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Bereitgestellt von: FH Nordwestschweiz Do, Jun 1st 2023, 14:25

 Thema Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit?

Heteronormativität
Pädagogische Implikationen eines macht- und identitätskritischen
Konzeptes

Jutta Hartmann

Heteronormativität ist ein kritisches Konzept, das Gendertheoretische


die Vorstellung von (nur) zwei möglichen sexuel- Fundierungen
len Identitäten mit dem ihr zu Grunde liegenden Gleichwohl Heteronormativität ein Grund-
System der Zweigeschlechtlichkeit problemati- begriff der Queer Theorie ist (vgl. Wagen-
siert und gegenwärtig insbesondere im Rahmen knecht 2006), ist er nicht unumstritten,
queer- und gendertheoretischer Ansätze disku- erscheint manchen durchaus schillernd
tiert wird (Warner 1991, Butler 1995, Hartmann und hat historische Vorläufer. Die politi-
u.a. 2007). Der Begriff bezieht sich auf die wech- schen Analysen der feministischen, les-
selseitige Verwiesenheit von Geschlecht und Se-
bischen, schwulen und bisexuellen Be-
xualität und hebt die Erkenntnis hervor, dass vor-
wegungen waren schon mindestens seit
herrschende Geschlechterdiskurse in mehrfacher
den 1970er Jahren durch verschiedene
Weise heterosexualisiert sind: Sie basieren zum
Diskurse inspiriert, die Kritik an norma-
einen auf der Annahme von zwei klar voneinan-
tiver Heterosexualität formulierten (vgl.
der abgrenzbaren, sich ausschließenden und er-
Hartmann/Klesse 2007: 10 f.). Der Begriff
gänzenden Geschlechtern und zum anderen auf
der Heteronormativität zeichnet sich je-
der Setzung von Heterosexualität als natürlich
doch insbesondere durch dessen Ver-
und normal. Die vorherrschende Geschlechterord-
nung, die beispielsweise einen als weiblich klassi-
weis auf die funktionale Verbundenheit
fizierten Körper mit als weiblich klassifizierten der Kategorien Geschlecht und Sexuali-
Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensmus- tät aus.
tern sowie einem notwendig auf Männer gerich- Die Einteilung aller Menschen in Frauen
teten Begehren verknüpft, erfährt hier eine und Männer scheint banal und eine der
grundlegende Kritik. Denn es können eine Vielzahl größten Selbstverständlichkeiten zu sein.
sozialer Geschlechter ebenso beobachtet werden Im sozialen Alltag wird die Existenz
wie verschiedene Begehrensweisen unterschie- zweier Geschlechter in der Regel nicht
den werden müssen. Und auch das „biologische für erklärungsbedürftig gehalten. Sie gilt
Geschlecht“ ist ein Produkt sozio-kultureller Her- als von Natur aus gegeben. Damit exis-
vorbringung. Über die Analyse von ‚Zweige- tiert ein kultureller Zwang, sich selbst, in
schlechtlichkeit‘ und ‚Heterosexualität‘ als alltäg- Abgrenzung und Unterscheidung zum
liche Konstruktionsleistungen und gesellschaftli- jeweils anderen Geschlecht, einem Ge-
che Normen, verlieren die Kategorien Geschlecht schlecht zuzuordnen. Vorherrschende Ge-
und Sexualität ihren vermeintlich natürlichen schlechtsvorstellungen fließen auf die-
Charakter und werden demgegenüber als prozes- sem Weg in das eigene Selbstverständnis
sual und kulturell begriffen (Hartmann 2002, ein. Dem modernen bürgerlichen Ver-
Hartmann 2004, Hartmann/Klesse 2006). ständnis von Frau- und Mann-Sein ist
ein in binären Denkstrukturen verhafte-
tes Schema unterlegt. Körper, Verhal-
tensweisen, Kompetenzen, Kleidung, Mi-
mik, Gestik, aber auch Gefühle und Be-
gehren von Personen werden auf dem
beschränkten und hierarchisierten Koor-

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Thema Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit? 

dinatenkreuz Weiblichkeit – Männlichkeit lich unterstellt. Geschlecht und Sexualität


abgebildet und interpretiert. Mit Judith werden als natürlich gegebene oder psy-
Butler (1991, 1995) ist davon auszuge- chogenetisch erworbene Eigenschaften
hen, dass dieser Diskurs in zweifacher gewertet, die Identität und Begehren ei-
Weise ein heterosexueller ist: Zum einen ner Person zusammenhängend struktu-
werden zwei – und nur zwei – vollkom- rieren und eine kausale und kontinuierli-
men unterschiedliche Geschlechter kon- che Verknüpfung von anatomischem Ge-
struiert, die als in funktionaler Weise auf- schlecht (sex), Geschlechtsidentität (gen-
einander bezogen entworfen werden. Zu- der) und Begehren herstellen. Mit Judith
dem ist über das Betonen von Differenz Butler (1991: 38) können wir dies jedoch
und Komplementarität Heterosexualität als zufällig und konstruiert verstehen.
asymmetrisch konstruiert. Dies führt
zum anderen wie selbstverständlich zur Feministische Wurzeln
Norm des heterosexuellen Paares. Um
Heterosexualität als Norm zu bestätigen, Feministische Bewegung und Forschung
wird jedoch wiederum das „Andere“ not- haben bereits in den 1970er und 1980er
wendig: Die Homosexualität. Ohne Ho- Jahren auf die Zuschreibungsverfahren
mosexualität kann Heterosexualität ihre des sozialen Geschlechts (gender) auf-
Normalität nicht behaupten. Es ist ein merksam gemacht und mit der sex-gen-
“Ausschluss im Einschluss” (Hark 1997: der-Unterscheidung das im bürgerlichen
14), der über die Hervorbringung klar Geschlechterdiskurs als mimetisch be-
voneinander abzugrenzender geschlecht- hauptete Verhältnis zwischen dem sozia-
licher und sexueller Identitäten die zwei- len Geschlecht und dem über Anatomie,
geschlechtliche heterosexuelle Ordnung Morphologie und Physiologie vermittel-
erhält. ten biologischen Geschlecht (sex) zurück-
gewiesen. Die Unterscheidung von sex
Dem Konzept der Heteronormativität fol- und gender erhält jedoch, so die (selbst-)
gend, ist im modernen Verständnis von kritische Reflexion, einen der zentralen
Geschlecht die Opposition Homo- – Hete- Paradigmen des modernen bürgerlichen
rosexualität bereits eingebaut. Ohne Ho- Denkens, den Dualismus von Natur und
mosexualität ist Heterosexualität nicht Kultur. Sie entfaltet stabilisierende Wir-
denkbar, worauf auch die provokante kung auf die heterosexuelle Ordnung, die
Frage des Sexualwissenschaftlers Gunter auf der Basis zweier eindeutig zu unter-
Schmidt (1996: 113) verweist: „Gibt es scheidender Geschlechter errichtet ist. In
die Heterosexualität?“. Doch wird die den 1990er Jahren setzte sich im femi-
Vorstellung von der Existenz einer als nistischen Diskurs entsprechend die The-
normal gedachten Mehrheit, die jene ei- se durch, dass nicht nur die mit der Zwei-
ner als abweichend gesetzten Minderheit geschlechtlichkeit einhergehenden Zu-
erst ermöglicht, in der Regel nicht pro- schreibungen und Bedeutungen, speziell
blematisiert. Dabei stützen sich die Sys- die Geschlechterhierarchie, sondern viel-
teme der normativen Heterosexualität mehr die Zweigeschlechtlichkeit selbst
und der hierarchischen Zweigeschlecht- als Produkt sozialer bzw. gesellschaftli-
lichkeit gegenseitig ab. Dem Gedanken cher Konstruktionen zu untersuchen ist.
der Zweigeschlechtlichkeit liegt eine he- Im Rahmen dieser Debatte wies Judith
terosexuelle Matrix zugrunde und der Butler (1991:23) darauf hin, dass selbst
Gedanke der Hetero- wie Homosexuali- dann, wenn wir von sex als biologisch bi-
tät basiert auf der Annahme der Zweige- när konstituiert ausgehen, die vom Kör-
schlechtlichkeit. per losgelöst gedachte Geschlechtsidenti-
Im modernen Geschlechterdiskurs wird tät nicht lediglich in einer Zweiheit auf-
das Verhältnis zwischen anatomischem treten müsse. Sie sieht eine Herausforde-
Geschlecht, Geschlechtsidentität und Be- rung darin, eine Diskontinuität, ja Zufäl-
gehren als übereinstimmend und natür- ligkeit der Beziehung zwischen sex und

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 Thema Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit?

gender und Begehren ins Auge zu fassen. ler Bildung zunächst vermeintlich ganz
Würde gender ernsthaft als kulturelles allgemein über Sexualität gesprochen
Konstrukt verstanden, bestünde kein und dann zusätzlich noch das Thema
Grund mehr anzunehmen, „daß das Kon- Homosexualität aufgegriffen und damit
strukt ‘Männer’ ausschließlich dem männ- letztlich – oft entgegen besserer Absicht –
lichen Körper zukommt, noch daß die Ka- die Dualität von Norm und Abweichung
tegorie ‘Frauen’ nur weibliche Körper unhinterfragt reproduziert wird.
meint” (ebd.). Gender lässt sich diesem Mit den Kategorien Geschlecht und Se-
Gedankengang folgend auf beliebige Kör- xualität gehen in sozialen Systemen folg-
per beziehen und kann vervielfältigt wer- lich nicht nur Unterschiede, vielmehr
den. Da in der feministischen Diskussion auch Grenzziehungen und Hierarchien
auch gender in der Regel lediglich dual einher. Die Selbstverständlichkeit hete-
aufgegriffen wird, werteten Regine Gilde- rosexueller Zweigeschlechtlichkeit wird
meister und Angelika Wetterer dies als im Rahmen der Queer Theory daher als
ein Hinweis darauf, dass eben doch eine die Basis hierarchischer Geschlechter-
„stillschweigende Parallelisierung von verhältnisse analysiert. Die vorherr-
biologischem und sozialem Geschlecht” schenden Dualitäten bringen Gruppen
stattfindet. Das aber käme nicht nur ei- hervor, entlang derer die Verteilung poli-
nem verlagerten, sondern einem „laten- tischer, ökonomischer und sozialer Res-
ten Biologismus der Gesamtkonstruktion sourcen ausgerichtet ist (vgl. Hark 1997:
‘sex-gender’” gleich (Gildemeister/Wette- 22). Vorstellungen von Natürlichkeit, Ein-
rer 1992:207). Das kulturelle Geschlecht deutigkeit und Unveränderbarkeit von
trete als logische Ableitung des biologi- geschlechtlichen und sexuellen Subjekt-
schen Geschlechts auf. Die vorherrschen- positionen sowie die normative Verbin-
de Annahme einer kulturübergreifenden dung von anatomischem Geschlecht
und ahistorischen Natur der Geschlech- (sex), sozialem Geschlecht (gender) und
ter bliebe mit der sex-gender-Unterschei- sexuellem Begehren erweisen sich so ge-
dung somit unangetastet. sehen als gesellschaftlich funktionale
Herrschaftsinstrumente.
Heteronormative Grenzziehungen Wie sich diese vorherrschenden Selbst-
Heteronormatives Denken zeigt sich im verständlichkeiten auch in geschlechter-
Alltag bspw. dort, wo transgeschlechtli- pädagogische Ansätze eingeschrieben
che Menschen – Menschen also, die in haben, lässt sich z. B. am häufig formu-
vielfältiger Weise eine Nichtübereinstim- lierten Ziel der „Bipluralität“ aufzeigen.
mung ihres biologischen mit ihrem so- Das Konzept der Bipluralität (wendet
zialen Geschlecht leben – im dominanten sich gegen die Polarisierung von Männ-
Diskurs nicht vorgesehen sind (Rauch- lichkeit und Weiblichkeit) wahrt eine kla-
fleisch 2006, Senatsverwaltung Berlin re geschlechtliche Unterscheidungs- und
2006). Sie zeigt sich auch da, wo Angst Zuordnungsmöglichkeit und fordert sie
vor Homosexualität, z. B. bei Männern gleichzeitig ein: Entweder Mädchen oder
als Angst vor Verweiblichung, entworfen Junge, entweder Frau oder Mann. Ein-
oder wo Kritik an Geschlechtszuschrei- zelne Bausteine mögen ihre geschlechtli-
bungen als sexuelle Grenzübertretung che Codierung verlieren – auf Bäume
fantasiert wird (vgl. Klinger 1998: 101 f). klettern, mit Puppen spielen, Hosen oder
Heteronormativität zeigt sich weiter in Ohrringe tragen – die Inszenierung als
der Selbstverständlichkeit, mit der hete- Ganzes behält den Imperativ von zwei-
rosexuelle Paarbildung als Ursprung und geteilter Identifizierung und Klassifizier-
Grundlage aller sozialen Beziehungen barkeit: Verschiedene Gefühle, Interes-
angesehen und in Diskurse über Körper, sen, Verhaltensweisen sollen zu einer
Familie oder Staat eingeschrieben ist. eindeutigen geschlechtlichen Identität
Sie wird sichtbar, wo im Bereich sexuel- führen, die darüber hinaus in Überein-

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Thema Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit? 

stimmung mit dem anatomischen Ge- ren: Das Autorinnenkollektiv ‚Jule Alltag‘
schlecht steht. (1996) beschreibt Kompensationsstrate-
gien, mittels derer lesbische Mädchen
Gender- und sexualitäts- versuchen würden, die in einer hetero-
normativen Gesellschaft mit lesbischem
theoretische Dynamisierungen Leben einher gehenden Selbstzweifel zu
Nach Judith Butlers (1991, 1995) Modell handhaben. Als eine Form benennen die
der Performativität1 erfolgt die Kon- Autorinnen Verhaltensweisen der Mäd-
struktion von Geschlecht durch ein Zitie- chen, die als mädchentypisch oder als
ren vorhandener Geschlechterdiskurse. jungentypisch gelten (a. a. O.: 27). Sie
Sie ist an die Wiederholung von beste- schreiben, dass lesbischen Mädchen ein
henden Bedeutungen, von Konventionen Verhalten und Auftreten entspräche, das
und Normen gebunden, wobei das ‚Wie‘ sich ebenso von heterosexuell orientie-
der Wiederholung stellenweise offen ist. renden Mädchen wie von als jungenty-
Dabei gilt der Zwang zur Wiederholung pisch geltenden Jungen unterscheide. Sie
dieser Konstruktion zugleich als Instabi- legen nahe, dass lesbische Mädchen die
lität der Macht und Ansatzpunkt von benannten Pole nur unter repressiven Be-
Handlungsfähigkeit, weil in ihm die Mög- dingungen derart besetzen. Als Kompen-
lichkeit gesehen wird, vorgefundene Dis- sationen interpretiert, bekommen weder
kurse umzuarbeiten. das als heterosexualisiert eingestufte
Subjekte können nicht unabhängig von Mädchenverhalten noch das als typisch
Diskursen wahrnehmen, denken und für Jungen geltende Verhalten die Be-
fühlen, finden Diskurse immer schon vor deutung zugestanden, eine von vielen
und haben innerhalb von deren Horizont Möglichkeiten zu sein, lesbische Identität
die Möglichkeit, sich alltäglich zu verhal- zu inszenieren. Einer solchen Argumen-
ten und ebenfalls verändernd zu wirken. tation liegt implizit eine Koppelung von
Subjektivität – verstanden als je histori- sex, gender und Begehren zu Grunde.
sche “Art und Weise, wie wir unser Le- Der zufolge muss sich gender bei lesbi-
ben verstehen und leben” (de Lauretis schen Mädchen auf Grund ihres lesbi-
1996: 14) – gilt in poststrukturalistischen schen Begehrens von dem gender der
Analysen als der entscheidende Ansatz- Mädchen, die heterosexuell begehren,
punkt von Macht. In Anlehnung an Fou- unterscheiden. Dieses kann jedoch auf
cault (1977: 172), der Macht weniger als Grund der unterschiedlichen sexes nicht
repressiv-unterdrückend, denn vielmehr identisch sein mit dem gender von Jun-
als hervorbringend-ermöglichend ver- gen. Unterscheidet sich sex muss sich
steht, richtet sich das Erkenntnisinteres- auch gender unterscheiden. Die abgren-
se der Queer Theory auf Mechanismen zenden Entwürfe bringen demgegenüber
der Normalisierung, die Subjekte um den eine Vorstellung normalen Lesbischseins
Maßstab einer regulierenden Norm he- und damit einen Maßstab für neue Nor-
rum anordnet, und damit die unüber- malisierungsprozesse hervor.
sichtliche Vielheit an Körpern, Praktiken, Auch Pädagogik stellt mit ihren unter-
Lüsten hierarchisiert bzw. in normale schiedlichen Zugängen diskursive Vorla-
und nicht-normale spaltet. Mit Foucault gen dar. Sie bezieht sich nicht nur auf
(1974: 11) ist der Diskurs die Macht, wo- vielfältige Existenz- und Lebensweisen
für und mit der gekämpft wird und in sei- oder beschreibt diese. Wir können davon
ner Vielschichtigkeit ein widersprüchli- ausgehen, dass weder das erkennende
ches Sowohl-als-auch. Dies impliziert, Subjekt noch kritische Pädagogik den ge-
dass auch kritische Fachdiskurse Macht sellschaftlichen Verhältnissen einfach ge-
reproduzieren. genüberstehen. Sie sind mit ihren Dis-
Ein Beispiel aus der lesbisch-feministi- kursen und Begriffen aktiv an der Pro-
schen Mädchenarbeit mag dies illustrie- duktion von „Wahrheiten“ und deren

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 Thema Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit?

möglicher Hinterfragung, an der Fest- ren, vertritt sie die These, dass wir letzt-
schreibung von Subjektpositionen und lich nicht in der Lage sind, in Fragen der
deren möglicher Verschiebung beteiligt. Identifikation und des Begehrens nach
Angesichts der Verantwortung, die sich einem Entweder-oder-Prinzip zu funk-
aus dem gestaltenden Charakter pädago- tionieren.
gischer Diskurse ergibt, sind alle Päda- Queer Theory regt für die pädagogische
gogInnen unabhängig von ihrer Lebens- Praxis einen Perspektivenwechsel an;
weise herausgefordert, sich mit normati- von einer Orientierung an Identitätssu-
ver und nicht-normativer Geschlechtlich- che und -stärkung zu einer Auseinander-
keit und Sexualität auseinander zu set- setzung mit dem konstruierten Charak-
zen und tiefer liegende Selbstverständ- ter von Identitäten. Das bedeutet auch
lichkeiten im eigenen Denken und Han- eine Ausarbeitung und Gestaltung der ei-
deln kritisch zu hinterfragen. genen Identität, die bisherige Grenzen
befragt, ausdehnt und z. T. auch über-
Queere Grenzverwischungen schreitet.
Im dekonstruktiven Versuch einem Ent- Dabei muss sich erziehungswissenschaft-
weder-Oder zu widerstehen, werden in liche Frauen- und Geschlechterforschung
Ansätzen der Queer Theory die Grenzen mit dem Paradox auseinander setzen,
zwischen Hetero- und Homosexualität, dass Mädchen- und Jungenarbeit ebenso
zwischen Frau- und Mann-Sein ver- wie lesbisch-schwule Bildungsarbeit an
wischt und verschoben. Queer Theory Geschlechterdichotomie und heterosexu-
gibt die Kategorien Frau, Mann, homo- eller Norm ansetzt und damit zunächst
sexuell, heterosexuell damit nicht auf, aufruft, was sie irritieren will. Die häufig
sondern nimmt ihnen ihre Selbstver- gestellte Frage, ob diese pädagogischen
ständlichkeit. Jenny Howald (2001: 301) Richtungen das System heterosexueller
weist entsprechend auf die Gefahr hin, Zweigeschlechtlichkeit somit nicht eher
dass das in der Pädagogik häufig einge- verfestigen, lässt sich nicht eindeutig be-
forderte Konzept der Anerkennung von antworten. Eine dekonstruktive Praxis
Differenz „letztlich eine ausgrenzende bewegt sich im paradoxen Raum, zu-
Differenz konstituiert und festschreibt”. nächst aufzurufen, was sie verschieben
Eine dekonstruktive Perspektive irritiert will. Ein verqu(e)er Zugang kann nicht
demgegenüber vorherrschende Wahr- jenseits kulturell überlieferter geschlecht-
nehmungs- und Denkgewohnheiten und licher und sexueller Kategorien und Iden-
richtet den Blick auf die Vielzahl an un- titäten agieren, bestätigt diese jedoch
terschiedlichen Bedeutungen. Vorstellun- nicht zwangsläufig. Gleichwohl bleibt dies
gen von Identitäten als Entitäten werden als Gefahr bestehen.
damit durchkreuzt. In Auseinanderset-
zung mit psychoanalytischen Ansätzen Begleitet werden sollte eine dekonstruk-
kommen Instabilitäten und Diskontinuitä- tive Pädagogik daher von einer „unauf-
ten, Brüche und Widersprüchlichkeiten in hörlichen Analyse: denn die Hierarchie
den Blick. So versucht bspw. Judith Butler des dualen Gegensatzes stellt sich immer
(1995) zu erhellen, wie über den gesell- wieder her” (Derrida 1986:88). Darum
schaftlichen Imperativ der Heterosexuali- ist das ‚Wie‘ der pädagogischen Arbeit
tät ein Zwang zur Vereindeutigung inner- und ihre ständige kritische Reflexion ent-
psychischer Ambivalenzen transportiert scheidend. Wie können sie heterosexuel-
wird. Sie versteht starre Identitäten auch le Zweigeschlechtlichkeit bewusst ma-
als möglichen Hinweis auf verleugnete chen und deren Funktionsmechanismen
Identifizierungen. In Abgrenzung zu klas- rekonstruieren? Wie können sie die
sisch psychoanalytischen Ansätzen, die Möglichkeiten, Mädchen und Junge bzw.
Identifizierung gleichgeschlechtlich und homosexuell und heterosexuell zu sein,
Begehren gegengeschlechtlich konzipie- vervielfältigen sowie einen Einblick in

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Thema Wie geht nicht heteronormative Mädchenarbeit? 

den möglichen Raum zwischen diesen kann, was sein soll und wie Handlungs-
Geschlechter- und Sexualitätspositionen spielräume beweglich gehalten werden.
eröffnen? Ein entsprechender Ansatz kann nicht
von normativen Vorgaben befreien, er
Vielfältige Lebensweisen lässt aber Raum für Freiheit und Vielfalt.
Um jene Momente aufzugreifen, die vor- Anmerkung
herrschende Grenzen und Normalitäts-
1 Performativität ist ein Begriff der Sprechakt-
vorstellungen in Bewegung bringen und theorie. Performative Äußerungen bringen
diese gleichzeitig zu ermöglichen, habe durch das Sprechen selbst etwas hervor, sie
ich den Begriff ‚vielfältige Lebensweisen’ vollziehen etwas. Paradigmatisch ist das Bei-
in die pädagogische Diskussion einge- spiel der Hochzeitszeremonie: Durch die Aus-
bracht (Hartmann 2002). Der Begriff sage ‘Ich erkläre euch als Mann und Frau’
verbindet eine dekonstruktive Perspekti- führt der Pfarrer oder Standesbeamte eine
Handlung aus und bringt in der ”Heterose-
ve auf geschlechtliche und sexuelle Iden-
xualisierung der sozialen Bindung” (Butler
titäten mit der aktuellen Debatte zur Plu- 1995, S. 299) hervor, was er benennt.
ralisierung von Lebensformen. Er ver-
sucht Uneindeutigkeiten begrifflich zu
fassen und kritisch Einspruch zu erhe- Literatur
ben gegen die Tendenz zur Vereindeuti- Alltag, Jule (Hg.) 1996: „… eigentlich hab’ ich es
gung von Identitäten und zur Reproduk- schon immer gewußt…” Lesbisch-feministi-
tion starrer Machtverhältnisse. sche Arbeit mit Mädchen und jungen Lesben.
Hamburg
Über eine ‚Pädagogik vielfältiger Lebens- Breitenbach, Eva und Sabine Kausträter 1996:
weisen‘ versuche ich eine Neuakzentuie- „Einarbeiten in heterosexuelle Umgangsfor-
rung in der pädagogischen Praxis anzu- men“: Zur Bedeutung von Mädchenfreund-
regen, in der Bildungsprozesse für alle schaften in der Adoleszenz. In: Horstkemper,
Marianne und Margret Kraul (Hg.): Koeduka-
so gestaltet werden, dass diese
tion. Erbe und Chancen. Weinheim, S. 184-199
• eine Auseinandersetzung mit vielfälti- Butler, Judith 1991: Das Unbehagen der Ge-
gen Lebensweisen vor dem Hinter- schlechter. Frankfurt a. M.
grund gesellschaftlicher Machtver- Butler, Judith 1995: Körper von Gewicht. Die dis-
kursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin
hältnisse und Norm(alis)ierungsbe- Derrida, Jacques 1986: Positionen. Gespräche mit
strebungen anbieten und dem ‚Mehr’ Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houde-
des Dynamischen vielfältiger Lebens- bine, Guy Scarpettea. (Band 8), Wien
weisen Raum geben; Ellmenreich, Stefanie/Mester, Arturo 1997: Aus
• das Herausbilden eines geschlechtli- der Praxis: Was Jugendliche über Homose-
chen und sexuellen Selbstverständnis- xualität wissen wollen. In: KomBi – Kommuni-
ses unterstützen, das selbst beweglich kation und Bildung vom anderen Ufer (Hg.):
Was ist (schlimmer) lesbisch oder schwul zu
bleibt und Achtung und Wertschät- sein? Eine Broschüre zur Aufklärungs- und
zung gegenüber anderen Existenz- Bidlungsarbeit mit Jugendlichen zum Thema
und Lebensweisen beinhaltet; “Gleichgeschlechtliche Lebensweisen”. Berlin,
• ein Verflüssigen geschlechtsbezoge- S. 29-32
ner Einschränkungen im eigenen Le- Engel, Antke: Die VerUneindeutigung der Ge-
bensentwurf ermöglichen. schlechter – eine queere Strategie zur Verän-
derung gesellschaftlicher Machtverhältnis-
Ein solcher Zugang setzt bei der gelebten se? In: Heidel, Ulf u. a. (Hg.), S. 346-364.
Vielfalt selbst an und versucht die Struk- Foucault, Michel 1974/1991: Die Ordnung des Dis-
tur von Norm und Abweichung weder zu kurses. Mit einem Essay von Ralf Koners-
wiederholen noch zu verleugnen. Durch mann. Frankfurt a. M., S. 7-49
Foucault, Michel 1977: Der Wille zum Wissen. Se-
das Reflektieren kategorialer Grenzen xualität und Wahrheit. 9. Aufl. 1997. Frankfurt
und Machtverhältnisse beteiligt er sich an a. M.
deren Verschiebung. Wenn es gut läuft, Foucault, Michel 1978: Dispositive der Macht.
erfahren die Beteiligten dabei, was sein Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin

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struktive Pädagogik. Erziehungswissenschaft - Howald, Jenny 2001: Ein Mädchen ist ein Mäd-
liche Debatten unter poststrukturalistischen chen ist kein Mädchen? Mögliche Bedeutun-
Perspektiven. Opladen gen von “Queer Theory” für die feministische
Genschel, Corinna 2001: Erstrittene Subjektivität. Mädchenarbeit. In: Fritzsche, Bettina u. a.
Diskurse der Transsexualität. In: Das Argu- (Hg.), S. 295-309
ment 243, S. 821-833 Lauretis de, Theresa 1996: Die andere Szene. Psy-
Gildermeister, Regine/Wetterer, Angelika 1992: choanalyse und lesbische Sexualität. Berlin
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ka (Hg.): Traditionen Brüche. Freiburg, S. 201- scher Kritik. Ein Gespräch mit Cornelia Klin-
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Sonderausgabe der Zeitschrift ‚kea’14 dentität: Begutachtung, Begleitung, Therapie.
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Zwischen Heteronormativität und posttradi- burg
tionaler Vergesellschaftung. Zur sozialen und Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport
psychischen Situation lesbischer Mädchen (Hg.) 2006: Zusammen leben in Berlin: männ-
und schwuler Jungen in Nordrhein-Westfa- lich-weiblich-menschlich? Trans- und Interge-
len. Expertise im Auftrag des Ministeriums schlechtlichkeit. Berlin
für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nord- Stuve, Olaf 2001: “Queer Theory” und Jungenar-
rhein-Westfalen beit. Versuch einer paradoxen Verbindung. In:
Hartmann, Jutta 2001: Bewegungsräume zwi- Fritzsche, Bettina u. a. (Hg.), S. 281-294
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mus. Eine Pädagogik vielfältiger Lebenswei- Dekonstruktion/Kritik der Kategorie Ge-
sen als Herausforderung für die Erziehungs- schlecht – eine Chance für feministische So-
wissenschaft. In: Fritzsche, Bettina u. a. (Hg.), ziale Arbeit mit missbrauchten/misshandel-
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Hartmann, Jutta 2002: Vielfältige Lebensweisen. schaftskritik 80, S. 65-86
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ve Perspektiven für die Pädagogik. Opladen Warner, Michael 1991: „Introduction“. In: ders.
Hartmann, Jutta 2004: Dynamisierungen in der (Hg.): Fear of a Queer Planet. Queer Politics
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