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Lektüreseminar Kapital Bd.

1 (SoSe 2023)

4. Kapitel: Die Verwandlung von Geld in Kapital (S. 161-191)

Im vierten Kapitel stellt Marx dar, wie sich aus der Geldform die Kapitalform entwickelt und wie
die allgemeine Form des Kapitels aussieht (Kap. 4.1). Aufbauend darauf begründet er, wieso die
Kapitalbildung nicht (allein) der Sphäre der Zirkulation entspringt bzw. in der Zirkulation kein
Mehrwert geschaffen wird (Kap. 4.2). Und ausgehend von der Frage, woher der Mehrwert dann
stammt, wenn nicht aus der Sphäre der Zirkulation, kommt Marx auf die Ware Arbeitskraft und
ihre Eigentümlichkeiten zu sprechen (Kap. 4.3). Damit spannt Marx letztlich auch den Bogen von
der Zirkulations- zur Produktionssphäre und zum anschließenden fünften Kapitel („Arbeitsprozess
und Verwertungsprozess“).
Der Beginn des vierten Kapitels wird geleitet von der Frage, wie das Geld zu Kapital wird. Marx
deutet zum einen ein historisches Argument an: die Entstehung des Kapitals ist verbunden mit der
Entwicklung des Welthandels, d.h. mit der Ausweitung mit der Warenproduktion und -zirkulation,
vermittelt durch die Geldform. Vor allem entwickelt Marx sein Argument jedoch auf logischer
Ebene. Er setzt bei seinen Erörterungen über die einfache Warenzirkulation, zusammengefasst in der
Formel W–G–W, an, kehrt diese jedoch um. Wenn die Formel W–G–W für den „Verkauf zum
Kauf“ steht, dann steht die umgekehrte Formel G–W–G für den „Kauf zum Verkauf“, d.h. Waren
werden angekauft, um sie später wieder zu verkaufen.
Wenn auch beide Prozess ähnlich erscheinen, gibt es einige zentrale Unterschiede. In der ersten
Formel, der einfachen Warenzirkulation, vermittelt das Geld den Prozess; in der zweiten Formel die
Ware. Das handelnde Subjekt im Prozess der einfachen Warenzirkulation verfolgt die Absicht, ein
für sie nutzloses Produkt zu verkaufen, um ein nützliches Produkt kaufen zu können. Die einfache
Warenzirkulation hat daher die Konsumtion eines Gebrauchswert, und damit ein qualitatives
Kriterium, zum Ziel. Im Gegensatz dazu folgt der Prozess G–W–G keinem qualitativen Ziel. Aus
Gebrauchswertperspektive ist der Prozess ja sinnlos, denn das Endprodukt ist dasselbe wie zu
Beginn: Geld. Es geht dem Subjekt also allein um den Tauschwert, genauer gesagt, um die
Steigerung des Tauschwerts. Denn wenn keine qualitative Veränderung erreicht werden kann,
muss die angestrebte Veränderung ja eine rein quantitative sein (z.B. aus 10 Euro sollen 12 Euro
gemacht werden).
Der Prozess G–W–G ist daher eigentlich besser gefasst als G–W–G‘. Aus dem Ankauf von Ware
und dem anschließenden Verkauf soll sich ein sogenannter Mehrwert ergeben. Diese
Gesamtbewegung ist Marx zufolge die Bewegung des Kapitals bzw. der Kapitalbildung. Aufgrund
ihrer rein quantitativen Natur ist die Kapitalbewegung, im Gegensatz zur einfachen
Warenzirkulation, maßlos. Die Kapitalbewegung kennt nämlich keine Schranken in der Art und
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Weise, dass ihr Zweck, das Bedürfnis nach einem Gebrauchswert, irgendwann erfüllt ist. Sie ist
Selbstzweck, allein darauf ausgerichtet, Kapital zu akkumulieren. Als (menschlicher) Träger des
Kapitals agiert der Kapitalist, der auch nur insofern Kapitalist ist, indem er seine Funktion, der
Kapitalakkumulation zu dienen, erfüllt. Während der Kapitalist für Marx nur eine Personifikation
des Kapitals ist, ist dieses nur die Form der „prozessierenden Werts“ (S. 170). Ware und Geld
stellen aus dieser Sicht nur temporäre Existenzformen des prozessierenden Werts dar, sind jedoch
beide notwendig für seine Bewegung.
Im zweiten Unterkapitel stellt Marx die „Widersprüche der allgemeinen Formel“ dar.
Insbesondere geht es um die Frage, was die Zirkulationsform G–W–G‘ von der einfachen
Warenzirkulation unterscheidet, sodass erstere Mehrwert bildet und die andere nicht. Dabei geht
Marx auf einige Autoren der klassischen politischen Ökonomie ein, die die These vertreten, der
Mehrwert bilde sich in der Zirkulation. Diesen Autoren widerspricht Marx entschieden. Sofern die
Warenzirkulation ein Tausch von Äquivalenten ist, d.h. keine Person eine Ware unter oder über
ihrem Wert kauft oder verkauft, könne sich hier kein Mehrwert bilden. Selbst wenn man jedoch
annimmt, dass nicht immer reiner Äquivalententausch stattfindet, könne die Mehrwertbildung nicht
aus der Zirkulation erklärt werden. Zum einen gebe es keine festen Klassen von
Käufern/Konsumenten und Verkäufern/Produzenten in einer Gesellschaft der Warenbesitzer, sodass
ein Preisaufschlag von 10% z.B. sich letztlich auf alle Waren ausweiten könne und damit dieselbe
Wirkung wie eine einfache Inflation hätte.
Marx argumentiert ist hier für mein Empfinden etwas komisch angelegt, was jedoch an dem
beschränkten Stand der Argumentation liegen mag. Verständlicher ist Marx‘ Erläuterung in der
Fußnote 37 (S. 180f). Dort schreibt er, dass die Kapitalbildung erklärt werden müsse unter
Bedingungen des Äquivalententauschs, d.h. wenn der Warenwert seinem Preis entspricht, weil
Abweichungen von Wert und Preis, zumindest an dieser Stelle, als rein zufällig betrachtet werden
müssten und auch in der Realität sich die Abweichungen im Großen und Ganzen häufig gegenseitig
kompensieren würden. Der Kern des Unterkapitels ist jedoch die These, dass, entgegen der
Meinung einiger Autoren der politischen Ökonomie, die Zirkulation von Waren allein keinen
Wert bzw. Mehrwert schafft. Gleichzeitig bleibt die Zirkulation eine notwendige Bedingung für
die Kapitalbildung.
Wie kann es also sein, dass ohne die Zirkulationssphäre keine Kapitalbildung möglich ist, aber
die dafür notwendige Mehrwertbildung nicht durch die Zirkulation der Waren erfolgt. Marx löst
diesen scheinbaren Widerspruch durch die Einführung der Ware Arbeitskraft auf. Da die Bildung
von Mehrwert wie beschrieben nicht aus der Zirkulation, d.h. nicht aus einer Veränderung des Werts
in seinem Formwechsel, erklärt werden kann, muss es Marx zufolge eine Ware geben, deren
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Gebrauchswert eine wertschaffende Qualität habe. Diese Qualität findet sich in der Arbeitskraft, d.h.
dem menschlichen Vermögen einer bewussten Verausgabung physischer und geistiger
Fähigkeiten.
Dass die Arbeitskraft die Form der Ware annimmt, ist keine natürliche oder überhistorische
Konstante, sondern vielmehr ein spezifisches Element und Existenzbedingung der kapitalistischen
Produktionsweise. Dafür entscheidend ist die sogenannte doppelte Freiheit der Arbeiterin. Sie muss
freie Eigentümerin ihrer Arbeitskraft sein, d.h. unabhängig von persönlichen
Abhängigkeitsverhältnissen (wie im Feudalismus) freu über ihre Arbeitskraft verfügen können. Sie
muss gleichzeitig frei von Produktionsmitteln sein, damit sie zum Verkauf ihrer Arbeitskraft
materiell gezwungen ist. Diese beiden Bedingungen bilden, logisch sowie historisch, den Ursprung
der „freien Arbeiterin“, die dem Eigentümer des Kapitals gegenübertritt.
Der Wert der Ware Arbeitskraft wird Marx zufolge, wie bei anderen Waren, bestimmt durch
die zu ihrer (Re-)Produktion notwendige Arbeitszeit bzw., genauer gesagt, durch die Wertsumme
der Lebensmittel, die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig sind. Welche Lebensmittel
wiederum zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist, ist Marx zufolge abhängig von
natürlichen Bedingungen einerseits und historisch-sozialen Bedingungen andererseits. Neben
solchen Lebensmitteln, die das bloße physische Arbeitsvermögen erhalten (Nahrung, Wohnraum,
etc.) ist für das Kapital insbesondere auch relevant, dass die Fähigkeit zur Fortpflanzung der
Arbeitenden, die Erhaltung der Kinder sowie deren Erziehung und Bildung zur (spezialisierten)
Arbeitskraft sichergestellt ist. Für eine bestimmte Gesellschaft lässt sich nach Marx der
„Durchschnitts-Umreis der notwendigen Lebensmittel“ (S. 185) ermitteln. Andererseits gebe es
auch eine „Minimalgrenze des Werts der Arbeitskraft“. Diese Minimalgrenze ist bestimmt durch
die Wertsumme derjenigen Lebensmittel, ohne die die bloße Erhaltung der Arbeitskraft nicht
sichergestellt werden kann. Diese Minimalgrenze liegt jedoch in jedem Fall unter dem realen Wert
der Ware Arbeitskraft, der bestimmt ist durch das normale Niveau der Reproduktion der
Arbeitskraft.
Eine spezifische Eigenschaft der Ware Arbeitskraft ist, dass ihr Gebrauchswert und
Tauschwert zeitlich auseinanderfallen. Während ihr Tauschwert der Arbeitskraft bereits beim
Kauf bekannt ist, weil die notwendige Arbeitszeit zu ihrer Reproduktion bekannt ist, realisiert sich
ihr Gebrauchswert erst durch die tatsächliche Erbringung der Arbeitsleistung. Aufgrund dieser
Unsicherheit wird der Arbeitslohn in der Regel erst nach der Arbeitsleistung, in einem regelmäßigen
Turnus ausgezahlt. Die Arbeiterin kreditiert daher gewissermaßen dem Kapitalisten ihren Lohn,
womit sich auch die Möglichkeit des Lohndiebstahls ergibt.
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Damit schließt Marx seine Erörterung über die Ware Arbeitskraft vorerst ab und leitet über zum
fünften Kapitel („Arbeitsprozess und Verwertungsprozess“). Mit dem Wechsel vom vierten zum
fünften Kapitel verlässt Marx‘ Analyse die Sphäre der Zirkulation, den Markt, und betritt die Sphäre
der Produktion, den Betrieb. Die Freiheit und Gleichheit der Warenbesitzer, die in der
Zirkulationssphäre herrscht, endet dabei am Fabriktor. Durch die Analyse des Arbeitsprozesses soll
die Frage nach dem Ursprung des Mehrwerts näher untersucht werden. Grundsätzlich gilt jedoch:
„Der Konsumtionsprozess der Arbeitskraft ist zugleich der Produktionsprozess von Ware und
von Mehrwert“ (S. 189).

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