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Klaus-Georg Eulitz
Betriebsfestigkeit
Bauteile sicher auslegen!
Betriebsfestigkeit
Sebastian Götz · Klaus-Georg Eulitz
Betriebsfestigkeit
Bauteile sicher auslegen!
Sebastian Götz Klaus-Georg Eulitz
HTW Berlin Institut für Festkörpermechanik
Berlin, Deutschland Technische Universität Dresden
Sebastian.Goetz@HTW-Berlin.de Dresden, Deutschland
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
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Hält’s oder hält’s nicht? Viele Ingenieure1 aus den Bereichen Entwicklung, Berechnung oder
Versuch sehen sich früher oder später mit genau dieser Fragestellung konfrontiert. Und wenn
es denn hält, schließt sich oft die Frage an, wie sicher das konstruierte Bauteil ist und ob es
nicht etwa überdimensioniert und damit zu schwer und zu teuer sei. Eine Antwort darauf kann
mit Hilfe der Betriebsfestigkeit gefunden werden. Mit ihr wird nachgewiesen, ob ein Bauteil die
geforderte Lebensdauer unter allen im Betrieb auftretenden Belastungen mit ausreichender
Sicherheit erreicht. Häufig erfolgt dieser Nachweis als rechnerischer Festigkeitsnachweis auf
Grundlage von Normen und Richtlinien. Dabei ist es unerlässlich, die Hintergründe und
Anwendungsgrenzen der Verfahren zu kennen und zu verstehen.
Beim Einstieg erscheint die Betriebsfestigkeit durch das Zusammenspiel mit vielen verschie-
denen Fachgebieten, wie z. B. der Technischen Mechanik, der Werkstoffwissenschaft, der
Messtechnik, der Statistik und der Fertigungstechnik, kompliziert und unübersichtlich. Zu-
dem ist die zahlreich vorhandene Literatur zum Thema für den Anfang sehr anspruchsvoll,
teilweise auch zu spezifisch oder behandelt das Thema allein auf der Werkstoffebene ohne
direkten Bezug zum Bauteil. Hier soll unser Buch eine Lücke schließen. Wir bauen dabei auf
den Lehrveranstaltungen zur Betriebsfestigkeit auf, die wir an der TU Dresden und der HTW
Berlin gehalten haben. Eine wichtige Grundlage sind außerdem die über viele Jahre an der
TU Dresden entstandenen Studienbriefe und Übungsaufgaben zur Betriebsfestigkeit.
Wir richten uns an Studierende aller ingenieurwissenschaftlicher Fachrichtungen, die sich
mit der Auslegung und dem Festigkeitsnachweis von Bauteilen befassen. Dazu zählen viele
Studienrichtungen des Maschinenbaus, wie der Leichtbau, die Fahrzeugtechnik und der
allgemeine Maschinenbau, aber z. B. auch der konstruktive Ingenieurbau. Angesprochen sind
weiterhin Ingenieure in der beruflichen Praxis, die ihre Kenntnisse auffrischen oder vertiefen
wollen. Aufgrund des thematischen Aufbaus im Sinne eines Lehrbuchs ist es möglich, sich den
Inhalt einerseits sukzessive in aufeinander aufbauenden Kapiteln zu erarbeiten, andererseits
können bestimmte Themen auch gezielt anhand einzelner Kapitel nachgeschlagen werden.
Bei diesem Buch haben uns viele Personen unterstützt. Unser herzlicher Dank gilt Herrn
Dr.-Ing. Peter Hantschke, Herrn Prof. Dr.-Ing. Roland Rennert, Frau Dr.-Ing. Katrin Fuhr-
mann und Herrn Prof. Dr.-Ing. habil. Dieter Joensson. Ganz besonders möchten wir uns bei
1
Wir haben uns aus Gründen der Lesbarkeit für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden.
Mit der Formulierung »der Ingenieur« meinen wir selbstverständlich »die Ingenieurin« und »den Ingenieur«
gleichermaßen. Wir bitten die Leserinnen und Leser dafür um Verständnis.
v
vi Vorwort
Herrn Dr.-Ing. Franz Ellmer für die zahlreichen Diskussionen und konstruktiven Beiträge
bedanken. Seine fachliche Expertise sowie sein großer Überblick zu Veröffentlichungen und
Forschungsberichten waren für uns eine große Hilfe.
Der HTW Berlin sei ausdrücklich für die großzügige Unterstützung bei der Erstellung des
Buches gedankt. Den Mitarbeitern des Springer Vieweg Verlages, allen voran Herrn Thomas
Zipsner aus dem Lektorat Maschinenbau, danken wir für die angenehme und konstruktive
Zusammenarbeit sowie die vielen wertvollen Anregungen.
a Auslastungsgrad H Summenhäufigkeit
a BK Auslastungsgrad des Ermüdungsfes- Hges Umfang eines Amplitudenkollektivs
tigkeitsnachweises I Regelmäßigkeitsfaktor eines BZV
a d,m ,a d,p Konstanten für technologischen Grö- j Sicherheitszahl, Sicherheitsfaktor
ßenfaktor jD Gesamtsicherheitsfaktor (FKM-
a SK Auslastungsgrad des statischen Fes- Richtlinie)
tigkeitsnachweises j ges Gesamtsicherheitszahl
A Querschnittsfläche bzw. Bruchdeh- jF Sicherheitszahl für Streuung der Fes-
nung tigkeit bzw. Sicherheit gegen Fließen
C Konstante der Wöhlerliniengleichung jN Sicherheitszahl in Lebensdauerrich-
bzw. der Rissfortschrittsgleichung tung
C m ,C s Hilfsgrößen zur Schätzung des Stan- jS Sicherheitszahl in Beanspruchungs-
dardfehlers richtung
C O ,C O,σ Oberflächenfaktor k Exponent der Wöhlerlinie bzw. Dukti-
C O,τ litätskoeffizient bzw. Varianzkenngrö-
d Proben-/Bauteildurchmesser bzw. ße bei IABG-Methode
Stufenabstand im Treppenstufenver- k∗ Exponent der Wöhlerlinie nach Ab-
such knickpunkt
′
D Schädigung K zyklischer Verfestigungskoeffizient
d eff effektiver Durchmesser K BK Betriebsfestigkeitsfaktor
D Koll Schädigung eines Kollektivdurchlaufs K d,m ,K d,p technologischer Größenfaktor
Dm mittlere Schädigungssumme Kf Kerbwirkungszahl
D rel relative Schädigungssumme aus Ver- K̃ f Schätzwert der Kerbwirkungszahl
gleich mit Versuch Kp plastische Formzahl
D̄ rel mittlere relative Schädigungssumme K R,σ , K R,τ Rauheitsfaktor
fR Verfestigungsfaktor (FKM-Richtlinie) Kt Formzahl
f W,σ Zugdruckwechselfestigkeitsfaktor K T,D Temperaturfaktor für die Wechselfes-
f W,τ Schubwechselfestigkeitsfaktor tigkeit
g Gewichtungsfaktor bei Probit- KV Randschichtfaktor
Methode K WK,σ , Konstruktionsfaktor
G bezogener Spannungsgradient (FKM- K WK,τ
Richtlinie) KI Spannungsintensitätsfaktor für Mo-
h Klassenhäufigkeit bzw. Mehrachsig- dus I
keitsgrad ΔK I Schwingbreite des Spannungsintensi-
vii
viii Verzeichnis wichtiger Formelzeichen
xi
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis xi
1 Einleitung 1
1.1 Einordnung der Betriebsfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.3 Ziele und Aufbau des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 FKM-Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2 Schwingfestigkeit 11
2.1 Phänomen der Materialermüdung bei Metallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.1.1 Phasen der Materialermüdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.1.2 Charakteristik des Ermüdungsbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.2 Grundlegende Begriffsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.2.1 Belastung, Beanspruchung und Beanspruchbarkeit . . . . . . . . . . . . 14
2.2.2 Kenngrößen eines Schwingspiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.2.3 Zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.3 Beanspruchbarkeit bei konstanter Amplitude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.3.1 Wöhlerlinie, Zeit- und Dauerfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.3.2 Mittelspannungseinfluss und Dauerfestigkeitsschaubilder . . . . . . . . 24
2.3.2.1 Smith-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.3.2.2 Haigh-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.3.2.3 Mittelspannungsempfindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.3.2.4 Modifiziertes Haigh-Diagramm nach FKM-Richtlinie . . . . . . 29
2.3.3 Streuung der Schwingfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.4 Grundgedanke der linearen Schadensakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.5 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
xiii
xiv Inhaltsverzeichnis
3.3.2 Stützzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.4 Oberflächenrauigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
3.5 Eigenspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.6 Oberflächenverfestigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
3.7 Umgebungsmedien und Korrosion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.8 Frequenzeinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
3.9 Temperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.10 Bauteilwechselfestigkeit und Konstruktionsfaktor nach FKM-Richtlinie . . . . 63
3.11 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
4 Statistische Grundlagen 67
4.1 Einleitung und Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
4.2 Beschreibung von Stichproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.3 Statistische Verteilungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
4.3.1 Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.3.1.1 Dichte- und Verteilungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.3.1.2 Standardisierte Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
4.3.1.3 Log-Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
4.3.2 Weitere Verteilungen für stetige Zufallsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.3.3 Binomialverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
4.4 Lineare Regressionsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
4.5 Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
4.6 Vertrauensbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4.6.1 Vertrauensbereich des Mittelwertes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4.6.2 Vertrauensbereich der Standardabweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
4.6.3 Vertrauensbereich für Regressionsgeraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
4.7 Sicherheitszahl für Ausfall- und Vertrauenswahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . 90
4.7.1 Sichere Festigkeitskennwerte und nicht streuende Beanspruchung . . . 91
4.7.2 Geschätzte Festigkeitskennwerte und nicht streuende Beanspruchung . 91
4.7.3 Streuung von Festigkeit und Beanspruchung . . . . . . . . . . . . . . . . 92
4.8 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5 Lastannahme 95
5.1 Beanspruchungs-Zeit-Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
5.2 Klassier- und Zählverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
5.2.1 Einparametrische Zählverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.2.1.1 Spitzenwertzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.2.1.2 Klassengrenzenüberschreitungszählung . . . . . . . . . . . . . . 102
5.2.1.3 Momentanwertzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Inhaltsverzeichnis xv
6 Bauteilbeanspruchung 123
6.1 Beanspruchungsgrößen spannungsbasierter Festigkeitskonzepte . . . . . . . . 123
6.2 Spannungszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
6.2.1 Spannungsvektor und Spannungstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
6.2.2 Festigkeitshypothesen und Vergleichsspannungen . . . . . . . . . . . . . 130
6.2.3 Beanspruchung an Kerben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
6.3 FEM zur Spannungsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6.4 Beanspruchungsermittlung an geschweißten Bauteilen . . . . . . . . . . . . . . 143
6.4.1 Nennspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
6.4.2 Strukturspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
6.4.3 Kerbspannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
6.5 Verständnisfragen zu Kapitel 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Anhang 305
Literaturverzeichnis 337
Stichwortverzeichnis 359
1 Einleitung
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 1
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_1
2 1 Einleitung
erst mit der betriebsfesten Auslegung möglich das Leichtbaupotential einer Konstruktion voll
auszuschöpfen. Hohe seltenere Belastungen oberhalb der Dauerfestigkeit können zugelassen
werden und gleichzeitig wird die geforderte Lebensdauer eines Bauteils erreicht.
Die rechnerische, betriebsfeste Dimensionierung von Bauteilen umfasst die drei folgenden
Teilaspekte:
• Analyse im Betrieb auftretender Belastungen und Beanspruchungen
Das Belastungskollektiv beinhaltet alle Belastungsamplituden eines Bauteils geordnet
nach Größe und Häufigkeit und ist die zentrale Eingangsgröße für den Nachweis der
Betriebsfestigkeit. Mit der Bauteilgeometrie (Gestalt) lässt sich daraus das Beanspru-
chungskollektiv ermitteln.
• Ermittlung ertragbarer Spannungen im Bauteil
Die Wöhlerlinie eines Bauteils beschreibt dessen Schwingfestigkeit und die ertragbaren
Lastzyklen abhängig von einer konstanten Beanspruchungsamplitude. In der Bauteil-
wöhlerlinie müssen alle Einflussgrößen auf das Ermüdungsverhalten berücksichtigt
sein.
• Hypothese zur Schadensakkumulation
Sie ermöglicht die Auslegung von variabel beanspruchten Bauteilen anhand ihrer Wöh-
lerlinie. Damit werden Bauteile für eine bestimmte Lebensdauer und nicht nur für eine
bestimmte Belastungshöhe bemessen.
Literaturübersicht
Zu den Themen der Betriebsfestigkeit existiert eine große Anzahl an Fachbüchern. Deshalb
kann der nachfolgende Überblick gezwungenermaßen nur ein subjektiver sein. Als Standard-
werke im deutschsprachigen Raum können zweifellos Betriebsfestigkeit von Haibach [25]
sowie Ermüdungsfestigkeit von Radaj und Vormwald [54] angesehen werden. Sie behandeln
umfassend und mit großer fachlicher Tiefe die Themen der Betriebsfestigkeit, setzen aller-
dings beim Leser eine gewisse fachspezifische Vorbildung voraus. Ein dazu vergleichbares
englischsprachiges Buch ist Fatigue of Structures and Materials von Schijve [66]. Darüber
hinaus sind noch [6, 22, 44, 63, 70] zu nennen sowie die Fachbücher [8, 15, 23, 76] aus der
ehemaligen DDR. Weitere englischsprachige Bücher sind [3, 12, 28, 38, 49, 73].
Für einen Einstieg in das Thema Schwingfestigkeit eignen sich z. B. die entsprechenden Kapi-
tel aus Festigkeitslehre - Grundlagen [29] von Issler, Ruoß und Häfele und Einführung in die
Festigkeitslehre [37] von Läpple. Speziell dem Thema Lastannahme widmet sich Zählverfahren
und Lastannahme in der Betriebsfestigkeit [32] von Köhler, Jenne, Pötter und Zenner. Viele
praktische Hinweise zur Anwendung der FKM-Richtlinie auf FEM-Berechnungen sind in
Angewandter Festigkeitsnachweis nach FKM-Richtlinie [81] von Wächter, Müller und Esderts
zu finden. In [51, 52] wird speziell auf die Betriebsfestigkeit von Schweißkonstruktionen ein-
gegangen. Bücher mit besonderem Fokus auf das Ermüdungsverhalten von Werkstoffen sind
[7, 67]. Neben den vielen Fachbüchern gibt es auch einige Fachartikel, in denen ein guter
Überblick zur Betriebsfestigkeit gegeben wird [103, 110, 245, 267].
4 1 Einleitung
Die Entwicklung des Wissensgebietes ist direkt mit der Entwicklung der Mess- und Prüftechnik
verknüpft. Die wohl erste Prüfmaschine für Schwingbeanspruchungen wurde von Oberberg-
rat Albert in Clausthal konstruiert, der damit ab 1829 Eisenketten prüfte [101]. Bekannt wurde
er später vor allem durch die damit verbundene Erfindung des Drahtseils. Ermüdungsbrüche
traten aber vor allem bei Achsen auf. Dies führte, wie in [40] berichtet, zur Vorschrift die
eisernen Achsen französischer Postkutschen nach einem Jahr (ungefähr 70.000 km Laufleis-
tung) auf Risse zu überprüfen und gegebenenfalls zu reparieren. Besonders bei Eisenbahnen
führten Achsbrüche zu teils verheerenden Unfällen. Systematische Schwingfestigkeitsunter-
suchungen wurden ab 1860 von August Wöhler an Eisenbahnachsen durchgeführt [301]. Er
konstruierte dafür nicht nur Prüfmaschinen für Axial-, Biege- und Torsionsbelastung, sondern
führte auch Belastungsmessungen im Eisenbahnbetrieb durch [300]. 1870 schlussfolgerte
Wöhler im Abschlussbericht zu seinen Versuchen [302]:
Der Bruch des Materials lässt sich auch durch vielfach wiederholte Schwingungen,
von denen keine die absolute Bruchgrenze erreicht, herbeiführen. Die Differen-
zen der Spannungen, welche die Schwingungen eingrenzen, sind dabei für die
Zerstörung des Zusammenhanges maßgebend. Die absolute Größe der Grenz-
spannungen ist nur in soweit von Einfluss, als mit wachsender Spannung die
Differenzen, welche den Bruch herbeiführen, sich verringern.
Er hat damit erkannt, dass die Schwingbreite der Spannungen bzw. die Spannungsamplitude
entscheidend für die Ermüdung des Materials ist und auch die Mittelspannung Einfluss auf
die Höhe der ertragbaren Spannungen hat. Die grafische Darstellung dieses Zusammenhangs,
welche heute als Wöhlerlinie bezeichnet wird, und deren mathematische Beschreibung in
Form eines Potenzansatzes erfolgte allerdings erst 1910 durch Basquin [104].
Ein wichtiger Schritt zur betriebsfesten Auslegung variabel beanspruchter Bauteile war die
Hypothese der linearen Schadensakkumulation. Sie wurde zwischen 1924 und 1945 gleich
mehrfach erfunden, wird aber nach der Veröffentlichung von Miner 1945 [226] als Miner-Regel
bezeichnet.
Der Begriff und das heute bekannte Konzept der Betriebsfestigkeit sind eng mit dem Na-
men Ernst Gaßner verbunden. Er untersuchte ab 1939 in ersten Betriebsfestigkeitsversuchen
die Wirkung variabler Beanspruchungsamplituden auf die Lebensdauer. Dabei fasste er alle
im Betrieb eines Bauteils auftretenden Belastungen nach Größe und Häufigkeit geordnet
als Belastungskollektiv zusammen und forderte Bauteile für eine vorgegebene Lebensdau-
er und nicht nur für eine bestimmte Belastungshöhe zu bemessen. Seine Veröffentlichung
»Betriebsfestigkeit, eine Bemessungsgrundlage für Konstruktionsteile mit statistisch wech-
selnden Betriebsbeanspruchungen« [150] von 1954 ist die erste geschlossene Darstellung des
Betriebsfestigkeitskonzeptes. Eine rasante Weiterentwicklung des Wissensstandes erfolgte
1.3 Ziele und Aufbau des Buches 5
mit der Entwicklung des Flugzeugbaues und der Automobilindustrie im 20. Jahrhundert.
Die Notwendigkeit zum teilweise extremen Leichtbau hat maßgeblich zur Entwicklung der
heutigen analytischen und experimentellen Methoden der Betriebsfestigkeit geführt. Einen
weiteren Schub erhielt die Betriebsfestigkeit mit der Entwicklung der digitalen Rechentechnik
und deren Einführung in den Prüfanlagenbau.
Noch heute gültig fasst Macherauch [213] den Prozess der Materialermüdung folgendermaßen
zusammen:
Das Ermüdungsverhalten metallischer Werkstoffe ist eng mit dem Auftreten plas-
tischer Verformungen verknüpft. Die Kumulierungen plastischer Wechselver-
formungen, bei denen örtlich Werkstoffumwandlungen, Ausscheidungen, Gefü-
geveränderungen usw. auftreten können, führen zur Bildung mikroskopischer
Ermüdungsrisse, von denen meist einer Ausgangspunkt des die Lebensdauer
begrenzenden Makrorisses ist.
Dabei können die Plastifizierungen auf submikroskopische Bereiche begrenzt sein. In der
Grundlagenforschung zur Materialermüdung wird heute davon ausgegangen, dass sich Mikro-
risse bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Ermüdungsschädigung bilden, also lange vor
dem technischen Anriss, und dass die weiteren Schädigungsvorgänge in starkem Maße durch
das Verhalten dieser kleinen Risse geprägt werden. Für die Anwendung am Bauteil steht aber
noch immer der technische Anriss oder das Bauteilversagen durch Bruch im Vordergrund der
Betrachtung.
Für einen umfassenden Überblick zur historischen Entwicklung der Betriebsfestigkeit werden
die Geschichte der Schwingfestigkeit von Schütz [68] sowie Bauteilermüdung von Zenner [84]
(unter besonderer Würdigung der Leistungen Wöhlers) empfohlen.
Wozu dieses Buch? Diese Frage ist durchaus berechtigt, zeigt doch die kurze Literaturübersicht
am Ende des Abschnitts 1.1, wie viele Fachbücher es bereits zum Thema Betriebsfestigkeit gibt.
Dies ist jedoch kein Fachbuch für den Betriebsfestigkeits-Spezialisten, der aktuelle Trends in
der Forschung oder ein umfassendes Kompendium zum Fachgebiet sucht. Das vorliegende
Buch soll vielmehr die Lücke zwischen einem solchen Fachbuch und den Grundlagenbü-
chern zur Technischen Mechanik und zur Konstruktionslehre schließen. Dabei wurde Wert
auf eine jeweils in sich abgeschlossene Darstellung der einzelnen Teilgebiete gelegt. Viele
Probleme beim Verständnis der Betriebsfestigkeit liegen nach Erfahrung der Autoren auch
darin begründet, dass oftmals statistische Methoden und Zusammenhänge benötigt werden.
Daher werden die zum Verständnis benötigten statistischen Grundlagen in einem eigenen
Kapitel gesondert behandelt.
6 1 Einleitung
Das Hauptanliegen ist es, Studierende und in der Praxis tätige Ingenieure mit der Durchfüh-
rung und den theoretischen Hintergründen des rechnerischen Festigkeitsnachweises vertraut
zu machen. Der rechnerische Festigkeitsnachweis auf Grundlage abgeschätzter Kennwerte
ist der in der Praxis am häufigsten anzutreffende Fall, sei es während des Entwicklungs- und
Konstruktionsprozesses oder zur Freigabe eines fertigen technischen Produktes. Somit stellen
die Kapitel 7 bis 9 zu den rechnerischen Festigkeitsnachweisen sowohl thematisch als auch
im Umfang den Hauptteil des Buches dar. Die Kapitel behandeln
• den statischen Festigkeitsnachweis: bei rein statischer Beanspruchung bzw. nur sehr
geringen veränderlichen Lastanteilen und zur Absicherung gegen Sonder- und Miss-
brauchslasten,
• den Dauerfestigkeitsnachweis: für die Auslegung eines Bauteils für große Lastzyklenzah-
len bzw. auf eine rechnerisch unbegrenzte Lebensdauer im Sinne der Schwingfestigkeit1
• und den Betriebsfestigkeitsnachweis: für eine begrenzte geforderte Lebensdauer bei
variabler Beanspruchung mit Amplituden oberhalb der Dauerfestigkeit.
Für jeden Nachweis wird auf die verschiedenen Konzepte mit der Unterscheidung in experi-
mentell ermittelte oder abgeschätzte Bauteilwöhlerlinien sowie auf Behandlung geschweißter
und nicht geschweißter Bauteile eingegangen.
Abbildung 1.1 zeigt die thematische Zuordnung der einzelnen Buchkapitel am Beispiel des
Betriebsfestigkeitsnachweises. Diese Abbildung mit ihren zahlreichen Beziehungen mag für
den Einsteiger zunächst verwirrend wirken. Die Autoren hoffen aber, dass dieses Buch Klarheit
bringt. Der Aufbau der einzelnen Festigkeitsnachweise wird in den Kapitel 7 bis 9 ausführlich
beschrieben und wenn notwendig, ist auf die vorangegangenen Kapitel verwiesen.
Heute ist die Spannungsberechnung mittels der Finite-Elemente-Methode der Standard im
Maschinenbau. Die so ermittelten Spannungen sind bei linearelastischer Berechnung lokale
Kerbspannungen. Die Bewertung der Spannungen erfolgt daher auch anhand dieser Größen
und nicht wie früher üblich in Nennspannungen unter Anwendung von Form- und Kerbwir-
kungszahlen. Daher werden in diesem Buch auch konsequent Kerbspannungen verwendet.
Ausnahmen sind die Klassier- und Zählverfahren in Kapitel 5 und die experimentellen Metho-
den in Kapitel 10. Die Darstellung erfolgt, wie für diese Gebiete üblich, in Nennspannungen.
Die Bewertung der Spannungen erfolgt in der Praxis häufig mit der FKM-Richtlinie. Daher
bezieht sich dieses Buch auch häufig darauf. Das geschieht in den einzelnen Abschnitten
stets dort, wo es fachlich passt und ist durch den grau hinterlegten Text gekennzeichnet.
So sollen der Zugang zur Richtlinie erleichtert und gleichzeitig die Hintergründe und An-
wendungsgrenzen deutlich werden. Einige Formelzeichen werden in der Richtlinie anders
verwendet als sonst in diesem Buch. So wird die Fließgrenze mit R p , anstatt mit R e bezeichnet
1
Die Lebensdauer kann unabhängig davon auch durch Korrosion oder Verschleiß begrenzt sein.
1.3 Ziele und Aufbau des Buches 7
Bauteil Belastung
Werkstoff Oberfläche Geometrie
Beanspruchungs-
Schwingfestigkeit des Bauteils kollektiv
Spannungszustand
Kapitel 4:
Statistische Grundlagen
Kapitel 9:
Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Nachweis der
geforderten Lebensdauer
und die Bauteildauerfestigkeit mit σAK anstelle σDK . In den entsprechenden Abschnitten
wurden die Bezeichnungen aus der FKM-Richtlinie übernommen. Dieses Buch bietet aller-
dings keinen Fahrplan nach dem der Festigkeitsnachweis mit der FKM-Richtlinie zu führen
ist und kann diese auch keinesfalls ersetzen. Es ist ein Lehr- und Fachbuch zur Betriebsfes-
tigkeit mit dem Fokus auf den spannungsbasierten Festigkeitsnachweis auf Grundlage von
FEM-Berechnungen mit Anwendungshinweisen zur FKM-Richtlinie.
In zahlreichen Abbildungen werden Wöhlerlinien mit einzelnen Versuchsergebnissen gezeigt.
Dies dient lediglich zur Veranschaulichung der Streuung und der statistischen Auswertung
und die Werte sind synthetisch (fiktiv). Die Autoren haben sich dazu entschieden keine
konkreten Versuchsergebnisse zu verwenden, damit diese nicht vorschnell zur Bauteilausle-
gung herangezogen werden, ohne genaue Kenntnis zu den Versuchsbedingungen und den
verwendeten Bauteilen und Proben zu haben. Dazu zählen z. B. Werkstoffzustand, Belas-
tungsart, Geometrie, Versagenskriterium und Umgebungsmedien. In Kapitel 3 werden die
verschiedenen Einflüsse auf die Schwingfestigkeit metallischer Bauteile und Proben ausführ-
lich beschrieben. Konkrete Versuchsergebnisse in Form von Einzelversuchen, Wöhlerlinien
oder Lebensdauerlinien sind u. a. in [131, 133, 134, 181] zu finden.
1.4 FKM-Richtlinien
In der ehemaligen DDR war Dresden ein Zentrum der Betriebsfestigkeit. Hier hatte das Insti-
tut für Leichtbau (IfL) seinen Sitz, das aus den 1961 geschlossenen Dresdener Flugzeugwerken
hervorging und an der TU Dresden wurde 1971 erstmalig an einer deutschen Hochschule
eine Professur für Technische Mechanik und Betriebsfestigkeit eingerichtet. Eine der Auf-
gaben des IfL war die Erarbeitung von DDR-Standards für den Leichtbau. So entstanden
auch die TGL-Standards [88, 89, 90] zur Betriebsfestigkeit. Sie sind im Leichtbau-Handbuch
des IfL [26] zusammenfassend dargestellt. Durch die Fachzeitschrift IfL-Nachrichten wur-
den diese Forschungsergebnisse auch in Westdeutschland bekannt. Der Initiative von Prof.
Zenner (TU Clausthal) ist es zu verdanken, dass sie nach der politischen Wende nicht in
Vergessenheit gerieten. Er initiierte mehrere öffentlich geförderte Forschungsvorhaben beim
Forschungskuratorium Maschinenbau (FKM) im Arbeitskreis Bauteilfestigkeit, mit dem Ziel
ein einheitliches Regelwerk für den rechnerischen Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile
zu entwickeln. So entstand unter Federführung der aus dem IfL hervorgegangenen IMA Mate-
rialforschung und Anwendungstechnik GmbH 1994 die erste Auflage der Richtlinie für den
rechnerischen Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile [93, 162]. Neben den TGL-Standards
fanden dort auch andere Regelwerke wie z. B. VDI 2226, DIN 18800 oder IIW-Empfehlungen
Eingang. Die FKM-Richtlinie wurde und wird ständig durch zahlreiche Forschungsvorhaben
weiterentwickelt und liegt ab 2020 in der 7. Auflage vor.
1.4 FKM-Richtlinien 9
Kapitel 0
Allgemeines
Kapitel 1 Kapitel 2
Statischer Festigkeitsnachweis Statischer Festigkeitsnachweis
Kapitel 3 Kapitel 4
Ermüdungsfestigkeitsnachweis Ermüdungsfestigkeitsnachweis
Die aktuell 7. Auflage der FKM-Richtlinie [95] erlaubt den einheitlichen rechnerischen Festig-
keitsnachweis von nichtgeschweißten und geschweißten Bauteilen aus Stahl-, Eisenguss- und
Aluminiumwerkstoffen im Maschinen- und Anlagenbau. Der Anwender kann allein aufgrund
von Kennwerten aus dem Zugversuch durchgängig den statischen Festigkeitsnachweis und
den Ermüdungsfestigkeitsnachweis führen. Abhängig von der Beanspruchungscharakteristik
kann der Ermüdungsfestigkeitsnachweis als Dauerfestigkeitsnachweis, Zeitfestigkeitsnach-
weis oder Betriebsfestigkeitsnachweis erfolgen. Im Aufbau zeichnet sich die Richtlinie durch
einen lückenlosen, durchgängigen Berechnungsalgorithmus aus, so dass dem Anwender
wenig eigene Entscheidungen abverlangt werden.
Die Beanspruchungen im Bauteil werden linearelastisch berechnet, weshalb der Festigkeits-
nachweis mit der FKM-Richtlinie zu den elastischen, spannungsbasierten Konzepten gehört.
Ein großer Vorteil besteht in der Möglichkeit mittels der FEM berechnete Kerbspannungen
als Eingangsgröße für den Nachweis zu verwenden. Diese werden als örtliche Spannungen
bezeichnet. Somit entfällt im Unterschied zu anderen Regelwerken die Notwendigkeit zur De-
finition einer Formzahl, was bei Bauteilen mit komplizierter Geometrie und Belastung häufig
nicht sinnvoll möglich ist. Zusätzlich ist auch der Nachweis mit Nennspannungen möglich.
Damit kann der Festigkeitsnachweis auch für »händische« Spannungsberechnungen unter
Verwendung von Formzahlen erfolgen. Abbildung 1.2 zeigt den Aufbau und die Gliederung
der Richtlinie.
Die Spannungsermittlung selbst ist nicht Bestandteil der Richtlinie, lediglich deren Bewer-
tung in Bezug auf die Bauteilfestigkeit. Das bedeutet, der Anwender ist selbst verantwortlich
für die korrekte Berechnung der Spannungen, z. B. bei der Anwendung der FEM. Einige
10 1 Einleitung
Hinweise dazu sind in Abschnitt 6.3 zu finden. Nachweise gegen Stabilitätsversagen oder
Sprödbruch bei schlagartiger Belastung sind nicht Bestandteil der Richtlinie. Weiterhin gilt
der Ermüdungsfestigkeitsnachweis erst ab Lebensdauern von N > 104 Lastzyklen. Im nie-
derzyklischen Bereich mit N < 104 steigt der Anteil der plastischen Dehnungen, weshalb die
Beanspruchungen nicht mehr linearelastisch berechnet werden können. Diese Fälle sind
in der 2019 erstmals erschienenen FKM-Richtlinie (nichtlinear) [91] abgedeckt, welche das
elastisch-plastische Werkstoffverformungsverhalten berücksichtigt, siehe Abschnitt 12.6. Da-
neben existiert noch die FKM-Richtlinie Bruchmechanischer Festigkeitsnachweis, die sich
mit der Bewertung fehlerbehafteter oder angerissener Bauteile befasst. Es existieren also
insgesamt drei FKM-Richtlinien. Für die praktische Anwendung ist die spannungsbasier-
te FKM-Richtlinie Rechnerischer Festigkeitsnachweis von Maschinenbauteilen von größter
Bedeutung. Sie ist stets gemeint, wenn in diesem Buch von der FKM-Richtlinie die Rede ist.
2 Schwingfestigkeit
Das Gebiet der Schwingfestigkeit beschäftigt sich mit der Festigkeit von Bauteilen unter
zyklischer Beanspruchung mit konstanten Amplituden. Es bildet damit die Grundlage für
die weiteren Themen der Betriebsfestigkeit. Dieses Kapitel stellt die wichtigsten Begriffe und
Zusammenhänge dar, die im weiteren Verlauf des Buches benötigt werden.
Das Wachstum von Ermüdungsrissen kann bei metallischen Werkstoffen grob in drei Phasen
eingeteilt werden: die Rissentstehung, den stabilen Rissfortschritt und den Restbruch [66].
Phase 1, die Rissentstehung, findet innerhalb einzelner Kristallite meist an der Bauteiloberflä-
che statt. Dabei führen bereits makroskopisch elastische Beanspruchungen zum Fließen und
damit zu irreversiblen plastischen Verformungen, wobei es zu Abgleitungen in den Kristal-
liten in Richtung der maximalen Schubspannung, den Gleitbändern, kommt. Mit weiteren
Lastzyklen entstehen benachbarte Gleitbänder, wobei es an der Oberfläche zu Intrusionen
und Extrusionen kommt. Der Anriss in Form von Mikrorissen entsteht somit entlang der
Gleitbänder unter einem Winkel von 45° zur Richtung der ersten Hauptspannung (Abbil-
dung 2.1). Oft entstehen in Bauteilen aus Konstruktionswerkstoffen Risse auch an Poren und
Oberflächendefekten oder Werkstoffinhomogenitäten wie nichtmetallischen Einschlüssen. In
diesen Fällen kann die Phase der Rissentstehung bereits nach wenigen Lastzyklen beendet
sein.
In Phase 2, dem stabilen Risswachstum, wachsen einer oder mehrere Risse mit jedem Lastzy-
klus senkrecht zur Richtung der ersten Hauptspannung (Abbildung 2.2). Die Risse werden
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 11
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_2
12 2 Schwingfestigkeit
σ σ σ
Intrusion
Extrusion
σ σ σ
a) b)
Abb. 2.1: a) Entstehung von Gleitbändern, b) Intrusionen und Extrusionen, nach [66]
als Makrorisse bezeichnet wachsen transkristallin, d. h. durch die Kristallite hindurch. Das
Wachstum hält solange an, bis die verbleibende Querschnittsfläche so klein ist, dass das
Bauteil in Phase 3 durch einen Gewaltbruch versagt. Der Anteil der beiden ersten Phasen an
der Bauteillebensdauer hängt neben vielen anderen Einflüssen von der Werkstofffestigkeit
und der Geometrie des Bauteils ab. Allgemein nimmt bei Stahl der relative Anteil des stabilen
Makrorisswachstums mit steigender Festigkeit und damit geringerer Duktilität ab. Außerdem
ist die Risswachstumsphase 2 bei stark gekerbten Bauteilen anteilig länger als bei schwach
gekerbten.
In der makroskopischen Betrachtung von Ermüdungsbruchflächen sind vor allem die Merk-
male der Phasen des stabilen Risswachstums und des Restbruchs erkennbar. Die Oberfläche
im Bereich des stabilen Risswachstums ist fein strukturiert, während der Restbruch die raue
Oberfläche eines Gewaltbruchs zeigt. Wenn die Belastung nicht einstufig, also mit konstanter
Belastungsamplitude, sondern durch veränderliche Amplituden erfolgt, zeigt sich das oft in
Form von Rastlinien. Diese entstehen durch den Wechsel zwischen hohen und niedrigen
Belastungen mit Ruhezeiten des Risswachstums.
Aus dem Erscheinungsbild der Bruchfläche lassen sich wichtige Rückschlüsse auf die Art
der Belastung und deren Höhe sowie die mögliche Schadensursache ziehen. Ist die Rest-
bruchfläche sehr klein, hat eine sehr langsame Rissausbreitung stattgefunden und man muss
die Ursache für die Entstehung des Anrisses zu ergründen suchen. Ist der Flächenanteil der
2.1 Phänomen der Materialermüdung bei Metallen 13
Kristallit (Korn)
Rissstillstand
Oberfläche
Phase 1 Phase 2
Rissentstehung Stabiles Risswachstum
Abb. 2.2: Phasen der Rissentstehung und des stabilen Risswachstums, nach [67]
Biegung schwellend
Biegung wechselnd
Biegung umlaufend
Rissausbreitung relativ klein, war das Bauteil wahrscheinlich überlastet. Hierbei muss aber
die Duktilität des Werkstoffs berücksichtigt werden, denn spröde Werkstoffe haben generell
eine kleine Anrissfläche. Die Belastungsart ruft eine typische Lage der Anrisse und eine ty-
pische Richtung der Risse hervor. Bei Torsion wachsen Ermüdungsrisse z. B. unter 45° zum
Momentenvektor, da dies die Richtung senkrecht zur maximalen Normalspannung ist. Bei
Wechselbiegung werden Anrisse von zwei Seiten aus beobachtet, während bei dazu überlager-
ter Längskraft auch einseitige Anrisse auftreten. Umlaufbiegung führt oft zu Schadensbildern
mit allseitigem Anriss. Eine prinzipielle Darstellung enthält Abbildung 2.3.
Im Betrieb wirken auf ein Bauteil eine oder mehrere Belastungen ein, die konstant oder
zeitlich veränderlich sein können. Diese Belastungen können äußere Kräfte und Momente,
aber auch aufgezwungene Verformungen (z. B. in Pressverbänden) oder Temperaturfelder
sein. Diese äußeren Belastungen stehen im Gleichgewicht mit den daraus resultierenden
Beanspruchungen im Bauteilinneren. Diese wiederum sind hauptsächlich von der Geometrie
(Form und Abmessungen) und der Belastungsart abhängig. Die Beanspruchungen werden
durch mechanische Spannungen σ und τ oder als Verzerrungen ε und γ ausgedrückt, de-
ren Berechnung die Aufgabe der Festigkeitslehre ist. Hier sei dazu auf eine unvollständige
Auswahl an geeigneten Fachbüchern verwiesen [2, 9, 16, 17, 19, 20, 29, 34, 37]. Unter Be-
anspruchbarkeit wird die Beanspruchung verstanden, welche für den Werkstoff und damit
für das Bauteil zulässig sind. Das sind zum Beispiel die statischen Festigkeitskennwerte R m
und R p0,2 oder die Dauerfestigkeit. Im Gegensatz zur Beanspruchung, die berechnet werden
kann, muss die Beanspruchbarkeit experimentell bestimmt oder anhand von Normen und
Richtlinien abgeschätzt werden. Die Aufgabe des (Betriebs)-Festigkeitsnachweises ist es, die
auftretenden Beanspruchungen den Beanspruchbarkeiten gegenüberzustellen und bezüglich
der geforderten Sicherheit zu bewerten.
Spannungen werden in der Betriebsfestigkeit als Nenn- oder Kerbspannungen angegeben
(Abbildung 2.4). Nennspannungen werden nach den Formeln der elementaren Mechanik für
Linientragwerke (Stäbe, Balken, Wellen) für die Grundbelastungsfälle Zug/Druck, Biegung,
Schub und Torsion berechnet. Sie gelten für den betrachteten Bauteilquerschnitt ohne die
spannungserhöhende Wirkung von Kerben zu berücksichtigen Zur Abgrenzung gegenüber
Kerbspannungen werden die Symbole S für Nenn-Normalspannungen und T für Nenn-
Schubspannungen verwendet. Teilweise findet sich in der Literatur auch die Bezeichnung mit
dem Index n als σn bzw. τn . Als Kerbspannungen werden die unter Annahme der linearen
Elastizitätstheorie berechneten lokalen Spannungen im Bauteil unter Berücksichtigung der
2.2 Grundlegende Begriffsdefinitionen 15
F F
σmax
S
Kerbspannung Nennspannung
σmax=Kt·S S=F/A
F F
Kerbe bezeichnet. Für Kerbspannungen werden im Folgenden die Symbole σ und τ verwendet.
Mittels Formzahl als dimensionsloser Faktor (K t ≥ 1) kann die Maximalspannung in Kerben
aus der Nennspannung berechnet werden:
σmax = K t ⋅ S. (2.1)
Die FKM-Richtlinie bietet die Nachweisführung mit Nenn- und mit Kerbspannungen an.
Allerdings werden Kerbspannungen dort als örtliche Spannungen bezeichnet. Das kann
insofern zu Verwechslungen führen, als dass örtliche Spannungen auch als die Spannungen
bezeichnet werden, die sich nach Überschreiten der Elastizitätsgrenze in Kerben einstellen.
Sie unterscheiden sich aufgrund der damit verbundenen Spannungsumlagerung von elastisch
berechneten Kerbspannungen.
16 2 Schwingfestigkeit
Üblich ist auch die Verwendung von Nennspannungen bei der experimentellen Bauteilprü-
fung oder bei experimentell ermittelten Wöhlerlinien. Bei linearelastischer Spannungsbe-
rechnung macht es für den Festigkeitsnachweis keinen Unterschied, welche Definition der
Spannung verwendet wird. In diesem Fall können sie stets über einen Faktor ineinander umge-
rechnet werden. Ausführlich wird auf die Ermittlung der in Bauteilen wirkenden Spannungen
in Kapitel 6 eingegangen. Entscheidend ist, dass Beanspruchung und Beanspruchbarkeit
zwingend mit den gleichen Beanspruchungsgrößen beschrieben werden müssen.
Bei zyklischer Beanspruchung ist das Schwingspiel bzw. der Lastzyklus das für die Materia-
lermüdung relevante Ereignis. Die Kenngrößen, mit denen ein Schwingspiel charakterisiert
wird, zeigt Abbildung 2.5. Sie sind dort anhand von Kerbspannungen σ definiert, gelten aber
analog auch für Schubspannungen, Nennspannungen, Dehnungen oder äußere Belastungen.
Als zyklisch wird eine wiederkehrende Beanspruchung bezeichnet. Bleiben Maximal- und
Minimalwert und damit auch die Amplitude konstant, wird dies als einstufige Beanspruchung
bezeichnet. Die Schwingbreite Δσ ergibt sich aus der Differenz der Extrema:
Δσ = σo − σu . (2.2)
In der Schwingfestigkeit wird ein Schwingspiel üblicherweise mit den Größen Spannungsam-
plitude
σo − σu Δσ
σa = = (2.3)
2 2
σo
σa
Spannung
σm
Δσ
Zeit
σu
Spannung
Zeit
und Mittelspannung
σo + σu
σm = (2.4)
2
beschrieben. Die absolute Lage des Schwingspiels wird durch das Spannungsverhältnis R
charakterisiert1 :
σu
R= . (2.5)
σo
Damit lässt sich auch der Zusammenhang zwischen Spannungsamplitude und Mittelspan-
nung ausdrücken als
1−R
σa = ⋅ σm . (2.6)
1+R
1
Der dafür früher für das Spannungsverhältnis verwendete κ-Wert kann folgendermaßen in R umgerechnet
werden: für ∣σo ∣ ≥ ∣σu ∣ ist κ = R und für ∣σo ∣ < ∣σu ∣ ist κ = 1/R.
18 2 Schwingfestigkeit
zyklisch
zügig
Dehnung ε
Abb. 2.7: Zügige und zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve für zyklisch verfestigenden Werkstoff
(schematisch)
In Abbildung 2.8 ist beispielhaft eine ZSD-Kurve, wie sie für duktile Stähle typisch ist, darge-
stellt. Die durchgezogene Linie beschreibt die Hysterese, die sich bei einstufiger Beanspru-
chung im Spannungs-Dehnungs-Pfad einstellt. Aufgrund des elastisch-plastischen Material-
verhaltens verläuft die Verformung zwischen den Punkten A und B nicht entlang des gleichen
Pfades, sondern wie mit den Pfeilen angedeutet. Nach Lastrichtungsumkehr ist die Verfor-
mung zunächst wieder elastisch und verläuft mit dem Anstieg des E-Moduls, bevor wieder die
zyklische Elastizitätsgrenze erreicht ist. Die ZSD-Kurve ergibt sich aus den Umkehrpunkten
der Hysteresen von Lastzyklen mit jeweils unterschiedlicher Dehnungsamplitude.
Die mathematische Beschreibung der Kurve erfolgt oft durch Addition der elastischen und
plastischen Dehnungsanteile nach Ramberg-Osgood [239]:
′
σa σa 1/n
εa,t = εa,el + εa,pl = +( ′) . (2.7)
E K
Dafür müssen neben dem E-Modul auch der zyklische Verfestigungskoeffizient K ′ und der
2.2 Grundlegende Begriffsdefinitionen 19
Δε A
σ
Δσ
Spannung
Dehnung
ε
ZSD-Kurve
Δσ
Hystereseäste
B Δε
zyklische Verfestigungsexponent n ′ bekannt sein. Weiterhin ist zu beachten, dass in Gl. (2.7)
keine explizite Streckgrenze, bis zu der keine plastischen Dehnungen auftreten, definiert ist,
sondern für alle Werte der Spannung stets Anteile elastischer und plastischer Dehnung ent-
halten sind. Die mathematische Beschreibung der Hystereseäste erfolgt nach dem Ansatz von
Masing (Masing-Kriterium) [219]. Dieser verwendet die für viele metallische Werkstoffe zutref-
fende Annahme, dass Hystereseäste durch die in Spannungen und Dehnungen verdoppelte
zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve beschrieben werden können:
′
Δσ Δσ 1/n
Δε = +2( ′ ) . (2.8)
E 2K
Die Hystereseäste stellen sich als im Maßstab 1:2 vergrößerte Kurven der ZSD-Kurve dar,
indem die Schwingbreiten Δε und Δσ den doppelten Amplituden εa,t bzw. σa entsprechen.
Diese Beschreibung des elastisch-plastischen zyklischen Werkstoffverhaltens wird vor allem
beim Kerbdehnungskonzept2 benötigt, auf welches im Anhang unter Abschnitt 12 einge-
gangen wird. Allerdings ist das Verständnis über das zyklische Werkstoffverhalten für die in
Abschnitt 5.2.2 behandelte Rainflow-Zählung notwendig.
2
Dieses wird auch als Örtliches Konzept bezeichnet. Diese Bezeichnung darf nicht mit dem rein spannungsba-
sierten und elastischen Nachweis mit örtlichen Spannungen in der FKM-Richtlinie verwechselt werden.
20 2 Schwingfestigkeit
Kurzzeitfestigkeit
Spannungsamplitude σa (log.)
Rm
Formdehngrenze
Zeitfestigkeit
σD
Dauerfestigkeit bzw.
Langzeitfestigkeit
103...104 ND ≈ 106...107
Lastzyklen N (log.)
Für die Betriebsfestigkeit sind im Wesentlichen die Bereiche der Dauer- und der Zeitfestigkeit
von Bedeutung. Im Bereich der Zeitfestigkeit nimmt mit fallender Spannungsamplitude die
ertragbare Lastzyklenzahl überproportional zu. Der Zusammenhang kann nach [104] durch
eine Potenzfunktion beschrieben werden:
−k
N = C ⋅ (σa ) (2.10)
Es empfiehlt sich Spannung z. B. auf 1 MPa zu normieren.6 Bei der heute üblichen doppelt-
logarithmischen Achsenauftragung7 ergibt sich für Gleichung (2.10) ein gerader Verlauf der
Wöhlerlinie und der Anstieg der Geraden ist durch den Wöhlerlinienexponenten k bestimmt:
Abbildung 2.10 zeigt die beiden prinzipiellen Möglichkeiten der doppeltlogarithmischen Dar-
stellung der Wöhlerlinie. Das kann wie auf der linken Seite gezeigt durch eine logarithmisch
verzerrte Darstellung der Achsen geschehen. Das wird durch (log.) an der Achsenbezeichnung
gekennzeichnet. Alternativ dazu können direkt die Logarithmen der Spannungsamplitude
lg(σa ) und der Lastzyklenzahl lg(N ) bei linearer Achseneinteilung dargestellt werden.
Es ist zu beachten, dass Wöhlerlinien mathematisch üblicherweise als Funktion N = f (σa )
beschrieben werden, die grafische Darstellung im Gegensatz dazu aber mit den Lastzyklen
auf der horizontalen und den Spannungsamplituden auf der vertikalen Achse erfolgt.
6
Ansonsten ist C keine dimensionslose Konstante und ihre Einheit vom Exponenten k abhängig.
7
Im angelsächsischen Raum wird nur die Achse der Lastzyklen logarithmisch aufgetragen, während die Span-
nungsamplitude linear aufgetragen ist.
22 2 Schwingfestigkeit
400 2,6
σa/MPa (log.)
lg(σa/MPa)
2,4
200
2,2
100 2
103 104 105 106 107 3 4 5 6 7
N (log.) lg(N)
Die Zeitfestigkeitsbereich ist zu kleinen Spannungsamplituden hin vom Bereich der Dauer-
bzw. Langzeitfestigkeit begrenzt. Ab einer bestimmten Lastzyklenzahl ND ≈ 106 . . . 107 , auch
Abknickpunkt der Wöhlerlinie bezeichnet, geht diese in einen flachen bis horizontalen Verlauf
über. Dieser Punkt wird zur mathematischen Beschreibung genutzt. In der Realität bildet
sich allerdings kein Knick, sondern ein kontinuierlicher Übergang aus. Der Bereich dieses
kontinuierlichen Übergangs ist durch relativ große Streuungen gekennzeichnet.
Die Konstante C in der Wöhlerliniengleichung (2.10) besitzt keine physikalische Bedeutung.
Daher wird die Gleichung häufig als Punktrichtungsgleichung durch den Abknickpunkt (σD ;
ND ) formuliert:
1
N −k
σa = σD ⋅ ( ) (2.12)
ND
bzw. umgestellt nach N :
σa −k
N = ND ⋅ ( ) . (2.13)
σD
Diese Form hat den Vorteil, dass auch die Informationen über Dauerfestigkeit und Abknick-
lastzyklenzahl mit enthalten sind. Der Zusammenhang mit der Konstante C in Gleichung
(2.10) ergibt sich durch Logarithmieren und Koeffizientenvergleich zu
ND ⋅ (σD )k = C . (2.14)
Wöhlerlinientypen
Anhand des Verlaufs der Wöhlerlinie nach dem Abknickpunkt werden zwei prinzipielle Ty-
pen unterschieden, die in Abbildung 2.11 dargestellt sind. Werkstoffe mit Wöhlerlinien vom
Typ I zeigen eine ausgeprägte Dauerfestigkeit. In diesen Fällen geht die Wöhlerlinie für hohe
Schwingspielzahlen in eine Waagerechte über. Dieses Verhalten ist typisch für niedrig- und
2.3 Beanspruchbarkeit bei konstanter Amplitude 23
Spannungsamplitude σa (log.)
Wöhlerlinientyp II ohne ausgeprägte Dauerfestigkeit
σD
ND
Lastzyklen N (log.)
gleichsweise milden Kerben der Fall. Die Wöhlerlinien zeigen hier nach einem zunächst fast
horizontalen Verlauf einen weiteren Abfall der Schwingfestigkeit ab ca. 108 Lastzyklen. Sie
werden auch als Wöhlerlinien vom Typ III bezeichnet. Bei scharf gekerbten Stahlbauteilen
zeigt sich hingegen meist eine ausgeprägte Dauerfestigkeit. Ein guter Überblick über das
Schwingfestigkeitsverhalten im VHCF-Bereich ist z. B. in [111, 140, 238] zu finden. In diesem
Buch wird bei der Verwendung der Begriffe Dauerfestigkeit bzw. Dauerfestigkeitsnachweis
der Wöhlerlinientyp I vorausgesetzt und die Ausführungen beziehen sich auf Bauteile mit
ausgeprägter Dauerfestigkeit. Ausnahmen davon, z. B. bei geschweißten Bauteilen, werden
extra gekennzeichnet.
Der zweitgrößte beanspruchungsseitige Einfluss auf die ertragbare Lastzyklenzahl ist nach
der Spannungsamplitude die zum Schwingspiel gehörende Mittelspannung. So wird die er-
tragbare Spannungsamplitude durch überlagerte Zugmittelspannungen herabgesetzt und
durch überlagerte Druckmittelspannungen erhöht. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und
unterscheiden sich für verschiedene Werkstoffe. So werden Gleitvorgänge bei der Bildung
und dem stabilen Fortschreiten von Ermüdungsrissen durch gleichzeitig wirkende Normal-
spannungen erleichtert und durch auf die Gleitebene wirkende Druckspannungen erschwert.
Weiterhin führt eine durch die Mittelspannung erhöhte Oberspannung eher zu plastischem
Fließen und bei zyklischer Belastung zu einer fortschreitenden Schädigung.
Der Mittelspannungseinfluss ist bei der Dauerfestigkeit besonders stark ausgeprägt und
nimmt zur Kurzzeitfestigkeit hin ab. Der Begriff Dauerfestigkeit ist dabei der Oberbegriff
bei beliebigen Mittelspannungen bzw. Spannungsverhältnissen. Speziell werden die Begriffe
Wechselfestigkeit für R = −1 und Schwellfestigkeit für R = 0 verwendet. Die Definition der
Schwellfestigkeit unterscheidet sich in der Literatur. In diesem Buch ist damit die Ampli-
tude der Dauerfestigkeit bei R = 0 gemeint. In vielen Konstruktionsbüchern, z. B. [64] wird
abweichend davon die Schwingbreite Δσ bei R = 0 und somit die doppelte Amplitude als
Schwellfestigkeit bezeichnet.
In Dauerfestigkeitsschaubildern werden die dauerhaft ertragbaren Amplituden über der
Mittelspannung aufgetragen. Früher war vor allem im Maschinenbau das Dauerfestigkeits-
schaubild nach Smith sehr verbreitet. Heute ist die Darstellung nach Haigh üblich. Dieses hat
vor allem den Vorteil, dass verschiedene Betriebspunkte (σa ; σm ) direkt eingetragen werden
und der Sicherheitsfaktor abgelesen werden kann.
2.3 Beanspruchbarkeit bei konstanter Amplitude 25
2.3.2.1 Smith-Diagramm
σ σ
Rm
Re
σo
σa
σsch Δσ
σw
σm
σm t
σu
2.3.2.2 Haigh-Diagramm
Im Dauerfestigkeitsschaubild nach Haigh [161] wird, wie in Abbildung 2.13 gezeigt, die er-
tragbare Spannungsamplitude direkt über der Mittelspannung aufgetragen. Die Amplitude
der Dauerfestigkeit wird abhängig von der Mittelspannung durch die Grenzkurve darge-
stellt. Diese geht bei Annäherung der Mittelspannung an die statische Festigkeit gegen Null.
Weiterhin können Linien mit konstantem Spannungsverhältnis R strahlenförmig vom Koor-
dinatenursprung ausgehend eingezeichnet werden. Die vertikale Achse entspricht der rein
wechselnden Beanspruchung mit R = −1 und ihr Schnittpunkt mit der Dauerfestigkeitslinie
26 2 Schwingfestigkeit
σa
σw
σsch
R=-1
R=1
Re Rm σm
ist die Wechselfestigkeit. Punkte auf einer Geraden mit einem Winkel von 45° sind bei gleicher
Achseneinteilung rein schwellend beansprucht; R = 0. Die horizontale Achse entspricht einer
rein statischen Beanspruchung mit R = 1, da die ertragbare Spannungsamplitude Null ist.
Diese einfache Zuordnung der Dauerfestigkeit zum Spannungsverhältnis ist ein weiterer
Vorteil des Haigh-Diagramms, da die Schwingbeanspruchung in der Betriebsfestigkeit übli-
cherweise durch die Spannungsamplitude und das Spannungsverhältnis charakterisiert wird.
Sollen plastische Dehnungen vermieden werden, kann die Grenzkurve, wie in Abbildung 2.13
durch die gestrichelte Linie gezeigt, entsprechend abgeschnitten werden. Das ist in vielen
Fällen eine konservative Beschränkung, da viele metallische Werkstoffe unter zyklischer Bean-
spruchung eine Veränderung des Spannungs-Dehnungs-Verhaltens (Ver- oder Entfestigung)
zeigen.
Am Verlauf der Grenzkurve ist gut zu erkennen, dass überlagerte Zugmittelspannungen die
Dauerfestigkeit herabsetzen und Druckmittelspannungen diese erhöhen. Das gilt allerdings
nur für Normalspannungen. Bei Schubbeanspruchung gibt es keine Unterscheidung in Zug-
noch Druckbeanspruchung. Schubmittelspannungen setzen daher die Dauerfestigkeit stets
herab und das Haigh-Diagramm ist symmetrisch zur σa -Achse. Für die näherungsweise
Konstruktion des Haigh-Diagramms existieren verschiedene Ansätze, auf die an dieser Stelle
nicht weiter eingegangen werden soll. Der in der der FKM-Richtlinie verwendete Ansatz für
das Haigh-Diagramm wird in Abschnitt 2.3.2.4 ausführlich beschrieben.
Das Haigh-Diagramm kann auch auf den Zeitfestigkeitsbereich erweitert werden, Abbildung
2.14. Die Grenzlinien beschreiben dann die Schwingfestigkeit bei konstanter Versagens-
schwingspielzahl für verschiedene Spannungsverhältnisse bzw. Mittelspannungen. Dafür
muss für jedes im Haigh-Diagramm zu belegende Spannungsverhältnis eine Wöhlerlinie
vorliegen.
2.3 Beanspruchbarkeit bei konstanter Amplitude 27
R = -1
σa σa
R = -1
R=0
N = 104
N = 105
N = ND
ND (R = 0)
2.3.2.3 Mittelspannungsempfindlichkeit
Die Mittelspannungsempfindlichkeit M wurde von Schütz [246] als Kennwert zur Beschrei-
bung des Mittelspannungseinflusses auf die Schwingfestigkeit eingeführt. Sie ist für die
Dauerfestigkeit als Anstieg der geraden Verbindung zwischen Wechsel- und Schwellfestigkeit8
im Haigh-Diagramm definiert, siehe Abbildung 2.15.
σW − σSch σW
M= = −1 (2.15)
σSch σSch
σa
M = tan α
σw
α
σsch
σsch Rm σm
σD = σW − M ⋅ σm . (2.17)
Diese Beziehung gilt entsprechend auch für den Zeitfestigkeitsbereich und ermöglicht es
aus einer mittelspannungsbehafteten Spannungsamplitude eine schädigungsäquivalente
mittelspannungsfreie Spannungsamplitude zu berechnen9 . In Gleichung (2.17) wird auch die
Bezeichnung als »Empfindlichkeit« klar. Die Mittelspannungsempfindlichkeit ist ein Faktor
zwischen 0 und 1, der angibt, wie stark die Mittelspannung die ertragbare Spannungsamplitu-
de beeinflusst.
Die Mittelspannungsempfindlichkeit wird vereinfacht als reiner Werkstoffkennwert ange-
nommen. Sie ist aber gerade bei Bauteilen aus duktilen Stählen auch von der Bauteil- bzw.
Kerbform abhängig. In scharfen Kerben mit lokal hohen Spannungen kommt es bei rein elas-
tischer Nennbeanspruchung bereits zu lokalem Überschreiten der Streckgrenze. Die dabei
entstehenden Eigenspannungen überlagern sich mit den Mittelspannungen, was im Fall
von Druckeigenspannungen formal zu einer geringeren Mittelspannungsempfindlichkeit
führen kann. Das im nachfolgenden Abschnitt beschriebene modifizierte Haigh-Diagramm
in der FKM-Richtlinie berücksichtigt dies durch eine abgeminderte Mittelspannungsemp-
findlichkeit im Bereich hoher Zugmittelspannungen. Weiterhin ist die Mittelspannungsemp-
findlichkeit von der Beanspruchungsart abhängig und bei Normalspannungen größer als bei
Schubspannungen. Zur besseren Unterscheidung werden dafür die Formelzeichen M σ und
M τ verwendet.
Allgemein steigt die Mittelspannungsempfindlichkeit bei metallischen Werkstoffen mit der
statischen Festigkeit der Legierung an. Abbildung 2.16 zeigt diese Abhängigkeit für verschiede-
ne Werkstoffgruppen. Der Anstieg von M mit steigender Festigkeit ist auch beim Härten von
Werkstoffen zu beachten. Der Vorteil der höheren Wechselfestigkeit eines Werkstoffs durch
9
Diese werden als Ersatzspannungsamplituden bezeichnet und werden für den Betriebsfestigkeitsnachweis
unter variablen Amplituden in Kapitel 9 benötigt. Die Berechnung der Ersatzspannungsamplituden ist in
Abschnitt 5.3.3 genauer beschrieben
2.3 Beanspruchbarkeit bei konstanter Amplitude 29
GS NiCoMo
Al- und Mg- Aluminium-
Mittelspannungsempfindlichkeit M
3.4364.7
G-AlCu4Ti wa
AZ91 HP
3.4354.7
Eisengraphit-
G-AlSi7Mg wa
G-AlSi 11 MgSr
gusswerkstoffe Stähle
3.1254.7
GS 25 CrMo4
0,6
GGG-100 zw.
AM20 HP
3.1354.5
GGG-70
GTS-70
NiCoMo
AlMgSi1
0,4
AM 355
GTS-35
AlMg5
AM50 HP
GGG-40
1.7704.6
1.6604.6
PH 15-7 Mo
Streubereich für Rundstäbe
Ti-Leg.
NiCoMo geglüht
0,2 unter einstufiger Biegung
St52
41Cr4
St37
SAE 4130
unter einstufiger Axiabelastung
0
0 500 1000 1500 2000
Zugfestigkeit Rm in MPa
das Härten kann bei hohen Zugmittelspannungen verschwinden. Auch spröde Werkstoffe
wie Sinterstahl und Keramiken haben hohe Mittelspannungsempfindlichkeiten. In Abbildung
2.16 ist auch ersichtlich, dass M als rein empirischer Kennwert auch großen Streuungen un-
terlegen ist. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Mittelspannungsempfindlichkeit infolge
einer Wärmebehandlung der Oberfläche (z. B. durch Einsatzhärten) noch deutlich höhere
Werte annehmen kann. In [115] werden bei einsatzgehärteten Stählen mit einer Zugfestigkeit
von ca. 1000 MPa Werte bis M = 0,7 ermittelt.
Das Haigh-Diagramm wird in der FKM-Richtlinie als mehrfach geknickter Geradenzug be-
schrieben, siehe Abbildung 2.17. Für R ≤ 0 entspricht der Anstieg der Dauerfestigkeitslinie der
in Tabelle 2.1 angegebenen Mittelspannungsempfindlichkeit. Im Bereich hoher Zugmittel-
spannungen R > 0 wird die Steigung der Grenzlinie durch M σ′ = M σ /3 beschrieben. Für R > 0,5,
das entspricht einer Mittelspannung σm = 3 ⋅ σa , nimmt die Dauerfestigkeit bei zunehmender
30 2 Schwingfestigkeit
Mittelspannung nicht weiter ab und die Grenzlinie geht in einen horizontalen Verlauf über.
Damit wird dem bereits erwähnten Aufbau von Eigenspannungen bei lokalem Überschreiten
der Streckgrenze in Kerben Rechnung getragen. Im Bereich von Druckmittelspannungen
steigt die Dauerfestigkeit bis R = ±∞ weiter an und geht danach in einen horizontalen Ver-
lauf über. Entlang der Grenzkurve kann die Dauerfestigkeit bzw. die Schwingfestigkeit für
N = konst. für beliebige Spannungsverhältnisse berechnet werden. Die entsprechenden For-
meln sind in Tabelle 2.2 angegeben. Bei betragsmäßig hohen Werten der Mittelspannung wird
das Haigh-Diagramm durch die statische Festigkeit begrenzt. Das erfolgt durch Abschneiden
der Grenzlinie durch eine Gerade, welche die beiden Koordinatenachsen jeweils bei den
Werten der statischen Festigkeit schneidet. Die Berechnung der statischen Festigkeit nach
FKM-Richtlinie wird in Abschnitt 7 ausführlich beschrieben. Für Schubbeanspruchung wird
ein zur vertikalen Achse symmetrisches Haigh-Diagramm verwendet, dessen Grenzkurve auf
beiden Seiten analog zu Normalspannungen bei Zugmittelspannungen abfällt.
σa
σw
tan(α) = M
tan(α) = M/3
R = -1
tan(α) = 0
R=1 R=1
σm
Tab. 2.2: Berechnung der Dauerfestigkeit aus der Wechselfestigkeit nach FKM-Richtlinie [95]
Gültigkeitsbereich Dauerfestigkeit
1
Druckschwellbereich R ≥1 σD (R ) = σW ( )
1 − Mσ
1
Zug-Druck-Wechselbereich −∞ ≤ R ≤ 0 σD (R ) = σW ( )
1 + M σ (1 + R )/(1 − R )
(1 + Mσ /3)/(1 + Mσ )
niedriger Zug-Schwellbereich 0 ≤ R ≤ 0,5 σD (R ) = σW ( )
1 + (M σ /3) ⋅ (1 + R )/(1 − R )
1 + M σ /3
hoher Zugschwellbereich 0,5 ≤ R ≤ 1 σD (R ) = σW ( )
(1 + Mσ )2
Die Schwingfestigkeit unterliegt erheblichen Streuungen. Die Ursachen der Streuung sind
vielfältig. Gründe sind z. B. statistisch verteilte Werkstoffinhomogenitäten und Fehlstellen
sowie Schwankungen in der Werkstoffzusammensetzung und dem Gefügezustand verschie-
dener Chargen. Wöhlerlinien werden für eine bestimmte Wahrscheinlichkeit angegeben. In
der Betriebsfestigkeit werden die Begriffe Ausfallwahrscheinlichkeit P A und Überlebenswahr-
scheinlichkeit P Ü verwendet, wobei P A + P Ü = 1 ist. Bei einer Wahrscheinlichkeit von P A = 10 %
bzw. P Ü = 90 % versagen 10 % der Bauteile bis zum Erreichen der für diesem Lasthorizont
angegebenen Lastzyklenzahl.
Zunächst soll die Streuung der Lebensdauer im Zeitfestigkeitsgebiet betrachtet werden. Ab-
bildung 2.18 zeigt schematisch die Ergebnisse von mehreren Schwingfestigkeitsversuchen
auf drei verschiedenen Lasthorizonten. Darin sind die Bruchlastzyklenzahlen im Wöhlerdia-
gramm als Punkte eingetragen. Bei Versuchen mit derselben Spannungsamplitude streut die
Lebensdauer. Für jeden Lasthorizont ist zusätzlich die Dichteverteilung der Bruchlastzyklen-
zahlen als graue Fläche dargestellt. Die Lastzyklenzahl am Maximum der Dichteverteilung
beschreibt die Lebensdauer mit 50 % Ausfall- bzw. Überlebenswahrscheinlichkeit N50 % . Mit
steigendem Abstand von dieser Lastzyklenzahl nimmt die Dichte der Brüche ab. Eingetragen
sind die Wöhlerlinien bei 50 % und 10 % Ausfallwahrscheinlichkeit.
Für die Lebensdauer im Zeitfestigkeitsgebiet wird die logarithmische Normalverteilung an-
genommen. Darauf wird in Abschnitt 4.3 ausführlich eingegangen. Im Allgemeinen nimmt
32 2 Schwingfestigkeit
Dauerfestigkeit
σD,50%
σD,10%
ND,50%
N (log.)
ND,10%
die Streuung bei der Zeitfestigkeit hin zu großen Lastzyklenzahlen zu, weshalb die P A = 10 %-
Wöhlerlinie etwas stärker abfällt als die 50 %-Wöhlerlinie.
Demgegenüber streut die Dauerfestigkeit in Richtung der Festigkeit bzw. in Lastrichtung.
Diese streut in Spannungsrichtung. Auch hier liegt beim Maximum der Dichte die 50 %-
Dauerfestigkeit σD,50 % . Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bauteil eine Dauerfestigkeit ober-
oder unterhalb dieses Wertes hat, nimmt mit steigendem Abstand ab. Für die experimentelle
Bestimmung der Dauerfestigkeit werden Proben bis zu einer Grenzlastzyklenzahl NG , die
größer als die Lastzyklenzahl des Abknickpunkts ND,50% sein muss, schwingend belastet und
als Ergebnis Bruch (bzw. ein anderes Ausfallkriterium) oder Durchläufer (kein Bruch bis
NG ) ausgewertet. Bei der Spannungsamplitude σD,50 % ist das Verhältnis aus Brüchen und
Durchläufern im Mittel ausgeglichen, während oberhalb mehr Brüche und unterhalb mehr
Durchläufer auftreten.10 Die Streuung der Dauerfestigkeit ist im Allgemeinen größer als die
der statischen Festigkeit.
Wird ein Bauteil nur mit konstanter Amplitude beansprucht, kann die zu erwartende Lebens-
dauer direkt aus der Wöhlerlinie mit dem gleichen Spannungsverhältnis und der geforderten
Ausfallwahrscheinlichkeit abgelesen werden. Die Konstantamplituden-Beanspruchung wird
auch als einstufige Beanspruchung bezeichnet. Eine mehrstufige Beanspruchung, wie sie
10
Die Verfahren zur experimentellen Bestimmung der Dauerfestigkeit werden in Abschnitt 10.2 behandelt.
2.4 Grundgedanke der linearen Schadensakkumulation 33
σa −k σa −5
N = ND ( ) = 106 ⋅ ( ) .
σD 100 MPa
Diese soll für wechselnde Beanspruchung (R = −1) und eine Ausfallwahrscheinlichkeit von
P A = 50 % gelten. Bei rein einstufiger Beanspruchung mit gleichem Spannungsverhältnis wie
die gegebene Wöhlerlinie kann die Lebensdauer bzw. ertragbare Lastzyklenzahl bis Bruch
direkt aus der Wöhlerlinie ermittelt werden. So ergibt sich z. B. mit der Amplitude σa,1 =
180 MPa aus Gleichung (2.4) die Bruchlastzyklenzahl N1 = 52.922. Der Grundgedanke der
linearen Schadensakkumulation ist nun, dass eine schwingende Beanspruchung mit jedem
Lastzyklus eine Schädigung D in das Bauteil einbringt, die sich mit jedem weiteren Lastzyklus
weiter aufsummiert. Ein Lastzyklus der Amplitude σa führt zu einer Schädigung von
1
D= . (2.18)
N (σa )
Die Schädigung eines Schwingspiels entspricht also dem reziproken Wert der Bruchlastzyklen-
zahl Ni , die mit der Amplitude σa,i entsprechend der Wöhlerlinie zum Bruch führt. Die mit
einer bestimmten Lastzyklenzahl n i aufgebrachte Spannungsamplitude σa,i führt demnach
auf die Schädigung
ni
Di = . (2.19)
Ni
D i ist kleiner als 1, wenn n i < Ni und das Bauteil versagt, wenn n i = Ni ist. In dem Fall
entspricht die Schädigung nach Gleichung (2.19) dem Wert D = 1, siehe Abbildung 2.19.
Im Beispiel soll die Amplitude σa,1 = 180 MPa für n 1 = 30.000 Lastzyklen auf das Bauteil
aufgebracht werden. Die Teilschädigung beträgt dann nach Gleichung (2.19) D 1 = 0,567. Das
bedeutet, nach der linearen Schadensakkumulationshypothese beträgt die Schädigung des
Bauteils nach Aufbringen der n 1 Lastzyklen 0,56 oder 56 %.
34 2 Schwingfestigkeit
σa (log.)
Teilschädigung 0 < Di < 1
Bauteilversagen D = 1
σa,i
ni Ni N (log.)
Jetzt soll mit Hilfe der Schadensakkumulation auch die Lebensdauer berechnet werden,
die ein Bauteil unter mehrstufiger Beanspruchung mit j unterschiedlichen Spannungsam-
plituden (σa,1 ; n 1 ), (σa,2 ; n 2 ) . . . (σa, j ; n j ), einem sogenannten Beanspruchungskollektiv er-
reicht. Alle Spannungsamplituden sollen weiterhin dasselbe Spannungsverhältnis wie die
Wöhlerlinie aufweisen. Die Schädigung des Spannungskollektivs ist dann die Summe der
Teilschädigungen einer jeden Amplitude:
j
ni
D Koll = ∑ . (2.20)
N
i =1 i
Der Kehrwert 1/D Koll ist das Verhältnis dieser Schädigung zur Schädigung beim Bruch (D = 1)
und gibt an, wie oft das Bauteil mit dem Kollektiv beansprucht werden kann bis es zum
Bauteilversagen durch Bruch kommt.
Im konkreten Beispiel soll das Bauteil mit einem zweistufigen Kollektiv beansprucht werden.
Die Spannungsamplitude σa,1 = 200 MPa wird n 1 = 2.000 mal und σa,2 = 170 MPa wird n 2 =
10.000 mal aufgebracht. Damit ergibt sich nach Gleichung (2.20) die Kollektivschädigung zu
Das Kollektiv bestehend aus n 1 +n 2 = 12.000 Lastzyklen kann damit bis zum Bruch 0,206
1
= 4,854
mal ertragen werden, was rund 58.250 Lastzyklen entspricht.
Der linearen Schadensakkumulation liegen die Annahmen zugrunde, dass jeder einzelne
Lastzyklus einer konstanten Amplitude in gleichem Maße zur Schädigung beiträgt und die
Reihenfolge der Beanspruchung keinen Einfluss hat. Auf die Fehler infolge dieser Annahmen
wird in Abschnitt 9.3.5 eingegangen.
2.5 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 2 35
Verständnisfragen
Aufgaben
1. Für ein Bauteil wurden für zwei Spannungsamplituden experimentell die Bruchlast-
wechselzahlen mit 50 %-Überlebenswahrscheinlichkeit ermittelt:
σa,1 = 450 MPa → N1,50% = 52404 und
σa,2 = 320 MPa → N2,50% = 367118.
a) Bestimmen Sie die Parameter der 50 %-Wöhlerlinie nach Gleichung (2.10).
b) Berechnen Sie die Abknicklastzyklenzahl ND zur Beschreibung der Wöhlerlinie
nach Gleichung (2.13), wenn zusätzlich die Dauerfestigkeit mit σDK = 274 MPa
bekannt ist.
2. Konstruieren Sie ein Haigh-Diagramm nach FKM-Richtlinie für ein Bauteil aus Ver-
gütungsstahl mit der Zugfestigkeit R m = 900 MPa und der Bauteilwechselfestigkeit
σWK = 400 MPa. Wie groß sind die Bauteildauerfestigkeiten bei den Spannungsver-
hältnissen R = ±∞, R = 0 und R = 0,5?
3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren
Abschätzung
3.1 Werkstoff
Die Wechselfestigkeit eines metallischen Werkstoffs steigt prinzipiell mit größer werdender
statischer Festigkeit1 an. Für die Wechselfestigkeit wird meist ein empirischer Zusammen-
hang mit der Zugfestigkeit, bisweilen auch mit der Streckgrenze formuliert. Als Wechselfes-
tigkeit des Werkstoffs soll hier die Wechselfestigkeit eines polierten Probestabes definierter
Größe unter Zug-Druck-Wechselbeanspruchung verstanden werden. Neben der Zug-Druck-
Wechselfestigkeit wird oft auch die Biegewechselfestigkeit eines Werkstoffs mit angegeben.
Letztere ist im strengen Sinn kein Werkstoffkennwert, da sich infolge der Biegebeanspru-
chung ein inhomogener Spannungszustand einstellt. Als Werkstoffkennwert wird hier ein an
ungekerbten, polierten Proben unter axialer Belastung ermittelter Kennwert bezeichnet.
1
Die Werkstofffestigkeit hat auch Einfluss auf die Mittelspannungsempfindlichkeit und die Kerbempfindlichkeit,
siehe Absatz 3.3. Es ist zu beachten, dass mit zunehmender Werkstofffestigkeit sowohl die Mittelspannungs-
empfindlichkeit als auch die Kerbempfindlichkeit ebenfalls zunehmen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 37
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_3
38 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
In der FKM-Richtlinie wird die Wechselfestigkeit direkt aus der Zugfestigkeit über die Bezie-
hung
σW = f W,σ ⋅ R m (3.1)
τW = f W,τ ⋅ σW . (3.2)
Für duktile Stähle und Al-Knetwerkstoffe ergibt sich der Schubwechselfestigkeitsfaktor f W,τ =
0,577 = √1 entsprechend der Gestaltänderungsenergiehypothese (siehe dazu auch Abschnitt
3
6.2.2). Für Gusseisen mit Lamellengraphit folgt aus der Normalspannungshypothese σW = τW .
Für die Werkstoffgruppen Gusseisen mit Kugelgraphit und Temperguss wird τW über eine
gemischte Festigkeitshypothese mit Anteilen der Gestaltänderungsenergiehypothese und
der Normalspannungshypothese berechnet. Diese ist in Gleichung (6.34) in Abschnitt 7.1
angegeben.
600
500
σW = 0,45·Rm
400
300
200
Versuche
100
FKM-Richtlinie
0
0 200 400 600 800 1000 1200 1400
Zugfestigkeit in MPa
Abb. 3.1: Abschätzung der Wechselfestigkeit aus der Zugfestigkeit für Stahl nach FKM-Richtlinie, Ver-
suchsdaten aus [181] (der Flächeninhalt der Kreise repräsentiert die Anzahl der Einzelversu-
che hinter jedem Wert)
3.2 Größeneinfluss
Die im Labor an kleinen Proben ermittelten Schwingfestigkeiten führen oft zur Überschätzung
der Bauteilfestigkeit und können daher nicht direkt übertragen werden. So haben bereits
dünne ungekerbte Stäbe eine höhere Dauerfestigkeit als dicke Stäbe desselben Werkstoffs,
Abbildung 3.2. Ähnlich ist der Einfluss der Probenlänge: lange Proben haben bei gleichem
Durchmesser eine geringere Dauerfestigkeit als kurze Stäbe. Auch die Art der Belastung und
damit der Spannungszustand beeinflusst die Ergebnisse. Wenn an identischen Stäben die
Dauerfestigkeit einmal für Zug-Druck-Belastung und ein anderes Mal unter Biegung ermittelt
wird, dann ist die Biegedauerfestigkeit bei Stahl um ca. 10 % bis 30 % höher. All diese Effekte
werden unter dem Begriff Größeneinfluss auf die Dauerfestigkeit zusammengefasst. Er kann
nach Kloos [191] in den technologischen, den spannungsmechanischen und den statistischen
Größeneinfluss eingeteilt werden.
Technologischer Größeneinfluss
Fertigungstechnologien wie Erschmelzen, Gießen, Schmieden und Umformen weisen grö-
ßenabhängige Effekte auf. So führt eine geringere Abkühlgeschwindigkeit beim Abschrecken
bei größeren Halbzeugen und Bauteilen auf andere Werkstoffzustände (Gefügeausbildun-
gen) als bei kleineren Bauteilen. Auch die Anzahl und Größe nichtmetallischer Einschlüsse
nimmt mit steigender Bauteilgröße zu. Unterschiedliche Umformgrade führen wiederum auf
40 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
Probendurchmesser
σa (log.)
d3> d2> d1
ႇd1
ႇd2
ႇd3
N (log.)
σa (log.)
2 3 1
2
1 Vergütungsgefüge
3
2 Mischgefüge
3 Ausgangsgefüge N (log.)
In der FKM-Richtlinie wird der technologische Größeneinfluss auf die Zugfestigkeit durch Mul-
tiplikation des technologischen Größenfaktors K d,m mit der Normzugfestigkeit des Werkstoffs
berücksichtigt. Der Größeneinfluss wirkt sich damit auch direkt auf die Wechselfestigkeit aus,
da diese direkt aus der Zugfestigkeit nach Gleichung (3.1) berechnet wird. Der Größenfaktor
ist in Abhängigkeit des effektiven Durchmessers d eff beschrieben, welcher aus dem Verhältnis
von Bauteilvolumen zu -oberfläche bestimmt werden kann. Die Festigkeitsabminderung
infolge des technologischen Größeneinflusses beginnt erst ab einem bestimmten Wert d eff,N ,
3.2 Größeneinfluss 41
der abhängig vom Werkstoff zwischen 15 mm und 250 mm liegt. Für Stahlbauteile gilt für
d eff,N,m ≤ d eff < d eff,max
d
1 − 0,7686 ⋅ a d,m ⋅ lg ( 7,5 eff
mm )
K d,m = d
(3.3)
1 − 0,7686 ⋅ a d,m ⋅ lg ( 7,5eff,N,m
mm )
Die werkstoffabhängigen Faktoren d eff,N,m und a d,m sind in der Richtlinie angegeben. Zur
Berechnung des Größeneinflussfaktors auf die Streckgrenze K d,p wird Gleichung (3.3) mit
entsprechend anderen Faktoren d eff,N,p und a d,p verwendet. In Abbildung 3.4 ist der Ver-
lauf beider Faktoren in Abhängigkeit vom effektiven Bauteildurchmesser beispielhaft für
Vergütungsstahl dargestellt.
Technologischer Größenfaktor Kd,m
1 Vergütungsstahl (vergütet)
0,9
0,8
0,7
Kd,m
0,6
Kd,p
0,5
1 10 deff,N 50 100 200
Spannungsmechanischer Größeneinfluss
Der spannungsmechanische Größeneinfluss beschreibt den Einfluss einer inhomogenen
Spannungsverteilung auf die Schwingfestigkeit. Werkstoffkennwerte, wie die Dauerfestig-
keit, werden an ungekerbten Rundproben unter Zug-Druck-Belastung ermittelt. Dabei ist
die Spannungsverteilung über dem Querschnitt konstant. Bei Bauteilen ist die Spannungs-
verteilung durch die Wirkung von Kerben oder auch der Beanspruchung (z. B. bei Biegung)
nicht mehr homogen, sondern nimmt von der Oberfläche ausgehend ab. Damit wirkt die
maximale Spannung nur in einem kleinen Bereich des Querschnitts, wodurch eine höhere
Spannungsamplitude als bei homogener Beanspruchung ertragen werden kann. Dieser Effekt
42 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
Mb1 Mb1
b1
σmax
Mb2 Mb2
b2
Abb. 3.5: Einfluss des Probendurchmessers auf den Spannungsgradienten bei Biegung
ist als Stütz- oder Kerbwirkung bekannt und wird im nachfolgenden Abschnitt noch genauer
behandelt. Der spannungsmechanische Größeneinfluss zeigt sich bereits beim Vergleich der
Schwingfestigkeit zweier durch Biegung belasteter Flachproben in Abbildung 3.5. Bei gleicher
Maximalspannung ist der Abfall zum Probeninneren hin für die kleinere Probe stärker. Daher
ist auch die Dauerfestigkeit der kleineren Probe höher.
Statistischer Größeneinfluss
Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Fehlstelle, von der Ermüdungsrisse ausgehen
können, steigt mit zunehmender Bauteilgröße. Dieser Effekt ist besonders bei spröden Werk-
stoffen relevant. Ein Ansatz den statistischen Größeneinfluss zu erfassen, ist das Fehlstel-
lenmodell nach Weibull [292], welches in Abschnitt 8.4.3 noch näher behandelt wird. In der
Regel tritt der statistische Größeneinfluss überlagert mit dem technologischen und dem
spannungsmechanischen Größeneinfluss auf. Mit größerem Volumen sind immer auch ferti-
gungsbedingte Einflüsse verbunden und mit steigendem Spannungsgradienten nimmt auch
die Größe des beanspruchten Volumens ab.
3.3 Kerben
Das Thema Kerben und Stützwirkung bei zyklischer Beanspruchung führt immer wieder zu
Missverständnissen, denn je nachdem ob die Beanspruchung als Nenn- oder Kerbspannung
beschrieben wird, führt dies zu scheinbar widersprüchlichen Aussagen. In Nennspannungen
gedacht, setzen Kerben in einem Bauteil die Dauerfestigkeit im Vergleich zu einer ungekerbten
Probe herab. Werden jedoch Kerbspannungen betrachtet, dann ist die Dauerfestigkeit eines
gekerbten Bauteils größer als die Dauerfestigkeit der ungekerbten Werkstoffprobe.
3.3 Kerben 43
Fa,0 Fa,K
σ'K
SD S'K
b b
SD≥ S'K
Dicke t Dicke t
SD≤ σ'K
Fa,0 Fa,K
Dieser scheinbare Widerspruch soll anhand des Beispiels in Abbildung 3.6 geklärt werden.
Dort sind eine ungekerbte und eine gekerbte Probe zyklisch mit einer Axialkraft belastet.
Zudem entspricht die Querschnittsfläche der ungekerbten Probe der Querschnittsfläche in
der Kerbe mit A = b ⋅ t . Beide Proben sollen nun durch die Kraftamplituden F a,0 bzw. F a,K genau
in Höhe der Dauerfestigkeit belastet werden. Dadurch entsprechen die Spannungen in beiden
Proben der jeweiligen Dauerfestigkeit. Es ist leicht einzusehen, dass für die Kraftamplituden
F a,0 > F a,K gelten muss, da in der Kerbe der rechten Probe eine um die Formzahl erhöhte
Maximalspannung wirkt.
In Nennspannungen betrachtet muss dasselbe gelten. Die Dauerfestigkeit der ungekerb-
ten Probe ist höher als die der gekerbten: S D > S DK . Aufgrund der gleichen Querschnittsflä-
chen beider Proben unterscheiden sich die Nennspannungen nur wegen der verschiedenen
Kraftamplituden. Damit stimmt die erste Aussage im oberen Absatz: Kerben verringern die
Dauerfestigkeit.
Allerdings verringert sich aufgrund der Stützwirkung die Nennspannungs-Dauerfestigkeit
nicht in gleichem Maße, wie die Spannung infolge der Kerbe ansteigt. Dann wäre S DK genau
um den Faktor K t kleiner als S D . Sie wird allerdings nur um einen Faktor K f , die Kerbwirkungs-
zahl, verringert:
SD
S DK = , (3.4)
Kf
wobei K f Werte zwischen 1 und K t annehmen kann. Die Grenzfälle K f = 1 und K f = K t gelten
für einen absolut kerbunempfindlichen bzw. einen voll kerbempfindlichen Werkstoff.
44 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
Nun soll das Beispiel anhand der Kerbspannungen betrachtet werden. Für die ungekerbte
Probe gilt S D = σD , da es keine Spannungsüberhöhung gibt. Für den Fall, dass es keine Stütz-
wirkung gäbe, wäre σDK = σD . Da sich aber die Spannungserhöhung nicht voll abmindernd
auf die Dauerfestigkeit auswirkt, ist σDK > σD , was die zweite Aussage des Einleitungsabsatzes
bestätigt. Werden die lokalen Kerbspannungen betrachtet, so ist die Dauerfestigkeit in der
Kerbe aufgrund der Stützwirkung genau um den Faktor K t /K f größer als die Dauerfestigkeit
einer ungekerbten Probe
Kt
σDK = ⋅ σD . (3.5)
Kf
Das bedeutet aber nicht, dass gekerbte Bauteile höher zyklisch belastet werden können. Die
Dauerfestigkeit ist ausgedrückt durch die Belastung F a,K bzw. die Nennspannung S DK geringer
für den gekerbten Stab. Lediglich die maximale Spannung in der Kerbe ist größer. Dieser
Zusammenhang ist noch einmal in Abbildung 3.7 verdeutlicht.
σa
Sa (log.)
(log.)
gekerbt
σDK
ungekerbt ungekerbt
SD σD
gekerbt
SDK
N (log.) N (log.)
In Abbildung 3.7 wird noch ein anderer Effekt der Kerbwirkung ersichtlich. Die Wöhlerlinien
gekerbter Proben und Bauteile verlaufen im Allgemeinen steiler als bei ungekerbten Proben.
Das heißt, der Wöhlerlinienexponent k wird durch Kerben größer. So sind für ungekerbte
Werkstoffproben aus Stahl Werte von k ≈ 10 . . . 20 möglich. Für gekerbte Bauteile ist k = 5 ein
mittlerer Wert. Für scharf gekerbte bzw. angerissene Bauteile oder Schweißverbindungen
sind Exponenten bis k = 3 möglich. Diese Werte gelten bei Normalbeanspruchung. Unter
Schubbeanspruchung verlaufen die Wöhlerlinien meist etwas flacher bzw. mit einem etwas
größeren Exponenten.
Eine Erklärung für die unterschiedlichen Anstiege der Wöhlerlinien gekerbter Bauteile liegt im
Rissforschrittsverhalten. Bei ungekerbten Proben ist unter axialer Belastung die Spannung im
gesamten Querschnitt konstant. Wenn ein wachstumsfähiger Ermüdungsriss entstanden ist,
wächst dieser vergleichsweise schnell durch Gebiete mit dem gleichen Spannungsniveau bis
es zum Bruch der Probe kommt. Die Wöhlerlinien für die beiden Versagenskriterien Anriss und
3.3 Kerben 45
Sa Sa
(log.) ungekerbt (log.) gekerbt
SD
SDK
N (log.) N (log.)
Abb. 3.8: Unterschiedlicher Verlauf der Wöhlerlinien für die Versagenskriterien Anriss und Bruch
Bruch liegen nah beieinander. Bei gekerbten Bauteilen hingegen schließt sich nach dem Anriss
eine deutlich längere Phase des stabilen Ermüdungsrisswachstums an. Risse, die aus dem
Kerbgrund heraus wachsen, erreichen zunächst Gebiete geringerer Grundbeanspruchung, in
denen das Risswachstum deutlich langsamer verläuft (Abbildung 3.8).
3.3.2 Stützzahl
Die Stützwirkung von Kerben auf die Dauerfestigkeit kann durch die Stützzahl n beschrieben
werden2 . Sie entspricht, in Nennspannungen gedacht, dem Verhältnis von Formzahl und
Kerbwirkungszahl
Kt
n= . (3.6)
Kf
Eine große Stützzahl bedeutet also, dass das Verhältnis aus Nenn- und Kerbbeanspruchung
in einer Kerbe größer ist als das Verhältnis der in Nenn- und Kerbspannungen ausgedrückten
Dauerfestigkeiten. Die Kerbe erhöht zwar die wirkenden Spannungen, aber senkt nur in
einem geringeren Maße die Dauerfestigkeiten herab. In Kerbspannungen gedacht, entspricht
die Stützzahl in Gleichung (3.6) genau dem Verhältnis der (Kerbspannungs-)Dauerfestigkeit
eines Bauteils zur Dauerfestigkeit einer ungekerbten Werkstoffprobe
σDK
n= . (3.7)
σD
Damit kann bei bekannter Stützzahl die Bauteildauerfestigkeit σDK aus der Werkstoffdauer-
festigkeit σD berechnet werden. Für die Berechnung der Stützzahl wiederum existiert eine
Vielzahl verschiedener Ansätze. Auf diese wird noch ausführlich in Abschnitt 8.4 eingegangen.
Konkret hängt die Stützzahl von zwei Einflüssen ab. Das ist zum einen der Werkstoff. In der
2
In der Literatur ist oft auch der etwas unglückliche Begriff Stützziffer zu finden. Da n eine reelle Zahl ist und
nicht nur ganzzahlige Werte annehmen kann, ist die Bezeichnung als Stützzahl oder Stützfaktor treffender.
46 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
Regel haben Bauteile aus höherfesten metallischen Werkstoffen bei gleicher Kerbform eine
kleinere Stützzahl als bei geringer Festigkeit. Sie sind also kerbempfindlicher. Zum anderen
hat die Kerbform einen großen Einfluss. So steigt n mit zunehmender Kerbschärfe an. Scharfe
Kerben kennzeichnet eine lokal begrenzte starke Spannungserhöhung. Der Bereich, in dem
sehr hohe Spannungen wirken, ist dort sehr klein. Das ist z. B. der Fall bei geringen Kerbradien.
Bei milden Kerben hingegen nimmt die Spannung zur Kerbe hin langsam zu und der Bereich
hoher Spannungen erstreckt sich auf ein größeres Gebiet. Das ist bei großen Kerbradien
der Fall. Daraus leitet sich auch der Begriff Stützwirkung ab. Er entspricht der Vorstellung,
dass sich in Kerben die hochbeanspruchten Bereiche auf den benachbarten Bereichen mit
niedrigerer Beanspruchung abstützen.
Bezogener Spannungsgradient
Ein verbreiteter Ansatz die Kerbschärfe durch einen einzigen Parameter zu beschreiben ist
die Verwendung des bezogenen Spannungsgradienten χ′ . Dieser geht auf Siebel und Stieler
[253, 273, 254] zurück und wird auch in der FKM-Richtlinie verwendet. Wie Abbildung 3.9
verdeutlicht, entspricht der Spannungsgradient dem Anstieg des Kerbspannungsverlaufs an
der Stelle der maximalen Kerbspannung in der Richtung senkrecht zur Bauteiloberfläche.
Dazu wird die Spannung unter Annahme von linearelastischem Materialverhalten berechnet.
Der bezogene Spannungsgradient wird durch die Normierung des Spannungsgradienten auf
die maximale Kerbspannung gebildet:
1 dσ
χ′ = − ⋅ ∣ . (3.8)
σmax dr r =0
Durch die Normierung auf σmax wird erreicht, dass χ′ nicht mehr von der Lasthöhe abhängt,
mit der das Bauteil belastet wird. Der bezogene Spannungsgradient χ′ ist eine nur von der
Bauteil- bzw. Kerbgeometrie und der Belastungsrichtung abhängige Größe und damit ein
Maß für die Kerbschärfe. Mit zunehmender Kerbschärfe nimmt auch χ′ zu. Im Grenzfall einer
ungekerbten Probe unter axialer Belastung ist die Spannungsverteilung konstant und damit
χ′ = 0.
Als Spannungskomponente zur Berechnung des bezogenen Spannungsgradienten in Glei-
chung (3.8) wird üblicherweise die maximale Hauptspannung oder die in Lastrichtung wirken-
de Normalspannung verwendet. Im Prinzip ist aber auch die Verwendung einer Vergleichs-
spannung möglich oder χ′ wird für jede Spannungskomponente einzeln berechnet3 . Für
einfache Kerbgeometrien kann der bezogene Spannungsgradient aus Tabellen abgeschätzt
werden. Er setzt sich prinzipiell aus einem belastungsbedingten Anteil (bei Biegung oder
Torsion abhängig vom Durchmesser χ′ = 2/d ) und einem von der Kerbschärfe abhängigen
3
Das ist z. B. in der FKM-Richtlinie der Fall, wo der Festigkeitsnachweis zunächst für jede Spannungskompo-
nente einzeln geführt wird.
3.3 Kerben 47
σ
σmax
α
r
tan α
χ′ = − 1
σmax dr ∣r =0 = σmax
⋅ dσ
Tab. 3.2: Abschätzung des bezogenen Spannungsgradienten χ′ am Beispiel eines Rundstabs mit um-
laufender Kerbe
Probengeometrie χ′ (Belastung) χ′ (Kerbe) χ′ (gesamt)
ρ Zug 0 2/ρ 2/ρ
d Biegung 2/d 2/ρ 2/d + 2/ρ
Torsion 2/d 1/ρ 2/d + 1/ρ
Anteil zusammen. Letzterer kann über den Kerbradius ρ abgeschätzt werden. In Tabelle 3.2
wird dies am Beispiel eines Rundstabs gezeigt. Weitere Beispiele sind z. B. in [95, 25, 59]
zu finden. Für kompliziertere Kerben ist eine FEM-Berechnung erforderlich. Dabei ist zu
beachten, dass für den Spannungsgradienten ein deutlich feineres Netz notwendig ist, als für
die Berechnung der Kerbspannung an sich (siehe dazu auch Abschnitt 6.3).
Während der bezogene Spannungsgradient ein geeignetes Maß für die Kerbschärfe im Sinne
der Stützwirkung ist, trifft das für die Formzahl nicht zu. Eine große Formzahl bedeutet zwar
eine starke Überhöhung der Kerbspannung im Verhältnis zur Nennspannung, beschreibt
aber nicht, ob diese Überhöhung auf einen kleinen Bereich beschränkt ist. Das wäre aber der
Fall bei einer scharfen Kerbe. Die Erklärung ist analog zum Beispiel in Abbildung 3.5. Wird
ein Bauteil bei gleicher Form in der Größe skaliert, so ändert sich die Formzahl nicht. Sie
ist nur von den relativen Bauteilabmessungen zueinander abhängig. Der bezogene Span-
nungsgradient hingegen nimmt mit zunehmender Bauteilgröße ab, da auch der Bereich, in
dem z. B. 90 % und mehr der maximalen Spannung wirken, größer wird. Im Extremfall mit
48 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
gegen unendlich gehender Bauteilgröße geht der Kerbradius gegen Null und damit auch der
bezogene Spannungsgradient im Kerbgrund. Damit wird offensichtlich, dass die Formzahl
kein geeignetes Maß für die Kerbschärfe sein kann. In der Literatur ist zum Teil der Zusam-
menhang große Formzahl gleich scharfe Kerbe zu finden. So sind auch ältere Konzepte zur
Berechnung der Stützzahl abhängig von der Formzahl definiert, wie z. B. in [28, 50]. Die
Formzahl ist aber lediglich ein Maß für die Größe der Spannungserhöhung an Kerben, aber
nicht für den Gradienten der Spannung.
berechnet, wonach diese neben dem bezogenen Spannungsgradienten χ′ noch vom Mate-
rial in Form der Gleitschichtdicke s g abhängt. Diese korreliert für Stähle mit dem mittleren
Korndurchmesser. Die Stützzahldiagramme sind in Abbildung 3.10 gezeigt. Darin lassen sich
einige grundlegende Tendenzen erkennen.
• Die Stützzahl steigt mit dem bezogenen Spannungsgradienten, ist also für scharfe
Kerben größer als für milde Kerben.
• Höherfeste Werkstoffe innerhalb einer Werkstoffgruppe sind kerbempfindlicher. Die
Stützzahl nimmt mit steigender Zugfestigkeit eines Werkstoffs ab.
• Feinkörnige Werkstoffe sind kerbempfindlicher als grobkörnige Werkstoffe. Die zuneh-
mende Inhomogenität der Mikrostruktur führt demnach zu höheren Stützzahlen.
Der letzte Punkt ist auch der Grund, warum für Gusseisen die Stützzahlen größer sind als für
Stahl. Besonders Gusseisen mit Lamellengraphit hat bereits eine hohe innere Kerbwirkung
und damit niedrige Werkstoffdauerfestigkeit. Diese wird durch geometrische Kerben nur noch
in geringem Maße weiter herabgesetzt, was sich in einer geringen Kerbempfindlichkeit bzw.
den hohen Stützzahlen zeigt. Gleiches gilt aufgrund der Porosität auch für Sinterstahl [153].
Mit der vom bezogenen Spannungsgradienten abhängigen Stützzahl lässt sich auch die im
Vergleich zur Zug-Druck-Wechselfestigkeit höhere Biegewechselfestigkeit erklären. Bereits bei
ungekerbten Proben liegt unter Biegung ein nicht konstanter Spannungsverlauf mit einem
bezogenen Spannungsgradienten χ′ > 0 vor. Die damit verbundene Stützwirkung führt auf
3.3 Kerben 49
Abb. 3.10: Stützzahlen in Abhängigkeit vom bezogenen Spannungsgradienten nach [83], zitiert aus
[37]
Die Konstante K entspricht der statischen Werkstofffestigkeit und ist mit den weiteren werk-
stoffabhängigen Konstanten m und c 1 in Tabelle 3.3 angegeben. Der Quotient c 2 /ρ ist eine
Näherung für den bezogenen Spannungsgradienten, welcher aus dem Kerbradius ρ und der
Beanspruchungsart abgeschätzt wird. Letztere wird mit der Konstante c 2 berücksichtigt. Es
gilt c 2 = 2 mm bei Normalspannungen und c 2 = 1 mm bei Schubspannungen.
50 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
3
GJL
GJM
2 GJS
1,6
GS
1,4
Stahl
Stützzahl n (log.)
1,2
1,1
1,06
1,04
σW,zd / σW,b
1,02
1,01
0,01 0,1 0,267 1 10
bezogener Spannungsgradient Gσ in mm-1 (log.)
In der FKM-Richtlinie ist die Abschätzung der Stützzahl ebenfalls über den bezogenen
Spannungsgradienten möglich4 . Dazu wird das Stützzahldiagramm nach Abbildung 3.11
verwendet. Für den bezogenen Spannungsgradient wird hier allerdings das Formelzeichen
G σ verwendet. Das Stützzahldiagramm ist zunächst bis G σ = 10 mm−1 definiert, kann aber
für sehr scharfe Kerben darüber hinaus extrapoliert werden [210]. Die mathematische Be-
schreibung des Diagramms erfolgt mit den in Abschnitt 8.4.1 angegebenen Gleichungen
(8.22) bis (8.24). Die mit Punkten gekennzeichneten Stützzahlen bei G σ = 0,267 mm−1 ent-
sprechen dem Verhältnis von Biege- zu Zug-Druck-Wechselfestigkeit. Sie gelten für einen
Norm-Probendurchmesser von d 0 = 7,5 mm.
3.4 Oberflächenrauigkeit
Die Schwingfestigkeit ist im Gegensatz zur statischen Festigkeit in hohem Maße von der
Oberflächenrauigkeit abhängig. Die Bauteiloberfläche ist in der Regel Ausgangspunkt von
Ermüdungsrissen, da dort die maximalen Spannungen auftreten. Zudem ist die Oberfläche
4
Bis zur 5. Auflage war dies die einzige Möglichkeit, ab der 6. Auflage ist alternativ dazu die Berechnung einer
werkstoffmechanisch begründeten Stützzahl möglich. Deren Berechnung wird in Abschnitt 8.4.5 beschrieben.
3.4 Oberflächenrauigkeit 51
Der Einfluss ist unter Wirkung von Normal- und Schubspannungen unterschiedlich, weshalb
zur Unterscheidung die Formelzeichen C O,σ und C O,τ verwendet werden. Die mittlere Rautiefe
Rz der Oberfläche wird nach DIN 4768 in μm angegeben. Die Ermittlung des Oberflächen-
52 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
faktors geht auf Siebel und Gaier [255] zurück und kann nach Hück [181] für Stahlwerkstoffe
unter Normalspannungen folgendermaßen berechnet werden:
Rz 0,64 Rm Rz 0,53
C O,σ = 1 − 0,22 ⋅ (lg ( )) ⋅ lg ( ) + 0,45 ⋅ (lg ( )) . (3.12)
μm MPa μm
Der Abminderungsfaktor ist von der Mittelspannung weitgehend unabhängig [54]. Er kann
sowohl für die Wechselfestigkeit als auch für die Dauerfestigkeit bei unterschiedlichen Mittel-
spannungen angewendet werden. Der Einfluss der Oberflächenrauigkeit nimmt mit zuneh-
mender Kerbschärfe ab. Die Diagramme und Formeln für den Oberflächenfaktor gelten meist
für ungekerbte Proben. Bei gekerbten Bauteilen fallen die Werte etwas kleiner aus.
Der Oberflächenfaktor wird in der FKM-Richtlinie als Rauheitsfaktor K R,σ wie bereits in der
TGL 19340 [89] berechnet:
Rz 2R m
K R,σ = 1 − a R,σ ⋅ lg ( ) ⋅ lg ( ). (3.13)
μm R m,N,min
Im Vergleich zu Gleichung (3.12) fällt die Abminderung hier etwas geringer aus. Das wird
damit begründet, dass mit den ursprünglichen Versuchen von Siebel und Gaier extreme
Fertigungsbedingungen zugrunde lagen, die nicht verallgemeinerbar sind [162]. Der Wert
R m,N,min steht für den minimalen Normwert einer Werkstoffgruppe und ist mit der Konstante
a R,σ in Tabelle 3.4 angegeben. Der Einfluss der Oberflächenrauigkeit unter der Wirkung von
Schubspannungen ist geringer. Es gilt
Rz 2R m
K R,τ = 1 − f W,τ ⋅ a R,σ ⋅ lg ( ) ⋅ lg ( ). (3.14)
μm R m,N,min
Der Schubwechselfestigkeitsfaktor f W,τ ist entsprechend zu Gleichung (3.2) und Tabelle 3.1
definiert und ist für Stahl f W,τ = 0,577. Der Rauheitsfaktor für Stahl unter dem Einfluss von
Normalspannungen ist in Abbildung 3.12 in Abhängigkeit von Rz und R m dargestellt.
Für Schweißverbindungen wird kein Rauheitsfaktor berücksichtigt, da die Rauigkeit nach
dem Schweißen in der entsprechenden Kerbfallklasse der Schweißnaht (siehe FAT-Klasse in
Abschnitt 8.6) mit berücksichtigt wird. Die Abnahme des Einflusses der Oberflächenrauigkeit
wird in der Richtlinie durch die Kopplung von K R,σ mit der Kerbwirkungszahl K f erreicht. Der
Oberflächenfaktor für gekerbte Bauteile wird entsprechend der Definition für C O in Gleichung
(3.11) zu
−1
1 1
C O,σ,K = (1 + ⋅( − 1)) (3.15)
K̃ f K R,σ
berechnet. Diese Beziehung wird für den Festigkeitsnachweis unter Verwendung von Kerb-
spannungen verwendet. Da im allgemeinen Fall keine Formzahl und demzufolge auch keine
Kerbwirkungszahl definiert werden können, muss für letztere ein Schätzwert K̃ f verwendet
3.4 Oberflächenrauigkeit 53
werden. Dessen Berechnung ist in der FKM-Richtlinie beschrieben. Für stark gekerbte Bautei-
le mit entsprechend großen Werten für K̃ f fällt der Einfluss der Oberflächenrauigkeit geringer
aus als für schwach gekerbte Bauteile mit kleineren Werten für K̃ f . Für gekerbte Bauteile aus
Stahl kann näherungsweise K̃ f = 2 gesetzt werden. Im Zweifel kann mit K̃ f = 1 eine konservative
Abschätzung erfolgen. Außerdem ist zu beachten, dass in der FKM-Richtlinie C O nicht explizit
berechnet wird. Die Beziehung in Gleichung (3.15) ist Teil des Konstruktionsfaktors K WK,σ in
Gleichung (3.19), welcher alle Einflüsse zur Berechnung der Bauteilwechselfestigkeit σWK aus
der Werkstoffwechselfestigkeit σW berücksichtigt.
Tab. 3.4: Konstanten zur Berechnung des Rauheitsfaktors K R,σ nach FKM-Richtlinie
Werkstoffgruppe Stahl GS GJS, ADI GJM GJL Al-Knet. Al-Guss.
a R,σ 0,22 0,20 0,16 0,12 0,06 0,22 0,20
R m,N,min in MPa 400 400 400 350 100 133 133
Rz in m
poliert
1 ≤1,0
1,6
geschliffen
0,9 3,2
Rauheitsfaktor KR,σ
6,3
0,8
12,5
geschlichtet
0,7 25
50
geschruppt
0,6
100
0,5 200
0,4
300 500 700 1000 1300 1600 2000
Zugfestigkeit Rm in MPa
3.5 Eigenspannungen
Eigenspannungen sind Spannungen in Bauteilen, die ohne die Einwirkung einer äußeren
Belastung auftreten. Wie Mittelspannungen sind sie der zyklischen Beanspruchung über-
lagert und können als Druckeigenspannungen schwingfestigkeitssteigernd wirken oder als
Zugeigenspannung die Schwingfestigkeit herabsetzen. Sie befinden sich stets im statischen
Gleichgewicht, d. h. über das gesamte Bauteil betrachtet heben sich Eigenspannungen auf. Es
treten in einem Bauteil also immer Zug- und Druckeigenspannungen gemeinsam auf, wenn
auch an verschiedenen Stellen. Es wird bezogen auf ihre räumliche Ausdehnung zwischen drei
Arten von Eigenspannungen unterschieden [212]: Eigenspannungen 1. Art (über makroskopi-
sche Bereiche), Eigenspannungen 2. Art (über mehrere Kristallite) und Eigenspannungen 3.
Art (innerhalb eines Kristallits). Für die Schwingfestigkeit sind vor allem die makroskopischen
Eigenspannungen, also die 1. Art relevant.
Die Ursachen für die Entstehung von Eigenspannungen können prinzipiell in zwei Grup-
pen unterschieden werden: fertigungs- bzw. montagebedingte Eigenspannungen und be-
lastungsbedingte Eigenspannungen. Zur ersten Gruppe gehören Eigenspannungen, die bei
der Bauteilherstellung durch Urformen, Umformen, spanende Bearbeitung und Änderung
der Stoffeigenschaften (z. B. Härten, Kugelstrahlen) entstehen. Auch durch unterschiedli-
che Abkühlgeschwindigkeiten treten Eigenspannungen auf. Dazu gehören insbesondere
Schweißeigenspannungen [53]. Ebenso entstehen durch Fügeverfahren, wie Pressverbin-
dungen, Eigenspannungen. Das bewusste Einbringen von Druckeigenspannungen in die
oberflächennahe Schicht eines Bauteils wird zur Steigerung der Schwingfestigkeit verwendet.
Einige Verfahren und Berechnungsansätze sind in Abschnitt 3.6 beschrieben.
Die zweite Gruppe, belastungsbedingte Eigenspannungen, entstehen durch Überschreitung
der Streckgrenze bei inhomogener Spannungsverteilung. Das wird anhand eines auf Zug be-
anspruchten Kerbstabes in Abbildung 3.13 verdeutlicht. Vereinfachend soll ideal-plastisches
Materialverhalten angenommen werden. Dabei tritt keine Verfestigung auf. Bei Belastung
des Stabes sind aufgrund der Kerbwirkung die Spannungen an der Bohrung erhöht. Nach
Überschreitung der Streckgrenze steigt dort die Spannung nicht mehr proportional zur Deh-
nung an, sondern bleibt konstant. Weil bei Entlastung die Spannung wieder proportional
abfällt, verbleiben im vollständig entlasteten Zustand an der Kerbe plastische Dehnungen.
Da im zuvor elastisch beanspruchten Gebiet die Dehnungen weiter zurückgehen, entstehen
an der Kerbe Druckeigenspannungen, die durch Zugeigenspannungen in anderen Bereichen
des Querschnitts statisch ausgeglichen werden. Ähnlich entstehen Eigenspannungen auch
bei Biege- oder Torsionsbelastung. Wird jedoch bei ungekerbten Stäben unter Zugbelastung
die Streckgrenze überschritten, so sind Spannung und Dehnung im gesamten Querschnitt
weiterhin konstant und nach Entlastung liegt die verbleibende plastische Dehnung eigen-
spannungsfrei vor.
3.5 Eigenspannungen 55
Kerbgrundbeanspruchung bei
Spannung ideal-plastischem Materialverhalten
Dehnung ε σ
σ
F = Fmax
Re
ε
Belastet mit F = Fmax F=0
Entlastet mit F = 0
Die Überlagerung von Spannungen aus einer äußeren Belastung und Eigenspannungen ist
am Beispiel der Biegebelastung schematisch in Abbildung 3.14 gezeigt. Vereinfachend soll
angenommen werden, dass die Druck- und Zugeigenspannung in ihrem Bereich jeweils
konstant sind. Die Druckspannungen am Rand werden durch Zugspannungen in der Mitte
des Querschnitts ausgeglichen. Bei zusätzlicher Belastung durch ein Biegemoment wird die
daraus resultierende Spannung mit der Eigenspannung überlagert. Dadurch ist die resultie-
rende maximale Zugspannung kleiner als der Zuganteil der Biegespannung. Allerdings ist
die resultierende maximale Druckspannung im gleichen Maße erhöht. Für den Fall, dass
die Biegebelastung zyklisch erfolgt, ist die Schwingfestigkeit durch die Druckeigenspannung
nahe der Bauteiloberfläche höher.
Der Einfluss auf die Schwingfestigkeit kann analog zum Mittelspannungseinfluss durch die Ei-
genspannungsempfindlichkeit M E berücksichtigt werden. Wirken sowohl Mittelspannungen
als auch Eigenspannungen, so kann die Dauerfestigkeit mit
σD = σW − M ⋅ σm − M E ⋅ σE (3.16)
-
+
+
Mb - Mb
- -
Abb. 3.14: Überlagerung von Eigenspannungen und Spannungen aus Belastungen (schematisch)
0,7
Eigenspannungsempfindlichkeit
0,6
MittelVSDQQXQJV-und
0,5
0,4
0,3
0,2 Mσ
0,1 ME
0
0 500 1000 1500 2000 2500
Zugfestigkeit Rm
Abb. 3.15: Abhängigkeit der Eigenspannungsempfindlichkeit von der Zugfestigkeit, nach [303]
3.6 Oberflächenverfestigung 57
3.6 Oberflächenverfestigung
Eine für die Praxis wichtige Möglichkeit für das Einbringen und Nutzen von Eigenspannungen
sind die Verfahren der Oberflächenverfestigung. Ermüdungsrisse gehen meist von der Bau-
teiloberfläche aus. Mittels Oberflächenverfestigung wird einerseits die Härte und damit die
Festigkeit der oberflächennahen Randschicht erhöht und andererseits werden dabei Druckei-
genspannungen eingebracht. Dadurch ist eine deutliche Steigerung der Schwingfestigkeit
möglich.
Zu den gebräuchlichen Verfahren zur Oberflächenverfestigung gehören:
• chemisch-thermische Verfahren, wie Nitrieren, Einsatzhärten und Karbonitrieren,
• thermische Verfahren, wie Flamm- und Induktivhärten,
• mechanische Verfahren, wie Festwalzen, Kugelstrahlen, Autofrettage.
Mit den ersten beiden Verfahrensgruppen wird die Härte der Oberfläche gesteigert. Mit der
höheren Härte steigen auch die statische Festigkeit und die Schwingfestigkeit an. Beim Härten
wird das Gefüge durch schnelle Abkühlung und Einlagerung von Kohlenstoff von Austenit in
Martensit umgewandelt. Martensit hat im Vergleich zum Austenit ein ca. 2 % höheres spezifi-
sches Volumen. Dadurch entstehen neben der Festigkeitssteigerung auch Eigenspannungen.
Die Ausdehnung des Martensits wird im ungehärteten Kern elastisch abgestützt, so dass am
Rand Druck- und im Kern Zugeigenspannungen entstehen. Ein ähnlicher Effekt wird durch
Härten mit Nitridbildung legierter Stähle erzielt.
Der Effekt des Randschichthärtens hängt von der Kerbschärfe ab. Das wird anhand von
Abbildung 3.16 verdeutlicht. Aufgrund des großen Spannungsgradienten wird die hohe Kerb-
spannung innerhalb der Randschicht vollständig mit den Druckeigenspannungen überlagert.
Im ungehärteten Kernbereich treten jedoch deutlich geringere Spannungen auf, die sich mit
den Zugeigenspannungen hinter der Randschicht überlagern. Bei zu geringer Einhärtetiefe
oder geringen Spannungsgradienten bei schwach gekerbten Bauteilen kann es dazu kommen,
dass im Kern höhere oder nur leicht geringere kombinierte Spannungen auftreten als am
Rand. Da der Kern mit dem Ausgangsgefüge die unveränderte Festigkeit aufweist, wird so der
Ausgangspunkt für die Entstehung von Ermüdungsrissen nach innen verschoben. In diesem
ungünstigen Fall kann die Randschichtverfestigung zu einer geringeren Schwingfestigkeit als
im Ausgangszustand führen und gleichzeitig die Rissentstehung ins Bauteilinnere verlagern.
Es ist zu beachten, dass der Effekt der oberflächennahen Eigenspannungen bei scharfen
Kerben zwar am ausgeprägtesten ist, gleichzeitig mit steigender Härte aber auch die Kerb-
empfindlichkeit der Randschicht zunimmt. Die positive Wirkung der Oberflächenverfestigung
auf die Dauerfestigkeit kann dadurch bei scharfen Kerben aufgehoben sein.
Durch mechanische Verfahren, wie das Festwalzen oder das Kugelstrahlen, wird die ober-
flächennahe Schicht plastisch aufgeweitet, wobei durch elastische Abstützung der inneren
58 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
σ σ
scharfe milde
Kerbe x Kerbe x
Spannung kombinierte
Eigenspannung
aus Belastung Spannung
Abb. 3.16: Einfluss von Randschicht und Eigenspannungen bei unterschiedlicher Kerbschärfe
Der Einfluss der Randschichtverfestigung wird in der FKM-Richtlinie durch den Randschicht-
faktor K V berücksichtigt. Die Bauteilwechselfestigkeit wird direkt um diesen Faktor erhöht. Es
wird aus den bereits aufgeführten Gründen zwischen gekerbten und schwach- bis ungekerb-
3.6 Oberflächenverfestigung 59
Tab. 3.5: Richtwerte des Randschichtfaktors K V für nichtgeschweißte Bauteile aus Stahl nach FKM-
Richtlinie
Verfahren schwach oder gekerbt Einhärtetiefe Oberflächenhärte
ungekerbt
Chemisch-thermische Verfahren
Nitrieren 1,10 - 1,15 1,30 - 2,00 0,1 . . . 0,4 mm 700 . . . 1000 HV 10
(1,15 - 1,25) (1,90 - 2,00)
Einsatzhärten 1,10 - 1,50 1,20 - 2,00 0,2 . . . 0,8 mm 670 . . . 750 HV 10
(1,20 - 2,00) (1,50 - 2,50)
Karbonitrier- (1,80) 0,2 . . . 0,4 mm mind. 670 HV 10
härten
Mechanische Verfahren
Festwalzen 1,10 - 1,25 1,30 - 1,80
(1,20 - 1,40) (1,50 - 2,20)
Kugelstrahlen 1,10 - 1,20 1,10 - 1,50
(1,10 - 1,30) (1,40 - 2,50)
Thermische Verfahren
Flamm- und In- 1,20 - 1,50 1,50 - 2,50 0,9 . . . 1,5 mm 51 . . . 64 HRC
duktivhärten (1,30 - 1,60) (1,60 - 2,80)
Werte gelten für Bauteildauerfestigkeit und für 30 bis 40 mm Durchmesser.
Werte in Klammern gelten für 8 bis 15 mm Durchmesser.
Für Zeit- und Betriebsfestigkeit gelten in der Regel geringere Werte.
60 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
Korrosion von Metallen wird durch Umgebungsmedien wie Salzwasser, Säuren oder feuchte
Luft begünstigt und lässt sich langfristig nur unter sehr kontrollierten Bedingungen, z. B. im
Vakuum oder in säurefreiem Öl, komplett ausschließen. An durch Korrosion angegriffenen
und aufgerauten Oberflächen wird die Entstehung und das Wachstum von Ermüdungsrissen
beschleunigt, womit die Schwingfestigkeit herabgesetzt wird. Darüber hinaus zeigt sich bei
Schwingfestigkeitsversuchen in korrosiven Medien keine Dauerfestigkeit mehr, sondern ein
weiteres Absinken der Wöhlerlinie bei hohen Lastzyklenzahlen. Die gleichzeitige Schädigung
durch Korrosion und Schwingbeanspruchung wird als Schwingrisskorrosion bezeichnet.
Daneben tritt Reibkorrosion, z. B. an Pressverbindungen oder Schraubverbindungen, mit
zyklischer Relativbewegung in Form von Passungsrost auf. Diese tribologische Schädigung
geht ebenfalls mit der Aufrauhung der Oberfläche und einer Gefügeänderung einher und
führt zur Abnahme der Schwingfestigkeit [66]. Zwar existieren zahlreiche Untersuchungen
zum Einfluss der Korrosion [116, 130], ein allgemeines Berechnungskonzept gibt es allerdings
nicht. Im konkreten Fall muss die Schwingfestigkeit mit der entsprechenden Kombination
aus Werkstoff, Medium, Belastung und Belastungsfrequenz experimentell ermittelt werden.
3.8 Frequenzeinfluss
Der Begriff Frequenzeinfluss ist streng genommen unzutreffend, da sich die Effekte, wel-
che bei Versuchen mit veränderter Belastungsfrequenz beobachtet werden, auf andere Ein-
flüsse zurückführen lassen. So ist der Einfluss der Belastungsfrequenz auf die Werkstoff-
Schwingfestigkeit bei Stahl im Bereich bis ca. 1000 Hz sehr gering. Das gilt allerdings nur für
rein elastische Beanspruchung und ohne den Einfluss erhöhter Temperaturen und Korrosion.
In diesen Fällen kann eine starke Abhängigkeit der Schwingfestigkeit von der Frequenz be-
obachtet werden. Bei Leichtmetallen, wie Aluminiumlegierungen, tritt ein teils erheblicher
Einfluss bereits bei niedrigeren Frequenzen auf [54].
Bei gekerbten Bauteilen entstehen bei einer Schwingbeanspruchung im Kerbgrund bei Über-
schreitung der Streckgrenze wechselnde plastische Dehnungen, die zur Erwärmung in diesem
Bereich führen. Bei hohen Belastungsfrequenzen kann die Wärme nach jeder Verformung
nicht schnell genug abgeführt werden, womit es zur weiteren Erwärmung und der damit
verbundenen Abnahme der Schwingfestigkeit kommt. Dieser Effekt tritt besonders im Zeit-
festigkeitsgebiet bei schwach gekerbten Bauteilen aus duktilen metallischen Werkstoffen
auf. Bei schwach gekerbten Bauteilen ist der Bereich, in dem plastische Dehnungen auf-
treten, größer, da die Spannung hinter der Kerbe nur schwach abfällt. Außerdem treten im
Zeitfestigkeitsbereich duktiler Stähle bereits vergleichbar hohe plastische Dehnungen auf,
die zur Erwärmung führen. Im Gegensatz dazu können Bauteile mit scharfen Kerben und
3.9 Temperatur 61
aus spröden Werkstoffen mit deutlich höheren Frequenzen ohne negativen Einfluss auf die
Schwingfestigkeit belastet werden. Es ist jedoch immer zu prüfen, ob durch hohe Belastungs-
frequenzen im Kerbgrund infolge örtlicher Plastifizierung Temperaturen auftreten, die einen
Abfall der Schwingfestigkeit bewirken.5
Auch unter Korrosionseinfluss zeigt sich eine starke Abhängigkeit der Schwingfestigkeit von
der Belastungsfrequenz. So steigt die ertragbare Lastzyklenzahl mit der Belastungsfrequenz.
Der Effekt der Korrosion hängt von der einwirkenden Zeit ab und bei hohen Frequenzen
gibt es in der gleichen Zeit mehr Lastzyklen als bei niedrigen Frequenzen. Daher ist bei der
experimentellen Ermittlung der Schwingfestigkeit in korrosiven Medien möglichst darauf zu
achten, dass die Prüffrequenz von der gleichen Größenordnung wie die Belastungsfrequenz
des Bauteils im tatsächlichen Einsatz ist.
3.9 Temperatur
Die Schwingfestigkeit nimmt ebenso wie die statische Festigkeit mit steigenden Betriebstem-
peraturen ab. Bei höheren Temperaturen wird die Schädigung durch Materialermüdung mit
der Schädigung durch Kriechen des Werkstoffs überlagert. Der damit verbundene Abfall der
Schwingfestigkeit ist bei Leichtmetalllegierungen stärker als bei Stahl ausgeprägt. Im Bereich
hoher Lastzyklenzahlen ist bei hohen Temperaturen mit einem weiteren Abfall der Schwing-
festigkeit anstelle einer ausgeprägten Dauerfestigkeit zu rechnen (Wöhlerlinientyp II). Bei
tiefen Temperaturen ist ein Anstieg der Schwingfestigkeit zu beobachten [72]. Dabei wird
auch der Korrosionsprozess verlangsamt. Jedoch steigt dabei die Kerbempfindlichkeit und
die Sprödbruchgefahr.
welcher für Normal- und Schubspannungen gleich ist. Mit Gleichung (3.17) kann zwar die
Wechselfestigkeit bei erhöhter Temperatur berechnet werden, jedoch erfolgt die Berücksichti-
gung des Temperatureinflusses in der FKM-Richtlinie nur bei der Berechnung des anzusetzen-
5
siehe dazu Tabelle 3.6 im nachfolgenden Abschnitt
62 3 Einflüsse auf die Schwingfestigkeit und deren Abschätzung
1
Stahl
Feinkornbaustahl
0,9
GS
0,8 GJS
Temperaturfaktor KT,D
GJM
0,7 GJL
Alu.-Leg.
0,6
0,5
0,4
100 200 300 400 500
Temperatur T in °C
Abb. 3.17: Temperaturfaktor zur Berechnung der Wechselfestigkeit bei erhöhten Temperaturen nach
FKM-Richtlinie [95]
3.10 Bauteilwechselfestigkeit und Konstruktionsfaktor nach FKM-Richtlinie 63
σW = f W,σ ⋅ R m .
Dabei muss R m bereits den technologischen Größeneinfluss nach Gleichung (7.7) beinhal-
ten, wie es in Abschnitt (3.2) beschrieben ist. Die Bauteilwechselfestigkeit wird mit dem
Konstruktionsfaktor K WK berechnet:
σW
σWK = (3.18)
K WK,σ
1 1 1 1
K WK,σ = [1 + ( − 1)] . (3.19)
nσ K̃ f K R K V ⋅ K S ⋅ K NL,E
mit
1 1 1 1
K WK,τ = [1 + ( − 1)] . (3.21)
nτ K̃ f K R KV ⋅ KS
Die Konstruktionsfaktoren für Schub- und Normalspannungen unterscheiden sich hauptsäch-
lich in der Stützzahl n, sofern der bezogene Spannungsgradient χ′ für σ und τ unterschiedlich
ist. Außerdem ist K NL,E bei Schubspannungen nicht definiert (wird auf 1 gesetzt), da dabei
kein Zug- und Druckbereich existiert.
Die Einflussfaktoren für hohe Temperaturen werden erst bei der Berechnung des Gesamtsi-
cherheitsfaktors benötigt.
3.11 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 3 65
Verständnisfragen
Aufgaben
1. Ein gekerbter Stab aus Stahl (Formzahl K t = 2,45, Querschnittsfläche im Kerbbereich
A = 250 mm2 ) wird wechselnd auf Zug-Druck belastet. Die Wechselfestigkeit eines unge-
kerbten Stabs aus demselben Werkstoff und gleicher Oberfläche beträgt σD = 367 MPa.
Weiterhin wurde die Stützzahl zur Abschätzung Kerbwirkung auf die Schwingfestigkeit
anhand eines Regelwerks mit n = 1,43 ermittelt.
Berechnen Sie die zulässige Kraftamplitude, mit welcher der Stab wechselfest belastet
werden kann.
2. Für eine auf Zug beanspruchte unendliche Scheibe mit Kreisloch können die Spannun-
gen analytisch berechnet werden. Für die Normalspannungskomponente (Kerbspan-
nung σ) in Richtung der Nennspannung S gemäß Abbildung gilt
1 R 2 3 R 4
σ(r ) = S (1 + ( ) + ( ) ) .
2 r 2 r
Berechnen Sie für diesen Fall die Formzahl K t sowie den bezogenen Spannungsgradien-
ten χ′ .
S
σ σmax
R
r
S
4 Statistische Grundlagen
Aufgrund der Streuung der Schwingfestigkeit basieren die Methoden der Betriebsfestigkeit auf
statistischen Verfahren. Die dafür erforderlichen Grundlagen werden im Folgenden erklärt,
wobei diese Einführung auf das Notwendige beschränkt bleibt und auf Herleitungen sowie
die Beschreibung der theoretischen Hintergründe weitgehend verzichtet wird. Für tiefer
gehende Betrachtungen werden z. B. folgende Bücher empfohlen: [62, 39, 13, 60, 61, 11, 5].
In den nachfolgenden Kapiteln wird an vielen Stellen wieder auf die Grundlagen dieses
Kapitels verwiesen, so dass es zunächst auch übersprungen werden kann, um später darauf
zurückzukommen. Viele statistische Formeln sind in mathematischen Programmsystemen
als Funktion direkt hinterlegt. Ausgewählte statistische Funktionen werden hier am Beispiel
von Microsoft Excel® gezeigt, da es relativ weit verbreitet und einfach in der Handhabung ist.
Festigkeitskennwerte sind statistische Kenngrößen. Dabei streut die Schwingfestigkeit stärker
als die statische Festigkeit. Mit zunehmender ertragbarer Lastzyklenzahl, bzw. abnehmender
Spannungsamplitude, steigt die Streuung weiter an. Da bei der Material- und Bauteilprüfung
stets nur ein kleiner Teil aller möglichen Proben geprüft werden kann, sind die ermittelten
Festigkeitskennwerte selbst mit gewissen Unsicherheiten behaftet, die ebenfalls mit zu berück-
sichtigen sind. Das ist umso wichtiger, da Schwingfestigkeitsversuche teuer und langwierig
sind und geringe Versuchsumfänge eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Neben den in
Kapitel 10 beschriebenen Verfahren zur Planung von Schwingfestigkeitsversuchen und deren
Auswertung werden statistische Methoden zur Berechnung von Ausfallwahrscheinlichkeiten
und Sicherheitsfaktoren benötigt.
Für das weitere Verständnis sind folgende Grundbegriffe zu klären. Als Merkmalsgröße X wird
eine streuende Zufallsgröße, z. B. die Dauerfestigkeit, die Lebensdauer oder die Belastungsam-
plitude bezeichnet. Als messbare physikalische Größen sind sie quantitativer Art und können
diskret oder stetig sein. Diskrete Merkmalsgrößen sind endlich abzählbar, wie die Anzahl der
Brüche oder Durchläufer auf einem Lasthorizont. Stetige Merkmalsgrößen hingegen können
in einem gegebenen Intervall theoretisch jeden Wert annehmen, was praktisch aber von der
Genauigkeit des Messgeräts bzw. der Abtastrate beschränkt wird. Auch wenn bei Zeitfestig-
keitsversuchen die Lebensdauer meist nur in ganzen Schwingspielen gezählt wird, liegt eine
stetige Merkmalsgröße vor. Einzelne Messwerte eines Versuchs werden als Merkmalswerte
x i bezeichnet. Sie sind die einzelnen Werte der streuenden Merkmalsgröße X . Die Grundge-
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S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 67
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_4
68 4 Statistische Grundlagen
samtheit umfasst alle theoretisch messbaren Merkmalswerte, ist aber bei der Materialprüfung
experimentell praktisch nicht bestimmbar. Eine Versuchsreihe mit n Versuchen stellt ledig-
lich eine Stichprobe der Grundgesamtheit dar. Die daraus ermittelten Parameter, wie der
Mittelwert, sind lediglich Schätzgrößen des tatsächlichen Wertes der Grundgesamtheit. Die
Schätzung ist umso besser, je größer der Stichprobenumfang ist.
Der Mittelwert einer Stichprobe wird auch als Lageparameter bezeichnet, da er über die
Lage des Schwerpunkts der Versuchsergebnisse Auskunft gibt. Er wird auch als empirisch
bezeichnet, da dieser auf Grundlage einer endlichen Anzahl von Versuchen mit dem Stich-
probenumfang n den tatsächlichen Mittelwert der Grundgesamtheit lediglich schätzt. Man
unterscheidet den arithmetischen (empirischen) Mittelwert
1 n
x̄ = ∑ xi (4.1)
n i =1
√
x̄ G = n
x1 ⋅ x2 . . . xn , (4.2)
wobei der geometrische stets kleiner oder gleich dem arithmetischen Mittelwert ist. Wird
der arithmetische Mittelwert der logarithmierten Merkmalsgröße gebildet, ergibt sich der
Logarithmus des geometrischen Mittelwerts:
1 n
lg x̄ G = ∑ lg xi (4.3)
n i =1
Das ist der Fall bei logarithmisch-normalverteilten Merkmalsgrößen, wie der Lebensdauer im
Zeitfestigkeitsgebiet (vgl. Abschnitt 4.3.1). Die Berechnung in Excel erfolgt über die Befehle
=MITTELWERT() bzw. =GEOMITTEL(). Daneben existieren z. B. mit dem Median, dem
harmonischen Mittelwert oder dem Modalwert noch weitere Lageparameter, die in diesem
Zusammenhang keine Anwendung finden.
Neben der Lage des Versuchsschwerpunks ist auch die Größe des Bereichs, in dem die Mess-
werte um den Mittelwert streuen, von Interesse. Diese wird durch die sogenannten Formpara-
meter beschrieben, welche die Größe der Abweichungen vom Mittelwert erfassen. Auch sie
stellen lediglich Schätzwerte der Streuung der Grundgesamtheit dar. Die (empirische) Varianz
s 2 gibt den mittleren quadratischen Abstand vom Mittelwert an:
n
1
s2 = ∑ (x i − x̄ )2 . (4.4)
n − 1 i =1
4.2 Beschreibung von Stichproben 69
Positive und negative Abweichungen gehen infolge des Quadrats in gleicher Weise ein. Die
Division durch n − 1 statt durch n lässt sich mit dem Freiheitsgrad der Stichprobe erklären.
Aus der Definition des Mittelwerts in Gleichung (4.1) folgt ∑ni (x i − x̄ ) = 0. Somit ist die letzte
Abweichung x n − x̄ schon mit den ersten n − 1 Abständen bestimmt. Es variieren nur n − 1
Abweichungen frei. Diese Anzahl entspricht dem Freiheitsgrad.
Weiterhin ist die empirische Standardabweichung s als Wurzel aus der empirischen Varianz
definiert:
√ 1 n
s= s2 =
∑ (x i − x̄ )2 . (4.5)
n − 1 i =1
Sie hat damit dieselbe Dimension wie die Merkmalsgröße X und ermöglicht dadurch eine
anschaulichere Deutung. Für die Berechnung der Streuungsmaße einer Stichprobe wer-
den in Excel die Funktionen =VAR.S() bzw. =STABW.S() verwendet. Weiterhin hat der
Variationskoeffizient v als relatives Streuungsmaß eine gewisse Bedeutung. Er gibt die Stan-
dardabweichung bezogen auf den Mittelwert an:
s
v= . (4.6)
x̄
Das ist in sofern von Bedeutung, da die absolute Größe der Standardabweichung von der
Höhe des Mittelwerts abhängig ist. Anhand von zwei Stichproben A = (1; 2; 3; 4; 5) und B =
(51; 52; 53; 54; 55) lässt sich das leicht veranschaulichen. Beide haben die gleiche Standard-
abweichung von s = 1,58. Jedoch streut A bezogen auf den Mittelwert viel stärker als B , da
v A = 52,7 % und v B = 3,0 % ist.
Zur übersichtlichen Darstellung der Häufigkeitsverteilung von Stichproben werden Histo-
gramme verwendet. Da sich bei stetigen Merkmalen aus n Versuchen auch n verschiedene
Werte x i ergeben, ist eine Einteilung in Klassen notwendig (Abb. 4.1, links). Dabei werden
die Werte x i in mehreren Klassen gleicher Breite zusammengefasst (Abb. 4.1, mitte). Für
Stichprobenumfänge von n > 25 lässt sich die geeignete Anzahl k der zu wählenden Klassen
√ x max −x min
aus k ≈ n abschätzen [5]. Die Breite einer Klasse entspricht b = k , wobei x max und
x min der maximale und der minimale Wert der Stichprobe sind.
Die Klassenhäufigkeit h j gibt die Anzahl der Merkmalswerte x in der Klasse j mit j = 1 . . . k an.
Die Summenhäufigkeit H j entspricht der kumulierten Häufigkeit der Werte x aller Klassen
unterhalb und einschließlich der Klasse j :
j
H j = ∑ hl . (4.7)
l =1
Oft werden bei großer Versuchsanzahl anstelle der absoluten Häufigkeiten die auf den Stich-
probenumfang normierten Werte der relativen Häufigkeit
hj
rj = (4.8)
n
70 4 Statistische Grundlagen
Häufigkeit h
Klasse 5
Klasse 2
Klasse 4
Klasse 3
Klasse 1
Merkmalswert x x x
b
Rj
Empirische Verteilungs-
funktion
Relative Summenhäufigkeit
rj
1
Relative Häufigkeit
0,5
x x
Bisher wurden lediglich Kennwerte von Stichproben berechnet, bzw. diese grafisch darge-
stellt. Ziel ist die übersichtliche Aufbereitung von Versuchswerten. Man spricht in diesem
Zusammenhang auch von beschreibender oder deskriptiver Statistik. Ein Rückschluss auf
die Grundgesamtheit der Merkmalsgröße X ist damit noch nicht erfolgt. Dies ist Teil der
schließenden oder induktiven Statistik.
PÜ = 1 − PA. (4.11)
F (x ) = P ( X ≤ x ) (4.12)
Die Verteilungsfunktion wird aus dem Integral über der Dichtefunktion einer Verteilung
berechnet.
x
F (x ) = ∫ f (x̃ ) dx̃ (4.13)
−∞
72 4 Statistische Grundlagen
4.3.1 Normalverteilung
Die Normalverteilung ist von zentraler Bedeutung für viele statistische Vorgänge in Natur
und Technik. Zum einen können viele Prozesse zumindest näherungsweise mit der Nor-
malverteilung beschrieben werden. Zum anderen folgt aus dem zentralen Grenzwertsatz,
dass die Summe vieler unabhängiger Merkmale näherungsweise auch normalverteilt ist.1
Die Dichtefunktion f (x ) ist durch die beiden Parameter μ und σ vollständig beschrieben,
weshalb die Normalverteilung als zweiparametrische Verteilung bezeichnet wird:
1 1 x −μ 2
− ( )
f (x ) = √ e 2 σ . (4.14)
σ 2π
1
Die Merkmalsgrößen selbst müssen dafür nicht notwendigerweise normalverteilt sein, sondern lediglich aus
derselben Grundgesamtheit (mit Erwartungswert und Varianz) stammen. Die Summe aus n Merkmalswerten
ist dann im Grenzübergang n → ∞ normalverteilt.
4.3 Statistische Verteilungsfunktionen 73
a) f(x) b)
μ=2,5, σ=2 F(x)
0,6 μ=0, σ=1 1
=-3, σ=0,7
0,8
0,4
0,6
0,4
0,2
μ=2,5, σ=2
0,2 μ=0, σ=1
=-3, σ=0,7
0 0
-6 -4 -2 0 2 4 6 x -6 -4 -2 0 2 4 6 x
Abb. 4.3: Einfluss von Mittelwert und Streuung a) auf die Dichtefunktion und b) auf die Verteilungs-
funktion der Normalverteilung
F(x)
Maximum
f(x)
Wendepunkt Wendepunkt
Dichtefunktion f(x)
Verteilungsfunktion F(x)
-σ +σ x
Das zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit zu bestimmende Integral in (4.15) und (4.16)
ist für die Normalverteilung nicht geschlossen lösbar und muss daher numerisch berechnet
werden. Alternativ kann die Berechnung über die standardisierte Normalverteilung erfolgen.
Dafür sind in vielen mathematischen Tabellenbüchern die Werte tabelliert. Als standardisiert
74 4 Statistische Grundlagen
Dabei beschreibt x (P A ) den Wert der Zufallsgröße, für den die Werte x mit der Wahrschein-
lichkeit P A unterhalb von x (P A ) liegen. Aufgrund der Symmetrie der Normalverteilung gilt
u (1−P ) = −u. Daher erfolgt die Umrechnung einer Merkmalsgröße unter Verwendung der
Überlebenswahrscheinlichkeit nach
x (P Ü ) = μ − u P Ü ⋅ σ. (4.20)
Ausfallwahrscheinlichkeit PA
100 10-1 10-2 10-3 10-4 10-5 10-6 10-7
0
1
-1,282
2
Quantil u
-2,326
3
-3,090
4 -3,719
-4,265
5 -4,753
-5,199
6
Sind die Werte der Grundgesamtheit nicht bekannt, werden anstelle von μ und σ die Schätzer
x̄ und s aus der Stichprobe verwendet.2
Die Quantile für die Ausfallwahrscheinlichkeit können in Excel auch direkt mit der Funktion
=NORM.S.INV(P A ) berechnet werden. Bei der Berechnung der Überlebenswahrschein-
lichkeit sind diese Werte entsprechend mit −1 zu multiplizieren. Alternativ lassen sich die
Merkmalswerte für eine bestimmte Wahrscheinlichkeit auch ohne den Umweg über die
standardisierte Normalverteilung mit =NORM.INV(P A ;μ;σ) bestimmen.
Beispiel
Die Zugfestigkeit eines Werkstoffs ist mit μ = R m,50 % = 532 MPa und σ = 41 MPa
normalverteilt. Gesucht ist die Zugfestigkeit für die Überlebenswahrscheinlichkeit
von P Ü = 99 %.
Lösung
Aus Abbildung 4.5 oder Excel und unter Ausnutzung der Symmetrie der Normalver-
teilung folgt u (P Ü =99 %) = 2,326. Mit Gleichung (4.20) berechnet sich:
R m,(P Ü =99 %) = R m,50 % − u (P Ü =99 %) ⋅ σ = 532 MPa − 2,326 ⋅ 41 MPa = 437 MPa.
◻
4.3.1.3 Log-Normalverteilung
Die Verteilung der Lebensdauer eines schwingend beanspruchten Bauteils lässt sich sehr
gut mit der log-Normalverteilung beschreiben [230]. Das ist keine neue Verteilung, sondern
bedeutet, dass die Logarithmen der Merkmalswerte anstelle der Merkmalswerte selbst nor-
malverteilt sind. Für sie gelten dann die gleichen Zusammenhänge aus Abschnitt 4.3.1.1.
Hierbei ist darauf zu achten, zu welcher Basis der Logarithmus gebildet wird. Die nachfolgen-
den Formeln gelten für den Logarithmus zur Basis 10. Wird die Verteilung für den linearen
Merkmalswert aufgetragen, ist die log-Normalverteilung schief und nur für positive Werte
definiert. In Abbildung 4.6 ist die Dichtefunktion der log10 -Normalverteilung für verschiedene
Standardabweichungen und jeweils μ = 1 dargestellt.
Mit zunehmender Streuung wird die Verteilung immer schiefer. Der Mittelwert für eine
Stichprobe aus n Versuchen mit konstanter Spannungsamplitude im Zeitfestigkeitsgebiet
kann aus
1 n
lg N = lg N50 % = ∑ lg Ni (4.21)
n i =1
2
Dazu kann der Vertrauensbereich, innerhalb dessen die Parameter der Grundgesamtheit um die Schätzwerte
liegen, nach Abschnitt 4.6 abgeschätzt werden.
76 4 Statistische Grundlagen
Standardabweichungen
σ1 < σ2 < σ3
f(x)
1σ1, μ
2σ2, μ
3σ3, μ
Abb. 4.6: Dichtefunktion der log-Normalverteilung für verschiedene Streuungen σi und identischen
Mittelwerten μ bei linearer Auftragung des Merkmals x
Die Berechnung der Wahrscheinlichkeit erfolgt dann entsprechend nach Gleichung (4.19) mit
den Logarithmen von N :
lg NP = lg N50 % ± u P ⋅ s lg N (4.23)
bzw.
NP = 10lg N50 % ±uP ⋅slg N . (4.24)
definiert. Der Grund liegt in der besseren Anschaulichkeit im Vergleich zur logarithmischen
Standardabweichung. So gilt für T N = 3,4, dass die Lebensdauer bei 10 % Überlebenswahr-
scheinlichkeit dem 3,4-fachen der Lebensdauer bei 90 % Überlebenswahrscheinlichkeit ent-
spricht. In Spannungsrichtung gilt für die Streuspanne
Dieser ergibt sich durch Einsetzen der Gleichungen (4.24) in (4.25), wobei der Faktor 2,563 =
2 ⋅ u 90 % ist. Bisweilen wird die Streuspanne auch reziprok zu Gleichung (4.25) bzw. (4.26)
definiert, z. B. in [25]. Dann bedeutet zwar T = 1 ∶ 3,4 dieselbe Streuung wie T = 3,4, allerdings
muss dies beim Rechnen mit der Streuspanne berücksichtigt werden. So ist der Exponent in
Gleichung (4.28) mit −1 zu multiplizieren. Außerdem ist zu beachten, dass die Streuspanne
nur bei log-Normalverteilung ein sinnvolles Maß für die Streuung ist.
Weibullverteilung
Die nach Weibull [293] benannte dreiparametrische Verteilung wird ebenfalls zur Beschrei-
bung der Lebensdauer von technischen Bauteilen verwendet. Ihr Vorteil besteht darin, dass
sie durch geeignete Wahl ihrer Parameter an verschiedene andere Verteilungen angepasst
werden kann. Die Dichtefunktion ist mit
definiert. Dabei ist x die Merkmalsgröße, der Weibull-Exponent κ ist als Formparameter ein
Maß für die Streuung, der Maßstabsfaktor x 0 entspricht dem Merkmalswert bei P A = 63,21 %
und x min ist die minimale Merkmalsgröße. Durch x min ist die Weibullverteilung nach unten
hin geschlossen. Für x < x min ist die Ausfallwahrscheinlichkeit P A = 0. Im Allgemeinen ist
es aber sehr aufwendig, diese untere Grenze zu bestimmen. Die Verteilungsfunktion zur
Berechnung der Ausfallwahrscheinlichkeit ergibt sich durch Integration von Gleichung (4.29):
x −x κ
−( x −xmin )
F (x ) = 1 − e 0 min . (4.30)
Wird der Verschiebungsparameter x min = 0 gesetzt, ergibt sich die zweiparametrische Wei-
bullverteilung, welche wie die log-Normalverteilung im Bereich 0 ≤ x ≤ ∞ definiert ist. Die
Weibullverteilung wird in der Betriebsfestigkeit zur Berechnung von Ausfallwahrscheinlichkei-
ten selten verwendet, findet aber bei Prozessen mit überlagertem Verschleiß, z. B. Wälzlagern
und elektronischen Bauteilen breite Anwendung.
Logistische Verteilung
Die logistische Verteilung, bisweilen auch als Logitverteilung bezeichnet, ist ähnlich der
Normalverteilung symmetrisch und mit 2 Parametern, nämlich α und β, beschreibbar. Die
78 4 Statistische Grundlagen
√
arcsin P -Verteilung
√
Bisweilen wird zur Beschreibung der Dauerfestigkeit auch die arcsin P -Verteilung verwendet.
Sie besitzt einen Lage- und einen Formparameter. Aufgrund ihrer mathematischen Formu-
lierung ist sie auf beiden Seiten geschlossen und ermöglicht somit die Angabe von 0 %- und
100 %-Ausfallwahrscheinlichkeiten. Diese Werte ergeben sich bereits im Abstand von 2,38
Standardabweichungen vom Mittelwert, was experimentellen Untersuchungen zur Dauer-
festigkeit mit großen Stichproben widerspricht. Da sich diese Grenzwerte lediglich aus den
beiden Parametern für Lage und Streuung der Verteilung ergeben, ohne wie bei der dreipara-
metrischen Weibullverteilung separat durch einen weiteren zu definierenden Parameter, ist
√
von der Anwendung der arcsin P -Verteilung in der Betriebsfestigkeit unbedingt abzuraten.
99,9
99
Normalverteilung
Ausfallwahrscheinlichkeit in %
90 log-Normalverteilung
logistische Verteilung
50 Weibullverteilung
(zweiparametrisch)
mittlere normalverteilte
10 Stichprobe n = 10
0,1
70 80 90 100 110 120 130
Merkmalswert x
Abb. 4.7: Vergleich verschiedener Verteilungsfunktionen mit gleichem Erwartungswert μ = 100 und
gleicher Standardabweichung σ = 7
ebenso wie die log-Normalverteilung nicht symmetrisch ist. Insbesondere im Bereich der
Dauerfestigkeit kann die tatsächliche Verteilung experimentell nur mit sehr großem Auf-
wand ermittelt werden. Eine Möglichkeit dafür bietet die Probit-Methode (siehe Hinweis in
Abschnitt 10.2.3).
4.3.3 Binomialverteilung
3
Schwingfestigkeitsversuche müssen nach einer endlichen Zeit abgebrochen werden. Dies geschieht nach
Erreichen der Grenzlastzyklenzahl NG , die hinreichend weit oberhalb des Abknickpunktes der Wöhlerlinie
ND liegen muss. Genauere Erläuterungen finden sich in Abschnitt 10.2.
80 4 Statistische Grundlagen
x̄ = n ⋅ p (4.35)
Mittels Regression wird ein funktionaler Zusammenhang zwischen zwei Größen beschrieben.
Im Spezialfall der linearen Regression wird eine Ausgleichsgerade durch n Messpunkte (x i ; y i )
in der Form
y = a ⋅x +b (4.37)
berechnet. Dabei ist zwischen der im Versuch gemessenen abhängigen Größe y, der Wirkung
(z. B. der Bruchlastzyklenzahl), und der im Versuch vorgegebenen unabhängigen Variable
x, der Ursache (z. B. der Spannungsamplitude), zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist
wichtig und hat unter Umständen einen großen Einfluss auf das Ergebnis. Nach der Methode
der kleinsten Quadrate wird der quadrierte Abstand jedes Messwertes in y-Richtung zur
noch unbekannten Regressionsgeraden als Fehlermaß verwendet (Abbildung 4.8) und deren
Summe minimiert:
n
2
∑ ( y i − a ⋅ x i − b ) → min (4.38)
i =1
Aus Gleichung (4.38) folgt ein lineares Gleichungssystem, dessen Lösung die beiden Parameter
a und b der gesuchten Ausgleichsgeraden sind:
sx y
a= (4.39)
s x2
und
b = ȳ − a ⋅ x̄ (4.40)
4.4 Lineare Regressionsrechnung 81
y
Messwerte
Regressionsgerade
Abstand in
Regressionsrichtung
x x
Die in Gleichungen (4.39) und (4.40) verwendeten Größen sind die Kovarianz der x- und
y-Werte
n
1 1 n n
sx y = (∑ x i y i − ∑ xi ∑ y i ) (4.41)
n −1 i =1 n i =1 i =1
(in Excel über =KOVARIANZ.S() berechenbar), die Varianz der x-Werte
2
1 ⎛n 2 1 n ⎞
s x2 = ∑ x i − (∑ x i ) (4.42)
n − 1 ⎝i =1 n i =1 ⎠
1 n 1 n
x̄ = ∑ xi und ȳ = ∑ yi . (4.43)
n i =1 n i =1
Die Streuung der Messpunkte um die Regressionsgerade wird durch die Reststreuung (auch:
Standardfehler der Residuen) s R beschrieben:
n
1 2
s R2 = ∑ ( y i − y (x i ))
n − 2 i =1
2
1 ⎛n 2 1 n n
1 n n ⎞
= ∑ y i − (∑ y i ) − a (∑ x i y i − ∑ x i ∑ y i ) . (4.44)
n − 2 ⎝i =1 n i =1 i =1 n i =1 i =1 ⎠
Bei der linearen Regression wird neben der Lage der Geraden, ausgedrückt durch die Konstan-
te b auch der Anstieg a geschätzt. Der Freiheitsgrad ist durch die Schätzung zweier Parameter
nur noch n − 2. Das wird bei der Berechnung der Varianz durch Division mit n − 2 anstelle von
n − 1 wie in Gleichung (4.5) für Stichproben berücksichtigt. Nur so ist Gleichung (4.44) ein
82 4 Statistische Grundlagen
Messwerte
y-Richtung
x-Richtung
x x
Abb. 4.9: Einfluss der Fehlerrichtung auf die Lage der Regressionsgeraden
erwartungstreuer Schätzer der Varianz [13]. In Excel ist Gleichung (4.44) unter der Funktion
=STFEHLERYX( X ;Y ) hinterlegt.
Selbstverständlich bieten die meisten Programme eine automatische Regression an. Dabei
ist jedoch stets darauf zu achten, in welcher Richtung das Fehlermaß gebildet und mini-
miert wird. So wird in Excel der Fehler stets in y-Richtung betrachtet. Bei der Ermittlung der
Wöhlerlinie aus n Versuchspunkten muss bei der automatischen Regression y = lg N und
x = lg σa gesetzt werden, obwohl die Wöhlerlinie üblicherweise mit N auf der horizontalen
Achse dargestellt wird. Wenn alle Messpunkte genau auf einer Geraden liegen, führen beide
Regressionsrichtungen auf dasselbe Ergebnis. Abbildung 4.9 zeigt ein extremes Beispiel mit
drei Messwerten.4 Hier hat die Richtung des Fehlermaßes einen entscheidenden Einfluss auf
das Ergebnis. Der Schnittpunkt beider Regressionsgeraden ist dabei stets der Schwerpunkt
der Versuchsdaten.
Eine alternative Methode zur statistischen Auswertung von Stichproben stellt die Auswertung
im Wahrscheinlichkeitsnetz dar. Die Auswertung kann sowohl grafisch »per Hand« als auch
rechnerisch geschehen. Nach [135] ist dies die treffsicherste Methode zur Auswertung von
Schwingfestigkeitsversuchen im Zeitfestigkeitsgebiet. Im Wahrscheinlichkeitsnetz sind die
Quantile der Verteilungsfunktion über der Merkmalsgröße aufgetragen. Der typische S-Schlag
der Verteilungsfunktion wird durch das lineare Auftragen der Quantile anstelle der Wahr-
4
Bei einem solchen Versuchsergebnis stellt sich allerdings die Frage, ob der Stichprobenumfang zu gering
gewählt ist, oder überhaupt ein linearer Zusammenhang zwischen den Größen gilt.
4.5 Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz 83
100 4
99,99
90 3
99,9
80
Ausfallwahrscheinlichkeit in %
Ausfallwahrscheinlichkeit in %
99 2
70
90 1
60
Quantil u0
50 50 0
40 -1
30 10
-2
20 1
10 0,1 -3
0 0,01 -4
Merkmalswert x Merkmalswert x
Abb. 4.10: Verteilungsfunktion mit linearer Einteilung der Wahrscheinlichkeit (links) und linearer
Einteilung der Quantile (rechts)
4
99,99
Ausfallwahrscheinlichkeit in %
99,9 3
99 2
90 1
Quantil u
u=1
50 0
s
-1
10
-2
1
Messwerte
-3
0,1 Ausgleichsgerade
0,01 -4
Merkmalswert x
xത
Anhand von Gleichung (4.45) kann ebenfalls abgeschätzt werden, welcher Bereich der Ver-
teilung mit der gegebenen Versuchsanzahl n abgedeckt wird. So sind beispielsweise die
extremen Wahrscheinlichkeiten für n = 10: P min = 6,45 % bzw. P max = 93,5 5% und für n = 25:
P min = 2,63 % bzw. P max = 97,37 %. Um mit einer Stichprobe Wahrscheinlichkeiten von über
99 % bzw. 1 % mit abzudecken, sind im Schnitt n = 67 Versuche notwendig.
Beispiel
Für einen Stahl wurde die 0,2 %-Dehngrenze in 8 Versuchen gemessen. Die Ergebnis-
T
se lauten R p0,2 = (420; 408; 388; 430; 402; 436; 415; 405) MPa.
Gesucht sind Mittelwert und Standardabweichung der Stichprobe mittels Auswer-
tung im Wahrscheinlichkeitsnetz.
Lösung
Die Ergebnisse werden aufsteigend nummeriert und mit Gleichung (4.45) die Ausfall-
wahrscheinlichkeit geschätzt. Die Regression nach Abschnitt 4.4 ergibt mit x = u und
y = R p0,2 (streuende Größe) die Gleichung R p0,2 = a ⋅ u + b mit den Werten a = 16,94
und b = 413,0. Damit können der Mittelwert mit R̄ p0,2 = b = 413 MPa und die Stan-
dardabweichung mit s = a = 16,9 MPa berechnet werden.
Zum Vergleich kann die Stichprobe auch mit den Gleichungen (4.1) und (4.5) ausge-
wertet werden. Der Mittelwert ist identisch zur Auswertung im Wahrscheinlichkeits-
netz mit R̄ p0,2 = 413 MPa. Für die Standardabweichung ergibt sich mit s = 15,6 MPa
jedoch ein geringerer Wert als im Wahrscheinlichkeitsnetz.
4.5 Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz 85
2
Rp0,2% i PA(i) u(i)
1,5
388 1 8% -1,41
1
402 2 20% -0,84
0,5
Quantil u
405 3 32% -0,47
0
408 4 44% -0,15
-0,5
415 5 56% 0,15
-1
420 6 68% 0,47
-1,5
430 7 80% 0,84
-2
436 8 92% 1,41 380 400 420 440 460
Rp0,2 in MPa
Einen weiteren Vorteil bietet das Wahrscheinlichkeitsnetz zur qualitativen Beurteilung einer
Stichprobe. In Abbildung 4.12 sind drei charakteristische Fälle dargestellt. Auf der linken
Seite handelt es sich um eine nicht-normalverteilte Größe. Es ist zu erkennen, dass die Ver-
suchspunkte einen S-förmigen Verlauf haben und besonders an den Rändern nicht auf einer
Geraden liegen. Dies ist nicht mit einem Verteilungstest gleichzusetzen, sondern ermöglicht
lediglich eine qualitative Abschätzung. Dazu ist eine gewisse Erfahrung erforderlich, zumal die
Unterschiede erst ab einer gewissen Stichprobengröße deutlich werden. Mittig in Abbildung
4.12 ist eine normalverteilte Stichprobe mit einem Ausreißer am unteren Rand dargestellt.
Auch hier kann lediglich vermutet werden, dass bei dem Probekörper oder auch bei der
Versuchsdurchführung Fehler vorlagen. Statistisch ist dieses Ergebnis dennoch möglich. Auf
der rechten Seite ist eine Mischverteilung dargestellt. Sie besteht aus zwei normalverteilten
Chargen. Davon hat die eine einen kleineren Mittelwert bei einer hohen Streuung und die
andere einen höheren Mittelwert bei geringer Streuung.
Bei log-normalverteilten Größen werden für die Regression im Wahrscheinlichkeitsnetz die
logarithmierten Merkmalswerte eingetragen. Für die »händische Regression« werden auch
Wahrscheinlichkeitsnetze mit logarithmischer Achsenskalierung verwendet und das Merkmal
direkt eingetragen. Weiterhin gibt es für andere Verteilungen auch entsprechende Wahrschein-
lichkeitsnetze, so z. B. das Weibullnetz. Auch dafür werden wieder die Quantile linear über
dem Merkmal aufgetragen. Allerdings unterscheidet sich die Auswertung von der hier für die
Normalverteilung dargestellten.
86 4 Statistische Grundlagen
99,99
99,9
Ausfallwahrscheinlichkeit in %
99
90
50
10
1
0,1
0,01
Merkmalswert x Merkmalswert x Merkmalswert x
Abb. 4.12: links: nicht normalverteilte Größe, mittig: Normalverteilung mit Ausreißer, rechts: Mischver-
teilung aus zwei Normalverteilungen mit unterschiedlichen Mittelwerten und Streuungen
4.6 Vertrauensbereich
Eine Versuchsreihe schätzt die Kennwerte der Grundgesamtheit μ und σ mit den empiri-
schen Kennwerten Mittelwert x̄ und Standardabweichung s lediglich ab. Würden die Versuche
wiederholt werden, ergäben sich andere Werte für x̄ und s, obwohl sie wie die erste Versuchs-
reihe zur selben Grundgesamtheit gehören. Eine Übereinstimmung mit der Grundgesamtheit
oder der ersten Stichrobe wäre rein zufällig. Damit sind die Parameter x̄ und s einer Stich-
probe selbst Zufallsgrößen. Von Stichprobe zu Stichprobe streut x̄ um den Mittelwert der
Grundgesamtheit μ mit einer Standardabweichung von
σ
sm = √ . (4.46)
n
Dieser Wert wird auch als Standardfehler des Mittelwertes bezeichnet. Er ist von der Stan-
dardabweichung der Grundgesamtheit σ abhängig und wird mit steigender Versuchsanzahl
immer kleiner, d. h. μ wird immer besser geschätzt. Der Vertrauensbereich (auch als Kon-
fidenzintervall bezeichnet) gibt für eine bestimmte Vertrauenswahrscheinlichkeit γ (das
Konfidenzniveau) den Bereich um die geschätzten Werte der Stichprobe an, in dem die Kenn-
größe der Grundgesamtheit liegt. Eine Vertrauenswahrscheinlichkeit von γ = 1 − α = 90 %
bedeutet, dass mit 90 %-iger Wahrscheinlichkeit das angegebene Intervall den Parameter
der Grundgesamtheit enthält, bzw. mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von α = 10 % nicht
enthält.
Üblich ist die Angabe von Vertrauensbereichen mit einer Vertrauenswahrscheinlichkeit von
90 % . . . 95 %. Außerdem ist die Breite des Vertrauensbereichs noch vom Stichprobenumfang
4.6 Vertrauensbereich 87
Versuchsreihe
xത
abhängig. Der Vertrauensbereich wird schmaler und damit die Schätzung besser, wenn n
größer wird. In Abbildung 4.13 ist dieser Sachverhalt veranschaulicht. Für α = 10 % liegt der
Mittelwert μ im Vertrauensbereich von durchschnittlich 9 aus 10 Stichproben.
Die Mittelwerte vieler Stichproben streuen normalverteilt um μ. Das gilt auch näherungs-
weise, wenn die Grundgesamtheit selbst nicht normalverteilt ist5 . Bei bekannter Standard-
abweichung der Grundgesamtheit σ (z. B. als typische Werte ähnlicher Bauteile6 ) wird der
Vertrauensbereich wie folgt berechnet:
σ σ
x̄ − u (1− α ) ⋅ √ ≤ μ ≤ x̄ − u ( α ) ⋅ √ . (4.47)
2 n 2 n
Hier sind u (1− α ) wieder die Quantile der Standardnormalverteilung für die gewünschte Ver-
2
trauenswahrscheinlichkeit 1 − α. In der Betriebsfestigkeit und Materialprüfung sind allerdings
die einseitigen Konfidenzintervalle von Interesse. Es soll mit einer gewissen Konfidenz ge-
währleistet sein, dass der Mittelwert der Grundgesamtheit nicht größer als ein bestimmter
Grenzwert ist. Das Unterschätzen der Festigkeit ist unkritischer als das Überschätzen. Mit
dem einseitigen Vertrauensintervall wird die untere Grenze des Mittelwertes angegeben:
σ
μ ≥ x̄ − u (1−α) √ (4.48)
n
In Abbildung 4.14 ist der Unterschied zwischen beidseitigem und einseitigem Vertrauensbe-
reich dargestellt.
Ist die Standardabweichung der Grundgesamtheit unbekannt, muss diese ebenfalls aus den
Versuchsergebnissen geschätzt werden. Dadurch ist die Angabe des Vertrauensintervalls für
5
Das ist die Grundaussage des zentralen Grenzwertsatzes. Für hinreichend große Stichproben nähert sich die
Verteilung der Mittelwerte verschiedener Stichproben der Normalverteilung an.
6
Beispiele sind in Anhang 13 gegeben.
88 4 Statistische Grundlagen
f(x) f(x)
x x
den Mittelwert nicht mehr so genau möglich. Zur Berechnung des Vertrauensintervalls wird
die t -Verteilung7 verwendet. Diese ermöglicht es aus einer Stichprobe auf den Mittelwert
einer normalverteilten Grundgesamtheit mit unbenannter Varianz zu schließen. Die untere
Vertrauensgrenze des Mittelwertes ist dann
s
μ ≥ x̄ − t (1−α;n −1) √ . (4.49)
n
Die Quantile t (1−α;n −1) sind neben der Vertrauenswahrscheinlichkeit noch vom Stichproben-
umfang abhängig. So ist z. B. für die Irrtumswahrscheinlichkeit α = 10 % und n = 20 Versuche
t (1−α;n −1) = t (0,9;19) = 1,328. Die Berechnung mit Excel erfolgt über =T.INV(0,9;19). Die
Quantile der t -Verteilung konvergieren für große Stichprobenumfänge gegen die Quantile der
Standardnormalverteilung, was z. B. für n > 30 leicht in Excel überprüft werden kann. Das be-
deutet, für genügend große Stichproben wird die Standardabweichung der Grundgesamtheit
hinreichend genau abgeschätzt.
das beidseitige Konfidenzintervall für die Standardabweichung σ. Zum Beispiel ist das Quantil
für eine Irrtumswahrscheinlichkeit α = 10 % bei n = 20 Versuchen χ2 = χ2(0,95;19) =
(1− α2 ;n −1)
30,14. Die Berechnung mit Excel erfolgt mit dem Befehl =CHIQU.INV(0,95;19). Wie
beim Mittelwert ist auch für die Streuung die einseitige Vertrauensgrenze von Interesse. So
7
Die t -Verteilung zählt zu den Prüfverteilungen. Ihre Dichtefunktion hat ähnlich der Normalverteilung eine
Glockenform und ist symmetrisch. Allerdings ist sie an den Rändern breiter und ihr Maximum niedriger.
4.6 Vertrauensbereich 89
soll die Standardabweichung mit einer bestimmten Konfidenz nicht zu klein geschätzt werden.
Diese obere Grenze wird mit
n −1
σ ≤ s ⋅
(4.51)
χ2(1−α;n −1)
berechnet.
Auch die Ermittlung einer Regressionsgeraden (4.37) aus einer Stichprobe stellt eine Schät-
zung dar, deren Vertrauensbereich angegeben werden kann. Für ein beidseitiges Konfidenzin-
tervall werden die untere und obere Grenze bei einer Konfidenz α durch
1 (x − x̄ )
2
y u (x,α,n ) = a ⋅ x + b − t (1− α ;n −2) ⋅ s R ⋅
+ n (4.52)
2
n 2
∑ (x i − x̄ )
i =1
1 (x − x̄ )
2
y o (x,α,n ) = a ⋅ x + b − t ( α ;n −2) ⋅ s R ⋅
+ n (4.53)
2
n 2
∑ (x i − x̄ )
i =1
beschrieben. Damit wird der Bereich für die tatsächliche Regressionsgerade eingegrenzt, siehe
Abbildung 4.15. Dabei ist s R die Standardabweichung der Versuchspunkte zur Regressionsge-
raden (Reststreuung) nach (4.44). Soll wieder die untere Grenze des einseitigen Vertrauensbe-
reichs angegeben werden, so ist das Quantil t (1−α;n −2) zu verwenden.
y Messwerte
Regression
beidseitig
einseitig unten
Nertr,50 %
jN = . (4.55)
Nvorh,50 %
Im Zeitfestigkeitsbereich lassen sich beide Sicherheitszahlen über den Exponenten der Wöh-
lerlinie ineinander umrechnen:
1
jσ = ( j N ) k . (4.56)
In Abbildung 4.16 ist anhand einer Wöhlerlinie die Verschiebung für eine geforderte Aus-
fallwahrscheinlichkeit von P A = 0,1 % in Festigkeits- und Lebensdauerrichtung gezeigt. Die
nachfolgenden Zusammenhänge gelten stets unter Annahme einer logarithmischen Normal-
verteilung der Schwingfestigkeit und Lebensdauer. Es werden die nachfolgend aufgeführten
Fälle zur Berechnung der Sicherheitszahl unterschieden.
lg σa
lg jσ
lg jN
lg σa,gef. lg TN
PA=90%
lg Tσ
PA=50%
PA=10%
PA=0,1%
lg Ngef. lg N
Beispiel
Gegeben ist eine Wöhlerlinie für P A = 50 %, mit dem Exponenten k = 5 und einer
Streuspanne in Lebensdauerrichtung T N = 4. Gesucht sind die Sicherheitszahlen j N
und j σ für eine geforderte Ausfallwahrscheinlichkeit von P A = 10−4 .
Lösung Mit s lg,N = 0,235 aus Gleichung (4.28) und u 0,01 % = −3,719 (aus Abbildung 4.5
bzw. mit Excel berechnet) beträgt die Sicherheitszahl nach Gleichung (4.58) j N = 7,47.
Die Beziehung (4.56) führt auf j σ = 1,50.
◻
Ist diese nicht bekannt, muss nach Gleichung (4.48) mit der im Versuch geschätzten Standard-
abweichung s lg und den entsprechenden Quantilen der t -Verteilung gerechnet werden:
s lg
t (1−α;n −1) ⋅ √
j n = 10 n. (4.60)
j = j PA ⋅ j n . (4.61)
Ist auch die Verteilung der Belastung bzw. Beanspruchung mit Mittelwert und Standard-
abweichung bekannt, wie in Abbildung 4.17 gezeigt, ergibt sich das folgende Vorgehen. Es
wird für beide Verteilungen eine logarithmische Normalverteilung angenommen, sodass die
Merkmale x = lg σ wieder normalverteilt sind. Die Beanspruchung x B streut mit der Standard-
abweichung s B um den Mittelwert x̄ B und die Festigkeit x F mit s F um x̄ F .
Es kommt zum Versagen, wenn die Differenz aus Festigkeit und Beanspruchung
z = xB − xF (4.62)
größer oder gleich null wird. Die Differenzwerte z sind wieder normalverteilt und zwar mit
√
dem Mittelwert m = m F − m B und der Standardabweichung s = s F2 + s B2 . Es lässt sich über
Normierung auf die Standardnormalverteilung folgende Sicherheitszahl für eine geforderte
Ausfallwahrscheinlichkeit herleiten [25]:
√
−u P ⋅ sF2 +sB2
j P A = 10 . (4.63)
f(x)
Beanspruchung
Festigkeit
sF
sB
xത B xF xB xത F x
Abb. 4.17: Berechnung der Sicherheitszahl bei streuender Festigkeit und Beanspruchung
4.8 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 4 93
Verständnisfragen
1. In mehreren Versuchen werden die Bruchlastwechselzahlen Ni auf einem Lasthorizont
ermittelt. Warum entspricht der arithmetische Mittelwert N̄i dieser Bruchslastwechsel-
zahlen nicht der 50 %-Lastwechselzahl?
2. Was versteht man unter Form- und Lageparameter einer Verteilung?
3. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Dichte- und Verteilungsfunktion?
4. Wie wird die Ausfall- in die Überlebenswahrscheinlichkeit umgerechnet?
5. Warum sollte die arcsin-Verteilung nicht für die Schwingfestigkeit angewendet werden?
6. Welche Funktion wird im Wahrscheinlichkeitsnetz dargestellt? Wie wird sie linearisiert?
7. Was versteht man unter Vertrauenswahrscheinlichkeit?
8. Was versteht man unter der Standardnormalverteilung? Wozu wird sie verwendet?
9. Für welche Größe wird bei linearer Regression der Fehler zur Ausgleichsgeraden mini-
miert?
10. Wann muss bei der Berechnung der Sicherheit auch die Vertrauenswahrscheinlichkeit
mit berücksichtigt werden?
11. Warum wird in der Betriebsfestigkeit der einseitige Vertrauensbereich verwendet?
94 4 Statistische Grundlagen
Aufgaben
1. Berechnen Sie eine Regressionsgerade durch die Punkte
xi 50 100 150 200
yi 23 45 55 112
wobei einmal der Fehler in x-Richtung und einmal der Fehler in y-Richtung mini-
miert werden soll. Stellen Sie die Punkte mit den Regressionsgeraden grafisch dar und
zeichnen Sie zusätzlich den Schwerpunkt der Punktwolke (x̄, ȳ ) ein.
2. In 9 Schwingfestigkeitsversuchen mit konstanter Kraftamplitude und dem Spannungs-
verhältnis R = −1 wurden folgende Bruchschwingspielzahlen ermittelt:
N = (99.600; 88.100; 55.500; 147.300; 73.000; 85.200; 61.600; 38.100; 81.600).
Ermitteln Sie die Bruchschwingspielzahl N50 % , die Standardabweichung s lg N und die
Streuspanne T N
a) rechnerisch
b) mittels Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz.
3. Eine Wöhlerlinie wurde aus 25 Versuchen im Zeitfestigkeitsgebiet für P A = 50 % ermittelt.
Die Streuspanne in Lebensdauerrichtung beträgt T N = 3,8 und der Wöhlerlinienexpo-
nent ist k = 6,2. Berechnen Sie die Sicherheitszahlen in Lebensdauer- und Lastrichtung
j N und j S für die geforderte Ausfallwahrscheinlichkeit P A = 0,01 % bei einer Irrtums-
wahrscheinlichkeit von α = 5 %.
5 Lastannahme
Spannungs-Zeit-Verlauf
Spannung S
Zeit t
Amplitudenkollektiv
bezogene Spannungsamplitude
0,8
Sa / Sa,max
0,6
0,4
0,2
0
1 10 100 1000 10000 100000 1000000
Summenhäufigkeit H
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 95
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_5
96 5 Lastannahme
Eine möglichst zuverlässige Lastannahme ist wesentlich für die Treffsicherheit eines Festig-
keitsnachweises. Häufig sind aber gerade die Belastungen eines Bauteils nur unzureichend
bekannt, was auch aus dem Begriff »Lastannahme« ablesbar ist. Im Gegensatz dazu werden
die aus den Lasten resultierenden Spannungen oft sehr genau berechnet. Diese Genauig-
keit ist jedoch wertlos, wenn die Lasten falsch oder nur sehr ungenau bekannt sind. Für die
Ermittlung der Lasten gibt es drei verschiedene Möglichkeiten:
1. Direkte Messung am konkreten oder ähnlichen Bauteil im realen Betrieb, meist über
Dehnungs- oder Beschleunigungsmessungen
2. Numerische Simulation mittels dynamischer Mehrkörpersimulation (MKS)
3. Verwendung von typischen Beanspruchungskollektiven aus Regelwerken, z. B. für Krane
oder Schienenfahrzeuge.
Eine fehlerfreie Messung ist die genaueste Methode zur Ermittlung der auf ein Bauteil ein-
wirkenden Lasten. Allerdings muss dabei sicher gestellt werden, dass auch seltene hohe
Belastungen mit erfasst werden und in der Messdauer die auftretenden Lasten entsprechend
ihrer relativen Häufigkeit richtig enthalten sind.
Bei der Simulation virtueller Prototypen mittels Mehrkörpersimulation wurden in den letzten
Jahren große Fortschritte gemacht [211]. Dabei werden z. B. im Automobilbau Erprobungs-
strecken im Ergebnis GPS-unterstützter Vermessung als virtuelle Straße in der Simulation
verwendet. Der auf ein Bauteil einwirkende Belastungs-Zeit-Verlauf wird bei der simulier-
ten Überfahrt virtueller Prototypen über diese virtuelle Straße berechnet. In Messungen am
realen, im Entwicklungszeitraum deutlich später verfügbaren Prototyp werden die Simulati-
onsergebnisse validiert.
Nur für wenige Anwendungsfälle sind Beanspruchungskollektive in Regelwerken angege-
ben. Meist ist das auch nicht sinnvoll, da die Beanspruchung einzelner Bauteile von vielen
einzelnen Parametern, wie Eigengewicht, Steifigkeit der angrenzenden Baugruppen oder
dem relativen Anteil verschiedener Betriebszustände abhängt. Für die experimentelle Erpro-
bung existieren jedoch verschiedene Standardlastfolgen, die in Tabelle 10.3, Abschnitt 10.3
angegeben werden.
Für die Beanspruchung wird in diesem Kapitel in Formeln und Abbildungen die Nennspan-
nung S verwendet. Dies liegt darin begründet, dass bei der experimentellen Belastungs-
messung die Schnittlasten üblicherweise nur elementar in Nennspannungen umgerechnet
werden, anstelle die Kerbspannung aufwändig zu berechnen. Nennspannungen können für
weitere Berechnungen und unter Annahme elastischen Materialverhaltens jederzeit mittels
eines konstanten Übertragungsfaktors in die Kerbspannung umgerechnet werden.
5.1 Beanspruchungs-Zeit-Verlauf 97
5.1 Beanspruchungs-Zeit-Verlauf
a) b)
Spannung
Spannung
Zeit Zeit
N1 des BZV. Abbildung 5.2 a) zeigt eine regelmäßige Lastfolge mit I = 1. Es gibt ebenso viele
Extrema wie Mittelwertdurchgänge. Ein regelmäßiger Prozess mit I ≈ 1 besteht fast nur aus
regulären Extremwerten, d. h. alle Maxima liegen oberhalb der Mittelspannung bzw. der
Mittellast und alle Minima darunter. Mit abnehmender Regelmäßigkeit treten vermehrt
irreguläre Extremwerte auf, also Maxima unterhalb der Mittelspannung und Minima oberhalb
der Mittelspannung.
180 12 180
150 11 150
120 10 120
Klassenmittenwerte Si
90 9 90
60 8 60
Klassennummer
Spannung S
30 7 30
Zeit
0 6 0
-30 5 -30
-60 4 -60
-90 3 -90
-120 2 -120
-150 1 -150
Durch die Klassierung werden kleine Schwankungen des Messsignals innerhalb einer Klas-
se vernachlässigt. Um kleine Schwankungen direkt an der Grenze zweier Klassen ebenfalls
zu verhindern, wird die Rückstellbreite verwendet. Diese bewirkt, dass ein Umkehrpunkt
erst dann in einer bestimmten Klasse gezählt wird, wenn er die Klassengrenze um einen
bestimmten Anteil der Klassenbreite überschritten hat. Die Anzahl der in einer Klasse i regis-
trierten Ereignisse wird als Klassenhäufigkeit h i bezeichnet. Werden die Klassenhäufigkeiten
klassenweise summiert, ergibt sich die Summenhäufigkeit H der Klasse i zu
i
Hi = ∑ h j . (5.2)
j =1
Das Zählverfahren beschreibt nun den Algorithmus, mit dem aus der klassierten Umkehr-
punktfolge ein Amplitudenkollektiv entsprechend Abbildung 5.1 abgeleitet wird. Die Dar-
stellung eines Amplitudenkollektivs erfolgt üblicherweise über der Summenhäufigkeit. Das
bedeutet, zu der Häufigkeit der Amplituden einer Kollektivstufe werden die Häufigkeiten der
darüber liegenden Stufen hinzuaddiert.
Es wird, abhängig davon wie viele Kenngrößen mit dem Verfahren erfasst werden, zwischen
einparametrischen und zweiparametrischen Zählverfahren unterschieden. Bei einparame-
trischen Verfahren wird ein einziger Parameter gezählt, z. B. die Extremwerte oder Klassen-
grenzenüberschreitungen. Sie reduzieren den gesamten Informationsinhalt eines BZV auf die
100 5 Lastannahme
Amplituden der idealisierten Lastzyklen1 mit der Häufigkeit ihres Auftretens. Zweiparametri-
sche Zählverfahren ordnen den Amplituden eine zusätzliche Aussage zum Mittelwert2 des
Lastzyklus zu.
Als zweiparametrisches Verfahren wird in diesem Buch das Verfahren der Rainflow-Zählung
behandelt (Abschnitt 5.2.2). Dieses ist auch zur Ableitung eines Spannungskollektivs zum
Festigkeitsnachweis in der FKM-Richtlinie vorgeschrieben und wird als Stand der Technik
angesehen.
Einparametrische Verfahren werden heute in Folge der technischen Entwicklung mit wenigen
berechtigten Ausnahmen kaum noch angewendet. Ihre Kenntnis ist jedoch erforderlich, weil
einige Firmen durchaus bei der Bemessung auf früher abgeleitete Beanspruchungskollek-
tive aus einparametrischer Klassierung noch heute zurückgreifen. Die Verfahren sind auch
in vielen Programmen zur Versuchsauswertung noch auswählbar. Besonders die Momen-
tanwertzählung und die Verweildauerzählung werden bei der Ableitung von Kollektiven im
Getriebebau heute noch angewendet [298].
Nachfolgend werden die einparametrischen Verfahren nur kurz erklärt. Für die meisten
Anwendungsfälle sollte die Rainflow-Klassierung in Abschnitt 5.2.2 verwendet werden. Sollte
nur diese von Interesse sein, kann der nachfolgende Abschnitt direkt übersprungen werden.
5.2.1.1 Spitzenwertzählung
Das bei der Spitzenwertzählung3 gezählte Ereignis sind die Extrema pro Klasse des klassierten
BZV. Dabei werden Minima und Maxima gemäß Abbildung 5.4 getrennt erfasst. Die Maxima
werden dann, wie in der Abbildung als Zählergebnis gezeigt, in abfallender Reihenfolge in
einem Diagramm übereinander aufgetragen. Begonnen wird mit dem betragsmäßig größten
Wert und die Auftragung erfolgt über der Summenhäufigkeit der gezählten Maxima. Die
Minima werden ansteigend über der Summenhäufigkeit eingetragen. Diese Darstellung wird
als Extremwertkollektive bezeichnet. Irreguläre Extrema werden nicht mit gezählt, da aus
ihnen keine Lastzyklen gebildet werden können. Die Zählung endet also im Schnittpunkt der
1
Dabei ergeben sich verfahrensbedingt zu den Spannungsamplituden auch unterschiedliche Mittelspannungen.
Diese sind allerdings physikalisch nicht korrekt, weil der zeitliche Bezug der den Lastzyklus bildenden
Extremwerte verloren ging.
2
Im Gegensatz zu den einparametrischen Verfahren sind das die tatsächlichen Mittelspannungen eines
Schwingspiels.
3
Das Verfahren wird auch als Extremwertzählung und im Englischen als peak counting bezeichnet.
5.2 Klassier- und Zählverfahren 101
Klassenmittenwerte Si in MPa
11 150 150
Nennspannung S in MPa
1
10 120 2 120
3
9 90 1 90
4 8
8 60 1 1 60
5 7
7 30 1 1 30
6 6
6 0 1 2 0
7 4
5 -30 1 1 -30
8 3
4 -60 1 -60
2
3 -90 0 -90
2
2 -120 1 -120
1 Minima
1 -150 1 -150
1 5 10
Summations- Summenhäufigkeit H
richtung
+ −
Hges = Hmax + Hmin . (5.3)
Aus dem Extremwertkollektiv wird ein Amplitudenkollektiv gebildet, indem Maxima und
Minima gleicher Häufigkeit zu ganzen Schwingspielen zusammengefasst werden. Dabei
entsteht immer eine neue Stufe des Amplitudenkollektivs, wenn ein Sprung im Verlauf der
Maxima oder Minima (in Abbildung 5.4, unter Zählergebnis) auftritt. Die Anzahl n der so
gezählten Schwingspiele entspricht der Hälfte der gezählten regulären Extremwerte:
Hges + + H−
Hmax
n= = min
. (5.4)
2 2
Aus den Ober- und Unterspannungen eines so erfassten Schwingspiels ergeben sich dann
die Spannungsamplituden und Mittelspannungen. Es werden lediglich Maxima und Minima
gleicher Häufigkeit zu Lastzyklen zusammengefasst, auch wenn sie zeitlich in dem ursprüng-
lichen BZV nichts miteinander zu tun hatten. Die Spitzenwertzählung ist daher ein sehr
»hartes« Zählverfahren, da immer die größten Extrema zusammen Lastzyklen bilden und
damit die Lastfolge rechnerisch auf eine zu hohe Schädigung führt. Abbildung 5.5 zeigt für
das Beispiel das Amplitudenkollektiv nach der Spitzenwertzählung. Die unterschiedlichen
Mittelwerte der Spannungsamplituden gehen aus dieser Darstellung nicht hervor.
102 5 Lastannahme
5.2.1.2 Klassengrenzenüberschreitungszählung
0 8
12 180 1 180 max
1 1 7
Klassenmittenwerte Si in MPa
11 150 0 150
Nennspannung S in MPa
1 1 7
10 120 2 120
3 3 5
9 90 1 90
4 4 4
8 60 0 60
4 4 4
7 30 0 30
4 4 4
6 0 1 0
3 5 3
5 -30 0 -30
3 5 3
4 -60 1 -60
2 6 2
3 -90 0 -90
2 6 2
2 -120 1 -120
1 7 1 min
1 -150 1 -150
0 8
1 5 10
Summations- Summenhäufigkeit H
richtung
Das Ergebnis ist ein Extremwertkollektiv. Die Gesamthäufigkeit der gezählten Extremwerte ist
um die zweifache Anzahl der irregulären Extremwerte vermindert:
+ − + −
Hges,KGÜZ = Hmax + Hmin − 2 ⋅ (Hmin + Hmax ). (5.5)
Je geringer die Regelmäßigkeit des BZV ist, desto mehr reguläre Extremwerte werden ge-
löscht. Dieses Klassierverfahren schätzt Prozesse mit geringer Regelmäßigkeit im Sinne ihrer
Ermüdung falsch ein und darf, wenn überhaupt, nur bei BZV mit einem Regelmäßigkeitsfak-
tor 0,8 < I < 1,0 angewendet werden. Der Vergleich der Abbildungen 5.4 und 5.6 zeigt diese
Problematik in ihrer Auswirkung auf die Anzahl der Lastzyklen. Auch bei diesem Zählverfah-
ren ergeben sich Lastzyklen aus dem Zusammenfügen von Maxima und Minima gleicher
Häufigkeit.
5.2.1.3 Momentanwertzählung
Das Verfahren wird mit Abb. 5.7 deutlich. Es ist für die Messung von Drehmomenten oder
Leistungen an z. B. Antriebssträngen mit meist konstanten Drehzahlen geeignet und auch
heute aktuell. Der Messwert wird mit einem konstanten Zeittakt abgetastet und die Werte in
Klassen eingeordnet. Die Darstellung erfolgt als Häufigkeit der Registrierung des Messwertes
in den Klassen. Wird die Abtastrate zur Drehzahl von Wellen oder zum Übersetzungsverhältnis
eines Getriebezahnrades in Verbindung gebracht, können mit diesem Klassierverfahren z.
B. die Lastzyklen der Getriebewellen oder der Getriebezahnbelastungen ermittelt werden.
An Stelle eines konstanten Zeittaktes kann die Zählung auch durch Umdrehungsimpulse
ausgelöst werden. Damit ist der direkte Bezug zu Belastungen der Getriebeteile auch bei
variierenden Drehzahlen näherungsweise hergestellt.
5.2.1.4 Verweildauerzählung
Auch dieses Verfahren wird hauptsächlich bei Getrieben oder Wellen angewendet. Registriert
wird die Zeit, die das Messsignal in der jeweiligen Klasse verweilt, siehe Abb. 5.8. Bei Fahr-
zeuggetrieben wird häufig die zweiparametrische Verweildauerzählung benutzt. Für jeden
einzelnen Getriebegang wird eine Matrix von Drehmoment über Drehzahl gebildet und in
den jeweiligen Matrixelementen die Verweildauer registriert. Aus der Verweildauer t i j und
der Drehzahl n j kann für jedes Matrixelement die Lastzyklenzahl h i j = t i j ⋅ n j berechnet
werden, mit der ein einzelner Getriebezahn belastet wird. Für jede Drehmomentklasse M i
kann nun durch Summation die Lastzyklenzahl h i dieser Klasse bestimmt werden. Auch wenn
hier zwei Parameter (Drehmoment und Drehzahl) registriert werden, bleibt es formal ein
einparametrisches Zählverfahren im Sinne der Beanspruchung. Der zweite Parameter dient
nur als Hilfsmittel zur Lastzyklenerfassung.
104 5 Lastannahme
12 180 1 180
Klassenmittenwerte Si in MPa
11 150 2 150
Nennspannung S in MPa
10 120 5 120
9 90 9 90
8 60 14 60
7 30 9 30
6 0 10 0
5 -30 10 -30
4 -60 7 -60
3 -90 5 -90
2 -120 2 -120
1 -150 1 -150
0 2 4 6 8 10 12 14 1 5 10 15
Zeitpunkte Δt Häufigkeit hi
5.2.1.5 Bereichspaarzählung
Die Rainflow-Zählung als zweiparametrisches Zählverfahren ist heute der Stand der Tech-
nik. Es geht auf Matsuishi und Endo zurück [220] und wurde vielfach weiterentwickelt. Der
hier vorgestellte Verfahrensablauf entspricht dem HCM-Verfahren von Clormann und See-
ger [119]. Im Gegensatz zu den einparametrischen Zählverfahren, die nur die Amplituden
zählen4 , werden hier die Ober- und Unterspannung eines Schwingspiels registriert, wor-
aus sich zusammengehörige Amplituden und Mittelspannungen ergeben. Das Ergebnis der
Rainflow-Zählung ist die Rainflowmatrix, in der geschlossene Schwingspiele mit Ober- und
Unterspannung sowie ihrer Häufigkeit beinhaltet sind.
Die Bezeichnung Rainflow-Zählung geht auf die anschauliche Beschreibung zurück, dass
bei Drehung des BZV um 90° Regen in Richtung der Zeitachse fließt. Dieser tropft von den
Dächern, welche die Umkehrpunkte bilden, auf eine Flanke des BZV und markiert somit
ein Schwingspiel. Diese Interpretation verdeckt allerdings den werkstoffmechanischen Hin-
tergrund des Verfahrens. Denn mit der Rainflow-Zählung definierte Schwingspiele entspre-
chen geschlossenen Hysteresen im σ − ε-Diagramm. Der werkstoffmechanische Hintergrund
besteht also in dem berechtigten Postulat, dass geschlossene Hysteresen als schädigungs-
relevante Ereignisse zu bewerten sind. Dies entspricht genau der Beanspruchung, die der
Wöhlerlinie zu Grunde liegt: bei der Beanspruchung mit konstanter Amplitude und konstanter
Mittelspannung bilden sich geschlossene Hysteresen.
Der Algorithmus der Rainflow-Zählung lässt sich anschaulich am Beispiel von elastisch-
plastischer Beanspruchung erklären. Nur dann bilden sich im σ − ε-Diagramm sichtbare
Hysteresen. Bei rein elastischer Beanspruchung liegen alle Beanspruchungen auf der Hoo-
ke’schen Geraden. Das Verfahren kann jedoch auch bei rein elastischer Beanspruchung und
auf beliebig andere Zeitverläufe, z. B. auch für Nennspannungen, Kräfte, Momente oder Wege,
angewendet werden.
Für die Beschreibung eines BZV im σ − ε-Diagramm sind zwei, auch experimentell nachweis-
bare, Modellvorstellungen des elastisch-plastischen zyklischen Materialverhaltens notwendig:
das Masingverhalten und das Werkstoffgedächtnis (Werkstoff-Memory).
4
Die Mittelspannungen der Schwingspiele ergeben sich rein formal, gehören aber physikalisch nicht zu den
Amplituden.
106 5 Lastannahme
Spannungs-Dehnungs-Pfad
σörtlich 7
Erstbelastungskurve M1 3
Hystereseäste M3
1
Memory (Werkstoffgedächtnis)
Typ 1, 2 und 3
5
M1 M2 M3
εtotal
2
M2
M3 7
4 Last
3
1
6 5
2 Zeit
4
6
Klassenmittenwerte Si in MPa
M3 12
11 4 10 d 150 150 ungskurve M2
10 120 120 - -Pfad 10
2a M1 4
9 90 90 M2 d
8c 8 2
8 60 60 a
11 16 c 11
7 14 30 30 3 14
6 3 0 0 9 e
6 M2 1 13
1 b 9 6
5 e -30 -30
13 b M2
4 -60 -60 7
3 7 -90 -90
2 -120 -120
1 15 -150 -150 5 M315 Memory
5 M3 0 Dehnung
Spannungs-Dehnungs-Pfad Rainflowmatrix
Si in MPa
120
150
180
-90
-60
-30
Si in MPa
30
60
90
0
180 M3 Si in MPa i 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Memory M2 12
150 -150 1
10
120 -120 2
schließender Ast von Klasse
M1 4
90 M2 d
8 2 -90 3
60 a -60 4 b
c 11
30 3 14 -30 5
M2 9
0 1 13
e 0 6 e c
6
-30 30 7 a
b M2
-60 7 60 8 d
-90 Erstbelast-
90 9
-120 ungskurve
-150
5 M315 - -Pfad 120 10
150 11
0 Dehnung
180 12
Ast von Klasse) und in den Spalten der obere Umkehrpunkt (schließender Ast nach Klasse)
registriert. Der Zahlenwert eines Matrixelements entspricht der Häufigkeit dieses Schwing-
spiels in dem BZV. Die zu einer geschlossenen Hysterese gehörenden Umkehrpunkte werden
nicht wieder berücksichtigt. Sie können für die weitere Zählung aus dem BZV gestrichen
werden. Am Ende der Zählung verbleiben nur noch nicht wieder geschlossene Hystereseäste.
Sie werden als Residuum bezeichnet und müssen mit bewertet werden. Das ist notwendig,
weil das Residuum oftmals die größten Extrema des BZV enthält. Üblich ist die Zählung der
108 5 Lastannahme
Residuenäste in der Rainflowmatrix als halbe Schwingspiele mit der Häufigkeit 0,5. Residu-
enäste, die von der Erstbelastungskurve ausgehen, können auch bei mehrfachen Durchlauf
des BZV nicht mehr geschlossen werden. Mit jeder Wiederholung ändert sich ausschließlich
die Rainflowmatrix, das Residuum bleibt nach jeder Wiederholung unverändert.
Die oberhalb der Hauptdiagonale der Rainflowmatrix eingetragenen Hysteresen »hängen«,
die unterhalb eingetragenen »stehen« auf ihrem Ausgangspunkt im σ-ε-Pfad. Spiegelbildlich
zur Hauptdiagonalen belegte Matrixelemente besitzen die gleiche Amplitude und Mittel-
spannung, aber unterschiedliche Dehnung. Weil in das Beanspruchungskollektiv keinerlei
Informationen zur Dehnung einfließt, ist es üblich, den unteren Teil der Matrix entlang der
Hauptdiagonalen »hochzuklappen« (Addition der Matrixelemente mit vertauschten Indizes)
und danach nur die obere Halbmatrix zu betrachten.
Das numerische HCM-Verfahren kann auch als grafischer Algorithmus dargestellt werden,
Abb. 5.12. Dieser besteht darin, dass beim Schließen einer Hysterese die dazu gehörenden
nächster Umkehrpunkt S
Memory:
• senkrechte Linie vor
aktuellen Punkt (davor EBK - Erstbelastungskurve
ungültige Punkte) S - Wert der Last
• |S| als neues |S|max merken
zwei Umkehrpunkte deutlich sichtbar gestrichen werden und außerdem das Auftreten von
Memory 1 und Memory 3 in der Lastfolge kenntlich gemacht werden. Alle bis zu diesen
Memory-Ereignissen noch nicht gestrichenen Umkehrpunkte gehören zum Residuum, weil
diese im σ-ε-Pfad nie wieder erreicht werden können.
Aus der Rainflowmatrix können die Ergebnisse der einparametrischen Klassierverfahren
Spitzenwertzählung und Klassengrenzenüberschreitungszählung abgeleitet werden [32]. Wei-
terhin können die Anzahl der Minima, Maxima und Mittelwertdurchgänge und damit der
Regelmäßigkeitsfaktor I ermittelt werden.
Abbildung 5.13 zeigt beispielhaft die aus einer Messfahrt ermittelte Rainflowmatrix einer An-
triebswelle. Der große Anteil von Schwingspielen mit hoher Mittellast und kleinen Amplituden
ist typisch für Wandlergetriebe in Nutzfahrzeugen.
Bei einparametrischen Zählverfahren werden die größten Maxima mit den kleinsten Minima
zu Lastzyklen zusammengefasst, auch wenn sie zeitlich in dem ursprünglichen BZV nichts
miteinander zu tun hatten. Im Sinne der Ermüdung entsteht so ein sehr »hartes« Kollektiv. Im
110 5 Lastannahme
5.3 Bemessungskollektive
Das Ergebnis der Zählverfahren sind Amplitudenkollektive. Für diese wird der Begriff Bemes-
sungskollektive verwendet, wenn sie für die Lebendauerabschätzung eines Bauteils mittels
linearer Schadensakkumulation verwendet werden. Ein Bemessungskollektiv muss dabei
nicht alle im Bauteilleben zu erwartenden Lastzyklen, aber alle zu erwartenden Amplituden
(Größe) beinhalten. Die Form des Kollektivs, also das Verhältnis der Amplituden und ihrer
Häufigkeiten, muss aber der Verteilung im gesamten Bauteilleben entsprechen.
Die Schadensakkumulation erfolgt im Allgemeinen anhand einer Wöhlerlinie mit einem
konstanten Spannungsverhältnis. Das ist in der Regel R = −1. Die Kollektive beinhalten aber
Spannungsamplituden mit unterschiedlichen Spannungsverhältnissen. Daher ist es zuerst
erforderlich ein schädigungsgleiches Ersatzamplitudenkollektiv zu bilden, in dem sämtliche
Kollektivstufen auf das Spannungsverhältnis der zu verwendenden Bemessungswöhlerlinie
umbewertet werden.
5.3.1 Ersatzamplitudenkollektiv
Für jede Kollektivstufe mit ihren Ober- und Unterspannungen können Amplitude, Mittelspan-
nung und Spannungsverhältnis berechnet werden:
So − Su
Sa = (5.6)
2
So + Su
Sm = (5.7)
2
Su
R= . (5.8)
So
Die Umbewertung der mittelspannungsbehafteten Spannungsamplituden S a in mittelspan-
nungsfreie, schädigungsgleiche Ersatzspannungsamplituden
Sa, Amplituden Sa
Sa,ers, Mittelspannungen Sm
Sm
Ersatzamplituden Sa,ers
+
+ +
- -
-
Lastzyklen N (Summenhäufigkeit)
2.2 unter Beachtung von Gleichung (2.6) nach σW umgestellt. Weiterhin werden die Kerb-
spannungen durch Nennspannungen ersetzt. Der einzige Unterschied zu den Gleichungen
in Tabelle 2.2 ist, dass jetzt beliebig hohe Spannungsamplituden schädigungsäquivalent
umgerechnet werden und nicht nur die Dauerfestigkeit auf die Wechselfestigkeit. Es gilt:
• Druckschwellbereich R ≥ 1:
S a,ers = (1 − M ) ⋅ S a (5.10)
• Zug-Druck-Wechselbereich −∞ < R ≤ 0:
S a,ers = S a + M ⋅ S m (5.11)
1+M M
S a,ers = ⋅ (S a + ⋅ S m ) (5.12)
1 + M /3 3
(1 + M )2
S a,ers = ⋅ Sa (5.13)
1 + M /3
Beispiel
Aus der in Abbildung 5.11 ermittelten Rainflowmatrix der Beispiellastfolge soll das
mittelspannungsfreie Ersatzspannungsamplitudenkollektiv berechnet werden. Die
Mittelspannungsempfindlichkeit beträgt M = 0,3 und die Residuen sollen als jeweils
halbe Schwingspiele berücksichtigt werden.
Lösung
Die Amplituden, Mittelspannungen und Spannungsverhältnisse folgen anhand der
Gleichungen (5.6) bis (5.8). Die Ersatzspannungsamplituden werden in Abhängigkeit
vom Spannungsverhältnis mit den Gleichungen (5.10) bis (5.13) berechnet:
n So/MPa Su/MPa Sa/MPa Sm/MPa R Sa,ers/MPa
1 90 30 30 60 0,33 42,5
Hysteresen
◻
Manchmal kann es physikalisch sinnvoll sein, auf die Bildung eines Ersatzamplitudenkol-
lektivs zu verzichten und nach einer Rainflow-Zählung die Informationen zum Mittelwert
der Amplitude nicht zu nutzen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn Beanspruchungskollektive
auf unterschiedliche Werkstoffe angewendet werden sollen oder auch in manchen Fällen der
Übertragung einer Belastungsklassierung auf daraus resultierende Beanspruchungen. Der
physikalische Vorteil der Rainflow-Zählung, nämlich dass die Amplituden aus geschlossenen
Hysteresen ermittelt wurden, bleibt gegenüber den einparametrischen Zählverfahren erhal-
ten. In diesem Fall werden die Matrixelemente mit gleichem Abstand zur Hauptdiagonalen
(siehe Abb. 5.11) addiert. Dieses Verfahren wird als Bereichs-Mittelwert-Zählung (range mean
counting) bezeichnet [32].
_
SD / SD
Hges H (log.)
1− x ν
H (x ) = ( Hges ) . (5.14)
Die Kollektivformen für verschiedene Werte des Formparameters sind in Abbildung 5.16 bei
einem Kollektivumfang von Hges = 106 dargestellt. Nach [32] sind für typische Formen bei
logarithmischer Darstellung der Summenhäufigkeit folgende Werte charakteristisch:
6
Bei Literaturangaben zum Spannungsverhältnis R eines Kollektivs sollte kontrolliert werden, ob tatsächlich
alle Amplituden des Kollektivs das gleiche Spannungsverhältnis aufweisen, oder R̄ gemeint ist.
114 5 Lastannahme
1
bez. Spannungsamplitude SA / SA ν=∞
_
0,8
0,6
0,4
Hges = 106
0,2
0
1 10 100 1000 10000 100000 1000000
Summenhäufigkeit H (log.)
Das Völligkeitsmaß ist vom Exponenten der Bauteilwöhlerlinie abhängig, mit der die Lebens-
dauerabschätzung erfolgen soll. Die Werte können im Bereich 0 ≤ v ≤ 1 liegen. Die größte
Schädigung liegt mit v = 1 bei Einstufenbeanspruchung, da dies der maximalen Völligkeit
entspricht.
Für Schweißkonstruktionen im Kranbau findet auch der Kollektivbeiwert p zur Charakteri-
sierung der Kollektivform Anwendung [52]. Er beschreibt das Verhältnis der Minimal- zur
Maximalamplitude der Beanspruchung. Damit werden Normkollektive, sogenannte p-Wert-
Kollektive beschrieben. Analog zum Völligkeitsmaß liegt p zwischen 0 und 1, wobei p = 1
wieder der Einstufenbelastung entspricht.
Den prinzipiellen Zusammenhang der Kollektivform mit der Schädigung zeigt Abbildung 5.17.
Die Schädigung wird allgemein größer, je stärker sich ein Kollektiv der Rechteckform, also
einer Einstufenbeanspruchung, annähert.
5.3 Bemessungskollektive 115
_ Schädigung ↑ bzw.
SA / SA Lebensdauer ↓
1
Hges H (log.)
Der gemessene BZV ist im Sinne der Statistik stets eine Stichprobe der Grundgesamtheit
der Belastung während des gesamten Bauteillebens. Durch eine Extrapolation des Ampli-
tudenkollektivs können selten auftretende und wahrscheinlich nicht gemessene Ereignisse
abgeschätzt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Form des gemessenen Kollektivs be-
reits repräsentativ für die Belastung des Bauteils ist und die Verhältnisse der Amplituden
und Häufigkeiten der Kollektivstufen untereinander richtig abgebildet werden. Die Extrapo-
lation entspricht einer fiktiven Verlängerung der Messzeit. Aus dem gemessenen Kollektiv
vom Umfang HM wird so ein Bemessungskollektiv mit dem Umfang HN , Abbildung 5.18. Die
Extrapolation umfasst folgende Schritte:
Letzteres ist notwendig, da die Extrapolation in Richtung der Spannungsamplituden oft ohne
jeglichen physikalischen Hintergrund erfolgt und die so ermittelten, neuen Kollektivgrößt-
werte evtl. überhaupt nicht möglich sind. Gegebenenfalls müssen die Kollektivhöchstwerte
entsprechend der konstruktiven Bedingungen gekappt werden.
Die Verlängerung der Hüllkurve in Schritt 2 erfolgt zumeist grafisch. Eine analytische Extrapo-
lation unter Verwendung des Völligkeitsmaßes ν wird in [177] beschrieben. Dabei wird der
Erhöhungsfaktor in Lastrichtung
S a,N
E= (5.16)
S a,M
116 5 Lastannahme
_
Sa
Extrapolation der
_ Beanspruchung
Sa,N
_
E
Sa,M Extrapolation
der Lastzyklen
gemessenes
Kollektiv e
HM HN H (log.)
HN
e= (5.17)
HM
In der praktischen Anwendung wird oft nur Schritt 1 der beschriebenen Extrapolation durch-
geführt, wenn lediglich die Ermüdungsfestigkeit nachgewiesen werden soll und kein statischer
Nachweis gegen Sonderlasten erfolgt.
5.3.4 Sonderereignisse
Sonderereignisse sind Beanspruchungen, die bei üblichen Messungen nicht auftreten, für
die betriebsfeste Auslegung eines Bauteils aber berücksichtigt werden müssen. Sonderer-
eignisse können z. B. Grabendurchfahrten bei Traktoren und Landmaschinen, Bordstein-
kantenüberfahrten bei PKW, Stromausfälle bei Anlagen, Blockierung von Antriebssystemen
oder ein Sturzflug bei Flugzeugen sein. Sie gehören nicht zum Missbrauch des Erzeugnisses.
Solch ein Missbrauchsereignis kann z. B. das Überfahren eines Hindernisses mit höherer
Geschwindigkeit sein. Das auslegungsrelevante Kriterium für Missbrauchsereignisse ist die
Formdehngrenze des Bauteils, welche bei gekerbten Bauteilen über der Streckgrenze des
Werkstoffs liegt. Als Formdehngrenze wird die örtliche Vergleichsdehnung oder zugehörige
Vergleichsspannung verstanden, bei der nach Entlastung eine bleibende Verformung eines zu
definierenden Maßes im Bauteil verbleibt. Oftmals ist aber der Übergang zwischen Sonderer-
eignissen und Missbrauch fließend. Deshalb sollten im Allgemeinen auch Sonderereignisse
gegen die Formdehngrenze untersucht werden. Sonderereignisse können in der Regel nur
durch gezielte Messungen erfasst werden. Das Teilkollektiv dieser Sonderereignismessungen
wird dann dem extrapolierten Kollektiv überlagert, Abbildung 5.20.
Eine andere Möglichkeit zur Abschätzung der Sonderereignisse ist eine statistische Extrem-
wertbetrachtung (wenn z. B. die Messung der Sonderereignisse zu gefährlich ist). Dazu werden
die Extremwerte von mehreren, den Sonderereignissen nahe kommenden Messungen im
Wahrscheinlichkeitsnetz aufgetragen (vgl. Abschnitt 4.5). Die Extrapolation seltener auftre-
tender Extremwerte erfolgt dann für eine bestimmte Eintrittswahrscheinlichkeit im Wahr-
118 5 Lastannahme
_
Sa Sonderereignisse
Extrapolation der
Beanspruchung
Sa,M Extrapolation
der Lastzyklen
gemessenes
Kollektiv
HM HN H (log.)
scheinlichkeitsnetz. Die Voraussetzung dafür sind stationäre Prozesse. Es dürfen daher nur
die Extremwerte von Teilkollektiven eines Betriebszustands und keine Mischkollektive extra-
poliert werden [32].
Es muss in jedem Einzelfall entschieden werden, ob die Extrapolation des gemessenen Kollek-
tivs bereits die Größenordnung von Sonderereignissen erfasst oder ob Extremwertbetrach-
tungen bzw. Sonderversuche erforderlich sind.
Nur in seltenen Fällen wird ein Bauteil nur durch einen Betriebszustand bzw. eine Bean-
spruchungsursache beansprucht. Dies verdeutlicht Abbildung 5.21 am Beispiel eines PKW.
Mehrere Einsatzzustände bestimmen die gesamte Nutzung. Das Belastungskollektiv des
Bauteils ist dann als Gesamtkollektiv zu bilden.
Die Berechnung eines Gesamtkollektivs erfolgt in folgenden Schritten:
1. Analyse von Art und Umfang des Einsatzes im »Gesamtleben«
Für die verschiedenen Einsatzzustände wird der zeitliche (prozentuale) Anteil am
Gesamtleben ermittelt. Einsatzzustände sind beispielsweise der Straßen- und Bela-
dungsanteil bei Straßenfahrzeugen, verschiedene Anbaugeräte und Straßenfahrt bei
Landmaschinen oder Steig- und Sinkflug, Manöver und Böen bei Flugzeugen.
2. Messung von Teilkollektiven für die verschiedenen Einsatzzustände
Für jeden ermittelten Einsatzzustand muss ein Teilkollektiv gemessen und ermittelt
werden. Bei dieser Messung sollte vorher bedacht werden, dass die Kollektive überlagert
werden sollen. Dies betrifft die Wahl des Messbereiches bzw. der Klassenbreite bei
der Klassierung und die Wahl der Messzeit. Es ist empfehlenswert, möglichst gleiche
5.3 Bemessungskollektive 119
Sollten die Klassenbreiten der Teilkollektive nicht mit der Gesamtmatrix übereinstimmen
und sind sie ganzzahlig vergleichbar, muss zuvor eine einfache lineare Umrechnung der
Häufigkeiten vorgenommen werden. Entsprechend ihrer Amplituden und Mittelspannungen
ordnen sich die Teilkollektive in die Gesamtmatrix ein. Abschließend wird das Gesamtkol-
lektiv bzw. die Gesamtmatrix extrapoliert und um Sonderereignisse erweitert. Oftmals ist es
sinnvoller, aber leider auch aufwändiger, vor der Überlagerung die einzelnen Teilkollektive zu
extrapolieren.
Stadtverkehr Bundesstraße
33% 25%
Autobahn
15%
Kreisstraße
10% Landstraße
17%
Verständnisfragen
Aufgaben
Für eine Maschinenkomponente wurde eine Beanspruchungsmessung mit Dehnmessstreifen
durchgeführt. Die gemessenen Dehnungen wurden in Nennspannungen umgerechnet und
liegen als Umkehrpunktfolge vor, die bereits in 8 Klassen eingeteilt ist (siehe Abbildung). Für
das betrachtete Bauteil beträgt die Mittelspannungsempfindlichkeit M = 0,3 und es gilt das
Haigh-Diagramm nach FKM-Richtlinie nach Abbildung 2.17.
44 60 165
150
10 34 135
120
105
90
16 22 28 42 46 54 56 64 75
60
2 4 8 12 14 18 24 30 32 36 38 40 48 50 52 58 62 45
30
27 45 55
15
0
1 3 5 7 9 11 13 15 19 23 25 29 33 37 39 41 47 53 57 59 61 65
-15
-30
17 31 43 49 51 63
-45
-60
21 35
-75
Umkehrpunktlastfolge (8 Klassen)
1. Spitzenwertzählung
a) Klassieren Sie die Umkehrpunktfolge nach dem einparametrischen Zählverfahren
Spitzenwertzählung. Tragen Sie das Ergebnis in das H -S-Diagramm ein.
150
120
Klassenmitten SKM in MPa
90
60
30
-30
-60
1 10 50
Summenhäufigkeit H (log.)
122 5 Lastannahme
b) Ermitteln Sie für die Schwingspiele die Häufigkeiten, Amplituden, Mittelwerte und
Spannungsverhältnisse.
c) Bilden Sie ein mittelspannungsfreies Ersatzamplitudenkollektiv.
2. Rainflowklassierung
a) Führen Sie für die gegebene Umkehrpunktfolge eine Rainflowzählung durch und
geben sie die Rainflowmatrix an. Beachten Sie, dass der Beginn als Erstbelastung
zu werten ist.
b) Ermitteln Sie für die Schwingspiele die Häufigkeiten, Amplituden, Mittelwerte
und Spannungsverhältnisse. Berücksichtigen Sie dabei das Residuum als halbe
Schwingspiele.
c) Bilden Sie ein mittelspannungsfreies Ersatzamplitudenkollektiv.
6 Bauteilbeanspruchung
Bauteilwöhlerlinie
Beanspruchungsgröße
Nenn- Nenn-
spannungen spannungen
Die Bezeichnung Nennspannungskonzept wird meist für die Nachweisführung auf Grundlage
einer experimentell bestimmten Bauteilwöhlerlinie verwendet. Diese wird am konkreten
Bauteil unter der im Betrieb auftretenden Belastung ermittelt. In diesem Fall muss die genaue
Beanspruchung im Bauteil nicht berechnet werden, da Beanspruchung und Beanspruchbar-
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 123
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_6
124 6 Bauteilbeanspruchung
keit in Nennspannungen formuliert sind. Alternativ können anstelle der Nennspannung auch
direkt Kräfte und Momente verwendet werden. Das Nennspannungskonzept auf Grundlage
einer experimentell ermittelten Bauteilwöhlerlinie ist für geschweißte und nicht geschweißte
Bauteile identisch.
Beim Kerbspannungskonzept werden rechnerisch abgeschätzte (synthetische) Wöhlerlinien
verwendet. Diese gelten für die versagenskritische Stelle, meist eine Kerbe des Bauteils. Daher
wird auch der Begriff der lokalen Wöhlerlinie verwendet. Der Grundgedanke hierbei ist, dass
ein Bauteil an jeder Stelle eine andere lokale Festigkeit besitzt. Diese hängt, wie in Kapitel 3
beschrieben, vom Spannungszustand, der Oberfläche und anderen Einflussgrößen ab. Die
Bauteilwöhlerlinie in Kerbspannungen ist damit die lokale Wöhlerlinie für die Stelle der
höchsten Auslastung bzw. der geringsten Sicherheit gegen Versagen. Der Festigkeitsnachweis
mit örtlichen Spannungen nach FKM-Richtlinie ist dem Kerbspannungskonzept zuzuordnen.
Das gilt im Prinzip auch für den FKM-Nachweis mit Nennspannungen. Auch dabei wird die
Bauteilwöhlerlinie rechnerisch abgeschätzt. Die Beanspruchung und die Beanspruchbarkeit
werden für den lokalen Nachweispunkt lediglich als Nennspannungen formuliert. Somit ist
die Nachweisführung für einfache Bauteile auch ohne FE-Berechnungen möglich.
Für geschweißte Bauteile kann die lokale Festigkeit einer Schweißverbindung anhand von
Kerbfallklassen auf Grundlage der Nennspannungen, durch Strukturspannungen oder Kerb-
spannungen abgeschätzt werden. Auf die Unterschiede wird in Abschnitt 6.4 eingegangen.
Entsprechend werden die Begriffe Nennspannungskonzept, Strukturspannungskonzept und
Kerbspannungskonzept bei der Verwendung abgeschätzter Bauteilwöhlerlinien geschweißter
Bauteile verwendet.
6.2 Spannungszustand
1
Für den statischen Festigkeitsnachweis und auch im Zeitfestigkeitsbereich treten durchaus Spannungen
oberhalb der Streckgrenze auf. Diese werden im Rahmen elastischer Konzepte allerdings ebenfalls anhand
von elastizitätstheoretisch berechneten Spannungen bewertet.
6.2 Spannungszustand 125
Schnittebene A
t t
τ
dA
dA
n n σ
F
M
Spannungsvektor
Äußere Belastungen bewirken im Bauteil innere Reaktionen, die den äußeren Belastungen
entgegengesetzt sind. Bei quasistatischer2 Beanspruchung stehen die inneren Reaktionen
mit den äußeren Belastungen im Gleichgewicht. In Abbildung 6.2 ist ein belasteter Körper
entlang einer Schnittebene A mit dem Normalenvektor n geschnitten dargestellt. Auf jedem
Flächenelement ΔA der Schnittfläche wirkt ein Kraftvektor ΔF . Der Spannungsvektor t ist für
einen Punkt der Schnittfläche definiert als
ΔF dF
t = lim = . (6.1)
ΔA →0 ΔA dA
Er kann in zwei Komponenten zerlegt werden. Die Koordinate der Komponente normal zur
Schnittebene ist die Normalspannung
σ = t ⋅n (6.2)
und die Koordinate der Komponente tangential zur Schnittebene ist die Schubspannung
√
τ= ∣t ∣2 − σ2 . (6.3)
Spannungstensor
Abhängig von der Ausrichtung (Winkel) der Schnittebene in einem Punkt des Bauteils er-
geben sich unterschiedliche Spannungsvektoren. Der Spannungszustand in einem Punkt
wird erst vollständig beschrieben, wenn die Spannungsvektoren auf drei normal aufeinander
2
Eine Belastung ist quasistatisch, wenn sie sich so langsam ändert, dass keine dynamischen Lasten durch
Trägheiten entstehen. Eine veränderliche, aber quasistatische Belastung kann daher als Abfolge von verschie-
denen Gleichgewichtszuständen betrachtet werden.
126 6 Bauteilbeanspruchung
y
σyy
τyx
τyz
τxy
τzy
σxx
τxz
x
τzx
σzz
z
stehenden Schnittebenen bekannt sind. Das ist in Abbildung 6.3 gezeigt. Die Spannungs-
vektoren der drei Schnittebenen werden in die kartesischen Komponenten des durch die
Schnittebenen beschriebenen Koordinatensystems zerlegt. Der erste Index der Koordinaten
der Spannungsvektoren gibt die Normalenrichtung der jeweiligen Schnittebene an und der
zweite Index die Richtung der Komponente. Bei den Normalspannungen wird oft der zweite
Index weggelassen, so dass z. B. σxx = σx gilt.
Diese neun skalaren Spannungen bilden die karthesischen Koordinaten des Spannungsten-
sors σ. Er enthält für ein gegebenes Koordinatensystem (x,y,z ) alle Normalspannungen und
Schubspannungen in den durch das Koordinatensystem definierten drei Schnittebenen. Die
Koordinaten des Spannungstensors können als 3x3 Matrix dargestellt werden:
⎡σ τ ⎤
⎢ x x y τxz ⎥
⎢ ⎥
⎢
σ = ⎢τ y x σ y τ y z ⎥
⎥. (6.4)
⎢ ⎥
⎢τzx τz y σz ⎥
⎣ ⎦
Der Spannungstensor ist symmetrisch, d. h. die zugeordneten Schubspannungen sind gleich
groß3
τx y = τ y x , τxz = τzx , τ y z = τz y . (6.5)
t = σ⋅n (6.6)
Dabei ist es egal, bezüglich welches Koordinatensystems die Komponenten des Spannungs-
tensors angegeben werden. Dies ist die charakteristische Eigenschaft eines Tensors: Die
physikalische Aussage ist unabhängig von der Wahl des Koordinatensystems. Mathematisch
betrachtet erfolgt durch den Spannungstensor in Gleichung (6.6) die lineare Abbildung des
Normaleneinheitsvektors auf den Spannungsvektor.
⎡σ − σ τx y τxz ⎤
⎢ x h ⎥
⎢ ⎥
⎢
s = σ − σ = ⎢ τy x σ y − σh τy z ⎥
K ⎢ ⎥ (6.9)
⎥
⎢ τzx τz y σz − σh ⎥
⎣ ⎦
Im Gegensatz zum hydrostatischen Spannungszustand bewirkt die rein deviatorische Bean-
spruchung bei isotropem ausschließlich eine Gestaltänderung eines Körpers bei konstan-
tem Volumen. Der Spannungsdeviator wird z. B. bei der Formulierung von Stoffgesetzen
für plastisches Materialverhalten und der Formulierung der Vergleichsspannung nach der
Gestaltänderungsenergiehypothese benötigt.
Hauptspannungen
Für jeden Spannungszustand existiert ein Koordinatensystem, in dem sämtliche Schubspan-
nungen zu Null werden, das Hauptachsensystem. In dieser Ausrichtung zeigen die Span-
nungsvektoren in exakt dieselben Richtungen wie die Normaleneinheitsvektoren. Die Nor-
malspannungen in diesen Richtungen sind die maximal möglichen bzw. minimal möglichen
Normalspannungen von allen Drehrichtungen des Koordinatensystems. Sie werden als die
128 6 Bauteilbeanspruchung
σyy
τyx σ1
τyz
τxy σ2
y
τzy
σxx
x τzx τxz
z
σzz
σ3
Hauptspannungen σ1 , σ2 und σ3 bezeichnet, siehe Abbildung 6.4. Die Berechnung der Haupt-
spannungen und ihrer Richtung entspricht mathematisch einer Hauptachsentransformation,
welche die Lösung des Eigenwertproblems
(σ − σE ) ⋅ n = 0 (6.10)
beinhaltet. Darin entsprechen die Eigenwerte σ den Hauptspannungen und die Eigenvektoren
n beschreiben die Richtungen des Hauptachsensystems. Die charakteristische Gleichung des
Eigenwertproblems lautet
⎡σ − σ τ τxz ⎤
⎢ x xy ⎥
⎢ ⎥
det (σ − σE ) = ⎢ τ
⎢ yx σ y − σ τ ⎥
y z ⎥ = 0, (6.11)
⎢ ⎥
⎢ τzx τz y σz − σ⎥
⎣ ⎦
woraus die kubische Gleichung
σ3 − I 1 ⋅ σ2 + I 2 ⋅ σ − I 3 = 0 (6.12)
folgt. Die Koeffizienten sind die Hauptinvarianten des Spannungstensors und werden wie
folgt berechnet:
I 1 = σx + σ y + σz (6.13)
I2 = σx ⋅ σ y + σx ⋅ σz + σ y ⋅ σz − τ2x y − τ2xz − τ2y z (6.14)
I 3 = det (σ) . (6.15)
Die Hauptspannungen sind die stets reellen Nullstellen von Gleichung (6.12). Die Bezeich-
nung erfolgt üblicherweise der Größe nach, so dass σ1 ≥ σ2 ≥ σ3 ist. Die Hauptrichtungen
können aus Gleichung (6.10) ermittelt werden. Im Hauptachsensystem dargestellt, ist der
Spannungstensor
⎡σ ⎤
⎢ 1 0 0⎥
⎢ ⎥
⎢
σ = ⎢ 0 σ2 0 ⎥
⎥. (6.16)
⎢ ⎥
⎢ 0 0 σ3 ⎥
⎣ ⎦
6.2 Spannungszustand 129
Die Hauptschubspannungen treten in Ebenen auf, deren Normalen jeweils senkrecht auf
einer der Hauptachsen stehen und mit den beiden anderen einen Winkel von 45° einschließt.
Analog zu den Hauptnormalspannungen sind dies die extremen Schubspannungen aller
möglicher Schnittebenen. Die maximale Schubspannung ist dabei durch
σ1 − σ3
τmax = (6.17)
2
gegeben. Im Unterschied zu den Hauptnormalspannungen werden im Koordinatensystem
der Hauptschubspannungen die Normalspannungen nicht zu Null.
Ebener Spannungszustand
Von großer Bedeutung ist der ebene Spannungszustand (ESZ) als ein Sonderfall des allge-
meinen dreiachsigen Spannungszustands. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die Span-
nungskomponenten in einer Raumrichtung zu Null werden. Das ist stets der Fall an lastfreien
Oberflächen eines Bauteils, wie in Abbildung 6.5 dargestellt. Wenn z die Normalenrichtung
der Oberfläche ist, sind die Spannungen σz , τxz und τ y z gleich Null. Viele Probleme der
Betriebsfestigkeit beziehen sich auf den ebenen Spannungszustand, da lastfreie Kerboberflä-
chen versagensrelevante Orte und damit Nachweisstellen sind. Der Spannungstensor kann
für den Fall des ebenen Spannungszustandes durch folgende Matrix dargestellt werden
σx τx y
σ=[ ]. (6.18)
τy x σy
σyy
τyx
τxy
σxx σxx
τxy
τyx
z σyy
y
x
lastfreie Oberfläche:
σzz = τzx = τzy = 0
σyy
τyx
y σvv
v τxy
τuv τxy
u ϕ σxx σxx
x τxy σxx
ϕ
τyx τyx
σyy σyy
Bei der Drehung des Koordinatensystems um einen Winkel ϕ (Abbildung 6.6) lassen sich die
Koordinaten des Spannungsvektors wie folgt berechnen:
σx + σ y σx − σ y
σv v (ϕ) = + ⋅ cos 2ϕ + τx y ⋅ sin 2ϕ (6.19)
2 2
σx − σ y
τuv (ϕ) = − ⋅ sin 2ϕ + τx y ⋅ cos 2ϕ. (6.20)
2
Im ebenen Spannungszustand ist σz = 0 stets eine Hauptspannung. Die anderen beiden
Hauptspannungen betragen
√
σx + σ y σx − σ y 2
σ= ± ( ) + τ2x y . (6.21)
2 2
angegeben. Die Werte für σ1 und σ2 entsprechen den nach Gleichung (6.21) berechneten
Hauptspannungen in der Ebene mit σ1 ≥ σ2 . Die Nummerierung kann variieren, je nachdem
ob die Spannungen größer oder kleiner als die zur Ebene senkrechte Hauptspannung sind.
Im 45°-Winkel zu den Hauptachsen liegen wieder die Schnittebenen, in denen die maximalen
Schubspannungen τmax auftreten.
Bei der Festigkeitsbewertung von Bauteilen liegt an den Nachweisstellen i. A. ein mehrachsi-
ger Spannungszustand vor. Dieser kann infolge zusammengesetzter Belastung, beispielsweise
durch Biegung und Torsion oder auch durch Kerben auftreten. Die Problemstellung besteht
6.2 Spannungszustand 131
dann darin, diesen mehrachsigen Spannungszustand mit einem unter einachsiger Beanspru-
chung ermittelten Festigkeitskennwert zu vergleichen. Festigkeitskennwerte aus Versuchen
mit ungekerbten Normproben werden als Werkstoffkennwerte bezeichnet, da sie für eine
rein einachsige Beanspruchung mit über den Querschnitt konstant verteilter Spannung er-
mittelt wurden. Mit einer Festigkeitshypothese wird ein mehrachsiger Spannungszustand
schädigungsäquivalent in einen einachsigen Spannungszustand, die Vergleichsspannung,
umgerechnet und damit der Vergleich mit Werkstoffkennwerten ermöglicht. Dabei hängt die
anzuwendende Hypothese vom Werkstoff ab, bei metallischen Werkstoffen hauptsächlich von
dessen Duktilität. Nachfolgend sind die wichtigsten Festigkeitshypothesen für metallische
Konstruktionswerkstoffe aufgeführt. Eine ausführliche Behandlung zum Thema ist z. B. in
[33] zu finden.
Normalspannungshypothese NH
Die Normalspannungshypothese geht auf Rankine [55] zurück und ist die älteste Festigkeits-
hypothese. Sie gilt für die Annahme, dass bei spröden Materialien der statische Trennbruch
eintritt, wenn bei statischer Beanspruchung die größte Zug-Normalspannung die Bruchfes-
tigkeit erreicht. Demnach entspricht die Vergleichsspannung nach der NH der maximalen
Hauptspannung:
σV,NH = σ1 . (6.23)
Da Trennbruch nur unter Zugspannungen möglich ist, muss σ1 > 0 gelten. Bei reiner Druck-
beanspruchung, wenn also alle Hauptspannungen negativ sind, erfolgt das Versagen durch
Schubbeanspruchung und kann nicht mehr mit der klassischen Normalspannungshypothese
beschrieben werden. In diesem Fall wird die Mohrsche Versagenshypothese als Erweiterung
der NH verwendet. Die entsprechende Grenzkurve ist in Abbildung 6.7 b) dargestellt und wird
durch die Zugfestigkeit R m und die Druckbruchfestigkeit σdB bestimmt.
Für den ebenen Spannungszustand folgt die Vergleichsspannung aus Gleichung (6.21)
√
σx + σ y σx − σ y 2
σV,NH = + ( ) + τ2x y . (6.24)
2 2
Abbildung 6.9 a) zeigt die Grenzkurve für diesen Fall. Für den einfachen Sonderfall von
Linientragwerken (Balken, Wellen) mit einer Normalspannung σ und einer Schubspannung τ
vereinfacht sich Gleichung (6.24) zu
√
σ σ 2
σV,NH = + ( ) + τ2 (6.25)
2 2
Die Normalspannungshypothese findet typischerweise bei sprödem Materialverhalten, z. B.
für martensitisch gehärteten Stahl, Gusseisen mit Lamellengraphit, Sinterstahl (für Dichten
kleiner als 7,0 g/cm3 ) oder bei keramischen Werkstoffen Anwendung.
132 6 Bauteilbeanspruchung
σ2 σ2
Rm Rm
Rm
Rm σ1 σdB σ1
a) b) σdB
Schubspannungshypothese SH
Die Schubspannungshypothese nach Tresca [286] wird zur Ermittlung der Sicherheit gegen
plastisches Fließen verwendet. Demnach setzt plastisches Fließen bei duktilen Werkstoffen
ein, wenn die maximale Schubspannung die Schubfließspannung τF erreicht:
τF = τmax . (6.26)
Unter Berücksichtigung von τF = R e /2 und von Gleichung (6.17) gilt für den Grenzfall (plasti-
sches Fließen):
R e σ1 − σ3
= . (6.27)
2 2
Somit ist die Vergleichsspannung für die Versagensbedingung Fließbeginn
σV,SH = σ1 − σ3 . (6.28)
Damit ist σV,SH doppelt so groß wie die maximale Schubspannung τmax . Das ist plausibel,
wenn statt der Schubfließgrenze die Streckgrenze als Normalspannung R e verwendet wird.
Im einachsigen Spannungszustand gilt τmax = 0,5 ⋅ σ1 . Die Grenzlinie für den Fall einer zwei-
achsigen Beanspruchung im Hauptachsensystem ist in Abbildung 6.8 gezeigt. Sie entspricht
einem Sechseck, welches die Hauptspannungsachsen bei R e schneidet.
Für den technisch relevanten Sonderfall von Balken unter Zug/Druck, Biegung und Torsion
ist
√
σV,SH = σ2 + 4τ2 . (6.29)
σ2
Re Re
Re Re σ1
SH
Re GEH
Die Schubspannungshypothese wird für duktile Metalle angewendet, deren Versagen durch
plastisches Fließen bestimmt wird. Außerdem kann sie für spröde Werkstoffe unter mehrachsi-
ger, allseitiger Druckbeanspruchung angewendet werden. In diesem Fall erfolgt der Bruch als
Scherbruch in der Ebene der maximalen Schubspannung (vgl. Mohrsche Versagenshypothese
in Abbildung 6.7).
Gestaltänderungsenergiehypothese GEH
Die Vergleichsspannung nach der Gestaltänderungsenergiehypothese beruht auf der Fließ-
bedingung nach von Mises [227] und wird daher auch als von Mises-Vergleichsspannung
bezeichnet. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass der hydrostatische Spannungszustand
zu einer reinen isotropen Volumenänderung ohne Formänderung führt. Da plastische Ver-
formungen stets unter Volumenkonstanz erfolgen, müssen die durch einen hydrostatischen
Spannungszustand hervorgerufenen Verformungen stets elastisch sein. Für plastisches Flie-
ßen ist allein die in einem Volumenelement elastisch gespeicherte spezifische Gestaltände-
rungsenergie entscheidend. Diese wird durch den deviatorischen Anteil des Spannungsten-
sors, Gleichung (6.9), hervorgerufen. Plastisches Fließen tritt ein, wenn die Gestaltänderungs-
energie in einem mehrachsig beanspruchten Werkstoffelement den gleichen Wert erreicht,
der sich bei einachsiger Beanspruchung im Zugversuch bei Erreichen der Fließgrenze R e
einstellt. Die Vergleichsspannung wird mit
√
1
σV,GEH = [(σx − σ y )2 + (σ y − σz )2 + (σz − σx )2 + 6 (τ2x y + τ2y z + τ2zx )] (6.30)
2
berechnet. Für die Herleitung wird z. B. auf [33] verwiesen. Dort sind auch alternative physi-
kalische Interpretationen der von Mises-Fließbedingung zu finden. Die Vergleichsspannung
134 6 Bauteilbeanspruchung
1
NH
0,8 GEH
Schubspannung τ/σzul
SH
0,6
0,577
0,4
0,2
0
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1
Normalspannung σ/σzul
Abb. 6.9: Vergleich der Versagensgrenzlinien für kombinierte Beanspruchung von Balken durch
Zug/Druck/Biegung (σ) und Torsion (τ)
Abschließende Bemerkungen
Für das Versagenskriterium Fließbeginn von duktilen Werkstoffen ist sowohl die SH als auch
die GEH prinzipiell anwendbar. In Regelwerken ist die anzuwendende Festigkeitshypothese
bzw. Vergleichsspannung meist festgeschrieben. Dabei ist die SH etwas konservativer und
führt auf leicht höhere Werte der Vergleichsspannung, wie in Abbildungen 6.8 und 6.9 ersicht-
lich ist. Die größte Abweichung beträgt ca. 15% bei den Spannungszuständen σ2 /σ1 = 0,5 (z.
B. dünnwandige, zylindrische Druckbehälter) und σ2 /σ1 = −1 (reine Schubbeanspruchung).
6.2 Spannungszustand 135
Allen Vergleichsspannungen ist gemein, dass die Information über Vorzeichen und Art der
Spannung nach Bildung der Vergleichsspannung verloren geht. Die vorgestellten Festigkeits-
hypothesen gelten weiterhin nur für das statische Versagen durch Bruch bzw. plastisches
Fließen. Sie können nur in Sonderfällen auf schwingende Beanspruchung übertragen werden.
Das ist gegeben, wenn sich während der Beanspruchung die Spannungen zueinander propor-
tional verhalten. Für diesen Fall bleiben die Hauptspannungsrichtungen konstant und die
Festigkeitshypothesen können näherungsweise angewendet werden (siehe Abschnitt 8.3.2).
Verändern sich die Spannungskomponenten in einem Bauteil nichtproportional zueinander,
ändern sich auch die Hauptspannungsrichtungen während der Beanspruchung und der
Festigkeitsnachweis muss mit den in Abschnitt 8.7 beschriebenen Konzepten geführt werden.
In der FKM-Richtlinie ist für den statischen Festigkeitsnachweis von Bauteilen aus duktilen
Werkstoffen (Stahl, Stahlguss und Alu-Knetlegierungen) die GEH vorgeschrieben. Für Werk-
stoffe geringerer Duktilität wird eine kombinierte Vergleichsspannung angewendet, die aus
einer gewichteten Überlagerung der GEH und der NH besteht4 :
Technische Bauteile sind stets in irgendeiner Form gekerbt. Zu den Kerben zählen einerseits
konstruktive Details, wie z. B. Übergänge, Einstiche, Verzahnungen oder Querbohrungen. An-
dererseits führen auch Fügestellen, wie Schweißnähte, Lagerungen und Lasteinleitungsstellen
zu den für Kerben typischen Spannungskonzentrationen und inhomogenen Spannungsver-
teilungen in einem Bauteil.
4
In der Richtlinie wird GH anstelle GEH als Abkürzung der Gestaltänderungsenergiehypothese verwendet.
136 6 Bauteilbeanspruchung
a a - axial
r - radial σa
r t - tangential
t
σt
σ σa,max
σa σt
σt
σa
σr
σt
σr σr σa
σt
F σa
Am Beispiel des in Abbildung 6.10 dargestellten gekerbten Rundstabs unter axialer Belastung
sollen typische Effekte von Kerben auf den Spannungszustand näher betrachtet werden. In
hinreichend großer Entfernung von der Kerbe führt die Zugbelastung auf einen homogenen
Spannungszustand: die Normalspannung S axial ist im gesamten Querschnitt konstant. Dort
entspricht die auf den vollen Querschnitt bezogene Nennspannung der lokalen Kerbspan-
nung5 . Durch den verminderten Querschnitt ist die Nennspannung im Kerbbereich bereits
erhöht. Zusätzlich führt die in Kraftrichtung gekrümmte Oberfläche zur lokalen Spannungs-
konzentration an der Kerboberfläche. Die Normalspannung in axialer Richtung erreicht dort
den Wert σa,max und liegt damit nach Gleichung (2.1) um den Faktor K t über der dort theore-
tisch wirkenden Nennspannung.
Darüber hinaus stellt sich im Kerbbereich ein mehrachsiger Spannungszustand ein, ob-
wohl die Grundbeanspruchung einachsig ist. Während an der lastfreien Kerboberfläche ein
zweiachsiger Spannungszustand entsteht, ist der Spannungszustand im Inneren des Stabes
dreiachsig. Im betrachteten Zylinderkoordinatensystem treten lediglich Normalspannungen
in axialer, radialer und tangentialer Richtung und keine Schubspannungen auf. Es sind daher
5
Streng genommen kann es in einem ungekerbten Querschnitt auch keine Kerbspannung geben. Hier wird
allerdings als Kerbspannung die lokale, elastizitätstheoretisch berechnete Spannung σ bezeichnet, die in
ungekerbten Querschnitten der Nennspannung S entspricht, da K t = 1 ist.
6.3 FEM zur Spannungsermittlung 137
Die Finite-Elemente-Methode (FEM) ist die Standardmethode zur Ermittlung von Bauteilbe-
anspruchungen für die Festigkeitsberechnung. Mit diesem Abschnitt werden lediglich einige
wichtige Aspekte mit Bezug auf die Betriebsfestigkeit benannt und erläutert. Am Ende des
Absatzes finden sich Literaturhinweise für eine grundlegende Einführung in die FEM.
138 6 Bauteilbeanspruchung
Grundidee
Die FEM basiert für die Strukturmechanik meist auf der Verschiebungsmethode. Das heißt,
dass die Verschiebung die primär berechnete Größe ist. Die Grundidee der FEM beinhal-
tet die Aufteilung der zu berechnenden Struktur in viele kleine finite Elemente. Innerhalb
der Elemente wird die Lösung durch Polynome als Ansatzfunktionen für die Verschiebung
angenähert. Die Aufteilung der Struktur in Elemente mit lokalen Ansatzfunktionen wird
als Diskretisierung bezeichnet. Als Konsequenz werden die partiellen Differentialgleichun-
gen, die das Feldproblem von Festkörpern beschreiben, in lineare algebraische Gleichungen
überführt.
Die Elemente sind an den Knoten miteinander verbunden. Dort werden die Verschiebungen
berechnet. Mit der Ansatzfunktion werden dann aus den Knotenverschiebungen die Verschie-
bungen innerhalb eines Elements angenähert. Die Kopplung der Elementverschiebung an
den Knoten führt auf ein stetiges Verschiebungsfeld über die Elementgrenzen hinweg. Üblich
ist dabei die Verwendung von quadratischen Ansatzfunktionen. Diese Elemente werden daher
vereinfacht auch als quadratische Elemente bezeichnet.
Aus den Verschiebungen werden mittels Differentiation die Dehnungen in jedem Element
gewonnen. Über das Materialgesetz folgen aus den Dehnungen die Spannungen. So sind
Dehnungen und Spannungen bei Elementen mit quadratischem Verschiebungsansatz linear
über ein Element verteilt. Eine Konsequenz daraus ist, dass zwar die Verschiebungen an den
Knoten von jedem benachbarten Element aus betrachtet stetig (kompatibel) sind, die daraus
abgeleiteten Größen, wie die Spannungen, an den Elementgrenzen aber Sprünge aufweisen.
In vielen FEM-Programmen werden daher die Spannungen (und Dehnungen) mit der An-
satzfunktion von den Integrationspunkten des Elements auf die Knoten hin extrapoliert und
dort mit den Ergebnissen der anliegenden Elemente gemittelt. Diese werden als gemittelte
Spannungen (averaged) oder Knotenspannungen (nodal stresses) bezeichnet.
Netzqualität
Die Genauigkeit der berechneten Spannungen hängt unmittelbar mit der Qualität der Ver-
netzung zusammen. Dabei spielt das FE-Netz in Kerben als typische Ausgangspunkte von
140 6 Bauteilbeanspruchung
6
Für Hexaeder ist der Würfel die Idealform. Tetraederelemente haben im Idealfall die gleiche Kantenlänge.
6.3 FEM zur Spannungsermittlung 141
Daneben existieren weitere Fehlerschätzer, wie z. B. in integraler Form auf Grundlage energe-
tischer Betrachtungen. Diese sind ausführlich in [85] dargestellt. Dort ist auch der in ANSYS
verwendete Fehlerindikator nach Zienkiewicz und Zhu aufgeführt. Bei all diesen Betrachtun-
gen sollte nicht vergessen werden, dass erfahrungsgemäß die größte Fehlerquelle in falschen
Lastannahmen und der unrealistischen Aufbringung von Last- und Verschiebungsrandbedin-
gungen liegt.
Weiterführende Literatur
Das Angebot von Lehr- und Fachbüchern zur FEM ist ebenso vielfältig wie unübersichtlich.
Die nachfolgende Auswahl stellt daher nur eine subjektive Auswahl dar. Neben grundlegenden
Standardwerken, wie [4] und [85], in denen ausführlich auf die mathematischen Zusammen-
hänge der FEM eingegangen wird, bieten z. B. [31], [43], [57] und [82] eine gute und an der
Ingenieurpraxis orientierte Einführung. Außerdem existieren viele Bücher, worin die Anwen-
dung am konkreten Beispiel bestimmter FEM-Software gezeigt wird. Für die Software ANSYS
seien hier [14, 41] sowie [81] mit speziellem Fokus auf die Betriebsfestigkeit genannt.
Beispiel
σ0 σ0
mittels FEM berechnete maximale
Kerbspannung und den bezogenen
20 mm
Spannungsgradienten in der Kerbe
gezeigt werden. Dazu wird von der
Scheibe unter Ausnutzung der Doppelsymmetrie nur ein Viertel modelliert und
mit Viereckselementen mit quadratischer Ansatzfunktion vernetzt. Dabei wird die
Elementgröße e in der Kerbe zwischen e = 0,4 mm und e = 0,01 mm variiert. Die Be-
anspruchungen werden unter Annahme des ebenen Spannungszustandes ermittelt.
Lösung
Ausschnitte des FE-Netzes an der Kerbe sind für verschiedene Elementgrößen nach-
folgend gezeigt. Die Ergebnisse der verschiedenen Netze werden auf das Ergebnis
mit dem feinsten Netz (Elementgröße e = 0,01 mm) als Referenzlösung bezogen.
142 6 Bauteilbeanspruchung
Dabei zeigt sich, dass bereits mit dem sehr groben FE-Netz mit der Elementgröße
von e = 0,4 mm die maximale Kerbspannung mit 97 % der Referenzlösung recht gut
berechnet wird. Die weitere Verkleinerung der Elemente ändert an diesem Ergebnis
praktisch nichts mehr. Ganz anders sieht das für den bezogenen Spannungsgradien-
ten aus, der aus der Spannungsdifferenz der 1. Hauptspannung im ersten Element an
der Kerboberfläche nach Gleichung (3.8) berechnet wurde. Dieser Wert konvergiert
deutlich schlechter.
Netzkonvergenz
100%
90%
Wert bezogen auf
max. Spannung
Referenzlösung
bez. Spannungsgradient
80%
70%
60%
50%
0 0,1 0,2 0,3 0,4
Elementgröße 1. Schicht [mm]
Schweißnähte bewirken als Kerben an sich bereits Spannungskonzentrationen. Häufig sind sie
außerdem an Stellen von Querschnittsänderungen und damit geometrischen Kerben anzutref-
fen, womit es zur Überlagerung der Wirkung beider Kerben kommt. Beide Kerbarten werden
beim Festigkeitsnachweis von Schweißverbindungen an Bauteilen verschieden berücksichtigt.
Somit kann der Nachweis anhand von drei prinzipiell verschiedenen Beanspruchungsgrö-
ßen erfolgen: der lokalen Nennspannung σn , der Strukturspannung σhs und der Kerbspan-
nung σk . Entsprechend unterscheidet man den Nachweis in die Konzepte: Nennspannungs-,
Strukturspannungs- und Kerbspannungskonzept. Nach welchem Ansatz der Nachweis zu
führen ist, wird in den anzuwendenden Normen und Richtlinien beschrieben. Neben der
FKM-Richtlinie mit der grundsätzlichen Übereinstimmung zu den IIW-Empfehlungen [97]
sind das z. B. auch DIN EN 1993 (Eurocode 3) [87], die Standards des Germanischen Lloyds
und die AD 2000 für Druckbehälter [99].
6.4.1 Nennspannungen
Mb
F
σn σn
σn
Mb F
σn σn σn
σn
F F F F
Abb. 6.12: Spannungsüberhöhung durch axialen Versatz und Winkelversatz, nach [97]
nungsüberhöhende Wirkung durch Versatz, wie in Abbildung 6.12 dargestellt, muss bei der
Ermittlung der Nennspannung σn berücksichtigt werden, sofern dies nicht von der Kerbfall-
klasse in Form einer abgeminderten Schwingfestigkeit mit abgedeckt wird.
6.4.2 Strukturspannungen
Bei Bauteilen mit komplizierter Geometrie ist die sinnvolle Definition einer Nennspannung
oft nicht mehr möglich. Außerdem umfassen die nennspannungsbasierten Kerbfallklassen,
die die Schwingfestigkeit einer Schweißverbindung angeben, nur einfache, typische kon-
struktive Ausführungen. Deshalb ist das Strukturspannungskonzept entwickelt worden. Der
Grundgedanke geht auf Haibach [156] zurück. Die Entwicklung erfolgte zunächst für Schweiß-
konstruktionen an Offshoreanlagen. Inzwischen wird das Strukturspannungskonzept auch
in vielen anderen Bereichen, wie im Behälter- oder Fahrzeugbau, angewendet und hat in
wichtige Regelwerke und Richtlinien Eingang gefunden (Eurocode 3, FKM-Richtlinie/IIW-
Empfehlungen). Strukturspannungen lassen sich auf Grundlage von FE-Berechnungen sehr
einfach ermitteln. Dabei ist der Modellierungsaufwand deutlich geringer als beim nachfol-
gend behandelten Kerbspannungskonzept für Schweißnähte (Abschnitt 6.4.3).
Ähnlich zu den lokalen Nennspannungen beim Nennspannungskonzept werden beim Struk-
turspannungskonzept die Einflüsse der Bauteilgeometrie und der Schweißnaht auf die Bean-
6.4 Beanspruchungsermittlung an geschweißten Bauteilen 145
spruchung getrennt. In unmittelbarer Nähe zur Schweißnaht steigt die Spannung aufgrund
der Schweißnaht überproportional stark an. Unter Strukturspannung versteht man diejeni-
ge Spannung, die sich durch die makroskopische Bauteilgeometrie und die Geometrie des
Schweißknotens einstellt. Sie enthält also alle last- und geometriebedingten Spannungser-
höhungen, außer denen infolge der Schweißnaht selbst. Ihre Berechnung am Nahtübergang
erfolgt durch Extrapolation des Spannungsverlaufs kurz vor der Schweißnaht zur Naht hin.
Durch die Elimination der Spannungskonzentration direkt am Nahtübergang können sämtli-
che Schweißnähte mit der gleichen Schweißnahtwöhlerlinie bewertet werden. Diese ist in
Abschnitt 8.6 für Strukturspannungen angegeben.
Aus der Extrapolation resultiert eine wichtige prinzipielle Einschränkung der Festigkeitsbe-
wertung mit Strukturspannungen: Es kann nur der Nachweis gegen Anrisse erfolgen, die vom
Nahtübergang ausgehen, nicht aber von der Nahtwurzel. Daher sollte das Konzept nur für
durchgeschweißte Verbindungen und nicht für Kehlnähte erfolgen.
Zur Ermittlung der Strukturspannung existieren verschiedene Ansätze. Sie unterscheiden sich
in der Art der Linearisierung des Spannungsveraufs vor der Schweißnaht:
1. Extrapolation der Spannungen, die in definiertem Abstand zur Naht auf der Blechober-
fläche liegen nach Niemi [208]
2. Mittelung der Biege- und Membranspannungen über der Blechdicke direkt unterhalb
der Schweißnaht nach Radaj [51]
3. Mittelung der Biege-, Membran- und Schubspannungen über der Blechdicke in einem
bestimmten Abstand δ vor der Schweißnaht nach Dong [126]
Im Folgenden wird nur auf die erste Methode genauer eingegangen. Sie findet in der Praxis
verbreitet Anwendung und wird auch in den IIW-Empfehlungen angewendet. Die Extrapo-
lation des Spannungsverlaufs von den Referenzpunkten hin zum Schweißnahtübergang ist
in Abb. 6.13 gezeigt. Der Abstand der Referenzpunkte vom Nahtübergang ist dabei von der
Blechdicke t abhängig.
In den IIW-Empfehlungen wird als Spannungskomponente die Hauptspannung verwendet,
welche am ehesten senkrecht zur Schweißnaht steht (±60°). Sollte eine weitere Hauptspan-
nung nicht vernachlässigbar klein sein, ist die Bewertung dieser Komponente nach dem
Nennspannungskonzept für parallel zur Naht verlaufende Spannungen zu führen.
Die Berechnung erfolgt im Postprocessing einer FE-Analyse durch Auswertung der Span-
nungen entlang des Pfades vor der Naht. Bei Bauteilen, die mit 3D-FE-Elementen berechnet
werden, muss die Schweißnaht mit modelliert werden. Bei der Verwendung von Schalenele-
menten wird die Schweißnaht durch Verbundkontakt der Elemente ohne die Naht abgebildet.
Auch die Extrapolationsvorschrift unterscheidet sich bei Volumen- und Schalenelementen. Es
wird zudem zwischen Nachweispunkten von Typ a: Nahtübergang auf der Oberfläche einer
Platte und Typ b: Nahtübergang auf der Kante einer Platte, gemäß Abbildung 6.14 unterschie-
146 6 Bauteilbeanspruchung
σmax
σhs Referenzpunkte
r
F t F
Abb. 6.13: Ermittlung der Strukturspannung durch Extrapolation des Spannungsverlaufs, nach [97]
Typ a
Typ b
Typ a
Für grobe FE-Netze mit Elementkantenlängen gleich der Blechdicke t , erfolgt die Extrapolati-
on der Spannungen an den Elementmittelknoten:
Bei groben Netzen mit Elementkantenlängen von 10 mm wird die lineare Extrapolation der
Spannungen an den Elementmittenknoten angewendet:
Bei Feinblechen mit Blechdicken t ≤ 3 mm erfolgt die Modellierung der Struktur zur Aus-
wertung der Strukturspannungen mit Schalenelementen. Dabei haben die Elemente an der
Schweißnaht die doppelte Dicke des dünneren Blechs. Das Verfahren ist genauer in [139] be-
schrieben. Darüber hinaus werden noch weitere Methoden zur Berechnung der Strukturspan-
nungen z. B. in [144] beschrieben, welche nicht Teil des Nachweises nach IIW-Empfehlungen
sind.
Beispiel
Für die nachfolgend abgebildete Schweißverbindung soll die Strukturspannung
ermittelt werden. Die umlaufende Schweißnaht ist voll durchgeschweißt (DHV Fuge).
Die Belastung erfolgt durch eine axiale Kraft von F = 40 kN.
10 mm
F = 40 kN
40 mm
100 mm
10 mm
F = 40 kN
148 6 Bauteilbeanspruchung
Lösung
Das FE-Modell wird unter Ausnutzung der Doppelsymmetrie als Viertelmodell be-
rechnet. Die Berechnung erfolgte mit 3D-Elementen mit quadratischem Verschie-
bungsansatz. Als globale Elementkantenlänge wurde 5 mm vorgegeben. Angezeigt
sind die gemittelten Spannungen. Die maximale Beanspruchung tritt in der Symme-
trie auf. Gezeigt ist die Spannung σx in Richtung der Kraft.
y
x
z
Der Verlauf der Normalspannung σx auf der Blechoberfläche ist durch die durchge-
zogene Linie in der nachfolgenden Abbildung gezeigt. Aus der Blechdicke von t = 10
mm ergeben sich die beiden Stützstellen für die lineare Extrapolation nach Gleichung
(6.37) bei 0,4 ⋅ t = 4 mm und 1,0 ⋅ t = 10 mm. Die entsprechenden Spannungswerte sind
σx,(0,4⋅t ) = 49,51 MPa und σx,(1,0⋅t ) = 44,76 MPa. Damit folgt die Strukturspannung zu
σx/MPa
60
40
y
20
x
6.4.3 Kerbspannungen
Das Kerbspannungskonzept für Schweißnähte ist im Vergleich zu den beiden voran vorgestell-
ten Konzepten am aufwändigsten, ist aber mit den wenigsten Einschränkungen bezüglich der
Anwendbarkeit verbunden und kann für beliebige Bauteil- und Schweißnahtformen verwen-
det werden. Es ist für beide Nachweisstellen, Schweißnahtwurzel und Schweißnahtübergang,
anwendbar. Das Konzept geht auf Radaj [51] zurück und ist heute in vielen Regelwerken
verankert.
6.4 Beanspruchungsermittlung an geschweißten Bauteilen 149
Referenzradius rref = 1 mm
F F
Abb. 6.15: Referenzradius r ref zur Berechnung von Kerbspannungen an Nahrübergängen, nach [54]
Tab. 6.1: Empfohlene Elementkantenlängen e zur Berechnung von Kerbspannungen nach [145]
Elementtyp relativ zum Kerb- r ref = 1 mm r ref = 0,05 mm Anz. Elemente
radius auf 1/8-Kreis
quadratisch ≤ r /4 e ≤ 0,25 mm e ≤ 0,012 mm ≥3
linear ≤ r /6 e ≤ 0,15 mm e ≤ 0,008 mm ≥5
Beispiel
Für das vorherige Beispiel sollen nun auch die Kerbspannungen in der Schweißnaht
berechnet werden. Die Belastung und Geometrie bleiben dafür unverändert.
Lösung
Das FE-Modell wird wieder unter Ausnutzung der Doppelsymmetrie als Viertelmo-
dell mit 3D-Elementen mit quadratischem Verschiebungsansatz berechnet. Um den
Übergang am Nahtübergang mit dem Referenzradius r ref = 1 mm mit einem regelmä-
ßigen Hexaedernetz zu vernetzen, wird die Struktur, wie in der Abbildung ersichtlich,
in verschiedene Teilvolumina zerlegt. Nachdem die Kerbe vernetzt wurde, erfolgt die
Vernetzung der restlichen Geometrie mit Tetraederelementen.
◻
6.5 Verständnisfragen zu Kapitel 6 151
Mit dem statischen Festigkeitsnachweis wird die Sicherheit statisch beanspruchter Bauteile
gegen Gewaltbruch oder unzulässig große plastische Verformungen bei duktilen Werkstoffen
nachgewiesen. Er ist auch stets in Verbindung mit dem Betriebsfestigkeitsnachweis und
beim Dauerfestigkeitsnachweis mit σm ≠ 0 zu führen. In diesem Fall dient er zur Absicherung
gegen die Maximalspannung der Last-Zeit-Folge und wenn notwendig gegen Sonderlasten,
Überlastfälle oder ungünstige Betriebszustände1 . Wird der statische Nachweis zusammen
mit dem Betriebsfestigkeitsnachweis geführt, ist der Nachweis mit der höchsten Auslastung
bzw. der geringsten Sicherheit entscheidend.
Für den statischen Festigkeitsnachweis wird die Beanspruchung in einem Bauteil, mit der
zulässigen Beanspruchung, der statischen Bauteilfestigkeit σSK , vermindert um einen Si-
cherheitsfaktor j , verglichen. Für den im Allgemeinen mehrachsigen Spannungszustand am
Nachweispunkt eines Bauteils ist eine geeignete Vergleichsspannung σV nach Abschnitt 6.2.2
zu wählen. Der Nachweis ist erfüllt, wenn
σSK
σV ≤ (7.1)
j
gilt. Bezogen auf eine geforderte Mindestsicherheit j min muss folglich gelten:
σSK
j min ≤ . (7.2)
σV
Die statische Bauteilfestigkeit beinhaltet alle werkstoff-, fertigungs-, umgebungs- und kon-
struktionsbedingten Einflüsse. Diese sind in Abschnitt 7.2 beschrieben. Allgemein werden
duktile Werkstoffe gegen die Streckgrenze und spröde Werkstoffe gegen die Zugfestigkeit aus-
gelegt. Der anzusetzende Sicherheitsfaktor j min hängt von der Überlebenswahrscheinlichkeit
der verwendeten Festigkeitskennwerte R e bzw. R m ab und wird in der verwendeten Norm
oder Richtlinie festgelegt. Er ist also Bestandteil der jeweiligen Norm und kann nicht in eine
andere übertragen werden.
1
Darunter fallen auch Belastungen, die beim Transport oder der Montage eines Bauteils auftreten können.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 153
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_7
154 7 Rechnerischer Statischer Festigkeitsnachweis
Der statische Festigkeitsnachweis ist nach der FKM-Richtlinie erbracht, wenn der Auslas-
tungsgrad a ≤ 1 ist. Der erforderliche Sicherheitsfaktor, in der Richtlinie mit j bezeichnet, ist
darin bereits enthalten. Der Auslastungsgrad wird mit
σV
a SK = (7.3)
σSK / j ges
berechnet. Die Vergleichsspannung σV wird abhängig von der Duktilität des Werkstoffs nach
unterschiedlichen Festigkeitshypothesen berechnet. Für duktile Werkstoffe wie Stahl, Stahl-
guss und Alu-Knetlegierungen wird die Gestaltänderungsenergiehypothese verwendet. Für
semiduktile und spröde Werkstoffe wird eine kombinierte Vergleichsspannung aus der Ge-
staltänderungsenergiehypothese und der Normalspannungshypothese nach Gleichung (6.34)
gebildet.
Der geforderte Gesamtsicherheitsfaktor j ges wird nach Abschnitt 7.5 berechnet. Der Einfluss
der mit steigender Temperatur abnehmenden Werkstofffestigkeit wird in der FKM-Richtlinie
ausschließlich durch einen Anteil am Gesamtsicherheitsfaktor und nicht als abmindernder
Korrekturfaktor auf die Festigkeit berücksichtigt.
Weiterhin wird ein zusätzlicher Nachweis für den hydrostatischen Anteil der Spannungen
gefordert, wenn der Mehrachsigkeitsgrad h einen bestimmten Grenzwert überschreitet. Der
Mehrachsigkeitsgrad eines Spannungszustandes entspricht dem Verhältnis aus hydrostati-
schem Anteil der Spannungen σh nach (6.7) und der verwendeten Vergleichsspannung:
σh
h= . (7.4)
σV
Für den einachsigen Spannungszustand ist h = 1/3, bei reinem Schub ist h = 0 und für den
hydrostatischen Spannungszustand wird h = ∞. Bei hohem Mehrachsigkeitsgrad ∣h ∣ > 1,333
muss zusätzlich der Nachweis für den hydrostatischen Anteil der Spannung geführt werden.
Dieser ist in der 7. Auflage der FKM-Richtlinie in Abschnitt 3.6.1.2 beschrieben. Liegt der
Nachweispunkt an einer unbelasteten Bauteiloberfläche, ist dieser Nachweis aufgrund des
dort vorherrschenden ebenen Spannungszustands im Allgemeinen nicht erforderlich.
einen größeren Querschnitt als genormte Probestäbe, was mit einer geringeren Festigkeit
einhergeht. Bei Walz- und Schmiedebauteilen muss weiterhin die Anisotropie der Festigkeit
berücksichtigt werden, da hier die Festigkeit quer zur Bearbeitungsrichtung geringer als in
Bearbeitungsrichtung ist.
Liegt bei Bauteilen aus duktilem Werkstoff eine inhomogene Beanspruchung vor (durch
Biegung, Torsion oder generell in Kerben), so kann ein lokales Überschreiten der Streckgrenze
zugelassen werden. Sind die plastischen Dehnungsanteile gering und lokal begrenzt, kön-
nen sie vom Werkstoff ertragen werden und haben aufgrund des umgebenden, elastisch
beanspruchten Bereichs nur einen geringen Einfluss auf die Gesamtverformung des Bauteils.
Das wird als plastische Stützwirkung bezeichnet und kann durch die plastische Stützzahl n pl
berücksichtigt werden. Dadurch erfolgt die Berücksichtigung des nichtlinearen Werkstoff-
verhaltens nach Überschreitung der Streckgrenze auf der Seite des Nachweises, während die
Ermittlung der Bauteilbeanspruchung rein linearelastisch erfolgt. Die Berechnung von n pl
wird in Abschnitt 7.3 gezeigt.
Die statische Bauteilfestigkeit entspricht somit bei duktilen Werkstoffen
σSK = n pl ⋅ R e . (7.5)
Die Normfestigkeiten R p,N und R m,N sind in Abschnitt 5.1 der FKM-Richtlinie angegeben. Sie
gelten für einen von der Werkstoffgruppe abhängigen effektiven Probendurchmesser von
d eff,N und eine Überlebenswahrscheinlichkeit von P Ü = 97,5%. Die Bauteil-Normwerte der
Streckgrenze bzw. der Zugfestigkeit werden damit wie folgt berechnet:
Die Berechnung des technologischen Größenfaktors K d,m wird in der Richtlinie in Abschnitt
3.2.1.4 beschrieben. Für Stahl ist die Berechnungsformel durch Gleichung (3.3) bereits in
Abschnitt 3.2 angegeben. Es gilt K d,m = K d,p . Die Bauteilgröße ist durch den effektiven Durch-
messer des Bauteils d eff an der Nachweisstelle charakterisiert. Dabei werden zwei Fälle unter-
schieden.
Fall 1 gilt für Bauteile aus vergütetem Vergütungsstahl, einsatzgehärtetem Einsatzstahl, vergü-
tetem und nitriertem Nitrierstahl und Eisenguss. Der effektive Durchmesser kann aus dem
Volumen und der Oberfläche des betrachteten Bauteilquerschnitts berechnet werden:
V
d eff = 4 ⋅ . (7.8)
A
Bei Bauteilen mit kompliziertem Querschnitt kann vereinfachend an der Nachweisstelle der
Querschnitt durch ein Rechteck mit den Kantenlängen b und s angenähert werden. Der
156 7 Rechnerischer Statischer Festigkeitsnachweis
σSK = n pl ⋅ R p (7.10)
Der Nachweis gegen die Zugfestigkeit R m erfolgt beim Nachweis ausschließlich über einen
eigenen Sicherheitsfaktor.
Bei sehr hohen oder tiefen Temperaturen muss deren Einfluss auf die Festigkeit mit berück-
sichtigt werden. Für den Festigkeitsnachweis ist mit einer geringeren Warmfestigkeit R m,T
bzw. R p,T zu rechnen:
Die Temperaturfaktoren K T,m und K T,p sind identisch und sind in Abbildung 7.1 über der
Temperatur aufgetragen. Sie unterscheiden sich allerdings von den in Tabelle 3.6 angegebenen
Temperaturfaktoren für die Wechselfestigkeit K T,D .
Wenn hohe Temperaturen über eine lange Zeit hinweg wirken, kommt es außerdem zum
Kriechen. Dabei steigt die Verformung bei konstanter Belastung mit der Zeit an. Für den
Festigkeitsnachweis sind dann folgende zwei Kennwerte entscheidend: die Zeitstandfestigkeit
als diejenige Spannung, die bei der wirkenden Temperatur T nach einer bestimmten Zeit
zum Bruch führt und die Zeitdehngrenze als die Spannung, die bei der wirkenden Tempe-
ratur T nach einer bestimmten Zeit zu einer bestimmten bleibenden Dehnung führt. Bei
tiefen Temperaturen sind hingegen eine abnehmende Duktilität und die dadurch steigende
Sprödbruchgefahr zu beachten.
In der FKM-Richtlinie werden die Temperaturfaktoren nicht explizit zur Abminderung der
Festigkeit bei hohen Temperaturen verwendet. Der Temperatureinfluss wird lediglich durch
den von diesen Faktoren bestimmten, höheren Sicherheitsfaktor berücksichtigt.
7.3 Plastische Stützwirkung 157
1 Stahl (außer
nichtrost. Stahl)
Feinkornbaustahl
Temperaturfaktoren KT,m bzw. KT,p
0,8
GS
0,6
GJS
0,4 GJM
GJL
0,2
Aluminiumwerkstoff
Alu.-Leg.
(aushärtbar)
0
0 100 200 300 400 500 Alu.-Leg.
Aluminiumwerkstoff
(nicht aushärtbar)
Temperatur T in °C
Abb. 7.1: Temperaturfaktor zur Berechnung der Warmfestigkeit nach FKM-Richtlinie [95]
Zur Berechnung der plastischen Stützzahl müssen die beiden möglichen Versagensarten2 von
Bauteilen berücksichtigt werden: lokales Versagen, bei dem die zulässige Dehnung im Kerb-
grund überschritten wird und globales Versagen, welches durch das vollständige Plastifizieren
des Bauteilquerschnitts gekennzeichnet ist. Die plastische Stützzahl wird durch das Versagen
bestimmt, welches zuerst eintritt bzw. für das die kleinste plastische Stützzahl berechnet wird:
tatsächliche
σ Fließkurve
Spannung
Re
idealplastisches
Materialverhalten
Dehnung ε
Lokales Versagen
Die elastisch-plastische Beanspruchung in Kerben, die sich nach Überschreitung der Streck-
grenze einstellt, kann anhand einer elastizitätstheoretisch berechneten Spannung mit der
Neuber-Regel [206] abgeschätzt werden. Sie besagt, dass das Produkt aus Spannung und Deh-
nung bei linearelastischem Material gleich dem bei linearelastisch-plastischem Materialver-
halten ist, solange die Nennspannungen im elastischen Bereich liegen. Bei idealplastischem
Materialverhalten gilt somit
σmax ⋅ εlin.-el. = R e ⋅ εges . (7.14)
σmax 1
Spannung
2
Re
linearelastisch
linearelastisch-
idealplastisch
εel εpl
Neuber-Hyperbel
εlin.-el. εges ε
Dehnung
tragbaren Dehnung gesetzt: εges = εertr . Weiterhin wird die elastizitätstheoretisch berechnete
Dehnung durch εel.-th. = σmax /E ersetzt und Gleichung (7.14) umgestellt:
√
√ E ⋅ εertr
σmax = R e ⋅ E ⋅ εertr = ⋅ Re . (7.15)
Re
Der Wurzelausdruck entspricht der plastischen Stützzahl in Gleichung (7.10) für lokales
Versagen:
√
E ⋅ εertr
n pl,lok = . (7.16)
Re
Die ertragbare Dehnung in der Kerbe hängt von der Bruchdehnung A des Werkstoffs ab.
Allerdings kommt es bei hoher Mehrachsigkeit des Spannungszustands zur Dehnungsbehin-
derung, was zu geringeren ertragbaren plastischen Dehnungen führt. In der FKM-Richtlinie
wird die ertragbare Dehnung abhängig vom Mehrachsigkeitsgrad h (Gleichung (7.4)) berech-
net.
Die Referenzdehnung εref entspricht der ertragbaren Dehnung bei einachsigem Spannungs-
zustand, wobei der Mehrachsigkeitsgrad h = 1/3 gilt. Für hohe Mehrachsigkeitsgrade stellt
ε0 das Minimum der ertragbaren Dehnung dar. Beide Werte sind von der Werkstoffgruppe
abhängig, siehe Tabelle 7.2.
Dieser Zusammenhang lässt sich in Form einer Grenzkurve darstellen. Abbildung 7.4 zeigt
diese für den Vergütungsstahl C45. Die in Gleichung (7.18) benötigten Größen können Tabelle
7.2 entnommen werden.
Tab. 7.2: Parameter zur Ermittlung der ertragbaren Gesamtdehnung nach Gleichung (7.18)
Werkstoffgruppe E in GPa εref ε0
A ≥ 0,06 A < 0,06
Stahl, GS 210 A + R p /E 0,05
GJS 170 0,4 ⋅ A + R p /E 0,04 R p /E
ADI 170 0,4 ⋅ A + R p /E 0,02 R p /E
GJM 180 0,4 ⋅ A + R p /E 0,02 R p /E
GJL 100 0,006 - R p /E
Alu-Knetleg. 70 A + R p /E 0,05 R p /E
Alu-Guss 70 0,4 ⋅ A + R p /E 0,02 R p /E
εref
ertragbare Dehnung εertr
Vergütungsstahl C45
0,12
0,1
0,08
ε0
0,02
0 1/3 1 2 3
Mehrachsigkeitsgrad h
Abb. 7.4: Ertragbare Dehnung für C45 abhängig vom Mehrachsigkeitsgrad nach FKM-Richtlinie [95]
7.3 Plastische Stützwirkung 161
Globales Versagen
Erreicht die Spannung bei einem gekerbten Bauteil gerade die Streckgrenze, dann ist der
umliegende Bereich zunächst noch rein elastisch verformt. Die zugehörige Belastung wird
als elastische Traglast L el bezeichnet. L kann ganz allgemein eine Kraft, ein Moment oder ein
Druck bzw. eine beliebige Kombination daraus sein. Bei weiterer Laststeigerung3 kommt es
zur Spannungsumlagerung im Kerbbereich. Aufgrund der geringeren Steifigkeit des Materials
bei Spannungen oberhalb der Streckgrenze wird der Bereich um die Kerbe höher beansprucht.
Das lässt sich besonders anschaulich erklären, wenn idealplastisches Materialverhalten ent-
sprechend Abbildung 7.2 unterstellt wird. Bereiche, in denen die Streckgrenze bereits erreicht
wurde, können keine höheren Spannungen mehr aufnehmen, so dass jede weitere Laststeige-
rung durch höhere Spannungen im umliegenden elastischen Bereich aufgenommen werden
muss.
Dieser Zusammenhang wird anhand der Bauteilfließkurve in Abbildung 7.5 verdeutlicht. Sie
zeigt den Zusammenhang zwischen der maximalen Dehnung im Kerbgrund eines Bauteils zur
äußeren Beanspruchung. Zum besseren Verständnis ist darunter das Spannungs-Dehnungs-
Diagramm (Werkstofffließkurve) des idealplastischen Werkstoffs bei gleicher Skalierung der
Dehnungsachse dargestellt. Nach Überschreitung der elastischen Grenzlast nimmt die Bau-
teilsteifigkeit ab, d. h. die maximale Dehnung steigt überproportional stark zur Laststeigerung
an, bis die Bauteilfließkurve in einen horizontalen Verlauf übergeht. Dabei ist die Streck-
grenze in einem durchgehenden Bauteilquerschnitt vollständig erreicht, der Querschnitt ist
durchplastifiziert. Eine weitere Laststeigerung ist nicht mehr möglich und dieser Zustand
kennzeichnet das globale Versagen (auch plastischer Kollaps genannt) eines Bauteils. Die
zugehörige Last wird als vollplastische Traglast L pl bezeichnet.
Die plastische Stützzahl für globales Versagen entspricht dem Faktor, um den die elastische
Traglast noch erhöht werden kann, bis es zum globalen Versagen kommt. Folglich ist sie das
Verhältnis aus vollplastischer und elastischer Traglast:
L pl
n pl,glob = . (7.19)
L el
Die Verwendung eines idealplastischen Materialgesetzes führt besonders bei Stählen mit
großem Verfestigungsvermögen zu stark konservativen Ergebnissen für das globale Versagen,
da die Zugfestigkeit deutlich oberhalb der Streckgrenze liegt. Daher kann zur Berechnung der
plastischen Traglast die Ersatzstreckgrenze
Re + Rm
R e,ers = (7.20)
2
3
Im Falle einer überlagerten Belastung aus mehreren Lastkomponenten müssen diese proportional zueinander
ansteigen.
162 7 Rechnerischer Statischer Festigkeitsnachweis
Re Re Re
plastische Grenzlast
Lpl
Bauteilbelastung L
L1
L1 = Lel · npl,lok Lpl = Lel · npl,glob
Bauteilfließkurve
elastische Grenzlast
Lel
Dehnung im Kerbgrund ε
Spannung σ
Re
Werkstofffließkurve
Abb. 7.5: Ermittlung der plastischen Stützzahl für lokales und globales Versagen, in Anlehnung an [83]
verwendet werden. Wenn die plastische Traglast mit der tatsächlichen Streckgrenze berechnet
wurde, kann die plastische Stützzahl alternativ um den Einfluss der Ersatzstreckgrenze erhöht
werden:
L pl 1 + R m /R e
n pl,glob,ers = ⋅( ). (7.21)
L el 2
Je nach Bauteil- und Kerbform kommt es zuerst zu lokalem oder globalem Versagen. Im
Beispiel in Abbildung 7.5 wird die maximal ertragbare Dehnung εertr bereits bei einer ge-
ringeren Last L 1 < L pl erreicht. Somit tritt zuerst lokales Versagen ein, da n pl,lok < n pl,glob ist.
Generell tritt lokales Versagen mit steigender Kerbschärfe eher ein, während es bei milden
Kerben zuerst zum globalen Versagen kommt. Im Grenzfall eines ungekerbten Stabes unter
Zugbelastung ist L el = L pl und n pl,glob = 1, da es bei homogener Spannungsverteilung keine
Traglastreserven gibt.
und die Bauteilsteifigkeit zu null wird und somit keine weitere Laststeigerung möglich ist.
Für diesen Zustand kann keine Gleichgewichtslösung mehr ermittelt werden. Praktisch wird
die Last des letzten konvergierten Lastschritts als vollplastische Traglast definiert. Da hierbei
nicht die maximalen Kerbspannungen, sondern das Erreichen einer bestimmen Spannung
im gesamten Querschnitt von Interesse ist, kann diese Berechnung mit einem vergleichsweise
groben FE-Netz erfolgen.
n pl,glob ≈ K t ⋅ K p . (7.22)
Die plastische Formzahl für Nennspannungen entspricht dem Verhältnis L pl /L el für einen
ungekerbten Querschnitt. Sie hat bei Zug/Druck-Belastung stets den Wert 1. In Tabelle 7.3 ist
K p für einige Beispielquerschnitte angegeben. Die so abgeschätzten plastischen Stützzahlen
sind konservativ im Vergleich zur Berechnung mittels FEM. Infolge der dabei berücksichtigten
Mehrachsigkeit des Spannungszustandes kommt es zur Fließbehinderung (Constraint) und
damit zu noch höheren plastischen Traglasten [163].
Die Berechnung der plastischen Stützzahl in der FKM-Richtlinie erfolgt so, wie voran be-
schrieben mit der tatsächlichen Streckgrenze R p . Das Verfestigungsvermögen des Werkstoffs
wird durch den Verfestigungsfaktor f R berücksichtigt:
Rm
f R = 0,5 ⋅ (1 + ) (7.23)
Rp
Beispiel
Für einen Wellenabsatz mit Freistich gemäß Abbildung ist die plastische Formzahl
gesucht. Die Welle wird ausschließlich auf Torsion beansprucht und ist aus dem
Vergütungsstahl C45 hergestellt.
ႇ 24 mm
A = 14%
Lösung
Die Lösung gliedert sich in drei Teilaufgaben. Zunächst müssen die Bauteilnormwer-
te der Festigkeit berechnet werden. Anschließend wird die plastische Stützzahl für
globales und lokales Versagen berechnet.
Bauteilnormwerte
Die Bauteilnormwerte werden aus den Halbzeugnormwerten mit dem technolo-
gischen Größeneinflussfaktor K d,p bzw. K d,m nach Gleichungen (7.6) und (7.7) be-
rechnet. Dafür kann Gleichung (3.3) mit den entsprechenden Faktoren aus der FKM-
Richtlinie verwendet werden, oder es werden Faktoren direkt aus Abbildung 3.4
abgelesen. Der effektive Durchmesser entspricht dem Halbzeugdurchmesser, aus
dem die Welle gedreht worden ist. Es wird d eff = 40 mm angenommen. Somit ergeben
sich folgende Werte:
K d,p = 0,86 und damit R e = 0,86 ⋅ 490 MPa = 423,3 MPa und
K d,m = 0,90 und damit R m = 0,90 ⋅ 700 MPa = 630,5 MPa.
7.3 Plastische Stützwirkung 165
Globales Versagen
Zur Ermittlung der plastischen Stützzahl für globales Versagen wird der Spannungs-
zustand im Wellenabsatz mittels FEM berechnet. Die Berechnung erfolgt mit 3D-
Elementen mit quadratischem Verschiebungsansatz. Der relevante Kerbbereich wird
mit Hexaederelementen mit einer Kantenlänge von e = 0,75 mm vernetzt.
Die linearelastische Analyse bei einer Belastung von M t,0 = 200 Nm ergibt die ma-
ximale Schubspannung in der Kerbe von τ = 116,0 MPa. Die für den Fließbeginn
bei duktilen Werkstoffen entscheidende Vergleichsspannung nach der GEH beträgt
√
σV,GH = 200,9 MPa. Das entspricht genau einer Erhöhung um dem Faktor 3, der
auch aus Gleichung (6.32) bei reiner Schubbeanspruchung folgt. Aufgrund der li-
nearen Berechnung kann die elastische Traglast direkt aus dem Verhältnis von Ver-
gleichsspannung und Streckgrenze berechnet werden:
L el = σV,GH
Re
⋅ Mt,0 = 423,3
200,9 ⋅ 200 Nm = 421,4 Nm.
Zur Abschätzung der plastischen Traglast wird das Modell anschließend mit ei-
nem linearelastisch-idealplastischen Materialmodell mit der Streckgrenze R e = 423,3
MPa entsprechend Abbildung 7.2 berechnet. Dabei wird die Last ausgehend von
M t = 500 Nm in 50 Nm-Schritten solange gesteigert, bis keine konvergente Lösung
mehr gefunden wird. Das ist im 8. Lastschritt bei M t = 800 Nm der Fall. Aus nume-
rischen Gründen werden vom FE-Programm die 50 Nm-Schritte in kleinere Unter-
lastschritte (substeps) unterteilt. Der letzte konvergierte Unterlastschritt war bei 790
Nm, welcher somit als plastische Traglast gewertet wird: L pl = 790 Nm. Das Streck-
grenzenverhältnis entspricht R e /R m = 0,67. Damit kann die plastische Stützzahl nach
Gleichung (7.21) berechnet werden:
L pl 1+R m /R e
n pl,glob = L el ⋅( 2 ) = 2,33.
Im nachfolgenden Diagramm ist der Verlauf der Vergleichsspannung im höchstbean-
spruchten Kerbquerschnitt bei verschiedenen Lastschritten zwischen der elastischen
und der plastischen Traglast dargestellt. Aufgrund der symmetrischen Spannungs-
verteilung ist nur die Hälfte des Pfades durch den Querschnitt angezeigt. Es ist gut zu
166 7 Rechnerischer Statischer Festigkeitsnachweis
erkennen, wie Anfangs lediglich im Kerbgrund die Streckgrenze erreicht wird und
bei weiterer Laststeigerung immer größere Bereiche plastifizieren.
450
Vergleichsspannung σV,GH in MPa
400
350
300
250
200
150
100
50
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Position in mm
Zum Vergleich wird noch die vereinfachte Abschätzung anhand der Formzahl be-
trachtet. Die Nennspannung bezüglich des Wellendurchmessers im Kerbgrund ist
T = 16 ⋅ M t,0 /(π ⋅ d 3 ) = 83,7 MPa. Das entspricht im Vergleich zur maximalen Schub-
spannung aus der linearelastischen FE-Rechnung einer Formzahl von K t = 116/83,7 =
1,39. Die plastische Stützzahl kann somit nach Gleichung (7.22) unter Verwendung
der plastischen Formzahl für Nennspannungen in Tabelle 7.3 berechnet werden:
n pl,glob ≈ K t ⋅ K p = 1,39 ⋅ 1,33 = 1,84.
Dieser Wert muss ebenfalls noch um den Faktor 0,5 ⋅ (1 + R m /R e ) entsprechend
Gleichung (7.24) erhöht werden, so dass die Abschätzung der Stützzahl aus der
Formzahl schließlich n pl,glob = 2,29 ergibt. Die Übereinstimmung mit dem Ergebnis
aus der FE-Rechnung ist in diesem Fall recht gut.
Lokales Versagen
Für den Nachweis gegen lokales Versagen wird auch die Stützzahl nach Gleichung
(7.16) berechnet. Die ertragbare Dehnung wird in Abhängigkeit vom Mehrachsig-
keitsgrad h bestimmt. Dieser ist nach Gleichung (7.4) bei reiner Schubbelastung
gleich Null. Somit ist εertr = A = 0,14 (Gleichung (7.18) und Tabelle 7.2) und es folgt:
√
E ⋅εertr
n pl,lok = Re = 8,33.
Ergebnis
Nach Gleichung (7.13) ist damit die gesuchte plastische Stützzahl:
n pl = min(8,33; 2,33) = 2,33.
◻
7.4 Geschweißte Bauteile 167
Viele Schweißkonstruktionen bestehen aus geometrisch einfachen Blechen und die Span-
nungen können nach der elementaren Festigkeitslehre berechnet werden. Daher ist in vielen
Regelwerken noch der nennspannungsbasierte Nachweis der Standard. Generell gibt es in ver-
schiedenen Branchen recht unterschiedliche Regelwerke zum Nachweis von Schweißnähten.
Im geregelten Bereich (z. B. Stahlbau, Eisenbahnwesen, Kranbau oder Druckbehälterbau) ist
genau zu prüfen, welche Norm anzuwenden ist. Der statische Festigkeitsnachweis muss dabei
meist für den Grundwerkstoff und die Schweißnaht4 separat geführt werden. Bei entfestigen-
den Aluminiumwerkstoffen ist noch die Wärmeeinflusszone in einem bestimmten Bereich
um die Naht separat nachzuweisen, womit der Entfestigung infolge der hohen Temperaturen
beim Schweißen Rechnung getragen wird.
Der Nachweis für den Grundwerkstoff wird wie für nichtgeschweißte Bauteile geführt. Für die
Schweißnaht ist zu beachten, dass die Festigkeit außer vom Werkstoff auch von der Nahtform
(z. B. Stumpfnaht oder Kehlnaht), der Art der Beanspruchung und der Nahtgüte (sowie der Art
der Prüfung der Schweißnaht) abhängt. Ein weiterer Unterschied besteht in der Ermittlung
der wirkenden Spannungskomponenten. Diese werden unterschieden in Normalspannungen
senkrecht zur Naht σ⊥ , Schubspannungen senkrecht zur Naht τ⊥ und Schubspannungen
parallel zur Naht τ∣∣ . Die Vergleichsspannung wird im Stahlbau nach Eurocode 3 [87] mit der
GH gebildet:
√
σV,W,GH = σ2⊥ + 3 ⋅ τ2⊥ + 3 ⋅ τ2∣∣ . (7.25)
Die FKM-Richtlinie bietet seit der 6. Auflage auch die Möglichkeit, Schweißnähte mit Kerb-
spannungen nachzuweisen. Dabei wird, wie in Abschnitt 6.4.3 beschrieben, die Schweißnaht
vollständig im FE-Modell modelliert. Nahtübergang und Nahtwurzel werden mit dem Refe-
renzradius r ref = 1 mm ausgeführt [164]. Die Festlegung auf den gleichen Referenzradius wie
beim Ermüdungsfestigkeitsnachweis hat den Vorteil, dass alle Nachweise mit dem gleichen
FE-Modell durchgeführt werden können. Da die höchste Beanspruchung in den Übergangs-
radien an der Oberfläche auftritt, liegt ein ebener Spannungszustand vor. Die Vergleichsspan-
nung wird mit der GH nach Gleichung (6.30) gebildet. Da durch die direkte Modellierung der
4
Der statische Nachweis der Schweißnaht kann in einigen Normen entfallen, wenn durch diese keine Kraft
übertragen wird bzw. nur Normalspannungen parallel zur Naht auftreten.
5
Gleiches gilt für den Nachweis geschweißter Bauteile mit Nenn- oder Strukturspannungen nach FKM-
Richtlinie.
168 7 Rechnerischer Statischer Festigkeitsnachweis
Schweißnaht die Einflüsse von Nahtart, Bauteilgeometrie und Belastungsart auf die Bean-
spruchung mit erfasst werden, müssen bei der Ermittlung der statischen Bauteilfestigkeit
diese Einflüsse in Form des Schweißnahtfaktors nicht noch einmal extra erfasst werden. Die
Berechnung der plastischen Stützzahl erfolgt analog zu nichtgeschweißten Bauteilen. Aller-
dings gelten bei der Berechnung der ertragbaren Dehnung andere Werte. Der Index »wK«
steht dabei für den Schweißnahtnachweis (w - weld) nach dem Kerbspannungskonzept (K).
Die entsprechenden Parameter sind in Tabelle 7.4 aufgeführt. Mit der ertragbaren Dehnung
εertr,wK wird dann, wie in Abschnitt 7.3 beschrieben, die plastische Stützzahl für globales und
lokales Versagen berechnet. Die statische Bauteilfestigkeit kann damit wie folgt berechnet
werden:
σWK = R p ⋅ n pl . (7.28)
Die anzuwendenden Werte für R p entsprechen denen der DIN 18800. Sie sind für Baustahl in
Tabelle 7.5 aufgeführt.
Tab. 7.4: Parameter zur Berechnung der ertragbaren Dehnung beim statischen Nachweis von Schweiß-
nähten mit Kerbspannungen nach FKM-Richtlinie
Festigkeitsbereich ε0,wK εref,wK
R p0,2 ≤ 460 MPa 0,05 0,17
460 MPa ≤ 690 MPa 0,05 0,14
Tab. 7.5: Statische Festigkeit von Baustahl in geschweißten Bauteilen nach DIN 18800
Stahlsorte t in mm R e in MPa R m in MPa
S235 ≤ 40 240 360
40 . . . 100 215 360
S275 ≤ 40 275 410
40 . . . 80 255 410
S355 ≤ 40 360 470
40 . . . 80 355 470
S450 ≤ 40 440 550
40 . . . 80 410 550
7.5 Sicherheitsfaktoren 169
7.5 Sicherheitsfaktoren
σ σ
Rm
Re
Sicherheit jF Sicherheit jB
σzul σzul
ε ε
a) b)
Abb. 7.6: Sicherheitsfaktoren für den statischen Festigkeitsnachweis für a) duktile Werkstoffe (ohne
plastische Stützwirkung) und b) spröde Werkstoffe
170 7 Rechnerischer Statischer Festigkeitsnachweis
In vielen neuen Regelwerken, wie dem Eurocode und auch der FKM-Richtlinie, wird das
ursprünglich aus dem Bauwesen stammende Teilsicherheitskonzept angewendet. Hier wird
der Gesamtsicherheitsfaktor aus verschiedenen Teilsicherheitsfaktoren berechnet, mit denen
die verschiedenen streuenden Einflussgrößen unterschiedlich berücksichtigt werden. Dazu
zählen:
• die Streuung der Festigkeit,
• die Art der Qualitätsprüfung, z. B. bei Gussbauteilen oder Schweißnähten,
• ständige Lasten, z. B. Eigengewicht,
• seltene Lasten, z. B. durch Montage oder Havariefälle,
• Beanspruchung durch Temperaturänderung.
Der Gesamtsicherheitsfaktor der FKM-Richtlinie setzt sich aus den Teilsicherheitsfaktoren für
die Festigkeit, dem Materialfaktor j F und für die Last, dem Lastfaktor j S , zusammen:
j ges = j S ⋅ j F . (7.29)
Der Materialfaktor wird mit den Teilsicherheitsfaktoren gegen Bruch j m und gegen Fließen j p
bei normalen oder nur kurzzeitig wirkenden hohen Temperaturen berechnet. Bei über lange
Zeiten wirkenden hohen Temperaturen werden zusätzlich noch die Sicherheitsfaktoren für
die Zeitstandfestigkeit j mt und die Zeitdehngrenze j pt verwendet. Die Werte sind in Tabelle 7.6
angegeben. Maßgeblich für den Materialfaktor ist dann der Maximalwert der verschiedenen
Teilsicherheiten. Bei der Berechnung von j F wird zwischen duktilen und spröden Werkstof-
fen unterschieden. Für duktile Stähle mit dem Streckgrenzenverhältnis R p /R m ≤ 0,75 sowie
geschweißte Bauteile aus Walzstahl und duktilem Aluminiumwerkstoff ist
jp j pt
j F = max ( ; ). (7.30)
K T,p K Tt,p
Rp
Bei spröden Werkstoffen mit Rm > 0,75 wird der Lastfaktor mit
j m R p j mt R p
j F = max ( ⋅ ; ⋅ ) (7.31)
K T,m R m K Tt,m R m
berechnet. Hierin sind K T,m und K T,p die in Abbildung 7.1 dargestellten Temperaturfaktoren.
Bei normalen Temperaturen ist K T,m = K T,p = 1 zu verwenden. Nur bei langzeitig wirkenden
Temperaturen oberhalb von ca. 350°C werden die Langzeittemperaturfaktoren K Tt,m und
K Tt,p verwendet, deren Berechnung in Abschnitt 3.2.1.9 der FKM-Richtlinie beschrieben ist.
Ansonsten entfallen die Anteile mit diesen Faktoren in Gleichungen (7.30) und (7.31).
Der Lastfaktor wird j S = 1 gesetzt, sofern keine statistisch auswertbaren Lastmessungen
bzw. Lastannahmen vorhanden sind. Indirekt wird mit den Lastfaktoren die Sicherheit bzw.
7.5 Sicherheitsfaktoren 171
Genauigkeit der Lastannahme und damit auch der Beanspruchung berücksichtigt. Dies
erfolgt wie in Tabelle 7.6 angegeben in zwei Stufen: hohe bzw. niedrige Wahrscheinlichkeit
des Auftretens der wirkenden Spannung.
Zusätzliche Teilsicherheitsfaktoren werden bei Gussbauteilen ( j G ) sowie geschweißten Bau-
teilen ( j w ) im Gesamtsicherheitsfaktor j ges multiplikativ berücksichtigt. Außerdem wird für
nichtduktile Gusswerkstoffe ein weiterer Teilsicherheitsbeiwert, der Sprödigkeitssummand Δ j
zum Materialfaktor j F addiert. Diese additive Verknüpfung anstelle eines Faktors ist historisch
bedingt und geht auf die VDI-Richtlinie 2226 zurück.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die Sicherheitsfaktoren der FKM-Richtlinie
nur in Verbindung mit der Überlebenswahrscheinlichkeit der dort angegebenen Werkstoff-
kennwerte von P Ü = 97,5 % gelten und daher nicht ohne weiteres auf andere Regelwerke
übertragbar sind. Weiterhin ist zu beachten, dass die Gleichungen (7.30) und (7.31) in der
FKM-Richtlinie in einer Gleichung zusammengefasst sind.
Verständnisfragen
1. Warum ist beim Betriebsfestigkeitsnachweis mit variablen Amplituden stets auch der
statische Festigkeitsnachweis zu führen?
2. Bei welchen Stahlwerkstoffen kann nicht von einer Isotropie der Festigkeitseigenschaf-
ten ausgegangen werden?
3. Vergleichen Sie qualitativ den Einfluss hoher Temperaturen auf die statische Festigkeit
bei Stahl und Aluminium.
4. Was ist der Unterschied zwischen lokalem und globalem Versagen?
5. Wie groß ist die plastische Stützzahl für einen ungekerbten Stab unter Zugbelastung?
6. Welches angenommene Materialverhalten liegt bei der Berechnung der plastischen
Stützzahl für lokales Versagen zu Grunde.
7. Wie sind die Spannungen bei Erreichen der plastischen Traglast im Querschnitt verteilt?
8. Warum wird zur Berechnung der plastischen Traglast die Ersatzstreckgrenze gebildet.
Wofür wird damit Rechnung getragen?
9. Welches Versagen (lokal oder global) tritt mit steigender Kerbschärfe tendenziell eher
auf?
10. Wie wird die plastische Traglast bei einer FE-Analyse ermittelt?
11. Der statische Festigkeitsnachweis sei für ein statisch belastetes Bauteil erfüllt. Welche
weiteren Versagensarten sind ggf. noch zu überprüfen?
12. Wann kann auf den statischen Nachweis einer Schweißnaht verzichtet werden?
13. Wie wird eine Schweißnaht im FE-Modell für den statischen Festigkeitsnachweis mit
Kerbspannungen modelliert?
14. Wovon hängt der in der FKM-Richtlinie anzusetzende Sicherheitsfaktor für den stati-
schen Festigkeitsnachweis ab?
Aufgaben
1. Ein Bauteil aus einem Al-Gusswerkstoff soll für statische Belastung ausgelegt werden.
An der Nachweisstelle (unbelastete Oberfläche im Kerbgrund) wurden mittels einer
FE-Analyse folgende Spannungen ermittelt:
σx = 65 MPa, σ y = 28 MPa und τx y = 28 MPa.
Berechnen Sie die Vergleichsspannung σV nach FKM-Richtlinie. Hinweis: Der Schub-
festigkeitsfaktor für Al-Gusswerkstoff beträgt f τ = 0,75.
7.6 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 7 173
2. Berechnen Sie die statische Bauteilfestigkeit σSK für ein gekerbtes Bauteil aus Vergü-
tungsstahl. Für den Werkstoff sind unter Berücksichtigung des technologischen Grö-
ßeneinflusses folgende Kennwerte bekannt:
R m = 731 MPa, Re = 522 MPa, und E = 205.000 MPa.
Die maximal zulässige Gesamtdehnung im Kerbbereich ist auf εertr = 7 % begrenzt. Das
Bauteil ist auf Biegung belastet und hat einen rechteckförmigen Kerbquerschnitt mit
der Formzahl K t = 1,45.
Hinweise: Die plastische Traglast soll ohne FE-Analyse abgeschätzt werden. Verwenden
Sie zur Berechnung die Ersatzstreckgrenze.
8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Mit dem Dauerfestigkeitsnachweis wird ein variabel belastetes Bauteil für eine sehr große
Lebensdauer ausgelegt. Dies unterscheidet ihn vom Zeit- und Betriebsfestigkeitsnachweis,
denn dort erfolgt die Auslegung für eine bestimmte zu erreichende Lebensdauer. Der Dauer-
festigkeitsnachweis ist damit im Bezug auf das Ergebnis dem statischen Festigkeitsnachweis
ähnlich, da mit beiden die Festigkeit eines Bauteils formal ohne Lebensdauerbegrenzung
nachgewiesen wird. Das setzt allerdings Bauteile aus Werkstoffen mit Wöhlerlinientyp I, also
mit ausgeprägter Dauerfestigkeit, voraus. Das ist z. B. der Fall bei gekerbten Bauteilen aus
niedrig- und unlegierten Stählen. Auf die Frage, ob und wann tatsächlich von einer unbegrenz-
ten Lebensdauer ausgegangen werden kann, wurde am Ende von Abschnitt 2.3.1 genauer
eingegangen. Beim Wöhlerlinientyp II erfolgt der Nachweis der Langzeitfestigkeit analog zur
Zeitfestigkeit immer für eine bestimmte Lastzyklenzahl.
Ob für ein variabel belastetes Bauteil ein Zeit-, Dauer- oder Betriebsfestigkeitsnachweis ge-
führt werden muss, hängt hauptsächlich von der Lastzyklenzahl der größten Kollektivstufe
ab. Das wird durch Abbildung 8.1 verdeutlicht.Die beiden oberen Kollektive sind einstufig.
Der Dauerfestigkeitsnachweis ist dann notwendig, wenn der Kollektivumfang größer als die
Lastzyklenzahl des Abknickpunktes der Wöhlerlinie ist: n 1 > ND . Ansonsten liegt ein Zeitfes-
tigkeitsproblem vor, bei dem die Lebensdauer direkt anhand der Wöhlerlinie abgeschätzt
werden kann.
Bei mehrstufigen Kollektiven ist es entscheidend, ob die Lastzyklenzahl der obersten Stufe
größer oder kleiner als ND ist. Ist sie größer, muss das Bauteil auf Dauerfestigkeit ausgelegt
werden und zwar für die Spannungsamplitude der größten Kollektivstufe. Dabei spielt es
keine Rolle, wie die restlichen Kollektivstufen verteilt sind. Für den Fall, dass n K,max < ND ist,
kann das Bauteil wie in Abschnitt 9 beschrieben mittels Schadensakkumulation betriebsfest,
also für die geforderte Lebensdauer, ausgelegt werden.
Selbstverständlich kann die Auslegung immer dauerfest erfolgen. Dann muss die Dauerfes-
tigkeit des Bauteils größer sein als die größte Spannungsamplitude des Kollektivs. Das führt
aber in den Fällen der beiden rechten Kollektive in Abbildung 8.1 zu überdimensionierten
und damit im Sinne des Leichtbaus zu schweren Bauteilen.
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S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 175
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_8
176 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
σa σa (log.)
Dauerfestigkeitsproblem Zeitfestigkeitsproblem
(log.)
σ1
σ1
ND n1 N (log.) n1 ND N (log.)
σa σa (log.)
(log.) Dauerfestigkeitsproblem Betriebsfestigkeitsproblem
σK,max
σK,max
Abb. 8.1: Abgrenzung zwischen Zeit-, Betriebs- und Dauerfestigkeitsnachweis in Abhängigkeit vom
Belastungskollektiv
Typische Bauteile, die auf Dauerfestigkeit ausgelegt werden, finden sich z. B. im Motorenbau,
wie Pleuel, Wellen oder Ventilfedern. Sie werden durch viele Lastzyklen umfassende, füllige
Kollektive beansprucht.
Bauteile unter variabler Belastung werden im Betrieb häufig durch verschiedene Belastungs-
arten, wie Biegung und Torsion, beansprucht. Diese können sich hinsichtlich Amplitude,
Mittelwert, Frequenz und Phasenlage unterscheiden. Daraus resultieren im allgemeinen Fall
mehrachsige Beanspruchungszustände mit über der Zeit veränderlichen Hauptspannungs-
richtungen. Es wird prinzipiell zwischen
• proportionaler Beanspruchung: einer mehrachsigen Beanspruchung mit konstanten
Hauptspannungsrichtungen und
• nichtproportionaler Beanspruchung: einer mehrachsigen Beanspruchung mit veränder-
lichen Hauptspannungsrichtungen,
unterschieden. Am Beispiel einer Welle mit unterschiedlichen Belastungskombinationen aus
Biegung und Torsion sind in Abbildung 8.2 verschiedene Fälle der proportionalen und nicht-
proportionalen Spannungsüberlagerung gezeigt. Unter dem zeitlichen Verlauf der beiden
8.2 Proportionale und nichtproportionale Beanspruchungen 177
σ σ
τ τ
Spannung
Spannung
t
Verh. σ/τ
Verh. σ/τ
t t
a) σm = τm = 0 , f σ = f τ, φσ = φτ b) σa /σm = τ a / τ m f σ = f τ , φσ = φτ
proportional proportional
σ σ
τ τ
Spannung
Spannung
t t
Verh. σ/τ
Verh. σ/τ
t t
c) σ = konst. τm = 0 d) σm = τm = 0, f σ = f τ, φσ ≠ φτ
nichtproportional nichtproportional
σ σ
τ τ
Spannung
Spannung
t
Verh. σ/τ
Verh. σ/τ
t t
e) σm ≠ τm, f σ = f τ, φσ = φτ f) σm = τm =0, f σ ≠ f τ, φσ ≠ φτ
nichtproportional nichtproportional
Abb. 8.2: Proportionale und nichtproportionale Beanspruchung bei überlagerter Biegung und Torsion
abhängig von Mittelspannungen, Frequenz f und Phasenwinkel ϕ
178 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Spannungskomponenten ist der Verlauf des Verhältnisses aus Normal- und Schubspannung
abgebildet. Je nach Überlagerung von Normal- und Schubspannungen ist die daraus resultie-
rende Mehrachsigkeit verschieden:
a) mittelspannungsfreie Beanspruchung mit gleicher Frequenz, in Phase
→ proportional,
b) Spannungsamplituden haben jeweils gleiches Verhältnis zur Mittelspannung, Bean-
spruchung mit gleicher Frequenz, in Phase
→ proportional,
c) mittelspannungsfreie zyklische Beanspruchung überlagert durch die rein statische
Beanspruchung einer anderen Spannungskomponente
→ nichtproportional,
d) mittelspannungsfreie Beanspruchung mit gleicher Frequenz, aber phasenverschoben
→ nichtproportional,
e) verschiedene Mittelspannungen, Beanspruchung mit gleicher Frequenz, in Phase
→ nichtproportional und
f) mittelspannungsfreie Beanspruchung mit unterschiedlicher Frequenz
→ nichtproportional.
Offensichtlich liegt eine proportionale Beanspruchung nur bei gleichfrequenter, phasen-
gleicher Beanspruchung vor, wobei die jeweiligen Mittelspannungen im gleichen Verhältnis
zu den Spannungsamplituden stehen. Das schließt die rein wechselnde Beanspruchung
unter a) als Sonderfall von Fall b) mit ein. Ansonsten ändern sich die Spannungen nicht-
proportional zueinander1 . Für den Festigkeitsnachweis ist es allerdings entscheidend, wie
stark sich das Hauptachsensystem während der Belastung ändert. Bei geringfügig drehenden
Hauptspannungsrichtungen kann näherungsweise noch wie bei proportionaler Beanspru-
chung verfahren werden. So können die Fälle c) und e) nach einem Vorschlag in [22] zu
mittelspannungsfreien Ersatzamplituden (siehe Abschnitt 5.3.1) transformiert und danach
näherungsweise als proportionale Beanspruchungen behandelt werden. Die Grenzen da-
für sind allerdings fließend und es lässt sich kein fester Grenzfall formulieren, bis wann
eine Beanspruchung noch näherungsweise als proportional behandelt werden kann. Eini-
ge Anhaltspunkte dazu finden sich in Abschnitt 8.7 zu Hypothesen bei nichtproportionaler
Beanspruchung.
Im Falle proportionaler Beanspruchung kommen die in Abschnitt 6.2.2 beschriebenen Fes-
tigkeitshypothesen für statische Beanspruchung zur Anwendung. Ihre Anwendbarkeit bei
1
Die Darstellung der Änderung des Winkels der 1. Hauptspannung anstelle des Verhältnisses σ/τ in Abbil-
dung 8.2 wäre daher konsequent gewesen. Allerdings entstehen dabei Sprünge über 90°, wenn die Nor-
malspannung in den Druckbereich geht und dann als 3. anstatt wie vorher als 1. Hauptspannung definiert
ist.
8.3 Nachweisführung bei einachsiger und proportionaler Beanspruchung 179
zyklischer Beanspruchung wird dabei lediglich vorausgesetzt. Die Bewertung von nichtpropor-
tionalen Beanspruchungen ist deutlich komplizierter und gegenwärtig noch Gegenstand der
Forschung. Einige etablierte Methoden werden in Abschnitt 8.7 behandelt. Die nachfolgenden
Abschnitte beziehen sich zunächst auf die Bewertung der Dauerfestigkeit bei proportionalen
Beanspruchungen.
S a ≤ S DK,PÜ . (8.2)
Analog dazu kann die Berücksichtigung der geforderten Ausfallwahrscheinlichkeit auch durch
die Sicherheitszahl j nach Abschnitt 4.7 erfolgen. Dann muss
S DK,50 %
Sa ≤ (8.3)
j
2
Zur Auswertung der Streuung von Dauerfestigkeitsversuchen sind sowohl die Annahme einer Normalvertei-
lung als auch einer log-Normalverteilung üblich. Für nähere Ausführungen dazu wird auf Abschnitt 10.2
verwiesen.
180 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Der rechnerische Festigkeitsnachweis mit einer abgeschätzten Dauerfestigkeit ist der Nor-
malfall im Sondermaschinenbau, bei Kleinserien sowie für kleine und mittlere Unterneh-
men. Außerdem wird er in frühen Entwicklungsstadien z. B. zur Bewertung verschiedener
konstruktiver Varianten angewandt. Die Bauteilwechselfestigkeit σWK wird meist aus der
Wechselfestigkeit des Werkstoffs σW und diese wiederum aus der statischen Festigkeit abge-
schätzt. Den prinzipiellen Ablauf zeigt Abbildung 8.3. Sämtliche weitere Einflussgrößen auf
die Schwingfestigkeit müssen dann, wie in Kapitel 3 beschrieben, separat berücksichtigt wer-
den. Sie ergeben zusammen den Konstruktionsfaktor, welcher meist als Multiplikation mit der
Werkstofffestigkeit die Bauteilwechselfestigkeit ergibt. In Abschnitt 3.10 ist die Berechnung
des Konstruktionsfaktors K WK der FKM-Richtlinie gezeigt.
Bei der Abschätzung der Festigkeit aus Normwerten fehlen oft Aussagen zur Streuung der
Festigkeit. Daher wird die erforderliche Sicherheit j ges mit erfahrungsbasierten Gesamt- oder
Teilsicherheitsfaktoren (deterministisches Sicherheitskonzept) festgelegt, siehe Abschnitt 8.8.
Technologischer
Werkstoffgruppe
Größeneinfluss
Werkstoffwechselfestigkeit σW
Temperatur Oberflächenverfestigung
Eigenspannungen Umgebungsmedien
Bauteilwechselfestigkeit σWK
Mittelspannung Überlastungsfall
Bauteildauerfestigkeit σDK
Es ist zu unterscheiden, ob an der Nachweisstelle des Bauteils ein lokal ein- oder mehrachsiger
Spannungszustand vorliegt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch bei einer
Beanspruchung durch mehrere Komponenten im Bauteil ein einachsiger Spannungszustand
vorliegen kann. Ein Beispiel ist eine Welle mit Querbohrung unter Biegung und Torsion. An
der höchstbeanspruchten Stelle, der Querbohrung, treten dabei lediglich Normalspannungen
auf. In diesem Fall kann der Nachweis in der einfacheren Form für einachsige Beanspruchung
durchgeführt werden.
σDK
σa ≤ (8.4)
j ges
erbracht. Der Nachweis läuft bei reiner Schubbeanspruchung τ, z. B. bei Torsion, analog ab.
Durch den Faktor 3 ist das Verhältnis von Schub- und Normalspannungsfließgrenze von
√
τF /R e = 1/ 3 ≈ 0,577 festgelegt. Übertragen auf die Wechselfestigkeit liegt das Verhältnis
τW /σW für duktile Stähle jedoch tendenziell leicht darüber [201]. Die Anpassung an das tat-
sächliche Wechselspannungsverhältnis gelingt, indem dieses direkt in die Vergleichsspannung
eingesetzt wird. Damit ist die Vergleichsspannungsamplitude
σW 2
σa,V,GEH = σ2a + ( ⋅ τa ) (8.5)
τW
und die Sicherheit j kann direkt mit der Bauteilwechselfestigkeit σWK berechnet werden:
σWK
j= . (8.6)
σa,V,GEH
182 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
2 2
τ σa τa
Grenzlinie Dauerfestigkeit (j = 1): + τ =1
σWK WK
τWK
Beanspruchbarkeit
τa
Beanspruchung
σa σWK σ
Abb. 8.4: Grenzkurve der Dauerfestigkeit bei proportionaler Schub- und Normalbeanspruchung dukti-
ler Werkstoffe
Wird nun Gleichung (8.5) in Gleichung (8.6) eingesetzt und angenommen, dass für die Ver-
hältnisse der Werkstoff- und Bauteilwechselfestigkeiten τWK /σWK ≈ τW /σW gilt3 , dann ist die
Sicherheit
1
j= . (8.7)
σ 2 2
⎛ a ⎞ ⎛ τa ⎞
+
⎝ σWK ⎠ ⎝ τWK ⎠
Für j = 1 wird mit Gleichung (8.7) eine elliptische Grenzkurve beschrieben, welche die dau-
erfest ertragbaren Kombinationen der Schub- und Normalspannungsamplitude beschreibt,
siehe Abbildung 8.4. Bei proportionaler Erhöhung der Spannungsamplituden kann die Sicher-
heit im Verhältnis zur Beanspruchbarkeit abgelesen werden, die sich durch Verlängerung der
Geraden durch den Ursprung und die Beanspruchung ergibt.
2 2
τ σa σa τa
Grenzlinie Dauerfestigkeit (j = 1): + + ൌ1
τWK 2·σWK 2·σWK τWK
Beanspruchbarkeit
τa
Beanspruchung
σa σWK σ
Abb. 8.5: Grenzkurve der Dauerfestigkeit bei proportionaler Schub- und Normalbeanspruchung sprö-
der Werkstoffe
eingesetzt:
σa 2
σa + ( σW ⋅ τ ) .
2
σa,V,NH = + a (8.8)
2 4 τW
Die Sicherheit wird wieder mit der Wechselfestigkeit für Normalspannungen σWK gebildet:
σWK
j= . (8.9)
σa
2
σ2a ⎛ σW ⎞
+
+ ⋅ τa
2 4 ⎝ τW ⎠
Wird die Sicherheit j = 1 gesetzt, entsteht eine parabolische Grenzkurve. Diese zeigt Abbildung
8.5, worin ebenfalls das Wechselfestigkeitsverhältnis τWK /σWK ≈ τW /σW gesetzt ist.
Für den Fall, dass für beide Spannungskomponenten das Verhältnis aus Mittelspannung und
Amplitude gleich ist, können die Spannungsamplituden über die Mittelspannungsempfind-
lichkeit zunächst in mittelspannungsfreie Ersatzspannungsamplituden umgerechnet werden.
Dies kann mit den Gleichungen (5.10) bis (5.13) geschehen. Alternativ können die Wechselfes-
tigkeiten mit den Gleichungen in Tabelle 2.2 in mittelspannungsbehaftete Dauerfestigkeiten
überführt und diese anstelle der Wechselfestigkeiten in Gleichung (8.7) eingesetzt werden.
Dies führt auf das gleiche Ergebnis.
Die nach Abschnitt 3.10 berechnete Bauteilwechselfestigkeit σWK enthält bereits sämtliche
fertigungsbedingten und geometrischen Einflüsse. Mit dem Mittelspannungsfaktor K AK (sie-
he Abschnitt 8.5) die Bauteildauerfestigkeit σAK für ein beliebiges Spannungsverhältnis R
berechnet:
σAK = K AK,σ ⋅ σWK . (8.10)
Mit dem Faktor K BK wird die Schädigungsrechnung mittels Schadensakkumulation für eine ge-
forderte Bauteillebensdauer berücksichtigt. Hier soll eine einstufige Beanspruchung bzw. die
Spannungsamplitude der höchsten Kollektivstufe für eine formal unbegrenzte Lebensdauer
nachgewiesen werden und somit ist K BK,σ = 1, woraus folgt:
Analog zu den Gleichungen (8.10) und (8.11) wird die Bauteilbetriebsfestigkeit τBK mit den
Faktoren K AK,τ und K BK,τ aus der Bauteilschubwechselfestigkeit τWK berechnet. Der zu ver-
wendende maßgebliche Auslastungsgrad hängt von der Bauteilbeanspruchung ab und ist in
Abschnitt 4.6.3 der FKM-Richtlinie beschrieben.
Der Nachweis erfolgt wie beim statischen Festigkeitsnachweis durch die Berechnung von
Auslastungsgraden. Der zyklische Auslastungsgrad a BK beinhaltet bereits den geforderten
Sicherheitsfaktor. Für den erbrachten Nachweis muss daher a BK < 1 gelten. Für eine Normal-
spannungskomponente gilt z. B.
σa
a BK,σ = ⋅ jD. (8.13)
σBK
Bei mehrachsiger, proportionaler Beanspruchung erfolgt der Nachweis mit dem zyklischen
Auslastungsgrad für zusammengesetzte Spannungskomponenten a BK,σV (Vergleichsauslas-
tungsgrad) mit:
a BK = a BK,σV ≤ 1. (8.14)
Die Berechnung der Auslastungsgrade für nichtgeschweißte und geschweißte Bauteile wird in
der FKM-Richtlinie ausführlich beschrieben.
8.4 Stützwirkungskonzepte 185
8.4 Stützwirkungskonzepte
Zur Berechnung der Stützzahl existieren verschiedene Konzepte. Allen ist gemein, dass zur
Bewertung der Stützwirkung grundsätzlich zwei Informationen benötigt werden. Zum einen
muss die Kerbe bzw. die versagenskritische Stelle bezüglich ihrer Form und des daraus re-
sultierenden Beanspruchungsfeldes beschrieben werden. Zum anderen ist die Wirkung des
damit verbundenen inhomogenen Spannungszustands auf das Material zu bewerten. Die
Kerbwirkung und damit die Größe der Stützzahl sind dementsprechend von Form und Mate-
rial abhängig. In den meisten Konzepten wird nicht die Kerbe an sich, sondern das die Kerbe
umgebende Spannungsfeld zur Bewertung herangezogen. Dieses kann mit phänomenologi-
schen Parametern wie dem bezogenen Spannungsgradienten näherungsweise beschrieben
werden. Andere Konzepte verwenden als Parameter das höchstbeanspruchte Volumen, in
dem eine bestimmte Spannung nicht unterschritten wird, das Integral über der Spannung
in einem bestimmten Volumen oder die über einem charakteristischen Bereich gemittelte
Spannung.
Auf Siebel [253] geht der Ansatz zurück, die Kerbschärfe durch den bezogenen Spannungsgra-
dienten χ′ zu charakterisieren, wie er in Abbildung 3.9 und Gleichung (3.8) definiert ist.
Die Gleitschichtdicke drückt als Werkstoffkennwert die Kerbempfindlichkeit aus. Eine direkte
Korrelation mit der Kristallitgröße ist für einige Werkstoffe experimentell bestätigt [254].
186 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Allerdings ist das nicht für beliebige metallische Werkstoffe verallgemeinerbar. Im DDR-
Standard TGL 19340 [89] wurde die Gleitschichtdicke aus der 0,2 %-Dehngrenze des Materials
abgeschätzt:
√ R
−(0,33+ 712pMPa
0,2
)
s g = 10 . (8.18)
FKM-Richtlinie, Spannungsgradientenansatz
Bis zur 5. Auflage der FKM-Richtlinie (2003) war der auf dem Spannungsgradienten basierende
Ansatz die einzige Möglichkeit zur Berechnung der Stützzahl. Mit der 2012 erschienenen 6.
Auflage ist alternativ auch die Verwendung der werkstoffmechanischen Stützzahl, wie sie
weiter hinten beschrieben wird, möglich. Die Berechnung der Stützzahl mit dem bezogenen
Spannungsgradienten χ′ (wird in der FKM-Richtlinie mit G bezeichnet) erfolgt abhängig von
der statischen Werkstofffestigkeit R m und der Werkstoffgruppe.
Für χ′ ≤ 0,1 mm−1 gilt:
Rm
−(aG −0,5+ b )
n = 1 + χ′ ⋅ mm ⋅ 10 G ⋅MPa , (8.22)
FEMFAT-Methode
Das in der kommerziellen Betriebsfestigkeitssoftware FEMFAT implementierte Stützzahlkon-
zept geht auf Eichlseder [127, 128] zurück und stellt eine Weiterentwicklung des Verfahrens
von Hück, Thrainer, Schütz dar. Als zusätzlicher Parameter wird hier noch die Biegedauerfes-
tigkeit σD,b benötigt. Die Berechnung der Stützzahl erfolgt mit
KD
σD,b χ′
n = 1+( − 1) ⋅ ( 2 ) . (8.25)
σD b
Die Exponenten K D sind identisch mit denen in Gleichungen (8.19) bis (8.21). Allerdings wird
hier die Stützzahl so verschoben, dass die Biegedauerfestigkeit σD,b exakt berechnet wird. Mit
dem Spannungsgradienten einer glatten Probe bei Biegung: χ′ = 2/b, (b - Probendicke) wird
n = σD,b /σD .
Abschließende Bemerkungen
Neben den vorgestellten Ansätzen existieren noch etliche weitere, die den bezogenen Span-
nungsgradienten verwenden. Der Zusammenhang zwischen dem bezogenen Spannungsgra-
dienten und der Stützzahl ist empirisch und muss für jeden Werkstoff aus experimentellen
Daten separat abgeleitet werden. Aufgrund der relativ einfachen Ermittlung des bezogenen
Spannungsgradienten (direkt aus der FEM oder Abschätzung aus dem Kerbradius, wie in
Tabelle 3.2) sind darauf beruhende Konzepte in vielen Richtlinien und Normen verankert.
Oft ist allerdings nicht explizit angegeben, für welche Spannungskomponente der Gradient
berechnet werden soll. Häufig wird die maximale Hauptspannung oder eine Vergleichsspan-
nung verwendet. Das Problem besteht beim Nachweis mit der FKM-Richtlinie nicht, da
dort der Nachweis zunächst für jede Spannungskomponente separat geführt wird. Somit
kann auch der bezogene Spannungsgradient für jede Spannungskomponente einzeln erfasst
werden. Weiterhin ist darauf zu achten, welcher Anteil der Spannung zur Berechnung von
χ′ verwendet wird. Wenn die Mittelspannung und die Spannungsamplitude aus derselben
äußeren Last folgen, sich also bei Lasterhöhung proportional zueinander ändern, kann χ′ aus
der Spannungsamplitude, der Mittelspannung oder auch der Maximalspannung berechnet
188 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
σ σ
r r
V90% V90%
werden. Das Ergebnis ist dasselbe, da der bezogene Spannungsgradient stets auf den Maxi-
malwert normiert ist. Sollte die Mittelspannung unabhängig von der Spannungsamplitude
sein und beispielsweise aus einer Pressverbindung resultieren, ist χ′ nicht gleich und sollte
nur für die Spannungsamplitude berechnet werden.
Eine alternative Größe zur Charakterisierung der Kerbschärfe ist das hochbeanspruchte Werk-
stoffvolumen in einer Kerbe. Dieses kann alternativ zum bezogenen Spannungsgradienten zur
Berechnung der Stützzahl herangezogen werden. Grundgedanke des Konzeptes (Concept of
Highly Stressed Volume) ist es, dass mit steigender Kerbschärfe das Volumen abnimmt, in dem
es zur Ermüdungsrissbildung kommen kann, Abb. 8.6. Damit wird neben dem statistischen
auch der spannungsmechanische Größeneinfluss erfasst, da mit steigendem höchstbean-
spruchten Volumen auch die Wahrscheinlichkeit anrissiniziierender Werkstofffehler ansteigt.
Mit steigender Kerbschärfe nimmt das höchstbeanspruchte Volumen ab und der bezogene
Spannungsgradient zu.
Kuguel [194] verwendete erstmals das Verhältnis der Volumina, in denen jeweils 95 % der
maximalen Spannung überschritten werden, für die Übertragung von Schwingfestigkeitskenn-
werten von ungekerbten Proben auf Bauteile. Das Konzept wurde von Sonsino aufgegriffen
[260] und verschiedentlich verwendet (z. B. [189, 263, 199, 264]). Heute ist es üblich, 90 % der
maximalen Spannung als Schwellwert für das höchstbeanspruchte Volumen zu verwenden
[260], welches dann als V90 % bezeichnet wird. Da der Spannungszustand in Kerben allgemein
8.4 Stützwirkungskonzepte 189
Stützzahl n
Stützzahl n
bez. Spannungsgradient χ' höchstbeansp. Volumen V90%
Abb. 8.7: Prinzipielle Abhängigkeit der Stützzahl vom hochbeanspruchten Volumen und vom bezoge-
nen Spannungsgradienten
mehrachsig ist, muss das Volumen für eine entsprechende Vergleichsspannung berechnet
werden. Die Stützzahl wird mit
V90%,Kerbe −w
n =( ) (8.26)
V90%,Referenz
berechnet. Der Exponent w drückt die Kerbempfindlichkeit des Werkstoffs aus. Beispiele
für w sind in Tab. 8.2 angegeben. Durch den negativen Exponenten wird deutlich, dass die
Stützzahl mit steigendem Volumen V90 % abnimmt, Abb. 8.7.
Die Berechnung von V90 % kann mittels FEM nach der Methode SPIEL von Diemar [123]
erfolgen. Das Verfahren ist am Beispiel von ANSYS ausführlich in [81] beschrieben. Alternativ
kann V90 % z. B. in ANSYS auch als Iso-Volumen, in dem die Spannung σ ≥ 0,9 ⋅ σmax ist, in
Form einer Geometriedatei ausgegeben und vermessen werden.
Eine alternative Formulierung der Stützzahl in [153] verwendet V90 % als reinen Parameter für
die Kerbschärfe, analog zu den Spannungsgradientenansätzen:
′
−w
n = 1 + A ⋅ V90 %. (8.27)
190 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Die Parameter A und w ′ müssen (wie auch w in Gleichung (8.26)) aus Versuchen ermittelt wer-
den. Für Sinterstähle beispielsweise konnten mittels Gleichung (8.27) die Versuchsergebnisse
besser abgebildet werden als mit Gleichung (8.26).
Die Berechnung des statistischen Größeneinflusses beruht auf dem Fehlstellenmodell von
Weibull [292]. Es wurde zur statistischen Beschreibung der Zugfestigkeit spröder Werkstoffe
entwickelt und u. a. von Heckel und Köhler auf die Schwingfestigkeit übertragen [171]. Dem-
nach hängen die Festigkeitseigenschaften direkt von der Proben- bzw. Bauteilgröße ab und
sind in der statistischen Verteilung von Fehlstellen begründet. Festigkeitseigenschaften wie
die Dauerfestigkeit nehmen mit steigender Bauteilgröße ab, da die Wahrscheinlichkeit der
Anrissbildung an den statistisch verteilten Fehlstellen ansteigt. Auch die höhere Dauerfestig-
keit gekerbter Strukturen lässt sich damit erklären. Infolge der Spannungskonzentration an
Kerben ist hier das höchstbeanspruchte Volumen, von dem das Versagen ausgeht, kleiner als
in einer homogen beanspruchten Werkstoffprobe.
Die Herleitung soll hier nur kurz skizziert werden. Dazu wird ein Bauteil als ein in Reihe
geschaltetes System von Volumenelementen verschiedener Ausfallwahrscheinlichkeiten be-
trachtet. Tritt am schwächsten Glied dieser Kette Versagen auf, dann versagt das ganze Bauteil
(Weakest Link - Modell). Die Überlebenswahrscheinlichkeit jedes mit σ beanspruchten Volu-
menelements wird nach Gleichung (4.30) unter Beachtung von Gleichung (4.11) durch
κ
−( σσ )
P Ü (σ) = e 0 (8.28)
beschrieben. Die Bezugsgröße σ0 gibt als Lageparameter die dauerhaft ertragbare Spannung
für P Ü = 36,8 % an und der Weibull-Exponent κ ist das Maß für die Streuung der Festigkeitsei-
genschaften des Werkstoffs.
Für ein Bauteil mit inhomogener Spannungsverteilung wird dieses Volumen in n Teilvolumina
ΔVi konstanter Spannung σ (Vi ) zerlegt. Die Überlebenswahrscheinlichkeit, bezogen auf ein
Referenzvolumen V0 , ergibt sich zu:
ΔVi σ(Vi ) κ
− ∑ni=1 ⋅( σ0 )
PÜ = e V0
. (8.29)
Die Parameter σ0 und κ sind für eine Referenzprobe (Ref) und ein Bauteil (Bt) identisch, wenn
beide aus demselben Werkstoff bestehen. Somit stimmt die Überlebenswahrscheinlichkeit
8.4 Stützwirkungskonzepte 191
Aus dem Verhältnis der maximalen Spannungen folgt die Stützzahl für den statistischen
Größeneinfluss zu
1
κ
σmax,Bt ∫V g Ref (x,y,z ) dVRef κ
n= = ( Ref ) . (8.34)
∫VBt g Bt (x,y,z ) dVBt
σmax,Ref κ
Üblicherweise werden die Spannungsintegrale in Gleichung (8.34) mit I V,Ref bzw. I V,Bt abge-
kürzt: 1
I V,Ref κ
n =( ) . (8.35)
I V,Bt
Abhängig davon, ob das Versagen vom Bauteilinneren oder von der Oberfläche ausgeht,
werden die Spannungsintegrale über g (x,y,z ) auch als Oberflächenintegrale gebildet:
1
κ
∫ A g Ref (x,y,z ) dA Ref κ
1
I A,Ref κ
n = ( Ref ) =( ) . (8.36)
∫ ABt g Bt (x,y,z ) dA Bt
κ I A,Bt
Ist lediglich die Streuspanne der Zeitfestigkeit in Lastzyklenrichtung T N bekannt, kann die
Umrechnung über den Wöhlerlinien-Exponenten k entsprechend Gleichung (4.27) erfolgen:
1
Tσ = (T N ) k .
Bei der Ermittlung des Spannungsintegrals wichtet κ den Einfluss unterschiedlich hoher Span-
nungen, bezogen auf das Gesamtintegral. Für große κ dominieren die hochbeanspruchten
Bereiche den Wert des Integrals, während mit fallendem κ der Einfluss niedriger beanspruch-
ter Bereiche zunimmt. Die Berechnung des Integrals kann mittels FEM und der Methode
SPIEL [123] erfolgen.
Bei Bauteilen mit komplizierter Form können mehrere potenzielle Versagensorte vorliegen.
Liegen diese weit genug voneinander entfernt, sind sie statistisch unabhängig und müssen
getrennt voneinander betrachtet werden. Das bedeutet, dass für jeden potenziellen Versa-
gensort die Stützwirkung durch den Statistischen Größeneinfluss separat berechnet wird.
Die Berechnung eines Spannungsintegrals über das gesamte Volumen führt bei Bauteilen
mit mehreren unabhängigen anrisskritischen Orten hingegen zu falschen Ergebnissen. Sind
die Versagensorte statistisch abhängig voneinander, so sind gemeinsam zu betrachten und
es wird ein Spannungsintegral über allen Orten gebildet. Zur Identifikation getrennt bzw.
gemeinsam zu betrachtender Versagensorte wurde von Hoyer [180] eine Methode vorgestellt
und an Gusseisen erfolgreich validiert. Eine allgemeingültige Lösung existiert bisher jedoch
noch nicht.
Die Theory of Critical Distances (TCD) beruht auf der Annahme, dass der Vorgang der Mate-
rialermüdung, insbesondere der Anrissbildung, ausschließlich durch das Spannungsfeld in
direkter Kerbnähe bestimmt wird. Dieser Ansatz wurde bereits von Neuber [207] verfolgt, der
mit dem Konzept der Mikrostützwirkung den Grundstein zur TCD legte. Demnach entspricht
die für die Anrissbildung wirksame Spannung im Kerbgrund der über einer charakteristi-
schen Länge des Materials gemittelten Kerbspannung. Ein einheitliches theoretisches Modell
der TCD wurde seit 1997 insbesondere von Lazzarin, Taylor, Susmel und Bellett entwickelt
[108, 198, 274, 279, 280, 281]. Einen guten Überblick bieten z. B. [275] und [283]. Dabei werden
die Fortschritte genutzt, welche der damaligen Anwendung der Theorie von Neuber im Wege
standen: eine formale Definition des werkstofftypischen Längenparameters mit Hilfe der
linearelastischen Bruchmechanik und die einfache Möglichkeit zur Berechnung elastischer
Spannungsfelder um Kerben mit Hilfe numerischer Methoden wie der FEM.
8.4 Stützwirkungskonzepte 193
Die effektive Spannung wird abhängig vom Parameter L berechnet und ist in Kerben stets
kleiner als die maximale Kerbspannung. Die Stützzahl entspricht dem Verhältnis aus 1. Haupt-
spannung im Kerbgrund und der effektiven Spannung:
σI,max
n= . (8.41)
σeff
Zur Berechnung der effektiven Kerbspannung existieren verschiedene Methoden (Abb. 8.8):
• Point Method (PM): die effektive Kerbspannung entspricht der 1. Hauptspannung im
Abstand L /2 hinter der Kerbe in Richtung des maximalen Spannungsgradienten
• Line Method (LM): die effektive Kerbspannung entspricht der über der Strecke 2 ⋅ L
gemittelten 1. Hauptspannung hinter der Kerbe in Richtung des maximalen Spannungs-
gradienten
2L
1
σeff,LM = ∫ σI (r ) dr (8.43)
2L
0
• Area Method (AM): die effektive Kerbspannung entspricht der über einem Halbkreis
mit dem Radius 1,32 ⋅ L gemittelten Spannung hinter der Kerbe
1
σeff,AM = ∫ σI (x,y ) dA (8.44)
A
A
194 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
σI
σeff
Abb. 8.8: Kritischer Abstand für a) Point Method, Line Method und b) Area Method der TCD
• Volume Method (VM): die effektive Kerbspannung entspricht der über einer Halbkugel
mit dem Radius 1,53 ⋅ L räumlich gemittelten Spannung hinter der Kerbe
1
σeff,VM = ∫ σI (x,y ) dV. (8.45)
V
V
Für das Beispiel eines ebenen Risses führen alle 4 Methoden auf dasselbe Ergebnis. Unter-
schiede treten bei der Anwendung an Kerben auf. Die Point Method und die Line Method
werden nicht nur wegen ihrer vergleichsweise einfachen Anwendung am häufigsten ver-
wendet, sie haben auch eine bessere Treffsicherheit, wie verschiedene Untersuchungen in
[109, 153, 197, 280, 282, 284, 305] zeigen. Aufwändiger ist die Spannungsmittlung über der
Fläche oder dem Volumen. Dies kann wieder unter Anwendung der Methode SPIEL [123]
anhand von FE-Modellen erfolgen.
Als Alternative zur auf dem bezogenen Spannungsgradienten basierenden Stützzahl kann
ab der 6. Auflage der FKM-Richtlinie auch die werkstoffmechanische Stützzahl verwendet
werden. Mit ihr werden die Stützzahlen insbesondere bei scharfen Kerben und damit hohen
Spannungsgradienten besser abgeschätzt.
Nach einem Ansatz von Liu [205] wird dabei die Stützzahl als Produkt der verschiedenen
Einflussfaktoren aus statistischer Stützzahl n st , verformungsmechanischer Stützzahl n vm und
8.4 Stützwirkungskonzepte 195
n σ = n st ⋅ n vm ⋅ n bm . (8.46)
Die statistische Stützzahl n st wird, wie in Abschnitt 8.4.3 beschrieben, nach dem Fehlstellen-
modell von Weibull berechnet. Dazu wird wie in Gleichung (8.36) das Spannungsintegral über
der Bauteiloberfläche gebildet:
1
A ref,st kσ
n st = ( ) . (8.47)
A σ,st
Im Vergleich zur Beschreibung in Abschnitt 8.4.3 sind hier lediglich die Bezeichnungen ver-
schieden. Der Wert des Spannungsintegrals wird mit A und der Weibull-Exponent mit k σ
bezeichnet. Der Wert A ref,st wird für die Werkstoffprobe bestimmt, an der die Werkstoffwech-
selfestigkeit bestimmt wurde. Diese ist als Rundprobe mit dem Durchmesser 8 mm und einer
Länge von 20 mm festgelegt. Da der Spannungszustand in einer axial belasteten Rundprobe
homogen ist, ergibt sich unabhängig vom Weibull-Exponenten der Wert A ref,st = 500 mm2 . Die
anzuwendenden Werte von k σ für die von der FKM-Richtlinie abgedeckten Werkstoffgruppen
sind dort tabellarisch angegeben.
Zur Spannungsart bzw. Spannungskomponente, mit der das Spannungsintegral berechnet
werden soll, werden keine konkreten Angaben gemacht. Es ist naheliegend, hier eine für den
Werkstoff geeignete Vergleichsspannung zu verwenden. Die Berechnung unter Verwendung
der Methode SPIEL ist sehr ausführlich in [81] beschrieben.
Mit der verformungsmechanischen Stützzahl n vm wird berücksichtigt, dass bei einer Beanspru-
chung in Höhe der Wechselfestigkeit σW noch plastische Dehnungsamplituden εpl,W auftreten
können. Für duktile Stähle betragen diese im Mittel etwa εpl,W = 0,0026 % [200]. Für gekerbte
Bauteile führt das bei einer Beanspruchung auf Höhe der Wechselfestigkeit zur lokalen Plastifi-
zierung und damit zur Spannungsumlagerung im Kerbgrund. Ähnlich wie bei der plastischen
Stützwirkung im statischen Festigkeitsnachweis sind damit die maximalen Kerbspannungen
geringer, als sie rein elastisch berechnet werden. Die Umrechnung zwischen elastisch be-
rechneter Kerbspannung und tatsächlicher Kerbspannung im elastisch-plastischen Bereich
erfolgt mit Hilfe der Näherungsformel von Neuber [206]. Das ist in Abbildung 8.9 dargestellt.
Weiterhin ist darin zu erkennen, dass die verformungsmechanische Stützzahl noch von der
statistischen Stützzahl abhängt, da die Wechselfestigkeit und damit die zugehörige plastische
Dehnungsamplitude von der Bauteilgröße abhängen. In der Richtlinie wird sie für duktile
Stähle und Aluminiumknetlegierungen nach Liu in [202] mit
√
E ⋅ εpl,W (1/n ′ −1)
n vm = 1+ ⋅ (n st ) (8.48)
σW
196 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
n vm = 1. (8.49)
σa Neuber-Hyperbel elastizitätstheoretisches
σ·ε = konst. Werkstoffverhalten
nvm· nst· σW
verformungs-
mechanische
Stützwirkung
nst·σW
statistische
Stützwirkung
σW
zyklisches
Werkstoffverhalten
εpl,W εa
Abb. 8.9: Zusammenhang zwischen der statistischen und der verformungsmechanischen Stützzahl
nach Liu [202]
Mit der bruchmechanischen Stützzahl n bm wird der Einfluss der inhomogenen Spannungsver-
teilung in Kerben auf das Wachstum von Ermüdungsrissen berücksichtigt. So ist die Bean-
spruchung für einen Riss gleicher Länge im homogenen Spannungsfeld einer ungekerbten
Probe stets größer als im inhomogenen Spannungsfeld gleicher Maximalspannung. Bei sehr
scharfen Kerben kann es zum Stillstand des Ermüdungsrisswachstums kommen, wenn die
Rissbeanspruchung unter den Grenzwert des zyklischen Risswachstums fällt [173].
8.4 Stützwirkungskonzepte 197
1,6
1,2
0,8
0,8 1 1,2 1,4 1,6
Abb. 8.10: Abhängigkeit der spannungsmechanischen Stützzahl von der Zugfestigkeit und der statisti-
schen Stützzahl für Stahl
Die Berücksichtigung der bruchmechanischen Stützwirkung setzt also formal das Vorhan-
densein eines Ermüdungsrisses voraus. Für die Stützwirkung in Bezug auf die Dauerfestigkeit
ist dabei die charakteristische Mikrostrukturlänge a ∗ von Bedeutung. Sie entspricht der in
Anhang 11 angegebenen Risslänge a 0 , Gleichung (11.14). Diese ist eine vom Werkstoff abhän-
gige Größe mit der Dimension einer (Riss-)Länge. Ermüdungsrisse unterhalb dieser Länge
können bei einer Beanspruchung auf Höhe der Dauerfestigkeit des Werkstoffs nicht weiter
wachsen, längere Risse hingegen schon. Die Größe a ∗ ist analog zum Längenparameter L in
Gleichung (8.39) eine fiktive Rechengröße und nicht physikalisch messbar. Bei Stählen mit
homogener Mikrostruktur korreliert sie mit dem Korngrößendurchmesser [205] und ist damit
prinzipiell mit der Gleitschichtdicke s g in Gleichung (8.17) vergleichbar.
Die bruchmechanische Stützzahl in der FKM-Richtlinie wurde am Beispiel einer Scheibe mit
Kreisloch unter Zugbeanspruchung hergeleitet [164]. In der formzahlfreien Formulierung
wird sie in Abhängigkeit vom bezogenen Spannungsgradienten berechnet, der in der FKM-
Richtlinie mit G bezeichnet ist:
√
5+ G ⋅ mm
n bm = √ √ . (8.50)
7,5+ √G ⋅mm
5 ⋅ n vm ⋅ n st + R Rm ⋅
m,bm 1+0,2⋅ G ⋅mm
bereits implizit enthalten. Die Referenzzugfestigkeit R m,bm unterscheidet sich nur in die
Werkstoffgruppen Stahl und Aluminium. Wie in Gleichung (8.50) zu erkennen ist, hängt die
bruchmechanische Stützzahl auch explizit von der statistischen und der verformungsmecha-
nischen Stützzahl ab.
Die bruchmechanische Stützzahl trägt erst bei sehr scharfen Kerben zur Gesamtstützzahl in
Gleichung (8.46) bei, siehe Abbildung 8.11. Bei sehr milden Kerben hingegen dominiert die
statistische Stützzahl. Rein rechnerisch können sich bei milden Kerben für n bm auch Werte
kleiner eins ergeben. In diesen Fällen gilt n bm = 1.
3
nst · nvm = 1
2
bruchmechanische Stützzahl nbm
nst · nvm = 2
1,6
1,4
1,2
1,1
1,06
1,04
1,02
1,01
1 10 100
bezogener Spannungsgradient Gσ in mm-1
Für Werkstoffe, die von den klassischen Konzepten noch nicht abgebildet werden, ist insbe-
sondere die TCD in Abschnitt 8.4.4 interessant. Hier müssen mit der Werkstoffdauerfestigkeit
und dem Grenzwert für den zyklischen Rissfortschritt lediglich zwei Werkstoffparameter be-
stimmt werden. Die Stützzahl kann damit für beliebige Bauteilformen berechnet werden. Für
die Ableitung einer empirischen, z. B. auf dem bezogenen Spannungsgradienten basierenden
Gleichung, sind hingegen viel mehr Einzelversuche notwendig. Dies ist aufwändiger und
teurer.
Für alle anderen Spannungsverhältnisse muss die Bauteildauerfestigkeit über die Mittelspan-
nungsempfindlichkeit M σ (Tabelle 2.1, Abschnitt 2.3.2.3) berechnet werden. Die erforderli-
chen Gleichungen zur Berechnung sind in Tabelle 2.2 angegeben. Im Haigh-Diagramm ist
die Dauerfestigkeit als Grenzlinie über der Mittelspannung aufgetragen (Abschnitt 2.3.2.4).
Für eine gegebene Beanspruchung mit der Amplitude σa,B und der Mittelspannung σm,B in
Abbildung 8.12 stellt sich nun die Frage, wo auf der Grenzlinie die Bauteildauerfestigkeit σDK
liegt, mit der die Sicherheit gegen Versagen berechnet werden muss. Dafür gibt es prinzipiell
4 verschiedene Möglichkeiten. Diese werden als Überlastungsfälle F1 bis F4 bezeichnet. Mit
Überlastungsfall ist kein Havariefall oder eine bestimmte Sonderlast gemeint. Er beschreibt,
in welchem Verhältnis sich Ober-, Mittel-, Unterspannung und Spannungsamplitude bei Last-
steigerung ändern und gibt damit an, in welcher Richtung im Haigh-Diagramm die Sicherheit
berechnet wird. Von praktischer Relevanz sind vor allem zwei Fälle:
• Überlastungsfall F1: Die Mittelspannung bleibt konstant und nur die Spannungsam-
plitude steigt. Das ist z. B. der Fall für eine Fahrzeugachse, bei der die Mittelspannung
aus der physikalisch nicht überschreitbaren Gewichtskraft resultiert oder bei Auslegung
einer Pressverbindung mit maximaler Pressüberdeckung und überlagerter Biegung.
• Überlastungsfall F2: Das Spannungsverhältnis R bleibt konstant. Die Spannungsampli-
tude und die Mittelspannung ändern sich proportional. Dies ist der in der Praxis häufig
auftretende Fall und gilt z. B. für Spannungen, die durch einen schwingenden Prozess
hervorgerufen werden.
Diese sind in Abbildung 8.12 gezeigt. Bei Überlastungsfall F1 mit konstanter Mittelspannung
ergibt sich die Bauteildauerfestigkeit σDK,1 aus dem Schnittpunkt einer vertikalen Linie durch
200 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
σa
σDK,1
Dauerfestigkeit σDK (σm)
σDK,2
F1
σa,B F2
σm,B σm
Abb. 8.12: Ermittlung der Bauteildauerfestigkeit für die Überlastungsfälle F1 und F2 im Haigh-
Diagramm (nach FKM-Richtlinie)
den Punkt der Beanspruchung mit der Grenzlinie. Die Bauteildauerfestigkeit σDK,2 für den
Überlastungsfall F2 wird durch eine Linie definiert, die vom Koordinatenursprung durch den
Punkt der Belastung geht.
Darüber hinaus gilt der Überlastungsfall F3 für eine konstante Unterspannung sowie der
Überlastungsfall F4 für eine konstante Oberspannung. Die Linien für die Fälle F3 und F4
verlaufen jeweils im Winkel von 45 ° durch den Punkt der Beanspruchung zur Grenzlinie hin.
In Abbildung 8.13 sind alle 4 Fälle gezeigt. Es ist zu erkennen, dass die Bauteildauerfestigkeit
bei F2 am kleinsten ist und somit F2 auf die konservativsten Ergebnisse führt4 . Wenn der rich-
tige Überlastungsfall nicht entschieden werden kann, sollte der F2 zur Anwendung kommen.
Die Unterschiede zwischen den Überlastungsfällen sind vor allem bei großer Mittelspan-
nungsempfindlichkeit relevant. Außerdem steigen die Unterschiede mit größer werdendem
Sicherheitsfaktor an.
4
Das gilt für positive Mittelspannungen. Bei Druckmittelspannungen führt F3 zur geringsten Sicherheit.
8.5 Mittelspannungsbewertung und Überlastungsfälle 201
σa
F4
F1
F3
F2
45° 45°
σm
Überlastungsfälle F1 bis F4. Mit der aktuell 7. Auflage ist sie auf die beiden wichtigen Fälle F1
und F2 beschränkt. Mit den 4 Bereichen des Haigh-Diagramms (Abbildung 8.14) ergeben sich
somit 8 Gleichungen zur Berechnung des Mittelspannungsfaktors. Die Berechnung ist in der
Richtlinie beschrieben.
Für Schubspannungen gibt es keine Unterscheidung zwischen Zug- und Druckbeanspru-
chung. Positive wie negative Schubmittelspannungen setzen die Dauerfestigkeit gleicher-
maßen herab. Daher ist das Haigh-Diagramm für Schubspannungen symmetrisch, wie in
Abbildung 8.15 gezeigt.
σAK
R = -1
Bauteildauer-
festigkeit σAK σWK
2 3
1 4
R=1
σm
Abb. 8.14: Bereiche des Haigh-Diagramms zur Berechnung der Bauteildauerfestigkeit für Normalspan-
nungen
202 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
τa
R = -1
τWK tan(α) = Mτ
tan(α) = Mτ/3
R=1 R=1
τm
Schwingbreite Δσ (log.)
k=3
FAT
k* = 22
Last]\NOHQ N (log.)
Abb. 8.16: Wöhlerlinie für geschweißte Bauteile unter Normalspannungen, Definition der FAT-Klasse
1,7
I: geringe Eigenspannungen
1,6
II: mäßige Eigenspannungen
1,5
Bonusfaktor f(R)
Abb. 8.17: Bonusfaktor zur Berücksichtigung von Eigen- und Mittelspannungen auf die FAT-Klasse
Blechdickeneinfluss
Die FAT-Klassen gelten für Grobbleche mit einer Blechdicke von t ≥ 25 mm. Bei dickeren
Blechen muss die Schwingfestigkeit durch einen Abminderungsfaktor f (t ) auf die FAT-Klasse
nach unten korrigiert werden [231]
25 mm n
f (t ) = ( ) . (8.55)
t
Der Exponent n ist in Tabelle 8.3 angegeben. Für den Nachweis mit dem Kerbspannungskon-
zept für Schweißnähte wird der Blechdickeneinfluss nicht berücksichtigt.
8.6 Geschweißte Bauteile und IIW-Empfehlungen 205
Nahtnachbehandlung
Die IIW-Empfehlungen enthalten weiterhin Bonusfaktoren, um die Schwingfestigkeitsstei-
gerung durch Nahtnachbehandlungsmethoden zu berücksichtigen. Dazu zählen Schleifen
der Schweißstelle, WIG-Nachbehandlung und Kugelstrahlen. Darauf wird hier nicht näher
eingegangen und auf [97] verwiesen. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass durch einige Nach-
behandlungsverfahren, z. B. Kugelstrahlen, die Festigkeit des Grundwerkstoffs einen Einfluss
auf die Festigkeit der Schweißverbindung bekommt [304].
8.6.2 Nennspannungskonzept
σn σn 90 MPa 36 MPa
σn σn 36 MPa 12 MPa
σn σn
71 MPa 22 MPa
Abb. 8.18: Beispiele für Kerbfallklassen mit Angabe der Schwingbreite des FAT-Wertes nach IIW/FKM-
Richtlinie
Spannungsschwingbreite Δσ in MPa
400
200
70 FAT 125
FAT 112
FAT 100
FAT 90
40 FAT 80
FAT 71
FAT 63
FAT 56
FAT 50
FAT 45
20 FAT 40
FAT 36
8.6.3 Strukturspannungskonzept
An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der Nachweis mit Strukturspan-
nungen konzeptbedingt nur für den Anrissort Nahtübergang möglich ist, nicht aber, wenn
das Versagen von der Nahtwurzel ausgeht. Für den Nachweis von Schubspannungen werden
im Strukturspannungskonzept dieselben in Tabelle 8.4 angegebenen FAT-Klassen wie im
Nennspannungskonzept verwendet. Auch Exponent und Abknickpunkt der Wöhlerlinien sind
bei Schubspannungen identisch.
8.6.4 Kerbspannungskonzept
erfolgt auch hier eine Begrenzung der Schwingfestigkeit mit der Wöhlerlinie des Grundwerk-
stoffs. Die zugehörige FAT-Klasse entspricht FAT 160, erhöht um einen Kerbfaktor K W . Dieser
entspricht dem Verhältnis aus maximaler Hauptspannung in der mit r ref = 1 mm modellierten
Nahtkerbe und der Spannung im Auslauf der Kerbe [270]. Mindestens jedoch ist mit einem
Wert von K W = 1,6 und damit FAT 256 zu rechnen [270]. Für Stahl ist die Kerbspannungswöh-
lerlinie in Abbildung 8.20 gezeigt.
Tab. 8.6: FAT-Werte in MPa für Kerbspannungen nach DVS Merkblatt 0905 [221]
r ref in mm Nachweisposition∗ FAT (Stahl) FAT (Aluminium)
Normalspannungen
1 NÜ und NW 225 71
0,05 NÜ 500 160
0,05 NW 630 200
Schubspannungen
1 NÜ und NW 160 63
0,05 NÜ 240 90
0,05 NW 320 120
∗
NÜ: Nahtübergang, NW: Nahtwurzel
1000
Spannungsschwingbreite Δσ in MPa
800
600
500
400
FAT 225
200
FAT 160 KW ≥ 1,6
100
1E+04 1E+05 1E+06 1E+07 1E+08 1E+09
Lastzyklen N
Abb. 8.20: Bemessungswöhlerlinie für Stahl nach dem Kerbspannungskonzept (ohne Dauerfestigkeit)
mit Begrenzung durch den Grundwerkstoff, nach [270]
8.6 Geschweißte Bauteile und IIW-Empfehlungen 209
WL-Exponent k
FAT/2 k=0
σAK
2·106 ND
Lastzyklen N (log.)
Abb. 8.21: Wöhlerlinie für geschweißte Bauteile nach FKM-Richtlinie, ohne Mittelspannungseinfluss
(hohe Schweißeigenspannungen)
210 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Die für K AK benötigte Mittelspannungsempfindlichkeit hängt von der Höhe der Schweißeigen-
spannungen ab. Im Grenzfall sehr hoher Eigenspannungen ist M σ = 0 und Druckmittelspan-
nungen erhöhen die Bauteildauerfestigkeit nicht. Das wird in Abbildung 8.22 verdeutlicht.
8.7 Behandlung nichtproportionaler mehrachsiger Beanspruchungen 211
R = -1
σWK·KEσ Mσ
1
Mσ/3
1
σWK
σAK für hohe
Eigenspannungen
σm
Wird ein Bauteil durch verschiedene Belastungen beansprucht, wie z. B. Biegung und Tor-
sion und ändern sich diese Belastungen nicht proportional zueinander, dann entsteht im
Bauteil ein zeitlich nichtproportionaler Spannungszustand. Weil dabei das Verhältnis der
Spannungskomponenten zueinander nicht konstant bleibt, ändern sich mit der Belastung
auch die Hauptspannungsrichtungen und damit die Richtungen in denen Ermüdungsrisse
entstehen und wachsen können.
Es existieren zahlreiche Ansätze und Hypothesen, um den Einfluss mehrachsiger Beanspru-
chungen auf die Dauer- und Schwingfestigkeit abzuschätzen. Damit beschäftigt sich das
Forschungsgebiet multiaxial fatigue. Einen Überblick über die vorhandenen Festigkeitshypo-
thesen ist z. B. in [71, 234, 166, 216, 290, 148] enthalten. Eine umfangreiche Zusammenstellung
von Veröffentlichungen dazu ist auch in [54] zu finden.
Beim Nachweis der Dauerfestigkeit sind die aus der Belastung resultierenden plastischen
Dehnungen meist sehr gering. In diesem Fall können spannungsbasierte Hypothesen ange-
wandt werden. Viele davon beziehen sich auf Sonderfälle, wie z. B. nur phasenverschobene
Spannungs-Zeit-Verläufe und können nicht auf andere Fälle übertragen werden. Es existie-
ren aber auch allgemeine Ansätze für beliebig nichtproportionale Beanspruchungsverläufe.
Diese können grundsätzlich in zwei Arten unterschieden werden: Festigkeitshypothesen der
kritischen Schnittebene und der integralen Anstrengung.
212 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Die Methode wurde ursprünglich für spröde Werkstoffe entwickelt [155, 187, 287, 259]. Die
Grundidee, dass das Versagen von mehrachsig beanspruchten Bauteilen in verschiedenen
Schnittebenen zu untersuchen ist, geht auf Findley [141] zurück. Dabei werden die Span-
nungskomponenten am Nachweispunkt des Bauteils in Schnitten verschiedener Orientierung
ausgewertet. Für jede Schnittebene ergeben sich unterschiedliche Werte der Amplituden und
Mittelwerte der Schnittspannungen. Die Schnittebene mit der ungünstigsten Kombination
aus Amplituden und Mittelwerten wird als entscheidend für die Schädigung und damit für
den Festigkeitsnachweis angesehen. Bei spröden Werkstoffen werden in den Schnittebenen
ausschließlich die Normalspannungen ausgewertet. Abhängig vom Werkstoffverhalten exis-
tieren aber Ansätze, bei denen Schubspannungen oder eine Kombination aus Normal- und
Schubspannung ausgewertet werden.
Im typischen Fall von Nachweispunkten an der unbelasteten Bauteiloberfläche liegt ein
ebener Spannungszustand vor. Die Schnittebenen liegen dann alle normal zur Oberfläche
und unterscheiden sich um einen Winkel ϕ, siehe Abbildung 8.23. In jeder Schnittebene ergibt
beim ebenen Spannungszustand entsprechend Abbildung 6.6 genau eine Normalspannung
σv v (ϕ) und eine Schubspannung τuv (ϕ). Diese werden mit den Gleichungen (6.19) und
(6.20) berechnet.
Der Berechnungsablauf wird anhand eines Beispiels in Abbildung 8.24 verdeutlicht. Die Bean-
spruchung erfolgt durch eine Normalspannungs- und eine Schubspannungskomponente.
Weiterhin wird sprödes Materialverhalten unterstellt, weshalb nur die Normalspannungen
in den Schnittebenen ausgewertet werden. Für jeden Schnittwinkel wird der Spannungs-
ϕ
Orientierung der
Schnittebene
n
Nachweispunkt
τuv(ϕ)
σvv(ϕ)
Beanspruchungs-Zeit-Verlauf
σ, τ
σa
τa
σ(t)
σm τm τ(t)
Spannungsberechnung in Schnittebenen
Mittelwert σm(ϕ)
Amplitude σa(ϕ)
Schnittwinkel ϕ Schnittwinkel ϕ
σa(ϕ)
maximale Auslastung
Beanspruchung
σm(ϕ)
Abb. 8.24: Prinzip der Methode der kritischen Schnittebene am Beispiel ausgewerteter Normalspan-
nungen
214 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Zeit-Verlauf σv v (t ) berechnet. Daraus können dann die Amplituden und Mittelwerte der
Normalspannung in jeder Schnittebene ermittelt werden:
max(σv v (t )) − min(σv v (t ))
σa (ϕ) = (8.59)
2
max(σv v (t )) + min(σv v (t ))
σm (ϕ) = . (8.60)
2
Zur Bewertung der Dauerfestigkeit werden anschließend die Punkte (σa ; σm ) aller Schnitt-
ebenen ins Haigh-Diagramm eingetragen. Die Auslastung bzw. die Sicherheit kann dann, wie
in Abschnitt 8.5 beschrieben, direkt ermittelt werden. In der Abbildung ist der Schnittwinkel
mit der maximalen Auslastung nach Überlastungsfall F2 angegeben.
Die Schnittebenen werden üblicherweise in 5°-Schritten variiert, womit die Extremwerte
zur Berechnung von Spannungsamplitude und Mittelspannung ausreichend genau erfasst
werden.
In Fällen, in denen das Versagen nicht von der Oberfläche ausgeht, wie z. B. bei randschicht-
gehärteten Bauteilen oder bei Hertzschem Kontakt, müssen die Spannungskomponenten in
allen verschiedenen räumlichen Schnittebenen eines Volumenelements ermittelt werden.
Dies bedeutet noch einmal einen deutlich höheren Berechnungsaufwand.
Bei duktilem Werkstoffverhalten wäre die analoge Auswertung von Schubspannungen in
verschiedenen Schnittebenen möglich. Dies kann allerdings bei Beanspruchungen mit hohen
Normalspannungen auf nicht konservative Ergebnisse führen und wird nicht empfohlen
[166].
f = 1 + (1 − k ) ⋅ V. (8.61)
Beispiel
Eine Maschinenkomponente aus duktilem Stahl wird rein wechselnd durch ein Biege-
moment mit der Kreisfrequenz ω belastet. Dem überlagert wirkt ein Torsionsmoment
mit halber Frequenz und dem Spannungsverhältnis R = 0,2. An der nachzuweisenden
Stelle resultiert daraus folgender Spannungs-Zeit-Verlauf:
Spannungs-Zeit-Verlauf
300
200
Spannung in MPa
100
σ(t)
0 τ(t)
-100
-200
Zeit t
Lösung
Die Beanspruchungspunkte aus Amplitude und Mittelwert werden für die verschie-
denen Schnittebenen im Haigh-Diagramm dargestellt. Die grauen Markierungen
zeigen die Ergebnisse in den um jeweils 5° gedrehten Schnittebenen. Zum Vergleich
ist auch die Auswertung in nicht-skalierten Normalspannungen mit weißen Markie-
rungen angegeben, welche für spröde Werkstoffe verwendet werden.
Auswertung im Haigh-Diagramm
500
Dauerfestigkeit
skal. Normalspannung
Spannungsamplitude σa in MPa
400
Normalspannungen
300
200
100
0
-400 -200 0 200 400
Mittelspannung σm in MPa
Je nach zutreffendem Überlastungsfall kann nun die Sicherheit für die Dauerfes-
tigkeit, wie in Abschnitt 8.5 beschrieben, ermittelt werden. Beim Nachvollziehen
dieses Beispiels in FEMFAT kann es zu leichten Abweichungen kommen, da dort eine
Mittelspannungskorrektur mit der Neuber-Regel durchgeführt wird.
◻
8.7.2 Schubspannungsintensitätshypothese
Es lässt sich zeigen, dass τ̄ mit der Vergleichsspannung GEH nach v. Mises identisch ist [308].7
7
Diese Interpretation des von Mises-Kriteriums geht auf Novoshilov 1952/1961 zurück [48].
8.7 Behandlung nichtproportionaler mehrachsiger Beanspruchungen 217
τγϕ
x
ϕ
Abb. 8.25: Schubspannungen in einer Schnittebene, definiert durch Normale n⃗ auf Kugelfläche
Diese Beziehung wurde von Simbürger, Zenner und Liu zur Schubspannungsintensitätshypo-
these weiterentwickelt [201, 256, 306, 307]. Damit kann ein variables Wechselspannungsver-
hältnis σW /τW und auch der Mittelspannungseinfluss für Normal- und Schubspannungen
separat berücksichtigt werden. Zunächst wird eine mittelspannungsfreie Vergleichsspannung
gebildet:
π 2π
15
σva =
8π ∫ ∫ [a ⋅ τγϕa (1 + m ⋅ τγϕm ) + b ⋅ σγϕa (1 + n ⋅ σγϕm )] sin(γ) dγ dϕ.
⋅ 2 2 2 (8.66)
γ=0 ϕ=0
1 σW 2
a = (3 ( ) − 4) (8.67)
5 τW
1 σW 2
b = (6 − 2 ( ) ) (8.68)
5 τW
218 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
σW 2 τsch 2
σ2W − ( ) ⋅( )
τW 2
m = (8.69)
4 τsch 2
( )
7 2
σsch 2 4m σsch 2
σ2W − ( ) − ( )
n = 2 21 2 . (8.70)
5 σsch
( )
7 2
Die Schwellfestigkeiten σsch und τsch entsprechen den Dauerfestigkeiten bei R = 0. Es ist zu
beachten, dass hier nicht die Amplituden gemeint sind, sondern die Schwingbreiten. Die
Sicherheit des Dauerfestigkeitsnachweises folgt aus dem Vergleich mit der Wechselfestigkeit
σW
j= . (8.71)
σva
Abschließende Bemerkungen
Allgemein ist die Bewertung nichtproportionaler mehrachsiger Schwingbeanspruchung nicht
abschließend geklärt und noch Gegenstand der aktuellen Forschung. Das zeigt sich auch
in der großen Anzahl verschiedener Berechnungsverfahren dazu, siehe z. B. [216, 234, 290].
Deshalb sei an dieser Stelle vor allem auf den experimentellen Lebensdauernachweis (vgl.
Abschnitt 10.3) verwiesen.
Wenn eine der örtlich wirkenden Spannungskomponenten kleiner als 10 % der anderen
ist, kann sie vernachlässigt werden. Der Fehler bewegt sich im Rahmen der Streuung von
Schwingfestigkeitsversuchen.
8.8 Sicherheitsfaktoren
Der Verwendung zutreffender Sicherheitsfaktoren kommt bei zyklischer Belastung eine noch
entscheidendere Rolle zu als beim statischen Festigkeitsnachweis. Ein Grund dafür ist die
höhere Streuung der Schwingfestigkeit. Außerdem streut häufig auch die Belastung stark
bzw. ist gar nicht so genau bekannt. In Abschnitt 4.7 ist gezeigt, wie bei bekannter Streuung
8.8 Sicherheitsfaktoren 219
von Festigkeit und Belastung für eine geforderte Überlebenswahrscheinlichkeit eine statis-
tisch begründete Sicherheitszahl abgeleitet werden kann. Anhaltswerte für die Streuung von
Schwingfestigkeitskennwerten sind in Anhang 13 angegeben.
Da die Streuung in vielen Fällen nicht genau bekannt ist, müssen erfahrungsbasierte empiri-
sche Sicherheitsfaktoren verwendet werden. In vielen Konstruktionsbüchern sowie Normen
und Regelwerken sind die Werkstofffestigkeiten aus verschiedenen Standards übernommen,
so z. B. aus der DIN EN 10025 für Baustähle oder der DIN EN 10083 für Vergütungsstäh-
le. Auch die FKM-Richtlinie verwendet diese Werte. Es ist wichtig zu beachten, dass die
geforderten Sicherheitsfaktoren in einem Regelwerk unbedingt zu den dort angegebenen
Werkstoffkennwerten gehören. Wenn Daten aus anderen Quellen mit anderen Überlebens-
wahrscheinlichkeiten verwendet werden, müssen diese erst auf die zu den Sicherheitsfaktoren
gehörenden Überlebenswahrscheinlichkeit, wie in Abschnitt 4.3 beschrieben, umgerechnet
werden. Das gilt insbesondere für Festigkeitskennwerte, die selbst experimentell ermittelt
wurden.
Dabei muss im Übrigen auch beachtet werden, dass genormte Festigkeiten zu Proben mit
einem bestimmten Durchmesser, z. B. d = 16 mm gehören. Liegen Werte von anderen Proben-
durchmessern vor, muss dies über den Größeneinfluss (Abschnitt 3.2) zusätzlich berücksich-
tigt werden.
Darüber hinaus müssen auch betriebswirtschaftliche Aspekte beachtet werden. So sind für
Serienbauteile mit großer Stückzahl geringere Ausfallwahrscheinlichkeiten und damit höhere
Sicherheiten erforderlich als bei Einzelanfertigungen im Sondermaschinenbau.
In der FKM-Richtlinie wird entsprechend dem Konzept der Teilsicherheiten ein Gesamtsicher-
heitsfaktor j D gebildet, der sich aus dem Lastsicherheitsfaktor j S , welcher die Streuung der
Belastung abdeckt, dem Materialsicherheitsfaktor j F für die Streuung der Schwingfestigkeit
und dem Temperaturfaktor K T,D nach Tabelle 3.6 (Seite 62) zusammensetzt:
jF
jD = jS ⋅ (8.72)
K T,D
Bei sicheren Lastannahmen ist für den Lastsicherheitsfaktor j S = 1 zu wählen. Ansonsten kann
bei bekannter Streuung der Belastung der Lastsicherheitsfaktor analog zu Gleichung (4.58)
mit dem Quantil der geforderten Wahrscheinlichkeit und der logarithmischen Standardab-
weichung der Belastungsstreuung berechnet werden. Der Materialsicherheitsfaktor hängt
pauschal von Schadensfolgen bei Bauteilversagen sowie der Regelmäßigkeit von Inspektionen
des Bauteils ab, Tabellen 8.7 und 8.8. Die Unterscheidung erfolgt in
• hohe Schadensfolgen: Verlust menschlichen Lebens,
• mittleren Schadensfolgen: Verlust der ganzen Konstruktion und
220 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Verständnisfragen
1. Wann muss ein durch ein Amplitudenkollektiv belastetes Bauteil dauerfest ausgelegt
werden?
2. Wodurch unterscheiden sich proportionale von nichtproportionalen Beanspruchun-
gen?
3. Was sind die wichtigsten Einflussgrößen, die bei der Abschätzung der Bauteildauerfes-
tigkeit aus der Werkstoffdauerfestigkeit zu berücksichtigen sind?
4. Was unterscheidet den Sicherheitsfaktor bzw. die Sicherheitszahl vom Auslastungsgrad
bei einer Festigkeitsberechnung? Für welche Größe ist der Wert 1 ausreichend?
5. Für welches Bauteil ist bei gleicher Spannungsamplitude und R = −1 die Lebensdauer
kürzer: Eine stillstehende Achse unter Wechselbiegung oder eine Welle unter Umlauf-
biegung?
6. Ein gekerbtes Bauteil wird bei identischer Form (Abmessungen bleiben im gleichen
Verhältnis zueinander) auf die doppelte Größe skaliert. Die Belastung bleibt unverän-
dert. Wie verändern sich qualitativ a) Formzahl, b) bezogener Spannungsgradient, c)
höchstbeanspruchtes Volumen?
7. Welcher Einfluss auf die Dauerfestigkeit wird mit dem verformungsmechanischen
Anteil der werkstoffmechanischen Stützzahl in der FKM-Richtlinie erfasst?
8. Wozu wird zur Berechnung der Sicherheit bzw. der Auslastung in verschiedene Überlas-
tungsfälle unterschieden?
9. Was bedeuten die Überlastungsfälle F1 und F2 im Haigh-Diagramm?
10. Eine Welle wird auf Torsion mit der Amplitude τa beansprucht. Wie unterscheidet sich
die Dauerfestigkeit, wenn eine Mittelspannung τm positiv oder negativ mit gleichem
Betrag überlagert ist?
11. Welchen Einfluss hat die Verwendung eines Baustahls mit höherer Festigkeit auf die
Schwingfestigkeit einer Schweißverbindung?
12. Wie kann der steile Anstieg der Wöhlerlinien geschweißter Bauteile erklärt werden?
13. Warum sind FAT-Klassen nicht für ein bestimmtes Spannungsverhältnis angegeben?
14. Warum gibt es kerbfallabhängige FAT-Klassen für Nennspannungen, nicht aber für
Struktur- und Kerbspannungen?
15. Wann können die aus der statischen Festigkeitsberechnung bekannten Vergleichsspan-
nungshypothesen bei zyklischer Beanspruchung nicht mehr angewendet werden?
222 8 Rechnerischer Dauerfestigkeitsnachweis
Aufgaben
1. Für eine Antriebswelle soll die Dauerfestigkeit nach FKM-Richtlinie nachgewiesen wer-
den. Die Belastung erfolgt durch ein Biegemoment mit der Amplitude M b,a = 125 Nm,
bei einem Spannungsverhältnis R = −0,3.
Die Berechnung mittels FEM ergab für die Belastung mit M b,a = 125 Nm eine maxi-
male Kerbspannung von σmax = 205,3 MPa. Die Kerbspannung nimmt weiterhin über
dem ersten Element (Elementdicke e = 0,11 mm) auf σ = 185,2 MPa ab (senkrecht in
die Bauteiloberfläche hinein betrachtet). An der Nachweisstelle im Kerbgrund liegt
näherungsweise ein einachsiger Spannungszustand vor.
Die Welle wurde aus einem bereits vergüteten Halbzeug mit Vollkreisquerschnitt und
dem Durchmesser D = 40 mm gefertigt und besteht aus Vergütungsstahl 28Mn6 im
vergüteten Zustand mit der Werkstoffnormzugfestigkeit R m,N = 800 MPa. Die mittlere
Oberflächenrauigkeit im Kerbbereich beträgt R z = 6,3 μm.
a) Berechnen Sie die Bauteil-Zugfestigkeit unter Berücksichtigung des technologi-
schen Größeneinflusses: R m = K d,m ⋅ R m,N .
Hinweis: Ermitteln Sie den technologischen Größenfaktor K d,m anhand von Ab-
bildung 3.4 oder aus Gleichung (3.3) mit den Parametern d eff,N,m = 16 mm und
a d,m = 0,3. Der effektive Durchmesser d eff entspricht nach FKM-Richtlinie für
diesen Werkstoff und diese Querschnittsform dem Halbzeugdurchmesser D.
b) Berechnen Sie die Werkstoff-Wechselfestigkeit σW .
c) Konstruktionsfaktor (Abschnitt 3.10)
c1) Berechnen Sie die Stützzahl mit dem Spannungsgradientenansatz der FKM-
Richtlinie (Abschnitt 8.4.1).
c2) Berechnen Sie den Rauheitsfaktor K R,σ zur Berücksichtigung der Oberflächen-
rauigkeit (Abschnitt 3.4).
c3) Ermitteln Sie den Konstruktionsfaktor K WK,σ (Abschnitt 3.10).
Hinweis: Als Schätzwert für die Kerbwirkungszahl kann K̃ f = 2 verwendet
werden.
d) Berechnen Sie die Bauteilwechselfestigkeit σWK .
e) Berechnen Sie die Bauteildauerfestigkeit (Überlastungsfall F2) für das gegebene
Spannungsverhältnis.
Hinweis: Zur Berechnung nach Gleichung (8.53) muss der Mittelspannungsfaktor
K AK,σ nach Abschnitt 4.4.2.5 der FKM-Richtlinie (7. Auflage) berechnet werden.
Die Berechnung wird nicht in diesem Buch gezeigt. Für den Überlastungsfall F2
kann die Dauerfestigkeit allerdings direkt mit den in Tabelle 2.2 angegebenen
Formeln berechnet werden.
8.9 Verständnisfragen und Aufgaben zu Kapitel 8 223
f) Geben Sie den zutreffenden Sicherheitsfaktor an. Gehen Sie von niedrigen Scha-
densfolgen und sicheren Lastannahmen aus. Regelmäßige Inspektionen finden
nicht statt. Der Einfluss hoher Temperaturen muss nicht berücksichtigt werden.
g) Ermitteln Sie den zyklischen Auslastungsgrad für die gegebene Belastung.
2. Werten Sie die beiden nachfolgenden Beanspruchungsverläufe nach der Methode der
kritischen Schnittebene für Normalspannungen in 5°-Schritten aus und stellen Sie das
Ergebnis im σm -σa -Diagramm (Haigh-Diagramm) dar.
a) Wechselnde Schubsspannung τa = 100 MPa und überlagerte konstante Normal-
spannung σm = 200 MPa:
300
Spannnung in MPa
200
100
σ(t)
0
τ(t)
-100
-200
Zeit t
200
100
0 σ(t)
-100 τ(t)
-200
-300
Zeit t
9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
9.1 Bauteilwöhlerlinie
Das eigentliche Ziel der Betriebsfestigkeit ist die Lebensdauerabschätzung, also die Ermittlung
der Lebensdauer eines Bauteils unter der Beanspruchung mit veränderlichen Amplituden. Als
Grundlage dafür wird die Bauteilwöhlerlinie benötigt, welche die Lebensdauer eines Bauteils
unter zyklischer Beanspruchung mit konstanten Amplituden abhängig von der Beanspru-
chungsamplitude angibt. Zur Bewertung von veränderlichen Amplituden bedarf es zusätzlich
noch einer Hypothese zur Schadensakkumulation. In Abschnitt 6.1 sind die verschiedenen
Konzepte für den Betriebsfestigkeitsnachweis bereits aufgeführt. Diese unterscheiden sich
nur in der zu Grunde liegenden Wöhlerlinie. Prinzipiell ist die Nachweisführung bei allen
spannungsbasierten Konzepten gleich.
Der Nachweis mit experimentell ermittelten Wöhlerlinien wird als Nennspannungskonzept
bezeichnet, da diese Wöhlerlinien meist in Nennspannungen oder auch nur in Belastungs-
größen (z. B. Kräfte oder Momente) angegeben sind. Der Nachweis mit abgeschätzten (syn-
thetischen) Wöhlerlinien wird bei ungeschweißten Bauteilen als Kerbspannungskonzept
(auch Konzept der örtlichen Spannungen) bezeichnet. Bei geschweißten Bauteilen können
darüber hinaus Wöhlerlinien für Nennspannungen und Strukturspannungen abgeschätzt
werden, siehe Abschnitt 6.4. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und einer einheitlichen Be-
zeichnung werden die Spannungen auch in diesem Kapitel als Kerbspannungen σ angegeben.
Sie können in den Formeln zur Schadensakkumulation ohne Einschränkung auch durch
Nennspannungen oder Strukturspannungen ersetzt werden.
Da bei spannungsbasierten Konzepten lediglich elastizitätstheoretisch berechnete Beanspru-
chungen betrachtet werden, kann theoretisch zwischen den verschiedenen Spannungsgrößen
mittels eines Faktors beliebig umgerechnet werden. Art und Aufbau des Nachweises ändern
sich dabei nicht. Daraus resultiert aber auch die Anwendungsgrenze dieser Konzepte. Liegen
die Beanspruchungen im Bereich der Kurzzeitfestigkeit mit hohen plastischen Dehnungen,
muss der Nachweis über das elastisch-plastische Kerbdehnungskonzept erfolgen (siehe An-
hang 12). Entsprechend gilt die FKM-Richtlinie auch nur für Beanspruchungskollektive mit
N > 104 Lastzyklen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 225
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_9
226 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
20
Versuche
Wöhlerlinienexponent k
15 FKM-Richtlinie: k = 5
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Formzahl Kt
Abb. 9.1: Korrelation des Wöhlerlinienexponenten k mit der Formzahl für Stahlproben unter Normal-
spannungen, Versuchsdaten aus [181] (der Flächeninhalt der Kreise repräsentiert die Anzahl
der Einzelversuche hinter jedem Wert)
9.1 Bauteilwöhlerlinie 227
Zenner [204] leitet über den statistischen und spannungsmechanischen Größeneinfluss her,
dass der Wöhlerlinienexponent letztendlich von der Formzahl unabhängig ist und stattdessen
von der Kerbschärfe (dort: Kerbgrundgröße) abhängig sein muss1 . Er erklärt den anderweitig
oft bemühten Zusammenhang zur Formzahl mit den üblich verwendeten Proben, bei denen
mit steigender Formzahl auch die Kerbgrundgröße abnimmt.
Ein weiterer Grund für den mit zunehmender Kerbschärfe ansteigenden Wöhlerlinienex-
ponenten liegt im Rissfortschrittsverhalten begründet. Der Anteil der Gesamtlebensdauer,
der zur Anrissbildung führt, ist von der Kerbschärfe und damit vom Spannungsgradienten
abhängig [103]. Bei scharf gekerbten Bauteilen ist der Anteil des Risswachstums deutlich
länger (siehe Abbildung 3.8). Weitere Einflüsse auf die Neigung, wie z. B. durch das Span-
nungsverhältnis R, sind gering.
Inzwischen hat sich der pragmatische Vorschlag Haibachs [159] durchgesetzt, für gekerbte
Bauteile einen einheitlichen Exponenten zu verwenden. Dieser beträgt beispielsweise für
Bauteile aus Stahl unter Normalspannungen k = 5. Dieser Wert wurde auch in die FKM-
Richtlinie übernommen, siehe Tabelle 9.1 am Ende des Abschnitts.
Haibach [25] erklärt die unterschiedliche Neigung bei mild und scharf gekerbten Bauteilen
folgendermaßen. Wie bereits in Abbildung 2.9 (Seite 21) gezeigt, verlaufen Wöhlerlinien im
Gebiet der Kurzzeitfestigkeit flacher als in der Zeitfestigkeit. Den Übergang zwischen beiden
Bereichen markiert die Formdehngrenze. Beanspruchungen oberhalb dieser Grenze führen
zu plastischen Dehnungsanteilen im gesamten Bauteilquerschnitt, die Nenndehnung ist
nicht mehr rein elastisch. Im Zeitfestigkeitsbereich mit steilerem Anstieg treten plastische
Dehnungsanteile nur lokal begrenzt im Kerbgrund auf, wobei die Nenndehnung rein elastisch
bleibt. Bei schwach und ungekerbten Bauteilen unter axialer Belastung hingegen sind die
Dehnungen oberhalb der Dauerfestigkeit im gesamten Querschnitt stets auch plastisch. Hai-
bach [25] schlussfolgert daraus für den flachen Verlauf der Wöhlerlinien ungekerbter Bauteile,
dass dort der Zeitfestigkeitsbereich eigentlich dem Kurzzeitfestigkeitsbereich zuzuordnen ist.
Die Lastzyklenzahl ND des Abknickpunkts der Wöhlerlinie liegt bei scharf gekerbten, nichtge-
schweißten Bauteilen prinzipiell weiter vorn als bei schwach gekerbten. Nach Hück [181] und
Wirthgen [299] korreliert sie mit dem Wöhlerlinienexponenten. Dennoch wurde bereits in
der TGL [88] pauschal ein konstanter Wert von ND = 2 ⋅ 106 festgelegt. In der FKM-Richtlinie
wurde der Vorschlag von Haibach [24] einer von der Bauteilform unabhängigen Knickpunkt-
lastzyklenzahl übernommen. Sie beträgt für nichtgeschweißte Bauteile ND = 1 ⋅ 106 .
1
Darauf, dass eine große Formzahl nicht zwangsläufig eine scharfe Kerbe bedeutet, wurde bereits in Abschnitt
3.3 hingewiesen
228 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Als Grundlage für die Bauteilwöhlerlinie dient in der FKM-Richtlinie die Bauteildauerfestigkeit
σAK . Abhängig von Werkstoff und Beanspruchungsart werden die Parameter k und ND nach
Tabelle 9.1 bestimmt, womit eine Bauteilwöhlerlinie entsprechend Abbildung 9.2 voll definiert
ist. Dabei wird noch zwischen den Wöhlerlinientypen I und II unterschieden.
Typ II gilt für Bauteile aus Aluminiumlegierungen und austenitischem Stahl. Im Unterschied
zur Definition des Wöhlerlinientyps II in Abschnitt 2.3.1 existiert hier ein weiterer Abknick-
punkt ND,II . Dieser markiert den Übergang in die Dauerfestigkeit, welche in der Richtlinie
formal auch bei Wöhlerlinientyp II definiert ist. Eine über die FKM-Richtlinie hinaus gehende
Erklärung für das Auftreten des Wöhlerlinientyps II wird bei der Erläuterung von Abbildung
2.11 gegeben.
Für Bauteile aus hochfesten Stahl- und Eisengusswerkstoffen mit R m > 1000 MPa kann bei
einstufiger Beanspruchung (konstante Amplituden) abweichend vom Wöhlerlinientyp I nach
dem Abknickpunkt mit einem weiteren Abfall der Schwingfestigkeit um 5 % pro Dekade
gerechnet werden. Das entspricht für N > ND einem Wöhlerlinienexponenten von k I I = 45.
Spannungsamplitude σa (log.)
WL-Typ I
σAK
kII WL-Typ II
≈104 ND ND,II
Lastzyklen N (log.)
Die Wöhlerlinie gibt die Anzahl der Lastzyklen Ni an, bei der ein mit der konstanten Span-
nungsamplitude σa,i beanspruchtes Bauteil versagt. Bei der Beanspruchung durch ein Kollek-
tiv mit unterschiedlichen Spannungsamplituden muss die Schädigung der Lastzyklen jeder
Kollektivstufe zur Gesamtschädigung des Kollektivs zusammengefasst werden. Die älteste
und trotz ihrer Mängel praktisch immer noch bedeutsamste Methode ist die Hypothese der
linearen Schadensakkumulation. Sie wurde unabhängig voneinander durch Palmgren 1924
[233], Langer 1937 [196], Serensen 1940 [252] und Miner 1945 [226] veröffentlicht. Seit der
Veröffentlichung durch Miner wird die lineare Schadensakkumulation Miner-Regel genannt,
manchmal auch Palmgren-Miner-Regel.
Das Prinzip der linearen Schadensakkumulation wurde bereits in Abschnitt 2.4 erläutert
und soll hier wieder aufgegriffen werden. Als Eingangsgröße wird beanspruchungsseitig ein
Spannungskollektiv benötigt, welches die auf das Bauteil einwirkenden Spannungsamplitu-
den mit ihrer Häufigkeit beinhaltet. Die Beanspruchbarkeit ist durch die Bauteilwöhlerlinie
230 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
einschließlich der Dauerfestigkeit gegeben. Als Voraussetzung gilt weiterhin, dass Spannungs-
kollektiv und Bauteilwöhlerlinie das gleiche Spannungsverhältnis R, meist R = −1, haben
oder für die gleiche Mittelspannung gelten. Üblich ist die Bildung eines Ersatzspannungs-
amplitudenkollektivs (siehe Abschnitt 5.3.1) auf das Spannungsverhältnis der vorliegenden
Wöhlerlinie.
Wie in Abbildung 2.19 verdeutlicht, entspricht die Teilschädigung einer Kollektivstufe mit der
Spannungsamplitude σa,i dem Verhältnis von aufgebrachten Lastzyklen n i zu den nach der
Wöhlerlinie ertragbaren Lastzyklen Ni :
ni
Di = (9.1)
Ni
mit
σa,i −k
Ni = ND ( ) (für σa,i ≥ σDK ). (9.2)
σDK
Die Gesamtschädigung des Kollektivs folgt dann nach Gleichung (2.20) als Summe der Teil-
schädigungen jeder Kollektivstufe D i :
ni
D Koll = ∑ D i = ∑
i i Ni
Der Ausfall des Bauteils erfolgt theoretisch, wenn D = 1 erreicht ist2 . Dabei gilt das Ausfallkri-
terium der Wöhlerlinie. Bei spannungsbasierten Konzepten ist das üblicherweise der Bruch
des Bauteils, kann aber z. B. auch der Anriss sein.
Die Gesamtlebensdauer Nert , also die Anzahl der ertragbaren Lastzyklen bis zum Ausfall des
Bauteils, folgt aus dem Verhältnis der Lastzyklen aller Kollektivstufen und der Schädigung
eines Kollektivdurchlaufs:
∑ ni ∑ ni
i i
Nertr = = n . (9.3)
D Koll ∑ Nii
i
Bei der originalen Miner-Regel (OM) gilt die Einschränkung, dass nur die Spannungsam-
plituden oberhalb der Dauerfestigkeit des Bauteils schädigen. Trotz dessen wird sie auch
für Kollektive mit Stufen unterhalb der Dauerfestigkeit angewandt. Dem liegt die (falsche)
Annahme zu Grunde, dass bei mehrstufiger Beanspruchung die Kollektivstufen unterhalb der
Dauerfestigkeit nicht zur Schädigung des Bauteils beitragen. Die Schädigung eines Kollektiv-
durchlaufs nach Miner-Original ist damit unter Anwendung der in Abbildung 9.3 definierten
Indexbezeichnungen:
j
ni
D OM = ∑ . (9.4)
N
i =1 i
2
Davon kann es starke Abweichungen geben. Das wird in Abschnitt 9.4 gezeigt.
9.2 Schadensakkumulation und Lebensdauerlinie 231
σa (log.)
Beanspruchungs- Wöhlerlinie Lebensdauerlinie
kollektiv
σa,1 1
σa,i
j
σD m Dauerfestigkeit
Zählindex i
Zählindex ɋ
l
Das Versagen tritt bei D = 1 ein. Die Lebensdauer entspricht dann 1/D Kollektivwiederholun-
gen:
l
l ∑ ni
1 i =1
NOM = ⋅ ∑ ni = j (9.5)
D OM i =1 ni
∑ Ni
i =1
Tab. 9.2: Berechnungsbeispiel zu Miner-Original, Wöhlerlinie mit σDK = 100 MPa, ND = 106 und k = 5
ni
i σa,i /MPa ni Ni Di = Ni D sum,i
1 200 10 31.250 3,200 ⋅ 10−4 3,200 ⋅ 10−4
2 160 90 95.367 9,437 ⋅ 10−4 1,264 ⋅ 10−3
3 120 1.000 401.878 2,488 ⋅ 10−3 3,752 ⋅ 10−3
4 80 9.000 ∞ 0 3,752 ⋅ 10−3
5 40 10.000 ∞ 0 3,752 ⋅ 10−3
Schädigung eines Kollektivdurchlaufs D OM = 3,752 ⋅ 10−3
Kollektivwiederholungen bis D = 1: w ges = 266,52
Gesamtlebensdauer NOM = 5.357.088
Außerdem verläuft der Ermüdungsprozess in den Phasen der Rissentstehung und des
stabilen Risswachstums unterschiedlich. Abhängig von der Bauteilform haben beide
Phasen einen unterschiedlichen Anteil an der Gesamtlebensdauer.
Alle bekannten Ansätze, diese Nichtlinearität zu beschreiben, erforderten umfangreiche
Zusatzversuche. Dieser Aufwand kann adäquat in die experimentelle Bestimmung der
Bauteillebensdauer investiert werden, die - wie in Abschnitt 10.3 beschrieben - immer
genauer als eine rechnerische Lebensdauerabschätzung ist. In [138] ist eine Vielzahl
von nichtlinearen Schadensakkumulationstheorien beschrieben.
• Die Reihenfolge hat keinen Einfluss auf die Schädigung.
Die Reihenfolge als Wechselwirkung zwischen großen und kleinen Lastzyklen ist ein
wesentliches Problem bei der Anwendung der linearen Schadensakkumulation. Sie lässt
sich in spannungsmechanische und werkstoffmechanische Reihenfolgeeinflüsse un-
terteilen. Die ersteren ergeben sich aus Eigenspannungsveränderungen durch örtliche
Plastifizierungen im Kerbgrund. Sie sind mit spannungsbasierten elastischen Konzep-
ten prinzipiell nicht zu beschreiben. Das elastisch-plastische Kerbdehnungskonzept
(Örtliches Konzept), siehe Anhang 12, ist dazu in der Lage. Dort wird die Lastfolge se-
quentiell mit ihrer Reihenfolge berücksichtigt und nicht nur als Kollektiv. In Abbildung
9.4 ist der Effekt von Lasten mit örtlicher Plastifizierung gezeigt.
Der gleiche Effekt ist auch für die falsche Annahme verantwortlich, dass Amplituden
unterhalb der Dauerfestigkeit nicht schädigen. Entstehen nach einer großen Last im
Kerbgrund Zugeigenspannungen, so überlagern sich diese mit den nachfolgenden Am-
plituden. Deshalb kann eine Amplitude, die im Wöhlerversuch, also unter Belastung
mit konstanter Amplitude, tatsächlich nicht schädigt, bei variabler Belastung durchaus
zur Schädigung beitragen.
Weitere werkstoffmechanische Reihenfolgeeinflüsse ergeben sich aus den strukturellen
Veränderungen und Anpassungen des Werkstoffes. Sie entziehen sich bis heute nahezu
vollständig einer analytischen Erfassung.
9.3 Modifikationen der Miner-Regel 233
F F
t t
σ σ
σm
ε σm ε
Diese Annahmen sind also nachweislich unzutreffend und stellen eine grobe Vereinfachung
des realen Ermüdungsprozesses dar. Das zeigt sich in den teils großen Abweichungen zwi-
schen den mittels linearer Schadensakkumulation berechneten und im Betriebslastennach-
fahrversuch experimentell ermittelten Lebensdauern (siehe Abschnitt 9.4). Dennoch ist bis
heute die lineare Schadensakkumulationshypothese der einzige Ansatz, der ohne über die
Kenntnis der Wöhlerlinie hinaus gehende experimentell zu ermittelnde Kennwerte eine
rechnerische Lebensdauerabschätzung ermöglicht.
Lebensdauerlinie
Zur bereits in Abbildung 9.3 abgebildeten Lebensdauerlinie bedarf es noch einiger Erläuter-
ungen. Für ein gegebenes Beanspruchungskollektiv folgt rechnerisch genau eine ertragbare
Lastzyklenzahl bzw. Lebensdauer. Dieser Punkt wird mit der berechneten Lebensdauer auf
der Höhe der Spannung der obersten Kollektivstufe σ̄ angetragen. Weitere Punkte auf der
Lebensdauerlinie können durch Skalierung des Kollektivs in Beanspruchungsrichtung berech-
net werden. Dabei bleiben Kollektivform und -umfang erhalten. Abbildung 9.5 verdeutlicht
dieses Vorgehen. Die Lebensdauerlinie ist also eine Analogie zur Wöhlerlinie, welche die
Lebensdauer für eine bestimmte Kollektivform bezogen auf den Kollektivgrößtwert darstellt.
σa (log.)
Wöhlerlinie Lebensdauerlinie
σ1
σ2
konst.
Faktor
Hges N1 N2 N (log.)
lektiven der Fall, deren Höchstwert nur leicht oberhalb der Dauerfestigkeit liegt. Als ein
wesentlicher Grund für die Abweichungen wird angesehen, dass die Bauteildauerfestigkeit
im Zuge der Belastung absinkt. Bei Bauteilen mit Vorschädigung durch bereits ertragene
Beanspruchungen schädigen auch Amplituden unterhalb der ursprünglichen Dauerfestigkeit.
Letztendlich geht die Dauerfestigkeit im Laufe der Bauteillebensdauer bis zum Bruch gegen
Null.
Außerdem führen, wie in Abschnitt 9.2 gezeigt, örtlich plastische Verformungen bei großen
Lastzyklen nach Entlastung zu Eigenspannungen. Im Zusammenwirken von großen und
kleinen Amplituden können damit auch kleine Amplituden unterhalb der Dauerfestigkeit
durch die Überlagerung von Zugeigenspannungen und äußeren Spannungen zur Schädigung
beitragen.
Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche Modifikationen der Miner-Regel veröffentlicht, von
denen die wichtigsten nachfolgend aufgeführt werden.
Bei der elementaren Miner-Regel (EM) wird vereinfachend angenommen, dass die Amplitu-
den unterhalb der Dauerfestigkeit in gleicher Weise schädigen, wie die oberhalb. Die Wöhler-
linie wird deshalb für die Schadensakkumulation unterhalb der Dauerfestigkeit mit derselben
Neigung wie im Zeitfestigkeitsgebiet verlängert. Schädigen alle Kollektivstufen, ändert sich
im Vergleich zu Gleichung (9.3) nur die Summationsgrenze der Teilschädigungen:
l
ni
D EM = ∑ (9.6)
i =1 Ni
9.3 Modifikationen der Miner-Regel 235
Gegen Miner-Elementar spricht die experimentell nachgewiesene Tatsache, dass bei Stahl-
werkstoffen Amplituden bis zu Grenzwerten von ca. 20 % - 50 % der Dauerfestigkeit ohne
Einfluss auf die Lebensdauer weggelassen werden können (siehe Omission in Abschnitt 10.3).
Tabelle 9.3 zeigt das Beispiel für Miner-Elementar.
Tab. 9.3: Berechnungsbeispiel zu Miner-Elementar, Wöhlerlinie mit σDK = 100 MPa, ND = 106 und k = 5
ni
i σa,i /MPa ni Ni Di = Ni D sum,i
1 200 10 31.250 3,200 ⋅ 10−4 3,200 ⋅ 10−4
2 160 90 95.367 9,437 ⋅ 10−4 1,264 ⋅ 10−3
3 120 1.000 401.878 2,488 ⋅ 10−3 3,752 ⋅ 10−3
4 80 9.000 3.051.758 2,949 ⋅ 10−3 6,701 ⋅ 10−3
5 40 10.000 97.656.250 1,024 ⋅ 10−4 6,804 ⋅ 10−3
Schädigung eines Kollektivdurchlaufs D EM = 6,804 ⋅ 10−3
Kollektivwiederholungen bis D = 1: w ges = 146,98
Gesamtlebensdauer NEM = 2.954.336
Als Kompromiss zwischen den Grenzfällen der originalen und der elementaren Miner-Regel
bezüglich der Schädigung von Kollektivstufen unterhalb der Dauerfestigkeit berücksichtigt
Haibach [157] das Absinken der Dauerfestigkeit mit fortschreitender Schädigung.
Für ein Bauteil, welches durch vorangegangene Beanspruchungen bereits eine Vorschädigung
D aufweist, ist nach linearer Schadensakkumulation die ertragbare Lastzyklenzahl einer
Kollektivstufe um den Faktor (1 − D ) vermindert
N (D ) = (1 − D ) ⋅ N0 , (9.8)
wobei N0 die ertragbare Lastzyklenzahl des Bauteils ohne Vorschädigung ist. Außerdem hat
durch die Vorschädigung die Dauerfestigkeit abgenommen. Der Schädigungsexponent q
beschreibt den Abfall der ursprünglichen Dauerfestigkeit σDK,0 (Index 0 für ungeschädigt
D = 0) mit zunehmender Schädigung:
1
σDK (D ) = σDK,0 ⋅ (1 − D ) q . (9.9)
236 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Spannungsamplitude σa (log.)
σa,i Ni
Ni(D)
D=0
σDK,0
D>0
σDK(D)
ND,0 ND(D)
Lastzyklen N (log.)
Somit ist für das mit D vorgeschädigte Bauteil die ursprüngliche Wöhlerlinie in Lastzyklen-
richtung um (1 − D ) nach links verschoben und die Dauerfestigkeit nach Gleichung (9.9) auf
σDK (D ) abgesunken, siehe Abbildung 9.6. Der neue Abknickpunkt der Wöhlerlinie folgt nach
einigen Umformungen mit
−(k −q )
σDK (D )
ND (D ) = ND,0 ( ) . (9.10)
σDK,0
σa −(k +q )
Nfiktiv = ND ( ) für σa < σDK (9.11)
σWK
Es fehlt noch die Bestimmung des Schädigungsexponenten q. Haibach wählte auf der Ba-
sis bruchmechanischer Überlegungen und vorliegender Versuchsergebnisse von Blockpro-
grammversuchen für duktile Werkstoffe q = k − 1. Damit erfolgt die fiktive Fortsetzung der
Wöhlerlinie unterhalb der Dauerfestigkeit mit dem Exponenten k ∗ = 2k − 1, siehe Abbildung
9.7. Von Sonsino wird für spröde Werkstoffe wie Guss- und Sinterstahlbauteile der Exponent
k ∗ = 2k − 2 angegeben [261].
Die lineare Schadensakkumulation erfolgt dann als getrennte Bewertung der Kollektivstufen
oberhalb der Dauerfestigkeit (Summationsindex i = 1 . . . j ) und derer unterhalb der Dau-
erfestigkeit (Summationsindex ν = m . . . l ) (siehe Abbildung 9.3). Die Teilschädigung eines
9.3 Modifikationen der Miner-Regel 237
Spannungsamplitude σa (log.)
Exponent k
OM
σDK
MM
EM fiktive Verlängerung
mit Exponent k* = 2k-1
ND
Lastzyklen N (log.)
Abb. 9.7: Verlauf der Wöhlerlinie für die Schadensakkumulation nach der originalen (OM), modifizier-
ten (MM) und elementaren (EM) Form der Miner-Regel
Kollektivdurchlaufs ist
j l
ni nν
D MM = ∑ +∑ . (9.12)
N
i =1 i N
ν=m fiktiv,ν
Die Lebensdauer in Lastzyklen folgt wieder durch Division aller Lastzyklen des Kollektivs mit
der Kollektivschädigung:
l
∑ ni
i =1
NMM = . (9.13)
j ni l nν
∑ + ∑
i =1 Ni ν=m Nfiktiv,ν
Im Beispiel in Tabelle 9.4 zeigt sich der Unterschied zur elementaren Miner-Regel in den
Schädigungen der Kollektivstufen unterhalb der Dauerfestigkeit.
Mit dieser Bezeichnung wird die mathematisch konsequente Berücksichtigung des von Hai-
bach abgeleiteten Dauerfestigkeitsabfalls beschrieben, ohne die bei Miner-Modifiziert ge-
troffenen vereinfachenden Annahmen zu benötigen. Sie wurde erstmals von Gnilke [15]
veröffentlicht. In abgewandelter Form war diese Lösung die Grundlage der ehemaligen Norm
TGL 19350 [90]. Auch die FKM-Richtlinie empfiehlt die Anwendung der konsequenten Miner-
Regel. Der Rechengang ist folgenderweise zu beschreiben:
• Gemäß der originalen Miner-Regel schädigen zunächst nur Lastzyklen oberhalb der
Dauerfestigkeit σDK .
238 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Tab. 9.4: Berechnungsbeispiel zu Miner-Modifiziert, Wöhlerlinie mit σDK = 100 MPa, ND = 106 und
k = 5 bzw. k ∗ = 2k − 1
ni
i σa,i /MPa ni Ni bzw. Nfiktiv,ν Di = Ni D sum,i
1 200 10 31.250 3,200 ⋅ 10−4 3,200 ⋅ 10−3
2 160 90 95.367 9,437 ⋅ 10−4 1,264 ⋅ 10−3
3 120 1.000 401.878 2,488 ⋅ 10−3 3,752 ⋅ 10−3
4 80 9.000 7.450.581 1,208 ⋅ 10−3 4,960 ⋅ 10−3
5 40 10.000 3.814.697.266 2,621 ⋅ 10−6 4,963 ⋅ 10−3
Schädigung eines Kollektivdurchlaufs D MM = 4,963 ⋅ 10−3
Kollektivwiederholungen bis D = 1: w ges = 201,51
Gesamtlebensdauer NMM = 4.050.280
• Nach einer Vorschädigung D i fällt die Dauerfestigkeit entsprechend Gleichung (9.9) ab,
so dass die nächste, ursprünglich unter der Dauerfestigkeit des ungeschädigten Bauteils
liegende Kollektivstufe nunmehr auch schädigt. Bis dahin wurden n i Lastzyklen des
Gesamtkollektivs aufgebracht.
• Weitere Kollektivstufen unterhalb σDK tragen erst zur Schädigung bei, wenn σDK (D )
auf das Niveau der jeweiligen Stufe abgefallen ist.
• Die Berechnung wird schrittweise (im Sinne der Einbeziehung einer jeweils weiteren,
darunter liegenden Kollektivstufe in die Schädigung) fortgesetzt, bis D = 1 oder nach
Dauerfestigkeitsabfall die ertragbare Lastzyklenzahl für den Kollektivgrößtwert nach
Gleichung (9.10) den Wert N1 = 0 ergibt.
Durch die direkte Abhängigkeit der ertragbaren Lastzyklenzahl von der Schädigung Ni = f (D )
ist die konsequente Form streng genommen eine nichtlineare Schadensakkumulation. Im
Gegensatz zu den vorangegangenen Modifikationen ist damit eine Berechnung der Kollek-
tivschädigung nicht mehr möglich, sondern nur der Gesamtlebensdauer. Umgesetzt als
Gleichung folgt für Wöhlerlinien vom Typ I:
⎛ σDK q q q q⎞
σDK k −q l ⎜( σ1 ) − ( σσm1 ) l( σσν1 ) − ( σσν+1 1 ) ⎟
NKM,I = ND ( ) (∑ n i ) ⎜
⎜ +∑ ν
⎟.
⎟ (9.14)
σ1 ⎜ j
ν=m σ k ⎟
i =1
∑ n i ( σσ1i )
k
∑ n i ( σ1i )
⎝ i =1 i =1 ⎠
Für den Schädigungsexponenten q wird wie bei Miner-Modifiziert q = k − 1 für duktile Werk-
stoffe3 bzw. q = k − 2 für spröde Werkstoffe verwendet. Die Summationsindizes entsprechen
weiterhin den in Abbildung 9.3 angegebenen.
3
In der TGL 19350 war die ursprüngliche Empfehlung von Gnilke mit q = (k − 1)/2 enthalten.
9.3 Modifikationen der Miner-Regel 239
Gnilke hat dieses Vorgehen auch auf Wöhlerlinien vom Typ II (also solche ohne ausgeprägte
Dauerfestigkeit) umgesetzt. Die Lebensdauer folgt aus
⎛ q q
σDK k1 −q l ⎜ ( σσDK ) − ( σσm1 )
NKM,II = ND ( ) (∑ n i ) ⎜
⎜
1
σ1 i =1 ⎜ j k1 k 2 −k 1 l k2
⎝ i∑ n i ( σσ1i ) + ( σσDK
1
) ⋅ ∑ n ν ( σσν1 )
=1 ν=m
(9.15)
q q ⎞
l ( σσν1 ) − ( σσν+1 1 ) ⎟
+∑ ⎟.
⎟
σi k 2 ⎟
ν l
ν=m σi k 1 σ1 k 2 −k 1
( )
∑ n i σ1 + σDK( ) (
⋅ ∑ n i σ1 ⎠)
i =1 i =ν+1
Es ist leicht zu erkennen, dass beide Gleichungen nur mit Software umgesetzt werden können.
Kaum eines der kommerziellen Software-Programme bietet aber die konsequente Miner-
Regel für den Wöhlerlinientyp II an. Das liegt auch daran, dass die modifizierte Miner-Regel,
zumindest im experimentell untersuchten Bereich der Literatur, bei weit einfacherer Berech-
nung verglichen mit der konsequenten Miner-Regel vergleichbare Lebensdauerabschätzun-
gen liefert [193]. Deutliche Unterschiede treten erst für Kollektive auf, deren Höchstwerte
nur leicht über der Dauerfestigkeit liegen. Dort ist die Lebensdauerlinie weiter in Richtung
größerer Schwingspielzahlen verschoben, siehe Abbildung 9.9.
σa,i q
D i ,min = 1 − ( ) (9.16)
σDK
(Für alle Stufen mit σa,i > σDK ist D min,i = 0.)
4. Schädigungsdifferenz zur vorherigen Stufe ΔD min,i = D i ,min − D min,(i − 1)
5. Lebensdauer der Stufe i in Kollektivwiederholungen
ΔD min,i
wi = (9.17)
D sum,(i − 1)
240 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
7. Lebensdauer in Lastzyklen
l
NKM,I = Hges ⋅ w ges = (∑ n i ) ⋅ w ges (9.19)
i =1
Da mit Miner-Konsequent die Lebensdauer direkt berechnet wird und nicht über die Kollek-
tivschädigung, kann diese nur als Analogie mit
1
D KM = (9.20)
w ges
angegeben werden. Das in Tabelle 9.5 gezeigte Beispiel ist nach Miner-Konsequent mittels
des Formalismus von Hantschke berechnet worden. Unterhalb der tiefsten Stufe wird eine
weitere mit σa = 0 MPa angehängt.
Tab. 9.5: Berechnungsbeispiel zu Miner-Konsequent nach Hantschke, Wöhlerlinie mit σDK = 100 MPa,
ND = 106 und k = 5
ni
i σa,i /MPa ni Ni Di = Ni D sum,i D min,i ΔD min,i w
1 200 10 31.250 3,200 ⋅ 10−4 3,200 ⋅ 10−4 0 0 0
2 160 90 95.367 9,437 ⋅ 10−4 1,264 ⋅ 10−3 0 0 0
3 120 1.000 401.878 2,488 ⋅ 10−3 3,752 ⋅ 10−3 0 0 0
4 80 9.000 3.051.758 2,949 ⋅ 10−3 6,701 ⋅ 10−3 0,590 0,590 157,35
5 40 10.000 97.656.250 1,024 ⋅ 10−4 6,804 ⋅ 10−3 0,974 0,384 57,30
6 0 0 ∞ 0 6,804 ⋅ 10−3 1 0,026 3,76
Kollektivwiederholungen bis D = 1: w ges = 218,42
Gesamtlebensdauer NKM = 4.390.257
Nach der Modifiktion von Liu und Zenner (LZ) [203] wird die Wöhlerlinie für die Schadensak-
kumulation auch im Zeitfestigkeitsgebiet verändert. Unter der pauschalen Annahme, dass die
Lebensdauer bis zum Bruch zu gleichen Teilen aus der Rissbildung und dem Rissfortschritt
besteht, wird eine Ersatzwöhlerlinie mit einem aus Bauteilwöhlerlinie und Rissfortschritts-
wöhlerlinie gemittelten Exponenten k ∗ gebildet. Für den Wöhlerlinienexponenten angeris-
sener Bauteile (Rissfortschrittswöhlerlinien) wird ein mittlerer Wert von k = 3,6 aus [183]
9.3 Modifikationen der Miner-Regel 241
Bauteilwöhlerlinie
Bemessungswöhlerlinie
nach Liu/Zenner
Spannungsamplitude σa (log.)
Exponent k
σ1
Exponent k* = (k+3,6)/2
σDK
σDK/2
Spannungskollektiv
N1 ND ND*
Lastzyklen N (log.)
übernommen, so dass k ∗ = (3,6 + k )/2 ist. Zur Berücksichtigung von Kollektivstufen unterhalb
der Dauerfestigkeit wird diese außerdem auf 50 % abgesenkt. Damit für den Grenzfall eines
einstufigen Kollektivs die Lebensdauerlinie der Wöhlerlinie entspricht, erfolgt die Drehung
der Wöhlerlinie um den Punkt (σ1 ; N1 ) der Ausgangswöhlerlinie. In Abbildung 9.8 wird das
Vorgehen verdeutlicht. Die Schadensakkumulation erfolgt dann mit der Ersatzwöhlerlinie wie
bei Miner-Original. Ein Beispiel ist in Tabelle 9.6 angegeben.
Tab. 9.6: Berechnungsbeispiel zur Modifikation nach Liu/Zenner, Wöhlerlinie mit σDK = 100 MPa,
ND = 106 und k = 5 bzw. k ∗ = 4,3, σ∗DK = 50 MPa und ND∗ = 12.125.732,5
ni
i σa,i /MPa ni Ni Di = Ni D sum,i
1 200 10 31.250 3,200 ⋅ 10−4 3,200 ⋅ 10−4
2 160 90 81.576 1,103 ⋅ 10−3 1,423 ⋅ 10−3
3 120 1.000 281.060 3,558 ⋅ 10−3 4,981 ⋅ 10−3
4 80 9.000 1.606.912 5,601 ⋅ 10−3 1,058 ⋅ 10−2
5 40 10.000 ∞ 0 1,058 ⋅ 10−2
Schädigung eines Kollektivdurchlaufs D LZ = 1,058 ⋅ 10−2
Kollektivwiederholungen bis D = 1: w ges = 94,50
Gesamtlebensdauer NLZ = 1.899.448
242 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
100
80
103 104 105 106 107 108 109 1010
Lastzyklen N (log.)
In Abbildung 9.9 sind die berechneten Lebensdauerlinien nach den verschiedenen Modi-
fikationen der Miner-Regel gezeigt. Für die Berechnung wurde das 5-stufige Kollektiv der
vorangegangenen Beispiele (Tabellen 9.2 bis 9.6) verwendet. Modifikationsabhängig tragen
Kollektivstufen unterhalb der Dauerfestigkeit nicht oder unterschiedlich stark zur Schädi-
gung bei. Liegen alle Stufen des Kollektivs oberhalb der Dauerfestigkeit, unterscheiden sich
die berechneten Lebensdauerwerte nicht (außer bei Liu/Zenner). Die Lebensdauerlinie der
elementaren Miner-Regel verläuft stets parallel zum Zeitfestigkeitsbereich der Wöhlerlinie,
die nach Liu/Zenner links danebenliegend anfänglich ebenfalls. Die Lebensdauerlinie nach
Miner-Original weist wegen der sprunghaften Berücksichtigung von Kollektivstufen unterhalb
der Dauerfestigkeit einen getreppten Verlauf auf. Nach Skalierung des Kollektivs in Spannungs-
richtung liegt eine Stufe plötzlich nicht mehr oberhalb der Dauerfestigkeit und wird somit in
der Schädigungsrechnung nicht mehr berücksichtigt. Die Sprünge werden mit zunehmender
Anzahl an Kollektivstufen und damit feinerer Einteilung kleiner. Auch bei Liu/Zenner gibt es
bei kleinen Kollektivgrößtwerten wegen der Summationsgrenze bis σD /2 diesen sprunghaften
Verlauf. Die größten Unterschiede treten für Kollektive mit Höchstwerten knapp oberhalb der
Dauerfestigkeit auf. Dann sollte die Berechnung nach Miner-Konsequent erfolgen.
Die Modifikation nach Liu/Zenner führt, wie in Abschnitt 9.4 aufgeführt, auf eine gute Treffsi-
cherheit. Allerdings sind dabei folgende Einschränkungen zu beachten. Für Kollektive mit
9.3 Modifikationen der Miner-Regel 243
hohen Amplituden, z. B. durch Sonderereignisse, schätzt die Modifikation wegen der Dre-
hung um den Kollektivhöchstwert die Lebensdauer zu niedrig ab. Bei Kollektiven mit einem
Größtwert knapp über der Dauerfestigkeit (z. B. im Getriebebau) wird die Lebensdauer wegen
der Überbewertung der Schädigung kleiner Amplituden (Halbierung der Dauerfestigkeit) als
zu niedrig abgeschätzt.
Je völliger das Kollektiv ist, desto näher rückt die Lebensdauerlinie in Richtung der Wöhlerlinie.
Für den Grenzfall des Rechteckkollektivs (Konstantamplitude) fällt die Lebensdauerlinie mit
der Wöhlerlinie zusammen. Mit abnehmender Häufigkeit großer Amplituden relativ zum Kol-
lektivumfang wandert die Lebensdauerlinie nach rechts in Richtung hoher Lastzyklenzahlen.
Das ist beispielhaft in Abbildung 9.10 für Kollektive mit gleichem Umfang und Kollektivhöchst-
wert aber verschiedenen Formparametern ν (nach Gleichung (5.14)) dargestellt. Auch wenn
dieses Beispiel rein rechnerisch (synthetisch) ist, bestätigt es die experimentellen Ergebnisse,
wonach sich die Lebensdauer je nach Kollektivform um bis zu 4 Dekaden unterscheiden kann
([151, 232], zitiert in [25]).
400
200
Wöhlerlinie
100
103 104 105 106 107 108 109 1010 1011
Lastzyklen N (log.)
Abb. 9.10: Einfluss der Kollektivform bzw. -völligkeit auf die Lebensdauerlinie, berechnet mit Miner-
Modifiziert, Wöhlerlinie: σDK = 100 MPa, ND = 106 , k = 5, 100 Kollektivstufen mit linear
eingeteilten Spannungsstufen
244 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Eine fundierte Aussage zur Treffsicherheit einer Methode kann nur erfolgen, wenn dieser
Vergleich zur Versuchslebensdauer möglichst oft vorgenommen wird und die Abweichungen
dann statistisch ausgewertet werden. Dazu ist eine möglichst umfangreiche und zuverlässige
Datensammlung von Betriebsfestigkeitsversuchen notwendig. Eine solche wurde im Rahmen
der FVA-Vorhaben [133] und [134] erstellt. Sie liegt als Datenbank DABEF vor [131] und ist
seit Bestehen mehrfach erweitert worden. Sie enthält ca. 21.000 Einzelversuche, die alle neu
statistisch ausgewertet wurden, um den subjektiven Einfluss der statistischen Auswertung
zu minimieren. Ihr besonderer Vorteil besteht darin, dass auch für frühere Untersuchungs-
ergebnisse die experimentell aufgebrachten Lastfolgen mit den jeweils angewendeten Pro-
grammen erneut generiert und digitalisiert wurden. Dadurch existieren Umkehrpunktfolgen
und Rainflow-Matrizen und nicht nur die Amplitudenkollektive, welche den Einfluss der
Klassiermethode beinhalten.
Die statistische Auswertung der tatsächlichen Schädigungssummen erfolgt unter der An-
nahme einer logarithmischen Normalverteilung für D rel . Der Mittelwert D̄ rel einer solchen
Auswertung kann durch einen einfachen Korrekturfaktor in der Lebensdauerberechnung
berücksichtigt werden, wie es bei der in Abschnitt 9.5 beschriebenen relativen Miner-Regel
gemacht wird. Der Mittelwert sagt jedoch noch nichts über die Treffsicherheit an sich aus.
Entscheidend ist die Streuung der Abweichungen vom Mittelwert, hier beschrieben mit der
Streuspanne
D rel,10 %
TD = . (9.22)
D rel,90 %
9.4 Treffsicherheit der Lebensdauerabschätzung 245
Abbildung 9.11 zeigt das Ergebnis der statistischen Auswertung einer Nachrechnung von
964 Versuchsreihen nach dem Nennspannungskonzept, also mit experimentell ermittelten
Wöhlerlinien. Dabei sind die Abweichungen von der experimentellen Lebensdauer lediglich
vom Berechnungsverfahren abhängig. Die ideale Berechnungsmethode müsste auf D̄ rel = 1
führen. Bei der Bewertung der Streuspanne TD muss beachtet werden, dass diese natürlich
nicht geringer werden kann als die der zugrunde liegenden Wöhlerlinien. Diese liegt in der
untersuchten Datenbasis bereits im Bereich TD ≈ 2,0 . . . 3,5. Das Berechnungskollektiv wurde
einheitlich aus der Rainflow-Matrix als Ersatzamplitudenkollektiv gebildet (vgl. Gl. (5.6)-(5.8))
und die Berechnung nach den verschiedenen Modifikationen der Miner-Regel durchgeführt,
siehe Tabelle 9.7.
Die Streuspanne ist mit TD = 12,7 (Miner-Konsequent) überraschend hoch und wurde erst-
mals mit dieser Untersuchung [134] gezeigt. Die Fehler der rechnerischen Lebensdauerab-
schätzung können also bis zu rund anderthalb Dekaden betragen. Die gesamte Streuung setzt
sich aus einer Überlagerung verschiedener Einflüsse zusammen. Jeder für sich ist normal-
verteilt, ihre verschiedenen Mittelwerte führen aber zur großen Streuung der Gesamtheit.
Die Bildung spezifischer, von Werkstoff, Belastung und Miner-Modifikation abhängigen Un-
tergruppen führt zu einer deutlich besseren Treffsicherheit der Lebensdauerabschätzung.
Dies verdeutlicht Abbildung 9.12. Bezogen auf die Werkstoffgruppe zeigt sich im Mittel:
D̄ rel,Stahl < D̄ rel,Fe-Guss < D̄ rel,Al-Leg. . Untersuchungen in [154] deuten darauf hin, dass auch bei
Sinterstahl die mittleren relativen Schädigungssummen im Bereich von Stahl liegen.
Die Abweichung der Mittelwerte von D = 1 kann, wie bereits erwähnt, durch einen Korrektur-
faktor auf die berechnete Lebensdauer korrigiert werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen
in [134] fanden in dieser Form als Untergrenze der effektiven Miner-Summe D m,min Eingang
in die FKM-Richtlinie, siehe Abschnitt 9.6.
Beim Vergleich der Streuungen der unterschiedlichen Miner-Modifikationen liefert das Ver-
fahren nach Liu/Zenner die besten Ergebnisse. Offensichtlich haben die Mittelung mit der
Rissfortschrittswöhlerlinie und die damit steilere Bezugswöhlerlinie sowie die Absenkung der
Dauerfestigkeit auf 50 % einen positiven Einfluss auf die Treffsicherheit. Hier kann jedoch
auch ein rein statistisch begründeter Effekt wirken. Durch die Mittelung der Wöhlerlinienex-
ponenten mit einem konstanten Wert (k ∗ = 3,6) werden die im Experiment durchaus auch
rein zufällig bestimmten sehr großen oder sehr kleinen Exponenten dem Durchschnitt aller
Exponenten näher gebracht. Auch dies führt zu einer kleineren Streuspanne der Schadens-
summen.
Die tatsächlichen Schädigungssummen von Schweißverbindungen sind mit denen mecha-
nisch gekerbter Proben und Bauteile vergleichbar, wie Untersuchungen in [136] zeigen. Der
Mittelwert der Schädigungssummen liegt bei D̄ rel = 0,3 . . . 0,4, wenn von experimentell ermit-
telten Wöhlerlinien ausgegangen wird.
246 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
99,9
99,5
99
98
95
90
80
Vertrauenswahrscheinlichkeit [%]
70
60
50
40
30
20
10
2
1
Vergleich von Berechnungsverfahren
0,5 Konsequent Miner
Miner-Liu/Zenner
jeweils mit transformierter
0,1 Amplitude und 964 Werten
Berechnungsgruppe
Elementar Miner
Zug/Druck, Stahl T = 7,1 0,24
Zug/Druck, Al-Leg. T = 7,3 0,31
Flachbiegung, Stahl T = 7,9 0,48
Flachbiegung, Eisenguss T = 14,0 0,57
Flachbiegung, Al-Leg. T = 6,9 0,81
Modifiziert Miner
Zug/Druck, Stahl T = 7,3 0,17
Zug/Druck, Al-Leg. T = 8,9 0,24
Flachbiegung, Stahl T = 8,6 0,29
Flachbiegung, Eisenguss T = 13,9 0,35
Flachbiegung, Al-Leg. T = 8,8 0,63
Konsequent Miner
Zug/Druck, Stahl T = 7,2 0,17
Zug/Druck, Al-Leg. T = 8,6 0,26
Flachbiegung, Stahl T = 9,2 0,30
Flachbiegung, Eisenguss T = 14,8 0,37
Flachbiegung, Al-Leg. T = 8,9 0,65
Liu / Zenner
Zug/Druck, Stahl T = 6,2 0,44
Zug/Druck, Al-Leg. T = 6,1 0,63
Flachbiegung, Stahl T = 8,1 0,69
Flachbiegung, Eisenguss T = 10,4 1,19
Flachbiegung, Al-Leg. T = 6,5 1,09
0,01 0,1 1 10
ഥ
mittlere relative Schädigungssumme D rel
Abb. 9.12: Mittlere relative Schädigungssummen ausgewertet für verschiedene Berechnungs- und
Werkstoffgruppen [135]
248 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Der Unsicherheit durch die großen Streuungen muss hingegen mit entsprechenden Sicher-
heitsfaktoren begegnet werden. Hierbei ist zu bedenken, dass die Auswertung von Schädi-
gungssummen in Lebensdauerrichtung erfolgt. Der Ingenieur betrachtet normalerweise die
Spannungsrichtung. Das Verhältnis zwischen Spannung und Lebensdauer beschreibt bei kon-
stanter Schwingbeanspruchung die Wöhlerlinie. Wird das von Seeger [175] vorgeschlagene
Q 0 -Verfahren angewendet, lassen sich die eben dargestellten Streuspannen der Schädigungs-
summen in Streuspannen in Spannungsrichtung umrechnen (Abbildung 9.13). Die Faktoren
und Streuspannen in Spannungsrichtung liegen bereits in der Größenordnung herkömmli-
cher Sicherheitsfaktoren. Dabei muss berücksichtigt werden, dass diese Untersuchungen für
eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 50 % durchgeführt wurden.
Berechnungsgruppe
Elementar Miner
Zug/Druck, Stahl T = 1,39 0,78
Zug/Druck, Al-Leg. T = 1,42 0,83
Flachbiegung, Stahl T = 1,55 0,86
Flachbiegung, Eisenguss T = 1,48 0,92
Flachbiegung, Al-Leg. T = 1,52 0,96
Modifiziert Miner
Zug/Druck, Stahl T = 1,41 0,74
Zug/Druck, Al-Leg. T = 1,49 0,79
Flachbiegung, Stahl T = 1,58 0,77
Flachbiegung, Eisenguss T = 1,45 0,85
Flachbiegung, Al-Leg. T = 1,60 0,91
Konsequent Miner
Zug/Druck, Stahl T = 1,41 0,74
Zug/Druck, Al-Leg. T = 1,48 0,80
Flachbiegung, Stahl T = 1,63 0,78
Flachbiegung, Eisenguss T = 1,49 0,86
Flachbiegung, Al-Leg. T = 1,60 0,91
Liu / Zenner
Zug/Druck, Stahl T = 1,39 0,87
Zug/Druck, Al-Leg. T = 1,40 0,92
Flachbiegung, Stahl T = 1,59 0,91
Flachbiegung, Eisenguss T = 1,46 1,03
Flachbiegung, Al-Leg. T = 1,50 1,02
0,5 1 1,5
Spannungsfaktor
Abb. 9.13: Mittlere Spannungsfaktoren für verschiedene Berechnungs- und Werkstoffgruppen [193]
9.5 Relative Miner-Regel 249
Regelwerke wie die FKM-Richtlinie berücksichtigen die dargestellten Unsicherheiten bei einer
Lebensdauerabschätzung auf zweierlei Weise. Zum einen wird bei der Lebensdauerberech-
nung von Wöhlerlinien mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit ausgegangen, z. B.
97.5 %. Zum anderen werden Sicherheitsfaktoren zwingend vorgeschrieben, welche sich in
ihrer Größe nach Schadensfolge und Inspizierbarkeit unterscheiden.
Es zeigt sich, dass das direkt aus der Rainflowmatrix ermittelte und mittels Haigh-Diagramm
umbewertete Ersatzamplitudenkollektiv die geringsten Streuspannen liefert. Bei der Klassen-
grenzenüberschreitungszählung ist die Streuung hingegen unvertretbar groß. Das resultiert
aus der Tatsache, dass diese Zählmethode nicht geeignet ist, unsymmetrische Prozesse mit
ausgeprägten Mittelwertschwankungen zutreffend zu beschreiben. Aus heutiger Sicht kann
nur der Rainflow-Algorithmus empfohlen werden.
Auf Schütz [247] geht der Ansatz zurück, mit der sogenannten relativen Miner-Regel die um-
fangreichen Erfahrungswerte aus dem Vergleich von Betriebslastenversuch und Lebensdauer-
abschätzung zu berücksichtigen. Der Grundgedanke besteht darin, anstelle der Schädigungs-
summe D = 1 für das Bauteilversagen die reale Schädigungssumme D Bezug zu verwenden,
die an einem ähnlichen Bauteil oder einem vergleichbaren Vorgängerprodukt bei ähnlicher
Belastung ermittelt wurde. Dazu wird das Verhältnis aus der tatsächlichen Lebensdauer dieses
ähnlichen Bauteils NBezug und der mittels Schadensakkumulation berechneten Lebensdauer
250 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
gebildet:
NBezug
D Bezug = (9.23)
NRechnung
Diese Lebensdauer NBezug ist bei der Vorentwicklung eines neuen Erzeugnisses aus der Erpro-
bung bzw. Serienbetreuung des Vorgängererzeugnisses oftmals bekannt. Für das neue Bauteil
wird dann mit der relativen Miner-Regel (RM) die berechnete Lebensdauer korrigiert:
Ist spezielle Erfahrung zum nicht näher definierten Begriff »ähnliches Bauteil unter ähnlicher
Belastung« vorhanden, sollte immer diese Erfahrung zur Berechnung der Schädigungssumme
D Bezug benutzt werden. Ansonsten können die in Abbildung 9.12 angegebenen durchschnitt-
lichen Schädigungssummen als Richtwerte zur Korrektur der berechneten Lebensdauer
verwendet werden.
Die Verwendung konstanter Schädigungssummen als Korrekturfaktoren steht jedoch im Wi-
derspruch mit der Erfahrung, dass die Schädigungssummen mit steigender Kollektivvölligkeit
ansteigen. Im Grenzfall eines einstufigen Kollektivs muss D m = 1 sein, da die Lebensdauer
ohne Schadensakkumulation direkt aus der Wöhlerlinie des Bauteils folgt. In der aktuellen
Auflage der FKM-Richtlinie werden daher die durchschnittlichen Schädigungssummen (in der
FKM-Richtlinie als effektive Miner-Summe bezeichnet) in Abhängigkeit von der Kollektivform
berechnet.
Mit den bisher gezeigten Methoden wird die Lebensdauer N eines Bauteils direkt berechnet.
Der Nachweis erfolgt durch den Vergleich mit der geforderten Lebensdauer und unterscheidet
sich damit prinzipiell vom statischen Nachweis und vom Dauerfestigkeitsnachweis. Dort wer-
den zulässige und auftretende Spannungen gegenübergestellt. Im Sinne einer einheitlichen
Nachweisführung wird daher auch der Betriebsfestigkeitsnachweis in der FKM-Richtlinie
formal in Spannungsrichtung geführt. Dies geschieht in folgenden Schritten, die anschließend
noch genauer erläutert werden.
1. Abschätzung der Bauteilwöhlerlinie, siehe Abbildung 9.2 bzw. Tabelle 9.1
2. Berechnung des Betriebsfestigkeitsfaktors K BK , der von der Wöhlerlinie, der Kollektiv-
form und der geforderten Bauteillebensdauer N̄ abhängt
3. Anheben der Bauteildauerfestigkeit auf die Bauteilbetriebsfestigkeit:
Einstufenkollektiv
Die Lebensdauer für ein Einstufenkollektiv folgt direkt aus der Bauteilwöhlerlinie. Der Be-
triebsfestigkeitsfaktor gibt dann lediglich an, wie weit die Bauteildauerfestigkeit angehoben
werden kann, wenn anstelle des Dauerfestigkeitsnachweises eine begrenzte Lebensdauer
N = N̄ gefordert wird, also ein Zeitfestigkeitsnachweis zu erbringen ist.
1
ND k
K BK = ( ) (Zeitfestigkeitsnachweis) (9.27)
N̄
Für den Dauerfestigkeitsnachweis ist K BK = 1, da die Bauteilbetriebsfestigkeit der Bauteildau-
erfestigkeit entspricht, siehe Gleichung (8.12).
Mehrstufenkollektiv, Elementar-Miner
Bei einem mehrstufigen Kollektiv hat der Betriebsfestigkeitsfaktor drei Aufgaben. Er soll die
geforderte Lebensdauer, den Einfluss der Kollektivform und die Korrektur der Lebensdauer
nach der relativen Miner-Regel beinhalten. Er wird zu
1
A ⋅ ND ⋅ D m k
K BK = ( ) (9.28)
N̄
berechnet. Die Berechnung und Bedeutung der darin enthaltenen Größen lässt sich am
einfachsten am Beispiel der elementaren Miner-Regel erläutern.
Die geforderte Lebensdauer wird zunächst nicht für das eigentliche Kollektiv, sondern für ein
Einstufenkollektiv auf Höhe des Kollektivmaximums σa,1 berechnet. Das Verhältnis ND /N̄
in Lebensdauerrichtung entspricht einem Faktor (ND /N̄ )(1/k ) in Spannungsrichtung. Um
diesen wird die Dauerfestigkeit angehoben, wenn ND > N̄ oder abgesenkt, wenn ND < N̄ ist,
Abbildung 9.14.
252 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
a) b)
Wöhlerlinie Wöhlerlinie
σa (log.)
σa (log.)
Miner-Elementar Miner-Elementar
Kollektiv
Kollektiv
ND/N
(ND/N)1/k
σAK σAK
(ND/N)1/k
ND/N
N ND N (log.) ND N N (log.)
Abb. 9.14: Anteil des Betriebsfestigkeitsfaktors zur Berücksichtigung der geforderten Lebensdauer für
a) N̄ < ND und b) N̄ > ND , Berechnung mit Miner-Elementar
N̄
NKoll D EM N̄ σa,1 k
A ele = = = ⋅ ND ( )
NEinst σa,1 −k l ⎛ ⎞ σAK
ND ( ) ni
σAK ∑⎜ −k
⎟
i =1 ⎝ N ( σa,i ) ⎠
D σ AK
1
= . (9.29)
l ni σa,i k
∑ ⋅( )
i =1 N̄ σa,1
Die Summationsgrenzen sind zugunsten einer einheitlichen Darstellung wie in Abbildung 9.3
definiert und damit abweichend von der FKM-Richtlinie gewählt. Das Lebensdauervielfache A
ist auch charakteristisch für die Form des Kollektivs. Kleine Werte stehen für völlige Kollektive,
im Grenzfall des Einstufenkollektivs ist A = 1. Nimmt das Verhältnis der Häufigkeit von
großen zu kleinen Amplituden und somit die Völligkeit des Kollektivs ab, nimmt A zu und
die ertragbare Lebensdauer verschiebt sich in Richtung größerer Lastzyklenzahlen. Zu dem
in früheren Ausgaben der Richtlinie verwendeten Völligkeitsmaß v nach Gleichung (5.15)
9.6 Umsetzung in der FKM-Richtlinie, Betriebsfestigkeitsfaktor 253
besteht der Zusammenhang v = A −1/k . Die Berechnung für den Wöhlerlinientyp II erfolgt bei
Elementar-Miner ebenfalls mit Gleichung (9.29).
Zuletzt wird noch die effektive Miner-Summe D m berechnet, die entsprechend der relativen
Miner-Regel die berechneten Lebensdauern korrigiert. Dies erfolgt nach Hinkelmann [178,
179] in Abhängigkeit der durch A charakterisierten Kollektivform, um die Abnahme der
effektiven Miner-Summe bei weniger völligen Kollektiven berücksichtigen zu können (IMAB-
Verfahren). Im Bereich 16 ≤ A ≤ 16/D m,min
4 ist
2
Dm = √
4
. (9.30)
A
Die Obergrenze für A < 16 ist D m = 1. Für völligere Kollektive erfolgt keine Korrektur der Le-
bensdauer. Die untere Grenze bei A = 16/D m,min
4 wird mit den in Tabelle 9.8 angegebenen Wer-
ten aus [134] berechnet. Abbildung 9.15 zeigt die Abhängigkeit der effektiven Miner-Summe
vom Lebensdauervielfachen. Die Zwischenschritte zur Berechnung des Betriebsfestigkeitsfak-
tors nach Elementar-Miner sind in Abbildung 9.16 zusammenfassend dargestellt.
Dm,min
16 16/(Dm,min)4 A (log.)
σa (log.)
Wöhlerlinie Lebensdauerlinie
σBK
(A·Dm)1/k
KBK
(ND/N)1/k
σAK
A·Dm
Kollektiv
N ND N (log.)
Mehrstufenkollektiv, Konsequent-Miner
Bei Anwendung der konsequenten Miner-Regel muss die Berechnung iterativ erfolgen, da
N nicht wie in Gleichung (9.14) bzw. (9.15) direkt berechnet wird, sondern die zu ertragende
Lastzyklenzahl N̄ vorgegeben und die ertragbare Maximal-Spannungsamplitude des Kol-
lektivs (Bauteilbetriebsfestigkeit) gesucht ist. Als Startwert wird eine mit Miner-Elementar
berechnete Äquivalentspannungsamplitude verwendet:
σa,1
σ̃äqu = , (9.31)
K BK,ele
k
σ̃äqu
Ñ = A kon ⋅ ND ⋅ D m ⋅ ( ) (9.32)
σa,1
l k −1
Z1 Z2 σa,1
A kon = ( +∑ )⋅( ) (9.33)
N 1 ν=1 N 2 σ̃äqu
9.6 Umsetzung in der FKM-Richtlinie, Betriebsfestigkeitsfaktor 255
σa,ν k −1 σa,ν+1 k −1
Z2 = ( ) −( )
σa,1 σa,1
m −1
ni σa,i k
N1 = ∑ ⋅( )
i =1 N̄ σa,1
ν
ni σa,i k
N2 = ∑ ⋅( ) (9.34)
i =1 N̄ σa,1
berechnet. Auch hier sind die Summationsgrenzen zu Gunsten der Einheitlichkeit nach
Abbildung 9.3 und damit abweichend von der FKM-Richtlinie definiert. Es sind
l die Anzahl aller Kollektivstufen, bzw. die Nummer der letzten Stufe,
m die Nummer der ersten Kollektivstufe unterhalb σ̃äqu
(ändert sich in jedem Iterationsschritt),
i der Zählindex über alle Kollektivstufen und
ν der Zählindex der Kollektivstufen unterhalb σ̃äqu .
Die Äquivalentspannungsamplitude σ̃äqu wird anschließend iterativ geändert, bis die Zyklen-
zahl in Gleichung (9.32) der geforderten Lastzyklenzahl entspricht: Ñ = N̄ . Der Wert für A kon
dieses Iterationsschrittes wird dann in Gleichung (9.27) für den Betriebsfestigkeitsfaktor K BK
eingesetzt.
Der Nachweis mit dem Wöhlerlinientyp II für Bauteile aus Aluminiumwerkstoff oder auste-
nitischem Stahl erfolgt mit einem entsprechend abgeänderten Formelsatz, der in der FKM-
Richtlinie ebenfalls angegeben ist.
Die Berechnung nach Miner-Konsequent ist in kommerziellen Softwareprodukten umgesetzt,
aber z. B. auch als online erhältliche Berechnungsvorlage zum Buch Angewandter Festigkeits-
nachweis nach FKM-Richtlinie [81].
σa
R=-1
σBK
σWK
R=1
σm
Abb. 9.17: Begrenzung der Bauteilbetriebsfestigkeit durch die statische Festigkeit im Haigh-Diagramm
nach FKM-Richtlinie [95]
Beispiel
Das in Tabelle 9.3 berechnete Beispiel der Lebensdauerabschätzung nach Miner-
Elementar soll nach dem Formalismus der FKM-Richtlinie gelöst werden. Dazu muss
die Berechnung quasi rückwärts erfolgen. Die in Tabelle 9.3 berechnete Lebensdau-
er wird nun für das Kollektiv als nachzuweisende Lebensdauer von N̄ = 2.954.336
vorgegeben und die der Bauteilbetriebsfestigkeit entsprechende maximale Span-
nungsamplitude des Kollektivs ist gesucht. Die Bauteilfestigkeit ist wieder durch
die Wöhlerlinie mit den Größen σAK = 100 MPa, ND = 106 und k = 5 gegeben. Eine
Korrektur im Sinne der relativen Miner-Regel findet nicht statt, D m = 1.
Lösung
Da in der FKM-Richtlinie das Kollektiv alle erforderlichen Lastzyklen beinhalten
soll, müssen die Stufenhäufigkeiten n i noch skaliert werden. Der Skalierungsfaktor
f N ist das Verhältnis aus Summenhäufigkeit des Kollektivs in Tabelle 9.3 zur jetzt
geforderten Lastzyklenzahl:
2.954.336
fN = = 146,98.
20.100
Somit wird für die Berechnung das nachfolgende, in Lastzyklen skalierte Kollektiv
verwendet:
9.7 Nachweisart und Konstruktionsprinzipien 257
i σa,i /MPa ni
1 200 1.470
2 160 13.228
3 120 146.982
4 80 1.322.837
5 40 1.469.819
A ele = 94,539,
K BK = 2,0
Das Ergebnis stimmt exakt mit dem Beispiel in Tabelle 9.3 überein, da die Bauteilbe-
triebsfestigkeit dem dortigen Kollektivhöchstwert entspricht:
σBK = σa,1 .
Die Konstruktion und der Festigkeitsnachweis eines Bauteils werden durch drei Aspekte
bestimmt: den Einsatzbereich des Produktes, die Belastungscharakteristik und den Sicher-
heitsaspekt, welcher für das angewendete Konstruktionsprinzip entscheidend ist.
Die Art des zu führenden Festigkeitsnachweises hängt von der Belastungscharakteristik und
dem Einsatzgebiet des Bauteils ab. Der stets zu führende statische Nachweis ist bei vorwiegend
ruhender oder wenig wiederholter Belastung entscheidend. Das ist auch der Fall, wenn sehr
hohe Belastungen von lediglich deutlich kleineren variablen Lasten überlagert sind, die
aufgrund der Bauteildimensionierung dauerfest ertragen werden könnten. Die Entscheidung
für einen Dauer-, Zeit- oder Betriebsfestigkeitsnachweis hängt von Form und Umfang des
Belastungskollektivs ab, wie in Abschnitt 8.1 beschrieben.
258 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
Der Einsatz des Bauteils ist entscheidend dafür, wie der Festigkeitsnachweis geführt wird.
Neben dem rein experimentellen Festigkeitsnachweis mit dem konkreten Bauteil unter der
im Betrieb auftretenden Belastung (siehe Abschnitt 10.3) und dem rein rechnerischen Festig-
keitsnachweis, z. B. mit der FKM-Richtlinie, sind auch Zwischenformen möglich. So kann z. B.
die rechnerische Lebensdauerabschätzung anhand einer experimentell ermittelten Bauteil-
wöhlerlinie erfolgen.
Typisch für den experimentellen Festigkeitsnachweis sind sicherheitsrelevante Bauteile in
der Großserie, z. B. Fahrwerkskomponenten. Das schließt jedoch nicht aus, dass während der
Entwicklung eine rechnerische Vordimensionierung erfolgt. So können verschiedene Kon-
struktionsvarianten verglichen und Bauteile in Bezug auf die Festigkeit und Gewicht/Kosten
optimiert werden. Der Betriebslastenversuch dient dann zur Absicherung und als Freigabe-
prüfung.
Der rein rechnerische Nachweis anhand von Normen und Richtlinien ist typisch im Sonder-
maschinenbau und dort, wo Bauteile in begrenzter Stückzahl hergestellt werden. Hier wäre
der experimentelle Nachweis am fertigen Produkt viel zu teuer und zeitaufwändig. Aber auch
in vielen mittleren und kleinen Betrieben erfolgt der Festigkeitsnachweis rein rechnerisch.
Neben dem Kostenaspekt besteht häufig auch gar nicht die Kapazität zur experimentellen
Erprobung in Form von Prüfständen.
Daneben ist der Festigkeitsnachweis nach Normen im geregelten Bereich gesetzlich vorge-
schrieben. Das betrifft z. B. den Flugzeug- und den Schienenfahrzeugbau, Druckbehälter,
kerntechnische Anlagen und Bereiche des Stahlbaus. Oft sind darin auch die anzunehmenden
Lasten vorgeschrieben (z. B. Wind- und Schneelasten).
9.7.2 Werkstoffauswahl
Die konstruktive Gestaltung eines Bauteils hat einen weitaus größeren Einfluss auf die
Schwingfestigkeit als die Wahl des Werkstoffs. So kann vielfach allein durch die Änderung der
lokalen Geometrie die Spannung im Bauteil nennenswert gesenkt und dadurch die zulässige
Belastung des Bauteils erhöht werden. Im Vergleich dazu ist der Wechsel zu einem höher-
festen Werkstoff meist deutlich teurer und aufgrund der geringeren Stützwirkung bei stark
gekerbten Bauteilen sogar wirkungslos bis kontraproduktiv. Die leider häufig anzutreffende
Aussage, ein Werkstoff mit höherer statischer Festigkeit bzw. höherer Schwingfestigkeit erhöht
auch die Schwingfestigkeit eines Bauteils, gilt nur bei schwach- und ungekerbten Bauteilen.
Die Schwingfestigkeit einer ungekerbten Werkstoffprobe beschreibt ein gekerbtes Bauteil nur
unzureichend.
Sind scharfe Kerben unvermeidbar, sollte aus Sicht der Schwingfestigkeit besser ein niedrig-
fester Werkstoff verwendet werden. Das hat außerdem die Vorteile geringer Werkstoff- und
Bearbeitungskosten sowie geringeren Maschinenverschleißes bei der Bearbeitung. Darüber
9.7 Nachweisart und Konstruktionsprinzipien 259
hinaus sind die Verfahren der Oberflächenverfestigung (Abschnitt 3.6) oft effektiver und
wirtschaftlicher als die Wahl eines anderen Werkstoffs und konstruktive Maßnahmen.
Auch bei Beanspruchungen mit hohen Mittelspannungen kann ein Teil der höheren Werkstoff-
festigkeit aufgrund der ebenfalls höheren Mittelspannungsempfindlichkeit des Werkstoffs
aufgehoben werden. Ein hochfester Werkstoff kann unabhängig davon dennoch aus anderen
Gründen erforderlich sein, um z. B. Anforderungen bezüglich der Sicherheit im Crashverhal-
ten genüge zu tun.
9.7.3 Konstruktionsprinzipien
Bei der betriebsfesten Bemessung von Konstruktionen sind folgende Probleme zu berücksich-
tigen:
• Sowohl die Belastung (Beanspruchung) als auch die Bauteilfestigkeit (Beanspruchbar-
keit) sind mit Streuungen behaftet und können nur statistisch beschrieben werden.
• Bei Annahme der nach unten und oben offenen Normalverteilung kann es keine abso-
lute Sicherheit geben. Das Versagen einer Konstruktion kann daher nur mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit vermieden werden.
• Alle Schadensakkumulationstheorien sind fehlerbehaftet.
• Auch bei Laborversuchen und zeitraffenden Erprobungen (siehe Abschnitt 10.3) gibt es
Übertragungsprobleme zur realen Nutzung.
• Exakte Einsatzerprobungen sind fast nie mit ausreichend großer Stichprobe möglich,
um statistisch gesicherte Aussagen zur Lebensdauer treffen zu können.
Aus diesen Gründen und als Konsequenz aus den Flugzeugabstürzen der Comet-Serie in den
1950-iger Jahren wurde zu dem bis dahin angewandten schwingbruchsicheren Konstrukti-
onsprinzip (safe-life design) das schadenstolerante Konstruktionsprinzip (damage-tolerant
design) entwickelt, welches vor allem Gesichtspunkte der Rissausbreitung berücksichtigt.
Beispiel für diesen Fall sind Pleuel moderner Verbrennungsmotoren. Die Motoren werden
meist abgeregelt, die Maximalbeanspruchung streut nur im Rahmen der Fertigungstoleranzen
und die Sicherheitszahl berücksichtigt nur die Streuung der Festigkeit.
Im Fall 2 streuen sowohl Belastung als auch Festigkeit. Die Sicherheitszahl beschreibt dann
den Abstand bzw. die Überschneidung der beiden statistischen Verteilungen, wie in Abbil-
dung 4.17 gezeigt. Die statistische Verteilung der Beanspruchung verdeutlicht das Beispiel,
dass ein »sportlicher« Autofahrer mit Sicherheit das Fahrwerk härter beanspruchen wird als
ein »normaler« Autofahrer. Einen guten Überblick über die schwingbruchssichere Auslegungs-
philosophie im Automobilbau wird in [176] gegeben.
Die schwingbruchsichere Konstruktion wird für wartungsfreie Konstruktionen verwendet.
Mit ihr kann nicht das volle Leichtbaupotential ausgeschöpft werden, da insbesondere bei
streuender Belastung stets der härteste Fall berücksichtigt werden muss. Das wird am Bei-
spiel von PKW besonders deutlich. Im Gegensatz z. B. zum zivilen Flugzeugbau streuen die
Bauteilbelastungen in PKW-Fahrwerken extrem. Um Ausfälle auszuschließen, müssen sehr
harte Lastannahmen getroffen werden. Das führt zur Überdimensionierung der meisten PKW
für den normalen Gebrauch [68].
Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Konzepts, welches auf Grundlage der Bruchmecha-
nik den Rissfortschritt berücksichtigt, sind vor allem streng einzuhaltende Inspektionsinter-
valle. Es existieren zwei Ansätze:
die zufällig auftreten können, die kritische Risslänge überschreiten und damit zum plötzli-
chen Totalausfall führen können. Unter Berücksichtigung des Bemessungskollektivs (ohne
Sonderereignisse) ergibt sich ein kollektivtypischer Zusammenhang zwischen Rissfortschritt
und Lastzyklen. Die seltenen Ereignisse können durchaus vorher zum Totalausfall führen. Die
kritische Risslänge am Erzeugnis darf also nur unter Berücksichtigung der Sonderereignisse
festgelegt werden.
zulässig
azul
Detektionsgrenze
amin
Abb. 9.18: Festlegung der Inspektionsintervalle bei schadenstoleranter Konstruktion bis zum Aus-
tausch des Bauteils, nach [54]
Verständnisfragen
1. Wodurch grenzt sich der Betriebsfestigkeitsnachweis vom Dauerfestigkeitsnachweis
ab?
2. Warum ist es ab einer bestimmten Kerbschärfe im Bauteil nicht mehr von Vorteil, einen
Werkstoff mit höherer Schwingfestigkeit zu verwenden?
3. Ordnen Sie die Anstiege der Wöhlerlinien folgender Proben vom steilsten Anstieg zum
flachsten Anstieg: a) ungekerbte Werkstoffprobe, b) geschweißte Probe, c) Flachstab
mit mittiger Kreisbohrung (Radius 20 mm).
4. Welche Annahmen und Einschränkungen liegen der linearen Schadensakkumulation
zugrunde?
5. Bei welcher Gesamtschädigung fällt ein Bauteil nach der linearen Schadensakkumulati-
onshypothese aus?
6. Wodurch unterscheiden sich die originale, elementare und modifizierte Form der Miner-
Regel? Wie unterscheiden sich die Lebensdauern?
7. Wozu wurden die Modifikationen der Miner-Regel entwickelt? Welcher Effekt soll damit
erfasst werden und welcher kann nicht erfasst werden?
8. Warum können Amplituden unterhalb der Dauerfestigkeit, welche im Wöhlerversuch
nicht schädigen, bei variabler Beanspruchung doch zur Schädigung beitragen?
9.8 Aufgaben und Verständnisfragen zu Kapitel 9 263
9. Welcher Wöhlerlinientyp wird für die Verwendung der modifizierten Miner-Regel vor-
ausgesetzt?
10. Warum kann bei der konsequenten Miner-Regel keine Kollektivschädigung berechnet
werden?
11. Was ist der prinzipielle Unterschied zwischen der Wöhlerlinie und der Lebensdauerlinie
eines Bauteils?
12. Wie beeinflusst die Kollektivform (Völligkeit) die Lebensdauer, wenn der Kollektivum-
fang unverändert bleibt?
13. Wozu dient die relative Miner-Regel?
14. Wie wird die relative Schädigungssumme berechnet? Nennen Sie den Richtwert für
mechanisch gekerbte Maschinenbauteile aus Stahl.
15. Was versteht man unter schwingbruchsicherer Konstruktion?
16. Welche Anforderungen muss eine schadenstolerante Konstruktion erfüllen?
Aufgaben
1. Für Schweißproben aus Stahl wurde die Wöhlerlinie für P A = 50 % experimentell mit
ND = 2,15 ⋅ 106 , S D = 58,23 MPa und k = 3,87 ermittelt. Weiterhin wurden Betriebslas-
tenversuche mit einer Lastfolge durchgeführt, für die das Ersatzamplitudenkollektiv
(R = −1) nachfolgend angegeben ist:
i S a,i /S a,1 ni
1 1,000 2
2 0,907 16
3 0,781 280
4 0,656 2.720
5 0,520 20.000
6 0,367 92.000
7 0,224 280.000
8 0,086 605.000
S a,1 /MPa NV
200 1,37 ⋅ 106
180 2,22 ⋅ 106
150 5,04 ⋅ 106
264 9 Rechnerischer Betriebsfestigkeitsnachweis
2. Die Lebensdauer des Achsschenkel eines PKW soll rechnerisch abgeschätzt werden. Für
eine diesem Bauteil ähnliche Probe (abgesetzte Welle mit gleicher Kerbform) gleichen
Werkstoffs und gleicher Fertigungsart ist die Wöhlerlinie für das Spannungsverhältnis
R = −1 und die Ausfallwahrscheinlichkeit P A = 50 % bekannt:
σa −k
N = ND ⋅ ( )
σDK
mit ND = 788.400, σDK = 510 MPa und k = 5,62. Die Streuspanne in Lebensdauerrichtung
beträgt T N = 2,04.
Der Achsschenkel wird durch ein 16-stufiges Amplitudenkollektiv belastet, dessen Er-
satzamplitudenkollektiv (R = −1) in nachfolgender Tabelle angegeben ist und welches
einer Fahrstrecke von ca. 1.500 km entspricht. Die Tabelle enthält für alle Kollektivstu-
fen i die Verhältnisse der Spannungsamplituden σa,i zur maximalen Spannungsampli-
tude des Kollektivs σa,1 sowie die Häufigkeiten n i , mit denen die Spannungsamplituden
auftreten. Die maximale Spannungsamplitude beträgt σa,1 = 720 MPa.
Ersatzamplitudenkollektiv
i σa,i /σa,1 ni i σa,i /σa,1 ni
1 1,000 1 9 0,500 954
2 0,967 2 10 0,433 2.396
3 0,900 4 11 0,367 6.019
4 0,833 10 12 0,300 15.119
5 0,767 24 13 0,233 37.977
6 0,700 60 14 0,167 95.394
7 0,633 151 15 0,100 239.618
8 0,567 380 16 0,033 601.893
Die experimentelle Ermittlung von Bauteilwöhlerlinien oder auch der rein experimentelle
Betriebsfestigkeitsnachweis ist nach wie vor von großer Bedeutung. Nur damit ist im Unter-
schied zu den bisher vorgestellten rechnerischen Verfahren eine abgesicherte Aussage über
Mittelwert und Streuung der Festigkeit möglich. Dies ist insbesondere bei Großserien not-
wendig. Auch wenn im Entwicklungsprozess häufig nur der rechnerische Festigkeitsnachweis
(z. B. beim Vergleich von Konstruktionsvarianten) zum Einsatz kommt, erfolgen am fertigen
Produkt zumindest experimentelle Freigabeprüfungen. Experimentelle Untersuchungen sind
außerdem bei der Verwendung neuer Werkstoffe notwendig, für die noch keine abgesicherten
Schwingfestigkeitskennwerte vorliegen. Auch für Fälle, die von Normen und Richtlinien nicht
abgedeckt sind, z. B. bestimmte Welle-Nabe-Verbindungen, muss die Schwingfestigkeit im
Versuch bestimmt werden.
Dabei sind seitens des Versuchsingenieurs u. a. folgende Punkte von besonderer Relevanz:
• der notwendige Stichprobenumfang,
• das Versuchsverfahren und die Auswertemethode,
• die anzunehmende statistische Verteilungsfunktion und die Ableitung von Sicherheits-
faktoren,
• die Entscheidung, ob Versuche am realen Bauteil notwendig sind oder ob bauteilähnli-
che Proben genügen und
• die Genauigkeit, mit der die realen Betriebsbelastungen und Umgebungseinflüsse im
Versuch abgebildet werden sollen bzw. können.
Dieses Kapitel behandelt die wichtigsten Versuchs- und Auswerteverfahren für die Zeit- und
Dauerfestigkeit und führt in die Thematik der Betriebslastennachfahrversuche ein. Als Bean-
spruchungsgröße wird abweichend zu den vorangegangenen Kapiteln die Nennspannung
verwendet. So steht S a für die Spannungsamplitude und S D für die Dauerfestigkeit einer
Probe bzw. eines Bauteils. Das ist bei der Beschreibung kraftgesteuerter Versuche üblich.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 267
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_10
268 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
10.1.1 Wöhlerversuche
Beim Wöhlerversuch, als Grundlage zur experimentellen Bestimmung der Wöhlerlinie, wird
ein Bauteil oder eine Probe mit konstanter Amplitude und einem festen Mittelwert bean-
sprucht. Die Belastung erfolgt meist auf Zug-Druck, Biegung oder Torsion. Im Zeitfestigkeits-
gebiet endet der Versuch mit dem Versagen des Bauteils. Als Versagen wird bei kraftgeregelten
Versuchen meist der Bruch gewertet. Aber auch der technisch detektierbare Anriss, eine
bestimmte Risslänge oder das Überschreiten einer zulässigen Verformung sind möglich. Als
Ergebnis eines Wöhlerversuchs steht die Versagens- bzw. Bruchlastzyklenzahl bei einer be-
stimmten Lastamplitude (S a ; N ). August Wöhler [301] erkannte den Zusammenhang zwischen
aufgebrachter konstanter Schwingbreite der Last bzw. Lastamplitude und der Bruchlastzy-
klenzahl im Bereich der Zeitfestigkeit, weshalb die Darstellung des S a -N -Diagramms als
Wöhlerlinie bezeichnet wird.
Die Belastung wird in lastgesteuerten Versuchen bei konstanter Amplitude mit einer Schwing-
prüfmaschine aufgebracht. Wöhlers erste Schwingprüfmaschine für Umlaufbiegung wur-
de durch eine Dampfmaschine über eine Riemenscheibe angetrieben und erreichte eine
Prüffrequenz von 15 Umdrehungen pro Minute (0,25 Hz), [301]. Mit modernen, servohydrau-
lischen und vor allem Resonanz- und Ultraschallprüfmaschinen werden deutlich höhere
Belastungsfrequenzen bis in den kHz-Bereich erreicht. Die Durchführung und Auswertung
von Schwingfestigkeitsversuchen sind in Deutschland durch die DIN 50100 geregelt.
Zur experimentellen Ermittlung des Zeitfestigkeitsbereiches gibt es zwei Methoden. Bei der
Horizontmethode werden auf verschiedenen Lasthorizonten jeweils mehrere Wöhlerversuche
durchgeführt und für jeden Horizont statistisch ausgewertet. Als Perlenschnurmethode wird
die Prüfung von jeweils einer Probe auf vielen unterschiedlichen Lasthorizonten bezeichnet.
10.1.2 Horizontmethode
Die Ermittlung der Zeitfestigkeitsgeraden erfolgt durch die nachfolgend erläuterten Schritte:
1. Festlegen mehrerer Lasthorizonte
2. Durchführung mehrerer Wöhlerversuche pro Horizont
3. statistische Auswertung jedes Horizontes für sich
4. Regression der Wöhlerlinie durch Punkte gleicher Ausfallwahrscheinlichkeit aller Hori-
zonte
Die Prüfung erfolgt auf üblicherweise 2 bis 5 verschiedenen Lasthorizonten im Zeitfestig-
keitsgebiet. Zwei Horizonte sind das Minimum, um Lage und Neigung der Wöhlerlinie zu
10.1 Ermittlung der Zeitfestigkeit 269
bestimmen, drei Horizonte sind anzustreben. Die Spannungsamplituden der Horizonte soll-
ten für eine gute Schätzung der Wöhlerlinienneigung möglichst weit auseinander liegen, ohne
dabei in das Übergangsgebiet zur Kurzzeit- oder zur Dauerfestigkeit zu gelangen. Dies setzt
voraus, dass die Lage der Wöhlerlinie bereits ungefähr bekannt ist. Es wird ein Horizontab-
stand von mindestens Faktor 1,2, besser 1,5 empfohlen.
Auf jedem Horizont erfolgt die Prüfung von mindestens 4, besser 6-10 Proben unter glei-
chen Bedingungen. Die Anzahl ist von der geforderten Aussagegenauigkeit, insbesondere im
Hinblick auf die Streuung, abhängig.
Die statistische Auswertung erfolgt für jeden Horizont getrennt, wie in Abbildung 10.1 gezeigt.
Dadurch ist es möglich, die typischerweise mit sinkender Spannungsamplitude ansteigende
Streuung zu erfassen. Die Auswertung erfolgt bei metallischen Werkstoffen üblicherweise
unter Annahme einer Normalverteilung für die Logarithmen von N (logarithmische Normal-
verteilung). Dafür gibt es neben der in Abbildung 10.1 dargestellten Auswertung im Wahr-
scheinlichkeitsnetz auch die Möglichkeit unter Verwendung der in Abschnitt 4.2 angegebenen
Formeln, den Mittelwert und die Standardabweichung aus einer Stichprobe zu schätzen. Dies
wird als Momentenmethode bezeichnet. Die am besten zutreffende Auswertung der Versuche
ist die Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz [133].
Horizontauswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz
Die Auswertung erfolgt wie in Abschnitt 4.5 beschrieben. Die gemessenen Lastzyklenzahlen
der verschiedenen Versuche auf einem Horizont werden zunächst der Größe nach geordnet -
aufsteigend für die Berechnung der Ausfallwahrscheinlichkeit und fallend für die Berechnung
der Überlebenswahrscheinlichkeit. Jedem Versuch wird anschließend eine geschätzte Wahr-
scheinlichkeit zugewiesen. Dafür wird die Rossow-Formel aus Gleichung (4.45) verwendet:
3i − 1
P (i ) = .
3n + 1
lg(N ) = a ⋅ u + b (10.1)
= s lg N ⋅ u + lg(N50% ).
270 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Wahrscheinlichkeitsnetz
Ausfallwahrscheinlichkeit in %
99,99
99,9
99
90
50
10
1
0,1
0,01
10.000 100.000 1.000.000
Lastzyklenzahl N (log.)
Wöhlerdiagramm
300
Spannungsamplitude Sa in MPa (log.)
200
150
PA = 10 % PA = 50 %
100
10000 100000 1000000
Lastzyklenzahl N (log.)
Ein Vorteil des Wahrscheinlichkeitsnetzes gegenüber der Auswertung mit der Momenten-
methode besteht in der Möglichkeit Horizonte zu erkennen, die im Übergangsgebiet zur
Kurzzeit- oder zur Dauerfestigkeit liegen. Diese sind nicht mehr log-Normalverteilt (siehe
auch Abbildung 4.12) und sollten nicht in die Ermittlung der Zeitfestigkeitsgeraden eingehen,
da sonst die Wöhlerlinie zu flach bzw. der Wöhlerlinienexponent zu groß geschätzt wird.
Mit den pro Horizont ermittelten Parametern Mittelwert N50% und Standardabweichung s lg N
kann die jeweils zu erwartende Lebensdauer für eine bestimmte Ausfallwahrscheinlichkeit
NP A mittels Gleichungen (4.23) bzw. (4.24) ermittelt werden:
Die in der Betriebsfestigkeit häufig verwendete Streuspanne T N kann mit N(P A =10%) und
10.1 Ermittlung der Zeitfestigkeit 271
N(P A =90%) direkt aus Gleichung (4.25) berechnet werden. Der Zusammenhang mit der Stan-
dardabweichung folgt durch Umstellen von Gleichung (4.28):
lg T N
s lg N = . (10.2)
2,564
C = N1 ⋅ S a,1
k
= N2 ⋅ S a,2
k
(10.5)
Bei mehr als zwei Horizonten ist die Wöhlerlinie über eine lineare Regressionsrechnung durch
die logarithmierten Punkte zu bestimmen. Der Fehler ist dafür wieder in Lebensdauerrichtung
lg(N ) zu minimieren, wofür die Wöhlerliniengleichung durch Logarithmieren in die Form
y = a ⋅ x + b gebracht wird:
S a −k
N = ND ⋅ ( ) → lg(N ) = lg(ND ⋅ S D
k
) − k ⋅ lg(S a ) (10.6)
SD
Die Regression erfolgt mittels Gleichungen (4.39) bis (4.43), wobei entsprechend
y = lg(N )
x = lg(S a )
a = −k
b = lg(ND ) + k ⋅ lg(S D )
272 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
einzusetzen ist. Sofern die Dauerfestigkeit und damit S D und ND nicht bekannt sind, kann
der Zeitfestigkeitsbereich analog dazu mit Gleichung (2.10) beschrieben werden.
Beispiel
Für eine scharf gekerbte Maschinenkomponente soll die Wöhlerlinie im Zeitfestig-
keitsbereich bestimmt werden. Dazu wurden auf 3 Lasthorizonten mit den Nenn-
spannungen 140 MPa, 170 MPa und 210 MPa jeweils 8 Wöhlerversuche durchgeführt.
Die statistische Auswertung soll im Wahrscheinlichkeitsnetz erfolgen. Gesucht ist
die Wöhlerlinie für eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 10 % und eine Konfidenz von
50 %. Folgende Bruchlastzyklenzahlen wurden ermittelt:
Lösung
Für die Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz werden die Bruchlastzyklenzahlen
logarithmiert und mit Gleichung (4.45) die Ausfallwahrscheinlichkeit P A geschätzt.
Dazu muss den ansteigend sortierten Bruchlastzyklenzahlen eine Ordnungszahl i
zugeordnet werden. Für die Regression im Wahrscheinlichkeitsnetz müssen noch
die Quantile der Standardnormalverteilung zu den Ausfallwahrscheinlichkeiten, wie
in Abschnitt 4.3.1.2 beschrieben, berechnet werden.
Die lineare Regression erfolgt durch Minimierung des Fehlers in Richtung lg(N ),
also nach Abschnitt 4.4 mit y = lg(N ) und x = (u ). Die Darstellung erfolgt dennoch
üblicherweise vertauscht, also mit dem Quantil u über lg(N ), wie nachfolgende
Abbildung zeigt.
2
Sa = 210 MPa Sa = 170 MPa Sa = 140 MPa
1,5
1
0,5
Quantil u
0
-0,5
-1
-1,5
-2
4,4 4,6 4,8 5 5,2 5,4 5,6 5,8 6 6,2
Bruchlastzyklenzahl lg(N)
Aus der Ausgleichsgeraden folgen nach Gleichung (10.2) Mittelwert und Standard-
abweichung. Daraus kann nach Gleichung (4.28) die Streuspanne direkt berechnet
werden. Zur Ermittlung der Wöhlerlinie für 10 % Ausfallwahrscheinlichkeit müssen
für jeden Horizont nach Gleichung (4.24) die zugehörigen Lastzyklenzahlen berech-
net werden.
Die P A,10% -Wöhlerlinie folgt aus der Regression der Punkte (lg(S a,i ); lg(N10%,i )) aller
3 Horizonte. Da die Dauerfestigkeit nicht bekannt ist, wird die Wöhlerlinie in Form
von Gleichung (2.10) angegeben:
S a −k10%
N10% = C 10% ⋅ ( )
MPa
300
200
150
N10% = 2,2622·1014·(Sa/MPa)-4,185
100
10000 100000 1000000
Bruchlastzyklenzahl N (log.)
10.1.3 Perlenschnurmethode
Diese Methode wird vor allem angewendet, wenn nur wenige Prüflinge zur Verfügung stehen,
der typische Fall in der industriellen Praxis. Sie sollte auch bei völlig unbekannter Lage des
Zeitfestigkeitsbereichs angewendet werden, da sonst eine sinnvolle Festlegung von Lastho-
rizonten für die Horizontmethode nicht möglich ist. Die Perlenschnurmethode beinhaltet
folgende Schritte:
1. Durchführung von Wöhlerversuchen auf jeweils verschiedenen Lasthorizonten,
2. Ermittlung der 50 %-Wöhlerlinie durch Regression aller Versuchspunkte,
3. Berechnung der Streuung durch die gemeinsame Auswertung aller Versuche in Bezug
auf die 50 %-Wöhlerlinie.
Abbildung 10.2 verdeutlicht das Verfahren. Gezeigt ist eine Versuchsreihe nach der Perlen-
schnurmethode mit 8 Wöhlerversuchen auf verschiedenen Horizonten, die sich wie entlang
einer Perlenschnur um die Zeitfestigkeitsgerade reihen. Die Lasthorizonte sollten den Zeit-
festigkeitsbereich möglichst gut abdecken. Es werden mindestens 8-12 Versuche empfohlen.
Prinzipiell sind dabei auch mehrere Versuche pro Horizont möglich. Der Vorteil der Metho-
de besteht darin, dass auch bei einer relativ kleinen Stichprobe auf die Grundgesamtheit
geschlossen werden kann. Es lässt sich zeigen, dass die 50 %-Wöhlerlinie mit der Perlen-
10.1 Ermittlung der Zeitfestigkeit 275
Wöhlerversuche
Bruchlastzyklenzahl N (log.)
Allerdings wird damit bei kleinen Stichprobenumfängen (n < 10) die Standardabweichung im
Mittel unterschätzt. In [218] wird dafür ein Korrekturfaktor eingeführt, mit dem die Standard-
276 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
n − 1,74 √ 2
s lg N ,korr = ⋅ sR (10.8)
n −2
Diese Korrektur wurde auch in die aktuelle Version der DIN 50100 (Schwingfestigkeitsversuch)
von 2016 übernommen.
S a,fiktiv −k
Ni ,fiktiv = Ni ⋅ ( ) (10.9)
S a,i
was identisch mit Gleichung (10.7) bzw. Gleichung (4.44) ist. Bei kleinen Stichproben sollte
wieder die Korrektur nach Gleichung (10.8) erfolgen.
Gemeinsame Auswertung
Sa,fiktiv
Versuche
Umrechnung auf Sa,fiktiv
N50%,fiktiv
Bruchlastzyklenzahl N (log.)
Abb. 10.3: Umrechnung der Versuchsergebnisse auf gemeinsamen Lasthorizont zur Berechnung der
Standardabweichung
Zur Umrechnung auf eine andere Ausfallwahrscheinlichkeit P A muss daher lediglich der Fak-
tor in Gleichung (10.11) mit dem Quantil der Standardnormalverteilung u P A (siehe Abschnitt
4.3.1.2) neu berechnet werden:
C 50%
C PA = , (10.12)
10−uP A ⋅slg N
womit die Wöhlerlinie bestimmt ist:
NP A = C P A ⋅ (S a )−k (10.13)
In Abbildung 10.4 sind die unterschiedlichen Streubänder von Horizontmethode und Per-
lenschnurmethode gezeigt. Nur die Horizontmethode kann eine lastabhängige Streuung
abbilden. Prinzipiell liefert die Horizontmethode bei gleichen Voraussetzungen die besseren
Ergebnisse zu Anstieg und Lage der Wöhlerlinie im Zeitfestigkeitsgebiet [217]. Das setzt al-
lerdings voraus, dass die Lage ungefähr bekannt ist, so dass die Lasthorizonte ausreichend
entfernt voneinander gelegt werden können. Sie liegen im Idealfall möglichst nah am Kurzzeit-
und Dauerfestigkeitsgebiet, ohne hinein zu geraten. Das heißt, es darf nicht zur Plastifizierung
des Bauteilquerschnitts (Kurzzeitfestigkeit) oder zu Durchläufern (Dauerfestigkeit) kommen.
In der DIN 50100:2016 werden als Richtwerte N = 50.000 Lastzyklen für den oberen und
N = 500.000 Lastzyklen für den unteren Horizont angegeben. Liegen die Horizonte zu nah
278 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Sa (log.)
N (log.) N (log.)
an den Übergangsbereichen wird der Anstieg zu flach abgeschätzt. Die zur Platzierung der
Horizonte erforderliche Erfahrung zur ungefähren Lage der Wöhlerlinie kann in einer Vorun-
tersuchung mittels Perlenschnurmethode gewonnen oder auf Grundlage von Regelwerken
abgeschätzt werden.
Ein Vorteil der Perlenschnurmethode besteht in der Möglichkeit, die Versuche sequentiell
und damit abhängig von den vorherigen Ergebnissen zu platzieren. Damit kann verhindert
werden, in die Übergangsbereiche zur Kurzzeit- und Dauerfestigkeit zu gelangen. Auch hierbei
sollten die Versuche möglichst weit weg vom Schwerpunkt, der Mitte des Zeitfestigkeitsbe-
reichs, gelegt werden. Punkte nahe dem Schwerpunkt haben bei der Regression nur einen
geringen Einfluss auf die Neigung. Für die Streuung besteht bei der Perlenschnurmethode
die Einschränkung eines konstanten Streubandes über der Zeitfestigkeit. Allerdings wird zur
Berechnung der gesamte Stichprobenumfang verwendet. Das ist jedoch auch mit der Hori-
zontmethode möglich, wenn alle Versuche, wie in Abbildung 10.3 gezeigt, auf einen Horizont
bezogen und gemeinsam zur Berechnung der Standardabweichung herangezogen werden.
Die erforderliche Anzahl von Versuchen hängt von der Streuung der Grundgesamtheit und
der geforderten Treffsicherheit bezüglich Lage, Anstieg und Streuung der Wöhlerlinie ab. In
der DIN 50100:2016 ist dafür die erforderliche Anzahl von Proben in Form von Tabellen auf
Grundlage der Untersuchungen in [230] angegeben.
Bei Vorhandensein sehr weniger Prüflinge (z. B. n = 5) wird folgender Hinweis3 gegeben. Die
Versuche können mittels Perlenschnurmethode auf verschiedenen Horizonten durchgeführt
werden. Die Lage der Wöhlerlinie wird über den (logarithmischen) Schwerpunkt der Versuche
3
Dies ist keinesfalls als Empfehlung zu verstehen.
10.1 Ermittlung der Zeitfestigkeit 279
abgeschätzt:
1 n 1 n
lg N̄ = ∑ lg Ni und lg S̄ a = ∑ lg S a,i (10.14)
n i =1 n i =1
Durch diesen Schwerpunkt wird die Wöhlerlinie mit einem geschätzten Anstieg gelegt (z. B.
nach FKM-Richtlinie k = 5 für gekerbte Bauteile oder k = 3 für geschweißte Bauteile).
Beispiel
Zur Bestimmung der Zeitfestigkeitsgeraden eines gekerbten Bauteils wurden 12
Wöhlerversuche nach der Perlenschnurmethode durchgeführt und folgende Bruch-
lastzyklenzahlen ermittelt:
Lösung
Die Regression der Form y = a ⋅ x + b führt mit y = lg(N ) und x = lg(S a ) nach Glei-
chungen (4.39) bis (4.43) auf
a = −5,106 und
b = 16,38.
k = −a = 5,106 und
C = 10b = 2,397 ⋅ 1016 .
Die Streuspanne wird aus der Reststreuung nach Gleichung (4.44) (bzw. mit der
Excel-Funktion =STFEHLERYX( X ;Y )) berechnet:
√
s lg N = s R2 = 0,1807.
280 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Die Korrektur für kleine Stichprobenumfänge nach Gleichung (10.8) erhöht diesen
Wert leicht auf
s lg N ,korr = 0,1854.
Die Streuspanne in Lebensdauerrichtung kann mit Gleichung (4.28) aus der Stan-
dardabweichung berechnet werden:
T N = 102,563⋅slg N = 2,99.
Wird die Standardabweichung wie in DIN 50100:2016 durch Verschiebung und Aus-
wertung auf einem beliebigen, einzigen Horizont berechnet, wird das identische
Ergebnis erzielt.
300
Spannungsamplitude Sa in MPa (log.)
250
200
175
150
120
N = 2,397·1016 · Sa-5,106
100
10000 100000 1000000
Bruchlastzyklenzahl N (log.)
Die Verfahren zur Ermittlung der Dauerfestigkeit bzw. der Langzeitfestigkeit unterscheiden
sich prinzipiell von denen zur Zeitfestigkeit. Für die Zeitfestigkeit besteht ein eindeutiger
Zusammenhang zwischen der aufgebrachten Spannungsamplitude und der streuenden Zu-
fallsgröße, der Bruchlastzyklenzahl N . Im Dauerfestigkeitsgebiet kommt es auch bei Wöh-
lerlinientyp I nicht immer zum Bruch des Bauteils. Aus Zeit und Kostengründen werden die
Wöhlerversuche bei einer zuvor zu definierenden Grenzlastzyklenzahl NG abgebrochen. Es
10.2 Ermittlung der Dauer- und Langzeitfestigkeit 281
gibt dann nur zwei mögliche Versuchsergebnisse: Ausfall oder Durchläufer bis zum Erreichen
von NG . Diese binären Ergebnisse müssen statistisch ausgewertet werden. Die Grenzlastzy-
klenzahl muss in jedem Fall größer als die Knickpunktlastzyklenzahl ND sein. Typische Werte
für Baustahl liegen im Bereich von NG = 2 ⋅ 106 . . . 3 ⋅ 106 .
Beim Wöhlerlinientyp II wird ebenfalls eine Grenzlastzyklenzahl vorgegeben, ab der ein Ver-
such formal als Durchläufer festgelegt wird. Die nachfolgend vorgestellten Verfahren zur
Auswertung der Versuche werden für die Wöhlerlinientypen I und II gleichermaßen ange-
wendet. Allerdings gilt die bei Wöhlerlinientyp II ermittelte Langzeitfestigkeit nur für die
festgelegte Grenzlastzyklenzahl. Zur Untersuchung des Verlaufs der Wöhlerlinie im Lang-
zeitfestigkeitsgebiet sind zusätzlich Versuche bei einer höheren Grenzlastzyklenzahl mit
NG,2 > NG erforderlich. Die Verfahren in diesem Abschnitt werden für die Dauerfestigkeit
beschrieben, gelten aber analog für die Ermittlung der Langzeitfestigkeit. Es ist zu beachten,
dass in der DIN 50100:2016 für Schwingfestigkeitsversuche generell der Begriff Langzeitfes-
tigkeit verwendet wird, die darin enthaltenen Methoden aber auch für die Dauerfestigkeit
gelten.
In Abbildung 10.5 werden die Unterschiede zwischen Zeit- und Dauerfestigkeit verdeutlicht.
Der obere Horizont liegt komplett im Zeitfestigkeitsgebiet. Die Bruchlastzyklenzahlen können
als stetige Merkmalsgröße, wie in Abschnitt 10.1.2 beschrieben, ausgewertet werden. Die drei
unteren Lasthorizonte liegen im Dauerfestigkeitsgebiet bzw. im Übergang dazu. Hier wird
das Verhältnis aus Brüchen und Durchläufern der Horizonte ausgewertet. Die Dauerfestigkeit
streut daher in Lastrichtung und nicht wie die Zeitfestigkeit in Lebensdauerrichtung.
Bruch
50 % - WL
Spannungsamplitude Sa (log.)
Durchläufer
SD,50% 6
11
ND,50% NG
Lastzyklenzahl N (log.)
Als statistische Verteilungsfunktion kann sowohl die Normalverteilung als auch die log-
Normalverteilung angenommen werden. Im Unterschied zur Zeitfestigkeit liegen in der
Literatur keine so umfangreichen Versuchsdaten vor, aus denen die zutreffende Verteilung
abgeschätzt werden kann. Allerdings streut die Dauerfestigkeit in Spannungsrichtung nicht
über mehrere Dekaden, wie es bei der Zeitfestigkeit in Lebensdauerrichtung der Fall ist. Es ist
daher für typische Stichprobenumfänge letztendlich nicht entscheidend, welche von beiden
Verteilungen unterstellt wird, siehe auch Abbildung 4.7. Meist wird aus Gründen der Konsis-
tenz von einer log-Normalverteilung wie bei der Zeitfestigkeit ausgegangen. Damit wird auch
vermieden, dass die Dauerfestigkeit für sehr geringe Ausfallwahrscheinlichkeiten negative
Werte annimmt, wie es unter Annahme der Normalverteilung möglich wäre.
Die nachfolgend vorgestellten Verfahren zur Ermittlung der Dauerfestigkeit können prinzipiell
auch für Wöhlerlinien ohne ausgeprägte Dauerfestigkeit (Typ II) angewendet werden. In
diesem Fall wird die (Langzeit-)Schwingfestigkeit bei der Lastzyklenzahl NG ermittelt.
Das Treppenstufenverfahren ist eine Form der Versuchsdurchführung zur Bestimmung der
Dauerfestigkeit. Die Versuche werden sequentiell als Folgeversuche durchgeführt, wobei
der Lasthorizont eines neuen Versuchs vom Ergebnis des vorherigen abhängt. Durch dieses
Vorgehen gruppieren sich die Versuche um die mittlere Dauerfestigkeit. Die Methodik wurde
1948 von Dixon und Mood [124] zur Erprobung von Grenzbelastungen, wie der Schlagemp-
findlichkeit von Sprengstoffen oder der Wirksamkeit von Insektiziden entwickelt. Ransom
und Mehl [240] veröffentlichten erstmalig die Anwendung des Treppenstufenverfahrens zur
Ermittlung der Dauerfestigkeit metallischer Werkstoffe4 . Eine verbesserte Auswertung mit
treffsicheren Schätzwerten für Mittelwert und Streuung wird von Hück in [182] vorgestellt. Sie
wird auch als IABG-Methode bezeichnet und entspricht dem Stand der Technik.
Versuchsdurchführung
Einen beispielhaften Versuchsablauf zeigt Abbildung 10.6. Eine Versuchsreihe beinhaltet
folgende Schritte:
1. Festlegen einer geeigneten Grenzlastzyklenzahl NG > ND
2. Einteilung des erwarteten Dauerfestigkeitsgebietes in Lasthorizonte (Stufen) gleichen
Abstands d
3. Start auf einem Lasthorizont nahe der vermuteten Dauerfestigkeit, Ergebnis ist Bruch
oder Durchläufer
4. Stufenwahl des nächsten Versuchs, abhängig vom vorherigen Versuch: nach einem
Bruch eine Stufe niedriger bzw. nach einem Durchläufer eine Stufe höher
4
Im deutschsprachigen Raum fand das Verfahren erst durch Bühler und Schreiber [117] Verbreitung.
10.2 Ermittlung der Dauer- und Langzeitfestigkeit 283
Anschnitt
4
3 d
Stufe i
Bruch
2
Durchläufer
1
fiktiver Versuch
0
5. Antragen eines fiktiven Versuchs nach dem letzten Versuch auf einer Stufe entsprechend
der Vorschrift (Punkt 4)
6. Streichen von Versuchen auf Horizonten des Versuchsreihenbeginns, die nicht wieder
erreicht wurden (Anschnitt)
Der nach Punkt 2 zu wählende Stufenabstand d hängt sowohl von der Anzahl der geplanten
Versuche als auch von der Standardabweichung s ab und ist nach Tabelle 10.1 zu wählen.
Da die Standardabweichung vor Versuchsbeginn natürlich nicht bekannt ist, muss sie ge-
schätzt werden. Dafür können die Werte in Anhang 13 als Orientierung gelten. Meist liegt
die Standardabweichung zwischen 3 % (für oberflächenverfestigte Stahlproben mit hoher
Oberflächengüte) und 10 % (für Guß- und grobe Schmiedeteile ohne Bearbeitung, mit Grat
usw.) der mittleren Dauerfestigkeit. Der Stufenabstand d bzw. lg(d ) bei logarithmischer
Normalverteilung ist konstant.
Der Anschnitt in Form von nicht auswertbaren Horizonten entsteht, wenn die Versuche weit
oberhalb oder weit unterhalb der Dauerfestigkeit begonnen und deren Stufe im weiteren
Ablauf des Treppenstufenversuchs nicht wieder erreicht werden. Im Zweifel sollte eher zu
weit oben begonnen werden, da somit Brüche und keine Durchläufer entstehen, wodurch
Zeit gespart wird. Der Anschnitt kann stets nur am Anfang der Versuchsreihe liegen. Werden
danach Horizonte nur einmal erreicht, so müssen sie in die Auswertung mit einbezogen
werden.
Die Versuchsanzahl bestimmt maßgeblich die Treffsicherheit des Ergebnisses. Zur Abschät-
zung der mittleren Dauerfestigkeit sind deutlich weniger Versuche notwendig, als für die
Standardabweichung. Eine Orientierung liefert Tabelle 10.2.
284 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Wie nachfolgend noch gezeigt wird, werden für die Auswertung Brüche und Durchläufer nicht
getrennt gezählt, sondern nur die Anzahl aller Versuche eines Horizonts. Der Ausgang eines
Versuchs (Bruch oder Durchläufer) wird implizit durch die Lage des darauffolgenden Versuchs
berücksichtigt. Daher dient der angehängte, nach Ende der Versuchsreihe anzufügende fiktive
Versuch (Punkt 5) lediglich als Information zum Ausgang des letzten wirklichen Versuchs.
F = ∑ fi , A = ∑ i ⋅ fi , B = ∑ i 2 ⋅ fi (10.15)
i i i
5
s/d bzw. slg / lg(d)
0
0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4
Varianzkenngröße k
Vertrauensbereiche (Konfidenz)
In Abschnitt 4.6 wurde gezeigt, dass aus Stichproben geschätzte Mittelwerte x̄ normalverteilt
um den Mittelwert μ der Grundgesamtheit streuen. Das trifft auch für die aus Treppenstufen-
versuchen geschätzte Dauerfestigkeit zu. Der Standardfehler s m in Gleichung (4.46) entspricht
der Standardabweichung dieser Verteilung. Nach Hück kann der Standardfehler mittels
sm = C m ⋅ s (10.18)
286 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Anz. Versuche +1
0,5
10
0,4 15
20
Hilfsgröße Cm
0,3 30
40
60
0,2 80
100
0,1
0,0
0 1 2 3 4 5 6
s/d bzw. slg / lg(d)
Abb. 10.8: Hilfsgröße C m zur Schätzung des Standardfehlers für den Mittelwert nach [182]
aus der geschätzten Standardabweichung s berechnet werden. Die Hilfsgröße C m wird ab-
hängig von der Versuchsanzahl n + 1 und dem Verhältnis s /d aus Diagramm 10.8 ermittelt.
Bei Festigkeitsbewertungen ist für den mittleren Wert nur die Abweichung nach oben von
praktischem Interesse, weshalb der einseitige Vertrauensbereich entsprechend Gleichung
(4.48) berechnet wird.
Die obere Grenze bei Normalverteilung mit der Vertrauenswahrscheinlichkeit 1 − α ist
μ ≥ x̄ − u (1−α) ⋅ s m . (10.19)
Der Standardfehler der Standardabweichung s s wird aus dem Stufenabstand d und der Hilfs-
größe C s nach Abbildung 10.9 berechnet:
ss = C s ⋅ d . (10.20)
Die obere Grenze der tatsächlichen Standardabweichung der Grundgesamtheit σ für die
Konfidenz (1 − α) ist somit
σ ≤ s − u (α) ⋅ s s . (10.21)
Mit diesen Größen kann schließlich die Dauerfestigkeit für eine geforderte Ausfallwahrschein-
lichkeit mit einer bestimmten Konfidenz angegeben werden. Dabei werden die Standardfehler
für Mittelwert und Standardabweichung, wie bereits in [124] vorgeschlagen, geometrisch
addiert: √
2
x (P A ,1 − α) = x̄ + u P A ⋅ s − u (1−α) ⋅ 2 + (u ⋅ s )
sm PA s (10.22)
10.2 Ermittlung der Dauer- und Langzeitfestigkeit 287
Anz. Versuche +1
10 15 20 25 30 35 40 50 60 70
4
3
Hilfsgröße Cs
100
2
0
0 1 2 3 4 5 6
s/d bzw. slg / lg(d)
Abb. 10.9: Hilfsgröße C s zur Schätzung des Standardfehlers für die Standardabweichung nach [182]
Je nach unterstellter Verteilung entsprechen x und x̄ wieder direkt den Spannungen oder
deren Logarithmen. Die Auswertung kann näherungsweise auch für andere Verteilungen
angewendet werden. Diese müssen symmetrisch sein bzw. sich auf symmetrische Verteilun-
gen zurückführen lassen. Der einzige Unterschied besteht in den dann anderen Werten der
Quantile für die Ausfallwahrscheinlichkeit u P A . Für die Vertrauensbereiche werden weiterhin
die Quantile der Standardnormalverteilung eingesetzt. Nachfolgendes Beispiel verdeutlicht
den vorgestellten Berechnungsablauf.
Beispiel
Für ein Bauteil soll die Dauerfestigkeit mit einer Ausfallwahrscheinlichkeit von
P A = 0,5 % bei 90 %-iger Vertrauenswahrscheinlichkeit ermittelt werden. Dazu stehen
18 Prüflinge zur Verfügung, die im Treppenstufenversuch getestet werden. Eine rech-
nerische Vorabschätzung ergibt für die Dauerfestigkeit eine Nennspannungsamplitu-
de von ca. 120 MPa. Zur Festlegung des Stufenabstands wird die Standardabweichung
als 5 % der Dauerfestigkeit geschätzt.
Lösung unter Annahme der Normalverteilung
Aus Tabelle 10.1 folgt für 18 geplante Versuche s /d = 0,7. Mit der geschätzten Stan-
dardabweichung 0,05 ⋅ 120 MPa resultiert daraus der Stufenabstand d = 4,2 MPa. Mit
dem ersten Versuch eine Stufe oberhalb der geschätzten Dauerfestigkeit beginnend
zeigt sich folgendes Ergebnis:
288 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Da der erste Versuch als Anschnitt nicht ausgewertet werden kann, verbleiben noch
n = 17 gültige Versuche, die zusammen mit dem auf der untersten Stufe liegenden
fiktiven Versuch wieder n + 1 = 18 Versuche ergeben. Die Berechnung erfolgt mit den
in der Tabelle bereits berechneten Hilfsgrößen F , A und B und führt auf folgende
Ergebnisse.
• mittlerer Wert der Dauerfestigkeit nach Gleichung (10.16):
S D,50% = x̄ = 107,4 MPa + 4,2 MPa ⋅ (27/8) = 113,7 MPa
• Varianzkenngröße nach Gleichung (10.17):
k = 0,917
• Standardabweichung s für n + 1 = 18 nach Abbildung 10.7 aus s /d = 1,8:
s = 7,56 MPa
• Dauerfestigkeit für P A = 0,5 % ohne Vertrauenswahrscheinlichkeit nach Glei-
chung (4.19) mit Quantil für Ausfallwahrscheinlichkeit u P A = −2,576:
S D,0,5% = S D,50% − 2,576 ⋅ 7,56 MPa = 94,2 MPa
• Hilfsgrößen zur Berechnung der Standardfehler aus Abbildungen 10.8 und 10.9:
C m = 0,29
C s = 3,4.
• Die Standardfehler nach Gleichungen (10.18) und (10.20):
s m = 2,19
s s = 14,28
• Quantil für 90 %-ige Vertrauenswahrscheinlichkeit:
u 1−α = u 0,9 = 1,282
• Dauerfestigkeit mit Konfidenz nach Gleichung (10.22):
S D,0,5% ≥ 47,0 MPa.
Dieser Wert ist sehr klein im Vergleich zur Angabe ohne Konfidenz und führt wahr-
scheinlich zur Überdimensionierung des Bauteils. Einen engeren Vertrauensbereich
10.2 Ermittlung der Dauer- und Langzeitfestigkeit 289
und damit eine höhere untere Schranke der Dauerfestigkeit lässt sich nur durch
eine höhere Anzahl an Versuchen erreichen. Alternativ können abgesicherte Werte
der Standardabweichung ähnlicher Bauteile verwendet werden. Sind solche Wer-
te bekannt, genügt es, im Treppenstufenversuch den Mittelwert mit Konfidenz zu
ermitteln.
Lösung unter Annahme der log-Normalverteilung
In diesem Fall liegen die Stufen um den konstanten Faktor d auseinander. Es wurde
d = (120 + 4,2)/120 = 1,035 verwendet, um vergleichbare Stufen wie im vorherigen
Fall zu erreichen und die Ergebnisse vergleichen zu können. Es wird angenommen,
dass sich genau der gleiche Versuchsablauf wie zuvor und damit auch dieselben
Hilfsgrößen F , A und B ergeben.
C s = 3,4
• Standardfehler:
lg s m = C m ⋅ s lg = 0,0078
lg s s = C s ⋅ lg(d ) = 0,0508
• Dauerfestigkeit für gesuchte Ausfallwahrscheinlichkeit und Konfidenz entspre-
chend Gleichung (10.22) √
2
x (P A ) = x̄ + u P A ⋅ s lg − u (1−α) ⋅ (lg sm )2 + (u P A ⋅ lg ss ) = 1,82
S D,0,5% ≥ 66,0 MPa.
Mit beiden Verteilungen werden demnach die 50 %-Werte und Standardabweichun-
gen vergleichbar geschätzt. Auch die Dauerfestigkeit für P A = 0,5 % ohne Konfidenz
unterscheidet sich nur geringfügig. Ein großer Unterschied tritt erst durch die Be-
rücksichtigung der Vertrauenswahrscheinlichkeit auf.
◻
10.2.2 Probit-Methode
Die Probit-Methode wurde erstmals von Finney [142] vorgeschlagen. Mit ihr können ebenfalls
Treppenstufenversuche ausgewertet werden. Sie ist aber nicht darauf beschränkt. So können
mit der Methode auch Versuche auf verschiedenen Horizonten im Dauerfestigkeitsgebiet
ausgewertet werden, weshalb sie sich besonders für parallele Versuche auf mehreren Prüf-
ständen eignet. Die Lasthorizonte müssen weder einen definierten Stufenabstand haben,
noch zwangsweise sowohl oberhalb als auch unterhalb der 50 %-Dauerfestigkeit liegen. Der
Grundgedanke ist in Abbildung 10.10 skizziert. Für jeden Horizont i wird anhand der Versuche
die Ausfallwahrscheinlichkeit P A,i geschätzt und anschließend die Wertepaare (S a,i ,P A,i ) im
Wahrscheinlichkeitsnetz ausgewertet. Auch hier kann die Auswertung bei unterstellter log-
Normalverteilung der Dauerfestigkeit mit den logarithmierten Spannungen analog erfolgen.
Versuchsergebnis Wahrscheinlichkeitsnetz
Sa
Quantil u(PA)
Sa3
Sa2
Sa1
2 2 2 2
1 1 1 1
Quantil u
Quantil u
Quantil u
Quantil u
1
0 0 0 0 slg
-1 -1 -1 -1
-2 -2 -2 -2
SD,50% SD,50% SD,50% SD,50%
a) b) c) d)
Abb. 10.11: Beispiele zur Anwendung der Probit-Methode bei log-Normalverteilung: a) mehrere Ho-
rizonte ober- und unterhalb von S D,50% , b) 2 Horizonte, c) alle Horizonte unterhalb von
S D,50% , d) ein Horizont bei bekannter Standardabweichung
Ähnlich dem Horizontverfahren für die Zeitfestigkeit haben Horizonte mit großem Abstand
zum mittleren Wert einen größeren Einfluss auf die Neigung der Ausgleichsgerade als Ho-
rizonte mit geringem Abstand. Das bedeutet, dass Prüfhorizonte nahe dem 50 %-Wert der
Dauerfestigkeit eine geringe Aussagekraft bezüglich der Streuung haben, welche dem Anstieg
der Ausgleichsgeraden im Wahrscheinlichkeitsnetz entspricht.
Bei als bekannt vorausgesetzter Verteilungsfunktion, also z. B. Normalverteilung oder log-
Normalverteilung, sind mindestens zwei gemischte Horizonte6 notwendig, um den 50 %-Wert
und die Streuung der Dauerfestigkeit zu ermitteln. Um deren Höhe sinnvoll festzulegen, muss
die ungefähre Lage der Dauerfestigkeit bekannt sein. Ist dies nicht der Fall, wird empfohlen,
analog zum Treppenstufenverfahren Versuche auf verschiedenen Horizonten zu fahren, bis
das erste Mal ein Durchläufer nach nur Brüchen oder umgekehrt auftreten. Hinweise dazu
und zur Festlegung weiterer Horizonte sind in [132] angegeben.
Ist die Streuung bereits bekannt und es soll lediglich die Lage der Dauerfestigkeit ermittelt
werden, genügt die Prüfung auf nur einem Horizont, da der Anstieg durch die Standardabwei-
chung festgelegt ist, siehe Abbildung 10.11.
6
Es müssen sowohl Brüche als auch Durchläufer auf beiden Horizonten auftreten.
292 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Bruchhäufigkeit7
ri
P A,i = , (10.23)
ni
wobei n i die Anzahl der Versuche und r i die Anzahl der Brüche pro Horizont angeben. Zur
Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz werden die Quantile der Standardnormalverteilung
(Abschnitt 4.3.1.2) für die geschätzten Ausfallwahrscheinlichkeiten ermittelt. Die Regressi-
on ist wieder in Richtung der streuenden Größe durchzuführen. In diesem Fall ist das die
geschätzte Ausfallwahrscheinlichkeit.
ni
P i (r i ,n i ,P A,i ) = ( )p r i (1 − P A,i )ni −r i (10.24)
ri
Damit kann die Grenze berechnet werden, bei der mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % nur
gleiche Ergebnisse auftreten, und zwar indem P i = 0,5 und r i = n i bzw. r i = 0 eingesetzt wird.
Daraus folgen die Bereiche der Ausfallwahrscheinlichkeit mit
1
P A,i ≥ 0,5 ni für r i = n i (nur Brüche) (10.25)
und
1
P A,i ≥ 1 − 0,5 ni für r i = 0 (nur Durchläufer). (10.26)
Die nicht gemischten Horizonte werden nur dann für die Regression im Wahrscheinlich-
keitsnetz berücksichtigt, wenn die Regressionsgerade außerhalb des von den Ungleichungen
(10.25) und (10.26) abgegrenzten Bereichs verläuft. Eine einfache lineare Regression kann
7
Damit wird erreicht, dass die Anzahl der Brüche stets dem Erwartungswert der Binomialverteilung, Glei-
chung (4.35), entspricht. Das ist z. B. bei der Verwendung der Rossow-Formel aus Gleichung (4.45) nicht der
Fall. Diese gilt für metrische Merkmale (wie Bruchlastzyklenzahlen auf einem Zeitfestigkeitshorizont) und
sollte hier nicht angewendet werden, da sie zudem die Ausfallwahrscheinlichkeit bei binominalverteilten
Grundgesamtheiten (Bruch/Durchläufer) systematisch unterschätzt.
10.2 Ermittlung der Dauer- und Langzeitfestigkeit 293
Abb. 10.12: Beispiel zur Berücksichtigung nicht gemischter Horizonte bei der Probit-Methode
daher bei der Regression unterschiedlich stark berücksichtigt werden. Nach Hück [184] wird
der Gewichtungsfaktor g i für gemischte Horizonte mit
√
ni ⋅ r i ri
gi = ⋅ (1 − ) (10.27)
ni − 1 ni
berechnet. Für nicht gemischte Horizonte wird daraus unter Berücksichtigung von Gleichung
(10.25) bzw. (10.26)
n2
gi =
i ⋅ 0,5 n1i (1 − 0,5 n1i ). (10.28)
ni − 1
Bei der Regressionsrechnung wird dann das Minimum der gewichteten Fehlerquadrate ge-
sucht. Aus Gleichung (4.38) wird somit
n
2
∑ g i ⋅ ( y i − a ⋅ x i − b ) → min . (10.29)
i =1
Allerdings ist der Unterschied im Vergleich zur Auswertung ohne die Gewichtungsfaktoren
meist sehr gering bis vernachlässigbar. Das zeigt auch das folgende Beispiel.
Beispiel
Zur Ermittlung der Dauerfestigkeit einer Schweißverbindung mit der Probit-Methode
stehen 40 Proben zur Verfügung. Die Prüfung erfolgt auf 4 Horizonten mit jeweils 10
Proben um die auf 43 MPa geschätzte Dauerfestigkeit.
Versuchsergebnisse Auswertung
Horizont S a,i in MPa Versuche Brüche lg(S a,i ) P A,i u P A,i gi
4 50 10 8 1,70 0,8 0,84 1,33
3 44 10 4 1,64 0,4 -0,25 1,63
2 42 10 2 1,62 0,2 -0,84 1,33
1 40 10 1 1,60 0,1 -1,28 1,00
2,00
Regression mit
Gewichtung
1,00
Regression ohne
Quantil u
0,00 Gewichtung
-1,00
-2,00
1,50 1,60 1,70 1,80
lg Sa
Nach der Erfahrung der Autoren findet das Treppenstufenverfahren nach Hück die meiste
Anwendung. Das liegt vor allem daran, dass damit aufgrund der Versuchsführung bereits mit
wenigen Proben (n = 10 . . . 20) die mittlere Dauerfestigkeit gut abgeschätzt wird. Die Probit-
Methode sollte erst ab n = 20 Versuchen angewendet werden. Wenn die ungefähre Lage des
Mittelwertes bekannt ist, genügen zwei gemischte Horizonte, ansonsten sollten mindestens
drei Horizonte angestrebt werden.
Neuere Untersuchungen von Ellmer [132] und Müller [230] zeigen, dass zur treffsicheren
Abschätzung der Standardabweichung bei beiden Verfahren im Allgemeinen mindestens
n = 40 . . . 50 Versuche notwendig sind. Das ist deutlich mehr, als ursprünglich von Hück
in Tabelle 10.2 angegeben. Stehen genug Versuche zur Verfügung, unterscheiden sich die
Ergebnisse zwischen Treppenstufenverfahren und Probit-Methode kaum [132].
Ein praktischer Vorteil der Probit-Methode ist die Möglichkeit, auf mehreren Prüfständen
parallel zu testen und dadurch Zeit zu sparen. Außerdem kann mit ihr aufgrund der Auswer-
tung im Wahrscheinlichkeitsnetz die Verteilungsfunktion qualitativ nachgewiesen werden.
Dafür muss allerdings auf vielen Horizonten geprüft werden. Liegen diese im Wahrscheinlich-
keitsnetz nicht auf einer Geraden, weist das auf die Annahme einer unpassenden Verteilung
(Normalverteilung bzw. log-Normalverteilung) hin.
Neben den beiden zuvor beschriebenen Verfahren zur Ermittlung der Dauerfestigkeit, exis-
tieren noch weitere, die hier nur kurz genannt werden. Das Treppenstufenverfahren wurde
296 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
ursprünglich von Dixon und Mood [124] mit einer entsprechenden Auswertung entwickelt.
Deubelbeiss beschreibt in [122] eine alternative Auswertemethode. Außerdem ist die Aus-
wertung von Treppenstufenversuchen auch mit der Probit-Methode und der Maximum-
Likelihood-Methode [143] (ausführlich in Bezug auf die Dauerfestigkeit z. B. in [132] beschrie-
ben) möglich.
Die Anwendung der Probit-Methode mit nur zwei Prüfhorizonten wird oft auch als Abgren-
zungsverfahren [214] bezeichnet. Eine solche Unterscheidung ist im Sinne der Methodik
jedoch unnötig. In [132] wird gezeigt, dass Probit-Methode mit zwei Prüfhorizonten für die
Abschätzung eines Quantils der Dauerfestigkeit sehr geeignet ist, ebenso wie das in [122]
beschriebene Verfahren von Deubelbeiss. Das Verfahren nach Klubberg [192] ist eine Kombi-
nation aus Treppenstufen- und Abgrenzungsverfahren.
Eine grobe Abschätzung der Dauerfestigkeit ist anhand des experimentell bestimmten Zeit-
festigkeitsbereiches der Wöhlerlinie möglich. Ist dieser bekannt, kann die Dauerfestigkeit aus
der Extrapolation bis ND ermittelt werden. Für Bauteile aus Stahl unter Zug/Druck- und Bie-
gebeanspruchung kann die Knickpunktlastzyklenzahl anhand des Wöhlerlinienexponenten
k nach Wirthgen [299] wie folgt abgeschätzt werden:
7,5
ln ND = 15,5 − (10.30)
k
Eine solche, relativ grobe Abschätzung der Dauerfestigkeit ist selbstverständlich nur vertret-
bar, wenn keine dauerfeste Bemessung bei hoher Auslastung des Bauteiles erforderlich ist. So
ist z. B. bei der Lebensdauerabschätzung nach Abschnitt 9 die genaue Kenntnis der Dauerfes-
tigkeit nur von untergeordneter Bedeutung, wenn der Kollektivhöchstwert die Dauerfestigkeit
hinreichend übersteigt.
10.3 Betriebslastennachfahrversuche
Die sicherste Methode zur Ermittlung der Lebensdauer eines Bauteils ist der Betriebslas-
tennachfahrversuch (BLNV). Dies ist daraus zu erklären, dass heute die tatsächlich auftre-
tenden, regellosen BZV versuchstechnisch realisierbar sind. Ernst Gaßner hatte mit seiner
Einführung im Jahr 1939 [149] das Fachgebiet der Betriebsfestigkeit begründet. Gaßner teilte
das Beanspruchungskollektiv in Blöcke konstanter Amplituden ein, die nacheinander und
wiederholt aufgebracht wurden. Damit gelang erstmals eine Durchmischung, eine gewisse
Reihenfolgewirkung. Bereits in den 1960er Jahren wurde erkannt, dass dieses »Blocken« der
Betriebsbelastung die Lebensdauer gegenüber der tatsächlich regellosen Belastung zu hoch
ermittelt und die Ergebnisse damit auf der unsicheren Seite liegen. Mit der Entwicklung
10.3 Betriebslastennachfahrversuche 297
der Regelungs-, Speicher- und digitalen Rechentechnik wurde es möglich, ab Beginn der
1960er Jahre gemessene Belastungs-Zeit-Folgen direkt nachzufahren oder aber Lastfolgen
(Folgen von Umkehrpunkten) aus Klassierergebnissen zu generieren. Dabei bestand aus
heutiger Sicht das Problem, dass die generierten Lastfolgen wegen des Zufallsgenerators
jeweils anders abliefen. Auch wenn einige Programme deterministische Abläufe erzeugten,
konnten gleichartige Untersuchungen wegen Freiräumen bei den Startbedingungen und den
damit verbundenen Reihenfolgeeinflüssen in verschiedenen Laboren zu unterschiedlichen
Ergebnissen führen. Der heutige Stand der Technik beim Betriebslastennachfahrversuch wird
gekennzeichnet durch:
• Betriebslastennachfahrversuche von im Zeitbereich abgespeicherten, meist mehrkom-
ponentigen BZV, die im Sinne der Extrapolation und der Versuchszeitverkürzung (siehe
weiter hinten) mit entsprechender Software editiert werden. Diese Nachfahrversuche
sind regelungstechnisch extrem aufwändig. Der Ganzfahrzeugtest eines PKW mit bis
zu 28 Kraftkomponenten ist wegen seiner höheren Frequenzanteile sehr kompliziert.
Beim Ermüdungstest eines Flugzeuges hingegen werden zwar vergleichsweise nieder-
frequente Lastfolgen aber bis zu 200 verschiedenen Kraftkomponenten eingesetzt.
• Anwendung von Standardlastfolgen, die als definierte Folge von Umkehrpunkten, heute
auch mit Zeitbezug, eigentlich deterministisch sind, durch ihre Länge aber der Ermü-
dungswirkung stochastischer Prozesse gleichgesetzt werden können. Beispiele sind in
Tabelle 10.3 gegeben. Ein umfangreicher Überblick findet sich auch in [248].
• Fehlergrößendefinition im Zeitbereich
Die wesentliche Fehlergröße basiert auf dem RMS-Wert (root mean square). Der Ver-
gleich erfolgt zu den diskreten Zeiten des Signals t j . Dabei sind die beiden Varianten
über den RMS-Fehler
k
[ y (t ) − y (t )]2
∑ Z j j
j =1
fe =
→0 (10.31)
k
∑ [ y Z (t j )]
2
j =1
möglich. Weitere aussagekräftige Fehlergrößen ergeben sich aus dem Vergleich vom
Maximum, dem Minimum und der Spanne des jeweiligen Signals zur Sollgröße.
• Fehlergrößendefinition im Frequenzbereich
Hierfür müssen die Zeitsignale zeitfensterweise in den Frequenzbereich überführt
werden. Der Fehler folgt aus dem Vergleich des einseitigen Leistungsdichtespektrums
PSD (engl. Power Spectral Density) des Messsignals und des Zielsignals. Damit kann
die Signalgüte einzelner Frequenzbereiche getrennt eingeschätzt werden. Das ist unter
anderem für die Einschätzung wichtig, ob Eigenfrequenzen des Bauteils gewollt oder
ungewollt angeregt werden. Für weitergehende Ausführungen zur Berechnung der
Größen wird auf geeignete Fachliteratur z. B. [21, 36] verwiesen.
• Fehlergrößendefinition im Amplitudenbereich
Als aussagefähigster Fehlerparameter für die Schädigung in Sinne der Betriebsfestigkeit
wird das fiktive Schädigungsverhältnis angewandt. Es werden dazu das am Bauteil
gemessene Signal und das Zielsignal klassiert und mittels Rainflowzählung (siehe Ab-
schnitt 5.2.2) in den Amplitudenbereich übertragen. Anschließend wird die Schädigung
mittels linearer Schadensakkumulation (meist Miner-Elementar nach Abschnitt 9.3.1)
für Ziel- und Messsignal berechnet. Dazu wird eine fiktive Wöhlerlinie, z. B. mit k = 5
und C = 107 nach Gleichung (2.10), vorgegeben. Als Fehlergröße zur Bewertung wird
das Verhältnis der Schadenssummen verwendet:
D Messsignal
fD = . (10.33)
D Zielsignal
Das Verständnis der verschiedenen Fehlergrößen ist insofern von Bedeutung, als dass sie in
den Programmen zur Prüfstandsregelung angeboten werden. Je nach Anwendungsfall kann
die Bedeutung der 3 Bereiche variieren.
10.4 Aufgaben und Verständnisfragen zu Kapitel 10 301
Verständnisfragen
1. Welche Verfahren zur experimentellen Bestimmung des Zeitfestigkeitsbereichs der
Wöhlerlinie gibt es? Welches kann einen möglichen Anstieg der Streuung mit steigender
Lastzyklenzahl erfassen?
2. Wie wird bei der Horizontmethode für die einzelnen Bruchlastwechselzahlen auf einem
Lasthorizont eine Wahrscheinlichkeit ermittelt?
3. Welche Größe wird bei der Regression der Wöhlerlinie als Fehlergröße verwendet?
4. Warum dürfen die Lasthorizonte bei der Horizontmethode nicht zu nah an den Über-
gangsbereichen zur Kurzzeit- und Dauerfestigkeit liegen? Wie würde sich das auf die
ermittelte Wöhlerlinie auswirken?
5. Wie wird bei der Perlenschnurmethode die Wöhlerlinie für eine Ausfallwahrscheinlich-
keit P A < 50 % berechnet?
6. Nach welchen verschiedenen Methoden kann ein Treppenstufenversuch ausgewertet
werden?
7. Was ist der Unterschied zwischen Grenzlastzyklenzahl und Knickpunktlastzyklenzahl.
Welcher Wert sollte stets größer sein?
8. Wovon hängt der zu wählende Stufenabstand beim Treppenstufenversuch ab?
9. Welches der Ergebnisse wird bei der experimentellen Ermittlung der Dauerfestigkeit
mit höherer statistischer Sicherheit bestimmt, der Mittelwert oder die Streuung?
10. Nennen Sie einen Richtwert, wie viele Versuche beim Treppenstufenversuch im Schnitt
notwendig um ein treffsicheres Ergebnis für die Standardabweichung zu erhalten.
11. Wozu dient der fiktive Versuch bei der Auswertung des Treppenstufenversuchs nach
der IABG-Methode und weshalb darf er überhaupt angefügt werden?
12. In welche Richtung ist die Regression zur Auswertung im Wahrscheinlichkeitsnetz bei
der Probitmethode durchzuführen?
13. Welche Möglichkeiten zur Verkürzung von Betriebslastennachfahrversuchen gibt es?
14. Warum ist es beim Betriebslastennachfahrversuch nicht ausreichend die Signalgüte im
Zeitbereich zu bewerten.
302 10 Experimenteller Festigkeitsnachweis
Aufgaben
1. Zur Ermittlung des Zeitfestigkeitsbereichs der Wöhlerlinie einer gekerbten Maschi-
nenkomponente nach der Horizontmethode wurden auf drei Spannungshorizonten
Wöhlerversuche bis zum Bruch mit folgendem Ergebnis durchgeführt:
Werten Sie die Versuche nach Hück (IABG-Methode) aus und geben Sie die Dauer-
festigkeit für P A = 50 % und P A = 10 %. Ermitteln Sie weiterhin die Lastzyklenzahl des
Abknickpunkts ND der 50 %-Wöhlerlinie unter Einbeziehung der Ergebnisse von Aufga-
be 1.
3. Die Zeitfestigkeit eines auf Zug-Druck beanspruchten Bauteils aus Stahl wurde experi-
mentell ermittelt. Schätzen Sie aus der 50 %-Zeitfestigkeitslinie
−k
N = C ⋅ (S a )
mit k = 5,64 und C = 6,384 ⋅ 1019 MPak die 50 %-Bauteildauerfestigkeit durch Extrapola-
tion des Zeitfestigkeitsbereichs bis ND ab.
Anhang
11 Bruchmechanische Grundlagen
Die nachfolgend dargestellten Zusammenhänge liefern nur einen groben Einblick in die
Bruchmechanik, insoweit sie für das Verständnis der vorangegangenen Kapitel von Belang
sind oder direkt daran anknüpfen. Von der zahlreichen Fachliteratur, die einen tiefergehenden
Einblick in das Thema bieten, können z. B. die Bücher von Gross/Seeling [18] und Anderson
[1] empfohlen werden. Einen besonderen Fokus auf Ermüdungsrisse haben die Bücher von
Radaj/Vormwald [54] und Richard/Sander [56]. Außerdem wird bei Kuna [35] speziell auf die
Anwendung der FEM für bruchmechanische Berechnungen eingegangen.
Mit der Bruchmechanik kann der Anteil der Lebensdauer von der Entstehung eines wachs-
tumsfähigen Ermüdungsrisses bis zum Bruch des Bauteils beschrieben werden. Für Bauteile
mit anfänglichen Rissen bzw. rissähnlichen Fehlern umfasst das die Gesamtlebensdauer. Aus
makroskopischer, kontinuumsmechanischer Betrachtung sind Risse lokale Trennungen des
Materials in einem Bauteil. Die gegenüberliegenden Oberflächen in einem Riss werden als
Rissoberflächen bezeichnet. Sie treffen bei räumlicher Ausdehnung in der Rissfront bzw. bei
ebener Betrachtung in der Rissspitze aufeinander. Das Ligament bezeichnet die Ebene direkt
hinter dem Riss.
Mit der linearelastischen Bruchmechanik (LEBM) werden die Beanspruchungen an Rissen
auf Grundlage der linearen Elastizitätstheorie berechnet. Voraussetzung dafür ist, dass die
plastischen Vorgänge um die Prozesszone (plastische Zone), in der beim Rissfortschritt der
eigentliche Prozess der Materialtrennung stattfindet, auf sehr kleine Regionen im Vergleich
zur Rissgröße und den Bauteilabmessungen beschränkt sind. Die Beanspruchung an der
Rissspitze wird dann vom umgebenden elastisch beanspruchten Feld bestimmt. Die Beschrei-
bung mit der LEBM ist insbesondere bei spröden Werkstoffen zulässig, kann aber unter den
voran genannten Voraussetzungen auch bei duktilen Werkstoffen angewandt werden.
Es werden hinsichtlich der Deformation der Rissfront die drei in Abbildung 11.1 dargestell-
ten Rissöffnungsarten unterschieden: Modus I (symmetrisch zur x − z-Ebene), Modus II
(antisymmetrisch in x-Richtung) und Modus III (antisymmetrisch in z-Richtung).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 305
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_11
306 11 Bruchmechanische Grundlagen
y y y
x x x
z z z
wird durch die Polarkoordinaten r und ϕ beschrieben (Abb. 11.2). Das Spannungsfeld in
unmittelbarer Rissspitzenumgebung kann mit dem Spannungsintensitätsfaktor K I nach Irwin
[186] nach folgenden Näherungsbeziehungen beschrieben werden:
KI ϕ ϕ 3ϕ
σx = √ ⋅ cos ( ) ⋅ (1 − sin ( ) ⋅ sin ( )) (11.1)
2πr 2 2 2
KI ϕ ϕ 3ϕ
σy = √ ⋅ cos ( ) ⋅ (1 + sin ( ) ⋅ sin ( )) (11.2)
2πr 2 2 2
KI ϕ ϕ 3ϕ
τx y = √ ⋅ sin ( ) ⋅ cos ( ) ⋅ cos ( ) . (11.3)
2πr 2 2 2
√
An der Rissspitze bei r → 0 haben die Spannungsverläufe eine Singularität vom Typ 1/ r und
gehen dort theoretisch gegen unendlich. Die Höhe der Spannungen wird natürlich durch die
Elastizitätsgrenze und die Bruchfestigkeit des Materials beschränkt. Bei kleiner plastischer
Zone wird der Spannungsverlauf im Rissspitzennahfeld damit dennoch gut beschrieben.
Der Spannungsintensitätsfaktor K I bestimmt die Höhe des parabelförmigen Spannungs-
verlaufs. Er kann z. B. aus Gl. (11.2) bestimmt werden, wenn das Spannungsfeld bekannt
ist:
√
K I = lim 2π ⋅ r ⋅ σ y (ϕ = 0) . (11.4)
r →0
√
Der Spannungsintensitätsfaktor K I hat die Dimension N⋅mm−3/2 bzw. MPa⋅ mm. Für den
einfachen Fall eines ebenen geraden Risses der Länge 2a in einer unendlichen Scheibe unter
der Nenn-Zugbeanspruchung S normal zum Riss ist der Spannungsintensitätsfaktor
√
K I = S πa. (11.5)
σy
y τy
σx
r σy(ϕ=0)
ϕ
Riss
x
Abb. 11.2: Koordinatensystem für das Spannungsfeld im Bereich der Rissspitze und Normalspannung
im Ligament
Abbildung 11.3 gibt Geometriefunktionen für einige einfache Fälle an. Diese gelten jeweils
für Risse in unendlichen bzw. halbunendlichen Körpern bzw. in guter Näherung, wenn die
Risse sehr klein gegenüber den Bauteilabmessungen sind. In diesem Fall ist Y ein konstanter
Geometriefaktor. Ansonsten hängt Y von der Risslänge und den Bauteilabmessungen ab.
Für die Geometriefunktionen von Rissen in Bauteilen mit endlichen Abmessungen oder
komplizierteren Geometrien existieren umfangreiche Kompendien, so z. B. [276, 79].
An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Nennspannung in der Bruchmechanik meist auf
den Bruttoquerschnitt bezogen wird, also ohne die Rissgröße von der Querschnittsfläche
abzuziehen. In der Betriebsfestigkeit hingegen ist die Nennspannung gekerbter Querschnitte
auf den Nettoquerschnitt, also den von der Kerbe geschwächten Querschnitt bezogen. Der
Spannungsintensitätsfaktor unterscheidet sich auch ganz prinzipiell von der Formzahl K t .
Zwar werden beide unter Annahme von linearelastischem Materialverhalten berechnet, die
Formzahl ist allerdings eine dimensionslose Größe, die nur von der Kerbgeometrie und der Be-
lastungsart abhängt. Der Spannungsintensitätsfaktor hingegen ist direkt zur Belastungshöhe
proportional und daher auch nicht dimensionslos.
Die Anwendung des Spannungsintensitätsfaktors (K -Konzept) ist auf die linearelastische
Bruchmechanik begrenzt. Darüber hinaus wird in der elastisch-plastischen Bruchmechanik
308 11 Bruchmechanische Grundlagen
S S
S
2·a a
2·a
S S
S
das J -Integral von Rice [241] als Beanspruchungsparameter an der Rissspitze verwendet.
Weitere Ausführungen dazu sind in der eingangs des Abschnitts erwähnten Fachliteratur zu
finden.
Mit dem Spannungsintensitätsfaktor ist die Formulierung von Festigkeitskriterien für Risse
möglich. Bei statischer Belastung kann ein Riss fortschreiten, wenn K I eine kritische Größe,
die Bruchzähigkeit K Ic erreicht.
Unter zeitlich veränderlichen Lasten kommt es bereits bei Beanspruchungen unterhalb der
Bruchzähigkeit zum Risswachstum. Dieser Vorgang wird als Ermüdungsrisswachstum be-
zeichnet. Als Beanspruchungsparameter für Risse bei zyklischer Belastung wird der zyklische
Spannungsintensitätsfaktor ΔK I verwendet, der als Schwingbreite zwischen Minimum und
Maximum des Spannungsintensitätsfaktors während eines Lastzyklus definiert ist.
√
ΔK I = K I,max − K I,min = (S max − S min ) ⋅ πa ⋅ Y
√
= ΔS ⋅ πa ⋅ Y
√
= 2 ⋅ S a ⋅ πa ⋅ Y . (11.7)
Der Rissfortschritt bei zyklischer Belastung mit konstanter Amplitude kann als Wachstumsrate
der Risslänge pro Lastzyklus da / dN über der Schwingbreite des Spannungsintensitätsfak-
tors aufgetragen werden, wie Abbildung 11.4 zeigt. Dabei entsteht der dargestellte charak-
teristische Verlauf mit den in Abschnitt 2.1.1 beschriebenen drei verschiedenen Phasen des
Risswachstums.
Während der Phase I kommt es zur Bildung von Mikrorissen. Dieser Vorgang wird in hohem
Maße von der Mikrostruktur des Werkstoffs bestimmt. Auf das besondere Verhalten von Mikro-
11.2 Stabiles Risswachstum bei zyklischer Beanspruchung 309
Phase III
dA/dN (log.) m
Phase II
1
Phase I
ΔK (log.)
rissen wird kurz in Abschnitt 11.3 eingegangen. Der Schwellwert des zyklischen Rissfortschritts
ΔK I,th stellt die Grenzbeanspruchung dar, unterhalb der es nicht zum (Makro-)Risswachstum
kommt. Damit lässt sich ΔK I,th als bruchmechanische Dauerfestigkeit interpretieren. Mit
zunehmender Risslänge nimmt der Einfluss der Mikrostruktur auf die Rissbeanspruchung
und damit das Risswachstumsverhalten ab.
In Phase II wird schließlich die Beanspruchung des Risses maßgeblich vom elastischen Span-
nungsfeld beeinflusst und das stabile Risswachstum ist mit linearelastischer Bruchmechanik
beschreibbar. Der Zusammenhang zwischen der Rissfortschrittsrate und dem zyklischen
Spannungsintensitätsfaktor kann nach einer Hypothese von Paris [236] mit einem Potenzan-
satz der Form
da m
= C ⋅ (ΔK I ) (11.8)
dN
beschrieben werden. Die Konstanten C und m dieser Rissfortschrittsgleichung sind außer vom
Werkstoff auch noch vom Spannungsverhältnis R abhängig. Typische Werte des Exponenten
liegen in der Größenordnung m = 2 . . . 4. Neben der ursprünglichen Form der Gleichung (11.8)
existieren zahlreiche Varianten, die auch die asymptotischen Verläufe in den Phasen I und III
mit beschreiben (ausführlich beschrieben in [1]).
In Phase III beschleunigt der Rissfortschritt bis zum Gewaltbruch des Bauteils, wenn die
Bruchzähigkeit K Ic erreicht wird. Der jeweilige Anteil der Risswachstumsphasen an der Ge-
samtlebensdauer ist vom Werkstoff, der Bauteilgeometrie und der Belastungshöhe abhängig.
Mit Gleichung (11.8) kann die Lebensdauer Nc eines Bauteils mit der Anfangsrissgröße a 0
310 11 Bruchmechanische Grundlagen
bis zu einer kritischen Rissgröße a c in Phase II berechnet werden. Sie folgt durch Integration
über die Risslänge mit
Nc ac
1
Nc = ∫ dN = ∫ da. (11.9)
C ⋅ ΔK Im
0 a0
die im Allgemeinen numerisch integriert werden muss. Für den Sonderfall von sehr klei-
nen Rissen im Verhältnis zu den Bauteilabmessungen gilt Y ≈ konst. und Gleichung (11.10)
kann für m ≠ 2 geschlossen integriert werden. Die ertragbaren Lastzyklen bis zur kritischen
Rissgröße sind dann
(1−m /2) (1−m /2)
ac − a0
Nc = . (11.11)
C ⋅ ΔS m ⋅ πm /2 ⋅ (1 − m
2 )⋅Y
m
Die integrierte Rissfortschrittsgleichung (11.10) entspricht von der Struktur her Gleichung
(2.10). Sie beschreibt die Wöhlerlinie eines angerissenen Bauteils. Das wird durch Ausklam-
mern der halben Schwingbreite, also der Spannungsamplitude, der Nennspannung deutlich:
⎡ ac ⎤
⎢ 1 1 ⎥ −m
Nc = ⎢
⎢ ∫ √ ⎥
m da ⎥ ⋅ S a . (11.12)
⎢ C ⋅ 2 a ( π ⋅ a ⋅ Y (a ))
m
⎥
⎣ 0 ⎦
Der Ausdruck in der eckigen Klammer entspricht der Konstante C aus Gleichung (2.10). Sie
ist nicht identisch mit der Konstante C der Rissfortschrittsgleichung (11.10). Der Exponent
der Wöhlerlinie des angerissenen Bauteils ist k = m. Er stimmt mit den Angaben zum Wöhler-
linienexponenten in Abschnitt 9.1 gut überein, welcher mit steigender Kerbschärfe kleiner
wird und für angerissene bzw. sehr scharf gekerbte Bauteile mit k ≈ 3 im Bereich der Werte
für m liegt. Weiterhin kann im Sinne der Dauerfestigkeit für ein angerissenes Bauteil die
risslängenabhängige Spannungsamplitude S th angegeben werden, bei der es nicht zu weite-
rem Risswachstum kommt. Sie folgt aus Gleichung (11.6) durch Einsetzen des Schwellwertes
ΔK I,th :
ΔK I,th
S th = √ . (11.13)
2 πa 0 ⋅ Y (a 0 )
dieselben problematischen Annahmen wie der Miner-Regel zu Grunde liegen. Der Einfluss
der Belastungsreihenfolge auf den Rissfortschritt wird nicht berücksichtigt. Bei Änderun-
gen der Spannungsamplituden und Mittelspannungen kommt es auch zum veränderten
Rissfortschrittsverhalten. So führt der Wechsel hin zu geringeren Beanspruchungen zu einer
stärkeren Verzögerung und zu höheren Beanspruchungen zu einer stärkeren Beschleunigung
des Rissfortschritts, als von der Rissfortschrittsgleichung berechnet wird.
Die vorangegangenen Gleichungen gelten nur für Phase II des stabilen Risswachstums. Meist
ist jedoch der Anteil von Phase III an der Gesamtlebensdauer vernachlässigbar klein.
Kurze Risse, auch als Mikrorisse bezeichnet, sind auch unterhalb des Schwellwertes des
zyklischen Spannungsintensitätsfaktors ΔK I,th für lange Risse wachstumsfähig. Bei ihnen sind
die Annahmen der linearelastischen Bruchmechanik verletzt. Kurze Risse können in zwei
Arten eingeteilt werden [74]:
• mikrostrukturell kurze Risse
• mechanisch kurze Risse.
Mikrostrukturell kurze Risse haben Risslängen in der gleichen Größenordnung wie charakte-
ristische Abmessungen der Mikrostruktur. Die Annahme eines homogenen Werkstoffs, auf der
die kontinuumsmechanisch begründete Bruchmechanik aufbaut, ist in diesen Größenordnun-
gen nicht mehr gegeben. Hier treten Mikrostruktureffekte (Korngrenzen, Gefügeeinschlüsse,
Poren etc.) in den Vordergrund. Sie können das Risswachstum beschleunigen oder auch
behindern. Das Risswachstum wird daher maßgeblich von der Mikrostruktur beeinflusst. Es
verzögert sich bei der Annäherung an mikrostrukturelle Hindernisse und kann an diesen auch
stehen bleiben. Auf das Wachstum von Makrorissen haben diese Hindernisse keinen Einfluss.
Mit mechanisch kurzen Rissen werden Risse in der Größenordnung der plastischen Zone an
der Rissspitze bezeichnet. Die Grundannahme der linearelastischen Bruchmechanik, einer
im Vergleich zum Riss kleinen plastischen Zone, ist nicht mehr erfüllt. Dadurch werden die
Beanspruchungen an der Rissspitze auch nicht mehr durch das elastische Rissspitzennahfeld
dominiert.
Im Vergleich zu Makrorissen wachsen Mikrorisse schneller und dies bereits bei niedrige-
ren Belastungen [223, 118]. Mikrorisse bilden sich bereits in Größenordnungen unterhalb
der Kristallgrenze des jeweiligen Werkstoffs. Während in Einkristallen die Initiierungsphase
für Mikrorisse viele Lastzyklen umfassen kann, bilden sie sich in Werkstoffen inhomogener
Mikrostruktur bereits deutlich schneller [224]. Sie können auch dann wachsen, wenn die
Nenn-Beanspruchung unterhalb des Schwellwertes für Makrorisse liegt. Das Makrorissver-
312 11 Bruchmechanische Grundlagen
mikrostrukturelles
Hindernis
ΔS = ΔSD
ΔS < ΔSD
Mikro-
riss Makroriss
a0 Risslänge a (log.)
Abb. 11.5: Rissfortschritt von Mikro- und Makrorissen bei zyklischer Beanspruchung (schematisch),
nach [195]
halten wird hauptsächlich durch das den Riss umgebende Beanspruchungsfeld und nicht
durch die Mikrostruktur bestimmt. Die Abgrenzung zwischen beiden Rissarten ist demnach
mikrostrukturell begründet. Dies wird anhand von Abbildung 11.5 verdeutlicht.
Die Risslänge a 0 markiert den Übergang vom Mikro- zum Makroriss und wird als charakteris-
tische mikrostrukturelle Größe angesehen. Bei zyklischen Beanspruchungen unterhalb der
Dauerfestigkeit des Materials können zwar Mikrorisse gebildet werden und auf eine gewisse
Größe anwachsen, allerdings bleiben diese an mikrostrukturellen Hindernissen stehen. Die
Dauerfestigkeit des Materials ist die Beanspruchungsgrenze für das Anwachsen von Mikroris-
sen zu einem wachstumsfähigen Makroriss. Liegt die zyklische Beanspruchung oberhalb der
Dauerfestigkeit, wird das Mikrorisswachstum lediglich an mikrostrukturellen Hindernissen
verzögert, bevor es in stabiles Makrorisswachstum übergeht.
Die Risslänge a 0 ist ein materialabhängiger Parameter. Sie entspricht nach El Haddad, Smith
und Topper [129] der Länge eines Risses, der unter Beanspruchung auf Höhe der Dauer-
festigkeit gerade noch nicht wachstumsfähig ist. Am Beispiel eines Außenrisses in einer
halbunendlichen Scheibe unter Zug (Geometriefunktion Y = 1,1215, Abbildung 11.3) folgt a 0
aus Gleichung (11.7) mit ΔS = ΔS D und ΔK I = ΔK I,th zu
1 ΔK I,th 2
a0 = ( ) . (11.14)
π ΔS D
In Abbildung 11.6 nach Kitagawa und Takahashi [190] wird die Bedeutung von a 0 verdeutlicht.
Es wird der Einfluss der Risslänge a auf die Grenzbeanspruchung ΔS th dargestellt, bei der es
11.3 Verhalten kurzer Risse 313
ΔSD ΔKI,th
ΔSth =
(π·(a+a0) ·Y
Rissstillstand
Mikrorisse Makrorisse
a0
Risslänge a (log.)
nicht zum Risswachstum kommt, da ΔK I = ΔK I,th ist. Nach der linearelastischen Bruchme-
chanik (LEBM) geht die ertragbare Spannung ΔS th für a → 0 gegen unendlich (gestrichelter
Verlauf). Sie ist jedoch nach oben durch die Dauerfestigkeit des Materials begrenzt. Experi-
mentelle Daten zeigen einen asymptotischen Übergang in Richtung der Dauerfestigkeit, wie
es in Abbildung 11.6 dargestellt ist [277]. Zur analytischen Beschreibung schlagen El Haddad
et al. eine Risslängenkorrektur auf a + a 0 für die Berechnung des zyklischen Spannungsinten-
sitätsfaktors vor:
√
ΔK I,th = ΔS th π (a + a 0 ). (11.15)
Der Abfall der dauerfest ertragbaren Spannung mit steigender Risslänge kann damit durch
√
a0
ΔS th = ΔS D (11.16)
a + a0
angegeben werden. Geht die Risslänge a gegen null, konvergiert die Grenzbeanspruchung
ΔS th gegen die Dauerfestigkeit des Materials. Dies bestätigt die Interpretation der Dauerfestig-
keit als Grenzwert für das weitere Anwachsen von Mikrorissen [225], wie bereits in Abbildung
11.5 gezeigt. Gleichzeitig markiert a 0 die Grenze zwischen dem klassischen spannungsbasier-
ten Festigkeitskonzept der Dauerfestigkeit und dem Bruchmechanikkonzept.
12 Grundzüge des elastisch-plastischen
Kerbgrundkonzepts
Das Kerbgrundkonzept basiert auf dem Ermüdungsverhalten des Werkstoffs und verwendet
nur Kennwerte aus einachsig beanspruchten Werkstoffproben, ohne dass Bauteilversuche
notwendig sind. Für den Nachweis wird der elastisch-plastische Verlauf der Spannungen und
Dehnungen am Nachweispunkt des nachzuweisenden Bauteils ermittelt und den ertragbaren
Spannungen und Dehnungen des Werkstoffs gegenübergestellt. Dieser Beanspruchungsver-
lauf wird anhand einer konkreten Last-Zeit-Folge und des zyklischen Materialverformungs-
verhaltens berechnet. Die Kenntnis eines Lastkollektivs wie bei den spannungsbasierten
Konzepten ist daher nicht ausreichend.
Die grundlegende Annahme des Konzepts besagt, dass die Schädigungen in einem gekerb-
ten Bauteil und einer ungekerbten Werkstoffprobe vergleichbar sind, wenn der Spannungs-
Dehnungs-Verlauf übereinstimmt. Diese Annahme bedingt, dass mit dem Kerbgrundkonzept
nur die Lebensdauer bis zum Anriss beschrieben werden kann. Die Phase des zyklischen
Risswachstums verläuft in gekerbten Bauteilen und glatten Werkstoffproben verschieden.
Praktisch wird meist der technische Anriss als Versagenskriterium definiert, welcher mit
einfachen Mitteln messtechnisch erkennbar ist.
Das Kerbgrundkonzept kann für geschweißte und nicht geschweißte Bauteile gleichermaßen
angewendet werden. Besondere Berechtigung hat das Konzept insbesondere bei hohen Be-
anspruchungen mit geringen Lebensdauern (Kurzzeitfestigkeitsbereich). Dort enthalten die
Dehnungsamplituden einen großen plastischen Anteil, welcher für die Lebensdauer bestim-
mend ist. Die Anwendung ist jedoch nicht darauf beschränkt, sondern bis in den Langzeit-
und Dauerfestigkeitsbereich möglich.
Für die elastisch-plastischen Beanspruchungen ist auch die Bezeichnung örtliche Beanspru-
chungen üblich. Das Kerbgrundkonzept wird daher auch als Örtliches Konzept bezeichnet.
Hierbei sind Verwechslungen mit den örtlichen Spannungen in der FKM-Richtlinie zu vermei-
den, die rein elastisch berechnet werden. Seit 2019 existiert die FKM-Richtlinie (nichtlinear)
in der ersten Auflage [91]. Sie ermöglicht den rechnerischen Festigkeitsnachweis unter Be-
rücksichtigung des nichtlinearen (elastisch-plastischen) Werkstoffverformungsverhaltens
im Sinne des Kerbgrundkonzepts. Eine kurze Einführung in die Richtlinie bietet Abschnitt
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 315
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31169-8_12
316 12 Grundzüge des elastisch-plastischen Kerbgrundkonzepts
12.2 Kerbgrundbeanspruchung
angewendet werden. Sie bedeutet, dass das Produkt aus rein elastisch berechneter Spannung
und Dehnung im Kerbgrund dem Produkt der örtlichen Spannung und Dehnung, also der
elastisch-plastisch berechneten Beanspruchung, entspricht. Gleichung (12.1) beschreibt
eine Hyperbel im σ-ε-Diagramm, auf deren Schnittpunkt mit der Hookeschen Geraden
die elastischen Beanspruchungen und auf dem Schnittpunkt mit dem Werkstoffgesetz die
1
Im Prinzip sind auch andere Ansätze für die ZSD-Kurve möglich. Der Einfluss auf die mit dem Kerbgrundkon-
zept berechnete Lebensdauer ist allerdings sehr gering.
12.2 Kerbgrundbeanspruchung 317
Eingangsdaten Berechnungsmodule
F Kerbgrundbeanspruchung
σ
σel
σel
linear-elastisch
berechnete
Kerbspannung σel
σa
ZSD-Kurve
σ
εel εa ε
ε
Örtlicher Spannungs-Dehnungs-Verlauf
Last-Zeit-Folge
F ε
Pi
Schädigungsbewertung
P (log.)
Dehnungswöhlerlinie
εa (log.)
Pi
Ni N (log.)
N (log.)
lineare Schadensakkumulation
σel = E· εel
σel
Neuber-Hyperbel
σel·εel = σ · ε
Spannung
σ Werkstoffgesetz
σ σ 1Τn′
εൌ
E K′
εel ε
Dehnung
ZSD-Kurve σ
geschlossene
Hysteresen
1. Masing-Verhalten: Die Hystereseäste werden, wie in Abbildung 12.3 gezeigt, durch die
in Spannungen und Dehnungen verdoppelte ZSD-Kurve nach Gleichung (2.8) beschrie-
ben.
2. Memory-Verhalten: Die drei Arten des Werkstoffgedächtnisses beschreiben den Verlauf
des σ-ε-Pfades nach dem Schließen von Hysteresen.
Beide Arten des zyklischen Werkstoffverhaltens lassen sich auch messtechnisch nachweisen.
Eine ausführliche Beschreibung des Masing- und Memoryverhaltens ist in Abschnitt 5.2.2 zur
Rainflow-Zählung zu finden.
Als relevante Ereignisse im Sinne der Schädigung werden geschlossene Hysteresen im σ-ε-
Pfad bewertet. Dafür werden die Dehnungswöhlerlinie und ein Schadensparameter benötigt.
Dehnungswöhlerlinie (DWL)
Die Dehnungswöhlerlinie gibt den Zusammenhang zwischen zyklisch stabilisierter Deh-
nungsamplitude und der Anrisslastzyklenzahl an. Sie wird an glatten Werkstoffproben in
dehnungsgeregelten Versuchen und unter rein wechselnder Beanspruchung ermittelt. Üblich
ist die mathematische Beschreibung nach Manson, Coffin und Morrow [215, 120, 229] mit
320 12 Grundzüge des elastisch-plastischen Kerbgrundkonzepts
εf'
Dehnungsamplituden εa (log.)
c
1
εa,t = εa,el + εa,pl
σf'
E b
1
εa,Hl
εa,pl
0,5 NT ND
Lastzyklen N (log.)
σ′f
(2N ) + ε′f (2N )
b c
εa,t = εa,el + εa,pl = (N ≤ ND )
E
Bei doppeltlogarithmischer Auftragung (Abbildung 12.4) entsprechen die Exponenten b und
c den Anstiegen der Dehnungswöhlerlinien für den elastischen und plastischen Anteil. Der
Schnittpunkt NT (transition life) verschiebt sich mit zunehmender statischer Festigkeit und
abnehmender Duktilität hin zu kleineren Lastzyklenzahlen.
b σ′f
n′ = und K′ = n′
. (12.3)
c (ε′f )
Dies verdeutlicht Abbildung 12.5, wo aus Gründen der Darstellung die ZSD-Kurve um 90° ge-
dreht ist. Bei getrennter statistischer Auswertung von dehnungsgeregelten Wöhlerversuchen
zum einen für die ZSD-Kurve und zum anderen für die DWL sind die Kompatibilitätsbe-
dingungen i. A. nicht erfüllt bzw. müssen, wie z. B. in [146] gezeigt, durch eine nichtlineare
Optimierung unter Vorgabe von (12.3) erreicht werden.
12.3 Schädigungsbewertung und Lebensdauerabschätzung 321
ZSD-Kurve Dehnungswöhlerlinie
Dehnungsamplitude εa (log.)
Dehnungsamplitude εa (log.)
εa,pl,ZSD = εa,pl,DWL
εa,el,ZSD = εa,el,DWL
Aus den elastischen Anteilen beider Gleichungen lässt sich die Spannungs-Wöhlerlinie des
Werkstoffs für das Ausfallkriterium Anriss ableiten:
−1/b
(σ′f ) 1/b
N= ⋅ (σa ) . (12.4)
2
Die Gleichung entspricht in ihrer Struktur der Wöhlerliniengleichung nach Basquin aus
Gleichung (2.10). Wie in Abschnitt 12.5 gezeigt, kann für Stahl näherungsweise b = −0,087
angenommen werden. Das entspricht einem Wöherlinienexponenten von k = 11,5, was
typischen Werten für ungekerbte Werkstoffproben aus Stahl entspricht.
Schadensparameter
Die DWL gilt für mitteldehnungsfreie Hysteresen. Bei variabler Belastung entstehen aber i. A.
mitteldehnungs- und mittelspannungsbehaftete Hysteresen. Um dies zu berücksichtigen,
werden beim Kerbgrundkonzept Schadensparameter P verwendet, für die es in der Literatur
zahlreiche Vorschläge gibt. Am gebräuchlichsten ist der Schadensparameter P SWT nach Smith,
Watson und Topper [258]:
√
P SWT = (σa + σm ) ⋅ εa,t ⋅ E . (12.5)
Voraussetzung für die Anwendung dieser Gleichung ist aber, dass die Kompatibilitätsbe-
dingungen (12.3) zwischen ZSD-Kurve und DWL gelten. Weil dies häufig nicht der Fall ist,
werden in den Programmen zur Lebensdauerberechnung nach dem Kerbgrundkonzept die
P -Wöhlerlinien oftmals punktweise berechnet, sinnfällig mit den Klassenmitten der Rainflow-
Matrix übereinstimmend.
Es lässt sich zeigen, dass mit P SWT insbesondere bei höherfesten Werkstoffen der Einfluss von
Mittelspannungen unterschätzt wird [25]. Bergmann [112] schlug als Korrektur vor, die Mittel-
spannung in der Berechnung von P SWT mit einem Parameter zu skalieren. Dieser Ansatz ist
in der FKM-Richtlinie (nichtlinear) in Form des Schadensparameters P RAM weiterentwickelt
worden, so dass der Schadensparameter explizit von der Mittelspannungsempfindlichkeit M
des Materials abhängt.
Darüber hinaus existieren Schadensparameter, die neben dem Mittelspannungseinfluss auch
Reihenfolgeeinflüsse der Belastung berücksichtigen. Diese basieren auf dem Rissöffnungs-
und Rissschließverhalten kurzer Risse in elastisch-plastisch beanspruchten Werkstoffen.
Dazu gehören die Parameter nach Haibach und Lehrke P HL [158], Heitmann P ZD [172] und
Vormwald P J [288]. Letzterer kann ebenfalls in der FKM-Richtlinie (nichtlinear) verwendet
werden. Weitergehende Ausführungen zu den verschiedenen Schadensparametern sind in
der Literatur, z. B. in [54, 25] zu finden.
Schadensakkumulation
Auch beim Örtlichen Konzept wird die lineare Schadensakkumulation angewendet. Die
Schadensakkumulationsrechnung erfolgt nach der Miner-Regel gegenüber der P -Wöhlerlinie.
Diese hat die Dimension der Spannung und ist damit prinzipiell mit der Bauteilwöhlerlinie
bei den spannungsbasierten Konzepten vergleichbar. Für jede geschlossene Hysterese i wird
der Schadensparameter P i berechnet und die sich daraus ergebende Teilschädigung aus der
zugehörigen Anrisslastzyklenzahl N der P -Wöhlerlinie ermittelt:
1
Di = . (12.7)
Ni (P i )
Für P SWT wird Ni aus Gleichung (12.6) berechnet. Die Teilschädigungen werden linear nach
Miner summiert, bis bei
∑ Di = 1 (12.8)
i
der Anriss im Bauteil (rechnerisch) eintritt. Wird die Dehnungswöhlerlinie in Gleichung 12.4
ohne die Beschränkung N > ND für die Schadensparameter-Wöhlerlinie verwendet, können
12.4 Berücksichtigung weiterer Bauteileinflüsse 323
Relative Miner-Regel
Die Schädigungsrechnung mit der linearen Schadensakkumulationshypothese führt wie
auch schon bei den spannungsbasierten Konzepten auf das Problem der Übertragbarkeit des
Schwingfestigkeitsverhaltens unter einstufiger Beanspruchung auf regellose Beanspruchung.
In analoger Weise kann auch hier die berechnete Lebensdauer mit der relativen Miner-Regel
korrigiert werden. Dazu wird, wie in Abschnitt 9.5 beschrieben, die reale Schädigungssumme
D Bezug eines ähnlichen Bauteils unter ähnlicher Belastung und identischem Berechnungsab-
lauf
NBezug
D Bezug = (12.9)
NRechnung
als Korrekturfaktor für die Lebensdauer eines neuen Bauteils verwendet:
Stützwirkung
Die Stützwirkung an Kerben lässt sich mit der werkstoffmechanischen Stützzahl aus der
FKM-Richtlinie, siehe Abschnitt 8.4.5, berücksichtigen. Da beim Kerbgrundkonzept die ver-
formungsmechanische Stützwirkung bereits durch die Anwendung der Neuber-Regel implizit
erfasst ist, sind nur die Beiträge der statistischen und der bruchmechanischen Stützzahlen
aus Gleichung (8.46) zu berücksichtigen:
n = n st ⋅ n bm . (12.11)
Bei der Anwendung anderer Stützwirkungskonzepte ist unbedingt zu prüfen, ob diese be-
reits den Einfluss plastischer Verformungen, also den werkstoffmechanischen Anteil der
Stützzahl, beinhalten. Das ist der Fall bei empirischen Konzepten, die direkt aus Versuchs-
ergebnissen abgeleitet wurden, wie solche, die auf dem Spannungsgradienten oder dem
höchstbeanspruchten Werkstoffvolumen basieren. Diese Stützzahlen müssen dann noch
durch die werkstoffmechanische Stützzahl dividiert werden.
Oberflächenrauigkeit
Wie beim technologischen Größeneinfluss ist auch der Einfluss der Oberflächenrauigkeit
bereits implizit erfasst, wenn die den Werkstoffkennwerten zugrundeliegenden Werkstoff-
proben dieselbe Rauigkeit wie das zu bewertende Bauteil besitzen. Ist dies nicht der Fall,
besteht ein pragmatischer Ansatz darin, den Rauheitsfaktor K R,σ aus der FKM-Richtlinie
(siehe Abschnitt 3.4) als Abminderungsfaktor mit der P -Wöhlerlinie zu multiplizieren. Bei
bruchmechanisch orientierten Schadensparametern wie P J kann alternativ eine am Bauteil
vorhandene Rauigkeit auch als Vergrößerung der Anfangsrisslänge interpretiert werden.
Das Uniform Material Law von Bäumel und Seeger [106] ermöglicht die Abschätzung von
ZSD-Kurven und Dehnungswöhlerlinien für Stahl, Aluminium- und Titanlegierungen allein
auf Grundlage der Zugfestigkeit R m . Die Korrelationen wurden aus einer umfangreichen
Datensammlung von 290 Versuchsreihen mit 2530 Einzelversuchen abgeleitet. Daneben gibt
es noch weitere, teilweise speziellere Ansätze wie [170, 289, 285].
Die FKM-Richtlinie (nichtlinear) [91] ist im Rahmen des AiF-Vorhabens No. 17612 entwi-
ckelt worden. Sie beschreibt den rechnerischen Festigkeitsnachweis unter Erfassung des
elastisch-plastischen Werkstoffverformungsverhaltens nach dem Kerbgrundkonzept. Wie
die FKM-Richtlinie (linear)2 gliedert auch sie sich in den statischen Festigkeitsnachweis
und den Ermüdungsfestigkeitsnachweis. Nachfolgend werden lediglich die Grundzüge und
wesentlichen Unterschiede zur FKM-Richtlinie (linear) aufgeführt.
Statischer Festigkeitsnachweis
Für den statischen Festigkeitsnachweis sind nichtlineare, elastisch-plastische FE-Analysen er-
forderlich, mit denen die örtliche Beanspruchung unter Verwendung der wahren Spannungs-
Dehnungs-Kurve3 des Werkstoffs ermittelt wird.
Die entscheidenden Beanspruchungsparameter sind die plastische Vergleichsdehnung εpl,V
und der Spannungsmehrachsigkeitsgrad h, wie er bereits in der FKM-Richtlinie (linear) und
in Gleichung (7.4) definiert ist. Die Beanspruchbarkeit ist in Form einer Versagensgrenz-
kurve gegeben, welche die ertragbare plastische Vergleichsdehnung in Abhängigkeit vom
Mehrachsigkeitsgrad der Spannungen h angibt:
εertr = f (h ) (12.12)
Mit FE simulierte
Lastinkremente an
den Stellen 1 und 2
Bauteilversagen
Stelle 1 Stelle 2
Spannungsmehrachsigkeitsgrad h
Abb. 12.6: Versagensbewertung in Abhängigkeit von der plastischen Vergleichsdehnung und dem
Spannungsmehrachsigkeitsgrad (schematisch)
gesteigert und die Beanspruchung an den versagenskritischen Punkten anhand der Versa-
gensgrenzkurve bewertet. Der Festigkeitsnachweis ist erbracht, wenn die Beanspruchung
εpl,V (h ) an jeder nachzuweisenden Stelle unterhalb der Versagensgrenzkurve liegt. Abbildung
12.6 verdeutlicht das für zwei untersuchte Stellen eines Bauteils. Der Festigkeitsnachweis ist
in diesem Beispiel nicht erbracht, da die Beanspruchung an Stelle 2 die Versagensgrenzkurve
schneidet.
Weitere Besonderheiten stellen die Berücksichtigung des technologischen Größeneinflusses
und der Material-Sicherheitsfaktoren dar. Die Spannungs-Dehnungs-Kurve wird oberhalb
der Streckgrenze in Spannungsrichtung mit dem Faktor K d / j F skaliert. Hier entspricht K d
dem technologischen Größeneinflussfaktor aus der FKM-Richtlinie (linear) und j F dem
Materialsicherheitsfaktor j F . Der Sicherheitsfaktor für die Last wird hingegen mit der Be-
lastung multipliziert. Das bedeutet, der Materialsicherheitsfaktor und der technologische
Größeneinflussfaktor mindern die Fließkurve in Spannungsrichtung ab, während der Lastsi-
cherheitsfaktor die äußere Belastung erhöht.
Zur Berechnung der Versagenslast F Bruch wird die tatsächliche Belastung F 0 in der FE-Analyse
soweit gesteigert, bis bei der Belastung F Bruch die Versagensbedingung εpl,V = εertr (h ) erfüllt
ist. Der Auslastungsgrad für die statische Festigkeit folgt dann aus
F0
a SK = . (12.13)
F Bruch
12.6 FKM-Richtlinie (nichtlinear) 327
Der statische Festigkeitsnachweis mit der FKM-Richtlinie (nichtlinear) ermöglicht eine realis-
tischere und teils deutlich weniger konservative Abschätzung der statischen Festigkeit eines
Bauteils als bisher mit der FKM-Richtlinie (linear). Das geht mit einem erhöhten Berech-
nungsaufwand einher.
Ermüdungsfestigkeitsnachweis
Die zur Schädigungsrechnung benötigte P -Wöhlerlinie ist abschnittsweise durch zwei Po-
tenzfunktionen beschrieben, die bei N = 103 ineinander übergehen, siehe Abbildung 12.7. Sie
beinhaltet die Stützzahl nach Gleichung (8.46) (ohne den verformungsmechanischen Anteil)
und den Faktor zur Berücksichtigung der Oberflächenrauigkeit.
Die lineare Schadensakkumulation erfolgt nach Miner-Elementar, also ohne Berücksichtigung
der Dauerfestigkeit. Nicht geschlossene Hysteresen werden als halbe Schwingspiele gewertet.
Eine Korrektur der berechneten Lebensdauer im Sinne der relativen Miner-Regel findet nicht
mehr statt. Im Unterschied zur FKM-Richtlinie (linear) erfolgt der Betriebsfestigkeitsnachweis
in Lebensdauerrichtung und nicht in Spannungsrichtung. Der Nachweis ist erbracht, wenn
die ertragbare Lastzyklenzahl größer als die geforderte ist. Ein Auslastungsgrad wird nicht
berechnet. Daher wird der Sicherheitsfaktor für die Streuung der Beanspruchbarkeit bereits
328 12 Grundzüge des elastisch-plastischen Kerbgrundkonzepts
PRAM
(log.)
1/d1
PRAM,Z 1/d2
PRAM,D
103 ND N (log.)
Spanabhebend bearbeitete Kerbstäbe aus Stahl, unter 2,5 1,20 1,87 1,12
überwachten Bedingungen gefertigt 0,155 0,0309 0,106 0,0190
Spanabhebend bearbeitete Kerbstäbe aus Stahl, mit mäßiger bis 3,2 1,26
mittlerer Kerbwirkung 0,197 0,0392
Geschmiedete und vergütete Bauteile aus Stahl, belassene 4,5 1,35 2,19 1,145
Schmiedeoberfläche, ohne Querschnittseinfluss 0,255 0,0509 0,133 0,0229
Geschmiedete und vergütete Bauteile wie zuvor, doch mit 5,5 1,33
Querschnittsstreuung durch Gesenkabnutzung 0,289 0,0484
1,80 1,16
Stahl geschmiedet, spanend bearbeitet, randschichtbehandelt
0,10 0,025
3,25
Al-Knetlegierungen, geschmiedet, unbearbeitete Oberfläche
0,20
3,07 1,18
Al-Guss, unbearbeitete Oberfläche
0,19 0,028
1,80 1,14
Mg-Guss, unbearbeitete Oberfläche
0,10 0,022
2,57 1,22
Liniennähte Feinblech, Stahl
0,16 0,034
2,73 1,22
Punktschweißverbindungen, Feinblech, Stahl
0,17 0,033
2,42 1,16
Reibschweißverbindungen (Al-Al, St-Al, St-St)
0,15 0,025
1,91
Passfederverbindungen
0,11
3,89 1,17
Schraubverbindungen
0,23 0,026
2,28 1,20
Al/Ti-Nietverbindungen
0,14 0,031
4,92 1,32
Al-Clinchverbindungen
0,27 0,047
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S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 329
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330 13 Erfahrungswerte zur Streuung der Schwingfestigkeit
Bauteil slgσ Tσ
Kapitel 2
1. a) k = 5,71
C = 7,40 ⋅ 1019 MPak
b) ND = 890550
2. R = ±∞ ∶ σDK = 509,6 MPa
R =0∶ σDK = 329,2 MPa
R = 0,5 ∶ σDK = 290,4 MPa
Kapitel 3
Kapitel 4
y
y-Richtung
100 x-Richtung
S
50
0
0 50 100 150 200 x
2. a) N50% = 76085
s lg N = 0,1663
T N = 2,67
b) N50% = 76085
s lg N = 0,1771
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S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 331
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332 14 Ergebnisse der Aufgaben
T N = 2,84
2
Quantil u 1
0
-1
-2
4,4 4,6 4,8 5 5,2 5,4
lg(N)
Kapitel 5
150
Maxima
120
Klassenmitten SKM in MPa
90
60
30
0
Minima
-30
-60
1 10 50
Summenhäufigkeit H (log.)
2. a) aufsteigende Nummerierung der Klassen: Kl. 1 =ˆ -60 MPa . . . Kl. 8 =ˆ 150 MPa,
Hysteresen in Reihenfolge ihres Auftretens gekennzeichnet durch schließenden
Ast: von Klasse→nach Klasse:
3→4; 3→4; 4→3; 3→6; 4→3; 4→3; 5→3; 3→4; 6→2; 4→3; 3→5; 5→4;
4→3; 3→4; 2→6; 1→7; 3→4; 3→4; 3→4; 2→5; 1→7; 5→4; 4→3; 4→2;
3→4; 4→5; 4→3; 3→5; 2→8; 4→3
Rainflowmatrix in Klasssen mit schließenden Ästen von Zeile nach Spalte:
1 2 3 4 5 6 7 8
1 0 0 0 0 0 2 0
2 0 0 0 1 1 0 1
3 0 0 8 2 1 0 0
4 0 1 8 1 0 0 0
5 0 0 1 2 0 0 0
6 0 1 0 0 0 0 0
7 0 0 0 0 0 0 0
8 0 0 0 0 0 0 0
(Residuenäste: 3→8; 8→2; 2→5; 5→3)
Kapitel 7
Kapitel 8
100
50
0
-50 0 50 100 150 200 250
Mittelspannung σm in MPa
b)
250
Spannungsamplitude σa in MPa
200
150
100
50
0
-150 -100 -50 0 50 100 150
Mittelspannung σm in MPa
335
Kapitel 9
1. a) Berechnete Lebensdauerwerte
S a,1 /MPa NEM
200 3,59 ⋅ 106
180 5,40 ⋅ 106
150 1,09 ⋅ 107
b) relativen Schädigungssummen
S a,1 /MPa D rel
200 0,38
180 0,41
150 0,46
2. a) → für P A = 10−6 Verschiebung der Wöhlerlinie in Spannungsrichtung, da ND un-
verändert bleiben soll,
Streuspanne in Spannungsrichtung: Tσ = 1,135 (Gleichung (4.27)),
Standardabweichung in Lebensdauerrichtung s lg σ = 0,0215 (Gleichung (4.28)),
Sicherheitszahl für P A = 10−6 : j σ = 1,2653 (Gleichung (4.58)),
Dauerfestigkeit für P A = 10−6 : σDK,(P A =10−6 ) = 403,08 MPa,
Wöhlerlinie für P A = 10−6 :
−k
σa
N(P A =10−6 ) = ND ⋅ ( )
σDK,(P A =10−6 )
b) Kollektivumfang: ∑ n i = 1.000.002
i
Miner-Original: D OM = 0,00162474
NOM = 615.485.882
s OM = 615.485 km
Miner-Elementar: D EM = 0,00477358
NEM = 209.486.846
s EM = 209.486 km
Miner-Modifiziert: D MM = 0,002363918
NMM = 423.027.424
s MM = 423.027 km
Miner-Konsequent: NKM = 422.034.185
s KM = 422.033 km
c) D rel ⋅ NMM = 169.210.969 Lastzyklen, entspricht einer Fahrstrecke von 253.816 km
→ Forderung nicht erfüllt!
336 14 Ergebnisse der Aufgaben
Kapitel 10
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1986
[17] G ÖLDNER, H., H OLZWEISSIG, F.: Leitfaden der Technischen Mechanik, 9. Auflage, VEB
Fachbuchverlag Leipzig, 1986
[18] G ROSS, D., S EELIG, T.: Bruchmechanik, 6. Auflage, Springer Vieweg, 2016
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S. Götz und K.-G. Eulitz, Betriebsfestigkeit, 359
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Wahrscheinlichkeitsnetz, 82