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2017
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Printed in Germany
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(LQ+DXVGDVDOOH
Das deutsche Nachrichten-Magazin
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Hausmitteilung /HEHQVTXDOLW¦WSXU
Betr.: Sexismus, Jemen, „DEIN SPIEGEL“
K aum jemand ist einem Kind näher als der Bruder oder
die Schwester. Geschwister lieben und streiten sich.
Sie zoffen sich, wer zuerst ins Bad darf, und sie helfen
einander bei den Schulaufgaben. „DEIN SPIEGEL“, das
Wohnmedizinisch empfohlen
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Nachrichten-Magazin für Kinder, erzählt in der Titelge-
schichte dieses Monats, warum Geschwister so ein beson- %DXK\JLHQHXQG,QQHQUDXPWR[LNRORJLHH9
deres Verhältnis zueinander haben – und rät, was sich tun
lässt, um weniger zu streiten. Außerdem im Heft: So arbei-
ten Kriminalkommissare. Und: Wie landet möglichst wenig
Essen im Müll? Die neue Ausgabe erscheint am Dienstag.
Der Rechtsruck „So will ich nicht leben“ Tricksereien ohne Ende
Einheit Zum Jahrestag des Mauerfalls Psychologie Ihr Kind hängt ohne Unter- Steuerflucht Die Paradise Papers offen-
ziehen die AfD-Siege im Osten neue Trenn- lass am Smartphone oder Computer? Es baren Einblicke in einen chronischen Skan-
linien. Ministerpräsidenten und Bürger isst viel zu viel und mag nicht mehr zur dal. Die Politik hat die Hinterzieher
berichten, was sie gegen den Populismus Schule gehen? Dann könnte es am Iso-Syn- und die Steueroasen zwar längst ins Visier
unternehmen. Und ein SPIEGEL-Essay fragt, drom leiden. Wie Tom. Bis er, spät, Hilfe genommen. Doch dieser Kampf kann
warum „Wessis“ nicht im wiedervereinigten in der „Insula“ fand, einem Rehazentrum kaum erfolgreich sein, wenn selbst EU-Län-
Land angekommen sind. Seiten 46, 52 in den Berchtesgadener Alpen. Seite 108 der von Tricksereien profitieren. Seite 74
6
In diesem Heft
Titel Medien
China Der atemberaubende Aufstieg des Debatte Deutschlandradio-Intendant
Landes zur politischen, wirtschaftlichen Stefan Raue fordert im Streit mit den
und technologischen Supermacht 14 Verlagen mehr Kompromissbereitschaft 84
Deutschland Ausland
Leitartikel Das dritte Geschlecht 10 Trumps Asienreise bringt keine Lösung für
erstmals seit mehr als 30 Jahren wieder Oktoberrevolution von 1917 nachspielen 131
für eine Arbeitszeitverkürzung 70 Mohammed bin Salman
Steuerflucht Die Paradise Papers geben
neue Einblicke in einen alten Missstand 74 Bestseller 130 Er will Saudi-Arabien moder-
FDP-Vize Wolfgang Kubicki hat Vorschläge, Impressum, Leserservice 132 nisieren, Widerspruch ist ge-
wie man Steueroasen bekämpft 76 Nachrufe 133 fährlich. Der junge Thronfol-
Digitalisierung Sony wagt eine Neuauflage
des elektronischen Hunds Aibo 78
Personalien 134 ger ließ Prinzen und Minister
Handel Metro-Chef Olaf Koch könnte sich Briefe 136 verhaften, offiziell wegen Kor-
selbst ausgetrickst haben 80 Hohlspiegel / Rückspiegel 138 ruption. In Wahrheit tobt ein
Mobilität Google testet Autos, in denen der Kampf um die Macht und die
Computer die alleinige Kontrolle hat 81 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ Zukunft des Landes. Seite 88
Leitartikel
Gedöns? Gesetz!
Mann, Frau, divers: Karlsruhes Beschluss zum dritten Geschlecht ist richtig und menschlich.
D
as Kürzel lautet: LSBTI. Es steht für verschiedene Aus der Sicht der Rechten ist da etwas in Unordnung
sexuelle und geschlechtliche Identitäten, man liest geraten, und die Entscheidung des Bundesverfassungs-
es in Szenepublikationen und akademischen Schrif- gerichts bestätigt erfreulicherweise, dass das stimmt. Es
ten und in Kommentaren, deren Autoren das alles für Ge- ist eine ausdrücklich moderne Entscheidung, dass in
döns halten, für absurd. Die Debatte rauscht schon länger deutschen Amtsstuben künftig mit Stempel bestätigt
(Transgender-Toiletten! Ha!), aber nun plötzlich geht es werden soll: Es gibt männlich, weiblich und noch etwas.
nicht mehr um Gedöns, sondern ums Gesetz. Diese Entscheidung spiegelt gesellschaftlichen Wandel.
Die Rede ist vom I im Kürzel: Intersexuell, das sind Zwar ist das Kürzel LSBTI nicht im Alltag der
Menschen, die biologisch weder eindeutig Mann noch ein- Gesellschaft angekommen oder der Sprachgebrauch von
deutig Frau sind; sie sollen künftig, so hat das Bundesver- Regenbogendenker*innen und Genderaktivist_innen, die
fassungsgericht entschieden, einen eigenen Eintrag im Ge- mit Strich und Sternchen zeigen, dass alle erdenklichen
burtenregister bekommen: „Inter“ ist ein Vorschlag, ein Geschlechter gemeint sind; eine Praxis, die das Leben
anderer: „divers“. Sie sind eine Minderheit, etwa 160 000 für manche gerechter und für viele anstrengender
Personen, aber es betrifft die gesamte Republik. Es ist ein erscheinen lässt.
Kulturbruch, der viele irritie- Der Mainstream spricht
ren wird, muss das sein? Es nicht so. Aber der Mainstream
muss. hat sich an anderes gewöhnt.
Es gibt sie immer schon, die An die Dragqueen Olivia
Uneindeutigen, bei denen Jones, die männlich/weiblich
zum Beispiel die Geschlechts- über den Bildschirm und die
chromosomen eine andere Reeperbahn stöckelt, an die
Botschaft tragen als die Hor- Sängerin Conchita Wurst, die
mone, und die Reaktion da- feminin mit Bart den Euro-
rauf, bei Eltern: Schock und vision Song Contest gewinnt.
Scham. Die Stille im Kreissaal Das Spiel mit Geschlechterrol-
nach der Frage: Was ist es len ist etwas anderes als die
denn nun? Das Drängen der körperliche Uneindeutigkeit.
Standesbeamten, das etwas Aber das Spiel hat dazu bei-
milder geworden ist; seit 2013 getragen, den Raum dessen
ist es möglich, auf einen Ein- neu zu vermessen, was als ge-
trag zum Geschlecht des Kin- sellschaftlich akzeptabel gilt.
des zu verzichten. Die ärztli- Die Entscheidung des Ver-
che Praxis über Jahrzehnte: fassungsgerichts war wichtig
SARA D. DAVIS / AFP
Was nicht passt, wird grausam und richtig, ihre Folgen sind
passend gemacht – Hoden so groß, dass sie noch gar nicht
entnommen, Eierstöcke ent- abzusehen sind. Zunächst
fernt – , oft ohne dass der be- ganz praktisch: Wenn das „di-
troffene Mensch erfuhr, was vers“ geborene Kind in der
mit ihm geschah. Anerkennung der geschlechtlichen Iden- Kita vor der Frage steht: „Auf welches Klo, Chris, willst
tität, darum geht es Intersexuellen heute. du gehen?“, kann es selbst entscheiden? Können Eltern
Was für die einen ein Zuwachs an Freiheit ist, bedeutet ohne Rollenzuschreibung erziehen? Sollen sie das tun?
für andere Zumutung, Verunsicherung. „Und Gott schuf Und weit darüber hinaus: Wer bestimmt wann das Ge-
den Menschen als Mann und Frau“? Eben nicht. Wenn er schlecht eines Menschen? Wie oft im Leben kann es neu
(oder sie) etwas schuf, dann waren es mehr als die zwei festgelegt werden? Welche objektiven Kriterien zählen
Geschlechter, von denen die Bibel erzählt. Das ist sicher überhaupt? Die Karlsruher Entscheidung macht die Zu-
schwierig für manche christlich Konservativen, die schon ordnung variabler: Sie schafft mehr Freiheit. Wie weit
schwule Minister zu verkraften haben oder die Ehe für lässt sich das treiben? Wird der Mensch irgendwann ein-
alle. Und die Rechten nehmen es dankbar als Provokation. fach selbst entscheiden, ob er als weiblich, männlich, di-
Gender Studies? Kampf um sexuelle Identitäten? Das ge- vers durchs Leben geht? Und welchen Sinn macht dann
hört zu den Lieblings-Hassthemen der AfD. überhaupt noch die Kategorie Geschlecht?
Es ist kein Zufall, dass die rechte Zeitschrift „Sezession“ Das ist Neuland, neue Unsicherheit, aber es ist deutlich
für eine „Re-Polarisierung der Geschlechter“ wirbt und besser als das, was war: hilflose Eltern, die ihr Kind zu-
für die „Reconquista maskuliner Ideale“. Die Uneindeu- rechtschneiden lassen, damit es der Norm genügt. Die
tigkeit passt nicht zum binären Denken: schwarz oder Entscheidung sagt: Das Kind ist nicht falsch. Es gehört
weiß. Deutsch oder fremd. Mann oder Frau. dazu. Das ist die Wirklichkeit. Barbara Supp
Begnadete Verkäufer
Man kann zurzeit viel wortete der Facebook-Jurist betreten. Ob
darüber lesen, wie die die Unternehmensleitung versprechen kön- Der Teufel in
russische Regierung
Einfluss auf die ame-
ne, dass man besser vorbereitet sei, wenn
Anzeigen mit nordkoreanischen Won be-
Schokogestalt
rikanische Wahl ge- zahlt würden? Auch das sei nicht so ein- So gesehen Nutella hat
nommen hat. Ein fach, erklärte der Gesandte aus Kalifor- von nun an mehr Zucker
wichtiges Einfallstor nien. Normalerweise würde man jetzt viel- und wohl weniger Kakao.
für die Propaganda leicht sagen: Die Firma mauert. In dem
scheint Facebook gewesen Fall, fürchte ich, offenbart der Anwalt die Früher war der Apfel die Ver-
zu sein. 126 Millionen Nutzer sollen Texte Wahrheit: Facebook ist wirklich zu doof. suchung. Die Museen sind
erhalten haben, die der Kreml lanciert hat- Ich habe lange in Amerika gelebt. Wenn voller Belege – Holbein,
te, um Donald Trump den Weg ins Weiße die Amerikaner eines beherrschen, dann ist Cranach, Michelangelo, you
Haus zu ebnen. Ich glaube zwar nicht, dass es die Kunst des Verkaufs. Das Model S name it. Heute wäre Evas
die Stahlkocher in Pennsylvania Facebook von Tesla ist ein Auto, das als sportliche Apfel ein einwandfreies An-
brauchten, um ihr Herz für Trump zu ent- Limousine angeboten wird, aber wenn man gebot, ökobilanzmäßig so-
decken. Aber die Sache ist trotzdem ziem- es sportlich fährt, muss man schon nach 140 wieso, gut für die Zähne au-
lich peinlich für ein Unternehmen, dessen Kilometern an die Ladestation. Aus meiner ßerdem, von Vitaminen und
Vorsitzender nach der Wahl gesagt hatte, Sicht ist ein Auto, das man im Tempo eines Vitalstoffen zu schweigen.
dass es eine „irre Idee“ sei anzunehmen, Fiat Uno über die Autobahn bewegen soll- Der Zuckergehalt eines mit-
fremde Mächte könnten es für ihre Zwecke te, um nicht nach 50 Minuten liegen zu blei- telgroßen Apfels wird mit
missbrauchen. ben, das Gegenteil eines Sportwagens. Den- gut zehn Gramm beziffert,
Vergangene Woche sollte der Chefjusti- noch sind alle ganz verrückt danach. eine entsprechende Menge
ziar von Facebook vor einem Kongress- In den Zeitungen stand vor ein paar Mo- Nutella kommt auf ungefähr
ausschuss erklären, wieso man im Silicon naten die Meldung, dass der Konsumgüter- das Fünffache. Der Kakaoan-
Valley von den Aktivitäten der Russen konzern Procter & Gamble seine Zielgrup- teil kann nur geschätzt wer-
nichts mitbekommen hatte. Der Eindruck, pen-Werbung bei Facebook zurückfährt. den, da die Firma Ferrero ihr
den der Mann hinterließ, war kläglich. Ich Der Konzern habe den Glauben verloren, Rezept hütet wie die steuer-
habe ein Video des Auftritts im Internet ge- dass Facebook die Vorlieben seiner Nutzer vermeidende Fetischfabrik
sehen, man kann es leicht googeln. Der so genau kenne, wie das immer behauptet Coca-Cola das ihre.
Justiziar heißt Colin Stretch. Ich kann das werde, lautete die Begründung. Als die Nun haben die Drogenmi-
Video nur jedem zur Ansicht empfehlen, Entscheidung fiel, wussten sie bei Procter scher aus dem Land der Zitro-
der nach wie vor an die Allmacht von & Gamble noch nicht, dass Facebook sich nen und des Berlusconi die
Facebook glaubt. außerstande sieht, von der Währung auf Zusammensetzung den Be-
„Sie sagen, Sie können Milliarden von den Wohnort des Kunden zu schließen. dürfnissen ihrer Klientel wei-
Datenpunkten verknüpfen. Aber Sie sind Möglicherweise ist Facebook ja das Tesla ter angepasst – offiziell un-
nicht in der Lage zu erkennen, dass Werbe- des Internets. schuldige, kleine Menschen,
anzeigen, die in Rubel bezahlt wurden, aus aber allenthalben sind auch
Russland kamen?“, fragte einer der Sena- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Erwachsene zu beobachten,
toren. Das sei alles nicht so einfach, ant- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. die sich die schokofarbene
Paste löffelweise in den Mund
schieben. Es unterscheidet sie
von ihren Kindern nur das
Kittihawk schlechte Gewissen – insofern
ist Ferrero doch ein würdiger
Sachwalter der Erbsünde. Re-
genwald für Palmöl, Hotel-
portiönchen in Plastik, Indus-
triezucker als Einstiegsdroge
der Adipösen – das Bewusst-
sein derart schuldhafter Zu-
sammenhänge lässt sich nur
vergessen, solange die Zunge
damit beschäftigt ist, die jetzt
etwas hellere Klebmasse vom
Gaumen zu lösen. Es handelt
sich, den Angaben des steuer-
vermeidenden Konzerns zu-
folge, um winzige Verschie-
bungen.
Man muss, das wissen alle
Süchtigen, seinem Dealer ver-
trauen. Elke Schmitter
M
it dieser Weltkarte stimmt etwas ragend: China, das Reich der Mitte. Ganz Weltmacht katapultiert, wie sie der Westen
nicht. Sie hängt im Blauen Saal Asien schaut anders auf die Welt als der seit dem Führungswettlauf während des
des Außenministeriums in Peking, Westen, der es jahrhundertelang dominier- Kalten Krieges nicht mehr gesehen hat.
majestätisch groß über einem Podium mit te. Das war schon früher so, es ist nur vie- Wie einst die Sowjetunion ist China
zwei roten Fahnen. Europa liegt auf dieser len Europäern und Amerikanern nicht auf- ein repressiver, leninistisch durchregierter
Karte, ziemlich zerquetscht, am linken obe- gefallen. Je reicher und je selbstbewusster Machtstaat, der Widerspruch nicht duldet
ren Rand, darunter Afrika, das deutlich aber Asiens Großmacht China wird, desto und jeden Einzelnen brechen kann, der
besser zu erkennen ist. Amerika, in west- bedeutender wird Pekings Blick auf den sich dem Ganzen in den Weg stellt. Aber
lichen Atlanten stets auf der linken Seite, Globus. anders als damals die UdSSR ist die Volks-
liegt rechts außen, tief im Osten. Im Zen- Zwölf Tage lang reist US-Präsident Do- republik ökonomisch stark und verfügt
trum der Karte: die Leere des Pazifiks. nald Trump zurzeit durch Asien, am Mitt- über ein hochmodernes Arsenal digitaler
Gleich daneben aber, wie ein mächtiger woch landete die Air Force One auf dem Überwachungs- und Kontrollwerkzeuge.
Bauch aus der eurasischen Landmasse Pekinger Flughafen. Und anders als westliche Politiker regieren
Privatvermögen ausgewählter Länder, brutto, in Billionen Euro und produziert mehr Solar- und Windener-
gie als alle anderen.
In der Digitalisierung prescht Peking
Quellen: Allianz Global Wealth ebenfalls vor. China hat die meisten Inter-
Report 2017, Weltbank
netnutzer und Smartphone-Besitzer. Chi-
71,4 nas Softwareingenieure konkurrieren mit
22,5 15,2 den amerikanischen Konzernen auf dem
5,8 5,1
0,8 Zukunftsfeld der künstlichen Intelligenz,
manche US-Experten warnen schon vor
Sparquote in Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts 2015, 2016, jeweils letzter Stand
einem erneuten „‚Sputnik‘-Moment“. Kein
anderes Land erhebt solche Mengen an
Daten und wertet sie so hemmungslos aus.
2016 floss nach Schätzungen der Silicon
19,2 48,4 27,0 27,1 21,3 25,4 Valley Bank zum ersten Mal etwa so viel
Risikokapital nach China wie in die USA;
ein Drittel der weltweit 262 Unicorns –
Start-ups jenseits einer Milliarde Dollar
USA China Japan Deutschland Frankreich Russland Marktwert – kommen aus China.
Auch im Sport, in der Kultur und der
Pekings Führer, ohne sich von demokrati- China profitiert wie wenige andere Län- Wissenschaft verändert China die Weltkar-
schen Wahlen aufhalten zu lassen. der von der heutigen Weltordnung. Es sind te. Einige der größten europäischen Fuß-
Washington, beklagt das US-amerikani- US-Flotten, die die Seerouten sichern, über ballklubs sind heute in chinesischem Be-
sche Magazin „Foreign Policy“, leide unter die Peking seine Rohstoffe bezieht und sei- sitz. Hollywoodstudios richten sich zuneh-
einem „Aufmerksamkeitsdefizit“, wenn es ne Exporte verschifft. Es ist nicht zuletzt mend am chinesischen Kinomarkt aus, wo
um China gehe. Die Trump-Regierung las- Chinas Mitgliedschaft in der Welthandels- sie mit manchen Filmen mehr verdienen
se sich von innenpolitischen Streitereien, organisation, der das Land seinen Wachs- als in der Heimat. Und Peking investiert
dem Antiterrorkampf und Konflikten mit tumsschub verdankt. Das Risiko, diese massiv in Forschungszweige wie Gentech-
Russland, Iran und Nordkorea ablenken, Weltordnung grundlegend zu verändern, nik und Quantentechnologie.
den Volkswirtschaften Nummer 12, 29 und wäre für Peking viel zu hoch, der Nutzen Um der Herausforderung zu begegnen,
113 der Welt – während „China hart daran fraglich. China, kritisierte der damalige US- die Chinas Aufstieg für den Westen bedeu-
arbeitet, die Nummer 1 zu werden“. Präsident Barack Obama einmal, sei ein tet, ist wichtig zu verstehen, was Peking
Das gilt für den Westen insgesamt. China „Trittbrettfahrer“ der Pax Americana. Wa- erreicht hat und worauf es hinauswill. Ein
ist nicht an den nachrichtenträchtigen Krisen rum sollte es daran etwas ändern? Weckruf in fünf ausgewählten Kapiteln:
unserer Zeit beteiligt, es produziert selten China will die Welt nicht chinesisch ma- Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Tech-
Skandale, welche die westlichen Schlagzeilen chen. Anders als das katholische Weltreich nik, Kultur – und Fußball.
bestimmen. Chinas Aufstieg ist ein Langzeit- Spanien und später die kommunistische
projekt. Der kurze Atem unserer Aufmerk- Sowjetunion oder die republikanischen
samkeit, die sich tagtäglich mit den jüngsten Vereinigten Staaten kümmert die Chine- I. GEOPOLITIK
Peinlichkeiten im Weißen Haus befasst, hin- sen nicht, woran andere Völker glauben, Töte das Huhn, um die Affen
dert uns daran, die epochale Verschiebung welcher Ideologie sie folgen oder welche
wahrzunehmen, die von China ausgeht. Regierungsform sie wählen.
zu erschrecken
Spätestens 2050, so die staatliche Nach- China hat keine politische Mission, die Drei US-amerikanische Flugzeugträger
richtenagentur Xinhua, also „zwei Jahr- über seine unmittelbaren wirtschaftlichen kreuzen derzeit mit ihren Verbänden im
hunderte nach den Opiumkriegen, die das und Sicherheitsinteressen hinausginge. Pe- Westpazifik – Donald Trumps Begleitkom-
Reich der Mitte in eine Phase der Krän- king vermeidet die politische Parteinahme mando auf seiner ersten Asienreise.
kung und der Schande stürzten, wird Chi- und unterhält in fast allen großen Konflik- Auf den ersten Blick richtet sich die Flot-
na an die Spitze der Welt zurückkehren“. ten gute Beziehungen zu beiden Seiten – tenparade an Nordkoreas Diktator Kim
Sollte jemand versuchen, diesen weiteren zu Iran und Saudi-Arabien, zu Israel und Jong Un. Er soll daran erinnert werden,
Aufstieg von außen zu stören, so die „Glo- Palästina, zu Russland und der Ukraine. dass seinem Regime die Vernichtung droht,
bal Times“, werde Peking „nicht zögern, Dieses Prinzip der Nichteinmischung be- sollte er es wagen, Amerika anzugreifen.
mit strategischer Kraft zurückzuschlagen deutet aber nicht, dass China keinen Einfluss Der langfristig gewichtigere Adressat aber
oder sich, wenn nötig, auf eine entschei- nähme. Er speist sich nur aus anderen Quel- ist Peking. China will die Hegemonie der
dende Machtprobe vorzubereiten“. len als jenen, die unsere Denkmuster prägen USA im Pazifik brechen, errichtet Stütz-
Greift China wirklich nach der Weltherr- – vor allem aber aus seiner Größe: China punkte im Südchinesischen Meer und rüs-
schaft? Will Peking die Pax Americana, hat mehr als doppelt so viele Einwohner wie tet seine Marine auf – schneller und mit
die seit dem Ende des Kalten Krieges gilt, die Europäische Union (EU), mehr als vier- mehr Geld denn je, seit Xi Jinping regiert.
durch eine andere Weltordnung ersetzen, mal so viele wie die USA und rund zehnmal Im Jahr 2025, warnte US-Generalstabschef
notfalls mit militärischer Gewalt? Will die so viele wie Russland. Kraft dieser Größe Joseph Dunford den Kongress, werde Chi-
KP die „schlotternden Demokratien“ (Xin- verändert China die Welt schon heute stär- na „die größte Bedrohung für unsere Na-
hua) des Westens stürzen und den Erdball ker als jedes andere Land, von der sich zu- tion“ darstellen.
mit autoritären Regimen überziehen? rückziehenden Supermacht USA abgesehen. Nirgends manifestiert sich Chinas neues
Die Angst vor einer totalitären Welt- Wirtschaftlich steuerte China im vergan- Selbstbewusstsein aggressiver als in seiner
macht China ist nachvollziehbar angesichts genen Jahrzehnt ein Drittel zum globalen Nachbarschaft, die Peking zunehmend als
des auftrumpfenden Peking dieser Tage. Wachstum bei. Für 92 Länder der Welt, seine geopolitische Einflusszone versteht.
Doch diese Angst geht am Problem vorbei. darunter Deutschland, ist es der größte Schon lange spürt das die demokratische
Die chinesische Herausforderung ist kom- Handelspartner. China ist der größte Roh- Inselrepublik Taiwan, deren Politiker ihr
plizierter. stoffimporteur und Automarkt der Welt Land als eigenständige Nation betrachten
16 DER SPIEGEL 46 / 2017
GREG BAKER / AFP
FRED DUFOUR / AFP
Soldaten in Peking, Skyline von Shanghai: Der Aufstieg ist ein Langzeitprojekt
und nicht als Provinz der Volksrepublik. Die Staaten innerhalb der sogenannten rende geopolitische Strategie“ überhaupt.
Es spüren aber auch wirtschaftlich auf Chi- ersten Inselkette, die von Hokkaido im Nor- Es sei falsch, Peking seine großen Pläne
na angewiesene Staaten wie Kambodscha den bis Mindanao im Süden reicht, stehen vorzuwerfen: „Im Gegenteil: Die neue
und Vietnam sowie Großmächte wie In- unter Chinas Beobachtung. Peking will sich Seidenstraße zeigt, wie weitsichtig dort
dien und Russland. den Westpazifik als strategischen Vorhof si- gedacht und gehandelt wird.“
Besonders drastisch erlebte zuletzt Süd- chern – ähnlich wie einst die aufstrebenden Europa müsse Schlüsse aus Pekings Vor-
korea Chinas Machtanspruch. An Seoul USA mit der Monroe-Doktrin die Karibik machtstreben ziehen: „Das Problem ist nicht,
hat Peking ein Exempel statuiert. Die gan- samt Anrainer als ihre Einflusszone defi- dass China eine Strategie hat, sondern dass
ze Welt sollte sehen, was einer Nation wi- nierten. Im Südchinesischen Meer ist die wir keine haben!“ Es sei Zeit, dass sich der
derfährt, die Chinas Willen zuwiderhan- Gefahr am größten, dass China seine Inte- Westen auf eine gemeinsame Linie einige.
delt. Das Chinesische hat ein Sprichwort ressen eines Tages militärisch durchsetzt. Auch an Chinas umstrittenem Aufstieg
für diese Art von Diplomatie: Töte das Mit seiner ganzen ökonomischen Macht zu einem der größten Geldgeber in Afrika
Huhn, um die Affen zu erschrecken. dagegen wendet sich China Richtung Wes- entdecken Experten inzwischen Positives:
Der Anlass für Pekings Unmut: Im Früh- ten. Die „neue Seidenstraße“, Xi Jinpings In einer empirischen Studie haben der Hei-
jahr begann Südkorea, das US-Raketenab- zentrales außenpolitisches Projekt, sieht delberger Entwicklungsökonom Axel Dre-
wehrsystem Thaad zu stationieren, um sich vor, Staaten zwischen China und Europa her und internationale Experten nachge-
gegen die Bedrohung aus Nordkorea zu mit einem Netzwerk von Straßen, Eisen- wiesen, dass Peking sein Geld dort nach-
wappnen. Peking protestierte, weil das Ra- bahntrassen, Häfen und Pipelines zu über- haltig anlegt – zum eigenen und vielfach
dar sich auch dazu eignet, tief nach China ziehen, ganz wesentlich finanziert und auch zum Nutzen der Afrikaner.
hineinzuspionieren. Seoul blieb hart. errichtet von chinesischen Banken, Inge- Peking hilft mit seiner Strategie und sei-
So lernte die elftgrößte Volkswirtschaft, nieuren und Arbeitern. Die 900-Milliarden- nem Geld nicht nur bedürftigen Staaten
was passiert, wenn China seine wirtschaft- Dollar-Initiative, im Westen zunächst be- in Asien, Afrika und Osteuropa. Es erwei-
liche Macht ausspielt. Der Mischkonzern lächelt, nimmt nun Gestalt an. Von Tief- tert gezielt auch seinen Einfluss in inter-
Lotte, auf dessen Gelände Seoul Thaad seehäfen in Malaysia und Pakistan bis zu nationalen Organisationen: In der Uno
stationiert hatte, wurde mit einer „patrio- Industriezonen in Polen und Weißrussland stellt es inzwischen eines der größten Blau-
tischen“ Kampagne überzogen; Dutzende wird immer deutlicher sichtbar, wie ambi- helm-Kontingente – und unterdrückt zu-
der etwa hundert Lotte-Märkte in China tioniert Chinas Ziele sind. gleich den Widerstand gegen Menschen-
mussten schließen, weil Pekings Behörden Die neue Seidenstraße, sagt Bundes- rechtsverletzungen. In der Weltbank und
dort „unzureichenden Brandschutz“ fest- außenminister Sigmar Gabriel, sei keine im Internationalen Währungsfonds möchte
gestellt hatten. Vergangene Woche, unmit- sentimentale Erinnerung an den venezia- China seine Anteile vergrößern – damit
telbar vor Trumps Besuch, „einigten“ sich nischen China-Reisenden Marco Polo, son- aber auch seine Stimmrechte.
Peking und Seoul dann plötzlich. Südkorea dern „nach einem eventuellen Rückzug Wo es an Grenzen stößt, gründet Peking
versprach, keine weiteren Thaad-Batterien der USA aus der liberalen Welt- und Han- eigene Institutionen mit umständlichen Na-
mehr zu bestellen. delsordnung die weltweit einzige existie- men, aber erkennbarem Ziel: die „Shang-
18 DER SPIEGEL 46 / 2017
Titel
ALESSANDRO GANDOLFI / PARALLELOZERO
haier Organisation für Zusammenarbeit“, Deutsche Großstädter sind skeptisch, Und China kauft strategisch ein: Der
in die Russland und Indien eingebunden wenn es um Neubaugebiete geht. „Chine- staatliche Chemieriese ChemChina hat
sind; die „Regional Comprehensive Econo- sen hingegen sehen hier moderne Woh- den Schweizer Agrarkonzern Syngenta er-
mic Partnership“, zu der Australien und Ja- nungen, gute Infrastruktur und die zentra- worben (38 Milliarden Euro), die Midea-
pan gehören; die „Asiatische Infrastruktur- le Lage“, sagt Lin Dattner, 48. Die Men- Gruppe den deutschen Roboterhersteller
Investmentbank“, der zahlreiche Mitglied- schen in China sind daran gewöhnt, dass Kuka (4,6 Milliarden Euro), der Elektro-
staaten der EU beigetreten sind. China will aus Baustellen schnell Häuser werden. konzern Haier die Haushaltsgerätesparte
in den Weltfinanz- und Sicherheitsorgani- Lin Dattner ist in China geboren und von General Electric (5 Milliarden Euro).
sationen eigene Standards setzen. lebt seit mehr als 25 Jahren in Deutschland. Wer genau bei solchen Deals investiert,
Auf seiner letzten Peking-Reise im Sep- 2008 hat sie ein Maklerbüro gegründet, Privatunternehmen oder der Staat, ist im
tember wurde Sigmar Gabriel von Ina Lepel Anjia Immobilien & Consulting. Die Firma Geflecht von Chinas Planwirtschaft oft
begleitet, der Leiterin der neuen Asien-Ab- ist auf Chinesen spezialisiert, die in Frank- schwer zu sagen. Und obwohl Peking zu-
teilung, die das Auswärtige Amt in diesem furt am Main oder im Taunus Immobilien letzt einige Investitionen stoppte, scheinen
Jahr erst eingerichtet hat. erwerben wollen. Ein Drittel von Dattners die Mittel nach wie vor unerschöpflich.
Man könnte sagen: Es war Zeit. Wäh- Kunden braucht eine eigene Bleibe, die Mit ihrer hohen Sparquote von 48 Pro-
rend das Kanzleramt China immer als meisten aber suchen eine Kapitalanlage. zent (Deutschland: 27) haben es die Chi-
Chefsache verstand und Angela Merkel Mehr als 25 Milliarden Dollar haben Chi- nesen auch zu großem Privatvermögen ge-
insgesamt zehnmal in Peking war, firmier- nesen 2016 für Immobilien im Ausland aus- bracht. China zählt heute nach den USA
te die neue Weltmacht im Außenministe- gegeben. In Europa ging der größte Anteil die meisten Milliardäre der Welt – und die
rium bislang in der „Politischen Abteilung bislang nach London, heute verteilt sich das meisten Selfmade-Milliardärinnen: Laut
3“ – zusammen mit dem Nahen Osten, La- Geld chinesischer Investoren auch auf an- dem Magazin „Hurun Report“ belegen
teinamerika und Afrika. dere „Gateway Cities“ wie Frankfurt. Chi- Chinesinnen auf der Liste der zehn reichs-
nas Wirtschaftsaufschwung hat enorme Ver- ten Frauen, die ihr Oligarchenvermögen
mögen aufgetürmt. Das gilt ebenso für den selbst erarbeitet haben, sechs Plätze.
II. FINANZEN Staat, der mit gut drei Billionen Dollar den Insgesamt 22,5 Billionen Euro (Deutsch-
Immobilien, Flugzeuge und größten Devisenschatz der Welt besitzt. land: 5,8 Billionen, siehe Grafik Seite 16)
Es gilt aber auch für viele chinesische haben Chinas Haushalte laut einer Studie
Schweinefleisch Unternehmen, die ihren Reichtum nutzen, der Allianz angespart.
Im neuen Frankfurter Europaviertel, hinter um weltweit Firmen aufzukaufen. Laut ei- Ihre wahre Kraft entfaltet die chinesische
der Messe und dem Hauptbahnhof gele- ner Studie des Mercator Instituts für Chi- Wirtschaft in China selbst. Die Chinesen
gen, herrscht Baustellenatmosphäre. Noch nastudien (Merics) sind Chinas Auslands- kaufen die meisten Roboter der Welt, die
ragen hier mehr Kräne als Bäume und be- investitionen 2016 auf 189 Milliarden Dollar meisten Luxusartikel, das meiste Schweine-
zugsfertige Häuser in den Himmel. Es sieht angestiegen, das sind 40 Prozent mehr als fleisch, das meiste Milchpulver. Sein riesiger
ein bisschen aus wie in China. im Vorjahr, in der EU sogar 77 Prozent. Bedarf an Importgütern hat somit Abhän-
DER SPIEGEL 46 / 2017 19
Titel
CSU
Wende im Machtkampf
Markus Söder soll zur Ämtertrennung bereit sein.
In den Streit um die Nachfolge von Horst Seehofer kommt sichtsreichster Nachfolger, falls Horst Seehofer sein Amt als
Bewegung: Der bayerische Finanzminister Markus Söder sei Ministerpräsident niederlegt.
zu einer Ämtertrennung bereit, heißt es in der CSU. „Wenn Seehofer wird seit dem schlechten Abschneiden der CSU
er Ministerpräsident werden kann, verzichtet Markus zur bei der Bundestagswahl in seiner Partei stark kritisiert. Er
Not auch auf den Parteivorsitz“, sagt ein Vertrauter. Regie- will sich nach Abschluss der Sondierungsgespräche zu seiner
rungschef in Bayern sei aus CSU-Sicht ohnehin das wichtige- Zukunft äußern. Eine Trennung der Ämter wäre für Seehofer
re Amt. Auch Söders Gegner in der Parteispitze wie Wirt- vermutlich die einzige Möglichkeit, eine vollständige Macht-
schaftsministerin Ilse Aigner oder der stellvertretende Partei- übernahme Söders zu verhindern. Die beiden verbindet eine
chef Manfred Weber halten dieses Modell für denkbar. intensive Abneigung. Die Parteiführung wird Mitte Dezem-
Den beiden werden Ambitionen auf den CSU-Vorsitz nach- ber neu gewählt. In der CSU wird befürchtet, dass es zu einer
gesagt. Ein weiterer Anwärter wäre CSU-Landesgruppen- Spaltung in der Partei wie vor zehn Jahren kommen könnte.
chef Alexander Dobrindt, der wie Aigner aus dem mitglie- Damals wurde der CSU-Vorsitzende und bayerische Minister-
derstärksten Bezirk Oberbayern kommt. Söder gilt als aus- präsident Edmund Stoiber zum Rückzug gedrängt. ran
Klimaschutz lerdings würden solche Ma- britische TUI Airways die kli- here Auslastung steigern. Al-
TUI fliegt voraus schinen – wie die Boeing 787-9 maverträglichste Fluggesell- lerdings ist es aus Klimasicht
oder der Airbus A350-900 – schaft. Die deutsche Schwes- ein Manko, dass die Lufthan-
Mit modernen, sparsamen nur wenig eingesetzt, klagt ter TUIfly landet auf Platz sa weniger Sitzreihen in ihre
Flugzeugen können heute die Klimaschutzorganisation drei des Rankings. Die größte Maschinen packt, also weni-
Reisende selbst auf ungüns- Atmosfair. Derzeit gehöre deutsche Fluggesellschaft, ger Passagiere mitnimmt als
tigen Langstrecken mit nur eine von hundert Maschi- Lufthansa, liegt mit Platz 65 die Konkurrenz. Auf den hin-
weniger als 3,5 Liter Kero- nen im weltweiten Einsatz zu im Mittelfeld. Im Vergleich zu teren Plätzen liegen Emirates
sin pro Passagier und diesen hocheffizienten Flug- den Vorjahren konnte sie sich (111), Singapore Airlines (116)
100 Kilometer Flugstrecke zeugen. Nach den Berechnun- zwar durch eine Modernisie- und, als Schlusslicht, Kenya
transportiert werden. Al- gen der Organisation ist die rung der Flotte und eine hö- Airways (125). mif
24 DER SPIEGEL 46 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Presse Mandatehäufung will dem Landtag von Baden-
Geheimdienst muss Arbeitgeber Württemberg weiterhin als
Auskunft geben Meuthen Abgeordneter angehören.
Ihm werden deshalb zusätz-
Der Bundesnachrichtendienst Mit seinem geplanten Wech- lich eine steuerfreie Kosten-
(BND) muss unter bestimm- sel ins Europäische Parlament pauschale von 2169 Euro
EFREM LUKATSKY / AP
ten Umständen offenlegen, wird der AfD-Bundessprecher und ein Vorsorgebeitrag von
ob er Informationen an Jour- Jörg Meuthen künftig über 1720 Euro gewährt, hierzu
nalisten weitergegeben hat. ein großes Budget für Mitar- gibt es laut Landtag „keine
Das geht aus einer einstweili- beiter verfügen. Neben den Ausschlussregelung“. Für die
gen Anordnung des Bundes- bis zu 24 164 Euro pro Monat Dauer des Doppelmandats Asow-Demonstranten
verwaltungsgerichts hervor. für Personalausgaben als EU- ruht nur die eigentliche
Anlass ist die Klage eines Re- Parlamentarier stehen ihm da- Diät von 7776 Euro monat- Rechtsextremismus
dakteurs des Berliner „Tages- für bis zu 10 438 Euro monat- lich. Meuthen hatte bei der Neonazi-Söldner in
spiegel“, der wissen will, lich im Stuttgarter Landtag
ob Journalisten über Geheim- zu. Meuthen darf nach Aus-
Bekanntgabe seines Wechsels
finanzielle Einbußen
der Ukraine
diensterkenntnisse zum kunft der Landtagsverwal- hervorgehoben. Diese treten Das rechtsextremistische
Putschversuch in der Türkei tung auch Leistungen für aber vor allem durch den Freiwilligenbataillon Asow,
informiert wurden, bevor „EDV-Ausstattung“ und „Rei- Rückzug vom Fraktionsvor- das im Ukrainekonflikt ge-
sich BND-Chef Bruno Kahl se-/Übernachtungskosten“ in sitz ein – einem Amt, in gen prorussische Separatisten
dazu im SPIEGEL (12/2017) Anspruch nehmen. Der der- welchem Meuthen seit Lan- kämpft, bekommt verstärkt
erstmals öffentlich geäußert zeitige Fraktionschef der AfD gem umstritten ist. fri Zulauf aus Europa, auch aus
hatte. Der BND hatte sich ge- Deutschland. Kämpften 2014
weigert, die Auskunft zu noch rund 850 Söldner in der
erteilen. Kahl hatte im März Miliz, sind es heute nach An-
dem SPIEGEL erklärt, er SPD allen Ebenen der Partei stär- gaben von Sicherheitsbehör-
habe keine Anzeichen dafür, Schwesig kritisiert ker beteiligen und ihre Le- den bereits über 2500. Grund
dass die Gülen-Bewegung
hinter dem Putsch stecke. Schulz bensrealitäten besser abbil-
den“, sagt Schwesig. In einer
ist eine Rekrutierungsoffen-
sive für eine „Rückeroberung
Das Gericht entschied nun, In der SPD gibt es Unmut Überarbeitung des Leitan- Europas“, mit der das Regi-
die verlangten Auskünfte sei- über den Kurs von Parteichef trags für den nächsten Partei- ment auch unter deutschen
en keine „geheimhaltungsbe- Martin Schulz. Die stellver- tag hat die Regierungschefin Neonazis um Nachwuchs
dürftige Tatsache“. Im weite- tretende Vorsitzende Manue- von Mecklenburg-Vorpom- wirbt. So wurden im Juli auf
ren Verfahren wollen die la Schwesig wirft Schulz vor, mern an mehreren Stellen einem Rechtsrock-Festival im
Richter prüfen, ob der BND bei seinen Reformplänen die Änderungswünsche hinterlas- thüringischen Themar unter
auch offenlegen muss, was er Interessen von Frauen zu ver- sen. So fordert sie, im Willy- den Besuchern Flyer verteilt,
Journalisten vertraulich mit- nachlässigen und keine Ange- Brandt-Haus eine Stabsstelle die dazu einluden, „in die
geteilt hat. Zuvor hatte das bote für Wählerinnen zu ma- für Gleichberechtigung einzu- Reihen der Besten“ einzutre-
Berliner Verwaltungsgericht chen. „In unserem Leitantrag richten. Zudem will sie „fami- ten, um „Europa vor dem
in erster Instanz Kanzlerin findet sich bislang nichts zu lienfreundliche Sitzungszei- Aussterben“ zu bewahren. In
Angela Merkel dazu ver- dem Versprechen, dass die ten“ und „Fortbildungen zum sozialen Netzwerken tauch-
pflichtet mitzuteilen, welche SPD weiblicher werden muss. Thema Gender“. „Wenn die ten bereits Fotos deutscher
Journalisten sie 2016 zu ver- Das ist ungenügend. Wir SPD Volkspartei bleiben will, Neonazis auf, die in Kampf-
traulichen Gesprächen getrof- brauchen jetzt konkrete Maß- muss sie vielfältiger denken“, anzügen mit Asow-Symbolen
fen hat. ran nahmen, wie wir Frauen auf sagt Schwesig. vme posieren. mba, kno
CDU
Charmeoffensive für
die Basis
Noch im November will die
CDU-Spitze die Stimmung
an der Parteibasis verbessern
und die Mitglieder deutsch-
landweit in Regionalkonfe-
renzen auf die geplante
Jamaikakoalition einschwö-
ren. Wie aus einem internen
Landwirtschaft kumentieren. Um diese Taube: Produktive Landwirt- Andererseits sind die Um-
„Endlich restriktiv“ Novelle tobt ein Streit.
Warum?
schaft ist stets mit Nährstoff-
überschüssen verbunden, be-
weltbelastungen inzwischen
aber dramatisch – und die
Friedhelm Taube: Wir haben mit der sonders bei Tierhaltung. Und Auflagen etwa in Dänemark
Taube, 62, Kie- Stoffstrombilanz erstmals ei- da der Fleischkonsum hierzu- oder den Niederlanden
ler Agrarexperte nen rechtlichen Rahmen da- lande konstant hoch ist, kann deutlich strenger als bei uns.
und Mitglied für, dass Nährstoffflüsse wie man die Bauernverbände ver- Auch wir brauchen daher
des Wissen- Dünger und Futtermittel in stehen, die befürchten, dass endlich restriktive Regeln,
schaftlichen Bei- den Betrieb hinein und auch die Tierhaltung bei mehr Auf- um unsere Gewässer nicht ir-
rats des Bun- aus ihm heraus dokumentiert lagen ins Ausland abwandert. reversibel zu schädigen. ab
deslandwirtschaftsministeri- werden. Damit zeigt sich das
ums, über den Streit um stren- tatsächliche Ausmaß der
gere Düngeregeln Umweltbelastung. Die Werte
des überschüssigen Stick-
SPIEGEL: Deutschland hat auf stoffs sind teilweise doppelt
die Klage der EU wegen der so hoch wie zuvor geschätzt.
Verletzung der Nitratricht- Der Streit geht um die Be-
linie mit einer neuen Dünge- wertung dieser Überschüsse:
verordnung reagiert. Wird Wie viel ist noch „gute fach-
durch die seit Juni geltende liche Praxis“? Und da stellen
Regelung das Grundwasser sich einige Bundesländer auf
ausreichend geschützt? die Seite der Wasser- und
Taube: Leider nein. Die be- Umweltverbände, die deut-
schlossenen Regeln lassen zu lich strengere Limits fordern
viele Schlupflöcher. als der Bauernverband –
PATRICK PLEUL / DPA
A
m Montag trafen sich die Spitzen des Bundestagspräsidenten weggelobt hat- zu der eine FDP gehört, die sich gerade
von Union, Grünen und FDP auf te, verstand nicht nur Lindner so, wie es erst aus der Gruft erhoben hat und nun
Einladung Angela Merkels im auch gemeint war: als Geste an die FDP. mit Schrecken feststellt, dass sie aus der
Kanzleramt. Eigentlich hatte die CDU- Dafür versuchte Merkel, den Grünen Apo direkt auf die Regierungsbank wech-
Chefin ihre Kollegen zu sich gebeten, um das Außenministerium schmackhaft zu ma- seln muss.
in aller Ruhe einige inhaltliche Streitpunk- chen. Cem Özdemir und Katrin Göring- Der Porschefahrer Lindner könnte dort
te aus dem Weg zu räumen. Aber bald war Eckardt zeigten sich wenig begeistert, das mit dem Grünen Anton Hofreiter sitzen,
die Runde es leid, so zähe Themen wie Außenministerium habe ja über die Jahre der Verbrennungsmotoren lieber heute als
den Europäischen Stabilitätsmechanismus immer mehr Kompetenzen verloren, erwi- morgen verbieten würde. Geführt wird das
durchzukauen. derten die beiden. Sie würden eher das Bündnis von einer Kanzlerin, die bisher
„Stellen Sie sich mal vor, Kubicki zieht Umweltministerium beanspruchen und noch jeden Partner geschrumpft hat. Als
ins Finanzministerium ein“, sagte FDP- dazu ein Ressort mit wirtschaftlichem Ge- mahnendes Beispiel dient CSU-Chef See-
Chef Christian Lindner zu Merkel und deu- wicht. Am Schluss meldete sich CSU-Chef hofer, für den die Sondierungsgespräche
tete auf seinen Vize. Eigentlich mag es Mer- Horst Seehofer zu Wort und scherzte: „Wir nach dem desaströsen Abschneiden der
kel nicht, schon vor dem Abschluss von nehmen dann alles, was von euch nicht CSU nur eine Art Gnadenfrist darstellen.
Koalitionsgesprächen über Posten zu reden, besetzt werden will.“ Kann das gut gehen?
aber eine Spielverderberin wollte sie auch Dass Union, Grüne und FDP schon über Die Wege von Koalitionen sind mitunter
nicht sein, also sagte sie: „Sie tun ja so, als die Verteilung von Ministerien reden, ist unergründlich. Als die ausgelaugte SPD
hätten wir das Finanzministerium bereits ein deutlicher Hinweis darauf, dass im Jahr 2005 bei Merkels Union andockte,
preisgegeben.“ Das wiederum fanden eini- Deutschland bald von einer Jamaikaregie- kam eine solide Regierung dabei heraus,
ge in der Runde amüsant. Denn die Tatsa- rung geführt werden könnte. Die Republik, die die Rente mit 67 wagte und die Finanz-
che, dass Merkel ihren langjährigen Finanz- danach sieht es im Moment aus, bekommt krise gemeinsam meisterte. Als die FDP
minister Wolfgang Schäuble auf den Posten ein unmögliches Bündnis: eine Koalition, im Jahr 2009 nach elf Jahren Opposition
MAURIZIO GAMBARINI / PICTURE ALLIANCE
wieder in ihrem Wunschbündnis mit der das Land zu regieren. Eigentlich wäre es Die Strategie ging auf: Auch die FDP
Union gelandet war, wurde aus Euphorie Angela Merkels Aufgabe gewesen, dem neu- schaltete im Lauf der Woche notgedrungen
schnell Größenwahn. Am Ende flog die en Bündnis eine Idee einzuhauchen. Aber von Angriff auf Abrüstung um. Nachdem
FDP aus dem Bundestag. sie wirkte bei den Verhandlungen so lustlos, Özdemir öffentlich die grüne Forderung
Deutschland hat in den vergangenen als sei sie selbst nicht ganz sicher, ob sie nach einem Aus für den Verbrennungsmo-
Wochen einen merkwürdigen Rollen- sich weitere vier Jahre den Mühen einer tor bis zum Jahr 2030 aufgegeben hatte,
tausch erlebt. Die Grünen, die einst ange- Kanzlerschaft unterziehen will. Erst als am rückte FDP-Chef Lindner von der Forde-
treten waren, das System das Fürchten zu vergangenen Wochenende das Wort Neu- rung seiner Partei für eine große Steuer-
lehren, wurden in den Verhandlungen zur wahlen durchs Regierungsviertel waberte, entlastung ab.
staatstragenden Partei. Die Liberalen hin- kamen die Verhandler zur Besinnung. Zähneknirschend stellt man in der FDP-
gegen, deren Lebenselixier über Jahrzehn- Den Beginn machten die Grünen. Am Spitze fest, dass man auch ein Opfer von
te das Regieren war, schreckten vor der Sonntag trafen sich 14 Spitzenleute zu ei- Merkels Verhandlungsführung ist. Diese
Verantwortung zurück, ganz so, als seien ner Klausur in einem umgebauten Stadt- habe im Wesentlichen darin bestanden, die
sie plötzlich zu der Erkenntnis gelangt, bad im Prenzlauer Berg. Sechs Stunden drei kleinen Parteien aufeinanderzujagen
dass Macht etwas Schmutziges ist. saßen die Verhandler zusammen und gin- und sich streiten zu lassen, um sich an-
Nun, vor dem Ende der Sondierungs- gen die Themen für die zweite Sondie- schließend in ihrer Paraderolle als große
gespräche am kommenden Freitag, gibt sich rungsphase durch. Am Ende stand eine Vermittlerin zu inszenieren, wie es ein
Lindner plötzlich kompromissbereit. „Wir ganz neue Verhandlungsstrategie. FDP-Präside beschreibt. Als sie Anfang
stünden für eine Koalition bereit, die Still- „Wir hatten den Eindruck, dass einer an- der Woche das Gerede um Neuwahlen kri-
stand und politische Lebenslügen überwin- fangen muss“, sagt Göring-Eckardt. Aus- tisierte, hatte Merkel vor allem den FDP-
det“, sagt er im SPIEGEL-Gespräch (siehe gerechnet in grünen Kernanliegen, bei Chef im Visier. „Fast hatte man den Ein-
Seite 32). Es soll am Ende nicht heißen, dass Benzin- und Dieselmotoren und beim Koh- druck, dass die CDU-Vorsitzende die Ver-
er die Schuld dafür trägt, dass die Deut- leausstieg, einigte man sich auf Kompro- handlungen bewusst treiben lässt, ohne
schen erneut an die Wahlurne gehen müs- missangebote. Hofreiter, Vertreter des Position zu beziehen“, sagt der stellvertre-
sen. Die Angst vor der AfD, die dabei wohl linken Flügels und eigentlich glühender tende FDP-Fraktionsvorsitzende Michael
am meisten profitieren würde, ist noch grö- Verfechter der Idee, ab 2030 keine Autos Theurer. „Dadurch rückte der Streit in den
ßer als die Angst vorm Regieren. Die Frage mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen, Vordergrund.“
allerdings ist, ob die Furcht vor Neuwahlen schlug den Kurswechsel vor. Es gab eine
Z
eine Klammer ist, die ein Regierungsbünd- kurze Diskussion. Einige fürchteten den u jeder Verhandlung gehört auch
nis vier Jahre lang zusammenhalten kann. Vorwurf, die Grünen würden ihre Prinzi- das Drama, die Parteimitglieder wol-
Deutschland hat drei unerfreuliche Wo- pien verraten. Aber man war sich rasch ei- len sehen, dass den Oberen der
chen erlebt, in denen es manchmal so schien, nig: Es sei besser, selbst Kompromisse an- Schweiß der Anstrengung auf der Stirn
als sei es für CSU und FDP eher eine Last, zubieten, als von FDP und Union dazu ge- steht. Das gehört zum Ritual. Aber zwi-
den Auftrag des Wählers anzunehmen und zwungen zu werden. schen Union, Grünen und FDP lag zu Be-
MAURIZIO GAMBARINI / DPA
ginn mehr als der übliche Argwohn. Vor plötzlich verschwunden. Özdemir erklärte dürfen sie sich der Union nicht an den Hals
allem die FDP war nicht angetan von der sich bereit, die Liste über Nacht aus seinen werfen, schließlich muss das Ergebnis der
Idee, in eine Regierung einzutreten. Von Notizen wiederherzustellen. Als Lindner Sondierungen in zwei Wochen vor einem
den 80 FDP-Abgeordneten sind die meis- sie am nächsten Tag erhielt, traute er sei- Parteitag Bestand haben. Der soll dann
ten politische Novizen, weshalb Lindner nen Augen nicht: Aus dem Konsenspapier die Aufnahme von Koalitionsverhandlun-
fürchtete, in einer Jamaikakoalition zer- war ein grünes Papier geworden. Die Uni- gen beschließen.
rieben zu werden. onsparteien fühlten sich ebenfalls über- Entsprechend riskant waren die Zuge-
Dazu kommt das Trauma des Jahres rumpelt. Es brauchte stundenlange Ver- ständnisse der vergangenen Woche. In so-
2009. Damals stürzten sich die Liberalen handlungen, bis FDP, CDU und CSU ihre zialen Netzwerken hieß es, die Grünen sei-
unter Guido Westerwelle in ein Bündnis Forderungen wieder berücksichtigt sahen. en „eingeknickt“, in der Parteizentrale lie-
mit der Union, griffen nach fünf Minister- Auch die Grünen werden von den Schat- fen Beschwerde-Mails ein. Schließlich sah
posten und versäumten es, im Koalitions- ten der Vergangenheit verfolgt. Sie schlep- sich Geschäftsführer Michael Kellner zu
vertrag ihre wichtigsten Ziele zu veran- pen den Vorwurf mit sich herum, durch einer ungewöhnlichen Maßnahme genö-
kern. „Von den Fehlern, die wir damals ge- ideologische Verbohrtheit 2013 eine tigt. Am Dienstagmittag verschickte er
macht haben, sollte die FDP sich die ge- schwarz-grüne Koalition verhindert zu ha- eine Rundmail an Parteimitglieder, Betreff:
samte Legislaturperiode über nicht mehr ben. Das grüne Trauma wirkt umgekehrt „Sprachregelung Kohleausstieg und Ver-
erholen“, schreibt Parteichef Lindner in wie das liberale. Gerade weil Schwarz- kehrswende“. Die Grünen „müssen zur
seinem kürzlich erschienenen Buch „Schat- Grün vor vier Jahren nicht zustande kam, Kenntnis nehmen“, dass sie das Enddatum
tenjahre“. setzt die Führung der Ökopartei alles da- für den Verbrennungsmotor nicht als ein-
Entsprechend hartleibig trat Lindner zu- ran, dass es dieses Mal klappt. „Die Grü- zige Partei durchsetzen könnten, schrieb
nächst in den Sondierungen auf. Schon nen treten demonstrativ staatstragend Kellner. Das sei nur „realistisch“.
beim ersten Treffen mit CDU und CSU auf“, sagt ein Verhandler der Union. Während über die Inhalte noch heftig
am 18. Oktober übermittelten die Libera- Als Hauptverantwortlicher für das Schei- gestritten wird, sind die Posten am Kabi-
len der Unionsführung einen Katalog mit tern von 2013 gilt in der Union der Partei- nettstisch schon so gut wie vergeben. Gö-
gut 50 Fragen. Lindner wollte wissen, wie linke Jürgen Trittin. Nun ist aus allen Par- ring-Eckardt und Özdemir, die beiden Spit-
sich bestimmte Entscheidungen der Gro- teien zu hören, dass Trittin in den Sondie- zenkandidaten, gelten als gesetzt. Der lin-
ßen Koalition auf die kommende Legisla- rungen besonders konstruktiv auftrete. ke Flügel hat sich auf Hofreiter als Minister
turperiode auswirken und ob sie auch zu- Schon in der ersten Sondierungsrunde zum verständigt, er hat den ersten Zugriff. Seit
rückgenommen werden können. Thema Finanzen, das Trittin für die Grü- Sonntag zeichnet sich auch ab, auf welche
Lindner achtet in den Sondierungen pe- nen koordiniert, räumte er die grüne For- Ministerien es die Grünen abgesehen ha-
nibel darauf, die Kontrolle zu behalten. derung nach einer Vermögensteuer ab. ben. Bei der Klausur verständigte man sich
Vor allem gegenüber den Grünen hegt er Auch beim Abbau des Solidarzuschlags darauf, dass die Grünen das Umweltressort
Misstrauen. In dieser Woche wurde das bot er Kompromisse an. In einer Sitzung einfordern werden und dazu entweder das
durch eine Computerpanne befördert, die der Arbeitsgruppe Finanzen wandte sich
Göring-Eckardt widerfuhr. Die Grünen- Trittin suffisant lächelnd an Jens Spahn, 86
politikerin protokollierte am Montagabend den Rechtsaußen der Union. Nun müsse
in der Spitzenrunde der vier Parteien, auf er aber Spahn zur Seite springen, sagte
welche Schwerpunkte man sich in der letz- Trittin: „Es muss wirklich aufs Geld geach-
ten Phase der Sondierungen konzentrieren tet werden.“
wolle. Als Lindner Göring-Eckardt bat, die Der konziliante Kurs ist für die Grünen
Liste herumzuschicken, war die Datei eine Gratwanderung. Allzu offensichtlich
65
58
Regierungsbildung
Vom Wahltag bis zur Vereidigung 47
46 47 Stand:
des Kabinetts, in Tagen 10. Nov.
44 44
Q Koalitionsverhandlungen
37 37
32 32 31
30 30
26
24 24
1949
Regierungskoalition
1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976* 1980 1983 1987 1990/ 91 1994 1998 2002 2005 2009 2013
? 2017
*Wegen des frühzeitigen Wahltermins – mehr als zwei Monate vor Ablauf der Wahlperiode ist die Berechnungsmethode nicht anwendbar. Quelle: Datenhandbuch Deutscher Bundestag
D
ohne Polemik, wie Politiker von FDP und eutschland hatte immer dann get, mit dem es Not leidenden Regionen
CDU fanden, fühlte sich CSU-Landesgrup- Glück, wenn Regierungsbündnisse und Ländern helfen kann. Aber das geht
penchef Alexander Dobrindt schon provo- auch den Zeitgeist widerspiegelten. auch ohne die Möglichkeit, gemeinsam
ziert. Ob die Grünen aus der Wahl über- 1969 war das der Fall, als die sozialliberale Schulden aufzunehmen. Schon jetzt zeich-
haupt nichts gelernt hätten, schnauzte er Koalition erstmals einen Sozialdemokra- net sich ab, dass das Jamaikabündnis mehr
Roth an: „Wir werden keiner Koalition zu- ten ins Kanzleramt wählte. Die rot-grüne Geld nach Brüssel überweisen wird. Das
stimmen, die nicht zur Begrenzung der Regierung im Jahr 1998 vertrieb den Mief ist richtig.
Flüchtlingsfrage führt.“ der Kohl-Jahre, sie ermöglichte gleichge- Bei etwas gutem Willen also sollte es
Die Stimmung drohte zu kippen. „Es schlechtliche Partnerschaften und läutete möglich sein, Kompromisse zu schließen.
macht keinen Sinn, jetzt weiter zu reden“, das Ende des Atomzeitalters ein. Das setzt allerdings voraus, dass sich alle
sagte Merkel. „Wir sollten uns zunächst Im Moment sieht es so aus, als sei der Beteiligten vertrauen, vor allem die Politi-
untereinander beraten.“ Bei dem Treffen Kitt von Jamaika die Alternativlosigkeit. ker von FDP und Grünen. Lindner und
der Unionsverhandler schlug sie ein Tref- Die SPD ist zu schwach, um noch einmal Göring-Eckardt jedenfalls haben einen ers-
fen der Parteichefs vor, um die Situation in eine Große Koalition einzutreten. ten Schritt gemacht. Noch im Wahlkampf
zu entspannen. Dem stimmten FDP und Wenn sich Union, Grüne und FDP nicht hatte der FDP-Chef die grüne Spitzenkan-
Grüne schließlich zu. zusammenraufen, dann führt kein Weg an didatin als Moralapostel verspottet. Vor
Für Merkel ist die CSU inzwischen der Neuwahlen vorbei. Das will niemand. ein paar Tagen bot Göring-Eckardt dem
schwierigste Partner, das weiß die Kanzle- Aber reicht das, um ein Bündnis zu be- fast 13 Jahre jüngeren Lindner, als Zeichen
rin spätestens seit Donnerstag der vergan- gründen? tätiger Milde, das Du an. Der Christian
genen Woche. Führende Politiker von Es gäbe genug Aufgaben, die sich Jamai- nahm die Offerte gern an.
CDU und CSU hatten sich in der Bayeri- ka stellen könnte. Europa ist zerstritten Christiane Hoffmann, Ann-Katrin Müller,
schen Landesvertretung getroffen, um eine wie nie, und gleichzeitig macht Frank- Peter Müller, René Pfister, Ralf Neukirch,
Bundesratssitzung vorzubereiten. Thomas reichs Präsident Emmanuel Macron Christoph Schult, Gerald Traufetter
und Grünen zuletzt den Eindruck, die FDP konstellation ist dieses Vorhaben nicht rea- lichen Strukturwandels gesehen. Wieso
und insbesondere Sie wollten gar keine lisierbar. Deshalb konzentrieren wir uns positionieren sich die Liberalen plötzlich
Jamaikaregierung. auf die Abschaffung des Solidaritätszu- als Kohlepartei?
Lindner: Ob man eine solche Regierung schlags. Das muss in den nächsten vier Jah- Lindner: Nicht die FDP hat sich gegen das
wollen kann, werden wir auch erst am ren abgeschlossen werden. Wort vom Kohleausstieg in den Sondie-
Ende der Gespräche wissen. Wir stünden SPIEGEL: Wenn Sie den Soli abschaffen, pro- rungspapieren verwahrt, sondern die Bun-
für eine Koalition bereit, die Stillstand fitieren davon vor allem die oberen Ein- deskanzlerin. Die FDP hat in den Neunzi-
und politische Lebenslügen überwindet, kommensschichten. Hatte die FDP im gern als erste Partei den Ausstieg aus den
um das Land nach vorn zu bringen. Nie- Wahlkampf nicht angekündigt, vor allem wirtschaftlich unsinnigen Steinkohlesub-
mand darf die Augen davor verschließen, Klein- und Mittelverdiener entlasten zu ventionen gefordert – und auf den Weg
dass wir mit der AfD einen neuen Faktor wollen? gebracht.
haben. Eine künftige Regierung muss Ant- Lindner: Ja, eine Entlastung der Familien SPIEGEL: Sie schließen einen Ausstieg aus
worten geben auf die drängenden Fragen und vom Altenpfleger bis zur Ingenieurin der Kohle nicht aus?
der verantwortungsbewussten, ungeduldig ist weiter unser Ziel. Dazu wäre eine Steu- Lindner: Das war und ist nur eine Frage
gewordenen Mitte des Landes – und da erreform nötig, für die man die Zustim- der Zeit. Die Grünen wollen, dass
könnte in der ungewöhnlichen Konstella- mung der SPD im Bundesrat benötigt. Da Deutschland anders als Frankreich zeit-
tion der vier Parteien vielleicht eine Chance stünden wir am Ende mit leeren Händen gleich aus der Kern- und der Kohleenergie
liegen. da. Deshalb schlagen wir vor, mit dem Soli aussteigt. Das ist nicht nur eine politische,
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf? zu beginnen. Wir erinnern an unser Modell das ist vor allem eine physikalische He-
Lindner: Die CSU steht Mitte-rechts, die von 2015, ihn im ersten Jahr für Einkom- rausforderung.
Grünen stehen links, die FDP sieht sich men bis 50 000 Euro entfallen zu lassen, SPIEGEL: Deutschland hat sich aber ver-
im Zentrum. In der Flüchtlingsfrage ver- im zweiten Jahr und noch vor der nächsten pflichtet, den Ausstoß klimaschädlicher
handeln wir damit stellvertretend für die Wahl dann komplett. Sobald der Bundes- Treibhausgase in den nächsten Jahren mas-
Konfliktlinien im Land. Der Konsens könn- tag die Abschaffung des Soli beschlossen siv zurückzufahren. Welche Vorschläge hat
te sein: Wir helfen Menschen während der hat, könnte man danach ein zweites Ge- die FDP, wie das zu schaffen ist?
Zeit der Not, aber wir erkennen zugleich, Lindner: Verbote, Quoten und Subventio-
dass Deutschland dabei an die Grenzen nen sind altes Denken. Die Kosten, um
seiner Möglichkeiten gestoßen ist. Es „Eine Elf-Prozent-Partei CO2 zu vermeiden, gehören bei uns zu
braucht ein Einwanderungsgesetz mit kla- den höchsten der Welt. Wir schlagen ein
ren Regeln, das unser Land aber nicht ab- kann nicht den Weg neues Denken vor. CO2 braucht überall
schottet. Wer vor der Schaffung dieses neu- Deutschlands und auch einen Preis, damit wir die Innovationsma-
en Regelwerks dafür sorgen will, dass im schine des Marktes anwerfen, neue Tech-
Wege des Familiennachzugs womöglich
nicht der EU diktieren.“ nologien zur Energiespeicherung und Be-
Zehntausende weitere Einwanderer nach reiche wie das Heizen ins Spiel bringen.
Deutschland kommen, gefährdet die Ak- setzgebungsverfahren für eine Steuerre- Automatisch, effizient und sozial verträg-
zeptanz einer Regierung, noch bevor sie form prüfen, die die Entlastung unter dem lich wird die Kohle dann zurückgehen. Au-
im Amt ist. Strich in der Mitte der Gesellschaft kon- ßerdem wollen wir den Blick dahingehend
SPIEGEL: Bisher war in den Sondierungsge- zentriert. weiten, dass wir mit unseren Mitteln im
sprächen von Konsens weniger die Rede. SPIEGEL: Das wird bei Ihrer Klientel aber Ausland zu günstigeren Preisen mehr CO2
Uns schien es eher, als wollten sich die Be- nicht nur Begeisterung auslösen. Schon in einsparen können als bei uns.
teiligten am Umgangston der schwarz-gel- den vergangenen Wochen war das Wort SPIEGEL: Das andere Thema, bei dem die
ben Koalition der Jahre 2009 bis 2013 ori- „Umfaller“ zu hören, als von solchen Ideen Jamaikaparteien weit auseinanderliegen,
entieren, als man sich wechselseitig als die Rede war. ist Europa. Teile der Union und die Grü-
„Gurkentruppe“ oder „Wildsäue“ be- Lindner: Häufiger habe ich gehört, die FDP nen haben die Pläne des französischen Prä-
schimpfte. sei zu kompromisslos. Wir bemühen uns sidenten Emmanuel Macron für ein eige-
Lindner: Die Lehre ist, dass man Konflikte jedenfalls um die breite Akzeptanz unserer nes Budget der Eurozone begrüßt, die FDP
besser vor der Bildung einer Koalition aus- Finanzpolitik. Genauso sollten die Grünen ist dagegen. Am Mittwoch haben Sie in
trägt als danach. Es geht uns um eine Poli- nicht einfach sagen: „Weg mit der Kohle“, Berlin mit Macrons Wirtschafts- und Fi-
tik, die auf Klugheit, Ausgewogenheit und egal was das für Strompreise und Arbeits- nanzminister Bruno Le Maire gesprochen.
Verhältnismäßigkeit basiert und dazu bei- plätze bedeutet. Was haben Sie ihm gesagt?
trägt, die politische Tonalität in Deutsch- SPIEGEL: Für die Grünen ist der schrittweise Lindner: Die Freien Demokraten haben ein
land zu beruhigen. Da wird keiner Maxi- Abschied von der Kohle aber unverzicht- hohes Interesse, dass es Macron gelingt,
malpositionen durchsetzen. Es wäre nicht bar, weil anders die Klimaziele für das Jahr Frankreich erfolgreich zu erneuern. Wir
wünschenswert, wenn eine Jamaikakoali- 2020 nicht zu erfüllen sind. Sind Sie bereit, unterstützen seine Pläne für eine europäi-
tion als Kombination einer als quasireligiös Ihrem künftigen Koalitionspartner in die- sche Verteidigungsgemeinschaft, für den
empfundenen Klimawende, der Verwal- sem Punkt entgegenzukommen? Schutz der EU-Außengrenzen und für eine
tung des sozialdemokratischen Status quo Lindner: Realisten müssen erkennen, dass bessere Zusammenarbeit bei der Terroris-
und einer Entlastung von Einkommensmil- man Versäumnisse früherer Regierungen musbekämpfung. Ein Budget für die Eu-
lionären denunziert würde. wie den schleppenden Netzausbau nicht rozone, das am Ende nicht Investitionen
SPIEGEL: Anfang der Woche haben die Grü- ad hoc vollständig korrigieren kann, ohne finanziert, sondern Konsumausgaben zu-
nen in wichtigen Streitfragen erste Kom- soziale Verwerfungen zu riskieren. Davor lasten nötiger Reformen, ist für uns ausge-
promisssignale ausgesendet. Wie werden hat das SPD-geführte Wirtschaftsministe- schlossen. Ich werte dieses Vorhaben al-
Sie reagieren? rium gerade gewarnt. Deshalb gibt es diese lerdings nicht mehr als konkreten Vor-
Lindner: Wir haben längst reagiert. Der Diskussion. Entscheidend für das Pariser schlag aus Paris, sondern eher als einen
Wirtschaftsflügel der Union und die FDP Abkommen ist ohnehin 2030. Denkanstoß. Wir teilen indessen die Ziel-
wollten steuerliche Entlastungen von 30 SPIEGEL: Die FDP hat sich früher eher als setzung, in ganz Europa mehr Investitio-
bis 40 Milliarden Euro. In einer Jamaika- Förderer eines unvermeidlichen wirtschaft- nen in neue Technologien anzuregen. Wir
DER SPIEGEL 46 / 2017 33
IN DER SPIEGEL-APP
Deutschland
Alter Schwede
Soziales Die angehenden Jamaikakoalitionäre wollen den Renteneintritt flexibler machen und
starre Altersgrenzen aufbrechen – eine überfällige Reform. Vorbild dafür ist Skandinavien.
D
er Feierabend kommt früh. In Som- Kommission beraten werden. Doch in Sa- Über Jahrzehnte galt es als fair, eine ein-
mernächten währt die Dunkelheit chen Altersgrenze gibt es Hoffnung: Aus- heitliche Altersgrenze für alle in das Ge-
nur kurz. Und in der Landesspra- gerechnet in der Sozialpolitik, rituell ein setz zu schreiben. Heute liegt sie bei 65
che heißt die staatliche Sozialversicherung Schauplatz ideologischer Kulturkämpfe, Jahren und sechs Monaten, eine Hürde mit
„Försäkringskassan“. Es gibt Dinge, an die könnte sich Jamaika am Ende als Innova- nachhaltiger Wirkung: Erstens enden die
sich deutsche Arbeitnehmer beim Umzug tionstreiber beweisen. meisten Arbeitsverträge automatisch mit
nach Schweden schnell gewöhnen. Ökonomen fordern seit Jahren, die star- diesem Tag. Zweitens bestimmt das Datum
Um angehenden Auswanderern die nor- re Altersmarke aufzuweichen. „Man sollte die Höhe der Rente. Wer vor dem Stichtag
dische Arbeitswelt näherzubringen, hat jedem Arbeitnehmer mehr Autonomie ge- in den Ruhestand wechselt, muss in der
die Deutsche Rentenversiche- Regel ein Rentnerleben lang mit
rung eine Broschüre herausge- Abschlägen kämpfen. Es geht
geben. Der Kulturschock ver- Ruhestand um Geld, um viel Geld sogar
steckt sich auf Seite zehn: Hier Tatsächliches Renteneintrittsalter für Otto Normalarbeitnehmer.
erfährt der Leser, dass es in in ausgewählten Ländern So kommt es, dass jede De-
Schweden kein festes Renten- Quelle: OECD Europas, 2014 batte über ein pauschales Rauf
alter mehr gibt. Einfach abge- oder Runter des gesetzlichen
schafft, vor Jahren schon. „Eine Rentenalters zu Eruptionen
Altersrente können Frauen und Q Frauen Q Männer führt. Dass mit Franz Müntefe-
Männer flexibel zwischen 61 ring ausgerechnet ein sozialde-
und 67 Jahren erhalten“, steht mokratischer Arbeitsminister
in dem Heftchen zu lesen. Un- die Rente mit 67 auf den Weg
geheuerlicher noch, in Fett- brachte, haben viele Gewerk-
druck: Die Beschäftigung brau- schafter der SPD bis heute nicht
che man nicht aufzugeben, man verziehen. Dass die Große Ko-
könne einfach weiterarbeiten. alition als Wiedergutmachung
Und im Zweifel lasse sich der die Rente mit 63 für langjährig
Rentenbezug „auch ganz hi- 66 Versicherte einführte, brachte
nausschieben“. Schweden umgekehrt die Arbeitgeber zur
Lesern in Deutschland muss Weißglut. Inzwischen wächst
65
man so etwas schonend beibrin- Groß- die Erkenntnis, dass es auch
gen. Politikern übrigens auch. britannien politisch klug sein könnte, pau-
Die kleine Broschüre ist in Ber- 64 schale Vorgaben für alle durch
lin eine viel gelesene Lektüre, Nieder- individuelle Lösungen für jeden
das gilt vor allem für die Mit- lande zu ersetzen. Gerade die Kanz-
glieder der angehenden Jamai- Deutschland 63 lerin soll bei den ersten Sondie-
kakoalition. Schweden gilt als Polen rungen eifrig genickt haben, als
Vorzeigeland in der Renten- 62 es um flexiblere Altersgrenzen
politik, als Vorbild für eine mu- Italien ging.
tige Reform, mit der inzwischen Unterschiedliche Biografien
auch Sondierer liebäugeln. Ent- 61 verlangen unterschiedliche Lö-
decke die Möglichkeiten, auch Frank- sungen. Auch viele Beschäftigte
für die Rente. reich sehen das inzwischen so.
60
Es ist eine vage Formulierung, Für Eberhard Waibler zum
eine luftige Festlegung. Aber Beispiel kam die Rente mit 65
tatsächlich haben sich die Un- 59 nicht infrage. Der Physiker hat
terhändler von Union, FDP und seinen 66. Geburtstag längst hin-
Grünen vorgenommen, das ver- ter sich und fährt noch immer
krustete Sozialrecht an einer Stelle aufzu- ben, selbst zu entscheiden, wann er in Ren- an zwei Tagen in der Woche ins Bosch-
brechen: Käme es zu einer Jamaikakoali- te geht“, sagt etwa DIW-Präsident Marcel Werk in Stuttgart-Feuerbach. „Arbeiten
tion, stünden „ein flexibler Renteneintritt Fratzscher. bedeutet für mich, jeden Tag etwas Neues
und gleitende Übergänge von Erwerbstä- Klug gemacht, könnte ein solcher Schritt zu lernen“, sagt Waibler. Auf diesen Kick
tigkeit in den Ruhestand“ ganz oben auf helfen, die Rentenkasse zu füllen und den möchte er nicht verzichten, auch jetzt
ihrer To-do-Liste. So haben es die Partei- befürchteten Fachkräftemangel zu lindern. nicht, da man ihn in der Statistik zu den
experten bei ihrem ersten Sondierungstref- Er könnte jene Menschen, die es wollen, „Alten“ zählt.
fen in der vergangenen Woche notiert. Der länger im Erwerbsleben halten, und jene, Für Talih Ince war die Rente mit 65
Weg dahin ist offen, ob die Idee tatsächlich die in belasteten Berufen schuften, würdi- ebenfalls keine Option. In seinem früheren
umgesetzt wird, bleibt unklar, schon am ger in den Ruhestand begleiten. Was indi- Leben hat der 59-Jährige als Maurer gear-
Donnerstag gab es wieder Streit über die vidualistisch anmutet, ist in Wahrheit ein beitet, 39 Jahre verbrachte er auf dem Bau.
Rentenpolitik. Das Thema soll nun in einer großes Gerechtigkeitsprojekt. Doch die Knie spielen nicht mehr mit, sehr
D
as Recht schafft Realität, und das schlechteridentität nicht eindeutig festzu- muss bei Personen dritten Geschlechts –
Recht spiegelt Realität, das ist der legen ist. oder ob diese dann einfach wegfallen kann.
ambivalente Doppelcharakter die- Der Karlsruher Beschluss deckt sich mit Die biologischen Grundlagen der Ge-
ser gesellschaftlichen Institution. Gerichte den Empfehlungen des Ethikrats, die das richtsentscheidung sind dabei noch kom-
wiederum schaffen Klarheit oder regeln Gremium bereits 2012 im Auftrag der da- plexer. Ob im Mutterleib eine Tochter oder
Unklarheit, das hat das Bundesverfassungs- maligen Bundesregierung erarbeitet hat. ein Sohn heranwächst, bestimmt ein fein
gericht gerade im Fall der Intersexualität „Die Stellungnahme war in eine umfang- orchestriertes Zusammenspiel aus Chromo-
gezeigt. reiche Recherche eingebettet“, sagt der somen, Genen und Hormonen. Und längst
Es gibt, so stellte das Karlsruher Gericht heutige Vorsitzende Peter Dabrock, Pro- nicht immer ist dessen Ergebnis das, was
nun in einem gesellschaftspolitisch weg- fessor für Systematische Theologie an der Medizin und Gesellschaft lange als binäre
weisenden Beschluss fest, ein drittes Ge- Universität Nürnberg-Erlangen. „Das war Norm anerkannten: dass nämlich Jungen
schlecht, das weder Mann noch Frau ist, in der Geschichte des Ethikrats einmalig, mit Penis und der chromosomalen Formel
und gab damit der „beschwerdeführenden die Betroffenen sind im Vorfeld vorbildlich 46, XY, zur Welt kommen und Mädchen
Person“ recht, die geklagt hatte: Vanja, 27, gefragt und beteiligt worden.“ mit einer Vagina und der Formel 46, XX.
aus Leipzig, geboren mit einer genetischen Dies ist das erste Mal, dass sich das Bun- Bis zur sechsten Woche gibt es keine
Anomalie: Vanja fehlte das zweite Chro- desverfassungsgericht überhaupt mit Inter- Unterschiede zwischen männlichen und
mosom, das entweder das weibliche oder sexualität befasst hat – im internationalen weiblichen Embryonen. Jedes dieser Zell-
männliche Geschlecht hätte bestimmen Vergleich ist Deutschland damit fortschritt- knäuel würde zum Mädchen heranwach-
können. lich. Die ausdrückliche Zuordnung zu einem sen – liefe nicht bei Trägern von Y-Chro-
Heute wird Vanja mit Testosteron be- dritten Geschlecht ist bisher nur in Pakistan, mosomen ein genetischer Prozess an, der
handelt und trägt einen Vollbart – will sich Indien, Nepal und einigen Staaten der USA Hoden und Nebenhoden, Samenleiter und
aber weder als Mann definieren lassen sowie Australiens möglich. In Reisepässen Penis entstehen lässt. Nur das männliche
noch, wie bisher vorgesehen, in Dokumen- dagegen ist es schon jetzt international Geschlechtschromosom trägt den Bauplan
ten als juristische wie auch gesellschaftli- verbreitet, dass statt „M“ oder „F“ immer- für ein bestimmtes Eiweiß, den Hoden-de-
che Leerstelle gelten. hin ein „X“ eingetragen werden kann. terminierenden Faktor TDF – der dann ge-
Für solche Fälle hat das Bundesverfas- Juristisch unmittelbare Folgen hat die nau das bewirkt, was sein Name verheißt.
sungsgericht nun entschieden: Das dritte jetzige Entscheidung aus Karlsruhe zwar Manchem Y-Chromosom jedoch fehlt
Geschlecht muss als solches benannt wer- nur für Geburtsurkunden und das soge- dieser Bauplan – seine Träger können kein
den, es darf nicht einfach in Geburtsurkun- nannte Personenstandsregister. Die mittel- TDF bilden und entwickeln sich trotz eines
den offengelassen werden, wie es die bis- baren rechtlichen Auswirkungen betreffen männlichen Chromosomensatzes augen-
herige Praxis war. Bundesweit betrifft das aber alle Fälle, in denen der Staat eine scheinlich zu Mädchen. Oft wird das
Urteil damit Schätzungen zufolge bis zu Festlegung auf ein Geschlecht verlangt „Swyer-Syndrom“ erst im Jugendalter ent-
160 000 intersexuelle Menschen, deren Ge- oder jedenfalls davon ausgeht, dass es ein- deckt – durch die ausbleibende Geschlechts-
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ein grassierendes Sexismus-Problem ver- Victoria, damals 22 Jahre alt, saß neben
Nächtliche nachlässigt.
Seit sich mit der #MeToo-Kampagne in
den USA immer mehr Frauen als Opfer se-
dem Deutschen. „Auf einmal schob sich
seine Hand unter meinen Po“, erinnert sie
sich. „Ich saß da wie versteinert und wuss-
J
eanne Ponté will gerade nach Hause Hinweise auf Missstände gibt es schon lobte ein polnischer Abgeordneter der
gehen, als ihr am Ausgang ein Mann seit Längerem. Bereits im Januar 2017 rechtskonservativen PiS bei einer Aus-
den Weg versperrt. Die Französin wandten sich Mitglieder des sogenannten schusssitzung den hohen Frauenanteil im
kommt von einem Treffen mit Lobbyisten. parlamentarischen Anti-Belästigungs-Ko- Europaparlament: „Da habe ich wenigs-
Schon im Konferenzraum war ihr der älte- mitees mit einem Beschwerdebrief an den tens was zum Angucken“, so der Mann.
re Mann aufgefallen, der sie immer wieder damaligen Parlamentspräsidenten Martin Reintke ist eine der wenigen Frauen, die
anstarrte. Jetzt, am Ende der Veranstal- Schulz. Die Vorkehrungen gegen Belästi- sich trauen, offen über sexuelle Belästi-
tung, fängt er die Frau ab wie ein Jäger gungen und Missbrauch müssten verbes- gung zu sprechen. Schon Anfang Septem-
seine Beute. Seine Hand greift den Tür- sert werden, forderten sie, und zwar ber, als vor der #MeToo-Kampagne, be-
posten, der Arm liegt wie eine Schranke „schnellstmöglich“. Doch erst jetzt, ein richtete sie in einer Rede im Parlament,
knapp unterhalb ihrer Brust. Der Abge- knappes Jahr und einige handfeste Skan- wie sie selbst kurz zuvor am Bahnhof in
ordnete sagt: „Du scheinst Duisburg belästigt worden
neu hier zu sein. Sollten wir war. „Ein Mann kam von
nicht was trinken gehen?“ hinten und griff mir zwi-
Jeanne Ponté ist eine schen die Beine“, sagte sie.
selbstbewusste junge Frau, Von ihren Kollegen bekam
sie hat Jura studiert und Reintke viel Respekt für den
einen Abschluss der Europa- Auftritt, auf Facebook je-
Eliteuni in Brügge. Doch doch hagelte es Häme und
jetzt weiß sie nicht, wie sie Hass. „Hat dich endlich mal
reagieren soll. Sie arbeitet jemand angefasst“, war
erst seit wenigen Wochen im noch einer der milderen
Europaparlament und will Kommentare.
nicht gleich bei einem ihrer Es ist bekannt, dass tradi-
SEEGER / EPA-EFE/ REX / SHUTTERSTOCK
HENNING SCHACHT
der Parteichefin geraten könnte. Von Lam-
mert erwartet man sich nicht nur mehr
Rückgrat, sondern auch mehr intellektuel-
len Glanz. „Die KAS soll kein verlängerter
Arm der CDU sein, sondern zur politi-
Norbert Lammert an. Es formiert sich auch schen Debatte in diesem Land beitragen“,
A
llzu viele Dienstreisen unternimmt sitzt das Who’s who der CDU. leramt, Parteizentrale, Stiftung und diver-
Bernhard Vogel nicht mehr. Mitte Im Gespräch mit Vogel will Merkel wohl sen Ministerien. Keine unübliche politische
Dezember feiert der ehemalige Mi- sondieren, welche Chancen Schavan hat. Praxis, gegen die aber nun rebelliert wird.
nisterpräsident Thüringens seinen 85. Ge- Dem Usus der Stiftung folgend müsste die Als Paradebeispiel für Letzteres gilt KAS-
burtstag. Aber ein einflussreiches Ehrenamt CDU-Chefin in der Vorstandssitzung am Generalsekretär Michael Thielen, der aus
hat Vogel noch, und wenn er in den nächs- 22. November ihren Personalwunsch Schavans Bildungsministerium kam. Seine
ten Tagen in dieser Funktion nach Berlin präsentieren, am 1. Dezember wählen die Nachfolgerin im Staatssekretärsjob wurde
reist, wird sogar CDU-Chefin Angela Mer- Mitglieder. Niemand rechnet ernsthaft mit ausgerechnet seine Gattin, Cornelia Quen-
kel den greisen Parteifreund im Kanzleramt einer Kampfkandidatur, zumal Pöttering net-Thielen, eine alte Vertraute Merkels.
empfangen. Vogel ist als Ehrenvorsitzender angekündigt hat, seine Bewerbung notfalls Schavans Frauennetzwerk kann aber ihr
Mitglied im engsten Führungskreis der Kon- zurückzuziehen – aber nur zugunsten größtes Manko nicht heilen: die Plagiats-
rad-Adenauer-Stiftung (KAS), und bis Jah- Lammerts. affäre. Schavan würde eine Stiftung führen,
resende muss sich klären, wer in der CDU- Schavan übt sich offiziell in Demut: die 434 Promotionsstipendiaten und 2610
nahen Organisation bald den Chefposten „Man kandidiert nicht, man wird für ein Studierende fördert. Zu ihren Fehlern hat
einnehmen wird. solches Amt vorgeschlagen.“ Es gebe aber sich Schavan nie wirklich bekannt; sie sieht
Merkel braucht Vogel als Ratgeber und Leute, die es richtig fänden, wenn sie KAS- sich als Opfer einer Kampagne.
Königsmacher. Denn zum wohl ersten Mal Vorsitzende würde. „Wenn ich vorgeschla- Nun läuft eine reale Kampagne gegen
in der KAS-Geschichte birgt die Frage des gen werde, werde ich mich damit beschäf- sie. „Als Altstipendiaten hielten wir es für
Vorsitzes politischen Sprengstoff: Drei tigen“, verspricht sie. unpassend, wenn die KAS von einer Per-
Kandidaten treten an, und ihr zunehmend In CDU-Kreisen ist aber ein offenes Ge- son ohne berufsqualifizierenden Abschluss
scharfer Wahlkampf ist bis in die CDU- heimnis, dass Schavan ihre Rückkehr nach geleitet würde“, sagt Ralf Höcker, Gründer
Spitze zu spüren. Denn nur eine Frau im Berlin vorbereitet, und zwar mit vollem des merkelkritischen Stipendiatenzirkels
Rennen hat Merkels bedingungslosen Einsatz. „Ich kann nur hoffen, dass Frau „Konrads Erben“. In Facebook-Gruppen
Rückhalt: Annette Schavan. Schavan in Rom eine Flatrate hat“, ätzt und Mail-Verteilern der Stipendiaten ma-
Die an einer Plagiatsaffäre gescheiterte ein KAS-Mann. Die Botschafterin betreibe nifestiert sich die Stimmung pro Lammert
Ex-Bildungsministerin, die nun als Bot- intensive Telefondiplomatie in eigener Sa- schon in einer Unterschriftenliste.
schafterin im Vatikan amtiert, ist bis heute che. Es eilt, denn Schavans Zeit in Rom Letztlich dürfe alles davon abhängen,
Merkels Vertraute. Als Kandidatin hat läuft ab. Nach SPIEGEL-Informationen hat ob Merkel ihr ganzes Gewicht für Schavan
Schavan aber wohl die schlechtesten Chan- das Auswärtige Amt ihren Posten verlän- in die Waagschale wirft. Schlägt sie ihre
cen. Gegen sie treten nicht nur Amtsinha- gert – aber nur bis Mai 2018. Freundin gar nicht erst vor, dürfte schon
ber Hans-Gert Pöttering und der Stiftungs- Bei ihren Werbeanrufen soll Schavan dies in der CDU als Niederlage gelten.
vize und einstige Bundestagspräsident süffisant betont haben, dass Lammert sich Melanie Amann, Ralf Neukirch, Klaus Wiegrefe
„Hauptsache, durchkommen“ sei heute die Belege für den Clan-Vorwurf gebe es
Alles außer Devise vieler Schüler. Viele hätten zudem nicht, sagt die Polizei und beklagt einen
Probleme, sich verständlich auszudrücken. diffamierenden Generalverdacht gegen
Unter jungen Männern in der Akademie arabisch- und türkischstämmige Schüler.
Mördern seien antidemokratische Einstellungen und Allein deren Fehler zu thematisieren sei
Verhaltensmuster verbreitet. Es gebe frau- „zu einfach und hilft am Ende nieman-
enfeindliche Sprüche auf dem Flur und im dem“, sagt ein Polizeilehrer: „Wir haben
Hauptstadt An der Berliner Unterricht, außerdem antisemitische Witze viele Migranten, die Superleistungen brin-
sowie türkischen Nationalismus. gen.“ Auch gebe es genug deutschstämmi-
Polizeiakademie häufen sich die „Keine Ahnung, wie lange es gut geht, ge Anwärter, die schlechte Sprachkennt-
Skandale. Die Verantwortlichen wenn harte Erdoğan-Fans auf kurdischen nisse und ein niedriges Niveau mit in die
Demonstrationen im Einsatz sind“, sagt Ausbildung brächten.
wiegeln ab, die Ausbilder ein praktischer Ausbilder. „Viele unserer Schuld am aktuellen Schlamassel sind
fühlen sich alleingelassen. Schüler versagen gerade in Stresssitua- aus Sicht der Ausbilder nicht die Schüler,
tionen.“ sondern die missglückten Reformpläne der
A
n Kandidaten mangelt es der Berli- In einem der letzten Jahrgänge sei fast Berliner Polizeispitze.
ner Polizei nicht. Jedes Jahr neh- eine ganze Klasse durch das Schießtraining Undurchsichtig sei die zukünftige Struk-
men Tausende am Bewerbungsver- gefallen, sagt ein anderer Beamter: „Wenn tur der Fächer Politische Bildung und Ge-
fahren für den mittleren Dienst teil. die schon praktisch nichts können, wie schichte. „Diese sind so wichtig wie der
Nicht immer sind es geradlinige Lebens- sieht es dann erst mit den rechtlichen richtige Umgang mit der Schusswaffe“, so
läufe, die dabei auf den Tischen der Ver- Grundlagen aus?“ ein Lehrer. „Wenn das schiefgeht, haben
antwortlichen landen. „Außer Mördern Viele Vorwürfe richteten sich in den ver- wir in ein paar Jahren die Hölle auf der
habe ich schon alles gesehen“, sagt einer, gangenen Tagen gegen Polizeischüler mit Straße.“ NS-Vergangenheit, Identitäre Be-
der die Akten der Bewerber gut kennt. Migrationshintergrund. Sie stellen immer- wegung, Islamisten: „Darüber müssen die
„Körperverletzungen, Sexualdelikte und hin 45 Prozent der Anwärter für den mitt- jungen Beamten Bescheid wissen“, sagt
Diebstahl, das Strafgesetzbuch rauf und leren Dienst. In Einzelfällen würden sogar der Beamte, sonst könnten sie in kritischen
runter.“ Angehörige krimineller Clans die Polizei- Polizeieinsätzen nicht bestehen.
Die Geschichten aus der Berliner Nach- akademie unterwandern. „Das ist der Ein weiteres Problem sind offenbar feh-
wuchsschmiede erinnern fast schon an den Feind in unseren Reihen“, hieß es in einer lende Bezugspersonen für die jungen An-
Hollywood-Klamaukfilm „Police Acade- anonymen WhatsApp-Nachricht, die vori- wärter, die häufig erst 17 oder 18 Jahre
my – dümmer, als die Polizei erlaubt“. ge Woche bekannt wurde. alt sind. Früher hatten jeweils 25 Schüler
Faul, dumm, beleidigend, aggressiv, kor- feste Ansprechpartner, zu de-
rupt und womöglich verbandelt mit krimi- nen sie ein Vertrauensver-
nellen Clans: Die Anschuldigungen gegen hältnis aufbauen konnten
die jungen Staatsdiener in Berlin sind und die ihre Ausbildung
kaum noch zu übertreffen. Wenn die komplett begleiteten. Heute
Vorwürfe stimmen, hat die Polizeiakade- sehen die Klassenlehrer ihre
mie der Stadt zahlreiche Qualitätsstan- Schüler viel seltener, vielen
dards fallen lassen, um verzweifelt Nach- fällt es schwer, den Gesich-
wuchs zu gewinnen. tern vor ihnen Namen zuzu-
Am Mittwoch steuerte die lange schwe- ordnen. „Hier waren noch
lende Affäre im Berliner Abgeordneten- nie nur Heilige“, sagt ein
haus auf einen vorläufigen Höhepunkt zu. Ausbilder über die Schüler –
Die Opposition forderte einen Sonder- nun würden sie mit ihren
ermittler, während die Polizeiführung von manchmal problematischen
„falschen Behauptungen“ sprach. Ansichten oder mit Alltags-
Sind die Vorwürfe also alle haltlos und dingen wie Geldsorgen und
„an keiner Stelle belegt“, wie der Berliner Liebeskummer sich selbst
Polizeipräsident und sein Innensenator überlassen.
meinen? „Bei den Umstrukturierun-
Der SPIEGEL konnte in den vergange- gen wird immer mehr auf
nen Monaten mit mehreren Ausbildern an Masse statt Klasse gesetzt“,
der Akademie sprechen. Sie zeichnen das kritisiert Tom Schreiber, In-
Bild einer zerrissenen Einrichtung, in der nenexperte der Berliner SPD.
Mitarbeiter frustriert sind und die Ausbil- Gingen früher 500 Männer
dungsqualität unter andauernden Refor- und Frauen pro Jahr auf die
men leidet. Akademie, sind es heute
In der Polizeiakademie herrsche dem- 1200.
MICHAEL KÖRNER / ACTION PRESS
E
in Vormittag im Landtag von Thü- sammengehört, zusammengewachsen, so gela Merkels Wahlkampfauftritten in die-
ringen. Die Abgeordneten disku- klang die Botschaft. Aber stimmte sie auch? sem Sommer.
tieren. Stimmt sie noch? Die bisher vorgetragenen Thesen grün-
„Peinlich“, ruft der erste. Was ist nur mit dem Osten los? Seit der den meist auf zwei Annahmen. Entweder
„Die NPD hätte es nicht besser sagen Bundestagswahl versuchen Leitartikel zu sind die wirtschaftlichen Verhältnisse
können“, der nächste. erklären, warum die neuen Bundesländer schuld, das noch immer existierende Wohl-
„Ich bin entsetzt.“ am weitesten nach rechts gerückt sind und standsgefälle. Oder es wird eine kollektive
„Das ist ja wohl eine Frechheit.“ weshalb Deutschtümelei und Fremden- seelische Störung attestiert, die mit der
„Ich verbitte mir, dass Sie permanent feindlichkeit dort scheinbar zwangsläufig versäumten Verarbeitung von zwei Dikta-
lügen!“ immer lauter werden, von den Pegida-Mär- turerfahrungen zusammenhänge.
„Sie wissen gar nicht, wie das Wort An- schen über Freital und Heidenau bis zu Aber so einfach ist es nicht. Ein Team
stand geschrieben wird!“ den Wutausbrüchen im Publikum bei An- von SPIEGEL-Journalisten hat in den ver-
„Halten Sie einfach mal die Klappe!“
„Ich finde es angebracht, dass wir uns
hier als Parlament nach diesem Beitrag
entschuldigen.“
Auf der Tagesordnung steht eine Debat-
te über den NSU, über ein Mahnmal, das
an den Terror des Thüringer Trios erinnern
soll. Zwei Abgeordnete der AfD nutzen
die Gelegenheit, um die anderen Parteien
zu provozieren.
Rot-Rot-Grün wolle den Thüringern und
„dem deutschen Volk“ bloß eintrichtern,
„dass sie im Grunde im Dritten Reich stecken
geblieben sind“, sagt einer von ihnen. Die
Koalition wolle den Menschen einhämmern,
„wie verkommen sie doch sind“. Zudem wer-
de nur der Opfer des NSU gedacht, nicht
aber jener des islamistischen Terrors: „Wir
sollen gläubige Untertanen eines neuerli-
chen sogenannten Antifaschismus werden.“
Im Plenum – einem lichten Neubau mit
viel Glas – sitzt Bodo Ramelow, der linke
Regierungschef von Thüringen. Mal schaut
er fassungslos auf den Redner, mal schlägt
er die Hände vor dem Gesicht zusammen.
Schließlich geht er selbst ans Pult.
„Ich schäme mich für solche Reden hier
im Landtag“, sagt der Ministerpräsident.
Etwas hat sich verändert in Deutschland.
Ein Land, das noch vor Kurzem in Umfra-
gen zum beliebtesten der Erde gekürt wur-
de, ist mit Selbstzweifeln beschäftigt und
mit der Suche nach seiner Identität. Der
Siegeszug der AfD hat die Republik er-
schüttert, im Westen, wo Rechtspopulisten
in allen Ländern nun in den Bundestag
gewählt worden sind. Vor allem aber im
Osten, wo die Alternative für Deutschland
zur zweitstärksten, in Sachsen sogar zur
stärksten Partei aufgestiegen ist.
Am 9. November jährte sich der Fall der
Berliner Mauer. Es ist kein rundes Jubiläum
wie 2014, als Deutschland ein rauschendes
Fest geschmissen hat mit Feuerwerk und
Gästen aus aller Welt. Das vereinte Land
war erwachsen geworden, wirtschaftsstark,
modern und tolerant. Endlich war, was zu-
46 DER SPIEGEL 46 / 2017
Deutschland
gangenen Wochen Menschen getroffen, Der Bauschutt ist zu kleinen Bergen zusam- wohner profitieren vom Tourismus, Bad
die den Rechtsruck im Osten beobachtet, mengeschoben. Dazwischen liegen Plastik- Muskau ist eine ostdeutsche Erfolgsge-
begleitet, befördert oder bekämpft haben: säcke. „Mineralwolle – kann Krebserkran- schichte. Trotzdem stimmte fast jeder Drit-
Wähler und Abgeordnete, Ministerpräsi- kungen hervorrufen“, warnen Aufdrucke. te bei der Bundestagswahl für die AfD.
denten, Kommunalpolitiker und Vertreter „Schutzausrüstung tragen“ steht darunter, 3,6 Prozentpunkte mehr als in Weißwasser.
der Zivilgesellschaft. mit dickem Ausrufezeichen und dem Pik- Eigentlich, sagt Tino Chrupalla, „sind
Herausgekommen ist ein Bild mit vielen togramm einer Gasmaske. wir hier schon eine ganz normale Volks-
Facetten, es zeigt völkische, rassistische Es sind die Reste einer DDR-Platten- partei“. Die AfD sei in der Oberlausitz für
und antidemokratische Farben, aber auch bausiedlung, die keiner mehr braucht. alle da, die Abgehängten, die Einheitspro-
helle Töne und Wege, die aus der Populis- Weißwasser in der Oberlausitz ist eine lee- fiteure: „Selbst Pfarrer wählen uns.“ Im
musfalle hinausführen. re Stadt, viele haben das Weite gesucht, September hat er der CDU den Wahlkreis
Einig waren sich fast alle in einem und wer geblieben ist, kann sich als Ver- nach einem Vierteljahrhundert einfach ab-
Punkt: Die jüngste Wahl war ein Schrei lierer der Einheit fühlen. Knapp 28 Pro- gejagt. Er gewann sein Direktmandat aus-
nach Aufmerksamkeit. 28 Jahre nach zent von ihnen wählten bei der Bundes- gerechnet gegen Michael Kretschmer, den
der Wende ist es für Ost und West an tagswahl die AfD. Generalsekretär der sächsischen Union.
der Zeit, einander endlich mal zuzuhören. Neun Kilometer östlich, an der Neiße, Wenn Chrupalla spricht, klingt es
Damit die deutsche Einheit nicht bloß liegt Bad Muskau. Es gibt ein Schloss und freundlich, offen, geradeheraus. Der 42-
ein Anlass für Feuerwerke wird wie beim einen Park, der für viele Millionen Euro Jährige schwärmt gern von den goldenen
25. Jahrestag des Mauerfalls vor drei restauriert wurde und zum Unesco-Welt- Zeiten Weißwassers, damals in der DDR,
Jahren. erbe zählt. Das Städtchen und seine Be- als viele Menschen noch Arbeit in der
Braunkohle oder in den Glaswerken hatten
und gute Wohnungen in modernen Plat-
tenbauten.
„Ich hatte eine tolle Kindheit“, sagt er,
„schön und sicher.“ Auf dem Land standen
die Häuser offen, Einbrüche gab es selten,
und wenn, wurden die Täter schnell gefasst
von den Genossen der Volkspolizei. „Mei-
ne Eltern mussten sich nie sorgen, wo ich
spielen gehe.“
Nach der Wende wurde Helmut Kohl
sein neues Idol. Er trat in die Junge Union
ein, gemeinsam mit seinem damaligen Par-
teifreund Kretschmer habe er den Einheits-
kanzler in Bonn besucht. Chrupalla be-
gann eine Lehre als Maler, machte seinen
Meister und gründete einen eigenen Be-
trieb. Die Geschäfte liefen gut, er heiratete,
die Wende hat ihm nur Glück gebracht.
Doch das Land wurde ihm fremder. Tau-
sende Arbeitsplätze verschwanden, Weiß-
wasser verlor die Hälfte der Einwohner,
Busverbindungen ins Umland wurden aus-
gedünnt, in den Oberlausitzer Dörfern
schlossen Läden und Schulen. Und über
die offene Grenze kamen Banden aus Ost-
europa und klauten Autos.
Nicht nur die Region, auch Deutschland
veränderte sich. Finanzkrise, Eurokrise,
Flüchtlingskrise und dann noch die Ehe
für alle. „Wir wurden nie gefragt“, sagt
Chrupalla. Er besuchte die Pegida-De-
monstrationen in Dresden, schließlich trat
er der AfD bei und bewarb sich für die
Bundestagskandidatur.
„Ich habe im Traum nicht daran gedacht,
meinen Wahlkreis zu verlieren“, sagt Chru-
pallas alter Weggefährte Michael Kretsch-
mer. Der CDU-Politiker hatte die Oberlau-
sitz bisher im Bundestag vertreten, er trug
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
falle. „Wer will schon den Geburtstag der platz einer Moschee von Gegnern errichtet sind keine Ausländer da“, sagt Ramelow,
Tante versauen“, fragt er, „um problema- wurden. Die Muslime seien schuld, jetzt bevor er die dritte Karte öffnet, Wahlsiege
tische Aussagen zu korrigieren?“ Schwei- gebe es mehr Kriminalität, mehr Vergewal- der AfD. Der ganze Osten dunkelblau.
gen, sagt Freese, sei keine Lösung. Es gehe tigungen, bald müssten wir alle Kopftuch Aber wie hängen diese Grafiken mit-
darum, Menschen in ihren Echokammern tragen: „Das ist der Blues“, sagt Ramelow, einander zusammen? Und warum äußern
anzusprechen, falsche Nachrichten zu kor- „den ich nun oft zu hören bekomme.“ so viele Menschen ihren Frust in völki-
rigieren und aufgeregten Streit zu versach- „Der Adrenalinspiegel ist hoch“, sagt er. schen, ausländerfeindlichen Tönen?
lichen. „Steter Tropfen höhlt den Stein“, In der AfD mache sich eine selbstherrliche Wer in der DDR aufgewachsen ist, kennt
sagt Freese vorsichtig lächelnd. Haltung breit, die für die anderen Parteien „Schwester Agnes“. Der Defa-Film von 1975
so ähnlich klinge wie: Bald seid ihr weg, erzählt die Geschichte einer Gemeinde-
Bodo Ramelow sitzt in der Erfurter Land- bald haben wir euch vertrieben. schwester in der Oberlausitz, die sich be-
tagskantine, die Debatte über das NSU- Dann holt Ramelow sein Telefon hervor. herzt um die Nöte der Dorfbewohner küm-
Mahnmal liegt gerade hinter ihm. Jetzt Er hat drei bunte Deutschlandkarten da- mert; für jedes Problem findet sie eine Lö-
erzählt der Ministerpräsident von jenem rauf gespeichert. Sie sollen die Malaise im sung, egal was die Funktionäre sagen.
Moment, als er zum ersten Mal eine voll Osten erklären. Die erste zeigt, wo die Bei Auftritten redet Ramelow seit einiger
verschleierte Frau in Thüringen sah, aus- Menschen am wenigsten verdienen und Zeit gern davon. „Das funktioniert immer“,
gerechnet hier im Landtag. Es handelte der Mindestlohn am stärksten wirkt. „Da sagt er. Er erzählt dann, wie er als zugezo-
sich um die AfD-Abgeordnete Wiebke ist die alte DDR wiederzusehen“, sagt Ra- gener Wessi das erste Mal eine Postkarte
Muhsal, die damit gegen die Entwürdigung melow, „und zwar in kraftvollster dunkler mit dem Schwester-Agnes-Motiv sah. Wie
von Frauen protestieren wollte. Farbe.“ Er wechselt zur nächsten Karte, er sich kaputtlachte, wie er dachte, das ist
Und er beschreibt die Kreuze mit ange- es geht um Ausländer, Thüringen hat den doch bescheuert. „Hinterher habe ich be-
nagelten Schweinsköpfen, die auf dem Bau- zweitniedrigsten Wert bundesweit. „Es griffen: Das ist Identifikation, das ist Heimat
und in Sachen Gemeindeschwester sogar
zutreffend.“ Weil es eine Welt zeigt, die sich
viele zurückwünschen, ohne dabei an die
DDR Honeckers zu denken. Sondern an
eine Gesellschaft, in der es in jedem Ort me-
dizinische Versorgung gab und der Dorfkon-
sum mit seinem in der Erinnerung gar nicht
so kargen Angebot gleich um die Ecke lag.
„Je länger etwas weg ist, desto schöner
wird es in der Erinnerung“, sagt Ramelow.
Es gibt mehrere Arten von Wut, eine
leise, die sich hinter den Vorhängen zu
Hause artikuliert, und eine laute, die auf
den Marktplätzen hinausgebrüllt wird. In-
zwischen erklingt sie auch in den Parla-
menten. Ramelow und seine Kollegen müs-
sen sich fragen, wie sie auf diesen Sound
der Unzufriedenen reagieren, in der Ge-
sellschaft und im Plenum.
Fast jede Partei wendet sich dem Thema
Heimat zu, auch Ramelow und die Linke.
Es gehe nicht darum, AfD-Wähler zu be-
schimpfen, sagt er. Sondern darum, die
Menschen ernst zu nehmen bei Themen
wie Kinderbetreuung und Altersarmut.
„In Berlin müssen sich die Parteien
schnell auf eine Regierung einigen, damit
wir Ostländer mit ihnen über ostspezifi-
sche Ungerechtigkeiten, aber auch bessere
soziale Angebote und mehr Investitionen
verhandeln können“, sagt Ramelow. Die
Parteien jenseits der AfD müssten zügig
Lösungen entwickeln. „Wenn man diese
Leute unterschätzt, wird die Demokratie
Schaden nehmen.“
Z
u den Gepflogen- Ich habe beobachtet,
heiten des Herbs- dass auch Westdeut-
tes gehört es, sche erst „ankommen“
beim Jubiläum von mussten oder müssen
Mauerfall und Wieder- in Deutschland. Es ist
vereinigung die Frage allerdings schwer, mit
nach dem Stand der in- ihnen über ihre Ängste
neren Einheit zu stel- zu reden, sie sind es
len. Auch dieses Jahr nicht gewohnt. Über
lief es darauf hinaus, eigene Schwächen
dass untersucht wurde, sprechen Westdeutsche
wie die Ostdeutschen nicht gern. Nein, nein,
im vereinten Deutsch- es sei alles „super“, sa-
Frau aus dem Osten, eine Frau aus dem Pfarrhaus, eine
Im Osten litten Und woran mussten sich die
Westdeutschen noch alles gewöh- Frau die gut Russisch spricht, aber wohl noch nie gekifft
die Leute unter nen? Sächsisch wird nun auch im
Bundestag gesprochen. Das Hän-
hat. Das alles macht es manchen Westdeutschen schwer,
von „ihrer Regierung“ zu reden, von „unserem Land“.
kollektiver Man- deschütteln, im Osten üblich, im Manche meiner modernen, welterfahrenen Altersgenossen
Westen vielerorts aus der Mode stießen sich an Joachim Gauck und dessen mecklenburgi-
gelerfahrung, im gekommen, liegt nun gesamt- schem Pastorenpathos im Präsidentenamt.
Westen unter deutsch im Trend. Innenminister
Thomas de Maizière hält es in-
Hinzu kommt, dass Ostdeutsche im Westen oft herab-
lassend und – ja fast schon – in Siegerpose auftreten. Ich
mangelnder Kol- zwischen für einen Teil der deut- war häufig unterwegs im Westen, und natürlich fiel auch
schen Leitkultur. Auf Soziolo- mir auf, in welchem Zustand die Brücken dort sind, die
lektiverfahrung. gisch könnte man es vielleicht so Radwege, der Radweg am Rhein etwa, eine Katastrophe,
beschreiben: Im Osten litten die er führte durch das Gelände einer Glasfabrik. Und die
Leute unter kollektiven Mangelerfahrungen, im Westen Asbestplatten an den Häusern. Und diese Fußgänger-
unter mangelnder Kollektiverfahrung. Man muss aber an- zonen-Monotonie.
erkennen, dass sich manche Westdeutsche bemühen: Ge- Aber ich habe nichts gesagt, kein abfälliges Wort, kein
bürtige Rheinländer stehen jetzt sogar im Stadion An der Vorwurf. Schließlich haben die Leute auch hier nur gear-
Alten Försterei beim 1. FC Union in Ostberlin und singen beitet. Ich habe mich geärgert, wenn Ostdeutsche aus
„Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? – Eisern Union“. ihren Reisebussen stiegen und mit dem Finger auf irgend-
Es wäre interessant, wenn Ostdeutsche und Westdeut- ein Haus zeigten und laut fragten: Wann ist denn hier
sche einmal ihr „Ankommen“ beschrieben, auf einer Post- zum letzten Mal saniert worden? Schlimmer noch: In ei-
karte, so wie nach dem Erreichen eines Reiseziels. „Hallo, nem Hotel traf ich auf Ostdeutsche, die an einem Pater-
ich bin gut angekommen.“ Und dann notierten, was ihnen noster standen und laut riefen: Ist ja hier wie im Museum!
gefällt und was sie vermissen. Was würden wohl die West- Ich sage dann immer: Die Leute hätten es sicher auch
deutschen als Gewinn vermelden? Keine Pakete mehr in gern schöner, hätten auch lieber so viele Spaßbäder wie
den Osten schicken zu müssen? Oder: Jetzt auch Gregor wir im Osten.
Gysi wählen zu können? Und was vermissen sie? Den Vielleicht ist es Zeit für einen Appell: Macht es den
„Bericht aus Bonn“? Fürchten sie eine Verostung? Wessis nicht zu schwer, ladet sie ein, und lasst euch deren
Manche Westdeutsche haben nach meinem Eindruck Geschichten erzählen. Ihr müsst ihnen ja nicht gleich
einfach Verlustängste, seitdem Angela Merkel regiert, eine Pakete schicken. I
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Deutschland
D
ie schwer bewaffneten Polizisten Auch Spezialkräfte aus Niedersachsen und fanden, waren kriminelle Salafisten aus
des Sondereinsatzkommandos war- Beamte des französischen Staatsschutzes Bremen und Nizza.
teten in der Wohnung der Gold- machten mit. Für die Polizisten der Hansestadt muss
schmiedin. Als die beiden Verdächtigen Die Polizei war überzeugt, dass die Män- es ein unangenehmes Déjà-vu gewesen
den winzigen Schmuckladen in Osterholz- ner, allesamt Mitglieder der Salafistensze- sein. Denn zweieinhalb Jahre zuvor, im
Scharmbeck bei Bremen betraten, stürm- ne, Juweliere ausrauben wollten, um mit Februar 2015, hat es schon einmal einen
ten sie die Treppe hinunter und nahmen den Einnahmen Waffen zu kaufen. So großen Terroreinsatz in Bremen gegeben –
die Männer fest. schildert es der Sprecher der Bremer der sich im Nachhinein als falscher Alarm
Für die 67-jährige Ladenbesitzerin war Staatsanwaltschaft, Frank Passade. Der erwiesen hat. Die wichtigste Hinweis-
der Einsatz ein Schock: „Ich bin immer Verdacht: Die Maschinenpistolen könnten geberin der Behörden war in beiden Fällen
noch ganz fertig.“ Für die Bremer Polizei für einen Terroranschlag eingesetzt wer- dieselbe: Beate Krafft-Schöning, 52, eine
war der Einsatz der Höhepunkt des größ- den. Seit Juni führt die Behörde ein Ver- Journalistin und Buchautorin.
ten Staatsschutzverfahrens der vergange- fahren wegen Verstoßes gegen das Kriegs- 2015 hatte Krafft-Schöning von Uzis
nen Jahre. waffenkontrollgesetz. berichtet, Maschinenpistolen israelischen
Jedenfalls zunächst. Doch inzwischen stellt sich die Frage: Typs, die in der Bremer Salafistenszene
Vorausgegangen war eine aufwendige Gab es überhaupt eine Terrorgefahr? verteilt worden sein sollen. Die Journalistin
Ermittlung. Die Beamten hatten etliche Te- An jenem 29. September fanden die hatte keine Belege, sie habe mit einem In-
lefone abgehört, ein Auto und einen Imbiss Bremer Beamten keine Kriegswaffen, formanten aus dem Miri-Clan gesprochen,
in Bremen-Gröpelingen verwanzt. In der nicht bei den Festgenommenen und nicht der in die Geschichte verwickelt sei. Die
Schlussphase der Ermittlungen, Ende Sep- bei den anschließenden Wohnungsdurch- Miris sind eine libanesischstämmige Groß-
tember, überwachten Observationsteams suchungen. Sie fanden nicht mal eine Pis- familie, die in Bremen für Organisierte Kri-
aus Bremen, Hamburg und Schleswig-Hol- tole. Und keinen einzigen Beleg, dass es minalität bekannt ist. Ein V-Mann des Zolls
stein sechs Verdächtige rund um die Uhr. überhaupt einen Waffendeal gab. Was sie schien die Geschichte zu bestätigen.
Nach diesen Hinweisen zogen bis an die
Zähne bewaffnete Polizeibeamte am Bahn-
hof und in der Bremer Innenstadt auf, sie
besetzten Verkehrsknotenpunkte. Eine Fa-
milie, die irrtümlich unter Terrorverdacht
geriet, wurde stundenlang festgehalten.
Die Bremische Bürgerschaft beleuchtete
den falschen Terroralarm in einem par-
lamentarischen Untersuchungsausschuss,
sie stellte „strukturelle Mängel“ und „in-
dividuelle Fehler“ bei den Behörden fest.
Auch der Umgang mit Informanten wurde
kritisiert.
Im Juni dieses Jahres begann der zweite
Einsatz damit, dass sich ein Libanese bei
der Polizei meldete und erzählte, ein Bre-
mer Salafist namens „Kamal“ sei mit meh-
reren Franzosen bei einem hochrangigen
Miri-Mitglied gewesen, um Kalaschnikows
zu kaufen. Die Waffen sollten in Frank-
reich eingesetzt werden. Er selbst, sagte
der Informant, habe das nicht direkt mit-
bekommen, sondern nur davon gehört.
Der Mann, den die Salafisten aufgesucht
hätten, sei Alaeddine M. Der ist eine schil-
lernde Figur der Bremer Unterwelt, mehr-
fach vorbestraft. M. heißt nicht Miri, ge-
hört aber zu den Führungsfiguren des Miri-
Clans und ist ein Vertrauter des Chefs der
verbotenen Rockerbande Mongols.
CARMEN JASPERSEN / DPA
CHRISTINA KUHAUPT
glieder der weitverzweigten fuhren sie nach Osterholz-
Familie kennt sie persönlich – Scharmbeck zu dem Schmuck-
auch Alaeddine M. laden. Sie prüften die Entfer-
Als ein Polizist sie daraufhin nung zur nächsten Polizeista-
anrief, erzählte Krafft-Schöning Krafft-Schöning tion. Sie unterhielten sich über
von der angeblichen Waffen- Uzis für „Kamal“ Gold und Silber, über einen
geschichte, die Alaeddine M. Container, dessen Inhalt man
ihr mitgeteilt habe. Sie dürfe davon berich- stehlen könnte. Nur nicht über Waffen
ten, das sei mit ihm abgesprochen. Auch oder Terroranschläge.
sie erwähnte einen Algerier namens „Ka- Beate Krafft-Schöning betrieb eine Knei-
mal“, der Alaeddine M. 8000 Euro Provi- pe in Osterholz-Scharmbeck: Bea’s Pub.
sion geboten habe, falls er den Kauf von Als verdächtige Miri-Leute auf einen Whis-
Maschinenpistolen vermitteln könne. Es ky bei ihr vorbeikommen wollten, ließ sich
sei nicht um Kalaschnikows, sondern um die Polizei auch für dort einen Lausch-
Uzis gegangen. angriff genehmigen.
Genau wie 2015. Das Haus der Journalistin am Stadtrand
Dann sagte sie noch, sie glaube, es gebe von Osterholz-Scharmbeck ist mehrfach
bereits einen möglichen Lieferanten für gesichert: ein hoher Holzzaun, eine Über-
die Waffen, vielleicht einen Albaner. Es wachungskamera am Eingang und ein gro-
habe ein Treffen in einer Garage gegeben, ßer Dobermann. Krafft-Schöning sitzt auf
womöglich seien die Uzis schon bei den dem Sofa im Wohnzimmer und erzählt,
Salafisten. Solche Waffendeals kämen häu- sie sei mehrfach bedroht worden. Mal von
figer vor. Aber offiziell aussagen, das wolle Salafisten, mal von Albanern. Manchmal
sie nicht. habe sie nachts merkwürdige Gestalten
Die Story der Journalistin ähnelte der auf ihrem Grundstück gesehen.
von 2015 ziemlich stark, aber skeptisch „Vielleicht“, sagt sie, „liegt das daran,
machte das die Polizei nicht. Die Staats- dass ich immer wieder Hinweise an die
schützer waren wie angefixt. Vielleicht Polizei und den Verfassungsschutz gege-
war ja doch etwas dran, an den Hinweisen ben habe.“ Sie kenne sich gut aus in der
über brisante Waffenkäufe im Salafisten- Szene und vertraue einem Beamten bei
milieu. Und war es nicht ohnehin geboten, der Bremer Polizei besonders. Mit ihm
jeden noch so absonderlich klingenden habe sie oft telefoniert. Das sei losgegan-
Hinweis ernst zu nehmen? Die Bremer un- gen, als sich vor einigen Jahren die Ro-
terrichteten das Gemeinsame Terrorab- ckerbanden Hells Angels und Mongols be-
wehrzentrum von Bund und Ländern in kämpften. Krafft-Schöning sagt, die Füh-
Berlin. Die Ermittlung erhielt den Code- rung des Clans habe von den Kontakten
namen „Theo“. gewusst: „Die Miris waren immer einver-
Und tatsächlich schienen sich die Hin- standen.“
weise diesmal zu verdichten. Schnell fan- Die Waffendeals, sagt Krafft-Schöning,
den die Ermittler den verdächtigen „Ka- habe es sehr wohl gegeben. 2015 und in
mal“, einen bekannten Bremer Salafisten. diesem Jahr. „Es waren dieselben Leute
Der heute 50-jährige Algerier war 1992 beteiligt“, sagt die Journalistin, nur die Sa-
VLH.
nach Deutschland eingereist, hatte mit 21 lafisten seien andere gewesen. Warum wur-
falschen Identitäten hantiert und war unter den dann keine Uzis gefunden? Die Polizei
anderem wegen Passfälschung und Ban- habe eben nicht an den richtigen Stellen
denhehlerei aufgefallen. Die Behörden gesucht.
Wir machen Ihre
hörten die Telefone von „Kamal“ ab. Ir- Alle Beschuldigten bestreiten Waffen-
gendwann rief ein Mann aus Nizza an: käufe. Alaeddine M., gegen den die Staats- Steuererklärung.
„Kamal“ sagte ihm, er solle ein Motorrad anwaltschaft ebenfalls ermittelt, sagte dem
mitbringen. SPIEGEL, die Geschichte sei „Unfug“, es
Die Bremer Ermittler schalteten die fran- habe nie einen Waffendeal gegeben. Der
zösischen Behörden ein. Der Mann aus Polizei erklärte er, sein silberner Mercedes
Nizza, ein Frankoalgerier namens Ataf K., habe 100 000 Euro gekostet. „Daran sehen www.vlh.de
war ebenfalls als Salafist aufgefallen. Er Sie, dass ich kein Krimineller bin. Welcher
betrieb in der südfranzösischen Stadt eine Kriminelle kann sich so ein Auto leisten?“
Shishabar und eine kleine Baufirma. „Kamal“ wurde inzwischen nach Alge-
Am 24. September brachen K. und sein rien abgeschoben. Ataf K. aus Nizza sitzt
Bruder mit einem Transporter an der Côte wegen des mutmaßlich geplanten Über-
d’Azur auf. In Freiburg kontrollierten Strei- falls noch in Haft. Beate Krafft-Schöning
fenbeamte die Franzosen und beschlag- hat ihren Pub geschlossen, ihre Szenekon-
nahmten einen gestohlenen Motorroller im takte will sie weiter pflegen. Hubert Gude
DER SPIEGEL 46 / 2017 55
Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Deutschland
A
ls Ahmad A. um 15.09 „Islamischen Staat“ (IS) fanden
Uhr den Edeka-Markt in sie nicht, auch wenn A. sich nach
der Fuhlsbüttler Straße der Tat zu dessen Anführer Abu
betritt, geht er direkt zum Regal Bakr al-Baghdadi bekannte.
mit den Messern. Er reißt eines Reue zeigte der Palästinenser kei-
aus der Packung, Klingenlänge ne, im Gegenteil: Er hätte gern
20 Zentimeter, und stürmt auf noch mehr Menschen umge-
einen Mann zu, der gerade fürs bracht und selbst als Märtyrer
Wochenende einkaufen will. A. sterben wollen, sagte A. bei der
sticht unvermittelt auf den Kun- Vernehmung. Auf den Beleh-
den ein, in die Brust, in den rungsbogen kritzelte er: „Ja, ich
Oberschenkel, in den Bauch. bin Terrorist.“ Dem psychia-
Mathias P., ein 50-jähriger Inge- trischen Gutachter verriet er spä-
nieur, stirbt noch im Laden. ter, er wünschte sich die Todes-
Ahmad A. ist wie im Blut- strafe für sich, aber die gebe es
rausch. Er ruft „Allahu Akbar“, in Deutschland leider nicht.
Gott ist groß, und rammt an der Es bleibt ein Fall mit Fragezei-
Fleischtheke einem weiteren chen. Denn der Mann, der an je-
Mann das Messer zwischen die nem Freitag im Sommer zum
Rippen. Auf der Straße setzt der Messer griff, hat wenig zu tun mit
Palästinenser seine Attacken fort, dem Mann, den Flüchtlingshelfer
er greift scheinbar wahllos Män- im Herbst 2015 kennenlernten,
ner wie Frauen an. Als mehrere als er in die Containersiedlung in
Passanten mit ausländischen Hamburg-Langenhorn zog.
Wurzeln versuchen, ihn aufzu- In Norwegen, Spanien und
halten, ruft er ihnen zu, er habe Schweden war er mit Asylanträ-
es nicht auf sie abgesehen, son- gen gescheitert, seit gut sechs
ZUMA PRESS / ACTION PRESS
Wachsender Gemüsehunger. Deutsche gelten als Fleisch-Fetischis- Zucchini und Auberginen im Supermarktregal, auch im
ten, für ihre Brokkoli-Liebe waren sie bisher kaum bekannt. Dezember. Im globalen Vergleich aber zeigt sich, dass Russen,
Was ungerecht ist, denn die Deutschen wachsen zu einer Ge- Marokkaner, auch Chinesen einen noch höheren Gemüse-
müsenation heran: Seit 1960 hat sich der jährliche Pro-Kopf- verbrauch haben. Im Tschad dagegen, wo das Nationalgericht
Konsum beinahe verdoppelt, auf 93,8 Kilogramm. Die Tomate aus einem Hirsekloß mit Soße besteht, gibt es am wenigsten
ist mit 26,2 Kilo pro Kopf das Königsgemüse, gefolgt von Möh- Grünes auf dem Speiseplan: Gemüse ist in einigen afrikani-
ren und Zwiebeln. Neben wachsendem Gesundheitsbewusst- schen Ländern Mangelware, schlecht anzubauen, nicht selten
sein hat der neue Gemüsehunger vor allem technische Grün- importiert und teuer. Da erscheint die Empfehlung der Deut-
de. Gemüse ist ein hochverderbliches Lebensmittel, und die schen Gesellschaft für Ernährung beinahe luxuriös: 400 Gramm
Möglichkeiten der Lagerung haben sich stark verbessert. Auch Gemüse am Tag senkten das Risiko für Krebs und Herz-Kreis-
war der Konsum früher saisonalen Schwankungen unterlegen lauf-Krankheiten. Den Deutschen fehlen demnach nur noch
und das Angebot übersichtlich. Heute liegen dank Welthandel rund 140 Gramm zum Glück. dialika.neufeld@spiegel.de
D
as erste Mal, als seine Lunge rasselte, war Paul Kamera in seinen Hals schob. Dieses Mal war das Instru-
Baxter 18 Jahre alt, er hustete, und es fühlte sich ment lang genug.
an, als würde ihm jemand in die Flanke stechen. „Es ist orangefarben“, sagte der Arzt, dann begann er
Ein Arzt nahm eine Spritze, die an einem Schlauch hing zu lachen. Baxter wollte mitlachen, was schwierig war,
und die in Baxters Erinnerung einem Degen ähnelt, bohrte weil ein Kabel in seiner Luftröhre steckte.
sie durch sein Rippenfell und ließ die austretende Flüssig- Er sah auf dem Monitor zu, als der Arzt ihm etwas aus
keit in einen Eimer laufen. „Wie Rotwein“, sagt Baxter. der Lunge operierte. Ein Verkehrshütchen. Orangefarben
Das zweite Mal, vor 13 Jahren, hatte sich Baxter beim an der Kante, am Zylinder schwarz vom Zigarettenrauch.
Briefeaustragen einen scheppernden Husten gefangen. Baxter hatte das Hütchen 40 Jahre zuvor schon mal gese-
Eines Morgens lag er im Bett und brabbelte wirr. Im Kran- hen, als er als Siebenjähriger mit seiner Plastik-Polizeista-
kenhaus behandelten ihn die Ärzte, als hätte er eine Hirn- tion der Firma Matchbox spielte. Er habe damals, sagt
hautentzündung, und merkten nach drei Tagen, dass er Baxter, gern Spielzeug gegessen. Er habe zum Beispiel
eigentlich einen Schlaganfall erlitten hatte, weil der Infekt alle Räder seiner Autos abgenagt, weil er das lustig fand.
aus seiner Lunge aufs Hirn ge- Nicht wegen des Geschmacks,
sprungen war. sagt er. Beim Versuch, das Hüt-
Paul Baxter und seine Frau chen zu verspeisen, muss er es
Hellen lachen, als sie das er- eingeatmet haben.
zählen. „Was passiert, pas- Der Arzt bat Paul Baxter,
siert“, sagt Hellen Baxter, und die Geschichte aufschreiben
als sie das sagt, lächelt ihr zu dürfen. Diesen Herbst er-
Mann und nickt, als sei das ein schien der Text in der Ärzte-
schlauer Satz. Baxter streichelt zeitung, und Paul Baxter wur-
die Ohren seines Pudels und de berühmt. Er ist jetzt der
hustet ein wenig, bevor er sei- Hütchenmann.
ne Geschichte erzählt. Man Es ist eine seltsame Welt, in
hört diesen Husten und ahnt, der ein Mensch Ruhm erlangt,
dass er viel und gern raucht. weil er ein Spielzeug einatmet.
Paul Baxter, 50, Postbote, Baxter, Röntgenaufnahme seiner Lunge Banal, könnte man sagen.
Dauerbewohner eines Wohn- Aber wer sich zu Paul Baxter
wagens außerhalb Manches- in den Wohnwagen des Typs
ters in England, hat eine er- „Senator“ setzt und ihm zu-
staunlich ruhige Art, von sei- hört, begreift die Leistung
nem Leiden zu sprechen. dieses Mannes: Er ist arm, oft
Das dritte Mal kam der Hus- krank, aber er macht weiter.
ten vor drei Jahren. Die Ärztin Er lebt. Die Stoiker haben eine
legte ein Stethoskop an Bax- Von der Website 20min.ch ganze Philosophie darauf ge-
ters Rücken und horchte. Sie gründet, auf diese Art dem
ließ seine Lunge röntgen, sah eine Verschattung und sagte: Schicksal zu trotzen. Monty Python haben ein Lied da-
„Das gefällt mir nicht.“ Sie riet Baxter, ins Krankenhaus rüber geschrieben, eine Zeile lautet: „Life’s a piece of shit
zu fahren. when you look at it (…) always look on the bright side of
Die Familie der Baxters ist nicht mit Gesundheit geseg- life.“ Hellen Baxter sagt es so: „Die Zeit tickt, während
net. Pauls Mutter starb jung an Leukämie, Hellens Vater du dich sorgst, deshalb kannst du sie genauso gut zum
starb jung an einem Hirntumor. Viele Menschen hätten Leben nutzen.“
sich an Baxters Stelle gefürchtet vor Verschattungen. Paul Baxter raucht weiter, trinkt weiter Ale, grillt weiter
Man könnte sich Paul Baxter anschauen, mit seinen ka- auf Holzkohle, verteilt seine Briefe, sagt Hellen jeden Tag,
riösen Zähnen und den nikotingelben Fingern. Man könn- dass er sie liebt, er gibt sein Geld aus, wenn was da ist.
te sich seine Frau Hellen anschauen, die einen Arbeiter- Am Dienstag vor einer Woche sind Hellen und Paul
akzent hat und während des Gesprächs „Bubble Tetris“ Baxter von einer Kreuzfahrt heimgekehrt. Sie waren von
auf ihrem iPad spielt. Man könnte sich den Wohnwagen Kopenhagen nach Miami geschippert, das Geld dafür hat-
anschauen, der nach Duftbaum, Variante „Bali“, riecht, ten sie gespart. Als die Baxters die Bermudas erreichten,
man könnte den dreckigen Teppich betrachten, den halb morgens um sieben, stellten sich die beiden aufs Oberdeck.
irren Pudel Eric oder den Megafernseher. Und man könnte Sie schauten ins türkisfarbene Wasser und auf die alten
denken, das sind Leute, die es nicht weit gebracht haben Häuser am Kai und waren glücklich. Die Sonne ging ge-
und die, weil sie filterlos rauchen, viel Bier trinken und rade auf.
Grillfleisch essen, jung sterben werden. „Komm“, sagte Hellen an diesem Morgen zu ihrem
Paul Baxter sorgte sich nicht weiter um die Verschattung, Paul, „lass uns von diesem Schiff runter, lass uns was ent-
machte entspannt einen Termin im Krankenhaus und fuhr decken gehen.“ Takis Würger
E
s sind 15 Monate vergangen, seitdem auf der Straße, im Theater, bei Auftritten. niger als 400 weiteren Orten des Landes
die kleine Lily Bo diesen Brief an „Einmal kam eine ältere Dame zu mir, sie waren insgesamt mehr als drei Millionen
Hillary Clinton geschrieben hat, hatte ihre erwachsene Tochter im Schlepp- Menschen, mehrheitlich Frauen, zum „Wo-
während des US-Wahlkampfs, und ein Teil tau und nötigte diese, sich bei mir dafür men’s March“ angetreten, dem Marsch der
ihres Albtraums ist danach Wirklichkeit zu entschuldigen, dass sie der Wahl fern- Frauen gegen Trump. Die oppositionelle
geworden: Donald Trump ist Präsident der geblieben war. Das tat die Tochter auch, Kraft, die sich hier zeigte, so glaubten da-
Vereinigten Staaten, vergangene Woche, mit schamvoll gesenktem Haupt. Ich hätte mals viele, könnte ein ähnliches Potenzial
am 8. November, jährte sich der Tag seiner ihr gern gesagt: ‚Wie, Sie haben nicht ge- entwickeln wie einige Jahre zuvor auf der
Wahl. Die Stimmen von Lilys Eltern und wählt? Wie konnten Sie das tun? Sie haben anderen Seite des politischen Spektrums
die Stimmen der Frauen, auf die das Mäd- Ihre Bürgerpflicht zum schlimmstmög- die erzkonservative Tea-Party-Bewegung.
chen gehofft hat, haben nicht gereicht, das lichen Zeitpunkt vernachlässigt! Und jetzt Und in diesen Frauenmassen auf den Stra-
zu verhindern. wollen Sie, dass ich dafür sorge, dass Sie ßen sah man Tausende Köpfe, die mit
Und so blieb der weiße Anzug der Sie- sich besser fühlen?‘ Natürlich habe ich einer pinkfarbenen Strickmütze bedeckt
gerin, den Hillary Clinton in der Wahl- nichts von alldem gesagt.“ Nur 63 Prozent waren: dem Pussyhat, der bald auf dem
nacht hätte tragen wollen, im Schrank, wie der wahlberechtigten Frauen waren zur Cover der „Time“ landete und zum Sym-
sie jetzt in ihrem Buch „What happened“ Urne gegangen, ein niedrigerer Wert als bol des weiblichen Kampfs gegen den
verriet, in dem sie im Detail nacherzählt, bei den drei Präsidentschaftswahlen davor. Mann im Weißen Haus wurde.
„was passiert ist“, wie es zu ihrer Nieder- Ein Jahr seit Trump also. Als Krista Suh, 30, eine zierliche Kali-
lage kam. Weiß, als Tribut an die Suffra- Ja, was ist passiert, seitdem? Wie ist es fornierin mit asiatischen Wurzeln, nach
getten-Bewegung, die den US-Frauen vor den Frauen Amerikas ergangen mit dem der Wahl zum ersten Mal vom geplanten
langer Zeit zum Stimmrecht verhalf, weiß, Mann, den sie gewählt haben? Wie lebt es Women’s March hörte, wusste sie sofort:
als Reverenz an das Weiße Haus, weiß, als sich als Frau im Lande Trump? Es gibt un- „Da muss ich hin.“ Und genauso sofort be-
Zeichen des Triumphs der Frau. Stattdes- gefähr 160 Millionen Frauen in den Ver- gann sie darüber nachzudenken, was sie
sen trug Hillary Clinton in den Stunden einigten Staaten, und natürlich sind das an diesem Tag tragen könnte. Sie steht
nach der Wahl Dunkelgrau und Lila. 160 Millionen verschiedene Geschichten jetzt im Wohnzimmer eines sandsteinfar-
Die Frauen in den USA hatten vor einem und politische Überzeugungen und Ideen. benen Häuschens in einer hügeligen Land-
Jahr Gelegenheit, Geschichte zu schreiben. Der SPIEGEL ist deshalb durch die USA schaft außerhalb von Los Angeles, ihre
Sie hätten erstmals eine Frau zur Präsiden- gereist, um mit ein paar dieser Frauen zu schwarzen Haare reichen ihr bis zur Taille
tin ihres Landes machen, erstmals eine Frau reden, in Kalifornien, in Texas, in Ohio, und auf ihren Turnschuhen wackeln bei je-
in das mächtigste politische Amt der Welt in New York. Mit Frauen, die Trump ver- dem Schritt zwei pinkfarbene Glitzerpom-
wählen können. Aber sie wollten nicht. achten und mit Frauen, die ihn verehren. pons hin und her. Sie sagt: „Kurz habe ich
Viele hatten damals die Hoffnung, dass Mit Frauen, die jetzt nach Auswegen su- mit dem Gedanken gespielt, nackt zu ge-
Clinton die Frauen auf ähnliche Weise mit- chen, und mit Frauen, die ihr Land endlich hen.“ Aber dann fiel ihr ein, dass die Idee
reißen könnte wie Barack Obama acht Jah- wieder auf dem richtigen Pfad wähnen. sich unter der kalifornischen Sonne wohl
re davor die Schwarzen. Und wenn ihr das Da ist zum Beispiel die ehemalige Miss besser anfühlt als bei einer Demonstration
gelungen wäre, wenn die Frauen ihr bei- Texas Dena Miller, Vorsitzende der „Trum- im Januar in Washington. In Washington,
gestanden hätten, wenn sie ihrem Slogan pettes Global“. Da ist Dianne Schubeck, im Winter, wäre eine Mütze gut.
„I’m with her“ („Ich bin für sie“) gefolgt eine Frauenärztin in Ohio, die das alles Ihre Idee hatte Pop, und sie hatte eine
wären, hätte Clinton Trump deutlich und nicht für möglich gehalten hätte. Da ist aggressive Ironie. Pink, die lieblich-harm-
60 DER SPIEGEL 46 / 2017
Gesellschaft
komme daher, dass Frauen das Gleiche Demnach erhalten internationale Hilfs- dem, dass es keineswegs nur junge Frauen
machen wollten wie Männer. Das schönste organisationen keine Fördergelder mehr, sind, die aufbegehren, eher im Gegenteil:
Kompliment, das ihr Mann ihr je gemacht wenn sie Schwangerschaftsabbrüche 50 Prozent gehören der Gruppe der 46- bis
habe, war dieses: „Du bist die weiblichste anbieten oder sich befürwortend dazu 65-Jährigen an.
Frau, die ich jemals getroffen habe. Du äußern.
So wie Dianne Schubeck.
solltest Kurse in Weiblichkeit geben.“ Und ‣ Im April strich Trump Zuschüsse für den
wenn man sie dann fragt, was sie in diesen Bevölkerungsfonds der Vereinten Natio- Schubeck, Gynäkologin, ist 59 Jahre alt
Kursen unterrichten würde, dann sagt sie, nen, der sich weltweit unter anderem und lebt in Ohio zwischen Feldern und
dass eine weibliche Frau sich pflegen und für Familienplanung und Empfängnis- Bäumen am Rand eines kleinen Dorfes na-
auf ihr Äußeres achtgeben solle. Vor allem verhütung einsetzt. mens Garrettsville. Jeden Morgen steigt
aber solle sie ihrem Mann „das Gefühl ge- ‣ Im Juni wurde öffentlich, dass Trump sie in ihr Auto und fährt zum nächsten
ben, auf ihn angewiesen zu sein“. einen Gleichstellungsrat, den „White Krankenhaus, ihrem Arbeitsplatz. „Mein
Es fällt etwas leichter, Dena Miller zu House Council on Women and Girls“, Job“, sagt sie, „ist mein Beitrag dazu, das
verstehen, wenn man weiß, wie sie aufge- abschaffen will. Leben von Frauen besser zu machen.“ Es
wachsen ist. In einer armen Familie, in ‣ Im August unterband Trump eine Maß- sieht nur so aus, als würde das allein nicht
einer armen Gegend von Mississippi. Sie nahme für mehr Lohngerechtigkeit zwi- mehr ausreichen.
war White Trash, jetzt ist sie weiße Ober- schen Geschlechtern und Ethnien. Sie war nicht auf dem Marsch der Frau-
schicht. Der Vater hat die Essensmarken ‣ Im September nahm die Regierung eine en, weil sie das Gefühl hat, in ihrem Leben
für seine Spielsucht verbraucht. Weil es in Richtlinie für den Umgang von Hoch- schon auf genug Demonstrationen gewe-
ihrem Leben so war, glaubt Miller, dass schulen mit sexuellem Missbrauch zu- sen zu sein. Sie hat, wie die meisten Ame-
das staatliche Sozialsystem nicht funktio- rück, weil sie ihr zu opferfreundlich er- rikanerinnen, keine Zeit, den ganzen Tag
nieren kann. Und weil Miller dann nach schien. die politischen Diskussionen auf Twitter
Texas zog und enge Oberteile trug und ‣ Im Oktober weichte Trump eine Rege- oder Facebook zu lesen. Schubeck ist kein
kellnern ging und von einem Bauunterneh- lung Obamas auf, die vorsah, dass die aktiver Teil des Widerstands, und sie weiß
mer angesprochen und erwählt wurde, Kosten für Verhütungsmittel wie die Pil- auch nicht so recht, wie sie die Muschi-
glaubt sie, dass auch das Land nur von le von der Krankenkasse übernommen mützen finden soll – immerhin hat sie ihr
einem reichen Mann gerettet werden kön- werden. Berufsleben auch damit verbracht, Frauen
ne. Einem Mann wie Trump. Es gibt also reichlich Gründe für einen beizubringen, ohne Scham und sachlich
„Eigentlich habe ich mich nie für Politik Aufstand der Frauen – und ein beliebtes korrekt über den eigenen Körper zu spre-
interessiert“, sagt Dena Miller. Und auch Mittel des Protests ist das Telefon. Platt- chen. Vulva. Klitoris. Vagina.
wenn sie jetzt gern hymnische Trump- formen wie DailyAction.org rufen die US- Sie kann das bloß einfach alles nicht fas-
News in den sozialen Netzwerken weiter- Bürger dazu auf, ihre gewählten Abgeord- sen, was jetzt passiert: die Rückschritte für
verbreitet – Mehr Jobs dank Trump! Börse neten anzurufen, um Druck auszuüben, die Frauen, diesen Dinosaurier in Washing-
auf Rekordhoch dank Trump! –, bekommt um sich über Maßnahmen wie die oben ton, als hätte es die Emanzipation nie ge-
man doch das Gefühl, dass sich das nicht aufgeführten zu beschweren oder sie zu geben. Sie hat in den Siebzigern und Acht-
geändert hat. Man kann sich für Trump verhindern. Was die Amerikanerinnen of- zigern für Gleichberechtigung gekämpft,
begeistern, ohne sich für Politik zu inte- fenbar auch zu Zehntausenden tun. Eine als für Frauen noch der Platz am Herd und
ressieren. Wahrscheinlich kann man sich Umfrage von DailyAction.org ergab im bei den Kindern vorgesehen war, und sie
sogar leichter für Trump begeistern, wenn April, dass volle 86 Prozent ihrer Nutzer hat, wie Millionen andere Amerikanerin-
man sich nicht für Politik interessiert. Frauen sind. Die Erhebung zeigte außer- nen, gedacht, dieser Kampf sei geführt und
Miller mag den Politiker Trump gar im Großen und Ganzen gewonnen. „Und
nicht so sehr. Aber sie mag den starken jetzt das!“, sagt sie, mit immer noch un-
Mann, den er für sie darstellt. „Frauen mö- gläubigem Staunen.
gen nun mal Alphatiere“, sagt sie. Und Auf Frauen wie Dianne Schubeck wird
dass dieses Tier Frauen gern angrapscht, es ankommen, auf die vielen, die dachten,
das stört sie kein bisschen? Sie sagt nur das Rad der Zivilisation könne nicht zu-
„Männer!“ und lacht. rückgedreht werden. Werden sie sich mo-
Dann steigt Dena Miller in ihren riesigen bilisieren lassen? Es gibt Umfragen, die
weinroten SUV, auf dessen Rückbank ihre dafür sprechen. Bei den regelmäßig erho-
Tochter sitzt, Gigi. Sie ist 15 und hebt den benen Zustimmungswerten zu Trump exis-
Blick selten von ihrem Handy. Gigi sagt, tiert ein markanter Gender-Gap: In einer
sie möchte später Musik studieren und Gallup-Umfrage Anfang November gaben
nach Europa reisen, vor allem nach Paris. 45 Prozent der Männer an, mit Trumps Leis-
Die Mutter, Gummistiefel auf dem Gaspe- tungen als Präsident zufrieden zu sein, aber
dal, hat ein wenig Bedenken, sie hat von nur 31 Prozent der Frauen antworteten in
den islamistischen Anschlägen auf „Char- diesem Sinne. Ein ähnlicher Unterschied
lie Hebdo“ und auf das Konzert im Bata- ergab sich im August in einer Untersuchung,
clan gehört. „Ich lass dich erst nach Paris“, die danach fragte, ob der Präsident seines
ANDREW SPEAR / DER SPIEGEL
sagt Dena Miller, „wenn Trump vorher den Amtes enthoben werden sollte: Fast jede
‚Islamischen Staat‘ erledigt hat.“ zweite Frau (47 Prozent) bejahte dies, aber
Das Jahr mit Trump begann schlecht für nur jeder dritte Mann (32 Prozent).
Amerikas Frauen und wurde immer Am Abend, wenn sie nach zu vielen Pa-
schlimmer. Der neue Mann im Weißen tientinnen an einem zu langen Tag nach
Haus vergeudete keine Zeit, um ihnen das Hause kommt, lässt Dianne Schubeck sich
Leben schwer zu machen. Frauenärztin Schubeck auf ihr Sofa fallen und trinkt ein Glas Wein,
‣ Im Januar ging er gegen Abtreibungen Vulva, Klitoris, Vagina derzeit gern auch ein zweites. Ihr Heim
vor und reaktivierte eine alte Verfügung. gleicht einer Arche Noah. Im Hof gackern
DER SPIEGEL 46 / 2017 63
SERGE HOELTSCHI / DER SPIEGEL
Rechte Aktivistin Loomer: Mit Burka ins Wahllokal
Hühner. Im Schuppen liegt eine Hündin als irgendwie „weiblich“. Trumps berühm- limin. Zuvor hatte sie versucht, Clintons
zwischen ihren Welpen. Schubeck enga- ter Slogan könnte also auch lauten: Make Wahlkampfteam illegale Spenden anzudre-
giert sich für den Tierschutz – dass auch America Male Again. hen. Dann hat sie während einer Inszenie-
der Frauenschutz noch mal zur dringlichen Trotzdem gibt es Frauen, die sich mit al- rung von Shakespeares „Julius Cäsar“ eine
Frage werden könnte, das hat sie nicht für ler Kraft für Trump einsetzen. Die für ihn New Yorker Bühne gestürmt, weil der Re-
möglich gehalten. Sie sagt müde: „Es ist auf die Straße gehen, für seine Mauer de- gisseur die Idee hatte, seinen Cäsar, dessen
ja noch nicht einmal alles Trumps persön- monstrieren, für ihn in Mikrofone brüllen. Ermordung das Stück zeigt, als Donald-
liche Schuld. Ich hasse nur, wofür er steht.“ Trump-Lookalike darzustellen. Ihre Auf-
So wie Laura Loomer.
Wofür steht Trump? Dieser Präsident tritte lässt Loomer filmen, worauf Akteure
mache „die männlichste Politik, die wir „Der Feminismus war einmal eine aner- der neurechten Alt-Right-Bewegung die
jemals hatten“, sagt etwa der New Yorker kannte Ideologie“, schreit Loomer an Clips verbreiten. In ihrem Twitter-Feed hat
Soziologe Michael Kimmel. Was heißt das, einem Samstagmorgen auf dem New Yor- sie einmal ein Foto von sich mit einem Pla-
männliche Politik? In Zeiten, in denen die ker Foley Square ihrem Publikum zu, „aber kat gepostet, auf dem steht: „I WANT DO-
Frage, welche Toilette Transsexuelle be- er ist zu einem Kampfmittel der verlogenen NALD TRUMP TO GRAB MY PUSSY!“
nutzen dürfen, zu riesigen Debatten führt, Linken verkommen!“ Der Applaus ist spär- Tja. Was ist das? Dummheit? Antifemi-
ist es keine Frage mehr, ob das Geschlecht lich, weil das Publikum spärlich ist, 50 Leu- nismus? Bloße Provokationslust? Es zeigt
politisch ist. Die größere Frage ist: Hat te vielleicht, mehr nicht, sind auf diese Pro- zumindest erneut, dass es auch Frauen gibt,
auch die Politik insgesamt ein Geschlecht? Trump-Kundgebung gekommen, ein paar die sich an Donald Trumps übergriffigem
Ein Hinweis darauf liegt im Spottbegriff Männer mit roten Trump-Kappen, dazu Verhalten nicht stören. Und obwohl die
des Nanny State, Kindermädchenstaat, ihre Frauen. Es sollte, das war der Plan, Liste von Trumps diesbezüglichen Verfeh-
der ein Staatswesen beklagt, das mit zu Stimmung gemacht werden für Trumps res- lungen länger geworden ist in seinem ers-
vielen Regeln das Leben seiner Bürger kon- triktive Einreisepolitik und „gegen die ten Amtsjahr, scheint das dem Präsidenten
trollieren, bemuttern wolle. Der Nanny- Scharia“, aber die New Yorker scheinen weiterhin nicht zu schaden. Selbst in den
Staat nehme hart arbeitenden, starken Besseres zu tun zu haben. vergangenen Wochen, während im Zuge
Männern das Geld weg, um Schwachen Man darf Laura Loomer, eine blonde des Harvey-Weinstein-Skandals und der
Zuwendungen zu geben, die ihnen nicht Frau von 24 Jahren, durchaus eine Kra- nachfolgenden #MeToo-Welle in den USA
zustünden. Ist es Zufall, dass das Wort wallnudel nennen. Die Rechtsaktivistin und anderswo immer weitere alte Herren
weiblich ist? Wenn rechtskonservative jüdischer Herkunft hat sich einen Namen seiner Generation als Sexisten geoutet wur-
Kommentatoren die Amtszeit Obamas kri- gemacht mit öffentlichkeitswirksamen den und werden, blieb Donald Trump von
tisieren, dann sagen sie manchmal, er habe Guerillaaktionen für die rechte Sache. Am alldem seltsam unberührt.
den Staat verweiblicht. Bereiche wie Mili- 8. November 2016 erschien sie voll ver- Das ging so weit, dass einige der Frauen,
tär, Kohleabbau oder Infrastruktur sind schleiert mit einer Burka in einem Wahl- die Missbrauchsvorwürfe gegen Trump vor-
männlich konnotiert, Bereiche wie Kunst, lokal und gab sich als Huma Abedin aus, gebracht hatten, sich über die Ungleichbe-
Bildung und Umweltschutz, die die Trump- die bekannte ehemalige persönliche Assis- handlung beklagten. Eine davon, Temple
Administration zurückstutzen will, gelten tentin Hillary Clintons, zufällig eine Mus- Taggart, ehemalige Miss Utah, sagte, dass
64 DER SPIEGEL 46 / 2017
Gesellschaft
sie zwar erfreut sei über den Absturz des großer amerikanischer Frauen, sitzt an die- Hillary Clinton dürfte dennoch skep-
Hollywoodmoguls Weinstein, aber „trau- sem Tag in einem rot gestrichenen Garten- tisch bleiben. Sie gab kürzlich während
rig“ darüber, dass gleichzeitig alles, was holzstuhl vor ihrem Haus, das aussieht, als der Tournee für ihr Buch eine erstaunliche
Trump betreffe, „unter den Teppich ge- hätte man Pippi Langstrumpf eine Polit- Antwort auf die Frage, warum ihr vor
kehrt wird“. Taggart wirft Trump vor, sie zentrale entwerfen lassen. An der Haus- einem Jahr nicht mehr Frauen ihre Stimme
mehrmals unvermittelt auf die Lippen ge- front ist ein Banner gespannt: „Resist“, gegeben haben: „Frauen“, so sagte sie,
küsst zu haben. Es gibt mehr als ein Dut- steht darauf, leiste Widerstand. „stehen unter enormem Druck. Sie stehen
zend Frauen, die solche Vorwürfe gegen Mit Schatz hat etwas Neues in der unter enormem Druck durch ihre Väter,
Trump erhoben haben, darunter die Jour- Haight Avenue Einzug gehalten. Man ihre Ehemänner, ihre Partner, ihre männ-
nalistin Natasha Stoynoff, die er in seiner könnte es eine Repolitisierung des Privaten lichen Arbeitgeber, damit sie nicht für ‚die
Residenz Mar-a-Lago begrapscht, die Yoga- nennen, Schatz nennt es Solidarity Sun- Frau‘ stimmen.“ Sondern für den Kandi-
lehrerin Karena Virginia, der er an den Bu- days. Es begann vor ein paar Monaten mit daten, den der Mann bevorzugt.
sen gefasst, oder die Geschäftsfrau Jessica einer sonntäglichen Diskussionsrunde in Die Theorie scheint allzu simpel, wird
Leeds, die er während eines Fluges sexuell ihrem Haus zum Thema Waffenrecht, zu aber von amerikanischen Studien zum
belästigt haben soll. Als Leeds diesen Vor- dem Schatz ihre Nachbarinnen eingeladen weiblichen Wahlverhalten bestätigt: Wäh-
fall aus den Achtzigerjahren publik machte, hatte, sie offerierte Sekt, eine Freundin rend alleinstehende Frauen oft im Sinne al-
wies Trump alles als Fiktion zurück und brachte einen Wackelpudding. Schatz ler Frauen oder für eine abstrakte „Sache
verhöhnte seine Anklägerin mit den Wor- brachte die Frauen dazu, bei Senatoren der Frau“ abstimmen, wählen verheiratete
ten: „Glaubt mir, die wäre nicht meine ers- anzurufen, Protestbriefe zu schreiben. Es Frauen viel häufiger so, wie es ihnen für
te Wahl.“ gab seither etliche Solidaritätssonntage bei ihre Familie und für ihren Ehemann am bes-
Er kommt mit alldem davon. Er kommt Schatz, und „jedes Mal“, so sagt sie, „ka- ten erscheint. Deswegen gewinnen in US-
davon, wenn er Frauen „Hündinnen“, „fet- men mehr Frauen dazu“. Je nach Nach- Wahlen traditionell die Republikaner eine
te Schweine“ oder „Schlampen“ nennt. Er richtenlage debattieren sie über Steuer- Mehrheit der Stimmen der Ehefrauen, ob-
kommt davon, wenn er, wie in diesem Jahr gerechtigkeit, Abtreibung oder den russi- wohl die Demokraten eine frauenfreund-
geschehen, eine irische Journalistin wäh- schen Einfluss auf die Wahlen. lichere Politik machen. Für die vielen Mil-
rend einer Pressekonferenz nach vorn zi- Wenn man mit Kate Schatz und ihren lionen Frauen, die auch heute noch ökono-
tiert, um sie für das „hübsche Lächeln in Mitkämpferinnen spricht, hat man das Ge- misch von ihren Männern abhängig sind,
ihrem Gesicht“ zu loben. Es passiert ihm fühl, dass Donald Trump der Weckruf war, ist das weniger irrational, als es klingt. Und
nichts, wenn er die puerto-ricanische Bür- dessen es bedurfte, um dieser Bewegung es muss nicht unbedingt richtig sein, was
germeisterin Carmen Yulín Cruz als „nas- Schwung zu verleihen. Aber ob das rei- Michelle Obama, die vorherige First Lady,
ty“ beleidigt – eklig, fies, hässlich. Kritik chen wird? Werden Amerikas Frauen wirk- vor ein paar Wochen auf einem Podium
an solchem Rüpeltum tut der Präsident lich aufstehen, in ausreichender Zahl? sagte: „Jede Frau, die gegen Hillary Clinton
gern ab mit Sätzen wie diesem: „Niemand Vor ein paar Tagen taten sie es, bei den gestimmt hat, hat gegen ihre eigene Stimme
hat mehr Respekt vor Frauen als ich.“ Wahlen im US-Bundesstaat Virginia, ihre votiert“ („voted against her own voice“).
Stimmen sicherten dem demokratischen Die Wahrheit ist womöglich, dass es die
Aber nicht vor Frauen wie Kate Schatz.
Kandidaten Ralph Northam den Sieg über Stimme der Frau gar nicht gibt. Frauen
Schatz, 36, lebt in Alameda bei San Fran- den republikanischen Gegner Ed Gillespie, sind keine auch nur annähernd einheitliche
cisco und sagt: „Wir müssen die Verant- der mit einem Trump-Programm angetre- soziale Gruppe, so wie es in den USA viel-
wortung dafür übernehmen, dass wir ten war. 50 Prozent der Männer entschie- leicht die Farbigen sind, oder die Latinos,
Trump möglich gemacht haben.“ Sie, Au- den sich für Gillespie, aber 61 Prozent der oder die Stahlarbeiter. „Die Frauen“ ha-
torin eines Bestsellers mit Kurzporträts Frauen wählten Northam. ben nicht mehr gemeinsame Interessen,
nicht mehr Loyalität untereinander als
„die Männer“. Frauen sind getrennt durch
Wohlstand, Bildung, Religion, Kultur,
Hautfarbe. Und wer auf die Stimme der
amerikanischen Frauen hoffte, so schrieb
die „New York Times“ nach Clintons Nie-
derlage, sei auch in der Vergangenheit im-
mer wieder enttäuscht worden, die Stimme
der Frau sei nicht mehr als ein „Traum“
und ein „Mythos“.
Wie geht es weiter für die Frauen mit
Trump?
Kate Schatz diskutiert weiter über ihn.
Dena Miller sammelt Geld für ihn.
Krista Suh strickt Mützen gegen ihn.
Dianne Schubeck könnte kotzen wegen
ihm.
WINNI WINTERMEYER / DER SPIEGEL
I
ch bin aufgewachsen in Oberbayern, in Arzbach, einem traf mich mit zwei Freundinnen aus der Schule. Mit ihnen
Ort in den Bergen mit 800 Einwohnern und ein paar Kü- saß ich auf einer Kirchenmauer, in der Hand ein Eis, Strac-
hen. Die Luft in der Gegend ist perfekt beziehungsweise ciatella, Pistazie, und beobachtete die Alten, wie sie mit
„therapeutisch wirksam“, wie es im Internet heißt. Jedes ihren Weidenkörben Gewürze einkauften in der Kräuter-
Jahr lockt diese Luft Millionen Menschen her. Sie lieben die hexe und Hosen im Jeansstadl. Alles war vorgezeichnet,
Ruhe, laufen die Lenggrieser Denkalm hoch auf 970 Meter, so schien es mir zumindest, man musste gar nicht heraus-
oben lehnen sie ihre Wanderstöcke gegen eine Holzbank, finden, was man selbst eigentlich wollte. An solchen Tagen
streichen Obatzten auf ihre Brezen und schauen kauend auf war ich überzeugt: Ich verpasse auf dieser Kirchenmauer
Tannenbaumwipfel. Im Hintergrund: Kuhglockengebimmel. mein Leben.
So klingt meine Heimat. Ich kann sie nicht ertragen. Neulich war ich mit einer Freundin, die in meiner Hei-
Das Wort „Heimat“ ist schwer greifbar für meine Ge- mat geblieben ist, in unserem Lieblingsbistro essen. Ich
neration, für Menschen unter 30. In der Jugendzeitschrift fragte: Wie hältst du das aus hier? Sie legte den Kopf
„Neon“ stand vor einiger Zeit: schief, sagte dann: „Na ja,
„Wo ist zu Hause? Heimat ist jetzt habe ich ein Auto und
in unserer mobilen Welt zu kann weg, wenn es mich
einem diffusen Gefühl gewor- nervt.“ Und: „Es kann auch
den. Doch wir brauchen so schön hier sein.“
einen Ort zum Glücklichwer- Es stimmt. Natürlich gab es
den.“ Alle wollen eine Hei- auch die großartigen Momen-
mat, heute. Die Grünen trau- te. Die, in denen ich um zwei
en sich an das Wort wie an ein Uhr nachts aufstand, mir den
Tabu. Heimatministerien wer- Reißverschluss meiner Fleece-
den gegründet, Ministerien jacke bis unters Kinn zog und
für ein Gefühl. mit einer Freundin über
Stimmt etwas nicht mit mir, Schluchten kletterte und mit
weil ich mich fremd in meiner ihr über die Trampelpfade auf
Heimat fühle? Viele meiner den Gipfel stieg. Dann warte-
Freunde sitzen schon am Don- ten wir, bis wir im Morgen-
nerstagnachmittag im Zug, licht Brezen frühstücken konn-
um zu den Routen fürs Moun- ten. Oder die Nachmittage,
tainbike, den Bergen zum wenn ich mit meinem Schäfer-
Klettern, zu Mutters Sauerbra- hundmischling durch Wälder
ten zurückzufahren. Ich sträu- streifte und keinem Menschen
be mich gegen eine Rückkehr, begegnete. Die Böden waren
sooft es geht. übersät mit Tannennadeln
Nach meinem Abitur bin ich abgehauen. Wenn ich heu- und Wurzeln, nur an manchen Stellen fielen Sonnenstrah-
te in einer U-Bahn sitze, denke ich manchmal daran, was len durch die Äste. Alles war still.
ich zwischen 13 und 17 alles verpasst habe. Damals träumte Bei meinem Besuch neulich stand ich im Haus meiner
ich von der Großstadt, von Straßenlaternen, die nicht um Mutter, und die Zeit lief plötzlich langsamer. Ich holte
elf Uhr nachts ausgehen, von Nächten in Bars mit Fremden mir einen Krimi von Patricia Cornwell, es gab nichts Inte-
und ihren Geschichten, die man anhören und erzählen ressanteres, und setzte mich damit auf die Terrasse. Vom
kann, von den Konzerten meiner liebsten Bands. Stuhl aus betrachtete ich mein Dorf: das Brauneck, die
Im Dorf schien mir das alles unerreichbar. Damals fand bayerische Wirtschaft gegenüber mit dem Schweinebraten
ich neue Musik in der Drogerie. Die Theke mit drei Kopf- für 9,80 Euro, und meinen Nachbarn. Er stand in der Auf-
hörern zum Probehören war mein Tor zu einer anderen fahrt, den Schlauch seines Dampfstrahlreinigers in der
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
Welt, einer Welt der Möglichkeiten, der Entscheidungen. Hand. Den ganzen Nachmittag spritzte er seine Fahrzeuge
Hier mussten wir froh sein, wenn überhaupt ein Termin ab: sein Auto, sein erstes, zweites und drittes Trial-Motor-
im Veranstaltungskalender stand. Manchmal gingen meine rad und das Wohnmobil, das er fast nie fährt. Ich glaube,
Freunde und ich ins Blue, am ehesten dann, wenn Rock- sie zu reinigen, ist sein liebstes Hobby. Und mir fiel nichts
nacht war. In guten Minuten wummerte aus den Boxen ir- Besseres ein, als ihm dabei zuzusehen. Immerhin wusste
gendetwas von Nirvana, in den schlechten der Poprock ich: Der Zug zurück zur Großstadt geht in ein paar Stun-
von Nickelback. Dabei umhüllte der Qualm von Zigaretten den. Der Zug in meine Heimat, dachte ich.
und der Nebelmaschine die Theke und die Menschen auf Cathrin Schmiegel
Dieselskandal
Versicherung gen gewünscht sind“. Die Viele Berater geben jedoch gen gebe es nicht. „Wir haben
Allianz verhindert Allianz hatte zum Oktober an, nach erfolgten Wechseln jedoch in der Vergangenheit
Tarifwechsel neue Preisgruppen bei der
Autoversicherung eingeführt,
von Vorgesetzten zu einer
Stellungnahme aufgefordert
vermehrt Tarifumstellungen
beobachtet, die ohne Bera-
Die Allianz drängt offenbar die für den Kunden einfacher oder zum persönlichen tung des Kunden stattgefun-
ihre Vertreter, Kunden nicht zu verstehen und wettbe- Gespräch gebeten worden zu den haben.“ Neben dem
auf neue, günstigere Kfz- werbsfähiger sein sollten. Je sein. Jede Umstellung werde Preis hätten sich aber auch
Versicherungen umzustellen. nach Fall sind die neuen Ta- offenbar „nach oben“ ge- Produkteigenschaften verän-
In einem geschützten Forum rife für Autobesitzer billiger: meldet. Das Verhalten der Al- dert. „Auf Wunsch des Kun-
im Netz ärgern sich mehrere Sein eigenes Fahrzeug wäre lianz sei „so nicht tragbar“, den und nach einer erfolgten
Vertreter über E-Mails und mit einem neuen Tarif 140 findet ein Berater. Die Alli- Beratung“ sei „selbstver-
Anrufe von Vorgesetzten, Euro günstiger im Jahr, hat anz erklärt, ein „generelles ständlich eine Umstellung auf
„dass keine Tarifumstellun- ein Vertreter ausgerechnet. Verbot“ von Tarifumstellun- den neuen Tarif möglich.“ ase
Für Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender zuschüssen – vor allem stört, ist das Recht
der IG Metall, ist das auch eine Frage der der Teilzeitbeschäftigten, nach zwei Jahren
Gerechtigkeit: „Wir wollen, dass eine Re- auf einen Vollzeitarbeitsplatz zurückzu-
Arbeiter der Mecklenburger Metallguss GmbH duzierung der Arbeitszeit nicht nur mit kehren. Das bringe die komplette Arbeits-
hohen Einkommen möglich ist, sondern organisation durcheinander, argumentie-
auch für die Menschen, die weniger gut ren sie. Wo immer es möglich sei, könnten
verdienen, eine echte Option wird.“ die Mitarbeiter doch schon heute wieder
G
eld ist nicht das Problem. Der Das klingt nicht nach der Neuauflage al- von Teil- in Vollzeit wechseln. Es sei doch
Metallindustrie geht es, nach acht ter geschlagener Schlachten, eher nach dem auch im Interesse der Betriebe, qualifizier-
Jahren des Aufschwungs, so gut Gegenteil. 1984 wurde, als Ausgleich für tes Personal länger zu beschäftigen, statt
wie lange nicht mehr. Die größte Gefahr die arbeitnehmerfreundliche Arbeitszeit- neue Mitarbeiter einzustellen.
scheint die Überhitzung der Konjunktur verkürzung, eine arbeitgeberfreundliche Das mag in vielen Fällen so sein, doch
zu sein, vor der die Ökonomen des Sach- Flexibilisierung der Arbeit vereinbart. Heu- „derzeit hängen wir vom Wohlwollen des
verständigenrats gerade gewarnt haben. te sagt Hofmann: „Wir wollen in dieser Run- Arbeitgebers ab“, sagt Florian Mayer, Fer-
Da könnte die kommende Tarifrunde de keine kollektive Regelung der Arbeits- tigungstechniker bei Airbus. „Da ist man
eigentlich ein Selbstläufer sein. zeit für alle, sondern individuelle Lösungen in einer Bittstellerrolle.“
Wenn es denn um Geld ginge. Aber das für den Einzelnen.“ Es folgt allerdings ein Tanja Steinau ist seit 1995 Disponentin
geht es nur zum Teil. Sechs Prozent mehr Nachsatz: „Über die Flexibilisierung soll in der Ersatzteilversorgung beim Hambur-
DER SPIEGEL 46 / 2017 71
Umfrage zu Arbeitszeiten
Vertraglich vereinbarte Tatsächlich geleistete
Stundenzahl Stundenzahl
über 48
ger Gabelstapler-Hersteller Still, seit der 41 bis 48 1,4 % Rund jeder fünfte arbeitet regelmäßig
Geburt ihrer Tochter arbeitet sie Teilzeit. 40 22,2 % Schicht.
Damit sie irgendwann wieder zur Vollzeit 22,6 % Zugleich aber hat sich in der Gesell-
zurückkehren kann, hat sie ihre Stelle schaft das Verhältnis zu Geld und Arbeit
nicht fest auf Teilzeit umgeschrieben. „Das gewandelt. Im vergangenen Jahr schloss
bedeutet aber, dass ich Jahresverträge be- 36 bis 39 20,8 % 20,3 % die Eisenbahngewerkschaft EVG einen Ta-
komme, und das ist natürlich unsicher.“ rifvertrag mit der Deutschen Bahn AG.
Sicherheit, in die Vollzeit zurückzukehren, Wochen- Dieser sah eine Tariferhöhung in zwei Stu-
arbeitszeit
gebe es trotzdem nicht. „Einigen Kollegen in Stunden fen vor. Für die zweite Stufe ab Januar
ist das auch nicht gelungen, andere hatten 32,8 % 2018 konnten sich die Beschäftigten zwi-
Glück“, sagt sie. „Wenn die Forderungen Befragung der schen 2,6 Prozent mehr Lohn und mehr
durchkommen, würde sich das ändern.“ 35 47,8 % IG Metall unter
Beschäftigten Freizeit entscheiden. 56 Prozent wählten
der Metall- und
Mehr Geld oder mehr Freizeit – und Elektroindustrie sechs Tage mehr Urlaub im Jahr.
mehr Flexibilität auch aufseiten der Ar- und des Hand- Für die Arbeitgeber ist das ein Problem:
15,8 % werks im Januar
beitnehmer: Das sind die Streitfragen in und Februar In Zeiten des demografischen Wandels
diesem Tarifkonflikt. Und deshalb reicht bis 34 2017; 681 241 werden Fachkräfte zunehmend knapp –
Teilnehmer
er weit über die Metallindustrie hinaus. und viele Qualifizierte wollen auch noch
Die flexible Arbeitswelt, angetrieben weniger arbeiten. Zumindest aber wollen
und beschleunigt durch Digitalisierung und In der Metallindustrie reichen die ver- sie flexiblere Arbeitszeiten, über die sie
technischen Fortschritt, stellt die Tarif- traglichen Arbeitszeiten je nach Tätigkeit auch selbst bestimmen können.
parteien vor grundsätzliche Fragen: Wer von 32 bis über 40 Stunden, häufig im sel- Die Gewerkschaft hat im kommenden Ta-
bestimmt darüber, wie die flexiblen Ar- ben Betrieb. In der Realität ist die 35-Stun- rifkonflikt deshalb den Zeitgeist auf ihrer
beitszeiten der Beschäftigten auszusehen den-Woche eher eine Leitlinie. Seite. „Das Modell Vollzeit plus, Überstun-
haben? Droht eine Spaltung der Beleg- Die tatsächlichen Arbeitszeiten liegen den plus, Flexibilisierung plus, Leistungsver-
schaften? Die einen können aufgrund ihrer höher, im Schnitt aller Vollzeitbeschäf- dichtung ohne Ende ist überholt und geht
Tätigkeit mehr oder weniger frei ihre Ar- tigten sogar bei 43,5 Stunden – knapp fünf an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
beitszeiten einteilen, die anderen werden Stunden mehr als vertraglich vereinbart. Sie wollen Arbeitszeiten, die zum Leben pas-
flexibilisiert, weil ihre Arbeit an die Lauf- Das ergab eine Befragung der Bundes- sen“, sagt IG-Metall-Vorsitzender Hofmann.
zeiten von Maschinen und rigide Arbeits- anstalt für Arbeitsschutz und Arbeits- Die Gewerkschaft rechnet, wie die Ar-
abläufe gekoppelt ist. medizin unter 20 000 Erwerbstätigen. beitgeber, mit einer harten Tarifrunde.
1978
1984
„Teile der Arbeitgeber sind extrem rück- mit ihr einherging, legte den Grundstein immer geartete Arbeitszeitverkürzung
wärtsgewandt“, sagt Hofmann, „die wol- für den Erfolg der deutschen Industrie heu- kann die IG Metall am Ende keinen Tarif-
len sich mit Händen und Füßen dagegen te. Seither gibt es Arbeitszeitkonten, neue vertrag unterzeichnen.
wehren, Verantwortung zu übernehmen.“ Schichtmodelle, variable Arbeitszeiten für Eine mögliche Kompromisslinie, zumin-
Wer von „Stilllegungsprämie“ bei Kinder- Mitarbeiter in ein und demselben Betrieb. dest aus Sicht der Gewerkschaft: Die IG
erziehung oder „Freizeitausgleich“ spre- Der Preis aber war hoch. Die 35-Stun- Metall will das Recht zur Rückkehr aus
che, habe die Zeichen der Zeit nicht er- den-Woche löste eine brutale Rationalisie- Teil- in Vollzeit zwar im Manteltarifvertrag
kannt. rungswelle und eine Verlagerung von Ar- verankern. Es müsste aber nicht vom ers-
Richtig Fahrt wird die Auseinanderset- beitsplätzen ins Ausland aus. ten Geltungstag des Tarifvertrags an in
zung erst nach Ende der Friedenspflicht Hofmann ist trotz des zu erwartenden Kraft treten, stattdessen könnte eine Über-
zum Jahreswechsel aufnehmen. In der Widerstands zuversichtlich, dass sich seine gangsfrist vereinbart werden. Damit be-
zweiten Januarwoche wird die IG Metall Gewerkschaft am Ende durchsetzen wird: stünde die Möglichkeit, passende Lösun-
zu Warnstreiks aufrufen, wenn in den Ver- „Angesichts der blendenden Auftragslage gen für die Umsetzung in den Betrieben
handlungen keine Fortschritte erzielt sein haben die Unternehmen kein Interesse an selbst zu finden.
sollten. Und dafür spricht vieles. einer langen Auseinandersetzung – und „Wenn die IG Metall den Manteltarifver-
Bei den Arbeitgebern wirkt das Trauma wir auch nicht.“ trag kündigt“, warnt dagegen Gesamtme-
des Kampfes um die 35-Stunden-Woche Doch auch die IG Metall muss beweisen, tall-Präsident Dulger, „öffnet sie die Büch-
noch immer nach. Aus Protest verließen dass sie ihre Mitglieder hinter sich hat. Ob se der Pandora. Dann wird die Tarifrunde
damals viele Unternehmen den Arbeit- die bereit sind, nicht nur für mehr Geld, unheimlich schwer beherrschbar.“ Der
geberverband Gesamtmetall. Auch jetzt sondern auch für Teilzeit zu streiken – und Manteltarifvertrag enthält in jedem Bezirk
gibt es schon erste Austritte, 25 Anträge auf einen Teil der möglichen Lohnerhöhung eigene, sehr spezifische Regelungen, einige
lagen zu Beginn der Woche bereits vor, zu verzichten, um für andere einen Lohn- könnten davon im Gegenzug von Arbeit-
über 50 Firmen haben damit gedroht. Sie zuschuss zu erkämpfen. Sophia Kielhorn, geberseite infrage gestellt werden.
wollen sich nicht den drohenden Tarifver- Betriebsratsvorsitzende bei Airbus in Ham- Dennoch: Einen Streik wollen beide Sei-
einbarungen unterwerfen, viele wollen burg, ist dennoch „überzeugt davon, dass ten vermeiden. „Das Schwierige an einem
sich auch dem möglichen Arbeitskampf wir unsere Mitglieder mobilisieren können“. Streik ist nicht, ihn anzufangen, sondern
entziehen. Ganz gleich, wie solidarisch die Arbeit- ihn zu beenden“, sagt Dulger.
Dabei hatte die Arbeitszeitverkürzung, nehmer hinter ihrer Gewerkschaft stehen Der Arbeitskampf im Jahr 1984 dauerte
aus heutiger Sicht betrachtet, durchaus und wie hart der Widerstand der Arbeit- sieben Wochen.
positive Seiten, die Flexibilisierung, die geber auch sein mag: Ohne eine wie auch Markus Dettmer, Armin Mahler, Antonia Schaefer
Es ist auch ein Verdienst der Chemie, dass immer mehr Menschen ihre
Büroarbeit heute locker in die Tasche stecken können. Sie entwickelte
2020
A
nfang der Woche schreck- schiedlich, als dass sie alle gleicher-
ten Enthüllungen über welt- maßen zufriedenzustellen wären.
weite Steuertricksereien die Es gibt positive Entwicklungen.
Finanzwelt auf. Ein internationales Die Kooperation der Finanzverwal-
Recherche-Netzwerk, unter ande- tungen etwa kennt mittlerweile vie-
rem Journalisten der „Süddeut- le Ebenen. Die großen Industrie-
schen Zeitung“, hatte 13,4 Millio- und Schwellenländer arbeiten bei-
nen Datensätze ausgeschlachtet, spielsweise im Rahmen der G 20 bei
die als Paradise Papers Schlagzeilen der sogenannten BEPS-Initiative
machten. zusammen. Die Finanzverwaltun-
Bei diesen Fällen geht es um ähn- gen der beteiligten Länder dürfen
liche Sachverhalte wie schon bei nicht mehr bloß auf Nachfrage, son-
der Vorgängerenthüllung, die als dern müssen automatisch Informa-
Panama Papers Furore machte: Die tionen untereinander austauschen.
Daten beschreiben, wie Vermögen- Die Regelung ist seit September die-
Das Land fällt auch dadurch auf, dass Allgemeinheit sperren sich die Regierun- Die attraktiven Tarife müssten sie auch der
es gezielt Inhaber kleiner Firmen anlockt. gen beider Länder. heimischen Wirtschaft gewähren. Dabei
Eröffnen sie auf der Insel ein Büro, müssen Steuerexperten der Bundesregierung ha- verlöre ein Land wie Deutschland mehr
sie bei einem Jahresgehalt bis zu fünf Mil- ben durchaus Verständnis für nationale Ei- Steuereinnahmen, als es gewönne.
lionen Euro nur 15 Prozent Steuern bezah- genheiten. „Das ist wie im Privatleben“, Erschwerend kommt hinzu, dass die
len. Alles, was darüber liegt, kassieren sie sagt einer und wählt einen freizügigen Ver- größte Volkswirtschaft der Welt, die USA,
steuerfrei. gleich: „Nicht jeder, der nackt in die Ba- beim Kampf gegen Steueroasen eher halb-
Nur bei einem sehr kleinen Steuer- dewanne steigt, zeigt sich auch gern unbe- herzig unterwegs ist. Zum einen bietet der
schlupfloch konnten sich die Gegner von kleidet am FKK-Strand.“ Bundesstaat Delaware Hunderttausenden
Steuervermeidung durchsetzen. Seit Kur- Der Transparenzansatz wird derzeit Briefkastenfirmen einen anonymen Unter-
zem gilt für sogenannte Lizenzboxen ein politisch nicht forciert. Ein solcher Versuch schlupf. Zum anderen zeigen sich die ame-
informeller Mindeststeuersatz. Bei diesem wäre aussichtslos. Würden alle anderen rikanischen Regierungen, gleich welcher
Modell werden zum Beispiel Erträge aus Staaten weiter gehende Schritte beschlie- Couleur, seit je vergleichsweise duldsam
Patenten gesondert ausgewiesen und nied- ßen, würden Japan und die USA die bis- gegenüber den steuerlichen Streuverlusten
rig besteuert. Für diese Konstruktionen herige Vereinbarung aufkündigen. Der in aller Welt. Dabei stünden die Steuerer-
gilt in Irland und den Niederlanden, dass Schaden fiele größer aus als der zusätzli- sparnisse von Google, Apple, Amazon und
sie mit dem halben regulären Körperschaft- che Nutzen. Co. eigentlich dem US-Fiskus zu.
steuersatz belastet werden müssen. Ein weitere Möglichkeit, Steueroasen So wie nahezu sämtliche Gewinne der
Das Problem: Nirgendwo ist im EU- das Wasser abzugraben, könnte darin be- deutschen Automobilbauer in Wolfsburg,
Recht eindeutig festgelegt, ab wann ein stehen, ihnen Konkurrenz zu machen. München oder Stuttgart versteuert werden,
Körperschaftsteuersatz zu niedrig ausfällt. Doch dieser Weg verbietet sich für große müssten die Abgaben auf die Erträge von
Eine weitere Transparenzoffensive schei- entwickelte Volkswirtschaften. Bei solchen US-Multis in die amerikanische Staatskas-
tert bislang am Widerstand der USA und Wettrennen um den niedrigsten Tarif kön- se fließen. Denn weltweit gilt das Prinzip,
Japans. Dabei geht es um die Steuerzah- nen sie nur verlieren. Für Länder ohne gro- dass dort Steuern anfallen, wo produziert
lungen, die international tätige Unterneh- ße industrielle Basis wie Malta oder Zy- wird.
men in den einzelnen Ländern leisten. Bis- pern mag es sich lohnen, Gewinne mit Doch das amerikanische Steuerrecht
lang sollen nur die Steuerverwaltungen in Niedrigstsätzen anzulocken. Industriestaa- hält seit Jahrzehnten ein Schlupfloch für
den beteiligten Staaten erfahren, wie viel ten und Volkswirtschaften mit breiter Pro- heimische Unternehmen offen. Es erlaubt
welcher Konzern im jeweiligen Land be- duktionspalette dagegen zahlen bei dem diesen, ihr geistiges Eigentum, also vor
rappt. Gegen eine Veröffentlichung für die Versuch unweigerlich drauf. Der Grund: allem Patente, Lizenzen oder Filmrechte,
www.volkswagen.de
Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert 7,3–3,8; CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert 167–96. ¹Ein Finanzierungsangebot der Volkswagen Bank GmbH, Gifhorner Straße 57, 38112
Braunschweig, beim teilnehmenden Volkswagen Partner für einen Passat Variant Trendline 1,4 l TSI 92 kW (125 PS) 6-Gang (Kraftstoffverbrauch in l/100 km: innerorts 6,9–6,8, außerorts
4,6–4,4, kombiniert 5,4–5,3; CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert 126–123), 48 Monate Laufzeit, 10.000 km jährliche Fahrleistung, Anzahlung 8.000,00 €, Nettodarlehensbetrag
19.825,00 €, Sollzinssatz (gebunden) p. a. 1,97 %, effektiver Jahreszins 1,99 %, Schlussrate 11.520,44 €, Gesamtbetrag 21.072,44 €. Gilt für Privatkunden und gewerbliche Einzelabnehmer
(ohne Sonderabnehmer). Bonität vorausgesetzt. Es besteht ein gesetzliches Widerrufsrecht für Verbraucher. Abbildung zeigt Sonderausstattung gegen Mehrpreis.
„Das können wir im Alleingang“
Finanzpolitik Wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki, 65, europäische Steueroasen trockenlegen will
SPIEGEL: Herr Kubicki, seit Jahren tun sen, dass irgendwo auf der Welt Erträ- Kubicki: Wieso?
sich die Finanzminister aller möglichen ge steuerfrei kassiert werden, verwei- SPIEGEL: Weil dann China und Indien
Länder zusammen, um Steuerschlupf- gern wir den Abzug als Betriebsausga- sich bestärkt fühlen könnten, Gewinne
löcher zu stopfen. Trotzdem kommen be. Dann kommt der deutsche Fiskus deutscher Autobauer in ihrem Land zu
immer wieder Steuertricksereien ans wenigstens zum Teil auf seine Kosten. besteuern. Jetzt kassieren vor allem
Tageslicht. Wundert Sie das? Dazu brauchen wir keine bilateralen deutsche Finanzämter bei BMW, VW
Kubicki: Das sind keine Tricksereien. Vereinbarungen, und wir müssen auch und Daimler.
Die meisten der beschriebenen Fälle die EU nicht fragen. Kubicki: Ich glaube nicht, dass der deut-
sind durchaus legal. Wir sollten Men- SPIEGEL: Ihr Parteivorsitzender Christian sche Fiskus dabei draufzahlt. Fest steht
schen und Unternehmen, die sich Lindner will auch amerikanische Multis doch, dass wir auch künftig weltweit
gesetzeskonform verhalten, nicht vor- wie Apple stärker zur Kasse bitten, die immer mehr solcher Geschäfte haben
werfen, dass sie das tun. in Deutschland kaum Steuern zahlen. werden. Da müssen wir schon darauf
SPIEGEL: Nicht alles, was legal ist, ist Wollen Sie das durch eine Sonderabga- achten, dass wir einen gerechten An-
auch legitim. be erreichen? teil vom Steueraufkommen im Lande
Kubicki: Eine gehörige Mitschuld an Kubicki: Nein, ich möchte nur, dass halten.
den Zuständen tragen doch die Staaten Gleiches gleich behandelt wird. Ein SPIEGEL: Halten Sie es für legitim, dass
selbst. Sie schaffen es nicht, ordentli- ausländisches Unternehmen soll bei Finanzminister Peter Altmaier die an
che Gesetze zu erlassen. Seit Jahrzehn- vergleichbarem Geschäft genauso be- den jüngsten Enthüllungen beteiligten
ten schlagen sich die Finanzverwaltun- lastet werden wie ein einheimisches, Zeitungen aufgefordert hat, dem Fi-
gen mit dem Phänomen der Steuer- auch wenn es nicht hier produziert. nanzministerium die Daten zur Verfü-
oasen herum, und das Ärgerliche dabei Das lässt sich mit Maßnahmen im Kör- gung zu stellen?
ist, dass es sie nicht nur auf den Ber- perschaftsteuerrecht erreichen. Kubicki: Ich finde das Ansinnen merk-
muda- oder Cayman-Inseln gibt, son- SPIEGEL: Weltweit gilt das Prinzip, würdig, weil die Zeitungen damit Ge-
dern direkt vor unserer Haustür. dass dort besteuert wird, wo die Wert- fahr laufen würden, ihre Quellen preis-
SPIEGEL: Sie spielen an auf Malta … schöpfung stattfindet. Wenn Sie das zugeben. Das stößt sich mit dem Prin-
Kubicki: … die Niederlande, Irland, aufweichen, schaden Sie deutschen In- zip der Pressefreiheit. Ich finde die
Luxemburg und andere, ganz genau. teressen. Aufforderung zudem peinlich.
Über deren Steuerregime muss man SPIEGEL: Warum?
nachdenken, gerade wenn man die eu- Kubicki: Die Bundesregierung würde
ropäische Einigung vorantreiben will. damit zum Trittbrettfahrer. Warum
Es kann doch nicht sein, dass sich schickt sie nicht selbst Beamte nach
einige Mitgliedstaaten der EU auf Kos- Panama oder in die anderen Steuerpa-
ten ihrer Partner bereichern. radiese? Die meisten Auskünfte über
SPIEGEL: Etwas genauer, bitte. Anleger aus dem Ausland sind dort öf-
Kubicki: Die Niederlande erheben auf fentlich zugänglich.
Lizenzgebühren, die ein deutsches Un- SPIEGEL: Ex-Finanzminister Steinbrück
ternehmen an seine niederländische spricht Ihnen die Befähigung zum Fi-
Holding überweist, keine oder nur sehr nanzminister ab, weil Sie als Strafver-
geringe Steuern. In Deutschland sind teidiger auch Beschuldigte im Cum-Ex-
die Lizenzkosten aber als Betriebsaus- Steuerskandal verteidigen. Sind Sie be-
gaben steuerlich abzugsfähig. Unter eu- fangen?
ropäischer Solidarität stelle ich mir et- Kubicki: Mir fehlen die Worte, dass
was anderes vor. So etwas muss man Peer Steinbrück die Prinzipien
sich doch nicht zehn, fünfzehn Jahre des Rechtsstaats offensichtlich nicht
lang angucken. verstanden hat. Strafverteidiger
SPIEGEL: Die Finanzminister verweisen sichern von Gesetzes wegen die Ord-
gerne darauf, dass steuerliche Maßnah- nungsgemäßheit eines Verfahrens.
men in der EU nur einstimmig verab- Ihnen ist aufgegeben, ihre Mandanten
schiedet werden können, was schwer vor staatlicher Willkür zu bewahren.
zu erreichen sei. Durch sein bekannt nassforsches
Kubicki: Das Argument halte ich für vor- Auftreten will er offensichtlich davon
geschoben. Niemand, auch die EU ablenken, dass er es, aus welchen
HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF
nicht, kann uns vorschreiben, wie wir Gründen auch immer, als Finanzminis-
unser Steuerrecht auszugestalten ha- ter unterlassen hat, die Lücken
ben. Das Problem mit niederländi- im Steuerrecht zu schließen. Das,
schen Lizenzboxen können wir im Al- was Wolfgang Schäuble 2012 gemacht
leingang lösen. hat, hätte Steinbrück schon 2006
SPIEGEL: Wie denn? vollziehen können. Dem deutschen
Kubicki: Wir können ganz einfache Re- Fiskus wären mehrere Milliarden
geln im deutschen Steuerrecht aufstel- FDP-Politiker Kubicki Euro an Steuererstattungen erspart
len. In allen Fällen, in denen wir wis- „Vorgeschobenes Argument“ geblieben.
Joachim Gern
Sabine Engels
privat
Auf der Suche nach
optimalem Unterschlupf
klapperte Apple
Steueroasen ab.
zu bewahren. Wenn Unternehmen ihre Ge-
winne im Inland nicht zu versteuern brau-
chen, dürfen sie ihre roten Zahlen eben-
falls nicht steuerlich geltend machen. Tom Tykwer Kirsten Niehuus Lars-Olav Beier
Doch auch als sich die hochinnovativen
Konzerne als dauerhaft rentabel erwiesen,
drehten die Steuerbehörden das Prinzip
nicht um. Der Grund: Noch jede US-Re-
gierung sah die Regelung als eine Art Ex- Mit der Fernsehserie „Babylon Berlin“ hat der Regisseur
portsubventionierung für ihre heimische Tom Tykwer („Lola rennt“, „Das Parfüm“) einen großen Erfolg
Wirtschaft an. Ihnen ist die Weltgeltung
geschaffen. Kirsten Niehuus, Geschäftsführerin der Filmförderung
der US-Unternehmen wichtiger als die ent-
gangenen Steuermilliarden. des Medienboard Berlin-Brandenburg, fördert seit 2004 Filme und
Bleibt der Kampf gegen Steueroasen Serien und hat auch „Babylon Berlin“ unterstützt.
deshalb vergebens? Eher nicht, aber er ist
ein mühsames Unterfangen, bei dem sich Das Fernsehen erlebt gerade einen enormen Boom –
die Erfolge nicht schnell zeigen. bedroht es das Kino? Ist der klassische Spielfilm ein Auslaufmodell?
Auch der neuen Bundesregierung wird
nichts anderes übrig bleiben, als weiter zu Lassen sich gute Geschichten endlos fortspinnen?
versuchen, mit Ausdauer und Augenmaß Wo werden die Stars von morgen herkommen?
darauf hinzuwirken, den Steueroasen in
aller Welt den Zufluss von frischem Geld Und was wünschen sich die Zuschauer?
abzugraben. Manch ein Akteur unter den
Jamaika-Sondierern, etwa FDP-Vize Wolf-
gang Kubicki, schätzt die nationalen Mög- Moderation: Lars-Olav Beier, Redakteur im Kulturressort
lichkeiten, Druck auf Steueroasen auszu-
üben, viel höher ein, als es zuweilen den
Anschein hat. Er hält es für denkbar, dass Montag, 27. November, 20.00 Uhr, Delphi Filmpalast,
Deutschland manches Problem im Allein- Kantstraße 20 a, 10623 Berlin
gang lösen könnte (siehe Seite 76).
Der künftige Finanzminister sollte sich
dabei vor allem darauf konzentrieren, die
Partner in der EU zu überzeugen, keine Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de.
ungebührlichen Steuerprivilegien zu ge- Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 8 Euro, Abonnenten 8 Euro, zzgl. Gebühren.
währen – und auch die USA dafür zu ge- Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
winnen. Denn beim Kampf gegen Steuer-
oasen ist es wie beim Klimawandel: Ohne
die größte Volkswirtschaft der Welt lässt
sich kaum etwas ausrichten.
Christian Reiermann
Smarter Köter
Digitalisierung Japan hat jahrelang auf tier- und menschenähnliche Roboter gesetzt. Ein kom-
merzieller Erfolg waren sie nicht. Nun will Sony den elektronischen Hund Aibo wiederbeleben.
T
omoaki Kasuga, 61, erinnert sich gangenen anderthalb Jahrzehnten ver- Nun meldet sich ausgerechnet Sony als
noch genau an seinen letzten Ar- loren auch andere japanische Konzerne Roboterwerkstatt zurück. Mit einer neuen
beitstag bei Sony. Er dachte nur da- ihren Ehrgeiz, Roboter für Unterhaltungs- Version des Aibo. Im Januar wolle man
ran, möglichst schnell selbst eine Firma zu zwecke zu entwickeln: Autobauer Toyota den Roboterhund reanimieren, kündigte
gründen und eigene Roboter zu entwi- besitzt zwar Zweibeiner, die Trompete der Konzern vergangene Woche in Tokio
ckeln. Seine Bosse bei Sony, das spürte er oder Geige spielen – aber auch um die an. Dann soll der smarte Köter nicht mehr
seit Langem, interessierten sich kaum noch wurde es still. Asimo, der Roboter von nur mit dem Kopf wackeln können und
für Aibo, den Roboterhund, den Kasuga Konkurrent Honda, macht höchstens noch über Wohnzimmerteppiche krabbeln. Aus-
mitentwickelt hatte. mal von sich reden, wenn er ausländischen gestattet mit künstlicher Intelligenz soll
Das war 2001, fünf Jahre später stellte Staatsgästen die Hände schüttelt. Aibo auch mit dem Internet verbunden
der japanische Elektronikhersteller die Pro- Zwar produzieren die Japaner nach wie sein. Als eine Art lernendes und sich lau-
duktion des Aibo ein. Fortan war Sony vor Armeen von Industrierobotern – Spe- fend erneuerndes Cyberhaustier. Zum Ein-
mit sich selbst beschäftigt und mit seinem zialhersteller wie Fanuc oder Yaskawa ge- stiegspreis von 1500 Euro.
Niedergang als Kultmarke. Nach und nach hören zu den Weltmarktführern. Doch der Aibos geplante Wiederbelebung passt
zog sich das Unternehmen auch aus der japanische Traum, dem auch Ex-Sony- in die industriepolitische Landschaft.
Herstellung von Laptops und Flachbild- Mann Kasuga anhängt, schien ausge- Premier Shinzo Abe hat eine „Roboter-
schirmen zurück. träumt: Roboter zu ertüfteln, die auf zwei revolution“ ausgerufen, er will verstärkt
Japan war einmal das „Roboter-König- oder vier Beinen gehen und Menschen im Automaten mobilisieren, um den Perso-
reich“ – so ein Buchtitel. Doch in den ver- Alltag begleiten. nalmangel in der alternden und schrump-
Roboterhund Aibo
Verpatzte
ternehmen haben wir jederzeit im Ein- abgestimmt haben. Dafür spricht, dass alle
klang mit den gesetzlichen Vorschriften drei eine Vereinbarung mit Metro getrof-
gehandelt.“ fen haben, die darauf abzielt, dass sie ihre
Entschärfung
Doch die Vorwürfe der Staatsanwalt- Aktien fünf Jahre lang nicht an Erich Kel-
schaft sind nicht die einzige Gefahr für lerhals verkaufen. Dem Feind, den man
Olaf Koch. Im Zuge der Ermittlungen gerade aus dem Konzern gestoßen hatte,
könnten Dinge ans Licht kommen, die wollte man so die Tür zuhalten.
Handel Metro-Chef Olaf Koch kaum weniger brisant sind. Es wäre ungewöhnlich, hätte eine der
Um ihren Verdacht zu erhärten, werden Familien sich ein solches Verkaufsverbot
wollte mit der Aufspaltung des die Ermittler nachforschen, wann ein Zu- auferlegt, ohne zu wissen, ob es auch die
Konzerns einen Befreiungsschlag standekommen der Abspaltung wahrschein- anderen tun.
lich war. Sehr genau werden die Ermittler Haniel und Beisheim wollten sich dazu
schaffen. Die Aktion könnte ihn untersuchen müssen, wann die drei Eigen- nicht äußern, Schmidt-Ruthenbeck war für
jedoch den Job kosten. tümerfamilien der Metro, Haniel, Schmidt- eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Ruthenbeck und Beisheim, ihre Zustim- Ein abgestimmtes Verhalten aber wäre
D
ie Kundschaft, die am vergangenen mung zu der Aufspaltung gaben. Die drei brisant: Es könnte dazu führen, dass die
Freitag beim Großhandelskonzern hielten knapp die Hälfte der Aktien, mit neue Metro körperschaftsteuerliche und
Metro in Düsseldorf vorstellig wur- ihrem Okay war die Sache praktisch durch. gewerbesteuerliche Verlustvorträge in
de, war unerwünscht. Sie kam in Beglei- Im Metro-Umfeld heißt es, die Familien Höhe von 5,6 Milliarden Euro nicht gel-
tung der Polizei, ging mit mutmaßlich teu- hätten erst bei der Hauptversammlung im tend machen darf. Entgangene Steuerer-
rer Ware und zahlte nicht einmal: eine Februar 2017 zugestimmt. Es ist allerdings sparnis: 500 Millionen Euro.
Staatsanwältin mit drei männlichen Kolle- realitätsfremd anzunehmen, dass sich das Das Management zeigt sich überzeugt,
gen, begleitet von zwei Frauen der Finanz- Metro-Management auf so ein Vabanque- diese Verlustvorträge auch künftig nutzen
aufsicht. Sie suchten Beweismaterial für spiel eingelassen hätte. zu können. Das ginge jedoch nur, wenn
den Verdacht des Insiderhandels und der Wahrscheinlicher ist, dass die Familien die Finanzbehörden die Familien nicht als
Marktmanipulation durch Topmanager des schon früher signalisiert haben, den Deal sogenannte Erwerbergemeinschaft betrach-
Konzerns. zu unterstützen – und dass sie sich darüber ten. Metro verweist dazu im Aufspaltungs-
Eine Razzia und jede Menge bericht auf eine verbindliche Aus-
Ärger. Dabei wollte Metro-Chef kunft des Finanzamts, die dem Kon-
Olaf Koch eigentlich für Ruhe sor-
Die neue Metro-Struktur zern das bestätige.
gen, als er im März 2016 die Auf- An der Aussagekraft dieser Aus-
spaltung des Konzerns in Großhan- Familie kunft bestehen jedoch Zweifel. In
del und Elektronikgeschäft ankün- Großhandel/ Lebensmittel 10% Unterhaltungselektronik Kellerhals dem Auskunftsantrag der Metro an
digte. Und Ruhe hieß: Über den die Behörden soll eine wesentliche
Umweg des Konzernumbaus sollte Information fehlen: die Vereinba-
der streitlustige Miteigentümer bei 100% 100% 78,4 % 21,6 %
rungen der Metro mit den Familien,
der Metro-Tochter Media-Saturn- nicht an Kellerhals zu verkaufen.
Holding, Erich Kellerhals, aus dem Metro Real Media-Saturn-Holding Die Ermittler und womöglich
Konzern herausgedrängt werden. Cash & Carry Media Markt, Saturn, Redcoon auch die Steuerbehörden dürften
Leider gehen Bomben manchmal sich nun dafür interessieren, wie
gerade dann hoch, wenn man sie und wann die Vereinbarungen ge-
entschärfen will. Die Aufspaltung troffen wurden.
könnte Koch den Job kosten. Für Metro-Chef Koch könnte die
Vier Beschuldigte führt die Sache heikel werden, wenn er die
Staatsanwaltschaft in Sachen Steuererklärung für das Geschäfts-
Insiderhandel. Aufsichtsratschef jahr 2016/17 unterschreibt und sich
Jürgen Steinemann und Vorstand herausstellt, dass sie einen Verlust-
Pieter Boone kauften kurz vor der vortrag geltend macht, der auf
Aufspaltungsankündigung Aktien, fragwürdige Weise zustande gekom-
die Ermittler haben den Verdacht, men ist.
dass sie da schon wussten, was kurz Dabei hatte sich der Aufspal-
darauf kam. Zudem soll ein Mit- tungsdeal für Koch und seine
arbeiter unterhalb der Führungs- Kollegen erst einmal richtig gelohnt.
ebene Informationen an seinen Va- 47 Millionen Euro an Boni wurden
ter weitergegeben haben, der habe dem Topmanagement im Zuge des
dann Aktien gekauft. Umbaus zugesagt. Größtenteils wa-
Der Vorwurf der Marktmanipu- ren es Zahlungen, die ohnehin ge-
INA FASSBENDER / PICTURE ALLIANCE / DPA
lation dagegen trifft Koch selbst. Er flossen wären und wegen der Auf-
und der gesamte damalige Metro- spaltung vorgezogen wurden. Bei
vorstand sollen dafür verantwort- den Aktionären kamen sie dennoch
lich sein, dass die Aufspaltung zu nicht gut an. „Wenn unsere besten
spät, nämlich erst am 30. März 2016, Jahre erst noch kommen sollen, ist
gemeldet wurde, was den Börsen- Ihr bestes Jahr schon gewesen“,
preis beeinflusst haben könnte. spottete damals der Aktionärsver-
Metro erklärt zu allen Vorwürfen: treter Hans-Martin Buhlmann.
„Bei der Aufteilung der Metro Susanne Amann, Martin Hesse
Group in zwei selbstständige Un- Metro-Großmarkt in Dortmund: Eine Razzia und viel Ärger Mail: martin.hesse@spiegel.de
über teilautonome Autos und Fahrerassis- Die über acht Jahre gesammelte Erfah-
Alleinige tenzsysteme gehen, sondern dem Roboter rung der Ingenieure macht sich in der neu-
die alleinige Kontrolle übergeben. esten Ausführung des Google-Projekts
„Wir bauen kein besseres Auto, sondern deutlich bemerkbar, der Minivan fährt flüs-
Kontrolle einen besseren Fahrer“, sagt Krafcik, der sig und zumindest in der Testsituation per-
früher das US-Geschäft des koreanischen fekt. 25 000 virtuelle Google-Autos legen
Autoherstellers Hyundai leitete. Die Way- jeden Tag zehn Millionen Meilen im Simu-
Mobilität Der Google-Ableger mo-Ingenieure sind überzeugt, dass dies lator zurück. Dazu kommen 10 000 Meilen
der einzige verantwortungsbewusste Weg täglich auf echten Straßen, nicht nur auf
Waymo hat auf einem lange sei, denn teilautonome Autos seien zu ge- dem Testgelände, sondern im Silicon Val-
geheimen Testgelände erstmals fährlich: Der menschliche Fahrer trage bei ley, in Texas und Arizona. In einem Vorort
diesem System die Verantwortung und von Phoenix läuft seit diesem Frühjahr ein
fahrerlose Minivans vorgestellt, müsse stets bereit sein einzugreifen – sei erster öffentlicher Test: Registrierte Nutzer
die völlig autonom sind. aber ständig versucht, das zu vergessen können die vollautomatischen Autos wie
und der Technik zu sehr zu vertrauen. Taxis bestellen und sich chauffieren lassen.
D
as Central Valley ist der vergessene Eine gefährliche Kombination, so Kraf- Das Auto werde sich grundlegend ver-
Hinterhof von Kalifornien, heiß cik, und zum Beweis zeigt er Videos von ändern, sagt Krafcik, über 100 Jahre sei es
und trocken, abgelegen und spär- Google-Testfahrern aus früheren Jahren. auf den Fahrer ausgerichtet gewesen,
lich besiedelt. Genau deswegen hat die Den Testern sei eingeschärft worden, im- selbstfahrende Autos aber müssten für den
Google-Mutter Alphabet hier ihre wohl mer voll aufmerksam zu sein, aber die Passagier designt sein. Erste Versuche sind
wichtigste Forschungsbasis errichtet, um Aufnahmen zeigen einen Fahrer, der bei im Innenraum des Pacifica zu sehen: Mo-
den intelligentesten Roboter der Welt zu 90 Stundenkilometern auf dem Highway nitore zeigen den Mitfahrern grafisch auf-
bauen: Geschützt von meterhohen Zäunen hinter dem Steuer schläft, und eine Fah- bereitet, was das Auto mit all seinen Sen-
und Wachmannschaften drehen auf rund rerin, die sich bei Tempo 80 auf der Land- soren in bis zu 300 Meter Entfernung sieht.
37 Hektar jeden Tag Dutzende selbstfah- straße schminkt. Solcher Leichtsinn lasse Mithilfe eines Kontrollpanels kann der Mit-
rende Autos endlose Runden. sich nur ausschalten, wenn die Maschine fahrer die Fahrt starten und abbrechen,
Google übernahm das Gelände, einen immer allein die Kontrolle habe. Wenn et- Hilfe rufen oder die Türen entriegeln.
ehemaligen Stützpunkt der amerikani- was schiefläuft, greift in den Waymo-Autos „Um sich gut zu fühlen, müssen Passa-
schen Luftwaffe, 2013 und baute neue Stra- nicht der Mensch, sondern ein zweiter giere das Gefühl haben, die Kontrolle zu
ßen und Verkehrskreisel, Bahnübergänge Computer ein. haben“, sagt Juliet Rothenberg, zuständig
und Wohnheime für die aus dem 200 Kilo- Bei einer Probefahrt über das Gelände für die „User Experience“ in den Minivans.
meter entfernten Silicon Valley anrei- sitzt deshalb auch kein Ingenieur mehr zur Zuletzt hat Waymo viele Leute darauf an-
senden Ingenieure. Alles mit einem Ziel: Sicherheit hinter dem Lenkrad. Der Test- gesetzt, diese Nutzererfahrung zu gestalten,
„In den Startlöchern zu stehen für eine wagen ist ein Minivan von Fiat Chrysler, ein Signal, dass Waymo sich konkret auf
Welt mit vollautonomen Autos.“ So sagte Modell Pacifica. Rund 100 dieser Autos hat einen Marktstart für seine vollautonomen
es John Krafcik, Chef von Waymo, der Waymo bislang zum vollautonomen Mobil Autos vorbereitet. Krafcik bleibt jedoch
Google-Schwesterfirma für selbstfahrende umgebaut, erstes sichtbares Ergebnis der vage, wann genau es losgehen soll, er sagt
Autos, vorige Woche in einer Werkstatt- im Frühjahr 2016 geschlossenen Koopera- nur: „Wir sind nah dran.“
halle des Testgeländes zwischen zerlegten tion zwischen dem Digital- und dem Auto- Klar ist, dass Waymo keine Autos bauen
Radareinheiten und Lasersensoren. konzern. 500 weitere folgen nun. wird, sondern ein technologisches System,
Google ist der Pionier der selbstfahren- Zügig fährt der Minivan durch zahlrei- eine Art Roboter mit Führerschein, einzu-
den Autos, aber inzwischen arbeiten nahe- che Teststationen, weicht Radfahrern aus kaufen wie ein Softwarepaket. Krafcik sagt:
zu alle Autokonzerne und mehrere andere und Autos, die aus verdeckten Einfahrten „Einmal gebaut, können wir unseren Fahrer
Techfirmen an eigenen Projekten. Wer das schießen, hält an ausgefallenen Ampeln, an vielen Stellen einsetzen.“ Thomas Schulz
Rennen gewinnen wird, ist längst nicht reduziert die Geschwindigkeit an Baustel-
mehr sicher, deshalb bemüht sich Waymo len. Nach zwei Minuten schon ist verges- Video: So funktioniert das
zu beweisen, dass Google immer noch in sen, dass kein Mensch am Steuer sitzt – Google-Auto
einer eigenen Liga spielt: Im Gegensatz zur auch wenn sich das Lenkrad geradezu ge- spiegel.de/sp462017auto
Konkurrenz will Waymo nicht den Umweg spenstisch vor dem leeren Fahrersitz dreht. oder in der App DER SPIEGEL
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
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SPIEGEL-Vorteile Wertvolle Wunschprämie für den Werber. Frau
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* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Raus aus den Gräben
Debatte Warum die öffentlich-rechtlichen Sender und die Verlage mehr
gemeinsame Interessen als Konflikte haben. Von Stefan Raue
E
in Montagabend in Bonn. Die Medienpreise der nem durch den Kopf, wenn man sich mit so einer einzig-
Deutschen Bischofskonferenz und der katholischen artig guten Reportage beschäftigt und spürt, welchen ho-
Publizisten werden vergeben. Prämiert wird eine hen Wert seriöse, sensible, elegante, empathische, präzise
Reportage von Claas Relotius, die im SPIEGEL erschienen und verständliche Angebote der Qualitätsmedien in sich
ist. Eine packende, präzise und im besten Sinne empathi- tragen. Relevant und schön, wichtig und auch unterhalt-
sche Reportage über zwei Geschwister aus Aleppo, die sam, auf ganz besondere Weise.
nach der Flucht in der Türkei gestrandet sind und dort Das ist keine Einzelmeinung eines Journalisten, der vor
300 Kilometer voneinander entfernt für einen Hungerlohn Kurzem Intendant geworden ist. Das Hohelied der ge-
ihr Leben fristen. Eine Schauspielerin trägt den bewegen- druckten Reportage wird von fast allen Kolleginnen und
den Text vor, der traumhaft sicher den Ton trifft, eine Kollegen der Öffentlich-Rechtlichen gesungen. Ohne Über-
schöne und klare Sprache ohne Betroffenheitsfloskeln. treibung: Es gibt keine größeren Fans der deutschen Qua-
Die Laudatorin würdigt zu Recht die Sogwirkung dieses litätszeitungen und -zeitschriften als die Mitarbeiter von
unprätentiösen, aber so trefflichen Textes. ARD, Deutschlandradio, ZDF und Co. Überspitzt: Wenn
Als Zuhörer kommt man ins Grübeln, gerade in diesen ich mir die Abo-Listen der Redaktionen anschaue, frage
hysterischen Monaten, in denen es scheinbar um die Zu- ich mich manchmal, wer noch Zeitungen lesen wird, wenn
kunft der Printverlage und des öffentlich-rechtlichen Rund- es die Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr geben sollte.
funks geht. In Zeiten, in denen alle seriösen Medien unter Wenn sie „abgestorben“ sind, wie es zwei bis dahin hoch-
dem Trommelfeuer der „Lügenpresse“-Schreihälse weiter geschätzte Kollegen einer Sonntagszeitung angeregt haben.
ihrer Arbeit und ihrer Aufgabe nachgehen müssen. Man Genau das macht die große Verwirrung dieser Tage aus.
kommt als Zuhörer ins Grübeln, wie es gelingen konnte, Viele Kollegen, die beim Rundfunk arbeiten, haben wie
aus der Diskussion über die Nachverwertung von Film- ich wichtige Phasen ihres Werdegangs bei Zeitungen erlebt,
produktionen im Netz und die Neuformulierung eines Te- waren Reporter oder Redakteure bei kleinen oder großen
lemedienauftrags für die Öffentlich-Rechtlichen einen ve- Verlagen. Die Liebe zu Print ist uns allen auch nach vielen
ritablen Bruder- und Schwesternkrieg zwischen Printbran- Jahren geblieben, und nun das. Seit Monaten ein Dauer-
che und öffentlich-rechtlichem Rundfunk vom Zaun zu beschuss. Zeitungen, in denen sonst auch komplexe The-
brechen, der, und das ist sicher, tief greifende Folgen für men auf 80 Zeilen reduziert werden, räumen ganze Seiten
das Verhältnis von Zeitungen und öffentlich-rechtlichem frei. Manche Texte stehen beispielsweise in der „Frank-
Hörfunk und Fernsehen haben wird. Das alles schießt ei- furter Allgemeinen Zeitung“, im „Handelsblatt“ und in
der „Welt“. Auch in einem SPIEGEL-Titel war in einer Pole- kriegerische Vokabular auch im Konjunktiv oder Irrealis
mik vom „Staatsfunk“ die Rede. eigentlich weit unter Niveau.
In wutschnaubenden Texten von sonst abgewogen und War es das wert? Der Kampf um den Markt im Internet?
zierlich formulierenden Autoren verschwimmen die Gren- Glauben die Verlage wirklich, dass die Vernichtung oder
zen von Kommentar und Bericht, die Angegriffenen kom- das „Absterben“ der Öffentlich-Rechtlichen die Finanzie-
men in der Regel nicht zu Wort, inhaltliche Kritik wird mit rung der Zeitungen über ihre Bezahlangebote im Netz si-
falschen Gehaltsangaben und angeblichen Privilegien der cherstellen können? Seit einigen Jahren gibt es Tages-
öffentlich-rechtlichen Redakteure vermischt, es wimmelt schau.de im Netz, hat das die Vormachtstellung von
von Reizwörtern wie „aufgeblasen“, „unnütz“, „büro- Bild.de, SPIEGEL ONLINE und Focus.de in irgendeiner
kratisch“, „träge“, „überaltert“, „überflüssig“ – bis hin zur Weise gefährdet? Nein! Würde die Verdrängung der Öf-
unseligen „Nordkorea“-Provokation des Springer-Chefs fentlich-Rechtlichen aus dem Netz dazu führen, dass es
Mathias Döpfner, den man als Meister der Formulierung keine kostenlosen Info-Angebote mehr gibt? Nein! Face-
kennt und der den Dreiklang „Öffentlich-Rechtliche/Staats- book und andere Giganten bieten jederzeit über ihre
rundfunk / Nordkorea“ genauso komponiert wie beabsich- Newsfeeds kostenlose Informationen, die von knapp 50 Pro-
tigt hat. Die Protagonisten dieser Kampagne machen ihren zent der jungen Nutzer in den USA als wichtige Nachrich-
Lesern selten deutlich, dass sie hier journalistisches Terrain tenquelle gesehen werden. Und weiter: Gibt es die sagen-
verlassen und selbst Partei sind. Wochenlang verging kaum haften presseähnlichen Seiten überhaupt noch im Netz?
ein Tag ohne Angriffe unter die Gürtellinie. Das offensicht- Nein! Wer die Angebote der Verlage betrachtet, findet
liche Ziel: die öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Mit- dort alles, was mit Pressetext kaum noch etwas zu tun hat.
arbeiter lächerlich zu machen, ihnen den professionellen Fotogalerien, Bewegtbild, animierte Grafiken, Streaming,
Respekt zu entziehen, sie zu delegitimieren. Das sind keine TV-Produktionen ohne Lizenz, die privaten Angebote ha-
Kollegen, heißt die Botschaft, und das schmerzt uns öffent- ben sich in den letzten Jahren den Multimediaangeboten
lich-rechtliche Zeitungsfans, und diese Erfahrung werden der Öffentlich-Rechtlichen spürbar angenähert. Warum?
wir eine ganze Weile mit uns herumtragen, auch wenn der Weil presseähnliche Auftritte im Netz für ein breites Pu-
Pulverdampf verzogen ist. blikum nur wenig attraktiv sind. Warum also dieser Krieg
der Verleger für ein Verbot der presseähnlichen Angebote
U
m es klar zu sagen: Das duale System mit kom- für ARD und andere, für ein Verbot von Angeboten, die
merziellen und öffentlich-rechtlichen Medien ist sie selbst überhaupt nicht mehr produzieren lassen, weil
politisch gewollt, verfassungsrechtlich geboten und sie ihnen offensichtlich nicht lukrativ genug erscheinen?
publizistisch fruchtbar. Und dieses Konkurrenzverhältnis War es das wert? Meine Antwort mag wenig überra-
bedeutet Spannungen, Interessenkonflikte und Streit. Nur schend sein: Ich finde, dass der Interessenkonflikt zwi-
braucht dieser Streit keine polemischen Leerformeln wie schen den Verlegern und den Öffentlich-Rechtlichen die-
Staatsrundfunk oder Kapitalistenpresse. Wir sind alle er- sen giftigen, selbstzerstörerischen und kleingeistigen Krieg
wachsen und professionell genug, um mit politischem oder nicht wert war. Wer immer noch nicht begriffen hat, wel-
ökonomischem Druck umzugehen. Natürlich ist Kritik an che Gefahren wirklich drohen, der konnte bei den Me-
uns Öffentlich-Rechtlichen und unseren Programmen not- dientagen in München vor wenigen Wochen einen guten
wendig, wichtig und erwünscht. Und natürlich hat auch Einblick erhalten. Der Burda-Manager Philipp Welte schil-
manches im eigenen Umgang mit den Verlagen und Print- derte dort, auf wie dramatische Weise die Werbeerlöse
kollegen zur Entfremdung zwischen den beiden journa- von den klassischen Medien weg zu den neuen globalen
listischen Säulen unserer Gesellschaft beigetragen. Wie Konzernen wie Facebook, Google und Co. verlagert wer-
viele Themen saugen wir täglich aus den Zeitungen, ohne den. Und auch die RTL-Chefin Anke Schäferkordt machte
die Quelle unserer Erkenntnisse immer korrekt zu nen- deutlich, wie übermächtig stark und alles verschlingend
nen? Wie oft geht der eine oder andere Welterklärer in diese globalen Player auch den europäischen Medienmarkt
unseren Redaktionskonferenzen mit Anregungen und tief greifend verändern werden.
Kommentaren hausieren, die wir später in ganz ähnlichen
W
Formulierungen in den Leitartikeln der Tageszeitungen enn der Pulverdampf hierzulande sich irgend-
lesen? Haben wir den wirtschaftlichen Kampf der Verlage wann verzogen hat, sollten die Gräben wieder
nach dem Einbruch des Anzeigengeschäfts wirklich ernst verlassen werden. Kompromiss heißt das Zauber-
genommen? Hat es uns nachdenklich gemacht, als viele wort, das in den letzten Wochen der rüden Kapitulations-
Verlage mit ihren Pressehäusern aus den Innenstädten in forderungen so aus der Mode gekommen zu sein scheint.
die Gewerbegebiete vor der Stadt gezogen sind? Waren Wo sind die zentralen wirtschaftlichen Interessen der Ver-
wir solidarisch, als Zeitungstitel aufgegeben und viele Re- leger im Netz? Können sich die öffentlich-rechtlichen
dakteure und Redakteurinnen entlassen wurden? Haben Angebote aus diesen Bereichen zurückziehen, ohne ihre
wir die neue Welt des Internets nicht zunächst bloß als Kernaufträge aufzugeben? Wo gibt es Kooperationsmög-
neuen und grenzenlosen Kontinent gesehen, den es zu er- lichkeiten, die den Wettbewerb nicht verzerren? Gibt es
obern galt? Nein, auch bei den Öffentlich-Rechtlichen gab möglicherweise Clearingstellen, durch die die Konflikte
und gibt es kleine und große Sünden, die zur Folge haben, kollegial und kompromissorientiert bereinigt werden, ohne
dass sich viele Printkolleginnen und -kollegen in ihrer be- das lautstarke Herbeirufen des Staats? Ich bin derzeit nicht
sonders angespannten Situation wenig respektiert und besonders optimistisch, es ist viel zerstört worden in den
nicht kollegial behandelt fühlen. Und vielleicht sind wir Monaten der großen Kampagne. Aber vielleicht hat ja einer
manchmal auch etwas empfindlich, wenn wir jede Kritik der Beteiligten den Mumm, mal die Verlegerkongresse sein
an uns gleich als Angriff auf die Demokratie überhaupt zu lassen und Kompromisse zu wagen. Wir öffentlich-recht-
interpretieren. lichen Zeitungsfans hoffen es.
Dennoch: Die seit Monaten andauernde Kampagne
einiger Verlagshäuser ist von anderem Kaliber, der unver- Raue, 58, ist seit September dieses Jahres Intendant von
hohlene Druck auf Staat und Parteien ohne Maß und das Deutschlandradio.
Kommentar
Trump im Nebel
Warum der US-Präsident ausgerechnet in Seoul plötzlich ganz zahm klingt
Es hätte ein starker Auftritt werden können: US-Präsident Trump im Dilemma. Greift er Kim an, riskiert er Zehntausen-
Donald Trump am 38. Breitengrad, der Demarkationslinie de Tote in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, eine Wirt-
zwischen den verfeindeten Koreas, den Blick nach Norden ge- schaftskrise, womöglich gar einen dritten Weltkrieg.
wandt, Richtung Pjöngjang. Doch vor der Landung musste Daher versuchte er es auf seiner Asienreise zur Abwechs-
Trumps Hubschrauber vergangenen Mittwoch wieder abdre- lung mit gemäßigten Tönen. Es sei in Pjöngjangs Interesse,
hen – wegen Nebel. Der vereitelte Grenzausflug symbolisiert „an den Tisch zu kommen und einen Deal zu vereinbaren“,
die Widrigkeiten, mit denen Trump es auf der koreanischen warb er. Gleichzeitig drängte er seine Gastgeber in Tokio und
Halbinsel zu tun hat. Er ist angetreten, Diktator Kim Jong Un Seoul erfolgreich zum Kauf amerikanischer Waffen im
von dessen Atomprogramm und der Entwicklung von Lang- Wert von Milliarden Dollar. Die Verbündeten sollen sich für
streckenraketen abzubringen. Mal drohte er dem Norden mit den Ernstfall rüsten, den Trump erst denkbar gemacht hat.
„Feuer und Zorn“, mal mit „völliger Zerstörung“. Mit seinen Auf die zentrale Frage aber bleibt Trump eine Antwort
Twitter-Tiraden hat er die Spannungen in Ostasien angeheizt schuldig: Wie will er Kim auf friedliche Weise von dessen ge-
wie kein US-Präsident vor ihm. fährlichem Atomkurs abbringen? Dazu wären zähe Gespräche
Aber stoppen konnte er Kim bislang nicht. Nicht mit Sank- zwischen Washington und Pjöngjang nötig. Dass Trump das
tionen, nicht mit Säbelrasseln, nicht mit Appellen an China und schafft, ist nach dieser Reise genauso zweifelhaft wie zuvor.
Russland, Nordkorea unter Druck zu setzen. Und so steckt Wieland Wagner
50
Männer und Frauen haben
sich in Simbabwe für das
en schwer bewaffnet. Sie
hatten alle strategischen Orte
im Zentrum eingenommen
und hielten Geiseln. Wir
mussten bei der Bombardie-
rung vorsichtig sein. Doch
gen ist also auch Terror-
bekämpfung.
SPIEGEL: Der IS verliert im
Nahen Osten an Boden. Wird
Südostasien sein neuer Rück-
zugsraum?
gen, denn darin liegt die Wur-
zel des Terrors. Die philippi-
nischen Muslime fordern seit
Jahrzehnten mehr Selbstbe-
stimmung.
SPIEGEL: Was wollen Sie tun?
Amt des Henkers bewor- wir haben es geschafft, Dureza: Wir sind da-
ben. Seit 2005 wurden die lokalen Anführer zu tö- bei, den Friedenspro-
in dem südafrikanischen ten; es starben rund 600 Ter- zess voranzubringen
Land keine Todesurteile roristen. Etliche von ihnen und die vor Jahren
mehr vollstreckt. Doch nun stammten aus dem Nahen unterzeichneten Ab-
sprach sich Diktator Ro- Osten, aus Indonesien und kommen mit den Re-
bert Mugabe für ein Ende Malaysia. bellen umzusetzen.
des Moratoriums aus. Die SPIEGEL: Wie konnten Sie die Neue Gesetze sollen
DONDI TAWATAO / REUTERS
E
s geschehen unglaubliche Dinge in Prinzen, Milliardäre und Minister verhaf- schnell, so radikal, wie es die Welt noch
diesen Tagen in Riad. Etwa als Pro- tet. Da tritt zum anderen der libanesische nicht gesehen hat?
fessor Saad Albazei im Zelt des Kul- Premier zurück, und spekuliert wird, er Sechs Kilometer nördlich vom Kultur-
turzentrums Sasca das Bild „Tod des Sar- sitze in Riad im Hausarrest. Und dann for- zelt im Hotel Ritz-Carlton ließen sich viel-
danapal“ von Eugène Delacroix zeigt, auf dert Saudi-Arabien auch noch alle seine leicht Antworten auf einige dieser Fragen
dem die Diener des assyrischen Sagen- Landsleute auf, den Libanon zu verlassen. finden. Dort sitzt die politische und wirt-
königs dessen nackte Konkubinen schlach- Und gerade erst hat der junge Kronprinz schaftliche Elite des Landes, allerdings
ten. Verschleierte Akademikerinnen sitzen Mohammed bin Salman das Projekt einer nicht ganz freiwillig. Sie wurden von
in Professor Albazeis Vortrag über „Orien- spektakulären Hightechstadt am Roten schwarzen Limousinen aus ihren Luxusvil-
talismus in der Kunst“. Auch Dichter und Meer vorgestellt, mit selbstfahrenden Au- len abgeholt und in das Hotel gebracht,
Ingenieure in Thaub und Guthra sind ge- tos und Frauen ohne Schleier. In Riad spa- den wohl luxuriösesten Knast der Welt.
kommen, sie alle trauen ihren Augen zieren Verheiratete Hand in Hand, viele Auch der reichste Geschäftsmann Sau-
kaum: Nie zuvor haben sie so eine Malerei, religiöse Fundamentalisten sind entweder di-Arabiens, Prinz Alwaleed Bin Talal,
so viele unverhüllte Frauenleiber gesehen. still oder im Gefängnis. Und, auch das wurde in eine der komfortablen Suiten ein-
Saudi-Arabien befindet sich in diesen noch, bald sollen Frauen sogar Auto fahren gesperrt, ebenso Wirtschaftsminister Adel
Tagen und Wochen in einem Schockzu- dürfen. Etwas ändert sich also im Land, Fakeih, der König Salman noch offiziell
stand. Als wäre es aus dem Tiefschlaf ge- die Frage ist nur: Was bedeutet das alles? beim G-20-Gipfel in Hamburg vertreten
rissen und in den Orbit geworfen, mit noch Droht da nun ein neuer großer Krieg? hatte. Das Königshaus wirft ihnen Unge-
unbekanntem Ziel. Da werden zum einen Oder wird da ein Land modernisiert, so heuerliches vor: Korruption, Geldwäsche,
88 DER SPIEGEL 46 / 2017
Ausland
Vorteilsnahme. Ungeheuerlich, nicht weil Diabetesmedikamente gehalten haben, bis Finanztransaktionen von Personen und Fir-
diese Vorwürfe überraschend oder unbe- dieser seinem eigenen Rücktritt als Innen- men nachvollziehen. Es gibt nun nieman-
rechtigt wären. Sondern weil die Beschul- minister zustimmte. Seither lebt er in sei- den, der mächtiger ist als Mohammed bin
digten bisher als unantastbar galten. nem Palast in Dschidda unter Hausarrest. Salman. Nur: Was will er mit dieser Macht
In einem weitläufigen Büro in einem Ob die Geschichten stimmen oder nicht, anfangen?
Hochhaus von Riad sitzt ein Regierungs- lässt sich nicht nachprüfen. Aber dass sie Wer wissen will, in welche Richtung es
berater, der anonym bleiben will. „Das ist in diesen Tagen erzählt werden, sagt schon gehen kann, der muss sich nur seine bis-
der Anfang eines neuen Saudi-Arabiens“, viel über den Zustand des Landes aus. herige Bilanz anschauen. Seinen verhee-
sagt er, seine Stimmung ist blendend. Viele Saudi-Araber sehen die Verhaf- renden Krieg gegen die Huthi-Rebellen im
„Diese Leute haben schlimme Sachen tungen mit Gefallen, trifft es doch zum Jemen, der Tausende getötet hat – ohne
gemacht, nicht nur ein bisschen Geld hin- ersten Mal die Reichen. „Prinz Naif hat dem Ziel näher gekommen zu sein, im Ge-
terzogen.“ Sondern angeblich rund 90 Mil- nun wenigstens einmal die Schmerzen ge- genteil. Oder die so rigorose wie sinnlose
liarden Euro in drei Jahren – das ist fast spürt, die er so vielen von uns als Innen- Blockade von Katar wegen seiner angeb-
ein Drittel des bundesdeutschen Haushalts. minister zugefügt hat“, sagt ein 28-jähriger lich zu proiranischen Politik.
Bestechung und Erpressung hätten bei vie- Blogger, der sein Geld als Kalligraf ver- Es sieht so aus, als wolle da jemand mög-
len zum ganz normalen Geschäftsgebaren dient. Viele seiner Freunde sitzen im Ge- lichst viel Disruption, als wolle er alles
gehört, sagt der Berater. fängnis. Bisher habe es nur die Aufmüp- Alte auf einen Schlag zertrümmern. Sau-
Da sei zum Beispiel der ehemalige Bür- figen getroffen, „jetzt aber haben alle di-Arabien soll seine bisherige geopoliti-
germeister von Dschidda. Aus Geldgier Angst, niemand ist mehr sicher, auch die sche Zurückhaltung aufgeben, eine Füh-
habe er die Flutgebiete der Stadt als Bau- Milliardäre nicht.“ rungsrolle im Nahen Osten erobern und
land ausgewiesen, ein Kanalsystem wurde Iran zurückdrängen. Eine erzkonservative
bezahlt, aber nie gebaut. Mehr als hundert Monarchie soll im Zeitraffer zum Zukunfts-
Menschen starben bei Überschwemmun- land umgebaut werden. Aber zu viel Dis-
gen, als Bauten unterspült wurden. ruption in einem so erstarrten Land kann
Die meisten Verdächtigen würden an- auch zu gefährlichen Erschütterungen füh-
geklagt, sagt er, ein ziviles Gericht werde ren. Ein politischer Neuling, ausgestattet
sie verurteilen. Alles ganz transparent also, mit fast absoluter Macht – das ist eine ris-
streng nach dem Gesetz, das ist die Bot- kante Mischung.
schaft. Ob er nicht fürchtet, dass diese Wie riskant, das zeigt sich nun an bin
mächtigen Prinzen und Geschäftsleute ir- Salmans Einmischung in den Libanon. Am
gendwann zurückschlagen könnten? Nein, Freitag, dem 3. November, landete das
sagt er, 90 Prozent der Saudi-Araber „tan- Flugzeug von Premier Hariri in Riad, so
zen doch auf der Straße vor Freude“ und viel steht fest. Dann soll er verhaftet wor-
außerdem: Seit drei Jahren arbeite man an den sein, ihm wurde angeblich das Handy
diesen Fällen. Jetzt sei es endlich so weit entzogen – und er zum Rücktritt gezwun-
gewesen, dass man zuschlagen konnte. gen. Jetzt stehe er in Riad unter Hausar-
Ständig werden neue Festgenommene rest. So berichten es zumindest unter-
in das provisorische Gefängnis geschafft, schiedliche Quellen aus seinem Umfeld in
Prinzen, Minister, Ex-Regierungsmitglie- Beirut. Riad bestreitet den Hausarrest.
der und Geschäftsleute. Zur Stunde sind Hariri ist eigentlich eng mit dem Königs-
FAHAD SHADEED / REUTERS
Z
wei Tage vor seiner Verhaftung schickte mir Prinz bin Salman Kronprinz ist, folgt die Vergeltung für jede
Alwaleed Bin Talal eine lange Textnachricht, in der Kritik prompt. Als ich also gewarnt wurde, hielt ich mich
er mich für meine Meinungsartikel in der „Washing- zurück. Ich war verstummt, ja, aber natürlich nicht taub,
ton Post“ und der „Financial Times“ tadelte. Ich hatte es und meine Besorgnis wuchs seither mehr und mehr.
gewagt, Saudi-Arabiens neuen Kronprinzen Mohammed Dass Alwaleed Bin Talal sich von mir fernhielt, störte
bin Salman, meist nur MbS genannt, zu kritisieren. Für, mich nicht weiter. Die Nachricht, die er mir kurz vor
nun ja … Verhaftungen! seiner Verhaftung schickte, hätte nicht loyaler gegenüber
Alwaleed ist ein Neffe des saudischen Königs, ein mil- dem Thronfolger sein können. Er schrieb, ich sollte mich
liardenschwerer Investor und Hotelbesitzer. Ihm gehörte dessen Projekt anschließen: „Unter Führung meines
der Nachrichtensender Al-Arab mit Sitz in Bahrain, den Bruders, Prinz Mohammed bin Salman, wird der vierte
ich einst leitete. Nach drei Jahren der Vorbereitung gingen saudi-arabische Staat errichtet. Unser Land braucht
wir im Februar 2015 auf Sendung. Doch nach gerade mal kluge Köpfe wie dich. Du musst zurückkehren und mit-
elf Stunden beendete Bahrain unsere Übertragung, das machen.“
war das Aus für den Sender. Warum? Vermutlich weil wir Bevor ich antworten konnte, war er schon verhaftet
schiitischen Aktivisten genauso viel Sendezeit gewidmet worden, zusammen mit zehn weiteren Prinzen und meh-
hatten wie der sunnitischen Regierung. reren Dutzend Beamten. Ihnen werden Korruption, Be-
In den vergangenen zwölf Monaten habe ich nur unre- stechung und Geldwäsche vorgeworfen. Doch auch wenn
gelmäßig von Alwaleed gehört, aber das hat mich kaum diese Verhaftungen weltweit Schlagzeilen machten – sie
überrascht. Denn mir war inzwischen verboten worden, sind beileibe nicht die einzigen. In den vergangenen drei
meine Kolumne in der saudi-ara- Monaten wurden mehr als 70 angesehene Intellektuelle,
bischen Tageszeitung „al-Wa- Geschäftsleute und Geistliche weggesperrt – mit Beschul-
Muss ich zusehen, tan“ zu veröffentlichen, danach
durfte ich auch nicht mehr für
digungen, die darauf abzielen, jede Form von Kritik zu
unterdrücken. Die meisten von ihnen sind außerhalb Sau-
wie Freunde die Zeitung „Al Hayat“ schrei- di-Arabiens unbekannt, anders als die nun „Verhafteten“
ben, die ebenfalls saudi-arabi- im Ritz-Carlton. Die meisten sind keine Radikalen, viele
verhaftet werden? sche Besitzer hat. Ebenso wurde unterstützen Reformen, zum Beispiel dass Frauen Auto
Muss ich alles ich angewiesen, nicht mehr zu
twittern, nachdem ich meine Re-
fahren dürfen.
Wie die Stimmung im Land ist, zeigt eine Onlinekam-
gut finden, was gierung mehrfach dafür kriti- pagne, die die Bürger dazu aufruft, sich gegenseitig zu
siert hatte, dass sie sich so klar melden. So soll eine schwarze Liste von Kritikern erstellt
die Regierung tut? auf die Seite von Präsident Do- werden. Die Initiative geht aus von einem hohen Beamten
nald Trump geschlagen hatte. am Königshof, Saud Al-Qahtani. Das sind verabscheu-
Immer wieder werde ich gefragt: „Wer sagt das?“ Nun, ungswürdige Methoden, sie erinnern mich an die Stasi
es sind Leute aus der Regierung und ihre Verbündeten, damals in der DDR. Das ist auch der Grund, warum man
und sie senden eine klare Botschaft, die alle, die die Linie heute nur noch die Leute hört, die Mohammed bin Salman
der erlaubten Kritik schon mal überschritten haben, nur unterstützen. Niemand anderes wagt es, sich zu äußern.
zu gut kennen. Diese Botschaft lautet: Entweder du hörst Was dieser Tage in Riad geschieht, sind grundlegende
auf und stellst deine Kritik ein – oder du riskierst Konse- Umwälzungen, die vielleicht zu einem gerechteren Regie-
quenzen. Erst darfst du nicht mehr reisen, dann folgt Haus- rungssystem führen könnten. Doch danach sieht es leider
arrest, womöglich sogar Gefängnis. nicht aus, zumindest bislang. Wir haben stattdessen nun
Aus den Jahrzehnten, in denen ich diese Linie immer einen Anführer, der noch nicht einmal der offizielle Staats-
wieder überschritten habe, weiß ich, dass heute keine Dis- chef ist – aber der sich mit seiner Verhaftungswelle die
krepanz mehr erlaubt ist zwischen der offiziellen Regie- absolute Macht gesichert hat, zivil wie militärisch.
rungsposition und dem, was die Bürger sagen. Früher hat- Ein Freund rief mich vor ein paar Wochen an und fragte,
ten wir einen erheblich größeren Spielraum. Keine wirk- warum ich MbS so kritisch sehe, ob ich nicht seine Vision
liche Meinungsfreiheit, natürlich nicht. Aber es war eben für Saudi-Arabien verstünde, den Hunger nach Verände-
auch kein von oben verordneter blinder Gehorsam. Und rung. Ich erwiderte mit einer Gegenfrage: Warum dürfen
oft war es auch nicht so sehr die Regierung, die ein Pro- wir heute nicht mehr sagen, was wir denken, wie wir es
blem damit hatte, was einer sagte oder schrieb, sondern bisher getan haben? Ein anderer Freund, ein im Westen
die Ulama, die muslimischen Rechtsgelehrten, die sehr ausgebildeter Saudi-Araber, der Teil des Machtapparats
empfindlich auf Kritik reagieren. Jetzt allerdings ist es die des Kronprinzen ist, sagte mir, wir müssten diese Verhaf-
Regierung, die keine Form von Kritik toleriert. Nichts ist tungswelle tolerieren. Das sei der notwendige Preis für
mehr erlaubt, weder die politische Satire des nun verhaf- das große Ziel: Reform und Wohlstand.
teten Unternehmers Jamil Farsi noch die Forderung nach Tatsächlich? Muss ich wirklich dabei zusehen, wie
mehr Demokratie durch den Gelehrten Salman Al Odah, Freunde verhaftet werden, die nichts anderes getan haben,
der seit September im Gefängnis sitzt. Seit Mohammed als zu sagen, was sie denken? Muss ich wirklich ausnahms-
los alles gut und edel finden, was unsere Regierung tut? fürchten ihn, keiner will ihn verärgern oder angreifen. Sie
In was für einer Zeit wollen wir denn leben, im 21. oder setzen alle darauf, dass sie, wenn sie als standfeste Getreue
im 17. Jahrhundert? gesehen werden, noch weiter aufsteigen können. Diese
Im Jahr 2011 erhoben sich nach dem Selbstmord des tu- jungen Prinzen sitzen nun an den Hebeln der Macht, die
nesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi Millio- früher nur den Älteren vorbehalten waren.
nen junge Araber. Sie forderten Jobs, ja – sie verlangten Doch absolute Herrschaft ist der falsche Weg, egal wie
aber auch, dass man ihnen zuhört, anstatt sie zum Schwei- klug der Herrscher ist, wie ernst er es meint mit seinem
gen zu bringen. Jobs ohne Mitspracherecht, das mag viel- Reformkurs, egal wie sehr das Land sich nach Rettung
leicht das Modell von Präsident Xi Jinping für China sein. sehnt. Wir Araber haben schon zu oft schlechte Erfahrun-
Doch die meisten Araber bevorzugen eher den Weg einer gen mit vermeintlich ehrlichen, patriotischen Anführern
Angela Merkel. Immer wieder höre ich von jungen Saudi- gemacht, die sich allzu schnell in Diktatoren verwandelt
Arabern, dass sie zutiefst besorgt über den Kurs des Kron- haben. Sie sind verantwortlich für unser Leid, unsere miss-
prinzen sind. Sie wünschen sich zwar Veränderungen, liche Lage, unsere Niederlagen und Bürgerkriege.
aber sie wollen an diesem Prozess teilhaben. Es ist ihnen Der Kampf gegen die Korruption in Saudi-Arabien
wichtig, die Initiative zu ergreifen, eine Stimme zu haben. mag nun im Gange sein, gewiss, aber es ist eher so, als
schlüge man der Medusa einen Kopf ab, während ständig
S
eit 1979 gab es keine solche Paranoia wie derzeit. neue nachwachsen. Deshalb fordere ich einen echten,
MbS ist nicht nur dabei, seinem Vater nachzufolgen, ernst gemeinten Kampf gegen die Korruption, keinen,
er inszeniert sich gerade so, als wäre er unserem der nur auf einige wenige zielt – was lediglich das Ver-
Staatsgründer und erstem König Abdulaziz Ibn Saud eben- trauen der Investoren erschüttert und die Wirtschaft
bürtig. Seine Unterstützer nennen ihn sogar den „zweiten schwächt. Ich will den Extremismus stoppen – aber ich
Staatsgründer“. Wenn er eine Konferenz oder eine Sitzung möchte nicht religiöse Fanatiker durch Faschisten erset-
besucht, dann geht er stets allein voraus, alle anderen fol- zen, die die Tugenden des „großen Führers“ in den Him-
gen ihm. Er wird lediglich mit seinem Vater, dem 81 Jahre mel loben und jede abweichende Meinung gnadenlos un-
alten König Salman, abgebildet. Ohne dessen Unterstüt- terdrücken. Ich wünsche mir, dass mein Land Irans Ein-
zung könnte der Kronprinz seine waghalsigen – manche flussnahme in Syrien, im Jemen und im Libanon entge-
sagen sogar: gefährlichen – Vorhaben nicht durchführen. gentritt und sie beendet – aber ohne einen Krieg anzu-
Zwar hat der Kronprinz das königliche Protokoll auf fangen, der beide Länder zerstören könnte. Ich wünsche
den Kopf gestellt, doch die Grundlagen des Patronagesys- mir ein Saudi-Arabien, das Einfluss in der Region hat –
tems hat er nicht angetastet. Nachdem er im Juni zum aber ohne die kleinen Länder zu drangsalieren, mit denen
Kronprinzen gekürt worden war – und damit seinen wir uns verbünden sollten.
Cousin Mohammad bin Naif verdrängte –, beförderte er Wir müssen den Geist des Arabischen Frühlings an-
40 junge Mitglieder der königlichen Familie in wichtige nehmen, statt ihn zu bekämpfen.
Positionen. Zuvor hatte er bereits 30 junge Mitglieder in
wichtige Ämter berufen. Er stellte dabei sicher, dass die Khashoggi wurde 1958 in Medina geboren, er ist ein bekannter
Ernannten alle Flügel der Familie repräsentieren. Seine Publizist und gefragter politischer Kommentator. Er hat Saudi-
Partner sind diese Leute nicht, eher Gefolgsleute. Sie Arabien inzwischen verlassen und lebt in den USA.
Vergiftetes Land
USA Von wegen erfolglos – bei der Abwicklung des Umweltschutzes ist die Trump-Regierung
erschreckend effektiv. Die Politik diktieren Industrie und Klimawandelleugner.
E
inen Kilometer vom Weißen Haus 1970 wurde die Umweltbehörde gegrün- becken für giftige Abwässer. Sie leben hier
entfernt sitzt ein Mann in einem det, unter Richard Nixon, ausgerechnet eigentlich nicht mehr auf dem Land. Son-
holzgetäfelten Chefzimmer, mit lich- einem Republikaner, und lange Zeit war dern mitten in einem Industriegebiet. Die
tem Haar und gedrungener Figur, so un- Umweltschutz Konsens. Doch die Radika- Anlagen liegen neben Häusern und Schu-
auffällig, dass man ihn sofort wieder ver- len in der republikanischen Partei wurden len; 1,5 Millionen Menschen in Pennsylva-
gisst. Seine Tweets machen keine Schlag- seither immer mächtiger, sie bekämpfen nia leben im Umkreis von einer halben
zeilen, er wütet nicht, er droht nicht mit den Staat und seine Regeln. Dazu kommen Meile um eine der 108 176 aktiven Quellen
Feuer und Zorn, nein, aber das heißt nicht, Unternehmer aus der Energiebranche wie und Weiterverarbeitungsanlagen.
dass er weniger Schaden anrichtet. die Koch-Brüder, die klimawandelskepti- Erdgas, das ist vor allem Methan, doch
Sein Name ist Scott Pruitt, er ist Ameri- sche Gruppen und Politiker mit Hunderten es trägt mit sich Nebenprodukte, toxisch
kas oberster Umweltschützer, Herr über die Millionen Dollar unterstützen. und unsichtbar, etwa flüchtige organische
Environmental Protection Agency, kurz Beim Kampf gegen den Klimaschutz ver- Verbindungen, die zur Ozonbildung bei-
EPA, die größte Umweltbehörde der Welt. mengen sich seither finanzielle Interessen tragen. Außerdem ist Methan das drittwich-
Doch in seiner Antrittsrede kamen „Um- und konservative Ideologie; die Rechten tigste Treibhausgas – und 25-mal schäd-
weltschutz“ und „Klima“ nicht vor, und das sehen im Klimaschutz einen Angriff auf licher als Kohlendioxid.
war kein Versehen. Seither sorgt er dafür, die Freiheit, auf Amerikas Stärke, auf ihr Nasenbluten, Asthma, Ausschläge, Al-
dass die Luft weiterhin verschmutzt werden christliches Weltbild. Es sind Leute, die lergien, Halsschmerzen zählt Bower-Bjorn-
darf, dass Seen und Flüsse vergiftet und vom „klima-industriellen Komplex“ reden son auf, sie hat all das bei ihren vier
schädliche Pestizide auf Obst und Gemüse wie von einer weltweiten Verschwörung. Kindern beobachtet. Auch Krebs und Fehl-
gesprüht werden dürfen. Die Klimapolitik ist also der perfekte geburten kämen in ihrer Gemeinde über-
52 Umweltstandards wurden seit seinem Schauplatz, um zum Helden der Rechten proportional oft vor. Die EPA selbst gibt
Amtsantritt im Januar abgeschafft oder aufzusteigen. Trump hat es so gemacht, zu, dass die Nebenprodukte der Erdgas-
eingefroren. Wölfe dürfen jetzt in Alaska als er im Wahlkampf das Ende des „Krie- förderung krank machen können.
gejagt werden, Bohrungen in der Arktis ges gegen die Kohle“ versprach. Und In dem Bezirk, in dem Scenery Hill liegt,
sind erlaubt, eine umstrittene Pipeline Pruitt, so scheint es, hat Ähnliches vor. haben sie mit großer Mehrheit für Trump
wird gebaut. Der Austritt aus dem Pariser Es gibt zwei Orte, um zu verstehen, wel- gestimmt, 60,8 Prozent; in ganz Pennsyl-
Klimaabkommen wurde verkündet, der che Folgen diese Abwicklung des Umwelt- vania waren es deutlich weniger, nur
Clean Power Plan, Herzstück des Kampfes schutzes hat. Einer ist die riesige Cafeteria 68 000 Stimmen lag Donald Trump vor Hil-
gegen den Klimawandel, blockiert. Pruitt im Untergeschoss der Behörde, dort kann lary Clinton. Er ist also auch wegen der
hat Wissenschaftler entlassen, er hat Infor- man Menschen treffen, die fassungslos Bewohner von Scenery Hill Präsident ge-
mationen zum Klimawandel unterschla- sind angesichts dessen, was ihr Vorgesetz- worden. Und es sind diese Menschen, die
gen, er hat Führungspositionen mit Klima- ter anrichtet. Elizabeth Southerland ge- Trump vielleicht meint, wenn er von Ame-
wandelleugnern besetzt und will ausge- hört dazu, 33 Jahre bei der EPA, sie hat rikas „vergessenen Männern und Frauen“
rechnet einen Kohlelobbyisten zu seinem schon viele Regierungen erlebt. „Aber bis- spricht, denen er helfen wolle. Aber seine
Stellvertreter machen. her war das Ziel immer der Umweltschutz. Regierung tut genau das Gegenteil.
Damit ist dieser Umweltschützer, der die Jetzt ist es das Gegenteil.“ Bis Anfang Juni dieses Jahres hatten die
Umwelt nicht schützen will, Donald Trumps Um sie soll es später noch einmal gehen. Energiekonzerne Zeit, Teile einer Verord-
bester Mann, in keinem Bereich wird so viel Der zweite Ort liegt fünf Autostunden nung umzusetzen, verabschiedet noch unter
von der Politik des Präsidenten umgesetzt nordwestlich von Washington, dort, wo die Obama: Sie sieht vor, dass die Unternehmen
wie hier, wird so viel zertrümmert vom Erbe Marcellus-Formation beginnt, ein Gasfeld den Austritt von Methan beim Fracking mi-
Barack Obamas. Es gibt wohl kaum einen von der Fläche Westdeutschlands, der be- nimieren sollen. Die Luft in Scenery Hill
Ort, an dem der Trumpismus so blüht wie deutendste Teil liegt in Pennsylvania. Einst wäre sauberer, die Menschen wären gesün-
in Pruitts EPA, dieser Mischung aus Inkom- war die Gegend ein Zentrum der Kohle- der, und gut fürs Klima wäre es auch.
petenz, Paranoia, Wissenschaftsfeindlichkeit industrie, heute ist der Bundesstaat der Zudem sollen alle Energiekonzerne mes-
und Interessenpolitik. zweitgrößte Förderer von Erdgas, das beim sen, wie viel Methan aus ihren Anlagen
Und das ist erst der Anfang. Denn es Fracking mit gewaltigem Druck und Einsatz überhaupt entweicht; so ließe sich erstmals
geht nicht nur darum, ein paar Standards von Chemikalien aus der Erde gepresst wird. der Umfang des Problems abschätzen.
zurückzudrehen, sondern das größte Pro- Ausgerechnet Scenery Hill heißt der Ort, Doch was macht Scott Pruitt, der Mann,
jekt der Umweltbehörde zu beerdigen: den Panoramahügel könnte man das überset- der Menschen und Umwelt schützen soll?
Kampf gegen die Erderwärmung. zen. Und wenn die Tanzlehrerin Lois Bo- Am 1. März geht bei der EPA ein Schrei-
Eine Gefahr ist das, nicht nur für Ame- wer-Bjornson, 51, aus ihrem Haus tritt, brei- ben von Justizministern und Gouverneu-
rika, sondern für die ganze Welt. Die USA tet sich da tatsächlich ein Panorama aus. ren aus elf Bundesstaaten ein; sie fordern,
sind nach China der zweitgrößte Produ- Allerdings nicht mehr nur aus grünen Hü- die Methan-Evaluation einzustellen. Ihre
zent von Treibhausgasen. Und der Ver- geln, sondern aus Förderanlagen. Befürchtung verheimlichen die Antragstel-
such, die Erderwärmung zu begrenzen, Als Bower-Bjornson und ihr Mann aus ler nicht: Wenn der Umfang des frei wer-
wie gerade wieder bei der Klimakonferenz dem nahen Pittsburgh hierherzogen, war denden Methans bekannt werde, könne
in Bonn, rückt in die Ferne, wenn die Ame- ihr Haus umgeben von Wiesen. Inzwi- das „zur Auferlegung von erdrückenden
rikaner beim Klimaschutz nicht mehr mit- schen stehen überall Bohrtürme, Kompres- Klimastandards bei bereits bestehenden
machen. soren, Pipelines, Flüssiggastanks, Auffang- Anlagen führen, was zu enormen Kosten
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holera? Nein, Cholera ist hier nicht zur De-facto-Metropole des Landes, vom Zweieinhalb Jahre später ist das Land
das Schlimmste“, sagt der Kranken- Kaff zur Boomtown, die Firmen, Flücht- keiner Entscheidung näher gekommen,
hausdirektor. Die fatale Epidemie, linge, Fachleute und Banken aus dem ge- sondern zum größten humanitären Krisen-
die sich seit acht Monaten im Jemen aus- samten Jemen anzieht. Marib funktioniert. herd der Welt geworden. Ein Viertel der
breitet, etwa 800 000 Menschen infiziert Mehr als zwei Jahrzehnte lang waren 27 Millionen Jemeniten ist akut von einer
und über 2000 getötet hat, „kommt als To- die Stadt mit einst 40 000 Einwohnern und Hungersnot bedroht, seitdem Saudi-Ara-
desursache bei uns in Marib erst auf Platz die ganze Provinz als Qaida-Zuflucht ver- bien die Einfuhr von Lebensmitteln weit-
drei oder vier. Hier bringen Landminen rufen, gefährlich selbst für Jemeniten und gehend verhindert. Und erst recht, seit es
die meisten Menschen um“, so Dr. Moham- für Ausländer erst recht, beherrscht von am 6. November sämtliche Häfen und Flug-
med al-Qubati. Stämmen, die Pipelines und Stromleitun- häfen des Jemen geschlossen hat.
Durch das Wüstental von Marib, 172 Stra- gen sprengten, um Geld zu erpressen. Be- Sanaa und die großen Städte werden
ßenkilometer östlich der Hauptstadt Sanaa, kannt höchstens dafür, dass die USA hier entweder von den zunehmend paranoiden
verlief monatelang eine der am heftigsten regelmäßig echte oder vermeintliche Qai- Huthis kontrolliert und von den Saudi-Ara-
umkämpften Frontlinien des Bürgerkriegs, da-Männer mit Drohnen umbrachten. bern bombardiert, liegen direkt an der
vergruben die angreifenden Huthi-Milizen Doch dann begann der Untergang des Front wie Taizz oder wurden erst vor einer
ab 2015 Zigtausende Minen auf Wegen, in Jemen – und damit der Aufstieg von Marib. Weile von al-Qaida befreit wie die Hafen-
Feldern und Gärten. Heute liegt die Front 2011 waren, wie in vielen Staaten der ara- stadt Mukalla. Und in Aden führen die je-
35 bis 100 Kilometer außerhalb der Stadt. bischen Welt, auch im Jemen Hunderttau- menitischen Verbündeten der VAE und
Aber die Minen sind noch da, treffen Sol- sende für ein Ende der Diktatur auf die Saudi-Arabiens nach der Vertreibung der
daten wie Zivilisten. „Und wir haben doch Straßen gegangen. Nach mehr als drei Jahr- Huthis nun gegeneinander Krieg.
nur 120 Betten, sind dauerbelegt. Schauen zehnten an der Macht willigte Präsident Bleibt Marib. Vor rund 3000 Jahren war
Sie selbst, II. Stock!“ Ali Abdullah Saleh Ende 2011 schließlich es schon einmal Hauptstadt, die des Rei-
Über dem Eingang dort steht ein Schrift- ein zurückzutreten. ches von Saba, wovon noch die berühmten
zug aus bunten Klebepunkten: „Willkom- Die eher symbolische Wahl seines Vizes Tempelruinen mit ihren viereckigen Säu-
men! Orthopädische Abteilung“. Dahinter Abd Rabbuh Mansur Hadi ohne Gegen- len zeugen. Damals wie heute verdankte
beginnt der Korridor der Amputierten. kandidaten sollte Stabilität für eine Über- es seinen Aufstieg der Lage. Schon in der
Wer hier nur mit einem zerschmetterten gangsperiode schaffen, um zwei aufbegeh- Antike versorgte das Wasser hinter dem
Bein liegt, zusammengehalten von Schrau- rende Fraktionen einzubinden: Im Norden Damm von Marib die Oase. Auch in diesen
ben und Schienen, hat Glück gehabt. Die hatte es bereits seit 2004 immer wieder Tagen ist der See gut gefüllt.
anderen haben nur noch ein Bein oder gar Kämpfe zwischen Armee und den schiiti- Weihrauchkarawanen, die im Altertum
keines mehr, Soldaten zumeist, aber auch schen Huthi-Rebellen gegeben. Im Süden Marib reich werden ließen, gibt es keine
Bauern und eine alte Frau. Es sind bloß wollten Sezessionisten die mit der Wieder- mehr. Aber nahe der Stadt produziert die
die Fälle der letzten Tage und Wochen, vereinigung 1990 verlorene Unabhängig- staatliche Ölfirma Safer täglich 1900 Ton-
der Schorf auf den Splitterwunden ist oft keit der einstigen sozialistischen Volksre- nen Kochgas, Diesel und Schweröl für die
noch frisch. Nur ein Teil der Verletzten, publik zurückerobern. Kraftwerke – die einzige Energiequelle des
erzählt Qubati, überlebe den stundenlan- Hadi versuchte, die Huthis aus dem Nor- Landes, von deren Erlösen 20 Prozent an
gen Transport hierher. den gegen die Südisten auszuspielen. Aber die Provinzregierung fließen.
Ein Stockwerk tiefer stapeln sich Plas- er war seinem Vorgänger nicht gewachsen. Nach dem Ende der Kämpfe zwischen
tikwaden und -füße, Schaumstoffblöcke Saleh, der Großmeister der wechselnden Huthis und Hadi-Getreuen seit Ende 2015
und Metallschienen: die Prothesenwerk- Allianzen, lauerte auf eine Chance zur hat sich hier eine Art positiver Domino-
statt. Der Stolz des Direktors. Im Neben- Rückkehr. Dass er die Huthis jahrelang hat- effekt eingestellt: 1,5 bis 2 Millionen Flücht-
raum wird am 13-jährigen Naif, der beim te bombardieren lassen, hinderte ihn nicht linge aus allen Landesteilen kamen nach
Spielen im Garten beide Füße durch eine daran, sich mit ihnen zu verbünden. Über- Marib, der Zuzug hält bis heute an. Es kom-
Mine verlor, gerade Maß genommen. dies waren ihm Eliteverbände der Armee men Arme, aber auch Unternehmer, Ärzte
„Wir bilden hier Fachleute aus“, sagt Qu- loyal geblieben. Als Hadi im Sommer 2014 wie der Krankenhausdirektor Dr. Qubati.
bati, „bauen mittlerweile alles selbst!“ Pro- auf Druck des Weltwährungsfonds eine Es kommen Juristen, Journalisten, Künstler,
thesen in Marib, sagt er, das habe Zukunft. massive Kürzung der Treibstoffsubventio- die vor all dem fliehen, was den Rest des
Das kleine Krankenhaus am Rand der nen verkündete, fanden von den Huthis Landes in den Abgrund reißt: den Willkür-
Wüste ist ein Ort der Extreme, stets organisierte Proteste gewaltigen Zulauf. verhaftungen der Huthis in Sanaa, den
schwankend zwischen Horror und Hoff- Im Januar 2015 überrannte die Huthi-Sa- Kämpfen, al-Qaida, der Korruption.
nung. Und spiegelt somit die Lage in die- leh-Allianz die Hauptstadt Sanaa. Hadi Und es kommen die Reichen zurück, die
sem Teil des Landes. Denn dass dieses floh. Am 26. März 2015 begann die „Ope- vor Jahrzehnten ausgewandert sind. Wie
Krankenhaus überhaupt noch existiert, ration Entscheidungssturm“, die Interven- Mohammed Zubaiyen: Der 26-jährige
dass erfahrene Ärzte hier arbeiten, die tion durch Saudi-Arabien und die Verei- Spross der im gesamten Nahen Osten ope-
Stromversorgung gesichert ist und die Cho- nigten Arabischen Emirate (VAE) – anfangs rierenden Handels- und Bau-Holding
lera-Rate auch dank einer leidlich funktio- vor allem mit Luftangriffen, die Militär- ZTCO verließ die Stadt, als er neun war,
nierenden Trinkwasserversorgung niedrig stellungen trafen, ebenso Krankenhäuser, ging in Cambridge zur Schule, in Dubai
bleibt, ist dem spektakulären Aufstieg der Trauerzüge und Wohnhäuser. Aus Iran ka- zur Amerikanischen Universität: „Warum
Stadt Marib zu verdanken: vom Terrornest men Raketen und Minen für die Huthis. hätte ich hierbleiben sollen? Welchen Ruf
96 DER SPIEGEL 46 / 2017
Ausland
So wie auch bei dieser Reise. Nur wenig erzählt Sultan al-Arada, „aber der meinte
von dem, was im Jemen geschieht, wird VAE nur, ich solle mir einen Anwalt nehmen.“
weltweit wahrgenommen. Weder die Hu- Letztlich sei die Einmischung der Aus-
this noch Saudi-Arabien und die VAE wol- SAUDI- OMAN länder an allem schuld, ist immer wieder
len Journalisten ins Land lassen. Und so ARABIEN in Marib zu hören: der Iraner vor allem,
war es Sultan al-Arada, der in Zusammen- der Amerikaner immer schon, des Westens
arbeit mit dem Sanaa Center for Strategic Huthi-Gebiet generell. Die Huthis auf der anderen Seite
Studies, einem kleinen Team gut vernetz- der Front sehen das auch so, nur ist für sie
ter Jemeniten, die Einreise von einem Dut- JEMEN Saudi-Arabien der Schurke. Geflissentlich
zend ausländischer Journalisten für diese Sanaa 200 km wird ignoriert, wie sehr Jemens Eliten selbst
Marib
Recherche erst möglich gemacht hat. Mukalla ihr Land zerstören und die Interventionen
n
Dank Arada kommen auch die besten n Ade von außerhalb erst möglich machten.
Golf vo
Stand:
Köpfe des Landes nach Marib. Zwei Drittel Aden 9. November Wie gleichgültig Jemeniten aller Fraktio-
der Professoren an der von 1200 auf 5000 nen gegenüber der humanitären Katastro-
Studenten gewachsenen Universität stam- die Institutionen des Jemen, sondern auch phe in ihrem eigenen Land sind, lässt sich
men von außerhalb. Wohin auch sonst soll- gegen seine Identität. Die Huthis beharren in Marib jeden Morgen pünktlich ab neun
ten sie gehen? darauf, dass nur ein Nachfahre von Imam Uhr morgens beobachten: Dann fahren die
Von den Studierenden sind die Hälfte Hussein (ein Heilsbringer der schiitischen Katlaster vor, bringen die frische Lieferung
Frauen, denen die Stadtverwaltung einen Glaubensrichtung) das Land beherrschen junger Triebe des Katstrauchs, die eine
Busservice stellt, um konservative Fami- dürfe. Aber das funktioniert nicht, nie.“ mild berauschende Wirkung haben. Die
lien zu ermutigen, ihre Töchter zur Univer- Wie schwierig die Balance im Vakuum Wagen kommen aus Arhab im Huthi-
sität zu schicken. In den völlig überfüllten des nicht mehr existierenden Staates ist, Gebiet, nur in den dortigen Höhenlagen
Hörsälen und in neuen Wellblechbaracken zeigt sich beim langen Kampf, al-Qaida aus wächst Kat. Sie queren auf Umwegen die
auf dem Campus werden beide Geschlech- Marib zu vertreiben. Für jene, die sich aus Front zwischen den Todfeinden, denn der
ter gemeinsam unterrichtet. Bei den Inge- Verbitterung und für Geld den Radikalen gesamte Jemen kaut Katblätter. Das Land
nieuren überwiegen die Männer, bei den angeschlossen hatten, gibt es nun neue Mög- versinkt in Trümmern, leidet an Hunger
Erziehungswissenschaften dominiert der lichkeiten – so auch für den ehemaligen und Cholera – doch am kollektiven Nach-
schwarze Block der Verschleierten. Eine Nachbarn des Bauunternehmers Moham- mittagsrausch hat sich nichts geändert.
19-Jährige sitzt neben ihrer 38-jährigen med al-Zubaiyen: „Als ich klein war, wohn- Kat wächst dort, wo einst Lebensmittel
Mutter, die endlich Lehrerin werden will: te er sechs Häuser weiter, wir haben zu- gepflanzt wurden, verbraucht das Wasser,
„Mein Mann ist dagegen“, sagt die Mutter, sammen gespielt. Später wurde er al-Qai- dessen Fehlen die Cholera-Epidemie be-
„es gibt jeden Abend Streit. Aber ich ver- da-Kommandeur, ein technischer Virtuose, günstigt, aber wird weiter angebaut, weil
suche, ihn glücklich zu machen, damit er der ein Auto in einen Panzer verwandeln es profitabler ist als Weizen. Die Kaufkraft
uns in Ruhe lässt.“ konnte, Raketen frisierte und Fahrzeuge im Land ist gesunken, doch neue Großab-
Keine Frau ist hier auf der Straße ohne für Selbstmordattentäter baute.“ Nun habe nehmer kaufen täglich Tonnen an Kat: die
Nikab zu sehen, den Gesichtsschleier, der er umgesattelt, panzere Geländewagen zum Oberkommandos aller Truppen, von Hadis
nur die Augen freilässt. Aber die kleinen Verkauf an die Regierung. Armee wie von den Huthis, für die Solda-
Veränderungen, die man nur in privaten An die Qaida-Ideologen war schwerer ten. Ohne Kat keine Offensive, das bestä-
Gesprächen erfährt, verraten mehr über heranzukommen. Manche, so Arada, seien tigen auch die Amputierten in Dr. Qubatis
die Pläne Aradas als die Facebook-Verlaut- festgenommen, manche getötet worden, überfülltem Krankenhaus.
barungen seiner Provinzregierung. „vor allem hat es geholfen, dass deren ei- Marib wird weiter aufsteigen, solange
Der junge Radiojournalist Raschid al- gene Familien sie verstoßen haben“. das Land weiter untergeht. Ein jäher Frie-
Mulaiki setzte sich im März aus Sanaa ab, Aber immer noch schlagen die Raketen de könnte die Stadt wieder in Provinziali-
nachdem immer wieder Reporter von Hu- der amerikanischen Drohnen wie aus dem tät zurückfallen lassen. Aber danach sieht
this in Zivilkleidung verschleppt wurden Nichts auch rund um Marib ein, treffen es nicht aus. Saudi-Arabiens offizieller
und ohne Anklage in den Gefängnissen am zweiten Tag unseres Aufenthalts vier Kriegsgrund war, Präsident Hadi wieder
verschwanden. Bei Radio Marib betreut er Männer in einem Auto nördlich der Stadt. ins Amt zu bringen. Doch es hält ihn in
gemeinsam mit einer Co-Moderatorin seit „Die Drohnenangriffe töten auch Zivilis- Riad unter Hausarrest.
einem Monat die neue Sendung „Baituna“, ten“, sagt Arada, „sie treiben al-Qaida Der Jemen ist der Austragungsort des
„Unser Haus“: ein Programm über Fami- mehr Leute zu als deren eigene Propagan- eskalierenden Machtkampfs zwischen Sau-
lienprobleme. Reinster Sprengstoff. da. Wir wünschen uns, die Amerikaner gä- di-Arabien und Iran geworden. Es geht
„Wir haben erst mal angefangen, über ben uns die Chance, Leute zu verhaften, wohl niemandem um den Erhalt des Lan-
harmlose Dinge zu sprechen“, erzählt er, bevor sie selbst angreifen.“ des, jede Interventionsmacht sichert sich
„wie Facebook die Familien verändert, Pro- Doch der Terror ist im Jemen seit Jahren ihr Stück vom Jemen.
bleme zwischen Vätern und Söhnen. Der ein Instrument der verfehdeten Fraktionen. Und niemand spricht mehr von einem
Gouverneur unterstützt uns, aber wir müs- Aradas eigener Bruder Khalid steht als „al- nahen Ende der Kämpfe. Auch der Mann
sen uns vorantasten. Wir planen eine Sen- Qaida-Finanzier und -Anführer“ auf der auf der Holzbank vor der Orthopädischen
dung zum Thema: Die Tochter will studie- schwarzen Liste der US-Regierung. Darauf Abteilung, der leise murmelt, dass der
ren, ihr Vater ist dagegen. Wir werden Gäs- gesetzt hat ihn schon vor sechs Jahren der Krieg vorbei sei, schränkt ein, dass dies
te und Anrufer reden lassen, aber keine damalige Geheimdienstchef und Neffe von nur für ihn gelte. Sein rechter Arm ist aus
Empfehlung abgeben. Das wäre zu heikel.“ Ex-Präsident Saleh. Eine Lüge, um ihn zu Kunststoff, ebenso sein rechtes Bein, er
Alles im Jemen sei letztlich eine Frage treffen, sagt der Gouverneur. Mittlerweile wartet auf die Justierung seiner Prothesen.
der Balance, sagt Sultan al-Arada beim helfen die Amerikaner, Salehs Truppen zu
Treffen im Gouverneurssitz. Deshalb sei bombardieren, aber töten immer noch die Video:
es so schwierig, mit den Huthis eine Ver- Leute von dessen Terrorliste. Eine paradoxe „Eine skurrile Recherche“
handlungslösung zu erreichen: „Ihre Macht- Situation. „Ich habe den US-Botschafter in spiegel.de/sp462017jemen
übernahme war nicht nur ein Putsch gegen Riad gebeten, meinen Bruder zu streichen“, oder in der App DER SPIEGEL
J E F F
KOONS
A N DY RA I N / D PA
übertrumpft zu haben.
Die Weltmeistertrainer
Erich Ribbeck 1998 bis 2000 24 10 6 8 1,50 Sepp Herberger und Franz
Beckenbauer gewannen
Rudi Völler 2000 bis 2004 53 29 11 13 1,85 kaum mehr als jedes zwei-
te Spiel – sie waren damit
nicht viel besser als Erich
Jürgen Klinsmann 2004 bis 2006 34 20 8 6 2,00 Ribbeck und Rudi Völler,
die zwischen 1998 und
Joachim Löw seit 2006 156 106 27 23 2,21 2004 verantwortlich wa-
ren. Löw hingegen siegte
Stand: 9. November *Drei Punkte pro Sieg, ein Punkt pro Remis. in zwei von drei Spielen.
Magische Momente
„Die waren total stinkig“
Die ehemalige Tennisspielerin Claudia Kohde-Kilsch, 53, über den Triumph im Federation Cup vor 30 Jahren
SPIEGEL: Sie gewannen 1987 wonnen hatten, wurden die derlage bis heute nicht ver- Boden krachte. Ich weiß noch,
an der Seite von Steffi Graf Amerikanerinnen spürbar daut hat. dass unser Mannschaftsarzt
erstmals für Deutschland den nervös. SPIEGEL: Haben Sie in Van- verzweifelt versuchte, eine
Federation Cup. Die Ent- SPIEGEL: Sie entschieden den couver gefeiert? Delle auszubeulen.
scheidung im Spiel gegen die dritten Satz mit 6:4 für sich. Kohde-Kilsch: Wir waren bei SPIEGEL: Angeblich hat Ihnen
USA fiel in einem Doppel, Die Sensation war perfekt. einem Millionär, den unser Steffi Graf nach dem Sieg
in dem es lange nicht gut für Kohde-Kilsch: Steffi und ich Teamchef Klaus Hofsäss ein besonderes T-Shirt ge-
Sie aussah. waren keine engen Freun- kannte. Dabei gab es einen schenkt.
Kohde-Kilsch: Wir lagen dinnen, aber in diesem Schockmoment, als der Kohde-Kilsch: Stimmt. Ich war
schnell 1:6 und 0:4 hinten. Augenblick fielen wir uns in Siegerpokal plötzlich auf den damals großer Fan von Bryan
Pam Shriver und Chris Evert die Arme. Selbst unsere Adams, und sie war
gelang alles – uns gelang verfeindeten Väter, Gott vorher backstage bei
nichts. Wir wollten uns aber hab sie selig, umarmten einem Konzert von
auch nicht kampflos abschie- sich kurz. Der Erfolg ihm gewesen. Ich glau-
ßen lassen und erinnerten überstrahlte alles. be, es war sogar ein
uns an ein Match von Jimmy SPIEGEL: Wie reagierten Autogramm darauf.
Connors. Ihre Gegnerinnen? SPIEGEL: Welchen Stel-
SPIEGEL: Helfen Sie uns auf Kohde-Kilsch: Die waren lenwert hat der Sieg in
die Sprünge. total stinkig und sagten Ihrer Karriere?
Kohde-Kilsch: Connors hatte gar nichts. Im August Kohde-Kilsch: Dieser
1987 in Wimbledon ein dieses Jahres habe ich Weltmeistertitel steht
Spiel gedreht, in dem er völ- auf Facebook gepostet, auf einer Stufe mit mei-
lig aussichtslos hinten lag. dass der Sieg von nem Wimbledon-Sieg
SPIEGEL: Und dann? Vancouver einer der im Doppel gemeinsam
Kohde-Kilsch: Wir holten auf, schönsten meiner Kar- mit Helena Suková und
und auch Steffi, die wahrlich riere war. Pam Shriver der Bronzemedaille
SVEN SIMON
keine Volleyspezialistin war, hat den Post prompt mit Steffi bei den
traf am Netz plötzlich alles. kommentiert. Sie Olympischen Spielen
Als wir den 2. Satz 7:5 ge- schrieb, dass sie die Nie- Kohde-Kilsch, Graf 1987 in Vancouver 1988 in Seoul. pk
„Richtig bumm!“
Boxen Der einstmals drittbeliebteste Sport der Deutschen ist zu einer Freakshow
verkommen. In Oberhausen tritt jetzt ein Profi mit künstlicher Hüfte
zu einem Kampf um die Weltmeisterschaft an. Ist die Branche noch zu retten?
F
ür Axel Schulz ist Boxen immer noch sportlich nicht mehr viel. Schlagzeilen mehr abgeliefert hat, gleich für einen WM-
der schönste Sport der Welt. „Zwei machte Charr erst wieder vor zwei Jahren, Kampf nominiert wird, ist trotzdem nicht
Leute steigen in einen Ring, kämp- als er in einem Essener Dönerimbiss nie- leicht zu verstehen.
fen, danach haben sich alle wieder lieb. dergeschossen wurde. Axel Schulz sagt, er habe aufgehört, sich
Wunderbar!“ Manuel Charr zieht sein Hemd bis über über irgendetwas in der Branche zu wun-
Schulz, 49, ist im Auto unterwegs nach den Bauch hoch, zum Vorschein kommt dern. Vor einem Monat kam es bei einer
Frankfurt am Main zu einer Autogramm- eine große Narbe. „Bauchschuss, überall Boxgala in Stuttgart zu einer Schlägerei
stunde. Der ehemalige Schwergewichtler war Blut“, sagt er. Die genauen Hinter- auf der Tribüne. Es werden Kämpfe vorher
stand vor elf Jahren das letzte Mal gründe der Tat liegen bis heute im Dunk- abgesprochen, Ringrichter manipuliert.
im Ring, aber die Fans haben ihn nicht len. Der Angreifer soll einer Clanfamilie Und immer wieder kommt es zu Fights,
vergessen. Zusammen mit Henry Maske angehört haben, er wurde zu einer Haft- die jegliches Niveau vermissen lassen.
löste Schulz den Boxboom der Neunzi- strafe verurteilt. Der tiefe Fall des deutschen Boxens ist
gerjahre aus, mit ausverkauften Hallen Charr steckt sein Hemd wieder in die auch eine Folge des einstigen Hypes um
und Rekordquoten im Fernsehen. Ob- Hose und bestellt Tee. „Als ich nach der Maske und Schulz. 18 Millionen Menschen
wohl er die meisten seiner großen Titel- Notoperation im Krankenhaus aufgewacht sahen 1995 die Übertragung des WM-
kämpfe verlor, liebte das Publikum den bin, waren da überall Frauen. Ich dachte, Kampfes zwischen Schulz und dem Süd-
Riesen aus Frankfurt (Oder), weil er im- ich bin im Himmel.“ afrikaner Frans Botha. Danach gierten die
mer sein Bestes gab und kein Sprü- Sender nach weiteren Titelkämpfen
cheklopfer war. und Rekordquoten. Sie pumpten
Nachdem Schulz und Maske ihre Millionen in den Boxmarkt. Die
Karriere beendet hatten, begann der Promoter witterten das schnelle
Abstieg des deutschen Boxens. Der Geld. Statt Talente ordentlich aus-
einstmals drittbeliebteste TV-Sport zubilden, schickten sie unfertige
nach Fußball und Formel 1 ist heute Athleten ins Feuer, Durchschnitts-
kein Quotenbringer mehr. In einer boxer wie Sven Ottke oder Mar-
Expertenanalyse der Onlineplatt- kus Beyer wurden zu Weltmeistern
form Stadionwelt über die Zukunfts- hochgejazzt. Oder Boxer mit aus-
aussichten verschiedener Sportarten ländischen Wurzeln für das deut-
bekam Boxen eine ähnlich schlechte sche Publikum umbenannt. Der
Prognose wie Hockey. bosnische Mittelgewichtler Adnan
Wie konnte es so weit kommen? Ćatić hieß plötzlich Felix Sturm,
„Och nee“, brummt Schulz. Er hat Muamer Hukić aus Serbien nannte
die Ausfahrt verpasst. Er hasse es, sich Marco Huck.
PIXATHLON
unpünktlich zu sein. „Gehört sich Die Qualität der Fights nahm ste-
nicht.“ In den vergangenen Jahren tig ab, irgendwann hatte das Publi-
hat er sein Geld als Werbefigur und Schwergewichtler Charr im Kampf gegen Vitali Klitschko 2012 kum es satt. Die Quoten brachen
Kommentator verdient. Die großen Eine verlorene Seele ein. Vor drei Jahren flog Boxen aus
Sender sind jedoch einer nach dem dem Hauptprogramm der öffentlich-
anderen aus dem Boxen ausgestiegen und Es waren die Stationspflegerinnen, die rechtlichen Sender. Und eine Rückkehr ist
zeigen keine Kämpfe mehr. Schulz muss ihn in den Wochen danach aufpäppelten. nicht abzusehen. „Ich sehe im deutschen
sich was anderes überlegen. „Ich sehe aber Nach sechs Monaten begann Charr wieder Berufsboxen nichts, was im Ersten Deut-
nicht schwarz“, sagt er. Der Boxsport habe mit dem Training, nach neun Monaten be- schen Fernsehen ausgestrahlt werden müss-
immer noch Potenzial: „Was wir brauchen, stritt er seinen Comeback-Kampf in einem te“, sagt ARD-Sportchef Axel Balkausky.
ist eine Rakete, die richtig durchstartet.“ Autohaus in Kassel. Inzwischen hat er wei- Der PR-Experte Bernd Bönte läuft bei
In einem Café in der Kölner Südstadt tere Aufbaukämpfe absolviert. Vor sieben der Amateurboxweltmeisterschaft Anfang
steht der Mann, der die Rakete sein möch- Monaten musste er sich einer Hüftgelenks- September in Hamburg durch die Wett-
te. Der Schwergewichtler Manuel Charr, operation unterziehen. Es sei aber alles su- kampfhalle. Die Luft ist stickig, es riecht
33, Kampfname Diamond Boy, wird am per gelaufen. Keine Beschwerden. Charr nach Schweiß und alten Socken. Bönte
25. November in der Arena Oberhausen hat die Röntgenbilder über soziale Netz- ist seit Jahren Manager der inzwischen
gegen den Russen Alexander Ustinow um werke verbreitet. Er fühle sich topfit: „Ich zurückgetretenen Klitschko-Brüder. Die
den vakanten WM-Titel der World Boxing werde Geschichte schreiben.“ beiden ehemaligen Weltmeister waren
Association (WBA) antreten. Die bisherige Charr bekommt seine Chance, weil ein die Letzten, die den Nerv des deutschen
Geschichte des Boxers Charr ist schnell er- Boxer, der in der Rangliste der WBA vor
zählt. Vor fünf Jahren verlor er einen Ti- ihm stand, positiv auf Doping getestet wur-
* Boxer Leon (3. v. r.), Co-Trainer Marko Reinhardt, Mut-
telkampf gegen den damaligen Champion de. Dass ein Mann mit künstlicher Hüfte, ter Melanie, Vater Bernd, Bruder Allen, Schwester Keana,
Vitali Klitschko durch K. o., danach kam der seit Jahren keinen vernünftigen Kampf Rapper Jay Unique.
102 DER SPIEGEL 46 / 2017
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 12. 11., 23.50 – 0.35 UHR | RTL
Profi. Inzwischen hat der Löwe seinen Ju- Hauruckstil bevorzugte, das klassische, de-
nioren-WM-Titel zweimal verteidigt. Im fensive Boxen mit Doppeldeckung und al- Schwarzkittel – Grenzüberschreiten-
Oktober wurde Bauer bei den German Bo- lerlei taktischen Finessen. Gottwald hat de Wildschweinplage auf Usedom;
xing Awards in Hamburg zum Newcomer auch die Ziele seines Kämpfers korrigiert. Einer gegen alle – Umwelthilfechef
des Jahres gekürt. Nicht mehr die WM als Profi stehe im Mit- Resch und sein Kampf gegen die
Ist er die Rakete? telpunkt, sondern die Qualifikation für die Autolobby; „Es gibt Kinder, die weinen
Vor einigen Monaten erklärte der Pro- Olympischen Spiele 2020 in Tokio. den ganzen Tag“ – Reportage über das
moter Rainer Gottwald noch, Leon Bauer Zum Kampf in Schwerin sind auch ein Waisenhaus in Mossul.
habe das Zeug, ein „ganz Großer“ zu wer- Konditionstrainer, ein Physiotherapeut
den. Aber dann waren ein paar Sachen an- und der Vater von Feigenbutz angereist.
ders gelaufen, als der Manager das geplant Er ist Zahntechniker und baut seinem ARTE RE:
hatte, und deshalb, sagt er, sei er sich heute Sohn den Mundschutz. Das spare eine DIENSTAG, 14. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE
nicht mehr so sicher. Menge Geld. Gottwald verteilt an alle
Drei Tage vor einem Kampfabend der Vitamindrinks. „Is gesund und sauteuer – Re: Tödliche Raserei – Harte
World Boxing Super Series in Schwerin in- also runter damit“, sagt er. Strafen für illegale Rennen
spiziert Gottwald die Veranstaltungshalle. In der Boxszene machen sich manche Illegale Autorennen werden zuneh-
Arbeiter bauen den Ring und die Beleuch- über Gottwald lustig, wegen seiner Hyper- mend zum Problem. Neben härte-
tung auf. Es ist kalt und ziemlich duster, aktivität, wegen seiner verspiegelten Son- ren Strafen soll intensivere Polizei-
aber der Manager setzt seine Fliegerson- nenbrillen. Aber das sei nur Neid, sagt er. arbeit die Raser abschrecken. In
nenbrille auf und macht ein paar Selfies. Er habe ein Näschen. Gottwald war lange
Gottwald, ein platinblonder Hüne, war auch der Manager von Leon Bauer. Er hat
mal Kampftaucher. Später hatte er eine ihn entdeckt, aufgebaut, verschaffte ihm
Tauchstation in Thailand, die beim Tsuna- die ersten Sponsorenverträge. Vor fünf Wo-
mi-Unglück 2004 zerstört wurde. Er ging chen beendeten die Bauers die Zusammen-
als Experte für Wassersport im Auftrag des arbeit, weil Gottwald zu viel um die Ohren
Internationalen Olympischen Komitees habe, sich nicht genug um Leon kümmern
nach Libyen und gehörte dort, warum könne.
auch immer, zu den Vertrauten Gaddafis. „Boxen in Deutschland ist ein verdamm-
Als 2011 Nato-Flugzeuge Tripolis bombar- tes Haifischbecken“, sagt Gottwald. Er ist
dierten, zog Gottwald nach Deutschland enttäuscht. Das Team Bauer werde schei-
zurück. Zu einem Sohn Gaddafis habe er tern, wenn Leon, der Löwe, nicht bald ei-
immer noch Kontakt, erzählt er in der Kon- nen erfahrenen Proficoach bekomme, sagt
gresshalle in Schwerin. Gottwald zeigt auf Gottwald.
dem Handy einen Chat. Er habe auch von Zwei Tage später steigt Vincent Feigen-
Plänen für die Rückkehr der Gaddafis zur butz in der Kongresshalle in Schwerin in Autorennen in Brilon
Macht gehört, erzählt er. den Ring. In Runde elf sieht er die Lücke
Er rückt die Sonnenbrille zurecht. James in der Deckung des Argentiniers Gaston einigen deutschen Städten rücken
Bond in Mecklenburg-Vorpommern. Alejandro Vega und schickt ihn auf die die Ermittler der Szene mit groß
Im nächsten Moment ist die Weltpolitik Bretter. angelegten Kontrollen und Under-
wieder aus der Halle geweht. Vincent Fei- Vielleicht ist Feigenbutz die Rakete. cover-Beschattung zu Leibe.
genbutz, Gottwalds Hauptkämpfer, kommt Leon Bauer sagt: „Sport ist ein Geschäft,
vom offiziellen Wiegen zurück. „Passt al- wenn man es nicht bringt, wird man aus-
les?“, fragt der Manager. „Passt“, antwor- getauscht, das wird auch bei mir so sein, SPIEGEL GESCHICHTE
tet Feigenbutz und hält sich mit Schatten- also werde ich es bringen.“ MITTWOCH, 15. 11., 23.55 – 0.40 UHR | SKY
boxen warm. Manuel Charr fährt den Rhein entlang
Vincent Feigenbutz, 22, aus Karlsruhe Richtung Kölner Dom und überlegt, was Das Diesel-Rätsel
gehört zu den größten Boxtalenten in er im Falle eines Sieges in Oberhausen mit Die Dokumentation gibt Einblick in
Deutschland, von 29 Kämpfen als Profi ge- einem WM-Titel anfangen könnte. die Erfindung des Dieselmotors
wann er 23 durch K. o. Voriges Jahr verlor Der letzte deutsche Champion im Schwer- Ende des 19. Jahrhunderts und lässt
er in Offenburg einen Fight um den vakan- gewicht war 1932 Max Schmeling. „Ich das bewegende Schicksal von
ten WM-Gürtel der WBA gegen den Ita- könnte mich als der neue Schmeling ver- Rudolf Diesel lebendig werden.
liener Giovanni De Carolis. Seither hat die markten“, sagt der Diamond Boy, „oder
Euphorie um den gelernten Feinmechani- als erster arabischer Schwergewichtswelt-
ker ein wenig nachgelassen. meister.“ ARTE RE:
Ein Boxkampf ist eine existenzialistische Charr ist in Beirut geboren. Es wäre eine DONNERSTAG, 16. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE
Erfahrung. Es gehört Mut dazu, sich im Möglichkeit. Als er am Dom angekommen
Ring einem Gegner zu stellen, der – egal, ist, hat er auch ein Angebot für Angela Re: Einsatz unter Lebensgefahr –
wie gut oder schlecht Kämpfer trainiert Merkel. „Ich könnte für die Kanzlerin die Deutsche Helfer im Irak
sind – hart zuhauen kann. Brücke zum Nahen Osten sein“, sagt Charr. Die deutsche NGO Cadus ist dort
„Vince hat die Niederlage gut wegge- Einer, der so zuhauen könne wie er, dem im Einsatz, wo sich große Organisa-
steckt“, sagt Gottwald. Der Manager hat würden die Leute zuhören. tionen aus Sicherheitsgründen zu-
seinem Schützling einen zweiten Trainer Malte Müller-Michaelis, Gerhard Pfeil rückgezogen haben. Cadus versorgt
besorgt, den Rumänen Valentin Silaghi, direkt hinter der Front Menschen,
Gewinner einer olympischen Medaille, der Video: die im Krieg gegen den IS verletzt
hauptamtlich am Olympiastützpunkt in Im Ring mit Leon Bauer oder verwundet wurden. Das Team
Heidelberg arbeitet. Der neue Coach ver- spiegel.de/sp462017boxer arbeitet in Reichweite feindlicher
mittelt Feigenbutz, der bislang eher den oder in der App DER SPIEGEL Raketen und Granatwerfer.
DER SPIEGEL 46 / 2017 105
Wissenschaft+Technik
Kulinarik SPIEGEL: Deutsche Biere gel-
„Hefepilze aus dem ten weltweit als besonders
Zottelbart“ gut – zu Recht?
Raupach: Auf jeden Fall ha-
ben wir hier die angesehens-
ten Ausbildungsstätten sowie
die führenden Brautechnolo-
giehersteller, Mälzereien und
BRITTA PEDERSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA
106 DER SPIEGEL 46 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Ökologie zu schärferen Umweltgeset-
Rückkehr der zen und Renaturierungsmaß-
nahmen, Flussufer wurden
Störche zurückverwandelt in Über-
Der Rhein ist in den vergan- schwemmungsgebiete. All
genen Jahren nicht nur saube- das zahlte sich aus: Von 179
rer geworden, er lockt auch Auenabschnitten im Rhein-
wieder deutlich mehr Tiere delta, die die Wissenschaftler
an. Zu diesem Ergebnis kom- untersuchten, zeigen 137 eine
men niederländische For- Zunahme der Biodiversität.
scher der Universitäten Besonders die Artenvielfalt
Utrecht und Nimwegen nach von Säugetieren und Vögeln
der Analyse von etwa zwei habe zugenommen, schreiben
Millionen Daten aus Feldbe- die Forscher. Das gilt auch
obachtungen. Jahrzehntelang für den Storch, der erheblich
wurden viele europäische von der Renaturierung der
Ströme begradigt und in en- Auen profitiert. Allerdings
gere Betten gezwängt – das reichten die Maßnahmen
half der Schifffahrt und mach- nicht aus; zu alter Vielfalt
te den Rhein zur verkehrs- hätten die Tier- und Pflanzen-
reichsten Binnenwasserstraße arten nicht zurückgefunden.
Europas. Es litten: Flora und Dafür seien sie zu vielen
Fauna. Über die Jahre setzte „Stressfaktoren“ ausgesetzt,
ein Umdenken ein; das führte bilanzieren die Forscher. gui
Einwurf
Tägliche Onlinenutzung*
M
aurice war ein normaler Schüler, Schule fehlte. An einem Punkt waren sich
als er mit sieben seine erste Play- Mutter und Sohn einig: Durch das viele
station bekam. Der Junge spielte bei den 12- bis 19-Jährigen in Deutschland, Computerspielen gebe es „zu Hause oft
gern damit, aber noch ging die Schule vor. in Minuten ernsthaften Ärger und Streit“.
In der sechsten Klasse fing er an, auch mal Am Smartphone oder Computer spielen,
krankzumachen. Er hockte daheim vorm Snacks futtern, Schule schwänzen – diese
Bildschirm, aß Kartoffelchips, trank Cola Phänomene träten mittlerweile bei so vie-
und wurde dick. 99 len jungen Leuten so oft zusammen auf,
In der zehnten Klasse war Maurice Clan- 2006 dass man von einer neuen Krankheit spre-
führer im Spiel „Metin2“, einer fernöst- chen könne, sagt Wolfgang Siegfried, 62,
lichen Fantasysaga. Dort kämpfte er 117 der Ärztliche Leiter der Insula. „Wir sehen
manchmal 24 Stunden am Stück. Maurice 2008 diese Trias so häufig – ich finde, sie ver-
fand es cool, um vier Uhr in der Nacht am dient einen eigenen Namen.“
Rechner zu hocken und zu wissen: Alle Iso-Syndrom hat Siegfried das Leiden
anderen sind jetzt im Bett. In die Schule getauft, I für Internetsucht, S für schulver-
ging er gar nicht mehr. Er wog 208 Kilo. meidendes Verhalten sowie O für Obesitas,
„Meine Mutter hat nicht mehr eingese- krankhaftes Übergewicht. Die Betroffenen
hen, dass ich mit 17 noch zu Hause bin
und nix mache“, sagt Maurice, inzwischen
138 hätten ein Symptom und bekämen die
zwei anderen hinzu. Jedes könne mit je-
2010
18. Und er bekam mit, wie es „Metin2“- dem verknüpft sein, sagt Siegfried. „Aber
Spieler aus seinem Clan erging, die waren aus unserer Wahrnehmung ist es schon so,
schon älter und ebenfalls extrem dick. „Ich dass am Anfang am häufigsten die Medien-
habe dann mit denen ein bisschen gelabert, sucht steht.“
und da ist mir irgendwann aufgefallen: So Das Erfinden einer neuen Krankheit
will ich nicht leben.“ 131 birgt die Gefahr, dass normale Wechselfäl-
Seit einiger Zeit wohnt Maurice nun in 2012 le und gewöhnliche Verhaltensweisen in
der Insula, einem Rehazentrum für über- einen pathologischen Zustand umgedeutet
gewichtige Jugendliche und junge Erwach- werden. Es kann aber auch ein bisher über-
sene, das malerisch in den Berchtesgade- sehenes Problem in den Brennpunkt rü-
ner Alpen liegt. Maurice ist zwei Meter cken. Beim Iso-Syndrom geht es um drei
groß und so blass, als würde er die Nächte Phänomene, die jeweils ein Ausmaß er-
noch immer durchzocken. Er trägt graue reicht haben, mit dem niemand zufrieden
Klamotten, auf der Nase eine Brille mit sein kann.
starken Gläsern. In einer Gesprächspause Die Zahl der Kinder und Jugendlichen,
zieht er gleich sein Smartphone aus der 192 die starkes Übergewicht haben, hat sich in
Hosentasche. 2014 den vergangenen vier Jahrzehnten welt-
Maurice’ Geschichte lassen sich Dutzen- weit verzehnfacht, das offenbarte im Ok-
de zur Seite stellen. Eine 15-Jährige ist 1,65 tober eine Studie des Imperial College Lon-
Meter groß und wog am Tag ihrer Aufnah- don und der Weltgesundheitsorganisation.
me in die Insula 114 Kilo. Das Mädchen In Deutschland sind nach einer Erhebung
spielte, wie es in einem Fragebogen angab, des Robert Koch-Instituts 19 Prozent aller
täglich neun Stunden und 30 Minuten auf Menschen im Alter von 11 bis 17 Jahren
dem Smartphone und fehlte meistens in übergewichtig und 10 Prozent krankhaft
der Schule. Sie müsse immer mehr essen, dick. Letztere haben häufig erhöhten Blut-
erklärte die Jugendliche, um sich satt zu druck, Fettleber, Knick-Senk-Spreizfuß
fühlen.
Ein 15-jähriger Gymnasiast, der bei
200 und nachlassende Insulinwirkung.
Die Zeit, die junge Menschen mit Me-
2016
einer Körpergröße von 1,84 Meter 138 Kilo dien verbringen, ist in den vergangenen
schwer war, sagte, er habe oft mehr geges- Jahren deutlich gestiegen. Im Jahr 1970 be-
sen, als ihm guttat, und jeden Tag „League schäftigten sie sich jeden Tag drei Stunden
of Legends“ oder „Minecraft“ gespielt. Je- 2006 und 27 Minuten mit Medien, so die Studie
doch habe er seine Spielzeit gut kontrol- „Massenkommunikation“. Neben Fernse-
lieren können. Seine Mutter, so zeigt die hen und Radio nutzten sie Zeitungen und
Akte, sah das genau anders. Dafür war ihr Quelle: Jim-Studie 2016 Magazine. Im Jahr 2015 verbrachten Ju-
entgangen, dass ihr Kind manchmal in der *Montag bis Freitag, Selbsteinschätzung, inkl. mobilen Endgeräten gendliche und junge Erwachsene jeden Tag
sieben Stunden und 57 Minuten mit Me- sammenhang wurde in mehr als 30 wis- Generell scheint übermäßiger Medien-
dien. Der Zuwachs geht auf die Internet- senschaftlichen Untersuchungen nachge- konsum mit schlechten Leistungen in der
nutzung zurück. wiesen. Schule zusammenzuhängen. Viele Kinder
So gut wie jeder in der Gruppe der 12- Da sich die tägliche „Screen Time“, also können sich kaum noch längere Zeit mit
bis 19-Jährigen besitzt ein Smartphone die Zeit, die man auf einen Bildschirm ihren Hausaufgaben befassen, weil sie wäh-
oder Mobiltelefon, drei Viertel von ihnen guckt, in den vergangenen 20 Jahren dra- renddessen auf ihr Smartphone schielen,
haben einen eigenen Computer, wie die matisch erhöht hat, dürfte der Medienkon- Nachrichten verschicken oder spielen. Vor
Jim-Studie 2016 ergab. Und fast jeder zwei- sum einen immer stärkeren Anteil an der einiger Zeit konstatierte eine Analyse des
te Jugendliche verfügt zu Hause über eine gegenwärtigen Adipositas-Epidemie ha- Kriminologischen Forschungsinstituts Nie-
eigene mobile oder stationäre Spielkonso- ben. Wenn ein Jugendlicher sich viel mit dersachsen: „Je mehr Zeit Schülerinnen
le. Beide Geschlechter konsumieren elek- dem Internet beschäftigt oder oft Serien und Schüler mit Medienkonsum verbrin-
tronische Medien. Mädchen sind mehr in schaut, dann geht das zulasten seiner kör- gen und je brutaler dessen Inhalte sind,
den sozialen Netzwerken unterwegs, Jun- perlichen Bewegung, wie eine Befragung desto schlechter fallen die Schulnoten aus.“
gen spielen Computerspiele. von mehr als 2000 jungen Leuten in Diese Zusammenhänge beweisen noch
In Deutschland schwänzen rund eine Deutschland ergab. Und das begünstigt nichts, aber sie spiegeln sich in den Ge-
halbe Million Schüler regelmäßig den Un- Speckpolster, wie wiederum eine Studie schichten der jungen Leute, die in die In-
terricht, wie eine Studie der Bertelsmann- unter Kindern und Jugendlichen in Iran sula kommen. Tom, ein 25-Jähriger mit Wu-
und der Hertie-Stiftung vor einiger Zeit zeigte. Jene mit ausgeprägter Screen Time schelkopf, war als Kind zwar füllig, aber
ergab – das entspricht einem Anteil von waren besonders bewegungsarm und über- oft an der frischen Luft, um mit Freunden
fünf Prozent der Schulkinder. Eine aktuel- gewichtig, was sich an ihrem Taillenum- Fußball zu spielen. Als er 14 wurde, verän-
le, genaue Statistik für den Bund fehlt, weil fang ablesen ließ. derten sich zwei Dinge in seinem Leben.
die Schulen Sache der jeweiligen Bundes- Dicke Kinder werden in der Schule ge- Seine alleinerziehende Mutter, die noch
länder sind. hänselt; viele bleiben lieber daheim vorm eine Tochter bekommen hatte, litt nach der
Die drei Phänomene scheinen einander Monitor und tauchen in eine virtuelle Welt Geburt oft an Ängsten und Depressionen.
zu bedingen, darauf deuten etliche Stu- ab, in der sie nicht nach ihrem Aussehen Und er bekam einen Internetanschluss.
dien hin. Wer viel vor der Mattscheibe beurteilt werden – und ihre Identität wech- Tom fühlte sich verpflichtet, den Tag
sitzt, neigt zum Übergewicht – dieser Zu- seln können. über bei der Mutter und der kleinen
wie „Mann beißt Hund“. Oder wie eine schwer. Die Tiere scheinen am Klang der
Sushi für etwas unbeholfene Lobbykampagne für
höhere Fischfangquoten oder Subven-
tionen.
Motoren bestimmte Fischerboote wieder-
zuerkennen – und dieses Wissen ihrem
Nachwuchs zu vermitteln.
M
ensch jagt Wal, das kennt man Unmengen dieser Tiere wurden zu Tode den Fischern verwöhnen; dabei knabbern
spätestens, seit Käpt’n Ahab gejagt, im Rekordjahr 1964 waren es rund sie doppelt so viel vom köstlichen Kohlen-
Moby Dick über die Weltmeere 29 000. Die globale Population brach von fisch weg wie Pottwale, was die Erfolgs-
hetzte, kreuz und quer durch die mehr als mehr als einer Million Tiere auf ein Drittel quote der Fischer teils um 70 Prozent
800 Seiten des legendären Romans von zusammen, schließlich wurden Wale unter drückt. Zu diesem Ergebnis kam unlängst
Herman Melville (1851): „Bis zum Letzten Schutz gestellt, woran sich auch die meis- ein Beitrag im Fachblatt „ICES Journal of
ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle ten Nationen halten. Marine Science“.
stech ich nach dir, dem Hass zuliebe spei Die Tiere lernten, dass ihnen kein Un- Weder das Verscheuchen noch die
ich meinen letzten Hauch nach dir!“ heil mehr droht – im Gegenteil: Nun erle- Flucht scheinen zu funktionieren. Daher
Heute haben sich die Rollen scheinbar ben sie den alten Todfeind als Wohltäter. hofft man nun aufs Verschließen: Statt An-
verkehrt: Der Jäger von einst fühlt sich „Wale machen die unglaublichsten Dinge gelhaken, die verlockend frei zugänglich
von Walen verfolgt, jedenfalls vor Alaska. mit Menschen“, sagt Janice Straley, Profes- sind, könnten sogenannte Pots, Fischfallen,
Ganze Gruppen von teils 50 Schwert- sorin für Meeresbiologie an der University die Beute vor den Wal-Gangs schützen,
walen (Orcas) stellen Fischkuttern nach, of Alaska Southeast in Sitka. Vergebens schlagen Meeresbiologen wie Boris Worm
oft meilenweit. Sobald die Fischer ihre ha- versuchen Fischer, die Pottwale mit Tricks von der Dalhousie University im kana-
kenbewehrten Langleinen mit einem Fang zu verjagen. Sie befestigen Kugeln, die dischen Halifax vor: „Das erhöht die Qua-
aus Kohlenfisch oder Heilbutt aus der Tiefe die Ortung erschweren, an den Langleinen, lität des Fangs, weil die Fische lebend an
hieven, schlagen die hungrigen Wale aus beschallen die Tiere mit tösendem Sonar Bord genommen werden, und der Beifang
dem Hinterhalt zu – und schnappen die oder krachendem Heavy Metal. Doch rasch reduziert sich.“ An Metallkäfigen sollten
Beute von der Schnur. lernen die riesigen Meeressäuger dazu – eigentlich selbst die gerissensten Meeres-
„Wir befinden uns in einer Art archai- und fortan bedeuten Störgeräusche oder säuger scheitern. Oder?
schem Kampf“, sagte der Fischer Buck Musik für sie: Fressen fassen! „Ich traue Pottwalen fast alles zu“, warnt
Laukitis aus Homer der Zeitung „Alaska Zwar ist das Pottwalgehirn, gemessen Meeresbiologin Straley. „Das sind die
Dispatch News“. „Du weißt, wie du fi- am Körpergewicht (bei Männchen oft über klügsten Tiere, mit denen ich je gearbeitet
schen musst, du weißt, dass da Fische sind, 30 Tonnen), kleiner als das des Menschen, habe.“ Hilmar Schmundt
du hast die Ausrüstung, du hast es oft ge- aber immerhin noch rund acht Kilogramm Twitter: @hilmarschmundt
macht, aber die Wale können alles zunich-
temachen“, so Laukitis. Und: „Wir sind ge-
rade dabei, diese Schlacht zu verlieren.“
Kutterkapitäne fühlen sich ausgebeutet
als Kellner, die den Meereslümmeln Sushi
à la carte servieren müssen, ohne Lohn,
ohne Dank, ohne Trinkgeld.
Mehr als fünf Tonnen feinsten Heilbutt
hätten die tierischen Seeräuber ihm bereits
geklaut, beschwerte sich Kapitän Robert
Hanson unlängst bei der für die Fanggrün-
de vor Alaska zuständigen Verwaltung für
Fischereiangelegenheiten. Auf der Flucht
vor der „ständigen Belästigung“ durch die
tierische Konkurrenz habe er 15 000 Liter
Sprit verballert.
Einmal spielte Hanson einfach toter
Mann. Er schaltete den Schiffsmotor aus
und wartete. 18 Stunden lang. Er habe ge-
hofft, dass sich die Unterwasser-Gang
wieder verziehe, schrieb er in einem
B.COLE / WILDLIFE
M
argarethe Olsen, 89, eine zierliche litt vielmehr an einem postoperativen De- mal ans Bett gefesselt.
Dame mit schlohweißem Haar, lir. Diese Art von Delir hat nichts mit Al- Dabei ließe sich das Delir in etlichen
liegt zugedeckt in ihrem Bett auf kohol zu tun, es ist ein Zustand tiefer Ver- Fällen verhindern, abmildern oder, wenn
der Orthopädiestation des Uniklinikums wirrung, der vor allem ältere Menschen es doch auftritt, erfolgreich behandeln –
Münster. Vor rund zwei Wochen haben nach einer Operation oder bei einer schwe- mit großem Nutzen für den Patienten.
Chirurgen ihre künstlichen Hüftgelenke ren Krankheit befallen kann – und zwar Denn anders als der Begriff „Durchgangs-
erneuert, die hatten sich gelockert. erschreckend häufig: Je nach Vorerkran- syndrom“ suggeriert, handelt es sich kei-
Die Operation hatte Olsen, die eigentlich kungen und Art der Behandlung bekom- nesfalls um ein vorübergehendes Problem,
anders heißt, gut überstanden, aber am Tag men Studien zufolge 20 bis 80 Prozent der das stets folgenlos abheilt. Nach einem De-
danach, auf der Intensivstation, war sie chirurgischen Patienten über 65 ein Delir. lir bleiben Studien zufolge bei jedem zwei-
plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Der griechische Arzt Hippokrates (um ten Betroffenen auf Dauer kognitive Defi-
Unbedingt wollte sie aufstehen, sofort, nur 400 v. Chr.) kannte diesen Zustand; er be- zite, 40 Prozent der zuvor selbstständig le-
mit Mühe konnten die Pfleger sie zurück- schrieb die Delirierenden so: „Sie fuchteln benden Patienten kommen im Alltag nicht
halten. Olsen wusste nicht mehr, wo sie mit den Händen in der Luft umher, zupfen mehr zurecht und müssen dauerhaft ge-
war, sie redete wirr und hörte offenbar auf der Bettdecke Flusen und pflücken pflegt werden. Die Sterblichkeit ist zeit-
Stimmen. „Es war wie am Telefon, wenn Spreu von der Wand.“ All diese Zeichen weise um das 20-Fache erhöht.
man den Hörer abnimmt“, erzählt sie heute. seien „ungünstig“. Langsam erkennen einige Ärzte und
„Ich habe gedacht: Da stimmt was nicht.“ Manche Patienten schreien stundenlang, Forscher die Bedeutung des Delirs. In Stu-
Es war kein Anfall plötzlichen Irrsinns, versuchen, Infusionsschläuche herauszu- dien konnte gezeigt werden, dass sich die
der sich da Olsens bemächtigt hätte. Sie reißen, beißen, irren nachts umher. Ande- Delir-Raten durch Präventionsprogramme
auf Anfrage auch Risiko- ebenso einige Antibiotika mindest einen Teil der investierten Summe
patienten der anderen und Antidepressiva. Auch durch kürzere Liegezeiten und weniger
Fachbereiche. Um das Ri- Parkinson-Mittel sollten, aufwendige Pflege an anderer Stelle ein-
siko einschätzen zu kön- wenn möglich, reduziert sparen. „Am Ende“, sagt Duning, „haben
nen, überprüfen die Medi- werden. „Diese Beratun- alle gesagt: Wir müssen einfach den Mut
ziner die Hirnleistung. Neurologe Duning gen zu den Medikamen- haben, etwas zu machen.“
Dazu müssen Patienten Das Denken wieder ordnen ten bringen sehr, sehr Veronika Hackenbroch
befreit, meint Stiewe. Bis in die Gegenwart Selbst da, wo gutwillige Stadtväter die
D
er 8. Februar 1989 verändert alles Bauweise aus dem Mittelalter zu einem barschaft gelegenes Shopping-Quartier die
im Leben von Heinrich Stiewe: Auf zweiten Comeback verhelfen will; die ers- Kundschaft, sodass die liebreizende Alt-
dem Weg zur Universität Münster te Welle zeitgenössischer Fachwerkbegeis- stadt selbst zur Hauptgeschäftszeit einer
legt der Student einen Zwischenstopp ein, terung endete nach Meinung der Tradi- Ödnis gleicht.
um ein altes, verlassenes Bauernhaus zu tionalisten vielerorts im Desaster. Vorbei die Zeit, als deutsche Städte in
inspizieren. Der angehende Bauhistoriker In den Siebzigerjahren des vergangenen einer grassierenden Mittelaltereuphorie
gilt unter Fachleuten damals bereits als Jahrhunderts begannen neubaumüde Städ- darum zankten, welcher Ort das älteste
passionierter Kenner histo- Fachwerkhaus beherbergt.
rischer Baukunst. Dabei können die Bauhis-
Doch an diesem Tag be- toriker inzwischen anhand
geht er einen verhängnisvol- der Jahresringe im verbau-
len Fehler. ten Holz häufig punktgenau
Auf dem Dachboden des bestimmen, in welchem
westfälischen Hallenhauses Jahr die zum Bau eines Hau-
lässt er für kurze Zeit alle ses benötigten Bäume ge-
Vorsicht außer Acht; der fällt wurden. Das älteste
morsche Boden unter ihm Fachwerkhaus Deutschlands
gibt nach. Stiewe fällt knapp steht nach dem aktuellen
drei Meter tief und schlägt Stand der Forschung in Ess-
mit den Füßen zuerst auf. lingen am Neckar und wur-
Dann spürt er seine Beine de 1266 hochgezogen.
nicht mehr. Gelegentlich müssen Ge-
Seit diesem Tag ist Stiewe meinden nun sogar pein-
querschnittgelähmt. Aus ei- liche Umdatierungen hin-
gener Kraft kann der For- nehmen. In Göttingen etwa
scher, der heute im Freilicht- taxierten die Fachwerk-
museum Detmold arbeitet, forensiker in jüngster Zeit
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PLZ Ort Datum Unterschrift des neuen Lesers
Jacques-Louis-David-Gemälde
„Napoleon überquert die Alpen“,
Museen
Licht in der Wüste
ge Geld, um deren Kultur bewundern zu dürfen. Es gab viel
Kritik an der Idee, Meisterwerke des Abendlands dort auszu-
stellen, wo es lange weder Kunstgeschichte noch ein passen-
Auf einer Sandinsel im Persischen Golf wird an diesem Wo- des Bürgertum dafür gab. Na und? Die Herrscher der Emirate
chenende nach zehnjähriger Bauzeit und mit fünfjähriger Ver- haben ihre Scheichtümer zu Knotenpunkten im globalen Hin
spätung der Louvre Abu Dhabi eröffnet, ein – wie es heißt – und Her gemacht und erweitern ihr Portfolio jetzt um Kunst.
„universelles Museum für das 21. Jahrhundert“. Das Emirat Längst sind große Museen und ihre Besucher so universal, wie
bezahlt knapp eine Milliarde Euro, um 30 Jahre lang den es ihr Anspruch immer schon war. In Tokio wird gerade van
Namen Louvre sowie Expertise und Fundus französischer Mu- Gogh gezeigt, im Museum von Melbourne bald die Geschichte
seen zu verwenden. Die linsenförmige Kuppel des Gebäudes der Wikinger. Apropos: Die ägyptische Sammlung im Origi-
von Jean Nouvel soll das Zwielicht einer Medina oder eines nal-Louvre ist von Napoleon zusammengeräubert worden. Es
Palmenhains wiedergeben. Folgen sollen bis 2025 ein Natio- ist nicht weniger absurd, in Berlin-Dahlem eine der reichsten
nalmuseum und ein Ableger des Guggenheim, jeweils entwor- Sammlungen aus der Südsee anzuhäufen, als in Abu Dhabis
fen von Norman Foster und Frank Gehry. Eine ehemalige Wüste ein Madonnenbild Giovanni Bellinis hängen zu haben.
Kronkolonie zahlt einer ehemaligen Kolonialmacht eine Men- Jedenfalls ist die Provenienz geklärt. asm
Literatur und alle sollen staunen. Prä- Reich – Szenen auf dem Weg kamen. Die Jury erkennt da-
Flüstern und miert wird ein Buch, aber in die Katastrophe, die den mit eine deutliche Tendenz in
Strippenziehen damit ist auch eine Deutung
des ganzen Landes impliziert.
Zeitgenossen entweder unbe-
deutend oder großartig vor-
der französischen Literatur
an, die Belletristik mit den
Es gibt in Frankreich Jahres- So geschieht es auch in die- Mitteln der Wissenschaft
zeiten, die hierzulande un- sem Jahr: Der Prix Goncourt oder der journalistischen Re-
bekannt sind. Eine davon ist für Éric Vuillards „L’ordre cherche zu verbinden. Das
„la rentrée“, jene Woche du jour“ ist eine ordentliche gilt auch für das Buch über
nach den Sommerferien, in Überraschung. Denn es han- die letzten Jahre von Josef
denen die Schule wieder be- delt sich um eine Mischform Mengele in Südamerika des
ginnt. Alle zeigen ihre neuen von historischer Darstellung Journalisten Olivier Guez,
Kleider und fragen sich: Wie und literarischer Erzählung. der den Prix Renaudot er-
steht es um Frankreich? Eine Vuillard schildert Episoden hielt. So erweitert das litera-
weitere solche Jahreszeit ist aus der Geschichte des rische Establishment in Paris
die Saison der Literaturprei- 20. Jahrhunderts: die Sitzung, das Feld der Belletristik und
JOEL SAGET / AFP
se. Im November kommt das in der deutsche Unternehmer erhöht die Relevanz der
monatelange Lesen, Flüstern beschlossen, für Hitler zu ohnehin schon beneidenswert
und Strippenziehen der di- spenden, und den Anschluss gut aufgestellten französi-
versen Jurys zum Abschluss, Österreichs an das Deutsche Vuillard schen Literatur. nm
Archiven recher- Jongens Vortrag in New York, eine Collage mit dem Ge-
chiert und eine Braun in „Wer war Hitler“ sicht Anne Franks auf einer Pizzapackung und der Auf-
Filmbiografie der schrift „Die Ofenfrische. Locker & knusprig zugleich“.
besonderen Art erstellt: ein und dazu wird ein Hitler-Text Soll man das – inzwischen entfernt, juristische Verfol-
wildes Sammelsurium aus verlesen, in dem es um vieles, gung garantiert – beschweigen? Ich denke nein. Denn
Amateur-, Wochenschau- und aber nicht um Eva Braun wenn sich dieser Trupp deutschnationaler Ungustln aufs
Propagandafilmen, die das geht. Da wird aus der Predigt historisch Episodische beschränkt, dann werden wir das
Leben Adolf Hitlers aus- des Bischofs von Galen zi- nicht der argumentativen Widerlegung und feinsinnigen
schließlich aus der Sicht von tiert, der die Euthanasie kriti- Entzauberung ihres akademischen Personals verdanken,
Zeitzeugen dokumentieren. sierte, und das Bild eines sondern der schlichten und wiederholten Feststellung,
Der künstlerische Anspruch Mannes beim Pfeiferauchen mit wem wir es hier zu tun haben, wer hinter denen pö-
erinnert an Claude Lanz- gezeigt, der definitiv nicht belt und marschiert, die gepflegt mit dem Taktstock we-
manns geniales Großprojekt der Bischof ist. Die Filmema- deln und so Sätze säuseln wie: „Of course I’m against di-
„Shoa“, doch leider wird cher sind stolz auf ihr „sur- scrimination, racism and all that.“ Auch Jongen ist gegen
„Wer war Hitler“ diesem An- realistisches“ Verfahren, die Diskriminierung, Rassismus und dieses ganze Zeug.
spruch nicht gerecht. Lanz- Zuschauer dürften am Ende Dieses „all that“ hat mir am besten gefallen.
mann ließ Überlebende und eher befremdet und kein biss-
Täter des Holocaust retro- chen klüger sein. dy An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.
SPIEGEL: Frauen wollen nicht mehr das geht es, um die Frage: Warum schweigen mit Freundinnen zu Sextoy-Partys wie frü-
schwache Geschlecht sein – und werden Frauen? Dahinter steht die jahrhunderte- her zu Tupperpartys, sie gucken Pornos,
es durch diesen Wunsch umso mehr? lange Beschämung des weiblichen Ge- sie tindern und suchen sich dort gezielt
Konrad: Zumindest dann, wenn wir die Rea- schlechts. Die fixe Zuschreibung, dass jüngere Partner, sie haben One-Night-
lität von Verletzungen und damit auch uns Frauen, die sich wehren, nerven, dass sie Stands und Affären und sprechen offen da-
selbst verleugnen. Seit Jahrhunderten wird zu laut sind, zu fordernd. rüber. Und doch schreiben Sie in Ihrem
Frauen gesagt, wie sie ihre Sexualität leben SPIEGEL: Welche Rolle spielen die Männer Buch, Frauen seien sexuell nicht befreit.
sollen. Das setzen wir auf diese Weise sehr dabei? Ist das nicht eine gewagte These?
subtil fort. Konrad: Die allermeisten können sich nicht Konrad: Ich unterscheide zwischen sexuel-
SPIEGEL: Im Dezember wird ein Buch von vorstellen, wie das ist, wenn man sich ler Freiheit und sexueller Selbstbestim-
Ihnen zum Thema weibliche Sexualität er- einen blöden Spruch nach dem anderen mung. Mit der Freiheit kamen für die Frau-
scheinen, das den Titel „Das beherrschte anhören muss, wenn man ständig damit en neue Normen. Heute gilt es, sexuell
Geschlecht“ trägt. Sie haben dem Buch rechnen muss, irgendwie angefasst zu wer- aufgeschlossen zu sein, vieles auszupro-
ein Zitat von Oscar Wilde vorangestellt: den. Weil Männer so etwas kaum erleben, bieren und mitzumachen. Aber was ist mit
„Alles in der Welt dreht sich um Sex. fällt es ihnen mitunter schwer, empathisch den Frauen, die noch gar nicht wissen, was
Außer Sex. Bei Sex geht es um Macht.“ zu sein. Die gute Nachricht ist, dass dies – sie wollen? Es ist unattraktiv geworden,
Haben Frauen nicht längst so viel Macht, zumindest bei manchen – nun geschieht. als Frau Nein zu sagen.
dass das nicht mehr gilt? Wir leben in einer Welt und in einer Zeit, SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Konrad: Frauen haben mehr Macht, als in der Männer und Frauen nicht mehr ge- Konrad: Ich habe viele Interviews mit Frau-
ihnen bewusst ist. Aber sie trauen sich oft geneinander kämpfen sollten. en geführt, und gerade bei den jüngeren
nicht, diese Macht auch auszuüben. Durch SPIEGEL: Für Sie ist #MeToo keine Ge- ist mir diese Haltung wiederholt begegnet:
die prominenten Frauen, die sich in der schlechterkampfdebatte? Ich bin jung, ich bin hip, ich tindere, ich
#MeToo-Debatte geäußert haben, bekom- Konrad: Es gibt verschiedene Fraktionen: mache mit. Aber es fehlt das Bewusstsein
men jetzt auch normale Frauen einen Zu- Frauen, die mit den Frauen mitfühlen. für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen.
gang zum Neinsagen. Das ist das Tolle da- Frauen, die mit der männlichen Macht Was mich in den Gesprächen mit diesen
ran – dass Frauen endlich Grenzen setzen, koalieren. Und Männer, die alles von sich jungen Frauen am meisten überraschte,
dass sie sagen: Das tut mir weh, das möch- weisen und Nebelbomben werfen. Das ist war die Diskrepanz zwischen Selbstbild
te ich nicht mehr. wie immer. Was diesmal neu ist: Es gibt und Verhalten: Sie sprachen von Macht
SPIEGEL: Ist so viel Optimismus wirklich Männer, die reflektieren und diesen Pro- und Selbstbewusstsein, verhielten sich
schon angebracht? zess auch öffentlich machen. In der #Me- aber absolut angepasst, norm- und regel-
Konrad: Nun ja. Eine der ersten Schauspie- Too-Debatte zeigt sich viel Solidarität zwi- konform. Sie beteuerten, selbstbestimmt
lerinnen, die sich zum Fall Weinstein ge- schen Männern und Frauen. zu sein, und berichteten gleichzeitig, wie
äußert hat, twitterte: „Ladys, euer Schwei- SPIEGEL: Frauen engagieren heute Stripper sie physisch und psychisch über ihre Gren-
gen ist ohrenbetäubend.“ Genau darum für Junggesellinnenabschiede, sie gehen zen gegangen sind, und zwar nicht um ihre
bewertet. Das normative Bild heut- nografie und Prostitution eine große Rolle,
zutage ist das der aufgeschlossenen, die Sexindustrie und deren wirtschaftliche
promisken Frau. Dagegen gibt es Interessen. Auch die sozialen Medien.
nichts einzuwenden. Es wäre nur SPIEGEL: Mädchen und junge Frauen insze-
schön, wenn sich jede Frau erst mal nieren diese Bilder von sich zum Teil selbst.
selber befragen würde, was ihre Auf Instagram zeigen sie sich in Pin-up-
Wünsche sind. Posen.
SPIEGEL: Sie schreiben, weibliche Se- Konrad: Wie bewusst ist den jungen Frauen,
xualität habe sich nicht emanzi- was da passiert? Wir leben in Zeiten eines
piert, sondern lediglich maskulini- globalen Narzissmus. Macht wird auch
siert. Was soll das sein: „maskuline über den Blick von anderen generiert. Das
Sexualität“? ist aber eine brüchige Macht, die ist in dem
Konrad: Die neue Frau erscheint in Moment weg, wo der andere sagt: Du bist
vielerlei Hinsicht wie der alte dick, du hast Cellulite oder Falten, du bist
Mann: Frauen sollen heute sexuell alt geworden.
aktiv sein, und sie sollen Sex und SPIEGEL: Warum wollen Frauen gefallen:
Gefühle fein säuberlich trennen die 17-Jährigen genauso wie 50-Jährige,
können. Besonders in jungen Jah- die sich ihre Falten wegspritzen lassen?
ren unterdrücken viele die Sehn- Konrad: Das ist die Tradition, in der das
sucht nach einer Liebesbeziehung, Frauenbild steht. „Will er mich“ ist wichti-
MARIA FECK / DER SPIEGEL
um nicht schwach und abhängig zu ger als „Was will ich“. Frauen hatten über
erscheinen. Jahrhunderte nur eine Möglichkeit, an
SPIEGEL: Die sexuelle Selbstbestim- Macht zu kommen: über ihre Äußerlich-
mung der Frauen ist also nicht so keit. Heute hätten sie viel mehr Möglich-
weit fortgeschritten wie die sexuelle keiten, viele Frauen nutzen die ja auch,
Psychologin Konrad Freiheit? aber die junge Generation scheint wieder
Wo ist das weibliche Begehren? Konrad: Es gab Machtverhältnisse, zurückzufallen in alte Muster.
und es gibt sie noch heute. Aus mei- SPIEGEL: Wieso schwingt das Pendel zu-
eigene Lust zu erkunden, sondern um ner Sicht ist die Fremdbeherrschung der rück?
Männern zu gefallen. Frau heute in eine Selbstbeherrschung Konrad: Na ja, wie werden die jungen Frau-
SPIEGEL: Miley Cyrus fasst sich in einem übergegangen. Viele gesellschaftliche For- en und auch die jungen Männer heute so-
berühmten Musikvideo zwischen die Bei- derungen haben sich zu weiblichen Wün- zialisiert? Unter anderem durch Pornogra-
ne, so wie viele Jahre zuvor Elvis oder Mi- schen gewandelt. Weshalb viele Frauen fie. Wir dürfen die Bilder nicht unterschät-
chael Jackson. Ist das ein starkes Symbol sich selber glauben machen, sie wollten zen, mit denen wir überflutet werden.
für das neue sexuelle Selbstbewusstsein das alles so. Aber unterm Strich hat sich SPIEGEL: Können die Zuschauer und Zu-
der Frau? für sie wenig geändert. Sexuelle Freiheit schauerinnen von Pornos denn nicht un-
Konrad: Miley Cyrus ist ein Prototyp des bedeutet heute wie damals: Sie will, was terscheiden zwischen Fiktion und Realität?
immer noch sexistischen Zeitgeistes: Als er will. Bei gewalttätigen Kriminalfilmen gelingt
15-Jährige trug sie einen sogenannten Pu- SPIEGEL: Ist der Mann besser dran? ihnen das doch in der Regel auch.
rity Ring und versprach, bis zur Ehe ent- Konrad: Ich glaube, dass beide Geschlechter Konrad: Es gibt dazu verschiedene, sich
haltsam zu bleiben. Mit 24 gibt sie die Sex- unter starren Rollenbildern leiden. Denken zum Teil widersprechende Studien. Wel-
bombe und beschwört ihre vermeintliche Sie an die klassische Pornografie: der gro- che Folgen der enorme Pornokonsum für
sexuelle Befreiung. Aber ist es tatsächlich Kinder und Jugendliche hat, wissen wir
ein Zeichen für die Befreiung und Eman- daher noch nicht mit Sicherheit. Es ist ein
zipation der Frau, wenn sie ihre Erotik ver- „Welche Folgen hat der gesellschaftliches Großexperiment. Ich bin
marktet? Ich glaube, dass in der fortschrei- davon überzeugt, dass all die Bilder – nicht
tenden Sexualisierung der Frau für viele Pornokonsum für Jugend- nur Pornografie, auch die sexualisierten
Frauen ein Problem liegt. Nicht für alle, liche? Es ist ein gesell- Bilder auf Instagram – ins Unbewusste ein-
aber für viele. sickern. Denken Sie an den Ekel vor In-
SPIEGEL: Die Selbstinszenierung von Pop-
schaftliches Experiment.“ timbehaarung oder an die zunehmende
stars wie Miley Cyrus trägt für Sie zu die- Anzahl von Brustvergrößerungen, das sind
sem Problem bei? be Mann, der immer will und kann, der nur zwei Beispiele dafür, wie weit der Por-
Konrad: Na ja, Superstars mögen von die- seinen Trieben ausgeliefert ist. Viele Män- no-Chic im Mainstream angekommen ist.
sem sexualisierten Image profitieren, aber ner mögen sich damit nicht identifizieren SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie, Frau-
gilt das auch für normale Mädchen? Miley und haben mit diesem Rollenbild schwer en ließen sich auf bestimmte sexuelle Prak-
Cyrus ist ein Vorbild, über das Millionen zu kämpfen. Ein wichtiger Unterschied be- tiken nur ein, weil sie einem Mann gefallen
von Teenagermädchen lernen, wie wichtig steht allerdings darin, dass Männer lange wollen. Die Frauen erbrächten „sexuelle
es ist, sexy zu sein, sie sehen, dass man die Macht hatten, Rollenbilder zu defi- Gefälligkeiten“. Aber gilt das nicht umge-
den Körper auch als Währung und Ware nieren. kehrt ebenso? Geht es darum beim Sex
einsetzen kann. SPIEGEL: Wenn beide Geschlechter unter nicht immer auch: erregt zu werden davon,
SPIEGEL: Gab es diese Art von Vorbildern den Zuschreibungen leiden, warum ändert dass der andere erregt ist?
nicht immer schon? sich so wenig? Konrad: Ich würde auch hier wieder unter-
Konrad: Es gehört zur Geschichte der weib- Konrad: In den verbindlichen Beziehungen scheiden: Sprechen wir von einer intimen
lichen Sexualität, dass von außen bestimmt ist das ja schon passiert. Jetzt geht es um Beziehung oder von Gelegenheitssex? Da
wurde, was richtig und was falsch ist: Die die öffentlichen und die kulturellen Bilder. gibt es einen Unterschied. Männer können
Frau war entweder zu lustvoll oder zu lust- Und die werden von sehr unterschiedli- sehr viel selbstverständlicher damit um-
los. Sogar der weibliche Orgasmus wurde chen Einflüssen geprägt. Da spielen Por- gehen, dass es bei Gelegenheitssex um
120 DER SPIEGEL 46 / 2017
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grenzt sich davon ab. Ähnlich scheint das ls der Mann, den er bewunderte, te, was man dafür manchmal alles tun
bei Jungs auch zu sein. ihm zwischen die Beine griff, da muss, war überrascht vom Charme und
SPIEGEL: Das ist aber ein ganz emanzipier- dachte Harry Dreyfuss vor allem der Freundlichkeit von Kevin Spacey, der
ter Umgang damit. daran, wen er beschützen musste. Drey- das Old Vic von 2004 bis 2015 leitete. „Er
Konrad: Ja. Aber wieso machen die Frauen fuss, ein 18-Jähriger, war ein Missbrauchs- ist so nett“, sagte er sich immer wieder,
die Normen nicht selbst? Heute studieren opfer, das im Moment der Verletzung „er ist so nett.“
so viele Mädchen wie Jungs, Frauen darauf bedacht ist, dass der Täter keinen Bis zu dem Abend, als die drei bei Spa-
können Kanzlerin werden, doch sie sind Schaden nimmt. cey zu Hause waren, um zu arbeiten. Der
umgeben von Bildern weiblicher Sexuali- Es war aber auch eine zu verwirrende ältere Dreyfuss war in seine Rolle vertieft,
tät, die sie bevormunden. Es geht wirklich Situation. Dreyfuss war nach London ge- während der jüngere Dreyfuss auf dem
darum, dass jede und jeder für sich selber kommen, um seinen Vater zu besuchen, Sofa saß und Spacey sehr nah an ihn
sorgt. Und dazu braucht man Mut. Die den berühmten Schauspieler Richard Drey- heranrückte. Und ihm dann die Hand mit
#MeToo-Debatte wurde von Frauen an- fuss, der mit dem noch berühmteren klarer Absicht erst auf den Schenkel legte
gestoßen, die Mut hatten. Jetzt kommen Schauspieler Kevin Spacey ein Stück am und immer höher schob, in den Schritt.
hoffentlich immer mehr Frauen und Män- allerberühmtesten Theater Old Vic ein- „Ich war wie leer“, schreibt Dreyfuss in
ner nach. studierte. seinem eindrucksvoll nüchtern und zu-
SPIEGEL: Frau Konrad, wir danken Ihnen Der junge Dreyfuss, der selbst Schau- gleich schmerzvollen Erfahrungsbericht,
für dieses Gespräch. spieler werden wollte und noch nicht ahn- der auf der amerikanischen Website Buzz-
122 DER SPIEGEL 46 / 2017
Kultur
Feed erschienen ist. „Ich hob den Kopf brauchs beschuldigt hatte, mit dem Be- an Leukämie erkrankt, als er zehn Jahre
und sah ihn an. Ich schaute ihm in die Au- kenntnis seines Schwulseins verband. alt war.
gen und schüttelte so schwach wie nur „Wie kannst du es wagen?“, schäumte Er wollte weg, er zog nach Los Angeles.
möglich den Kopf. Ich wollte ihn warnen, etwa der „Guardian“-Kolumnist Owen Er war glücklich, als er einen Manager
ohne die Aufmerksamkeit meines Vater Jones, der fürchtet, dass Spacey mit der fand, auch als der ihm sagte, dass er seinen
zu erregen, der immer noch auf den Text Verbindung von Missbrauch und Homo- schwulen Stil loswerden müsse, wenn er
starrte.“ sexualität die „böse Lüge“ über schwule Erfolg haben wolle. Am gleichen Abend
Das war 2008. Und nun, fast zehn Jahre Männer weiterverbreitet: die Verbindung ließ sich dieser Manager von Curtis oral
später, nachdem immer mehr junge Män- von schwulem Sex und Pädophilie. befriedigen.
ner davon erzählen, wie sie von Spacey Manche der Männer, die Spacey sich Es sind solche Geschichten, die den
bedrängt wurden, ist Dreyfuss noch immer aussuchte, waren extrem jung und ihm Abgrund beschreiben, an den Hollywood
verwundert, wie Spacey es wagen konnte, ziemlich ausgeliefert: Anthony Rapp war ziemlich viele Menschen gebracht hat.
ihn zu begrapschen, während sogar sein 14, als Spacey sich auf ihn legte, mit einem „Wir schwulen Männer“, schreibt Curtis,
Vater dabei war. „Am meisten ekelt mich damals 14-jährigen Jungen hatte Spacey inzwischen 31, „dürfen nicht die sein, die
an Kevin“, schreibt Dreyfuss, „wie sicher wir sind. Um zu arbeiten und unsere Träu-
er sich fühlte.“ me zu verfolgen, müssen wir die Essenz
Was Spacey so sicher sein ließ, war ein Das Hollywood-System dessen verraten, was uns ausmacht.“
System, in dem viele schwiegen, weil sie Was Brit Marling über Frauen in Holly-
abhängig waren; ein System, in dem Miss- von Macht und sexuellem wood erzählt, das beschreibt Simon Curtis
brauch von Frauen wie Männern derart Missbrauch zerfällt für Männer. Kevin Spacey ist für ihn nur
selbstverständlich war, dass die Täter keine ein Wolf in einem Rudel, „dessen Macht
Angst vor dem Absturz haben mussten.
vor den Augen der Welt. in Hollywood tief verankert ist“. Für junge
Jemand wie der Produzent Harvey homosexuelle Männer bedeutet das, so
Weinstein, mit dessen Fall vor mehr als 1983 eine sexuelle Beziehung, einen Curtis, mehr als die sprichwörtliche Beset-
fünf Wochen dieser systemische Großskan- 16-Jährigen lud Spacey zu sich nach Hause zungscouch: Er spricht von „psychologi-
dal begonnen hatte, schickte Anwälte, Pri- ein und zeigte ihm Schwulenpornos; aus schen Kriegsspielen“, bei denen die jungen
vatdetektive, Journalisten los, um die Op- der Bar des Old Vic wie vom Set von Männer gezwungen werden, ihre Homo-
fer mit Geld oder üblen Gerüchten zum „House of Cards“ wird berichtet, wie über- sexualität zu verstecken, und auf diese
Schweigen zu bringen. Sein Fall legt nun griffig Spacey sich hier bewegte. Weise schwach und zum Opfer werden –
erstmals offen, wie alltäglich, wie unaus- Ein Journalist, den Spacey nach einem und „eine ganze Industrie – Schauspieler,
weichlich, wie erniedrigend und trauma- Interview „aggressiv“ begrapschte, ent- Agenten, Regisseure, Manager und Produ-
tisierend die Verbindung von Macht und schied sich, den Vorfall zu verschweigen, zenten – ist mitschuldig an diesem Umfeld,
Sex war und ist – was sich in Hollywood weil er davor zurückschreckte, Spacey als das fast ein Jahrhundert bestehen konnte“.
nun so spektakulär wie detailliert zeigt. homosexuell zu outen. Dass er nicht offen Was bei all dem deutlich wird: Miss-
Dort begannen die Opfer zu reden, weil schwul war, schützte Spacey auf widersin- brauch verläuft im heterosexuellen wie im
sie sich ermutigt fühlten und die Angst vor nige Weise: Schwule Sexualität wird in homosexuellen Bereich nach ähnlichen
Absturz und Ausgrenzung nachgelassen Hollywood immer noch unterdrückt – was Mustern, es gibt mehr Gemeinsamkeiten
hat. Es sind persönliche Erzählungen wie wiederum den Missbrauch und dessen Ver- als Unterschiede.
die von Harry Dreyfuss, die dem Schmerz tuschung befördert. Missbrauch als System erscheint gerade
eine Form geben, ein kollektiver Real-Ro- Was das bedeutet, schildert etwa der in Hollywood in seiner ganzen Mechanik –
man gegen die Mythenfabrik Hollywood. Schauspieler Simon Curtis. Auch er hat, und zerfällt vor den Augen der Weltöffent-
Zunächst fingen Daryl Hannah, Kate wie Harry Dreyfuss, einen Text geschrie- lichkeit. Ein Spektakel von shakespeare-
Beckinsale, Léa Seydoux, Cara Dele- ben – ein Text bietet noch immer die Mög- scher Düsternis, dessen Helden Gestalten
vingne, Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie, lichkeit, Herr über die eigene Geschichte sind wie Präsident Underwood in „House
Asia Argento, Ashley Judd an zu sprechen, zu sein. of Cards“: kalt und gewissenlos und eigen-
berühmte und weniger berühmte Schau- Curtis wuchs in Oklahoma auf. Er be- tümlich faszinierend.
spielerinnen. „Raubtier“, das ist das Wort, schreibt, wie seine Familie ihn verstieß, als Die Geschichten der Opfer allerdings,
das für Männer wie Weinstein verwendet sie herausfand, dass er homosexuell ist. Er wie sie jetzt erzählt werden, öffnen eine
wird. Die Frauen, so die Schauspielerin war 18 Jahre alt. „Wir wünschten, du wä- andere Sicht. Es sind reale Geschichten,
Brit Marling, galten als „Frischfleisch“. rest gestorben, als du ein Kind warst“, sag- die die shakespearesche Dramaturgie nicht
Die Vorwürfe und Enthüllungen nun, ten seine Eltern zum Abschied. Curtis war brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.
die Kevin Spacey betreffen – der vom Auch kommen darin lange Phasen des
Streamingdienst Netflix während der Pro- Schweigens vor; erzwungene Handlungs-
duktion der letzten Staffel der Präsiden- pausen, wie Überwältigung und Überfor-
tenserie „House of Cards“ gefeuert wur- derung sie oft erzwingen.
de –, verlagern die Frage nach sexuellem Harry Dreyfuss kann sich bis heute nicht
Missbrauch in einen anderen Bereich, in erinnern, wie er an jenem Abend nach
den des schwulen Hollywood, das bis heu- Hause kam oder was er dort gemacht hat;
te mit vielen Verklemmungen und Vor- und er schwieg über Jahre. Er wollte sich,
urteilen betrachtet wird. schreibt er, die Chance nicht verbauen, mit
Eines dieser Vorurteile betrifft die an- Spacey zu arbeiten.
geblich andere, schwule Sexualität – pro- Manchmal erzählte er Freunden in An-
miskuitiver, permissiver, krasser, vielleicht deutungen davon, aber eher wie einen
auch lustvoller und freier. Auch deshalb Witz. Er erinnerte sich an den Satz der
war die Aufregung groß, als Kevin Spacey Schauspielerin Carrie Fisher: „Wenn mein
seine Entschuldigung an den Schauspieler Dreyfuss-Tweet Leben nicht witzig wäre, wäre alles wahr,
Anthony Rapp, der ihn als Erster des Miss- „Ich war wie leer“ und das wäre inakzeptabel.“ Georg Diez
D
as Atelier befindet sich, fast schon men unterscheiden sich so deutlich von aufnahme eines gerade berstenden Steines.
typisch für Berlin, in einer alten denen, die die TV-Reporter machten, als Eine Einheit, brachial in lauter Teile auf-
Fabrik. Splitter zersprengter Find- wären sie auf einem anderen Planeten ent- gelöst. Die Wolfsburger Schau, in der auch
linge liegen auf dem Boden, undefinier- standen. Auf seinen langsamen, grauen diese Arbeit zu betrachten ist, heißt pas-
bare Gerätschaften stehen herum, da- Filmbildern wirkt die Feuchtigkeit in der senderweise „Gewaltenteilung“.
zwischen Kübel mit Pflanzen. Auch ein Luft beinahe dreidimensional, die Äste Im Mittelpunkt steht die gewaltige, auch
Exemplar der Bismarck-Palme ist dabei, und Blätter der Bäume und Palmen bewe- überwältigende Natur – und was Men-
benannt nach dem einstigen deutschen gen sich, als hätte sie jemand dirigiert, als schen so mit ihr anstellen.
Reichskanzler. So viel Ironie Bismarck hat den Kunstpreis
muss sein. der im Wolfsburger Schloss an-
Julius von Bismarck, 33, ein sässigen Städtischen Galerie ge-
Nachfahre des Bruders des wonnen, die Ausstellung ist ein
ehemaligen Kanzlers und mit Teil der Ehrung. Die Auszeich-
seinem Mut zum Experiment nung wird nur alle drei Jahre
einer der wichtigsten Künstler verliehen, bekannte Leute wie
seiner Generation, nutzt die Katharina Fritsch oder Angela
Räume gemeinsam mit Kolle- Bulloch haben sie erhalten, er
gen. Aber Steine und Grünzeug selbst ist aber auch auf dem
gehören ihm, alles ist Arbeits- Weg zum Weltruhm. Im globa-
material und dient der Kunst, len Kunstbetrieb gibt es kaum
auch die mehrfach gekrümmte jemanden, der noch nicht von
Metallstrebe, die an der Wand ihm gehört hat.
neben seinem Schreibtisch Ihm sei klar, sagt er, dass vie-
lehnt. Aus Hunderten solcher le auf die unzugängliche Kunst-
Stangen ließ er eine Meereswel- welt schimpften, aber er sehe
le nachformen und von Schwei- das nicht so verbissen. Man
ßern an einer Saaldecke im müsse eben Geld auftreiben, in-
Wolfsburger Schloss installie- vestieren und „einfach krasse
ren, wo an diesem Wochenende Sachen machen“.
seine neue Ausstellung eröffnet Am krassesten sind vielleicht
wird. Man kann dann durch die- die Blitze, die er selbst erzeugt
se Stahlwoge spazieren, die im hat.
JULIUS VON BISMARCK / COURTESY ALEXANDER LEVY, BERLIN
W
ohin führt sie, diese Straße in kannt wurde als eine Art literarischer sich kurz danach auf; es entstand der My-
Chaumont-en-Vexin, nordwest- Beatle. 1966, mit 23 Jahren, veröffentlichte thos, sie habe sich vom Vernichtungsschlag
lich von Paris? Einfach nur in die er sein Theaterstück „Publikumsbeschimp- dieses jungen Österreichers nicht erholt.
französische Hauptstadt, ins Umland oder fung“, im selben Jahr sein Angriff auf die Peter Handke sah aus wie einer der wilden
vielleicht doch ganz woandershin, in die in Princeton versammelten Schriftsteller Kerle auf den Plattenhüllen, mit langen
Kulturgeschichte oder in eine Sphäre jen- der Gruppe 47, denen er „Beschreibungs- Haaren, dunkler Brille; bald war er ein
seits von Raum und Zeit? Eine junge Frau impotenz“ vorwarf. Die Gruppe 47 löste Star wie sie. 1970 erschien „Die Angst des
steht an dieser Straße, ihr Name ist Alexia,
die Obstdiebin genannt. Sie ist die Haupt-
figur in Peter Handkes neuem Buch, un-
tertitelt: „Einfache Fahrt ins Landesinne-
re“. Es ist ja nicht schwer, in Chaville bei
Paris, wo Handke wohnt, ein Ticket für
die Vorortbahn zu kaufen, doch wohin
soll eine derartige Reise ohne Rückfahr-
schein führen?
In die Literatur des Mittelalters viel-
leicht. Der Suhrkamp Verlag hatte „Die
Obstdiebin“ als das „Letzte Epos“ ange-
kündigt. Diese Bezeichnung ist in der
fertigen Version verschwunden, ein Epos
jedoch ist das Buch allemal, mag es auch
in der Gegenwart spielen. Es ist ein Werk
in der Tradition Wolfram von Eschen-
bachs, der Anfang des 13. Jahrhunderts
die Geschichte des Gralsritters Parzival
verfasste. In zwei vorigen kleineren Stü-
cken hatte Handke seine Hauptfigur schon
erwähnt, sie, einer winzigen Vorankündi-
gung gleich, hineingeschrieben in seinen
Peter-Handke-Kosmos, in dem sich seit
Jahrzehnten vieles, wenn nicht alles auf-
einander bezieht: „Parzivals Schwester
folgt nach, im Gewand einer Obstdiebin“,
hieß es 2015 im Schauspiel „Die Unschul-
digen, ich und die Unbekannte am Rand
der Landstraße“.
In Handkes neuem Buch nun steht die
Obstdiebin am Straßenrand in Chaumont-
en-Vexin: „Ein Fußgängerstreifen über die
fast autobahnbreite, mehrspurige Umfah-
rungsstraße, ampelgesteuert. Viel Zeit,
jetzt am Sonntagnachmittag, kaum Ver-
kehr, sie zu überqueren, auf den Zebra-
streifen zudem gemächlich, ein ums
andere Mal, die großen Schritte nachzu-
spielen, mit denen, mehr als ein halbes
Jahrhundert ist das nun her, John Lennon,
Paul McCartney, George Harrison und
Ringo Starr für das Coverfoto die Zebra-
ROBERTA VALERIO / AGENTUR FOCUS
Peter Handke: „Die Obstdiebin – oder – Einfache Fahrt Tisch in Handkes Garten in Chaville: „Aber ich bestimmte es so“
ins Landesinnere“. Suhrkamp; 560 Seiten; 34 Euro.
Mission Mitmensch
Filme Die Schauspielerin Vanessa Redgrave und der Künstler Ai Weiwei schildern ihre Sicht
auf das globale Flüchtlingsdrama – ein heikles, aber auch ergreifendes Unterfangen.
E
inmal wird die Stimme der stolzen, nen aber sieht man syrische, irakische und sima Wagner gespielt und in Kinowerken
oft in forscher Lautstärke sprechen- afghanische Bootsflüchtlinge, die in Grie- von „Mord im Orient-Express“ (1974) über
den Schauspielerin Vanessa Redgrave chenland anlanden und von Ai Weiwei mit „Mission: Impossible“ (1996) bis „Abbitte“
verblüffend warm und sanft. „Ich saß eines Worten und Schulterklopfen begrüßt wer- (2007) ein Massenpublikum begeistert.
Abends in London am Radio und war pa- den. „Mir war lange nicht klar, warum ich Ein bisschen berüchtigt ist Redgrave in
nisch vor Angst, dass der Faschismus zu- so eine starke Beziehung zu Flüchtlingen ihrer Rolle als Politaktivistin. In den Sech-
rückkehrt“, sagt Redgrave. Sie sitzt auf dem habe“, sagt Ai Weiwei. „Ich musste ihnen zigern engagierte sie sich gegen den Viet-
Sofa eines Nürnberger Hotelzimmers, rückt meinen Respekt zeigen. Ich musste sie be- namkrieg, in den Siebzigern für die trotz-
ein Stück nach vorn und lässt ihre berühm- rühren.“ kistische Workers’ Revolutionary Party, in
ten blauen Augen strahlen. Sie schildert Es gibt ein paar Gemeinsamkeiten zwi- den Achtzigern gegen Nuklearwaffen, und
eine Kindheitserinnerung; sie war damals, schen der britischen Schauspielerin Red- bis heute ist sie eine verlässliche Aktivistin
1948, keine zwölf Jahre alt. „Der BBC-Spre- grave und dem chinesischen Künstler Ai für die Sache der Palästinenser. Als sie
cher las die Allgemeine Erklärung der Men- Weiwei, so verschieden ihre Herkunft, 1978 den Oscar für die Rolle einer jüdi-
schenrechte vor, Artikel für Artikel. Und ihr Denken und ihre Arbeitsweise sein mö- schen Widerstandskämpferin in einem
ich beschloss, dafür zu kämpfen, dass diese gen – unter anderem die, dass beide, in- Film namens „Julia“ erhielt, nannte sie die
Rechte auch durchgesetzt werden. Das war dem sie sich im Handwerk der Filmregie vor der Hollywoodgala demonstrierenden
der Moment, in dem ich zu einem politisch versuchen, sich ziemlich weit entfernt von israelfreundlichen Protestierer, die Redgra-
denkenden Menschen wurde.“ den Jobs abrackern, für die sie bislang in ves Sympathien für palästinensische Ge-
Der Künstler Ai Weiwei sitzt an einem der Welt Anerkennung fanden. walttäter anprangerten, „zionistische Strol-
Holztisch in seiner Berliner Werkstatt, ver- Redgrave ist berühmt als Schauspielerin. che“. Im Jahr 2017 sagt Redgrave in Nürn-
knotet seine erstaunlich zarten Hände auf In ihrer glanzvollsten Rolle, in Michelan- berg: „Ich habe viele Fehler gemacht in
der Tischplatte und berichtet in brummi- gelo Antonionis „Blow Up“ aus dem Jahr meinem Leben, natürlich. Aber ich habe
gem Verschwörerton von seiner Arbeit. Für 1966, verkörpert sie eine zauberhaft stör- immer Menschen gefunden, die verstan-
eine kurze Weile dimmt er die Stimme auf rische, kluge und rätselhafte Frau, die sich den, dass ich mit offenem Herzen sprechen
Flüsterlautstärke herunter. „Fast meine gan- in einem Park mit einem Fotografen um muss.“ Ob heftige, mitunter berechtigte
ze Kindheit über war meine Familie geäch- dessen Kamera balgt. Redgrave hat Thea- Kritik einen davon nicht manchmal abhal-
tet“, sagt er. „Kurz nach meiner Geburt tertriumphe mit Shakespeare und Ibsen ten sollte? „Das finde ich nicht.“
hat man uns von Peking aus in den äußers- gefeiert, in einer noblen Fernsehserie Co- Der Künstler Ai Weiwei ist von ähnlicher
ten Nordwesten Chinas verbannt, später Unbeirrbarkeit geprägt. Weltbekannt wur-
in den äußersten Nordosten, weil mein Va- de er durch eine Konzeptkunst, die mit kla-
ter plötzlich als Feind des Kommunismus ren Zeichen arbeitet, und durch seine un-
galt. Man nannte das Umerziehung. Seit beugsame Haltung gegenüber den staatli-
dieser Zeit weiß ich, was es bedeutet, ein chen Autoritäten in China. Er präsentierte
Vertriebener, ein Outlaw zu sein.“ in der Londoner Tate Modern einen Raum,
Die Schauspielerin Redgrave ist 80 Jahre voll mit hundert Millionen handbemalten
alt und reist derzeit durch die Welt, weil Sonnenblumenkernen aus Porzellan, und
sie einen Film bekannt machen will, bei stellte den Lichthof des Berliner Martin-
ALESSIA PARADISI / ABACA / DPA
dem sie selbst Regie geführt hat. Er heißt Gropius-Baus mit einer Installation aus
„Sea Sorrow“ und hatte im Mai beim Fes- 6000 antiken Holzschemeln zu. Er doku-
tival in Cannes Premiere. Er zeigt unter mentierte in einem Blog die Gleichgültig-
anderem die Not syrischer, irakischer und keit der chinesischen Autoritäten gegen-
afghanischer Bootsflüchtlinge, die vor der über Zehntausenden Erdbebenopfern und
griechischen Küste aus Schlauchbooten ge- drehte kritische Videos über Chinas Wirt-
rettet und dann an Land von Vanessa Red- schaftsboom. Im Jahr 2011 wurde er unter
grave befragt und aufgemuntert werden. dem Vorwand der Steuerhinterziehung mo-
„Ich musste mich einmischen“, sagt Red- natelang interniert. Seit 2015 lebt er vor-
grave. „Freundliche Worte allein bedeuten wiegend in Europa; zeitweise auf Lesbos
noch gar nichts. Man muss handeln und und meist in Berlin. „Meine Arbeit hat
helfen. Alles andere ist nutzlos.“ nicht unbedingt mit Mut zu tun“, sagt er
Der Künstler Ai Weiwei ist 60 Jahre alt in seinem Atelier in einem ehemaligen
PIERO OLIOSI / POLARIS / LAIF
und kommt gerade von einer wochenlan- Brauereikellergewölbe. „Ich tue und sage
gen Reise durch die USA, Südamerika und die Dinge, von denen ich glaube, dass sie
ein paar europäische Länder zurück. Über- getan und gesagt werden müssen.“
all, wo er zu Besuch war, hat er auch sei- Redgraves Film „Sea Sorrow“ ist ein
nen Film vorgestellt. „Human Flow“ hatte Pamphlet. Zu Beginn zeigt er einen syri-
Anfang September beim Festival in Vene- schen Jungen in Großaufnahme, der er-
dig Premiere und zeigt zum Beispiel Regisseure Redgrave, Ai Weiwei zählt, wie vor seinen Augen seine Eltern
Flüchtlingslager in Kenia, im Libanon und „Man muss handeln und helfen“ hingerichtet wurden. Es folgen historische
in Jordanien. In den dramatischsten Sze- Aufnahmen von Kindertransporten, mit
denen jüdische Kinder aus Nazideutsch- an den Grenzanlagen zwischen Mexiko nicht helfen will. Niemand anderes als die
land nach Großbritannien gerettet wurden. und den USA und vom Regen durchnässte Politiker der EU sind verantwortlich!“ Der
Man sieht Eleanor Roosevelt im Jahr 1948 Kinder, Frauen und Männer am Grenz- Deal mit der Türkei zur Verhinderung wei-
die Erklärung der Menschenrechte vortra- zaun zwischen Griechenland und Maze- terer Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa
gen und den Schauspieler Ralph Fiennes donien. Immer wieder sieht man den sei „inhuman“ und verstoße gegen die
im Jahr 2016 einen Monolog aus Shake- Regisseur, dessen Team in 23 Ländern Menschenrechtskonvention. Noch schlim-
speares „Sturm“ aufsagen. Das Zentrum unterwegs war, selbst im Bild: wie er mit mer: „Man bezahlt Konzentrationslager in
dieses Bekennerfilms ist Vanessa Redgrave gezückter Handykamera Helfer befragt, Libyen, in denen Flüchtlinge gefoltert wer-
selbst. Sie spricht mit brüchiger Stimme wie er mit einem syrischen Mann Pässe den!“ Ausdrücklich lobt Vanessa Redgrave
über die Pflicht der Politiker, Kindern zu tauscht, wie er mit dem Vater des toten die Politik Angela Merkels. „Sie ist eine
helfen, sie lässt sich von der Kamera bei Flüchtlingsjungen Alan Kurdi zu sprechen mutige Frau. In Großbritannien sind die
der Besichtigung des Flüchtlingslagers im versucht. Vor anderthalb Jahren gab es Politiker fast ausschließlich Feiglinge.“
französischen Calais begleiten. Sie hört empörte Reaktionen, als sich Ai Weiwei Ai Weiwei sagt in Berlin: „Mein Film
afrikanischen und arabischen Frauen in am Strand der Insel Lesbos in genau jener soll begreiflich machen, dass diese Krise
Griechenland und Italien zu, erkundigt Haltung fotografieren ließ, in welcher der alle Menschen angeht.“ „Human Flow“ sei
sich bei Unicef-Helfern nach den Bedin- Leichnam des kleinen Jungen Alan ange- kein journalistisches Werk und kein politi-
gungen ihrer Arbeit und mahnt Zuschauer spült worden war. Auch für „Human Flow“ sches Plädoyer, sondern ein Appell an die
und Politiker zum Mitgefühl. Ein boshafter bekam er ein paar böse Kritiken, die ihm Kinozuschauer, Flüchtlinge als ihresglei-
britischer Kritiker nannte Redgraves Werk Selbstinszenierung vorwarfen. chen zu begreifen. „Die Politik und die
eine „amateurhafte Polemik zur Flücht- „Ich verstehe meinen Film als einen Akt Wirtschaft in den reichen Ländern haben
lingskrise“, die „besser als Familienschatz der Ermutigung“, sagt Vanessa Redgrave sich großartig entwickelt, Deutschland,
gehütet worden wäre“. in Nürnberg, wo sie mit „Sea Sorrow“ das China oder die USA haben in unfassba-
Ai Weiweis Film ist eine monumentale Internationale Filmfestival der Menschen- rem Ausmaß von der Globalisierung pro-
Großansicht des globalen Flüchtlings- rechte eröffnet. „Ich möchte vom Horror fitiert. Gerade deshalb ist es eine Schande,
elends. In irritierend schönen Drohnen- und von der Angst all dieser Menschen er- wenn die Bewohner dieser Länder vor
aufnahmen zeigt „Human Flow“ Bara- zählen. Und davon, dass wir alle verpflich- dem, was in den armen Ländern passiert,
ckenlager in Kenia, Zeltstädte in Grie- tet sind, sie zu retten. Sehen Sie sich die die Augen verschließen.“ Ai Weiweis „Hu-
chenland und hässliche Betonbauten im Kinder an!“ Sie redet sich in Rage. „Es ist man Flow“-Aufnahmen sind immer wie-
Gazastreifen. Ai Weiwei filmt Polizisten ein Skandal, dass die EU diesen Kindern der mit Gedichtzeilen berühmter Poeten
E
s riecht nach feuchter Erde und altväterlichen Joints minell in dem Sinn, dass nicht einmal fünf Prozent der von
auf der Wiese vor dem Berliner Reichstag, als die seiner Politik Betroffenen darin vertreten sind“, sagt Rau.
Aufständischen sich zum Kampf formieren. „Nicht Der Regisseur ist 40 Jahre alt und als politischer Kopf in
zu breit werden, bitte!“, ruft der Regisseur, um die Menge der Theaterwelt geachtet. Er hat in Russland die juristische
aus rund 200 Frauen und Männern zu ordnen. Vorn stehen Verfolgung von Regimegegnern nachgestellt („Die Moskau-
zwei Fahnenträger, von denen einer die rote Fahne des er Prozesse“, 2013) und im Kongo einen Schauprozess mit
Aufruhrs trägt, der andere die blaugrüne der Roma. Hinten Vertretern von Rohstoffkonzernen, Bürgerkriegs-Warlords
stehen drei Polizeibeamte in dicken Schutzpanzern, einer und Verbrechensopfern organisiert („Das Kongo Tribunal“,
hat eine gelbe Leuchtweste mit den Lettern „Verbindung 2015). Er hat belgische Kinder auf der Bühne die Taten des
zum Veranstalter“ übergestreift. Mitten im Menschenpulk Kindermörders Marc Dutroux nacherzählen lassen („Five
ist auf einer drei Meter hohen Metallstange eine Kamera Easy Pieces“, 2016), womit ihm ein Theaterhit gelang.
montiert. Als sie einsatzbereit ist, stürmt die Menge in Rau ist in seiner Doppelrolle als Politaktivist und En-
Richtung Reichstagsgebäude – und in Ermangelung bes- tertainer ein toller und nicht uneitler Einzelkämpfer, dem
serer revolutionärer Parolen rufen die Menschen „Wow!“ es zu schmeicheln scheint, dass er öfter mit Christoph
und „Wuh!“, bis sie 20 Meter vor den Stufen des Parla- Schlingensief oder Rainer Werner Fassbinder verglichen
mentsgebäudes an einem Absperrgitter jäh-
lings stoppen und sich ohne Murren in die
Dämmerung trollen.
Es ist eine Mischung aus sportlichem Jux
und Demo für eine gerechtere Welt, die da
an einem eisig kalten Dienstagnachmittag
in Berlin zelebriert wird. Der Schweizer Re-
gisseur Milo Rau setzt zum 100. Jubiläum
der russischen Oktoberrevolution auf der
Reichstagswiese ein sogenanntes Reenact-
ment in Szene. Er stellt ein historisches Er-
eignis nach. Die etwa 200 Freiwilligen, unter
denen Schauspieler und Politiker sind, imi-
tieren mit einigem Eifer den Sturm auf das
Petersburger Winterpalais am 7. November
Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, E-Mail: aboservice@spiegel.de
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ein anderer und war nicht nur chen ließ, stieß dem gelernten
unter den Schurkendarstel- Friseur und späteren Tankstel-
lern auf der Theaterbühne lenbesitzer Schäfer eher übel
und im Fernsehen ein Großer. auf. Seine Karriere war makel-
Hans-Michael Rehberg hat los: einmal „Fußballer des Jah-
sich als sensibler Einzelgän- res“, zweimal Deutscher Meis-
ger, der stets eine Neigung ter mit dem 1. FC Köln, dem
zur Gewalt auszustrahlen er 17 Jahre lang treu blieb, drei
schien, früh Theaterruhm er- WM-Teilnahmen, eine Ikone
KARIN DOR, 79 spielt. Mit fünf Geschwistern ohne Allüren und im Rhein-
Sean Connery scherzte, wenn Deutschland das WM-Finale wuchs Rehberg unter ande- land weltbekannt. Mit Ehefrau
in Wembley gewinnen sollte, würde sie keine Arbeitser- rem in Schlesien und am Isis, die bei der 54er-WM in
laubnis erhalten. Deutschland verlor, die Formulare lagen Starnberger See auf. Nach der
am nächsten Tag im Briefkasten. Das war 1966, Karin Dor Schauspielschule arbeitete er
spielte an Connerys Seite das erste – und einzige – deut- in München, Hamburg, Berlin,
HANSDIETRICHKAISER / WITTERS
sche Bond-Girl. Die Rolle der Helga Brandt in „Man lebt Wien und bei den Salzburger
nur zweimal“ machte die elegant und kühl agierende Dor Festspielen mit vielen be-
international bekannt, Alfred Hitchcock besetzte sie bald rühmten Theatermachern –
darauf im Agententhriller „Topas“. In der Bundesrepublik und geriet nicht selten mit ih-
war die in Wiesbaden geborene Darstellerin da längst ein nen in Streit. Rehberg war ein
Filmstar. In Filmen wie „Der grüne Bogenschütze“ (1961) Zweifler, der sich nur unter-
aus der Edgar-Wallace-Reihe wurde sie vor mörderischen ordnen mochte, wenn ihm das
Nachstellungen gerettet. Als Häuptlingstochter Ribanna als richtig einleuchtete. Wie
verliebte sie sich in „Winnetou 2“ (1964) unglücklich in den im Theater wurde er auch im Spiez im Nachbarhotel der
Titelhelden, und dank der häufigen Wiederholungen im Fernsehen und im Kino zum Mannschaft wohnte, war Schä-
Fernsehen litten noch Generationen junger Zuschauer mit fer 64 Jahre lang verheiratet.
ihr. Oft hatte sie unter der Regie ihres Mannes Harald Seinem „FC“ stand er bis zum
genau dokumentiert. Die klo- nicht“, hat er einmal gesagt. zählige Fernsehauftritte und
bigen Schutzanzüge machten Hans-Michael Rehberg starb bekam sogar Verdienstorden
die Bewegungen im Weltraum anstrengend und gefährlich. am 7. November in Berlin. höb der britischen und italienischen
Er verfing sich im Luftversorgungsschlauch. Die Astronau- Regierung. Grundpfeiler sei-
ten der Sechzigerjahre waren die mythischen Helden einer HANS SCHÄFER, 90 nes Erfolgs war die Idee, quali-
neuen Zeit, der SPIEGEL sah damals gar griechisches Schick- Mit dem Titel „Held“ konnte tativ anspruchsvolle Küche in
sal am Werk und schrieb über den Einsatz: „Laokoon- er nichts anfangen, das „Wun- günstigen Kettenrestaurants
gleich rang Richard Gordon mit der Nabelschnurschlange.“ der von Bern“, der deutsche anzubieten. Im Vereinigten
Drei Jahre später – Neil Armstrong hatte bereits seine Fuß- Fußballtriumph bei der Welt- Königreich sind seine Restau-
spuren auf dem Mond hinterlassen – flog Gordon ebenfalls meisterschaft 1954, beruhte für rants und Cafés an mehr als
zum Erdtrabanten. Es war ihm nicht vergönnt auszustei- ihn auf Willensstärke, Selbst- 80 Standorten zu finden. Anto-
gen, er musste die „Apollo 12“ bewachen. Wie viele Astro- vertrauen und Glück – und nio Carluccio, der dort zu Recht
nauten kehrte auch er vom Mond heim, um sich ganz überhaupt: So redselig der als Pate der italienischen Gas-
irdischen Dingen zu widmen: Er leitete ein Footballteam. Linksaußen im Kreis der Na- tronomie gilt, starb am 8. No-
Richard Gordon starb am 6. November in Kalifornien. xvc tionalmannschaft war, so reser- vember in London. red
DER SPIEGEL 46 / 2017 133
ANNE-CHRISTINE POUJOULAT / AFP
Im Kartenhaus vorerst die laufenden Dreharbeiten zur sechsten Staffel und
kündigte an, sich komplett von Spacey zu trennen. Inhaltlich
Warum eigentlich nicht? Statt die Erfolgsserie „House of wäre es durchaus vorstellbar, Claire Underwood zur Haupt-
Cards“ komplett einzustellen, könnte Robin Wright, 51, mit figur zu machen – schließlich übernahm sie Ende der vergan-
ihrer Figur Claire Underwood die Hauptrolle übernehmen. genen Staffel sogar die Präsidentschaft von ihrem Gatten Frank
Das schlug jedenfalls die Golden-Globe-Gewinnerin Jessica alias Kevin Spacey. Schon zuvor verlangte die Schauspielerin,
Chastain auf Twitter vor. Grund dafür: Kevin Spacey, der in die gleiche Gage wie Spacey zu erhalten. 2014 verdiente sie
der Netflix-Serie die bisherige Hauptrolle des skrupellosen 420 000 Dollar pro Folge, ihr männlicher Kollege dagegen eine
amerikanischen Machtpolitikers Frank Underwood spielt, halbe Million. In einem Interview im Juni sagte Wright, dass
wurde in der vergangenen Woche von mehreren Männern der sie noch immer nicht wisse, ob sie jetzt genauso viel verdiene.
sexuellen Belästigung bezichtigt. Daraufhin stoppte Netflix Als Hauptdarstellerin dürfte sich das ändern. red
Square“. Als blasierter Mu- Östlund bestand auf höchster nisierte, fühlt sich jetzt reif
seumskurator hat der däni- Authentizität, und so waren für die Zusammenarbeit mit
sche Schauspieler es in einer die Dreharbeiten eine Feuer- Regisseuren wie Michael
Szene mit einem Affen zu probe für den Darsteller. Sze- Haneke („Das weiße Band“)
tun, in einer anderen mit nen von mehreren Minuten oder Maren Ade („Toni Erd-
einem verzweifelten Zwölf- Länge habe er 60- bis 70-mal mann“) – beide sind bekannt
jährigen, er verausgabt sich wiederholen müssen, fast bis dafür, Szenen zigmal wieder-
in einer Tanz- sowie in einer zur Besinnungslosigkeit, so holen zu lassen. smo
Ungehemmt So klar, so dicht an Atmosphäre wurde das rer Herrschaft und absoluten Heilsverspre-
heutige Treiben in Washington kaum zu- chen. Die Menschen sollten begreifen, dass
Nr. 45/2017 Washington, ein Jahr danach vor beschrieben. Allerdings ging es dort sie auf demselben Planeten sitzen. Der
„Washington, ein Jahr danach“ titelt der schon öfter wild zu, beispielsweise zu Lin- mündige Bürger muss sein Schicksal selbst
SPIEGEL und lässt zum Jahrestag von colns Zeiten, wie Doris Kearns Goodwin in die Hand nehmen. Dialoge muss es zwi-
Donald Trumps Wahlsieg Washingtoner in ihrer Biografie „Team of Rivals“ über schen allen geben. Dazu gehören inzwi-
Machtsymbole durcheinanderpurzeln. Doch ihn ans Tageslicht befördert hat. Angefeu- schen 26 Prozent Konfessionsfreie – und
damit nicht genug: Der Illustrator verbin- ert von einer völlig ungehemmten Presse, ihr Anteil wächst. Für Religionen und Ideo-
det diese Aussage mit der gegenwärtigen die mit Verleumdungen und falschen Dar- logien, die uns in Rechtgläubige und
Asienreise Trumps, indem er mit Trumps stellungen nur so um sich schmiss, kam es Falschgläubige einteilen, ist die Zeit abge-
Haartolle auf den bekannten Farbholz- laufen. Luther und Calvin waren nicht to-
schnitt „Die große Welle vor Kanagawa“ leranter als die Päpste und Mohammed.
des japanischen Künstlers Hokusai (1760 Der Weg zur Freiheit und Mündigkeit führt
bis 1849) anspielt. Meisterhaft! über den säkularen Staat. Was uns verbin-
Dr. Siegfried von Niswandt, Fellbach (Bad.-Württ.) det, sind die Werte der Aufklärung: De-
Das Tier in uns ben Sie etwas Grundlegendes nicht ver- Interessant ist Melanie Amanns Aussage:
standen: Wenn eine Frau vergewaltigt „Kein junger männlicher Polit-Shootingstar
Debatte: Nr. 44/2017 Jochen-Martin Gutsch: Was wird, dann ist das erst einmal kein Sexis- müsste sich diese Begrüßung anhören.“
genau ist eigentlich Sexismus? Nr. 45/2017 Melanie
mus, sondern eine Straftat. Sexismus ist, Der Autorin scheint entgangen zu sein,
Amann: Warum die Männer falsch auf den Alltags-
sexismus reagieren wenn eine Person aufgrund ihres Ge- wie häufig Christian Lindner, Justin Tru-
schlechts diskriminiert wird. Wie Sie sehen, deau oder Sebastian Kurz auf Alter bezie-
Der Beitrag von Jochen-Martin Gutsch geht es hier um eine Person. Nicht um hungsweise Aussehen reduziert werden.
spricht mir aus der Seele. Derzeit melden Frauen. Nicht um Männer. Wenn ein Mann Julian Rieger, Neustadt an der Weinstraße (Rhld.-Pf.)
sich ständig Frauen zu Wort, denen in ei- eine Frau vergewaltigt, dann bedeutet das
ner Bar an den Hintern gegriffen wurde Folgendes: Der Mann glaubt, es wäre legi- Für Ideale bestraft
oder die sich im Büro einen dummen tim, die Frau als Objekt ohne eigenen Wil-
Spruch anhören mussten. Ich finde es be- len zu verstehen. Sie wäre weniger wert Nr. 44/2017 Der US-Footballstar Colin Kaepernick
erfand den Kniefall als Symbol gegen Rassismus –
schämend, dass diese sich auf eine Stufe als er. Er könnte über sie und ihre Sexua-
jetzt ist er arbeitslos
stellen mit Frauen, die von machtmissbrau- lität bestimmen, weil er ein Mann ist und
chenden Männern vergewaltigt wurden. sie eine Frau. Wissen Sie, wie man so was Der unterschwellige und häufig auch offe-
Daniela Jaus, Stuttgart nennt? Genau, Sexismus. Sie sind aber an- ne Rassismus in den USA ist ein großes
scheinend der Meinung, dass Sexismus nur Problem der amerikanischen Gesellschaft
Der Artikel offenbart für mich einen gro- in solchen Extremfällen besteht. und muss so lange thematisiert werden,
ßen Teil des Dilemmas dieser Debatte. Felicitas Dahmen, 17 Jahre, Köln bis sich grundlegend etwas ändert.
Herr Gutsch hat, so scheint mir nach der Jonathan Bloch, Hamburg
Lektüre, nichts verstanden. Er schreibt, er Ich kann jeden Satz im Essay von Jochen-
sei ein Mann und ihm fehle der Erfahrungs- Martin Gutsch nur unterstreichen und „ge- Die Menschheit wird noch Hunderte Jahre
horizont, was sexuelle Belästigung angeht. nau!“ an den Rand schreiben – als Frau brauchen, bis es hoffentlich keinen Rassis-
Gut, dann sollte er aber auch nicht darüber und Feministin der Siebzigerjahre! Seit mus mehr gibt. Persönlich empfehle ich je-
urteilen, was Frauen (und Männer) als se- Langem fällt mir auf, dass diese völlig ab- dem potenziellen Rassismusopfer den Weg
xuelle Belästigung oder als Sexismus emp- surde Hysterie um „Sexismus“ und „Gen- Obamas: Man muss Teil des Systems wer-
finden dürfen. der“ eine tief sitzende Angst vor der Bio- den und versuchen, es so in die richtigen
Anna Duda-Alles, Mainz logie sein muss, eine verzweifelte Rebellion
der Postmoderne gegen das Tier in uns.
Herr Gutsch kann sich so gar nicht erklä- Julia Berendsohn, Hamburg
JETZT IM HANDEL:
EDITION Zitate
MANAGEMENT
Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“ gewinnen können“ mit SPD-Parteivize
Olaf Scholz (Nr. 45/2017):
Aus dem SPIEGEL: „Seine Deutsch Als in der Pressekonferenz der Name
wird immer besser.“ Olaf Scholz fällt, wird Martin Schulz
einsilbig. Das Interview, das sein Stell-
vertreter im Parteivorsitz dem SPIEGEL
Aus der „Schwäbischen Zeitung“: gegeben hat, habe er auch gelesen, sagt
„Weil der Aufsteiger zuhause der SPD-Chef. „Mit großem Interesse“.
verloren hat, muss er daheim die Schulz vermeidet am Montag dann aber
Punkte wettmachen.“ jede Bewertung dessen, was Scholz in
dem Gespräch gesagt hat. Der Hambur-
ger Bürgermeister gilt als größter Kriti-
ker von Schulz und als möglicher Kon-
kurrent im Amt des Parteivorsitzenden.
Das ganze Interview liest sich wie ein
einziger Vorwurf an den gescheiterten
Kanzlerkandidaten, jede Antwort ist
eine Ohrfeige. „Wir hätten die Bundes-
tagswahl gewinnen können“, sagt Scholz,
Aus der „Neuen Westfälischen“ was nichts anderes heißt als: Ich hätte
diese Wahl gewonnen.
Julia Bertram,
Inhaberin Weingut Julia Bertram
und Genossenschaftsmitglied
Wir machen den Weg frei. Gemeinsam mit den Spezialisten der Genossenschaf tlichen FinanzGruppe Volk sbanken Raif feisenbanken: Bausparkasse
Schwäbisch Hall, Union Investment, R+V Versicherung, easyCredit, DZ BANK , DZ PRIVATBANK , VR Leasing Gruppe, WL BANK , MünchenerHyp, DG HYP.
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