Grundfragen und Trends | Forschung

Der Wandel der Höflichkeitsformen und -normen in der COVID-19-Zeit

Virussichere Begrüßungsrituale
Die COVID-19-Pandemie, die in Europa im März 2020 ausgebrochen ist, hat in kurzer Zeit zu tiefgreifen-
den Einschnitten im sozialen Leben und damit zu großen Veränderungen im höflichen Verhalten
geführt. Aus epidemiologischen Gründen wurden direkte zwischenmenschliche Kontakte ex legis ein-
geschränkt, verbunden mit einem allgemeinen Appell an Social Distancing, das zum Teil sogar zum
sogenannten Social Cooconing führte. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, diesem Wandel in
den höflichen Begrüßungsformen nachzuspüren, um dann einige Rückschlüsse auf den Wandel der
grundlegenden Gesichtsbedürfnisse in der gegenwärtigen pandemischen Zeit zu ziehen.

Da das Grußverhalten ein Kern der Beziehungsarbeit www. emcdda.europa.eu/news/2020/seasons-greetings-

beziehungsweise des Facework ist, markieren wir in der
Art und Weise, in der wir unsere Adressaten in der Vis-à-
vis-Situation grüßen oder uns von ihnen verabschieden,
unsere Beziehung zu ihnen. Durch die durch COVID erzwun-
gene Distanz und die Stigmatisierung der körperlichen
Nähe mussten die Interaktionspartner nun im pandemischen
New Normal Alternativen finden, um positive Gesichtsbe-
dürfnisse (Sympathie, Teilnahme, Wärme) zu befriedigen.
Gleichzeitig erhält „Distanz“ in der COVID-19-Zeit eine
positive Konnotation und wird zu einem Synonym für Sicher-
heit. Distanzierung hört auf, ein Zeichen hierarchischer
Asymmetrie oder sogar des Desinteresses zu sein. Sie
wird vielmehr zum Ausdruck von Respekt und Sorge für
den Anderen, insofern deckt sie sich eher mit positiven
als mit negativen Gesichtsbedürfnissen.
Wuhan-, Ebola- und andere Distanzgrüße
Der Wandel in der COVID-19-Zeit betrifft sowohl verbale
als auch nonverbale Begrüßungsformen. Verbale Begrü-
ßungsformeln, die entweder auf die Gesundheit oder Sicher-
heit Bezug nehmen, sind in der pandemischen Zeit weit
verbreitet. Im Einklang mit der allgemeinen Tendenz zur
Globalisierung – Englisch ist die Sprache der WHO, die die
Weltgesundheitsbulletins und -kommunikate bereitstellt,
und der internationalen Pressagenturen – sind diese neuen
verbalen Begrüßungsformen Anpassungen aus dem Eng-
lischen: „Warm wishes for a safe and healthy 2021! Stay
healthy, stay safe, keep everyone healthy!” (vgl. https://
and-warm-wishes-safe-and-healthy-2021_en, 1.4.2021)
Diese englischen Grundmuster werden dann in den
unterschiedlichen Landessprachen „gebeugt“, wie etwa
im Deutschen, im Italienischen und im Polnischen (Beispiele
aus eigenen Korpora): Autorin |
Deutsch: „Mit herzlichen Grüßen und bleiben Sie gesund!“ Prof. Dr. Silvia Bonacchi,
Professorin für Germanistik
Italienisch: “Stai in salute e al sicuro!”
und interkulturelle Kommu-
Polnisch: „Chciałabym życzyć bardzo dużo, dużo zdrowia!” nikation an der Universität
Solche Begrüßungs- und Wunschformeln abschlie- Warschau, Faculty of
ßenden Charakters (Verabschiedungen) sind eigentlich Applied Linguistics, Insti-
tute of Specialized and
nicht ganz neu. Bislang waren sie eher situativ und kon-
Intercultural Communica-
textuell bedingt verwendet, wenn etwa der Gesprächs- tion
partner krank oder einer Gefahr ausgesetzt war. Mit dem
expliziten Bezug auf die Sicherheit und Gesundheit (implizit s.bonacchi@uw.edu.pl
auf die Notwendigkeit des Abstandhaltens) haben sie nun
vagere Formeln des Wunsches nach Wohlbefinden ersetzt,
wie etwa: „Lebewohl!“ oder „Mach’s gut!“
Die pandemischen Einschränkungen des Körperkon-
taktes haben aber vor allem das nonverbale höfliche Ver-
halten geändert. Da das Gesicht von der Schutzmaske teil-
weise verdeckt wird, wird auch die Mimik sehr einge-
schränkt, nur die Augen können „lächeln“. Nonverbale
Begrüßungsrituale ohne direkten Kontakt, etwa der Wuhan-
Gruß (Fussgruß), der Ebola-Gruß (Ellenbogengruß) und der
Fist-Bump (Ghetto-Faust, Abb. 1), wurden bald dank der
viralen Kraft von Fotos und Videos auf Social Media sehr
populär (vgl. etwa https://knowyourmeme. com/memes/
wuhan-shake, 1.4.2021). Den meisten neuen Grußformen
entsprechen Emoji, die in der digitalen Kommunikation

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Abb. 1: Der Fist-Bump eingesetzt werden. (Faustgruß, Faustcheck, Ghettofaust,
Emoji: , eigenes Bild)
Der Faustgruß war vor der Pandemie im Sport sehr
beliebt, der amerikanische ehemalige Präsident Barack
Obama trug zu seiner breiten Popularität als „coole Geste“
bei (vgl. http://content.time.com/time/nation/article/
0,8599,1812102,00.html, 1.4.2021), aber erst während
der Corona-Pandemie ab 2020 verstärkte sich seine Beliebt-
Abb. 2: Die Kusshand 1 heit als virussichere Geste. Des Weiteren sind kontaktlose
Begrüßungsrituale aus anderen Kulturen übernommen.
Begrüßungen aus Filmen, wie der Gruß der Vulkanier (Hand
zum Gruß erhoben, Finger nur zwischen Ring- und Mittel-
finger gespreizt, Emoji : „Lebe lang und in Frieden!“)
oder die „Fingerpistole“ („finger guns“, Emojis: und
) sind schnell sehr populär geworden, vor allem in Sub-
kulturen.
Abb. 2: Die Kusshand
Gesten aus anderen Kulturkreisen
Dank der viralen Kraft von Videos in den Social Media wer-
den auch Begrüßungsrituale aus anderen Kulturkreisen
als Gruß-Alternativen adaptiert: so der indische Namaste-
Gruß (als Gruß- und Dankzeichen, Emoji: ), der von
Prinz Charles von England während des Treffens mit dem
französischen Präsidenten Macron im Juni 2020 benutzt
wurde. Eine weitere Grußform besteht darin, die rechte
Hand aufs Herz legen („Hand aufs Herz!“) mit einer leichten
Abb. 3: Herzzeichen Verbeugung. Schon im antiken Rom war diese Geste als
Grußform üblich. In der Vor-COVID-Zeit benutzte man sie
eher bei feierlichen Anlässen (während des Abspielens der
Nationalhymne oder beim Schwören, vgl. https://brf.be/
kultur/1240432/, 1.04.2021).
Signale der Wärme und Zuneigung
Eine Renaissance erleben in der COVID-Zeit Gesten, die
schon in der vorpandemischen Zeit vorkamen: das Winken,
Abb. 4: Fingerherz
die Kusshand und das Herzzeichen. Winken, eigentlich
eine Begrüßungsgeste der Entfernung, wird jetzt zunehmend
in der direkten Kommunikation benutzt. Wirkliche Küsse
sind jetzt Tabu, dafür werden zunehmend Kuss-Ersatzformen
benutzt. Die Kusshand (Emoji: , Abb. 2) erlebt in ihren
unterschiedlichen Variationen eine steigende Popularität
für die Signalisierung von Nähe und Wärme, auch im Sport.
Das „Herzzeichen“, im Februar 2021 vom russischen
Oppositionellen Alexej Nawalny im Gerichtssaal an seine
Frau als Signal der Liebe gerichtet (https://www.nord-
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bayern.de/politik/nawalny-protest-in-nurnberg-das-for-
dern-die-demonstranten-1.10826011, 1.4.2021), wurde
recht bald als Verabschiedungsform und als Signal der
Wärme und Zuneigung (Emoji: ) von vielen Menschen
übernommen (Abb. 3).
Auch das so genannte Finger-Herz (Abb. 4), das
ursprünglich in Südkorea breite Verwendung im ersten
Jahrzehnt des neuen Millenniums fand, genießt verstärkte
Beliebtheit unter jungen Menschen (https://discovery.cat-
haypacific.com/brief-history-korean-finger-hearts/,
1.4.2021).
Neue Höflichkeitsbedürfnisse
Der Wandel der Gesichtsbedürfnisse beschränkt sich aller-
dings nicht auf die Grußformen, er geht vielmehr bis in die
Tiefenstrukturen des höflichen Verhaltens. In der Pandemie
wird der epidemiologisch gefährliche, geteilte physische
Interaktionsraum durch einen virussicheren virtuellen Raum
ersetzt. Die damit einhergehende digitale Umstellung der
sozialen Kommunikation stellt für die meisten Menschen
eine große Herausforderung dar. Der Privathaushalt wird
nun zum Homeoffice oder zur Bildungsstätte, Familienmit-
glieder müssen den (mitunter engen) Raum teilen. Digita-
lisierte und zugleich technikgestützte Kommunikation führt
zu gesteigerten und auch neuen Höflichkeitsbedürfnissen.
Diese neue Situation ist Gegenstand laufender For-
schungsprojekte, wie „Rethinking Media Literacy in the
Age of COVID-19“ (Exzellenzinitiative der Universität War-
schau, Universität Heidelberg und Universität in Mailand).
Im Folgenden wird auf erste Ergebnisse dieses Projekts
Bezug genommen.
An oberster Stelle erfordert die Online-Kommunikation
mehr Disziplin als die direkte Kommunikation: So wird
etwa erwartet, dass jeder weiß, wann man Webcams und
Mikrophone einschalten und ausschalten soll. Um eine
reibungslose Übertragung des Signals zu garantieren, wird
das Kreuz- und Querreden minimiert. Dies führt aber auch
zum Verschwinden der Feedbacksignale, die sehr wichtige
Elemente des höflichen Verhaltens sind. Aufmerksames
Zuhören und partizipatives Verhalten als Hörer werden in
der direkten Kommunikation durch Mimik, Blicke oder
kurze verbale Continuer signalisiert. In der mediatisierten
Kommunikation bleiben diese Signale aus. So berichten
viele Kommunikationsteilnehmer, dass sie den Eindruck
haben, „vor sich hin“ zu sprechen (Wilczewski 2021). In
den meisten Programmen für Videokonferenzen und Online-
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Meetings stehen Emotikons zur Verfügung, die die „Reak- unbewaffneten Hand und das Abnehmens des Hutes als
tionen“ des Hörers mitteilen und so das Ausbleiben von eine Geste des Vertrauens entstanden, indem der Kopf
Feedbacksignalen ausgleichen sollen. ohne Schutz dem Gegenüber gezeigt wurde. Die Welt ist
jetzt sicherer geworden, wir sind nicht der Gefahr ausgesetzt,
geköpft zu werden, dennoch sind die sich damals in einer
Gefühl von Kontrollverlust
eher gefährlichen Zeit herauskristallisierten Umgangsformen
Viele Menschen berichten über ein Gefühl von Kontroll- erhalten geblieben.
verlust bezüglich des Interaktionsraums: Sie wissen nicht,
ob die Hörer dabei sind, sie fühlen sich wie in einem „inter-
Impulse für die Höflichkeitsforschung
aktionalen Leerraum“ schwebend (Wilczewski 2021). Diese
Unsicherheit, die aus dem Eindruck einer „geschwächten“ Was wird aus unserer pandemischen Zeit, die durch Distanz
Teilnahme am digitalen Interaktionsgeschehen resultiert, in der Kommunikation geprägt ist, an Höflichkeitsformen
wird durch das Phänomen der parallelen Bildschirme erhalten bleiben, die dann als Sicherheit und Sorge umge-
(Second Screens) zusätzlich verstärkt. Die Interaktions- deutet werden? Wird diese nicht fassbare Unsicherheit,
teilnehmer sind nicht mehr ausschließlich auf den Inter- die im Moment alle Face-to-Face-Interaktion und umso
aktionspartner konzentriert, sondern teilen ihre Aufmerk- mehr die virtuellen Begegnungen durchdringt und die viel-
samkeit auf mehrere elektronische Devices. Wird in die leicht durch unerfüllte Gesichtsbedürfnisse entstanden
digitale Kommunikation auch noch das häusliche Umfeld ist, durch die Entwicklung neuer Höflichkeitsnormen über-
einbezogen, werden nicht selten parallel Tätigkeiten durch- wunden, die sichere pragmatische Orientierungshilfen im
geführt, die zu Ablenkungen führen und so die Aufmerk- Handeln geben? Oder wird es größere Rückwirkungen
samkeit einschränken können. Insgesamt resultiert aus dieses durch die Pandemie erzwungenen Wandels auf die
all diesen Befunden die Notwendigkeit einer globalen Rede- Gesichtsbedürfnisse der Zukunft geben? Wird der Wandel
finition dessen, was wir „Interaktionsraum“ nennen lokal oder global sein? Es ist noch zu früh, um hierauf eine
(Bonacchi 2020). Antwort zu finden, aber diese Fragen können wichtige Literatur |
Impulse für die Höflichkeitsforschung geben, auch im Rah- Bonacchi, S.: La costruzione
men von Weiterbildung. dello spazio comunicativo a
Szenario für neue Höflichkeitsformen scuola Considerazioni teori-
che, metodologiche e pro-
Viele vergleichen den Impact, den die COVID-19-Pandemie
spettive di applicazione. In:
auf unser soziales Leben hat, mit dem so genannten Schwar- Voghera M./Maturi, P./Rosi
zer-Schwan-Effekt: „What we call […] a Black Swan […] is F. (Hrsg): Orale e scritto,
an event with the following three attributes […] rarity, extre- verbale e non verbale: la
multimodalità nell’ora di
me impact and retrospective (though not prospective) pre-
lezione. Firenze 2020,
dictability” (Taleb 2008: xxiff.) Tiefgreifende Veränderungen S. 267-284
werden durch ein Ereignis erzwungen, das bis dahin als Hanisch, H.: Corona-Knigge
unerwartet beziehungsweise unvorhersehbar galt. Retro- 2100. Vom Umgang mit dem
Virus. Norderstedt 2020
spektiv versuchen dann die Menschen, dieses unerwartete
Taleb, N.N.: The Black
und überraschende Ereignis in eine systemische Logik ein- Swan. The Impact of the
zuordnen, die dann in ein neues Weltbild integriert wird. Highly Improbable.
Das könnte auch ein Szenario für die neuen Höflich- München 2008
keitsformen sein, die aus einer plötzlichen Notsituation Wilczewski, M./Gorbaniuk,
O./Giuri, P.: The psychologi-
entstehen. Jede Gesellschaft entwickelt Höflichkeitssysteme cal and academic effects of
zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben, die im Alltags- studying from the home and
geschehen vorkommen und soziales Leben erleichtern. host country during the
Die Höflichkeitsformen hic et nunc sind das gewachsene Covid-19 pandemic. In:
Frontiers in Psychology, 12,
Ergebnis einer kulturellen Schichtung, die später vergessen 2021, 644096. https://doi.
oder verdrängt beziehungsweise reinterpretiert wird. So org/10.3389/fpsyg.2021.64
ist der Handschlag als Geste des Zeigens einer freundlichen 4096

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