselt (stellv.); Suze Barrett, Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Peter Telefon: 069 9551240
Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu Iris Kuhlmann Wahle (stellv.); Zahra Akhgar, Dr.
von Rohr (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, Susmita Arp, Viola Broecker, Dr. Heiko Abonnementspreise
Katrin Kuntz, Jan Puhl, Tobias Rapp, San- Buschke, Johannes Eltzschig, Klaus Inland: 52 Ausgaben € 239,20
dra Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. REDAKTIONSVERTRE TUNGEN Falkenberg, Catrin Fandja, Dr. André
D E U TS C H L A N D Geicke, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,
Studenten Inland: 52 Ausgaben € 163,80
Autoren, Reporter: Marian Blasberg,
Clemens Höges, Susanne Koelbl, Dietmar BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Pieper, Christoph Reuter Deutsche Politik, Wirtschaft Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Stefanie Mengenpreise auf Anfrage.
Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111; Jockers, Michael Jürgens, Tobias Kaiser,
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 213,20
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Gesellschaft Tel. 030 886688-200, Ines Köster, Anna Kovac, Peter Lakemei- (der Anteil für das E-Paper beträgt € 187,20)
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Fax 886688-222 er, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Rainer
Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt,
Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Julia
Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Fax 26620-20 Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autor: Musa, Nicola Naber, Claudia Niesen,
Jörg Blech DÜSSELDORF Frank Dohmen, Lukas Eber- Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papadopoulos, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
KULT UR Leitung: Elke Schmitter, Sebastian le, Fidelius Schmid, Jägerhofstraße 19-20, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070


Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, E-Mail: aboservice@spiegel.de
Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike Fax 86679-11 Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,
Knöfel, Katharina Stegelmann, Claudia FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Martin Hesse, An der Welle 5, Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla
Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Siegenthaler, Meike Stapf, Rainer Staud-
Gorris, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, Fax 97126820 hammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Abonnementsbestellung
Volker Weidermann Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, Andrea Tholl, Nina Ulrich, Ursula
GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, Wamser, Peter Wetter, Holger Wilkop,
Özlem Gezer (stellv.), Guido Mingels oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Fax 9204449 Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller,
(stellv.). Redaktion: Maik Großekathöfer,
Malte Zeller
Barbara Hardinghaus, Maren Keller, M Ü N C H E N Anna Clauß, Dinah Deckstein, Ich bestelle den SPIEGEL
Dialika Neufeld, Claas Relotius, Jonathan Jan Friedmann, Rosental 10,
Stock, Takis Würger. Autoren, Reporter:
N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa, ❏ für € 4,60 pro gedruckte Ausgabe
80331 München, Los Angeles Times / Washington Post,
Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Tel. 089 4545950, Fax 45459525 New York Times, Reuters, sid
❏ für € 4,10 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Gutsch (frei), Alexander Osang, Cordt E-Paper beträgt € 3,60)
Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara REDAKTIONSVERTRE TUNGEN AUSL AND
BA N G A LO R E Laura Höflinger, 811, SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
Supp GMBH & CO. KG
10th A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, beträgt € 0,49) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Der Bezug
S P O RT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: Bangalore – 560 038
Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje Verantwortlich für Anzeigen: ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Alle Preise inkl.
Windmann, Christoph Winterbach BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, André Pätzold
02138 Cambridge, Massachusetts, MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte
INVESTIGATIVREPORTER Rafael Busch- Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 71 vom
mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
Tel. +1 857 9197115 liefern Sie den SPIEGEL an:
1. Januar 2017
Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ BRÜSSEL Peter Müller, Mediaunterlagen und Tarife:
spiegel.de). Koordination SPIEGEL ONLINE: rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, www.spiegel.media
Jörg Diehl, Koordination SPIEGEL TV: Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436
Name, Vorname des neuen Abonnenten
Roman Lehberger ISTANBUL Maximilian Popp,
Verantwortlich für Vertrieb:
SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne Tel. +90 5413971567 Stefan Buhr
Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr
K A P STA DT Bartholomäus Grill, Verantwortlich für Herstellung: Straße, Hausnummer oder Postfach
(stellv.). Redaktion: Markus Deggerich,
P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Silke Kassuba
Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina
Musall, Dr. Johannes Saltzwedel. Autorin: Tel. +27 21 4261191
Marianne Wellershoff KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, Druck: PLZ, Ort
01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Mohn Media
KOORDINATION MEINUNG Markus Felden- Gütersloh
kirchen, Christiane Hoffmann LON DON Jörg Schindler, 26 Hanbury
S P I EG E L P LU S Alexander Neubacher Street, London E1 6QR, E-Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Tel. +44 203 4180610, Fax +44 207 0929055
DEIN SPIEGEL Leitung: Detlef Hacke,
VERL AGSLEITUNG Jesper Doub
Bettina Stiebel. Redaktion: Antonia Bauer, MADRID Apartado Postal Número 100 64, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Claudia Beckschebe, Alexandra Schulz 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RU N G Thomas Hass
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS no 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known
REDAKTIONSBLOG spiegel.de/spiegelblog Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP17-003, SD17-006
Office of Publication: German Language Publications Inc, 153 S Dean St, Englewood NJ SD17-008 (Upgrade)
TWIT TER @derspiegel 07631, 1-855-457-6397. Periodicals postage is paid at Paramus NJ 07652. Postmaster:
FACEBOOK facebook.com/derspiegel Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631.

132 DER SPIEGEL 46 / 2017


Nachrufe
HANS-MICHAEL REHBERG, 79 viert gab sich der Kölner nach
Er konnte mit seinen monu- dem Karriereende 1965. Wie
mentalen Kieferknochen so sich mancher WM-Mitstreiter
bedrohlich malmen wie kaum vermarktete und herumrei-
EVERETT COLLECTION / ACTION PRESS

ein anderer und war nicht nur chen ließ, stieß dem gelernten
unter den Schurkendarstel- Friseur und späteren Tankstel-
lern auf der Theaterbühne lenbesitzer Schäfer eher übel
und im Fernsehen ein Großer. auf. Seine Karriere war makel-
Hans-Michael Rehberg hat los: einmal „Fußballer des Jah-
sich als sensibler Einzelgän- res“, zweimal Deutscher Meis-
ger, der stets eine Neigung ter mit dem 1. FC Köln, dem
zur Gewalt auszustrahlen er 17 Jahre lang treu blieb, drei
schien, früh Theaterruhm er- WM-Teilnahmen, eine Ikone
KARIN DOR, 79 spielt. Mit fünf Geschwistern ohne Allüren und im Rhein-
Sean Connery scherzte, wenn Deutschland das WM-Finale wuchs Rehberg unter ande- land weltbekannt. Mit Ehefrau
in Wembley gewinnen sollte, würde sie keine Arbeitser- rem in Schlesien und am Isis, die bei der 54er-WM in
laubnis erhalten. Deutschland verlor, die Formulare lagen Starnberger See auf. Nach der
am nächsten Tag im Briefkasten. Das war 1966, Karin Dor Schauspielschule arbeitete er
spielte an Connerys Seite das erste – und einzige – deut- in München, Hamburg, Berlin,

HANSDIETRICHKAISER / WITTERS
sche Bond-Girl. Die Rolle der Helga Brandt in „Man lebt Wien und bei den Salzburger
nur zweimal“ machte die elegant und kühl agierende Dor Festspielen mit vielen be-
international bekannt, Alfred Hitchcock besetzte sie bald rühmten Theatermachern –
darauf im Agententhriller „Topas“. In der Bundesrepublik und geriet nicht selten mit ih-
war die in Wiesbaden geborene Darstellerin da längst ein nen in Streit. Rehberg war ein
Filmstar. In Filmen wie „Der grüne Bogenschütze“ (1961) Zweifler, der sich nur unter-
aus der Edgar-Wallace-Reihe wurde sie vor mörderischen ordnen mochte, wenn ihm das
Nachstellungen gerettet. Als Häuptlingstochter Ribanna als richtig einleuchtete. Wie
verliebte sie sich in „Winnetou 2“ (1964) unglücklich in den im Theater wurde er auch im Spiez im Nachbarhotel der
Titelhelden, und dank der häufigen Wiederholungen im Fernsehen und im Kino zum Mannschaft wohnte, war Schä-
Fernsehen litten noch Generationen junger Zuschauer mit fer 64 Jahre lang verheiratet.
ihr. Oft hatte sie unter der Regie ihres Mannes Harald Seinem „FC“ stand er bis zum

THOMAS MEYER / ACTION PRESS


Reinl gespielt, bei den Vertretern des Neuen Deutschen Schluss nahe, ohne sich einzu-
Films war Dor dagegen nicht gefragt. Margarethe von Trot- mischen. Hans Schäfer starb
ta besetzte sie schließlich für den Film „Ich bin die andere“ am 7. November in Köln. wei
(2006) als dekadente alkoholkranke Mutter der Protagonis-
tin Katja Riemann. Anders als viele Stars ihrer Generation, ANTONIO CARLUCCIO, 80
so Trotta, sei Dor bei der Zusammenarbeit unkompliziert Viele, die schon einmal in
gewesen – ihre Darstellung hingegen überzeugend und zu- Großbritannien waren, ken-
rückhaltend. 2015 besetzte die Regisseurin Dor noch ein- nen sie, die blaue Schnörkel-
mal in einer Mutterrolle im Film „Die abhandene Welt“. Spezialisten für das Fach der schrift „Carluccio’s“. Minima-
Karin Dor, die im vergangenen Jahr schwer gestürzt war, äußerlich knallharten Macht- ler Aufwand, maximaler Ge-
starb am 6. November in München. smo männer und schillernden Ty- schmack: Das war das Motto
rannen. Er spielte in Steven des Starkochs Antonio Car-
Spielbergs „Schindlers Liste“ luccio. Der gebürtige Italiener
RICHARD GORDON, 88 mit, gab in zahllosen Krimis arbeitete erst als Journalist in
Sein Puls kletterte auf 162, und Serien den schrulligen Turin, auch als Weinhändler
als Richard Gordon 300 Kilo- Charakterkopf und trat zu- in Hamburg. Vor knapp 40
meter über der Erde aus der letzt unter anderem 2015 in Jahren eröffnete er sein erstes
„Gemini 11“-Kapsel stieg. der TV-Version von Ferdinand Restaurant in London, in dem
Mitten ins Nichts. Der erste von Schirachs „Schuld“ auf. auch Jamie Oliver seine Kar-
Außeneinsatz des Astronau- „Der innere Quark von Schau- riere begann. Er veröffentlich-
ten Gordon im Jahr 1966 ist spielern interessiert mich te 22 Kochbücher, hatte un-
DPA

genau dokumentiert. Die klo- nicht“, hat er einmal gesagt. zählige Fernsehauftritte und
bigen Schutzanzüge machten Hans-Michael Rehberg starb bekam sogar Verdienstorden
die Bewegungen im Weltraum anstrengend und gefährlich. am 7. November in Berlin. höb der britischen und italienischen
Er verfing sich im Luftversorgungsschlauch. Die Astronau- Regierung. Grundpfeiler sei-
ten der Sechzigerjahre waren die mythischen Helden einer HANS SCHÄFER, 90 nes Erfolgs war die Idee, quali-
neuen Zeit, der SPIEGEL sah damals gar griechisches Schick- Mit dem Titel „Held“ konnte tativ anspruchsvolle Küche in
sal am Werk und schrieb über den Einsatz: „Laokoon- er nichts anfangen, das „Wun- günstigen Kettenrestaurants
gleich rang Richard Gordon mit der Nabelschnurschlange.“ der von Bern“, der deutsche anzubieten. Im Vereinigten
Drei Jahre später – Neil Armstrong hatte bereits seine Fuß- Fußballtriumph bei der Welt- Königreich sind seine Restau-
spuren auf dem Mond hinterlassen – flog Gordon ebenfalls meisterschaft 1954, beruhte für rants und Cafés an mehr als
zum Erdtrabanten. Es war ihm nicht vergönnt auszustei- ihn auf Willensstärke, Selbst- 80 Standorten zu finden. Anto-
gen, er musste die „Apollo 12“ bewachen. Wie viele Astro- vertrauen und Glück – und nio Carluccio, der dort zu Recht
nauten kehrte auch er vom Mond heim, um sich ganz überhaupt: So redselig der als Pate der italienischen Gas-
irdischen Dingen zu widmen: Er leitete ein Footballteam. Linksaußen im Kreis der Na- tronomie gilt, starb am 8. No-
Richard Gordon starb am 6. November in Kalifornien. xvc tionalmannschaft war, so reser- vember in London. red
DER SPIEGEL 46 / 2017 133
ANNE-CHRISTINE POUJOULAT / AFP
Im Kartenhaus vorerst die laufenden Dreharbeiten zur sechsten Staffel und
kündigte an, sich komplett von Spacey zu trennen. Inhaltlich
Warum eigentlich nicht? Statt die Erfolgsserie „House of wäre es durchaus vorstellbar, Claire Underwood zur Haupt-
Cards“ komplett einzustellen, könnte Robin Wright, 51, mit figur zu machen – schließlich übernahm sie Ende der vergan-
ihrer Figur Claire Underwood die Hauptrolle übernehmen. genen Staffel sogar die Präsidentschaft von ihrem Gatten Frank
Das schlug jedenfalls die Golden-Globe-Gewinnerin Jessica alias Kevin Spacey. Schon zuvor verlangte die Schauspielerin,
Chastain auf Twitter vor. Grund dafür: Kevin Spacey, der in die gleiche Gage wie Spacey zu erhalten. 2014 verdiente sie
der Netflix-Serie die bisherige Hauptrolle des skrupellosen 420 000 Dollar pro Folge, ihr männlicher Kollege dagegen eine
amerikanischen Machtpolitikers Frank Underwood spielt, halbe Million. In einem Interview im Juni sagte Wright, dass
wurde in der vergangenen Woche von mehreren Männern der sie noch immer nicht wisse, ob sie jetzt genauso viel verdiene.
sexuellen Belästigung bezichtigt. Daraufhin stoppte Netflix Als Hauptdarstellerin dürfte sich das ändern. red

Verausgabt Sexszene. Diese Bandbreite


sei so außergewöhnlich, dass
Bang; zwei Tage lang habe
er sich im Regen durch einen
Es sei der Rolls-Royce des sich in dem Film für jedes Müllberg wühlen müssen.
Schauspielens gewesen, sagt Genre eine Arbeitsprobe fin- Bang, der fließend Deutsch
Claes Bang, 50, über seine de, meint einer von Bangs spricht und sich für die deut-
Hauptrolle im Film „The Agenten. Regisseur Ruben sche Version selbst synchro-
EVA TEDESJO / PICTURE ALLIANCE / DPA

Square“. Als blasierter Mu- Östlund bestand auf höchster nisierte, fühlt sich jetzt reif
seumskurator hat der däni- Authentizität, und so waren für die Zusammenarbeit mit
sche Schauspieler es in einer die Dreharbeiten eine Feuer- Regisseuren wie Michael
Szene mit einem Affen zu probe für den Darsteller. Sze- Haneke („Das weiße Band“)
tun, in einer anderen mit nen von mehreren Minuten oder Maren Ade („Toni Erd-
einem verzweifelten Zwölf- Länge habe er 60- bis 70-mal mann“) – beide sind bekannt
jährigen, er verausgabt sich wiederholen müssen, fast bis dafür, Szenen zigmal wieder-
in einer Tanz- sowie in einer zur Besinnungslosigkeit, so holen zu lassen. smo

134 DER SPIEGEL 46 / 2017


Personalien
Überraschendes Lob in innerpolnische Angelegen-
heiten einzumischen sowie
Der polnische Außenminister zu regierungsfeindlichen
Witold Waszczykowski, 60, hat Aktionen anzustiften. Auch
sich in der EU den Ruf er- den amtierenden amerikani-
arbeitet, mit seinen Urteilen schen Präsidenten sieht er im
oft zu überraschen. Vergan- Gegensatz zu den meisten
gene Woche riss er ein Zitat EU-Partnern positiv. Neulich
der deutschen Verteidigungs- outete sich der Politiker der

PETER-JUELICH.COM / DER SPIEGEL


ministerin Ursula von der rechtsnationalen PiS-Partei
Leyen aus dem Zusammen- als Trump-Fan. Anlass war
hang und warf ihr vor, sich ein Treffen der EU-Außen-
minister vor drei Wochen in
Luxemburg, bei dem viele
Vertreter ihre Sorge über das
Bestreben Trumps zum Aus-
druck brachten, den Atom-
deal mit Iran zu torpedieren. Der Augenzeuge
„Ich weiß, dass viele hier in
der Runde in Herrn Trump „Biotope und Spielplätze“
KACPER PEMPEL / REUTERS

einen schlechten Präsidenten


sehen“, sagte Waszczykowski. Mit Gedenktagen wie Allerseelen, Totensonntag oder Volks-
Er sehe das anders. „Trump trauertag rufen Kirche und Staat im November zur Erinnerung
wird ein großer Präsident an die Verstorbenen auf. Doch der Umgang mit der Trauer
werden.“ csc verändert sich, vor allem in den Großstädten. Und das habe
gravierende Auswirkungen auf die Friedhöfe dort, sagt Thomas
Bäder, 55, Chef der Friedhofsverwaltung in Frankfurt am Main.

Klamottenmarotte (520 440 Dollar). Die Recher-


chen der Associated Press
„Früher dachten wir: Wenn die Städte größer werden
und die Einwohnerzahlen wachsen, dann braucht man
Donald Trumps ehemaliger ergaben jetzt, dass in den be- auch mehr Platz für Friedhöfe. Tatsächlich ist es heute
Wahlkampfmanager Paul sagten Läden eine Krawatte genau andersherum, zumindest in den großen Städten.
Manafort, 68, muss sich ernst- 1000 Dollar, ein Anzug um Die Menschen sind mobiler geworden. Viele werden
haft Sorgen machen. Nicht die 7500 Dollar kostet. Es nicht mehr dort bestattet, wo sie lange gelebt und gear-
nur, weil er wegen Geldwä- stellt sich jedoch nicht nur beitet haben, sondern dort, wo Angehörige sind. Oder
sche und Steuerhinterziehung die Frage, warum jemand so wo die Grabstätten günstig und pflegeleicht sind.
angeklagt ist. Sondern auch, viel Geld für Anzüge ausgibt, Hier in Frankfurt gibt es seit einigen Jahren sinkende
weil er sich der Öffentlich- sondern vor allem, wie er Bestattungszahlen und einen Trend zum kleineren Grab.
keit gegenüber jetzt wegen so viel Geld ausgeben und Wir haben heute etwa 73 Prozent Urnenbeisetzungen
schlechten Stils verantworten gleichzeitig so schlecht dabei und nur noch einen kleinen Teil klassische Erdbestattun-
muss. Aus der Anklageschrift aussehen kann. Die Anzüge gen. Vor 10, 15 Jahren war das Verhältnis noch umge-
geht hervor, dass Manafort würden nicht richtig passen, kehrt. An einigen unserer 36 Friedhöfe bieten wir Baum-
mehr als 1,3 Millionen Dollar und die Krawatten seien häss- oder Rasengräber an. Da liegt dann nur noch eine kleine
für Kleidung ausgegeben ha- lich, so das allgemeine Urteil Steinplatte im Gras, und das wird von uns regelmäßig
ben soll. Manaforts Shopping- der Medien. Vielleicht hat gemäht. Dadurch entfällt die Grabpflege für Angehörige
touren verteilten sich auf Manafort eine alte Regel für komplett. So etwas wird immer stärker nachgefragt.
zwei Herrenausstatter, einer den Dresscode am Arbeits- Für uns ist das eine Herausforderung, denn die Einnah-
in New York (849 215 Dollar) platz befolgt: Kleide dich nie men sinken natürlich, wenn die Gräber kleiner werden.
und einer in Kalifornien besser als dein Chef. xvc Gleichzeitig müssen wir immer größere Flächen selbst
pflegen, Überhangflächen nennen wir die. Der Frank-
furter Hauptfriedhof ist ungefähr 70 Hektar groß, davon
werden wir in Zukunft vielleicht nur noch 30 oder 40
Hektar für Gräber benötigen. An den Rändern des Ge-
ländes ziehen wir uns schon jetzt langsam zurück, dort
haben wir beispielsweise ein Biotop angelegt. Es gibt
aber noch viele andere Überlegungen, was man mit den
freien Flächen machen kann: warum nicht auch Spiel-
plätze anlegen oder naturkundliche Lehrpfade?
In den Großstädten sind die Friedhöfe nicht mehr nur
DAMON WINTER / NYT / REDUX / LAIF

für die Trauernden da. Es sind attraktive Grünflächen


für alle Bürger. Auf den Hauptfriedhof kommen heute
schon viele Jogger und Eltern mit Kinderwagen. Denn
der Friedhof ist eben nicht nur eine Fläche für Gräber,
sondern auch ein schöner, schattiger Park, eine Erho-
lungsfläche, eine große grüne Lunge mitten in der Stadt.“
Aufgezeichnet von Matthias Bartsch

DER SPIEGEL 46 / 2017 135


„Was wäre Amerika erspart geblieben, wenn es vor zwei
Generationen Einreiseverbote für Migranten aus der Pfalz gegeben
hätte? Vermutlich wäre Donald Trump heute AfD-Chef.“
Ekkehard Sander, Denkendorf (Bad.-Württ.)

Ungehemmt So klar, so dicht an Atmosphäre wurde das rer Herrschaft und absoluten Heilsverspre-
heutige Treiben in Washington kaum zu- chen. Die Menschen sollten begreifen, dass
Nr. 45/2017 Washington, ein Jahr danach vor beschrieben. Allerdings ging es dort sie auf demselben Planeten sitzen. Der
„Washington, ein Jahr danach“ titelt der schon öfter wild zu, beispielsweise zu Lin- mündige Bürger muss sein Schicksal selbst
SPIEGEL und lässt zum Jahrestag von colns Zeiten, wie Doris Kearns Goodwin in die Hand nehmen. Dialoge muss es zwi-
Donald Trumps Wahlsieg Washingtoner in ihrer Biografie „Team of Rivals“ über schen allen geben. Dazu gehören inzwi-
Machtsymbole durcheinanderpurzeln. Doch ihn ans Tageslicht befördert hat. Angefeu- schen 26 Prozent Konfessionsfreie – und
damit nicht genug: Der Illustrator verbin- ert von einer völlig ungehemmten Presse, ihr Anteil wächst. Für Religionen und Ideo-
det diese Aussage mit der gegenwärtigen die mit Verleumdungen und falschen Dar- logien, die uns in Rechtgläubige und
Asienreise Trumps, indem er mit Trumps stellungen nur so um sich schmiss, kam es Falschgläubige einteilen, ist die Zeit abge-
Haartolle auf den bekannten Farbholz- laufen. Luther und Calvin waren nicht to-
schnitt „Die große Welle vor Kanagawa“ leranter als die Päpste und Mohammed.
des japanischen Künstlers Hokusai (1760 Der Weg zur Freiheit und Mündigkeit führt
bis 1849) anspielt. Meisterhaft! über den säkularen Staat. Was uns verbin-
Dr. Siegfried von Niswandt, Fellbach (Bad.-Württ.) det, sind die Werte der Aufklärung: De-

STEPHEN VOSS / DER SPIEGEL


mokratie, Menschenrechte, Toleranz.
Den amtierenden US-Präsidenten mit Roland Fakler, Ammerbuch (Bad.-Württ.)
einer Naturkatastrophe gleichzusetzen
ist an Geschmacklosigkeit kaum zu über- Gott sei Dank hat der nervige Luther-Rum-
bieten. mel bald ein Ende!
Arnd Deterding, Hamburg Georg Malkowsky, Bockenem (Nieders.)
Kapitol in Washington
Wann endlich versteht die SPIEGEL- Zum Glück ist Martin Luther reformiert,
Redaktion, dass Trump auf vier Jahre ge- damals zu wüsten Streitereien, das heutige sonst hätten ihn die Deutschen im Jubi-
wählt ist und vielleicht noch mal vier Jahre fromme Getue war nicht en vogue, und läumsjahr schon längst heiliggesprochen.
anhängen kann – mir wär’s recht. Er ist sinnvolle Gesetzesentwürfe wurden fast Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach (Schweiz)
unkonventionell und, besonders wichtig, bis zur Unkenntlichkeit verwässert, ehe es
er ist politisch inkorrekt. Das haben all die zwischen den Kontrahenten zu einer Eini- Weg zur Entstigmatisierung
weichgespülten Politiker und Journalisten, gung kommen konnte. Die Stadt hat diese
besonders die in der EU, halt nicht so gern. Auseinandersetzungen überlebt, wenn- Nr. 44/2017 Wie Kinder in einer psychiatrischen Klinik
in den Alltag zurückfinden
Albert Augustin, Gelterkinden (Schweiz) schon Abe Lincoln nicht.
Frauke Warner, Wien (Österreich) Diese hervorragende Reportage öffnet die
Ich kann Ihre plumpen Anti-Trump-Pam- Augen dafür, wie wir mit unseren Kindern
phlete nicht mehr lesen. Es ist frappierend, Der Rummel umgehen beziehungsweise umgehen soll-
wie einseitig negativ ein Mann dargestellt ten. Es ist ein lesenswerter Blick hinter die
wird, den zu wählen eine der größten Nr. 44/2017 Die magere Bilanz des Kulissen eines Themas, das eine saturierte
Reformationsjahres
Demokratien der Welt sich erdreistet hat. Gesellschaft gern ausblendet. Sehr gut
Es geht nicht darum, dass Trump diese Ne- Sie haben das Thema EKD-Reformations- auch, dass die Rolle der Eltern, der Schule
gativseiten nicht hätte, sondern dass sie feiern hervorragend beschrieben. Auch der und der Gesellschaft so intensiv beleuchtet
bei der hochkorrupten Hillary Clinton völ- Theologe Friedrich Schorlemmer sagte wurde.
lig ausgeblendet werden. Trumps „Pro- treffend: „Zu viel Event, zu wenig Bot- Hans Moritz, Erding (Bayern)
blem“ ist, dass er nicht in Ihr Weltbild schaft.“ Martin Luther hat völlig zu Recht
passt. Diese Bigotterie lenkt die Sympathie gegen die damaligen entsetzlichen Zustän- Katja Thimms Text ist ein weiterer wichti-
aus reiner Reaktanz hin zu Trump, selbst de in der katholischen Kirche protestiert. ger Beitrag auf dem langen Weg zur Ent-
wenn man den Mann durchaus kritisch be- Seine schriftlichen Leistungen waren ge- stigmatisierung psychisch erkrankter Men-
trachtet. nial, und seine Empörung ist nachvollzieh- schen. Kritisch möchte ich allerdings auf
Dr. Rüdiger Christ, Oberndorf am Neckar (Bad.-Württ.) bar. Jedoch war und bleibt Martin Luther die Formulierung „eine Schwester wacht
für die Folgen seiner Taten verantwortlich. am Bett“ im letzten Abschnitt des Artikels
Der Wahlkampf hat in der Tat seit Trumps Er hätte, wie es derzeit Papst Franziskus eingehen. Dieser vermittelt eher das alte
Wahl nicht nachgelassen. Seit einem Jahr tut, vernünftiger gegen die Missstände in Bild einer kustodialen Psychiatrie aus
bekomme ich als Amerikaner täglich von der katholischen Kirche vorgehen müssen. einer Zeit, in der sich Pflegende noch als
den Demokraten in Washington Hiobsbot- Martin Luther ist für mich kein Vorbild. „Wärter“ verstanden. Dies ist zum Glück
schaften zu Trump, mit anhängender Bitte Er hat eine Religion in zwei Teile gespal- nicht mehr so. Vielmehr ist es heute eine
um eine Spende. Einerseits ist das zermür- ten, die wohl nie mehr zusammenfinden Intensivbetreuung, eine wichtige therapeu-
bend, andererseits hofft man, dass beim werden. tische Intervention. Sie verlangt von dem
nächsten Mal die Wahlbeteiligung nicht so Volker Freiesleben, Köln Ausführenden eine hohe Fachlichkeit und
miserabel sein wird, weil die niedrige Be- ist, bei richtiger fachlicher Ausgestaltung,
teiligung ein Grund für Hillary Clintons Die Reformation kann nur als ein Schritt für den Patienten in der Intensivbetreuung
Niederlage war. in die richtige Richtung betrachtet werden: extrem stützend und wertvoll.
Alan Benson, Berlin zur Befreiung des Menschen von totalitä- Stefan Rogge, Troisdorf (NRW)
136 DER SPIEGEL 46 / 2017
Briefe

Das Tier in uns ben Sie etwas Grundlegendes nicht ver- Interessant ist Melanie Amanns Aussage:
standen: Wenn eine Frau vergewaltigt „Kein junger männlicher Polit-Shootingstar
Debatte: Nr. 44/2017 Jochen-Martin Gutsch: Was wird, dann ist das erst einmal kein Sexis- müsste sich diese Begrüßung anhören.“
genau ist eigentlich Sexismus? Nr. 45/2017 Melanie
mus, sondern eine Straftat. Sexismus ist, Der Autorin scheint entgangen zu sein,
Amann: Warum die Männer falsch auf den Alltags-
sexismus reagieren wenn eine Person aufgrund ihres Ge- wie häufig Christian Lindner, Justin Tru-
schlechts diskriminiert wird. Wie Sie sehen, deau oder Sebastian Kurz auf Alter bezie-
Der Beitrag von Jochen-Martin Gutsch geht es hier um eine Person. Nicht um hungsweise Aussehen reduziert werden.
spricht mir aus der Seele. Derzeit melden Frauen. Nicht um Männer. Wenn ein Mann Julian Rieger, Neustadt an der Weinstraße (Rhld.-Pf.)
sich ständig Frauen zu Wort, denen in ei- eine Frau vergewaltigt, dann bedeutet das
ner Bar an den Hintern gegriffen wurde Folgendes: Der Mann glaubt, es wäre legi- Für Ideale bestraft
oder die sich im Büro einen dummen tim, die Frau als Objekt ohne eigenen Wil-
Spruch anhören mussten. Ich finde es be- len zu verstehen. Sie wäre weniger wert Nr. 44/2017 Der US-Footballstar Colin Kaepernick
erfand den Kniefall als Symbol gegen Rassismus –
schämend, dass diese sich auf eine Stufe als er. Er könnte über sie und ihre Sexua-
jetzt ist er arbeitslos
stellen mit Frauen, die von machtmissbrau- lität bestimmen, weil er ein Mann ist und
chenden Männern vergewaltigt wurden. sie eine Frau. Wissen Sie, wie man so was Der unterschwellige und häufig auch offe-
Daniela Jaus, Stuttgart nennt? Genau, Sexismus. Sie sind aber an- ne Rassismus in den USA ist ein großes
scheinend der Meinung, dass Sexismus nur Problem der amerikanischen Gesellschaft
Der Artikel offenbart für mich einen gro- in solchen Extremfällen besteht. und muss so lange thematisiert werden,
ßen Teil des Dilemmas dieser Debatte. Felicitas Dahmen, 17 Jahre, Köln bis sich grundlegend etwas ändert.
Herr Gutsch hat, so scheint mir nach der Jonathan Bloch, Hamburg
Lektüre, nichts verstanden. Er schreibt, er Ich kann jeden Satz im Essay von Jochen-
sei ein Mann und ihm fehle der Erfahrungs- Martin Gutsch nur unterstreichen und „ge- Die Menschheit wird noch Hunderte Jahre
horizont, was sexuelle Belästigung angeht. nau!“ an den Rand schreiben – als Frau brauchen, bis es hoffentlich keinen Rassis-
Gut, dann sollte er aber auch nicht darüber und Feministin der Siebzigerjahre! Seit mus mehr gibt. Persönlich empfehle ich je-
urteilen, was Frauen (und Männer) als se- Langem fällt mir auf, dass diese völlig ab- dem potenziellen Rassismusopfer den Weg
xuelle Belästigung oder als Sexismus emp- surde Hysterie um „Sexismus“ und „Gen- Obamas: Man muss Teil des Systems wer-
finden dürfen. der“ eine tief sitzende Angst vor der Bio- den und versuchen, es so in die richtigen
Anna Duda-Alles, Mainz logie sein muss, eine verzweifelte Rebellion
der Postmoderne gegen das Tier in uns.
Herr Gutsch kann sich so gar nicht erklä- Julia Berendsohn, Hamburg

JAKE ROTH-USA TODAY SPORTS/DDP IMAGES


ren, weshalb die Worte des Ex-Botschaf-
ters Kiderlen, „Ich habe keine so junge Melanie Amann skizziert sehr anschaulich
Frau erwartet. Und dann sind Sie auch so die vielen, leider immer noch aktuellen
schön“, Sexismus in Reinkultur sind. Dazu Strukturen und Zusammenhänge, die Se-
möge er sich in die Lage der Staatssekre- xismus im Alltag begünstigen. Gerade jene,
tärin Sawsan Chebli versetzen. Die rele- die nicht auf den ersten Blick erkennbar
vanten Sätze sind bei einer Podiumsdis- sind. Denn einige Männer (und leider auch
kussion gefallen, mithin in der Öffentlich- Frauen), die sich nicht einmal als Sexist_in-
nen bezeichnen würden, empfinden es als
normal, die Leistungen von Frauen weni- Sportler Kaepernick 2016
ger zu honorieren als die von Männern,
sie kleinzumachen und kleinzuhalten. Bahnen zu lenken. Konfrontation führt lei-
Janine Adomeit, München der zu Isolation. Aber in jungen Jahren
glaubt man noch an Ideale – und wird da-
In der Vorwoche hat der Essay von Jochen- für, wie Colin Kaepernick, leider bestraft.
Martin Gutsch durch seine Mischung aus Akgün Kizilkaya, Willstätt (Bad.-Württ.)
ahnungsloser Ignoranz und dumm-dreister,
das Thema auf männliche Flirtproblemati- „Touchdown“ – eine vorgezogene zeitge-
F1ONLINE

ken reduzierender Verharmlosung Brech- mäße Weihnachtsgeschichte, die in alle


reiz bei mir ausgelöst. Das eklige Gefühl Schulzimmer gehört und die deodorierten
Mann beim Abwaschen nach diesem Rechtfertigungsquatsch ist Weihnachtsnarrative weit in den Schatten
glücklicherweise seit der aktuellen Aus- stellt. Dank dem Autor Claas Relotius und
keit. Frau Chebli musste sich vorkommen gabe und dem darin enthaltenen Essay von dem SPIEGEL!
wie ein Schulmädchen, bei dem Mann alles Melanie Amann verflogen. Es zeigt sich Andreas Meyer, Gibswil (Schweiz)
Mögliche gut findet, nur nicht ihre Kom- für mich wieder einmal deutlich, dass Män-
petenz. Dies nicht zu erkennen ist doch nern wie Herrn Gutsch stets mehr daran Michael Bennett ist nicht Quarterback der
schon ziemlich ignorant. gelegen ist, ihre empathischen Impulse auf Seattle Seahawks, sondern Defensive End.
Andreas Meißner, Dresden eine Bagatellisierung der tief verwurzelten Also Verteidiger statt Spielmacher. Ich
Tradition des patriarchalischen Sexismus – schätze den SPIEGEL als gutes Nachrich-
Sie sind der Meinung, Herr Gutsch, das will heißen: auf sich selbst als armes Opfer ten-Magazin. Gerade deshalb hoffe ich,
Wort Sexismus werde inflationär benutzt, dieser Debatte – zu lenken, anstatt mithilfe dass dieser Fehler ein Ausrutscher war.
beim Sexismus werde heute alles ver- der Empathie einen scharf differenzierten Lars Mindermann, Hannover
mischt. Der anzügliche Spruch, die Verge- Täter-Opfer-Begriff zu entwickeln und sich
waltigung, das missglückte Kompliment – so schonungslos mit der eigenen Vormacht- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
alles eine Soße. Dabei, so argumentieren stellung als weißer Mann auseinander- (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Sie, seien diese drei Beispiele nicht Teil zusetzen. sowie digital zu veröffentlichen und unter
desselben Problems. Und genau dort ha- Florian Stauch, Halle (Saale) www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 46 / 2017 137


Hohlspiegel Rückspiegel

JETZT IM HANDEL:

EDITION Zitate

AGILES Das „Hamburger Abendblatt“ zum


SPIEGEL-Gespräch „Wir hätten

MANAGEMENT
Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“ gewinnen können“ mit SPD-Parteivize
Olaf Scholz (Nr. 45/2017):

Aus dem SPIEGEL: „Seine Deutsch Als in der Pressekonferenz der Name
wird immer besser.“ Olaf Scholz fällt, wird Martin Schulz
einsilbig. Das Interview, das sein Stell-
vertreter im Parteivorsitz dem SPIEGEL
Aus der „Schwäbischen Zeitung“: gegeben hat, habe er auch gelesen, sagt
„Weil der Aufsteiger zuhause der SPD-Chef. „Mit großem Interesse“.
verloren hat, muss er daheim die Schulz vermeidet am Montag dann aber
Punkte wettmachen.“ jede Bewertung dessen, was Scholz in
dem Gespräch gesagt hat. Der Hambur-
ger Bürgermeister gilt als größter Kriti-
ker von Schulz und als möglicher Kon-
kurrent im Amt des Parteivorsitzenden.
Das ganze Interview liest sich wie ein
einziger Vorwurf an den gescheiterten
Kanzlerkandidaten, jede Antwort ist
eine Ohrfeige. „Wir hätten die Bundes-
tagswahl gewinnen können“, sagt Scholz,
Aus der „Neuen Westfälischen“ was nichts anderes heißt als: Ich hätte
diese Wahl gewonnen.

Aus der „Saarbrücker Zeitung“: Die „Welt“ zum selben Thema:


„Bliesgau-Ranger Michael Kessler
übt deutliche Kritik an Hundebesitzern, Eine Spannung liegt aber noch immer in
die ihre Zweibeiner nicht anleinen.“ ORGANISATION der Luft, vor allem zwischen Schulz und
seinem Stellvertreter, Hamburgs Bürger-
So werden Marketing und meister Scholz. Er, Schulz, übernehme
Verantwortung für die Niederlage bei
Vertrieb beweglicher der Bundestagswahl, während andere,
die „seit August Bebel“ der Parteispitze
BEST PRACTICE angehörten, dies nicht täten, habe der
Vorsitzende im Präsidium gesagt, hieß
Wie Vodafone seine Kunden- es aus dieser Runde. Dies wurde als
Kritik an Scholz aufgefasst, der in einem
Aus einem Werbeprospekt betreuung modernisierte SPIEGEL-Interview seinerseits indirekt
eines Getränkehandels Schulz kritisiert hatte.

FALLSTUDIE Die „Stuttgarter Zeitung“ zur SPIEGEL-


Aus der „Welt am Sonntag“: „Das Ganze Meldung „Einladung aus Doha“
wiederholt sich alle 24 Stunden, Ein Bauunternehmen will über ungeklärte Fragen zur Fußballwelt-
weil sich die Erde in 24 Stunden einmal
um die Sonne dreht.“
dezentral arbeiten. Droht nun meisterschaft 2006 (Nr. 45/2017):

der Kontrollverlust? Reinhard Grindel erklärt die Aufarbei-


tung des WM-Skandals 2006 endgültig
zur Chefsache: Der Präsident des Deut-
schen Fußball-Bundes (DFB) persönlich
wird im Dezember in Katar einen neuen
Versuch für ein Gespräch mit der Schlüs-
selfigur der Affäre, Mohammed Bin
! Hammam (Katar), unternehmen. Das
Ziel ist, damit zur womöglich endgülti-
Auch als digitale Ausgabe erhältlich: gen Aufklärung des Rätsels um die un-
Schild am Hochwasserschutzbecken harvardbusinessmanager.de geklärte Millionenzahlung der deutschen
Kalte Bode in Mandelholz (Harz) WM-Macher von 2006 beizutragen …
Grindels Bekanntgabe der Mission er-
folgt zu einem pikanten Zeitpunkt: Wie
Aus dem „Deutschen Ärzteblatt“: der SPIEGEL aktuell berichtet, soll der
„Der Abbau von Bürokratie in der ambu- DFB schon im Frühling 2016 eine erste
lanten Versorgung kommt nur langsam Gelegenheit auf eine Aussage von Bin
voran. Für das aktuelle Jahr wird ein An- Hammam zu den ominösen Vorgängen
stieg von 0,2 Prozentpunkten berechnet.“ im WM-OK ungenutzt gelassen haben.
138 DER SPIEGEL 46 / 2017
„Spitzenburgunder
braucht Spitzenberatung.“

Julia Bertram,
Inhaberin Weingut Julia Bertram
und Genossenschaftsmitglied

Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt.

Wir machen den Weg frei.

Willkommen bei der Genossenschaftlichen Beratung.


Die Finanzberatung, die erst zuhört und dann berät –
und zwar ehrlich, kompetent, glaubwürdig. Sie haben
Fragen zum Thema Existenzgründung?
Erfahren Sie alles, was Sie wissen müssen. Jetzt auf
vr.de/mittelstand oder vor Ort in einer unserer über
11.500 Filialen.

Wir machen den Weg frei. Gemeinsam mit den Spezialisten der Genossenschaf tlichen FinanzGruppe Volk sbanken Raif feisenbanken: Bausparkasse
Schwäbisch Hall, Union Investment, R+V Versicherung, easyCredit, DZ BANK , DZ PRIVATBANK , VR Leasing Gruppe, WL BANK , MünchenerHyp, DG HYP.
PanoMaticLunar

Beijing · Dresden · Dubai · Geneva · Hong Kong · Macau · Madrid · Nanjing · Paris · Shanghai · Shenyang · Singapore · Tokyo · Vienna

Das könnte Ihnen auch gefallen