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Hans-Jürgen Schlösser: Auf welche Grundwerte stützen sich Gesellschaften?

In freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften schreibt der Staat den einzelnen


Bürgerinnen und Bürgern keine individuellen Werte vor: Wie ein "richtiges" und "gutes" Leben
zu gestalten ist, dürfen sie jeweils für sich selbst entscheiden. Stattdessen beschränkt sich die
Politik auf Regeln und Grundwerte, zu denen in der Gesellschaft allgemeine Zustimmung
herrscht. Jede Gesellschaft braucht eine derartige Übereinstimmung über Grundwerte, sonst
verliert sie ihre Stabilität, und ohne einen solchen "Konsens" kann Politik das gesellschaftliche
Zusammenleben nicht gestalten. Für die Wirtschaftspolitik spielen folgende gesellschaftliche
Grundwerte eine besondere Rolle: Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit […].
Die gesellschaftlichen Grundwerte können als Oberziele jeder Politik angesehen werden.
Wirtschaftspolitik und wirtschaftspolitische Ziele im engeren Sinne - wie zum Beispiel
Vollbeschäftigung und Preisstabilität - dienen letztlich dazu, diese gesellschaftlichen
Grundwerte zu verwirklichen.
Freiheit bedeutet, dass der Einzelne sein Leben selbst gestalten, nach seinem Willen und in
frei verantworteter, eigener Entscheidung nach Glück und Erfolg streben kann. Zur Freiheit
gehören allerdings auch die Möglichkeit zu scheitern und die Pflicht, die Folgen des Scheiterns
selbst zu tragen und zu verantworten, soweit der Einzelne dazu in der Lage ist. Da individuelles
Handeln Konsequenzen für andere haben kann, beschränkt die Ausübung der Freiheit des
einen möglicherweise die Freiheit von anderen. In allen Gesellschaften, für die Freiheit ein
Grundwert ist, entstehen daraus immer wieder Interessengegensätze. Artikel 2 Grundgesetz
(GG) lautet daher: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit
er nicht die Rechte anderer verletzt?" […] Häufig wird Freiheit auch negativ definiert, als
Abwesenheit von unangemessenen Zwängen. Wir sprechen dann von "formaler" Freiheit. Ein
Beispiel ist die Reisefreiheit, die in der DDR stark beschränkt war - die Menschen durften nicht
nach eigenem Willen ausreisen. Mit dem Fall der Mauer erhielten die DDR-Bürgerinnen und -
Bürger dann Reisefreiheit als formale Freiheit. Diejenigen, denen die Mittel für Reisen fehlten,
mussten aber trotz formaler Reisefreiheit im Land bleiben. Die Freiheit, seinen Entschluss
auch umsetzen zu können, nennt sich im Gegenzug "materiale" Freiheit. In freiheitlichen
Gesellschaften ist unbestritten, dass der Staat formale Freiheit garantieren muss. Aber ist er
auch verpflichtet, die materiale Freiheit zu gewährleisten? Oder anders gesagt: Ist Freiheit nur
dann etwas wert, wenn man sie auch nutzen kann?
Sicherheit ist ein gesellschaftlicher Grundwert, denn ohne Sicherheit wäre die Gesellschaft ein
"Kampf aller gegen alle". Die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden ist daher eine
vordringliche staatliche Aufgabe. Eine Bedrohung der Sicherheit geht von Konflikten aus.
Extreme Beispiele sind Kriege zwischen Staaten, Bürgerkriege und Terrorismus. In der
Wirtschaftspolitik geht es indessen nicht um diese dramatischen Bedrohungen der Sicherheit,
sondern um die Konflikte des wirtschaftlichen Lebens. Nicht jeder kann sich durch die Bildung
von eigenem Vermögen vor den Risiken von Krankheit, Alter oder Unglücksfällen schützen.
Wirtschaftliche Sicherheit bedeutet, dass der Einzelne nicht mit der Zerstörung seiner
wirtschaftlichen Grundlagen rechnen muss und sicher in die Zukunft blicken kann, um sein
Leben zu planen und zu gestalten.
In der Wirtschaftspolitik unterscheiden wir drei Formen von Risiken:
- Erwerbsunfähigkeitsrisiken entstehen zum Beispiel durch Krankheiten, Unfälle oder
durch das Älterwerden.
- Beschäftigungsrisiken entwickeln sich aus kurzfristigen Konjunkturkrisen, wenn nicht
genügend Güter gekauft werden, um alle Betriebe beschäftigt zu halten, oder aber aus
langwierigen Strukturkrisen, wenn Branchen oder Regionen einen wirtschaftlichen
Niedergang erleiden und nicht genügend neues Wirtschaftswachstum entsteht, um
dies auszugleichen. In der Folge verlieren Arbeitskräfte ihre Beschäftigung und
Unternehmen gehen Bankrott.
- Einkommens- und Vermögensrisiken haben ihre Ursachen zum Beispiel in einer
Inflation (Geldentwertung), die das Sparvermögen vernichtet, oder darin, dass
bestimmte Güter und Berufe am Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt werden.
- [Als wirtschaftspolitische Risiken im weiteren Sinne können Versorgungs- und
Umweltrisiken angesehen werden.]
Zusammen führen solche Risiken […] zu einem Bedarf an staatlicher Risikovorsorge.
Unterschiedliche Auffassungen bestehen dabei darüber, welchen Umfang die Risikovorsorge
durch den Staat haben sollte und inwieweit der Einzelne für seine wirtschaftliche Sicherheit
selbst verantwortlich ist. […] Zwar kann Sicherheit erhöht werden, indem die
Verhaltensspielräume für Einzelne und Gruppen eingeschränkt werden, aber dann gerät
Sicherheit in Konflikt mit Freiheit. […]
Gerechtigkeit hängt zugleich eng mit Gleichheit zusammen, Ungerechtigkeit beinhaltet immer
Ungleichheit; Ungleichheit muss aber umgekehrt nicht immer Ungerechtigkeit bedeuten. Wie
beim Grundwert Freiheit zwischen materialer und formaler Freiheit unterschieden wird, so lässt
sich auch beim Grundwert Gerechtigkeit eine Unterscheidung treffen. Bei der
Verfahrensgerechtigkeit geht es darum, dass gleiches Verhalten gleich behandelt werden
muss. Die wichtigste Ausprägung der Verfahrensgerechtigkeit ist die Gleichheit vor dem
Gesetz, das für ausnahmslos alle gilt. Das versteht man unter Rechtsstaatlichkeit. Niemand
darf schlechter behandelt werden als ein anderer, der das Gleiche tut und anstrebt - eben dies
bedeutet das Verbot von "Diskriminierung". Verhaltensgerechtigkeit meint damit auch: gleiche
formale Freiheit für alle. […]
Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es indessen um eine Norm zur Beurteilung von
gesellschaftlichen Stellungen, zum Beispiel eine gerechte Verteilung von Einkommen und
Besitz zwischen Personen und Gruppen. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die
Wahrnehmung von Rechten, die für alle gleich sind, nicht für alle zu gleichen wirtschaftlichen
Ergebnissen führt. Folglich steht die Verteilungsgerechtigkeit in einem Zusammenhang mit der
materialen Freiheit. So hat auch die Gerechtigkeit zwei Dimensionen: eine
Verfahrensdimension und eine Verteilungsdimension. Führt Gleichbehandlung zu ungleichen
wirtschaftlichen Ergebnissen, dann erfordert die Angleichung der wirtschaftlichen Ergebnisse
durch die Wirtschaftspolitik ein Abweichen von der Gleichbehandlung.
Quelle: Hans-Jürgen Schlösser, Wirtschaftspolitik und gesellschaftliche Grundwerte, in: Informationen zur
politischen Bildung (Heft 294), Bonn 2007, S. 4ff. (Reihenfolge geändert).

Aufgaben:
1. Arbeitet die zentralen Aussagen Hans-Jürgen Schlössers zu den gesellschaftlichen
Grundwerten heraus.
2. Ordnet die eingangs zusammengetragenen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen
Ziele den gesellschaftlichen Grundwerten zu.

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