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SitzenDer Stuhl

Vielfalt des Designs und der Verbindungen

Auf das Konzept der Verbindungen kommt es an. Das gilt nirgends mehr als für
das Design von Stühlen. Kein anderes Möbel bietet derartige und derart viele
Möglichkeiten, Verbindungen herzustellen und zu vereinfachen. Darum haben die
Menschen auch in die Herstellung keines anderen Möbelstücks so viel
Anstrengung und Ressourcen investiert wie in die von Stühlen und dies schon seit
über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Tatsächlich ist der Stuhl – abgesehen
möglicherweise vom Auto – das Industrieprodukt der Moderne, das die Designer
am meisten beschäftigt hat.

Stets war der Erfolg eines Stuhlentwurfs abhängig von der Qualität und dem
Charakter der Verbindungen, die dieser bzw. der Designer oder die Designerin mit
diesem Stuhl durch seine Form und die verwendeten Materialien eine körperliche
und eine psychologische Verbindung zu dem, der oder die auf ihm sitzt. Ein Stuhl
kann sich zudem visuell und/oder funktional mit seiner Umgebung und den dort
vorhandenen Objekten und Stile verbinden. Im Verlauf der letzten 150 Jahre
vollzog sich die Evolution des Stuhls und seiner Formen im Gleichklang mit den
Entwicklungen in Architektur und Technik und sie spiegelt damit die sich
wandelnden Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft so präzise, dass man
seine Geschichte als eine Art Designgeschichte im Kleinen betrachten kann.

Abgesehen von technischen Überlegungen zum Sitzen und unabhängig von der
Frage, wie gut die Benutzer oder die Benutzerin mit den Formen körperlich und
psychologisch zurechtkommen, werden Stühle auch für Anlässe entworfen und
aus Gründen erworben, die von eher symbolischer Bedeutung sind und mit
Geschmack und Moden zu tun haben. Unter allen Möbeln ist es wiederum der
Stuhl, der am häufigsten dazu benutzt wird, das Ego zu stützen und „Geschmack“
zu demonstrieren, womit Stühle immer auch die sozialen und politischen
Einstellungen ihrer Besitzer, auch deren gesellschaftlichen und ökonomischen
Status demonstrieren.

Dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Stühle in


so außergewöhnlicher Vielfalt geschaffen wurden,
hat damit zu tun, dass es keine ideale Form für
einen Stuhl oder Sessel gibt. Zu jeder Zeit kann es,
bezogen auf den jeweiligen Gebrauchskontext,
viele gute Lösungen geben. In der Überfülle von
Entwürfen für eine spezielle Funktion wird man
zahlreiche Ähnlichkeiten feststellen: was sie aber
voneinander unterscheidet, ist die Frage, ob der
Designer oder die Designerin Funktion eher als
Zweck betrachtet, der erfüllt werden muss, oder
mehr als das, was ein Stuhlentwurf zum Ausdruck
bringen soll. Gleichgültig jedoch, ob er oder sie in Marcel Breuers Clubsessel B3
„Wassily“
seinem Vorgehen mehr Gewicht auf Nützlichkeit
oder auf Ästhetik gelegt hat, am Ende geht es

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beim Entwerfen eines Stuhls immer um dasselbe: nämlich darum, Verbindungen
zu schaffen.

Fast immer gehörte zur Entstehung eines


richtungsweisenden Prototyps ein Prozess, bei
dem nicht nur die gewünschte Funktion, eine
entsprechende Konstruktion (und auch die
entsprechenden Materialien) und die Ästhetik
eine Rolle spielten, sondern auch
Herstellungsverfahren und -kosten,
Marktbedingungen, Endpreise und das
gewünschte Produktappeal.
Alvar Aaltos Stuhl Nr. 41
So wie sich die Vorlieben einer Gesellschaft
ändern, so ändern sich auch die Reaktionen von
Designern und Designerinnen und Herstellern
und Herstellerinnen auf gesellschaftliche
Anforderungen. Was zu einer bestimmten Zeit
als vernünftige Lösung gelten konnte, ist später
vielleicht genau entgegengesetzt beurteilt
worden. Einige Designer haben noch
vorbildlichen und richtungsweisenden Lösungen
gesucht und diese auch gefunden, was dann zu
mehr oder weniger ausgeprägter Langlebigkeit
geführt hat. Doch selbst diese als „Klassiker“
geschätzten Entwürfe haben nur eine begrenzte
Wirkung aufgrund ihrer Funktionalität oder ihrer
Ästhetik.

Auch wenn es für keine angestrebte Lösung


nur ein einziges richtiges Resultat gibt, so Formholzstuhl von
Charles und Ray Eames
haben einige Stühle doch eine enorme
Wirkung auf das Möbeldesign gehabt, so etwa
Marcel Breuers Clubsessel B3 „Wassily“ aus
dem Jahr 1925, Alvar Aaltos für das Sanatorium
Paimio entworfener Stuhl Nr. 41 von 1931/32,
Charles und Ray Eames‘ Formholzstühle
(1945/1946), Joe Colombos Stuhl 4860 (1965).

Joe Colombos Stuhl 4860

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Der Thonet-Sessel
Vom Gebrauchsmöbel zum Designklassiker

Die Erfolgsgeschichte der Firma Thonet stellt so etwas


wie einen Mythos der modernen Designgeschichte
dar. Mitte des 19. Jahrhunderts war der deutsche
Tischler Michael Thonet, der sich 1819 in Boppard am
Rhein selbstständig gemacht und in den 1830er
Jahren eine vielversprechende Holzbiegetechnik für
Möbel entwickelt hatte, aus wirtschaftlichen Gründen
nach Wien abgewandert: Hier konnte er seine
Bugholzmöbel perfektionieren und das wohl größte
Möbelimperium seiner Zeit begründen. Mit dem ab
1859 produzierten Modell Nr. 14 schuf Thonet zudem
eines der weltweit meistverkauften Möbelstücke – es
gilt heute als einer der „Klassiker“ des modernen
Industriedesigns schlechthin.

Michael Thonet und seine Söhne – die späteren


Gebrüder Thonet- erzielten auf den diversen
Weltausstellungen seit 1851 internationale Preise und
damit auch steigende Verkaufspreise. Zu dieser Zeit
Thonet-Sessel Nr. 14
standen keineswegs die ästhetischen Aspekte der
Bugholzmöbel im Mittelpunkt des Interesses, sondern
vielmehr die technologisch-wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens.

1830 begann Michael Thonet mit den ersten


Versuchen, Möbelteile, vorwiegend für Sessel
und Fauteils, aus einzelnen, miteinander
verleimten Leisten herzustellen. Diese wurden
als Bündel in einem Leimbad gekocht und
anschließend in noch heißem Zustand in Formen
eingelegt und gepresst. Dieses Bündel wurde
bereits so breit belassen, dass man, wenn man
es nach der Trocknung in Längsrichtung
aufschnitt, identische Seitenrahmen für mehrere
Stühle erhielt.

Der Bopparder Stuhl ist in seiner grundsätzlichen


Formgebung ein Möbel des Spätbiedermeier –
Michael Thonet hat diesen Stuhltyp nicht
erfunden. Doch bereits hier ist zu sehen, wie eine
Boppard-Stuhl, Thonet neue Herstellungstechnik die Form des Produkts
beeinflusst: Die zweiteiligen Seitenrahmen, wie
sie die Bopparder und auch die ersten in Wien
gefertigten Stühle haben, sind nur in der Technik der Schichtverleimung möglich.

Die Verbindung der Vorder- und Hinterbeine mit einem Sitzrahmen war im
Stuhlbau insofern eine Herausforderung, als diese Verbindung meist nicht

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dauerhaft stabil war. Michael Thonets Lösung war Revolutionär. Er schuf keine
neue Art von Verbindung oder verbesserte sie bloß: er beseitigte sie.

Mit dem neuen Holzbiegeverfahren war den tradierten,


handwerklich gefertigten Stühlen der Möbeltischler ein
modernes Industrieprodukt an die Seite gestellt worden,
das zudem in weitaus größeren Stückzahlen hergestellt
werden konnte und neue Märkte erobert hatte.

Dass die allgemeine Anerkennung der Bugholzmöbel als


Klassiker des Designs in den 1960er Jahren zu einem
relativ späten Zeitpunkt geschah, obwohl ihre ästhetische
und funktionelle Bedeutung schon seit langem feststand, ist Link zur
Veranschaulichung
wohl nur durch die Skepsis zu verstehen, die man den des
Gebrauchsgegenständen des Industriezeitalters Holzbiegeverfahrens
grundsätzlich noch lange Zeit entgegengebracht hat: als
formschöne, zweckmäßige, kostengünstige und dauerhafte Möbel wurden die
Stühle von Thonet zwar hoch geschätzt, sie verfügten aber als weit verbreitete
industrielle Massenprodukte nicht über einen „künstlerischen“ Wert, der ihre
Aufnahme in beispielweise eine museale Sammlung gerechtfertigt hätte. Die
Thonet-Stühle beförderten, über die Art und Weise des Sitzens nachzudenken und
brachten dadurch die geistige Verfasstheit der Zeit zum Ausdruck. Die als
Kaffeehausstühle verbreiteten Produkte von Thonet waren in dieser Hinsicht
wegweisend und haben Generationen geprägt.

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