Sie sind auf Seite 1von 46

Bulletin I, 2019: Social Reproduction Theory (SRT)

Inhalt:
• Call for papers Seite 2

• Beschlusstext der Unterstützerversammlung 2019 Seite 3

• „Drei Fragen an SRT“ (David Paenson) Seite 15

• „SRT Debattenbeitrag“ (Vincent Streichhahn) Seite 16

• „Soziale Reproduktion im Kapitalismus“ (Ronda Kipka) Seite 22

• „Einschätzung zu Frauen*streik 2019: Anknüpfungspunkte für eine


weitergehende Debatte zur politischen Ausrichtung und den Gewinn-
Chancen“ (Silke Stöckle, Oliver Klar) Seite 28

• „Gleichstellung der Frauen: Um die Mauern niederzureißen ist die ganze Kraft
nötig“ (Stefanie Haenisch) Seite 32

• „Über Vogels „Toward a Unitary Theory“ (Frank Renken) Seite 38

(Anmerkung der Redaktion: die Reihenfolge der Beiträge sind nach Eingang geordnet)

1
+++Call for papers: Social Reproduction Theory / Soziale Reproduktionstheorie+++

Liebe Genossinnen und Genossen,

bei unserer Unterstützerversammlung im Januar haben wir Folgendes beschlossen:

„Die Theorie der Sozialen Reproduktion liefert einen bereichernden Beitrag für die Debatte
um ein marxistisches Verständnis der Reproduktion im Kapitalismus, an der wir uns weiter
solidarisch beteiligen.

Zu diesem Zweck eröffnet das Netzwerk Bulletins zur SRT im März und April 2019 mit
dem Ziel, die Positionierung von marx21 zu schärfen. Diskussionsgrundlage ist der
Begründungstext des Ko-Kreises. Auch nach April 2019 kann eine weitere Diskussion
über Bulletins noch sinnvoll sein. [...]“

Wir wollen nun die Bulletin-Debatte eröffnen, um in die Breite des Netzwerks die Debatte
um SRT konstruktiv zu führen. Ziel ist es, die Debatte aus den "Hinterzimmern" zu holen
und eine offene Debatte innerhalb von marx21 zu ermöglichen. Durch das Bulletin sollen
die unterschiedlichen Positionen zur Theorie der sozialen Reproduktion allen
Unterstützerinnen und Unterstützern transparent gemacht und eine breite Beteiligung an
der Debatte ermöglicht werden.

Wir freuen uns sehr über eure Beiträge zum Thema, folgende Rahmenbedingungen bitten
wir euch zu beachten:

• Die Grundlage für die Diskussion bildet der Begründungstext zum SRT-Antrag auf
der diesjährigen UV. Dieser ist Orientierung für eure Beiträge, was aber natürlich
nicht heißt, dass ihr euch ausschließlich an diesem Text abarbeiten müsst.
• Mögliche Diskussionsstränge können sein: Wo ergänzt / bereichert bzw.
widerspricht die SRT marxistischer Theorie? Was bedeutet SRT in der praktischen
Anwendung / Warum hat SRT für uns keinen praktischen Nutzen? Weitere
Fragestellungen könnt ihr natürlich auch selbst entwickeln.
• Die jeweiligen Texte sollen 25.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) nicht
überschreiten.
• Einsendeschluss für das erste Bulletin ist Samstag, der 6. April 2019.
• Im Laufe des Aprils veröffentlichen wir dann das erste Bulletin und rufen in einem
zweiten Bulletin zu möglichen Antworten oder weiteren Beiträgen auf.
• Bitte sendet eure Beiträge an info@marx21.de

2
Antrag: SRT als Beitrag für ein marxistisches Verständnis der Reproduktion im
Kapitalismus (Kokreis)
Die marx21 UnterstützerInnen-Versammlung möge beschließen:
Die Theorie der Sozialen Reproduktion liefert einen bereichernden Beitrag für die
Debatte um ein marxistisches Verständnis der Reproduktion im Kapitalismus, an
der wir uns weiter solidarisch beteiligen. Das Netzwerk strebt an bis zum
kommenden MARXISMUSS-Kongress eine Broschüre zum Thema Soziale
Reproduktion herauszugeben und sich weiterhin mit theoretischen Fragen der
Frauenunterdrückung zu befassen.

Begründung:
Seit Jahren engagiert sich marx21 im Kampf für mehr Personal in der Pflege, in der
LINKEN wird die Frage des bezahlbaren Wohnraums als Kampagne entwickelt und im
März 2019 wollen Millionen Frauen weltweit erneut in den Streik treten - diesmal auch in
Deutschland. Es ist Zeit, dass wir diese Entwicklungen auch theoretisch vertiefend
begleiten.
Sozialistische Theoretikerinnen und Theoretiker aber auch Aktivistinnen und Aktivisten
beziehen sich in den letzten Jahren vermehrt auf die sogenannte »Social Reproduction
Theory«, kurz SRT bzw. Soziale Reproduktionstheorie/Gesellschaftliche
Reproduktionstheorie. Ausgehend von Lise Vogels Buch »Marxism and the Oppression of
Women« aus dem Jahr 1983 1 wurde dieser theoretische Ansatz in den letzten Jahren in
viele Richtungen weiterdiskutiert. Wir verstehen die Grundannahmen der Theorie der
sozialen Reproduktion (SRT) als sinnvolle Erweiterung des revolutionären Marxismus.
SRT schärft unseren theoretischen Blick für die Analyse unseres alltäglichen Lebens: für
die Zustände im Gesundheitssystem, die Wohnungsnot und vieles mehr. SRT kann dazu
beitragen, die gesellschaftlichen Reproduktionsbedinungen als Teil des Kapitalismus zu
verstehen, sowie darin Widersprüche und Konfliktpotenzial als Kampfperspektiven zu
erkennen. Wir plädieren daher dafür, dass das Netzwerk Grundannahmen der SRT als
theoretischen Bezugspunkt aufnimmt und sich vornimmt, offene Fragen zu bearbeiten und
Bestehendes zu vertiefen, um so einen eigenen Standpunkt in die SRT-Debatte einbringen
zu können..

Was ist die SRT?


Die ersten Grundannahmen der Theorie der sozialen Reproduktion formulierte die
amerikanische Marxistin Lise Vogel 1983 2 . Ausgehend von einer Kritik an den
Patriarchatstheorien der zweiten Frauenbewegung, die vom Kapitalismus und dem
Patriarchat als zwei verschiedenen Systemen ausgingen, versuchte Vogel vom Kapital
ausgehend Grundelemente einer »Unitary Theory«, also einer Theorie der
Frauenunterdrückung, die diese nicht als vom Kapitalismus unabhängig versteht,
darzustellen. Dabei stellte sie klar: Die Befreiung der Frau darf nicht erst mit der
Überwindung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit angegangen werden und
kritisierte Auslegungen von Marx, die der Frauenunterdrückung einen Nebenschauplatz
zuschrieben.
Vogels Analyse beginnt mit dem Kapital, oder genauer: Sie schaut sich an, wie der Wert
der Ware Arbeitskraft »entsteht«. Der Kapitalismus basiert auf Kapitalakkumulation und

1 Wir beziehen uns im Folgenden zentral auf ihre Entwicklung der SRT. Das bedeutet nicht, dass wir alle anderen
Aspekte in ihrem Buch übernehmen, z.B. ihre Analyse vom Ostblock.
2 Neuauflage: Vogel: Marxism and the Oppression Of Women - Toward a Unitary Theory, 2013 (Haymarket
Books) Chicago

3
braucht dafür Ausbeutung. Das heißt, er braucht Menschen, die dazu gezwungen sind,
ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen. Unsere Kapazität zu arbeiten bzw. unsere
Arbeitskraft wird dadurch zur Ware. Der Wert einer Ware bemisst sich an der Arbeitszeit,
die benötigt wird, um diese Ware herzustellen. Im Kapital heißt es dazu:
»...es ist unterstellt, daß die in einer Ware enthaltene Arbeitszeit die zu ihrer Produktion
notwendige Arbeitszeit ist, d.h. die Arbeitszeit erheischt, um unter gegebenen allgemeinen
Produktionsbedingungen ein neues Exemplar derselben Ware zu produzieren.« 3
Lise Vogel fragt nun: wenn die menschliche Arbeitskraft ebenfalls zur Ware wird, wie wird
diese Ware hergestellt und produziert? Was sind das für allgemeine
Produktionsbedingungen, die die Arbeitskraft herstellen?
Marx sagt dazu:

»Wie der jeder andern Ware ist der Wert bestimmt durch das zu ihrer Produktion
notwendige Arbeitsquantum. Die Arbeitskraft eines Menschen existiert nur in seiner
lebendigen Leiblichkeit. Eine gewisse Menge Lebensmittel muß ein Mensch
konsumieren, um aufzuwachsen und sich am Leben zu erhalten. Der Mensch
unterliegt jedoch, wie die Maschine, der Abnutzung und muß durch einen andern
Menschen ersetzt werden. Außer der zu seiner eignen Erhaltung erheischten
Lebensmittel bedarf er einer andern Lebensmittelmenge, um eine gewisse Zahl
Kinder aufzuziehn, die ihn auf dem Arbeitsmarkt zu ersetzen und das Geschlecht
der Arbeiter zu verewigen haben. Mehr noch, um seine Arbeitskraft zu entwickeln
und ein gegebnes Geschick zu erwerben, muß eine weitere Menge von Werten
verausgabt werden.«4

Bereits Marx hat also Fragen der Reproduktion mit in den Wert der Ware Arbeitskraft
einfließen lassen, wobei er allerdings nicht weiter ins Detail geht. Die Erhaltung der
menschlichen Arbeitskraft beschreibt Marx noch mithilfe eines anderen Verhältnisses,
nämlich der individuellen und der produktiven Konsumption:

»Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion selbst
konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte
von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive
Konsumtion. Sie ist gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den
Kapitalisten, der sie gekauft hat. Andrerseits verwendet der Arbeiter das für den
Kauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel: dies ist seine individuelle
Konsumtion. Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also
total verschieden. In der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und
gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet
Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist
das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.
Bei Betrachtung des »Arbeitstags« usw. zeigte sich gelegentlich, daß der Arbeiter
oft gezwungen ist, seine individuelle Konsumtion zu einem bloßen Inzident des
Produktionsprozesses zu machen. In diesem Fall setzt er sich Lebensmittel zu, um
seine Arbeitskraft im Gang zu halten, wie der Dampfmaschine Kohle und Wasser,
dem Rad Öl zugesetzt wird. Seine Konsumtionsmittel sind dann bloß
Konsumtionsmittel eines Produktionsmittels, seine individuelle Konsumtion direkt
produktive Konsumtion.«5

3 Marx: Kapital Bd. 1, Kapitel , MEW 23 “Die Ware”, Seite 19


4 Marx: “Lohn, Preis und Profit” in MEW 16, S.131
5 Marx: Kapital Bd.1, Kapitel 21 “Einfache Reproduktion” MEW 23, S.596-597

4
Was Marx an dieser Stelle verdeutlicht, ist, dass wir Lebensmittel konsumieren, um uns
am Leben zu erhalten. Das tun wir im Kapitalismus jedoch maßgeblich für die
Mehrwertproduktion. Wir werden selbst zu Maschinen, die stetig ihren »Treibstoff«
brauchen. Unser alltägliches Leben, die »Lebensfunktionen außerhalb des
Produktionsprozesses«, dient letztlich dem Produktionsprozess. Kurz: Wie wir individuell
konsumieren und leben ist bestimmt durch das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus,
dass uns dazu zwingt, fortwährend Kapital zu produzieren.
Vogel erweitert diesen Gedanken von Marx, indem sie hervorhebt, dass dessen
Betrachtung der individuellen Konsumption zwar einen Teil der täglichen Reproduktion
eines Arbeiters oder einer Arbeiterin beschreibt, jedoch nicht im Einzelnen und
systematisch erklärt, wie es sich z.B. mit Kindern, Kranken und Alten außerhalb eines
Lohnarbeitsverhältnisses verhält.

»Das heißt, es deckt weder die generationelle Erneuerung der bestehenden


Arbeiter, noch den Erhalt der nicht-arbeitenden Individuen, wie der alten oder
kranken Menschen, ab. Es umfasst auch nicht die Anwerbung von neuen Arbeitern
für die Arbeiterschaft, beispielsweise durch Versklavung oder Immigration. Die
individuelle Konsumtion bezieht sich allein auf den Erhalt der individuellen
Produzentin, die bereits in den Produktionsprozess eingebunden ist; sie erlaubt der
Arbeiterin wieder und wieder am unmittelbaren Produktionsprozess teilzunehmen.«6
7

Während Marx lediglich anlediglich anlediglich andeutet, dass der Wert der Arbeitskraft
sich nicht allein durch die unmittelbar notwendige Konsumtion für die Arbeiterin bestimmt,
indem er voraussetzt, dass mit der Reproduktion des/der Arbeiter/in auch die
Reproduktion der Nachkommen oder der ganzen Familie enthalten ist. l Vogel will diesen
Aspekt jedoch genauer untersuchen.Hierbei nennt sie drei Bereiche, die in die Produktion
der Ware Arbeitskraft, die zwingend notwendig ist, um Mehrwert zu produzieren,
einfließen:

I. Die Herstellung der direkt von dem/der Arbeiter/in konsumierten Produkte


II. Die Aufrechterhaltung, Erziehung und Pflege all derer die gerade bzw. noch nicht im
Arbeitsprozess eingebundenen sind (Kinder, Kranke, Alte usw.)
III. Generationelle Reproduktion (Kinderkriegen)

Ein erheblicher Teil der Reproduktion findet nach wie vor im Privaten, also im Haushalt,
statt.. Aber, und das ist eine der zentralen Aussagen der SRT, sie findet nicht
ausschließlich zu Hause statt. Bei genauerer Betrachtung gibt es eine Vielzahl an
Prozessen, Aktivitäten und Institutionen, die dafür Sorge tragen, dass die nächste
Generation an Arbeitskräften produziert wird. Dazu zählen: Kindergärten, Schulen,
Universitäten, aber auch Krankenhäuser, Beratungsstellen, das ganze System der
Sozialleistungen und andere Dienstleistungen. Selbst die generationelle Reproduktion wird

6 Vogel: „Marxism and the oppression of Women“, S. 145


7 Vogel geht es an der Stelle um die systematische Betrachtung von Migration und Sklaverei in Zusammenhang mit
der Wiederherstellung und dem Wert der Ware Arbeitskraft. Selbstverständlich hat Marx selber viel zu Migration
geschrieben und auch dessen Rolle für den jeweiligen Arbeitsmarkt, als auch über Sklaverei und ihre Rolle für die
ursprüngliche Akkumulation. Desweiteren merkt Vogel an, dass Marx an einigen Stellen, wenn er die individelle
Konsumption eines Arbeiters meint, seine Familie „mitmeint“. Vogel möchte diese Ansätze konkretisieren und
systematisieren.

5
nicht allein durch die Geburtenrate eines Landes bestimmt, sondern wird ebenfalls durch
Migration und Einwanderung reguliert. 8
Vogels Perspektive zielt daher weniger auf den einzelnen Arbeiter oder Arbeiterinnen,
sondern auf den Prozess insgesamt, der die Arbeiterklasse im breiten Sinne
gesellschaftlich-sozial reproduziert.
Sie deutet darauf, dass diese drei Bereiche nicht vom Himmel fallen, sondern politischen
Akteuren und Prozessen unterliegen.

Soziale Reproduktion als notwendige Bedingung für Kapitalakkumulation

»Die Soziale Reproduktion des kapitalistischen Systems – um genau zu sein, die


Reproduktion jenes Systems, wie Marx es benutzt – geht daher nicht um die
Trennung einer nicht-ökonomischen Sphäre von einer Ökonomischen, sondern
darum, wie der ökonomische Impuls der kapitalistischen Produktion das
sogenannte Nicht-Ökonomische konditioniert.« 9

Es geht an dieser Stelle nicht darum, der Sphäre der Produktion die der Reproduktion
schematisch gegenüberzustellen, sondern danach zu fragen, wie beide einander
bedingen. Es geht der Sozialen Reproduktionstheorie um die zunächst banal klingende
Feststellung, dass die Kapitalakkumulation nur durch eine langfristig gewährleistete
Ausbeutung von Menschen bzw. Arbeitskräften möglich ist. Die Reproduktion der
Menschen als »Arbeitskräfte« ist ein sozialer Prozess, der kapitalistischen Regeln folgt.
Um den kapitalistischen Produktionsprozess in seiner Komplexität zu denken, erfordert es
auch einer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen.
SRT hilft uns, jene Prozesse der »Arbeitskraftproduktion« marxistisch einzuordnen und sie
als Teil des sich reproduzierenden Systems zu verstehen, sowie darin Widersprüche und
Konfliktpotenzial, also Kampfperspektiven zu erkennen.
Wie oben beschrieben, ist die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft eine komplexe
Angelegenheit. Arbeitskräfte müssen geboren oder über die Grenze kommen/geholt,
erzogen und ausgebildet werden. Sie müssen aber auch gesund gehalten werden, den
Arbeitsplatz erreichen können, einen Ort zum Schlafen und ausreichend Nahrungsmittel
zur Verfügung haben. Da diese Prozesse an sich zeitaufwendig und aus Sicht des Kapitals
kostspielig sind, gehen sie direkt oder indirekt,je nach historisch spezifischer
Organisierung dieser Prozesse im jeweiligen nationalen Raum, zu Lasten der
Mehrwertproduktion. Je mehr Geld in die Gesundheitsversorgung geht, je mehr Zeit der
Regeneration oder der Pflege usw. zugestanden wird/werden muss, desto schlechter für
das Kapital. Das bedeutet, die Herrschenden sind darauf angewiesen, Strategien zu
entwickeln, wie die sozial-gesellschaftliche Reproduktion »ihrer« Arbeitskräfte so billig und
effizient wie möglich gewährleistet wird. Anders gesagt: der Wert der Ware Arbeitskraft
wird versucht gering zu halten, denn:

»Die Rate des Mehrwerts wird, wenn alle andern Umstände gleich bleiben,
abhängen von der Proportion zwischen dem zur Reproduktion des Werts der
Arbeitskraft notwendigen Teil des Arbeitstags und der für den Kapitalisten
verrichteten Mehrarbeitszeit oder Mehrarbeit.« 10

8 Darauf geht Lise Vogel selbst wenig in ihrem Buch ein, jedoch aktuelle Vertreter*innen dieser Theorie. Siehe
zum Beispiel David McNally / Sue Ferguson: Precarious Migrants: Gender, Race and the Social Reproduction of a
global working class, in: Socialist Register, 2015
9 Bhattacharya: How not to skip class, aus Social Reproduction Theory, S.75
10 Marx: “Lohn, Preis und Profit”, MEW 16, S.134

6
Je weniger Arbeitszeit in unsere Reproduktion gesteckt werden muss, desto mehr Zeit
bleibt für Ausbeutung.
Der Wert der Ware Arbeitskraft kann jedoch nicht unendlich »nach unten« gedrückt
werden. Die Balance zu halten, zwischen günstiger, jedoch ausreichender Reproduktion
ist Aufgabe des Staates als, wie Engels ihn nannte, »ideeller Gesamtkapitalist«. In Form
von Gesetzen und deren Überwachung, wird dafür gesorgt, Arbeitskräfte zu reproduzieren
und für den Arbeitsmarkt bereitzustellen. Die Kapitalisten hingegen stehen gegenseitig in
Konkurrenz zueinander und haben im Zweifelsfall nur die unmittelbare Ausbeutungsrate
vor Augen. Solange sie genug Nachschub an Arbeitskräften bekommen, muss es sie nicht
interessieren, ob diese überleben. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte oder
auch heute, in denen es Kapitalisten völlig egal war, ob sich ihre Arbeiter rund um die Uhr
zu Tode schuften, solange der Nachschub von Arbeitskräften geregelt war.
Der “ideelle Gesamtkapitalist” ist darauf bedacht, den Nachschub von Arbeitskraft zu
sichern. Das wird in einem weiten Sinne gedacht und schließt auch die Vermeidung von
Aufständen und die Reglementierung bis hin zum Verbot von Streiks ein. Die
Arbeiter*innen müssen sich auch ausbeuten lassen.

Wo war jetzt nochmal die Frauenunterdrückung?


Durch eine gezielte Familien- Sexual- und Frauenpolitik sorgt der Staat dafür, die
Reproduktion und Produktion einer nächsten Generation von Arbeitskräften zu
gewährleisten. Teile der früher privat verrichteten Repoduktionsarbeiten wurden
vergesellschaftet, um die weibliche Arbeitskraft als Niedriglohnressource zu erschließen.
Weiterhin wird die Hauptlast der verbliebenen privaten Reproduktionslast den Frauen
aufgebürdet.Warum? Zum einen nützt die „Abwertung“ von „Frauenarbeit“ und
„Frauenarbeitskraft“ dem allgemeinen Senken der Löhne und damit der allgemeinen
Abwertung der Ware Arbeitskraft. Zum anderen ist es eine kostengünstige Methode,
Reproduktionsarbeiten nicht staatlich zu organisieren und damit auch nicht staatlich
finanzieren zu müssen.11. Dazu gehört das Wäschewaschen, Kochen und Einkaufen, aber
auch die Kindererziehung, Betreuung und Pflege. Beispielsweise wurden 2015 von
insgesamt 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland 2,08 Millionen (73 Prozent) in
privaten Haushalten versorgt, davon 1,38 Millionen von Angehörigen ganz ohne
Unterstützung ambulanter Pflegedienste.12 Mit 48 Prozent wird also knapp die Hälfte der
Pflegebedürftigen allein von Angehörigen gepflegt. Laut einem neuen Gutachten leisten
Frauen für Kinder, Haushalt, Pflege und Ehrenamt täglich 52 Prozent mehr unbezahlte
Arbeit als Männer.13
Aber warum fallen diese reproduktiven Tätigkeiten meist Frauen zu? Wäschewaschen,
Kinder erziehen und Kranke pflegen, können schließlich auch Männer. In
Klassengesellschaften, so Lise Vogel, führe die eigentlich biologisch beschränkte Zeit der
Schwangerschaft, in der die Frau das Kind austrägt und der Mann (oder eine andere
Person) für die Frau sorgt, tendenziell zu einer bestimmten Arbeitsteilung und
Institutionalisierung.

11 Ebenso nützt die “Abwertung” von “Frauenarbeit und Frauenarbeitskraft” dem allgemeinen Senken der Löhne
und damit der allgemeinen Abwertung der Ware Arbeitskraft.
12 Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2015, Deutschlandergebnisse
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/Pflege/
PflegeDeutschlandergebnisse5224001159004.pdf?__blob=publicationFile S.5
13 https://www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/gleichstellung-frauen-maenner-unbezahlte-arbeit-gutachten

7
»Im Prinzip sind die unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern in der
Reproduktion der Arbeitskraft von begrenzter Dauer. Sie spielen nur während der
Monate der Schwangerschaft und Geburt eine Rolle. In Realität nehmen diese
Rollen in einer Vielzahl von sozialen Strukturen eine spezielle historische Form an,
die der Familie. Auf theoretischer Ebene lassen sich Familien in den
untergeordneten Klassen als verwandtschaftsbasierte soziale Einheiten
konzeptualisieren. Innerhalb dieser tragen Männer die größere Verantwortung, die
schwangere Frau, zur Zeit ihrer reduzierten Arbeitsleistung, mit Subsistenzmitteln
zu versorgen. Als institutionalisierte Strukturen der Klassengesellschaften, erweisen
sich die Familien der untergeordneten Klassen für gewöhnlich als wichtige soziale
Stätten, in denen die Komponenten der notwendigen Arbeit – Aufrechterhaltung und
generationelle Erneuerung – verrichtet werden. An dieser Stelle zeigt sich eine
wichtige Quelle der historischen Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern, die
den Frauen und Männern in Bezug auf die notwendige Arbeit und Mehrarbeit
unterschiedliche Rollen zuweist.«14

Das bedeutet nicht, dass Reproduktionsarbeiten naturgemäß Frauen obliegen. In seinem


Streben nach günstiger Reproduktion, werden reproduktive Tätigkeiten vom Staat im
Kapitalismus an eine spezifische »soziale Gruppe«, die Frauen, delegiert. 15 Das geht mit
einer "Abwertung«16 im doppelten Sinne einher. Einerseits wird diese Arbeit im
»kapitalistischen Idealfall« als Privatarbeit nicht individuell entlohn, andererseits werden
diese Arbeiten ideologisch als »natürlich«, »Arbeit aus Liebe« usw. markiert.
Des Weiteren stellt Vogel klar, dass sogar wenn gewisse Arbeiten in einer Gesellschaft
eher Männern oder Frauen zugewiesen werden, das noch kein Grund für Unterdrückung
wäre:

»Die Tatsache, dass Frauen und Männer während Schwangerschaft und Stillzeit,
und oftmals sogar noch länger, in unterschiedlichem Maße an der Reproduktion der
Arbeitskraft beteiligt sind, konstituiert nicht notwendigerweise den Ursprung der
Unterdrückung. Arbeitsteilung existiert in allen Gesellschaften. (...) Auch die durch
biologische und soziale Entwicklung entstehenden Unterschiede von Menschen
existieren in jeder Gesellschaft. Einige Individuen sind möglicherweise geistig oder
körperlich eingeschränkt. Einige sind heterosexuell, andere homosexuell. Einige
heiraten, Andere nicht. Und natürlich mögen einige Männer sein und andere Frauen
mit der Fähigkeit des Kinderkriegens. Die soziale Bedeutung von Arbeitsteilung und
individuellen Unterschieden wird durch ihre Einbettung in eine gegebenen
Gesellschaft konstruiert. Aus der Perspektive des der herrschenden Klasse
inhärenten Bedürfnisses nach Aneignung von Mehrarbeit erzeugt die Fähigkeit von
Frauen, Kinder zu bekommen, Widersprüche. Die Unterdrückung der Frauen in der
ausgebeuteten Klasse nimmt ihre Form im Prozess des Klassenkampfes um die
Lösung dieser Widersprüche an.«17 18
14 Vogel, S.152
15 Es geht Lise Vogel hier um die abstrakt-theoretischen Dynamiken, nicht den historischen Ursprung der
Frauenunterdrückung. Der Kapitalismus baut in dem Fall auf einer historischen Arbeitsteilung auf und macht sie sich zu
eigen.
16 Abwertung ist hier im herkömmlichen Sinne gemeint. Private Hausarbeit ist im marxistischen Sinne nicht
“wertschöpfend”, sie reproduziert lediglich Arbeitskraft, die dann im Kapitalismus fähig ist Wert zu erarbeiten.
17 Vogel, S.153
18 Zur Debatte wo der theoretische Ursprung der Frauenunterdrückung liegt, schreibt Vogel: »Es muss betont
werden, dass die Existenz der Frauenunterdrückung in den Klassengesellschaften ein historisches Phänomen ist. Sie
kann, wie es hier geschieht, mit Hilfe eines theoretischen Rahmens analysiert werden, doch sie ist nicht selbst

8
Frauenunterdrückung ist also keine rein ideologische Frage, sondern fußt auf den realen,
materiellen Bedingungen und Strukturen in der Gesellschaft, die wiederum dazu führen,
dass Staat und herrschende Klasse Frauen eine gewisse Rolle und gewisse Arbeiten
(sowohl Tätigkeiten allgemein, als auch Lohnarbeit) zuschreiben. Es geht dem
Kapitalismus nicht um Frauenunterdrückung per se, sondern Frauenunterdrückung
reproduziert sich tagtäglich aufgrund der Strukturlogik des kapitalistischen
Akkumulationsprozesses.

Die Rolle des Staates


Die Soziale Reproduktionstheorie nimmt vordergründig die Handlungen der Akteure, auf
der einen Seite der Staat und das Kapital und auf der anderen Seite die Arbeiterklasse,
sowie die durch deren Handlungen manifestierten Strukturen in den Blick.
»Auch wenn einzelne Kapitalisten ein Interesse an maximaler Ausbeutung haben,
ist die völlige Zerrüttung der Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen der
langfristigen Stabilität des Systems abträglich. Daraus abgeleitet ist der
“Sozialstaat”, also insbesondere Arbeits- und Sozialgesetzgebung, Teile des
Familienrechts, Rentensystem und Rentengesetzgebung, staatliche Maßnahmen
wie der soziale Wohnungsbau auf drei wesentliche Leitorientierungen
zurückzuführen: die Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Schicht von
Lohnabhängigen, die Vermeidung des unmittelbaren, noch nicht bewusst
politischen Kampfes wie dem “Niederbrennen einer Fabrik”, und schließlich der
Befriedung des politischen Klassenkampfs durch gewisse Zugeständnisse an die
unterdrückten Klassen.«19

Hierbei ist zentral, dass es dem Staat lediglich um die marktkonforme Aufrechterhaltung
der Ware Arbeitskraft geht und nicht um die Bedürfnisse der Lohnabhängigen.
Andererseits ist der Staat dabei von einer relativen Autonomie gegenüber dem Kapital
geprägt, handelt zugleich natürlich keineswegs neutral. Der Staat hält die
Eigentumsverhältnisse aufrecht und ist bestrebt, die Ausbeutungsrate zu verschärfen.
Allerdings knüpft er dem Kapital auch einen Teil seines Mehrwertes ab, den er für die
Bereitstellung staatlicher Leistungen benötigt. Der Staat ist nämlich ebenfalls von einem
gewissen Grad an Zustimmung aus der Bevölkerung abhängig. Der Staat, das ist eine der
Lehren der marxistischen Staatstheorie, ist also relativ eigenständig, aber keineswegs
neutral.
Während der Staat einerseits für die Aufrechterhaltung der Bedingungen der
Mehrwertakkumulation verantwortlich ist, steht er andererseits im Konflikt mit Kapitalisten,
da er mittels Steuern und Abgaben Anspruch auf einen Teil des Mehrwerts erhebt. Chris
Harman formuliert, dass »zwischen der Staatsbürokratie und dem Rest der
kapitalistischen Klasse ein ständiger Konflikt über die Höhe des Staatsanteils am
gesamtgesellschaftlichen Mehrwert«20 herrscht. Und dieser Anteil am Mehrwert ist nicht
unerheblich:

theoretisch herleitbar. Verwirrungen über den Charakter der Frauenunterdrückung haben regelmäßig eine unproduktive
Suche nach den letztendlichen theoretischen Ursachen oder Ursprüngen der Frauenunterdrückung erzeugt. Natürlich
gibt es Ursprünge, aber sie sind historischer Art, nicht theoretischer.« (Vogel, S. 154)
19 Bornost, Schröppel: Der Marxismus und der Staat - eine kurze Einführung, aus: theorie21 Staat, Regierung,
Revolution, S.24
20 Harman: “Der Staat und das Kapital heute”, t21, S.51

9
»Im alternden Kapitalismus ist der Anteil des Volkseinkommens, der durch die
Hände des Staates fließt, gewöhnlich viel größer als das direkte Einkommen der
kapitalistischen Klasse aus Profiten, Zinsen und Pachteinnahmen. Die staatlich
organisierten Investitionen betragen oft mehr als die Hälfte der
Gesamtinvestitionen. Die Staatsbürokratie verfügt über einen enormen Anteil am
gesellschaftlichen Mehrprodukt und überwacht bedeutende Teile der
wirtschaftlichen Aktivitäten.«21

Das verdeutlicht erneut, welch bedeutende Rolle der Staat für die Aufrechterhaltung der
Produktionsbedingungen spielt. Doch welche Arbeiten und Kosten übernimmt der Staat,
um »die Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Schicht von Lohnabhängigen« zu
gewährleisten? Norbert Wohlfahrt schreibt dazu:

»Wenn der Staat ganze Sektoren der Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen
dem Markt entzieht, tut er dies nicht als Alternative zum privatkapitalistischen
Geschehen, sondern weil die von ihm als notwendig erachteten Infrastrukturen vom
Markt allein nicht zustande gebracht werden. Die gemeinwirtschaftliche Versorgung
mit elementaren Gütern und Dienstleistungen wie Wasser, Strom,
Verkehrsinfrastruktur, Gesundheitspflege oder Schulbildung erfolgt von einem
übergeordneten Standpunkt aus: Ziel ist die Pflege und Erhaltung der als Staatsvolk
zusammengefassten Bürgerinnen und Bürger als Basis und Ressource nationaler
Standortpolitik. Der Staat erbringt entweder unprofitable, aber notwendige
Voraussetzungen für die Gewinnwirtschaft oder er übernimmt, als Reaktion auf die
Schädigungen der Konkurrenzgesellschaft, kompensatorische Leistungen wie die
Aufrechterhaltung der Volksgesundheit.«22

und weiter:

»Solche staatlichen Setzungen sind Gegenstand dauerhafter Abwägungen: Welche


Dienstleistungen werden in welcher Qualität benötigt, um eine von staatlichen
Transfers unabhängige Reproduktion der Arbeitskräfte zu gewährleisten? Welche
Dienstleistungen sind erforderlich, um die staatlich als notwendig erachteten
Ausbildungs- und Instandhaltungsarbeiten der bürgerlichen Verhältnisse
durchzusetzen (Schulwesen, Schutz von Kindern und Jugendlichen)?« 23 24

Grundsätzlich gilt dennoch: Reproduktion der Arbeitskräfte muss zwar gewährleistet


werden, darf aber kein zu großes Hindernis für die Profitrate werden. Man sieht es in
Krisenzeiten: wenn die Profite in Gefahr sind, wird die Reproduktion der Arbeitskraft hinten
angestellt, der Sozialstaat drastisch gekürzt und ins »private« und die Familien verlagert.
Denn die Zahlungsfähigkeit des Staates ist abhängig von dem Niveau der
Steuereinnahmen und große Krisen zwingen ihn, Kürzungen vorzunehmen, die wiederum

21 Harman: “Der Staat und das Kapital heute”, aus dem theorie21 Staat, Regierung, Revolution, 1/2016, S.48
22 Wohlfahrt: “Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen - Die Ökonomisierung Sozialer Dienste”,
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/ (Mai 2015)
23 Wohlfahrt: “Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen”
24 Hier spielen selbstverständlich weitere Rahmenbedingungen eine Rolle, beispielsweise internationale
Konkurrenz, als auch Krisenbedingungen, wo Ausgaben für den Sozialstaat eine wichtige Stellschraube bleibt, um die
Profite zu gewährleisten.

10
das Ziel des sozialen Ausgleichs zur Dämpfung von Klassenkämpfen gefährden können
(1929-1933). Die Zahlungswilligkeit hängt vom allgemeinen Stand der Klassenkämpfe,
Organisiertheit und Widerstandsfähigkeit der unteren Klassen ab.
Wir halten fest, dass es sich um einen dynamischen Bereich handelt, der einer steten
Aushandlung darüber unterliegt, welche reproduktiven Arbeiten privat in der Familie,
staatlich oder marktwirtschaftlich organisiert werden. Das Ergebnis dieser Aushandlungen
ist das Resultat von Klassenkämpfen.
Nun könnte man einwenden, dass doch auch im Gesundheitswesen Profit gemacht wird
und der Sektor Stück für Stück vom Markt eingenommen wird. Wieso gibt der Staat den
Gesundheitsbereich nicht vollends an die privatwirtschaft ab? Tatsächlich werden große
Teile immer weiter privatisiert. Doch entsteht tendenziell ein Widerspruch zwischen dem
Anspruch der Gewinnmaximierung auf dem Markt und dem tatsächlichen Bedürfnis einer
Aufrechterhaltung der »Volksgesundheit«. Mit gewissen Arbeiten, z.B. im Pflegebereich,
also die ganz direkte Pflege am Patienten, lässt sich kein Profit erwirtschaften, weil sie
nicht über Fallpauschalen abgerechnet werden können. Zwar wird auch bei staatliche
Krankenhäusern Profit erwirtschaftet und damit auch Abläufe möglichst kostengünstig
organisiert, manche Tätigkeiten bleiben jedoch ein Kostenfaktor, sodass der Staat auch
bei Privatisierungen Sozialer Dienstleistungen früher oder später kompensierend
eingreifen muss. Die Profite im Pflegebereich tragen nicht zur Akkumulation des Kapitals
bei, daher hat das Kapital hier grundsätzlich kein Interesse an einer Ausweitung des
Sektors.

»Das Geschäft mit der Gesundheit funktioniert nur dadurch, dass ein Teil des
Lohneinkommens der erwerbstätigen Bevölkerung zwangskollektiviert wird. Die
Gewinne der Pharmaindustrie, Ärztehonorare und Krankenhausbudgets sind also
nicht in erster Linie das Ergebnis einer privatkapitalistisch kalkulierten Geldanlage.
Sie basieren stattdessen auf sozialstaatlich hergestellter Zahlungsfähigkeit.
Gleiches gilt für die Soziale Arbeit (in professioneller und organisatorischer
Form).«25

Denn der Soziallohn und die Kassenbeiträge speisen sich am Ende auch aus der
arbeitenden Bevölkerung und deren Ausbeutung.

»Staatseinkommen werden durch die Besteuerung von Individuen gewonnen. Aber


diese Individuen werden versuchen, den erlittenen Kaufkraftverlust durch Kämpfe in
der Sphäre der Produktion wieder wettzumachen – die Kapitalisten, indem sie
versuchen, eine höhere Ausbeutungsrate zu erzwingen, die Arbeiter, indem sie für
höhere Löhne kämpfen. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte bestimmt den
Spielraum, den der Staat zur Steigerung seiner Einkünfte zur Verfügung hat. Diese
sind Teil des gesamtgesellschaftlichen Mehrprodukts (des Gesamtwerts des
Arbeitsproduktes nach Abzug der Kosten für die Wiederherstellung der Arbeitskraft,
also der Nettolöhne - Genauer genommen müsste man den Nettolöhnen noch die
sozialen Leistungen hinzurechnen, und diese wiederum den Staatseinnahmen
abziehen).«26
25 Wohlfahrt: “Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen”
26 Harman: “Der Staat und das Kapital heute”, S.50-51

11
Harman rechnet hier ebenfalls dem Wert der Ware Arbeitskraft indirekt die sozialen
Leistungen hinzu, die von staatlicher Seite gestellt werden. Dabei betont er die Bedeutung
von Klassenkämpfen für den Spielraum des Staates, seine Einnahmen zu steigern. Damit
sind wir beim zentralen Punkt der SRT angekommen: dem Klassenkampf!

Die zentrale Rolle der Kräfteverhältnisse und der Zusammenhang von Ausbeutung
und Unterdrückung
»Kurz gesagt, die Prozesse der Reproduktion der Arbeitskraft in Klassengesellschaften
bilden grundsätzlich ein wichtiges Kampffeld.« 27
Wie wir uns reproduzieren, unterliegt nicht nur der Agenda der herrschenden Klasse oder
der Staats- und Unternehmenspolitik, sondern auch unserem Widerstand gegen jene
Abwertung, gegen staatliche Kürzungen im Gesundheitswesen, gegen Privatisierungen
von sozialen Diensten, gegen wirtschaftlich-rassistisch motivierte Grenz- und
Einwanderungspolitik, gegen Spekulation mit Wohnraum und gegen Lohnkürzungen. In
einem Satz: Es hängt maßgeblich von unserem Widerstand gegen die Strukturierung der
gesamten Gesellschaft nach kapitalistischer Profitlogik und Ausbeutungseffizienz ab.
Wenn wir den Anspruch auf höhere Löhne, auf gleiche Löhne für gleiche Arbeit, auf
kostenlosen Nahverkehr, auf die Einbürgerung von Geflüchteten, auf mehr Personal in
Schulen, Kindergärten, Pflegeheimen und Krankenhäusern, auf kostenlose Bildung
erheben, dann kämpfen wir für eine Aufwertung der Ware Arbeitskraft. Dann machen wir
den Kapitalisten den Mehrwert streitig, den sie unserer Klasse abgeknöpft haben.
Tithi Bhattacharya argumentiert Marx folgend, dass der Wert der Ware Arbeitskraft keine
fixe Gegebenheit ist, sondern auch maßgeblich vom Stand der Klassenkämpfe bestimmt
wird. Konkret geht es um die folgende Passage im Kapital:

»Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung


usw., sind verschieden je nach den klimatischen und anderen natürlichen
Eigentümlichkeiten eines Landes. Andererseits ist der Umfang sog. notwendiger
Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und
hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter anderem auch
wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen
Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet
hat. Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der
Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu
einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen
Lebensmittel gegeben.«28

Wenn sich der Wert der Ware Arbeitskraft an den notwendigen Lebensmitteln zur
Reproduktion der Arbeitskraft bemisst, diese jedoch ein moralisches und historisches
Moment enthalten, so wird auch hier noch einmal deutlich, welch zentrale Rolle die
Formen der Reproduktion im Ausbeutungsverhältnis spielen.

»Auf theoretischer Ebene bedeutet solch ein weiterer Blick auf die
Verschiedenartigkeit der politischen Konfliktfelder, die aus dem Kapitalverhältnis
hervorgehen, ein Verständnis dafür, dass die Reproduktion der kapitalistischen
Gesellschaft auf verschiedene Formen menschlicher Arbeit angewiesen ist. Die
Ausbeutung strukturiert daher nicht nur den Bereich der Lohnarbeit, sondern auch

27 Vogel, S.156
28 Marx, Kapital I, MEW 23, S.185.

12
jene Arbeiten und Dynamiken, die außerhalb bzw. nach der Lohnarbeit vonstatten
gehen. Mit diesem Ausgangspunkt, die kapitalistische Gesellschaft in ihrer sozialen
Totalität begreiflich zu machen, lässt sich erklären, inwiefern sich der Kapitalismus
als antagonistische Gesellschaftsformation zugleich sexistische und rassistische
Beziehungen zu Eigen macht.«29

Die Soziale Reproduktionstheorie versucht diese soziale Totalität zu erfassen. Sie will
aufzeigen, dass der Kapitalismus nicht nur ein Produktionsgefüge ist, sondern ein
Produktions- und Reproduktionsgefüge. Dabei geht es ausdrücklich nicht um zwei in sich
abgeschlossene Sphären, sondern um ihre wechselseitige Bedingtheit. 30 Auf theoretischer
Ebene soll ein solch geweiteter Blick dazu beitragen, verschiedene gesellschaftliche
Konfliktfelder als Teil von Klassenauseinandersetzungen zu erkennen.

Abschließend zusammengefasst:

I. SRT ordnet die Fragen von Hausarbeit, Familienpolitik und sexueller


Selbstbestimmung als Faktoren der Kapitalakkumulation in den kapitalistischen
Verhältnissen selbst ein. Deren konkrete Ausformung sind die Ergebnisse des
Klassenkampfes, sowohl von unten als auch von oben (im Rahmen des Stands der
ökonomischen Entwicklungen).
II. Wie im Marxismus allgemein gibt es auch bei SRT verschiedene Auslegungen und
missverständliche Zuspitzungen. In diesem Sinne will das marx21-Netzwerk die
SRT weiterentwickeln, um einen eigenen Standpunkt in die Diskussion um
Frauenunterdrückung, Reproduktion und Perspektiven des Widerstands
einzubringen. Wir verstehen SRT als gewinnbringende Erweiterung eines
revolutionären Marxismus. SRT hilft uns, den/die Arbeiter/in im Kapitalismus in ihrer
Ganzheit zu verstehen, d.h. anzuerkennen, dass sein/ihr Leben nicht nur über das
Lohnverhältnis, sondern auch als Teil einer Familie, als Bewohnerin eines
Stadtviertels, als Patientin usw. durch Kapitalinteressen strukturiert wird.

Literatur:
Bhattacharya, Tithi: How Not to Skip Class, aus: Social Reproduction Theory - Remapping
Class, Recentering Oppression, 2017 (Pluto Press) London, S.68-93
Bornost, Stefan und Schröppel, Christian: Der Marxismus und der Staat - eine kurze
Einführung, aus: theorie21 Staat, Regierung, Revolution, 1/2016, Berlin (Aurora) S.13-38
Harman, Chris: Der Staat und das Kapital heute, aus: theorie21 Staat, Regierung,
Revolution, 1/2016, Berlin (Aurora), S.39-54
Severin, Paul: Revolutionäre Strategie für das 21. Jahrhundert - eine Einladung zur
Diskussion, aus: theorie21 Staat, Regierung, Revolution, 1/2016, Berlin (Aurora) S. 219-
250

29 Severin: Revolutionäre Strategie für das 21. Jahrhundert - eine Einladung zur Diskussion, aus Theorie21
“Staat, Regierung, Revolution” S. 241
30 Aufpassen: hiermit ist nicht gemeint, dass die Form und die Dynamik einer »Reproduktionsweise« die
gesellschaftliche Entwicklung vorantreibt. Es geht darum, dass eine gewisse Produktionsweise auch eine Form der
Reproduktion hervorbringt und diese Teil von Klassenauseinandersetzungen ist. “...the social reproduction perspective
starts out from a theoretical position - namely, that class-struggle over the conditions of production represent the central
dynamic of social development in societies characterised by exploitation.” (Vogel, S.135; deutsch: Die Perspektive der
sozialen Reproduktion, startet von einem theoretischen Standpunkt aus - nämlich, dass Klassenkampf um die
Konditionen der Produktion die zentrale Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung von Klassengesellschaften
darstellt.)

13
Vogel, Lise: Marxism and the Oppression of Women - Toward a Unitary Theory, 2013
(Haymarket Books) Chicago
Wohlfahrt, Norbert: Vom Geschäft mit Grundbedürfnissen - Die Ökonomisierung Sozialer
Dienste, https://www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-geschaeft-mit-grundbeduerfnissen/ (Mai
2015)

14
Drei Fragen an SRT (Dave Paenson)
1. Dienen Arbeiten wie Stromlieferung, Müllabfuhr, öffentlicher Transport, industrielles
Brotbacken nicht der Reproduktion der Arbeitskraft? Was ist der prinzipielle
Unterschied zwischen einem männlichen Arbeiter in einem städtischen Kraftwerk
und einer Krankenschwester? Im Fall eines Streiks muss ersterer sich nicht
genauso Sorgen machen, weil die Konsumenten in ihren Wohnungen frieren und
nicht kochen können?
2. Was ist der prinzipielle Unterschied zwischen einem Krankenhausbesuch in einem
privaten Krankenhaus, den ich direkt in Geld aus meinem Lohn bezahlen muss, und
dem Besuch eines Krankenhauses, dessen Kosten indirekt durch Steuern getragen
werden?
3. Wieso »unbezahlte Hausarbeit«? Deckt der Lohn (in Geldform oder in Gestalt von
staatlichen Hilfen) nicht die Lebenshaltungskosten der plegenden Person und der
Empfängerin der Pflege?

Meine ausführliche Kritik an SRT online: http://fotoshot.co/srtmarx.pdf

15
Social Reproduction Theory – Debattenbeitrag

Von Vincent Streichhahn

1. Debatte im Netzwerk
Als Netzwerk haben wir vor etwa vier Jahren begonnen, die Debatte zu SRT zu führen.
Vor allem in den vergangenen zwei Jahren wurde diese Debatte in größerer Runde
mehrmals bei MiM, auf der Sommerakademie, verschiedenen SDS und LINKE-Gruppen,
in Bulletins und der UV geführt. Solch ein intensives Verfahren gibt es selten bei uns im
Netzwerk zu einzelnen Themen. Die letzte UV hat schließlich beschlossen, den Kern der
SRT als Bereicherung anzuerkennen und als Netzwerk festzuhalten, dass SRT ein
Fortschritt und ein bereichernder Teil unserer Tradition ist und wir uns weiterhin damit
befassen. Das bedeutet also ganz und gar nicht, dass die Debatte beendet wäre. Ich finde
es klasse, dass wir weiter diskutieren und auf der UV 2020 ein grundlegendes
Positionspapier zum Thema Frauenunterdrückung verabschieden werden.
Die zum kommenden MiM geplante Broschüre ist ein weiterer wichtiger Schritt dorthin. Die
SRT wurde bisher in Deutschland kaum diskutiert. Wir als Netzwerk können insofern auch
stolz sein, dass wir diese Theoriediskussion in Deutschland anstoßen und einen wichtigen
Beitrag für eine marxistische Theorieproduktion leisten. Die teils auch hitzigen
Auseinandersetzungen über SRT im Netzwerk haben mich überrascht. Häufig beschränkte
sich die Kritik auf eine Verfahrenskritik, weil die SRT im Netzwerk noch nicht ausreichend
diskutiert worden sei. Das verblüfft mich bei den verhältnismäßig vielen Angeboten, die es
dazu in den letzten Jahren im Netzwerk gab. Auch die geplante Broschüre, sowie das
aktuelle Bulletin, sind weitere Bausteine in der Debatte und nicht deren Endpunkt. Im
Folgenden möchte ich daher zunächst die Rezeption der SRT in den letzten Jahren
umreißen und anschließend kurz auf die Frage der SRT und des Klassenkampfs
eingehen. In der Broschüre werden diese Fragen detaillierter diskutiert.
2. Rezeption der SRT
Der Begriff der „Social Reproduction Theory“ (SRT) wurde von Lise Vogel durch ihr Buch
„Marxism and the Oppression Of Women - Toward a Unitary Theory“ im Jahr 1983
eingeführt. Damit versuchte sie, in die konkreten politischen Auseinandersetzungen der
damaligen Zeit zu intervenieren. Nach der Niederlage der Arbeiterbewegung Ende der
1970er Jahre verschwand die Kategorie der Klasse weitgehend aus den
wissenschaftlichen Analysen. In der zweiten Frauenbewegung waren Patriarchatstheorien
vorherrschend, die den Kapitalismus und das Patriarchat als zwei verschiedene Systeme
betrachteten. Im Gegensatz zu den Vertreterinnen der Patriarchatstheorie versucht Vogel,
ausgehend von den ökonomischen Schriften Karl Marx‘, eine „Unitary Theory“ zu
begründen, also eine dezidiert marxistische Theorie der Frauenunterdrückung, die nicht
vom Kapitalismus zu trennen ist.
Vogel zeigt auf, dass die Unterdrückung der Frau dem Kapitalismus inhärent ist. Der
Kampf für die Befreiung des Menschen von Unterdrückung ist für Vogel daher untrennbar
mit der Selbstemanzipation der arbeitenden Klasse verbunden. Das Ziel ist weiterhin der
Sozialismus. Das Interesse an Vogels Theorie war bei ihrem Erscheinen Mitte der 1980er
Jahre jedoch mehr als verhalten. Es ist mitunter schwer zu erklären, warum eine Theorie
zu einem bestimmten Zeitpunkt eine große Wirkung entfaltet oder es eben nicht tut. Eine
hohes Niveau von Klassenkämpfen und eine Krise der herrschenden Klasse bzw. des
„historischen Blocks“ (Gramsci) können einen fruchtbaren Nährboden für eine radikale
Theorie bilden. Die Hochphase der Klassenkämpfe war jedoch zunächst vorüber. Die Zeit

16
für die SRT war noch nicht gekommen. Das sollte sich etwa ein Vierteljahrhundert später
ändern, als eine neue Generation von MarxistInnen an der SRT anknüpfte und sie
weiterentwickelte.
Spätestens seit der globalen Finanz- und Bankenkrise von 2007/08, die den Menschen die
zerstörerische Kraft des Kapitalismus schmerzlich demonstrierte und die Illusion seiner
Zähmung als Lüge entlarvte, gibt es ein neues Interesse am Denken von Karl Marx. An
den Universitäten entstanden neue Kapitallesekreise, der Sozialistisch-demokratische
Studierendenverband (SDS) wurde neu gegründet und sogar der einstige Mitherausgeber
der bürgerlichen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, fragte, ob die
Linke nicht doch recht habe. Zu dieser Zeit wurden die Marx‘schen Schriften für die
Analyse von Unterdrückung wieder wichtig. „Eine Reihe marxistischer Feministinnen
haben sich hinsichtlich Frauenunterdrückung schon lange auf die ‚soziale Reproduktion‘
bezogen; jetzt jedoch gibt es eine neue Schicht von Menschen, die über die SRT dafür
gewonnen wurden, sich mit Marx [und der Funktionsweise des Kapitalismus] zu
beschäftigen“31, schreibt Sheila McGregor.
Mit der erneuten „Wiederentdeckung“ von Marx in Zeiten einer globalen Krise des
Kapitalismus ist der Nährboden für das Aufgreifen und Weiterentwickeln
antikapitalistischer Theorien bereitet. Als zweite wichtige Bedingung für die Verbreitung
antikapitalistischer Theorien ist der Aufschwung von Klassenkämpfen zu nennen. In den
vergangenen Jahren gab es in Deutschland einerseits vermehrt Debatten über Sexismus
und sexualisierte Gewalt und andererseits handfeste Streiks im Gesundheits- und
Bildungswesen. Ob die Streiks in den Kitas, den Schulen oder Krankenhäusern, überall
ging es den Menschen um bessere Arbeitsverhältnisse im Reproduktionsbereich, die
gleichzeitig eine bessere Betreuung und Pflege ermöglichen. Diese Klassenkämpfe, in
Bereichen, die lange Zeit als im Grunde nicht organisierbar galten, sind stark von Frauen
geprägt.
Diese Entwicklungen fallen darüber hinaus mit dem Erstarken einer sich nach links
entwickelnden Frauenbewegung zusammen, die sich unter der Fahne des „International
womenstrikes“ formiert, ihre reproduktiven Rechte einfordert und letzten Endes die
geschlechterspezifische Arbeitsteilung und damit die Funktionslogik des Kapitalismus
grundlegend in Frage stellt. Denn eines zeigt die SRT eindrücklich: Das Kapital befindet
sich in dem Dilemma, den kapitalistischen Akkumulationsprozess bei möglichst geringen
Reproduktionskosten effizient zu organisieren. Das kann über unbezahlte
Reproduktionsarbeit geschehen, die herrschende Klasse kann den Reproduktionsprozess
der Ware Arbeitskraft aber auch anders organisieren. Es ist der Staat als „ideeller
Gesamtkapitalist“ (Engels), der den Bereich der sozialen Reproduktion im Interesse der
Kapitalfraktionen organisiert, ob privat, staatlich oder über den Markt.
Die SRT nimmt diesen sogenannten „Care-Bereich“ bzw. Reproduktionsbereich in den
Fokus und fragt, wie dieser durch den Staat und den Akkumulationsprozess des Kapitals
strukturiert wird, warum überwiegend Frauen reproduktive Arbeiten übernehmen, warum
die Arbeit von Frauen systematisch abgewertet wird und warum der Staat insbesondere in
Krisenzeiten zuerst im Reproduktionbereich kürzt. Um diese Fragen fundiert zu
beantworten, benötigen wir eine materialistische Analyse dieses Sektors und der Rolle der
Frau in der sozialen Reproduktion. Diese Analyse bietet uns die SRT, die sich keineswegs
auf Vogel reduzieren lässt.

31 McGregor, Sheila: Social reproduction theory: back to (which) Marx?, in: International Socialism 160, London,
Herbst 2018, abrufbar unter: http://isj.org.uk/social-reproduction-theory/ [28. März 2019].

17
Friedrich Engels leistete mit seiner Arbeit „Zum Ursprung der Familie, des Privateigentums
und des Staates“ zwar eine eindrucksvolle materialistische Analyse des Ursprungs der
Frauenunterdrückung, die zweifellos weiterhin zu unserem theoretischen
Standardrepertoire zählen muss. Was Engels bei der Veröffentlichung im Jahr 1884 aber
nicht leisten konnte, war eine Analyse des Sozialstaates als Grundlage der sozialen
Reproduktion im 21. Jahrhundert. Die SRT können wir uns wie eine Lupe vorstellen, mit
der wir den Bereich der sozialen Reproduktion genauer analysieren können und das in
konsequenter Fortsetzung unserer marxistischen Tradition.
Die SRT setzt beim „Kapital“ von Marx an und fragt, wie sich der Wert der Ware
Arbeitskraft bildet bzw. wie sich die Ware Arbeitskraft reproduziert. Es gibt diesbezüglich,
also über die Bedeutung des Geschlechts für den Prozess der Reproduktion der Ware
Arbeitskraft, keine systematische Analyse von Marx. Eine genauere Ausführung dieser
Frage wird in der Broschüre geleistet. An dieser Stelle soll es genügen, darauf zu
verweisen, dass Marx diese Frage bewusst aus seiner Analyse der Werbestimmung der
Arbeitskraft ausgenommen hat. Im „Kapital“ schreibt er:
„Zwei andere Faktoren gehen in die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein.
Einerseits ihre Entwicklungskosten, die sich mit der Produktionsweise
ändern, andererseits ihre Naturdifferenz, ob sie männlich oder weiblich, reif
oder unreif. Der Verbrauch dieser unterschiedlichen Arbeitskräfte ... macht
großen Unterschied in den Reproduktionskosten der Arbeiterfamilie und dem
Wert des erwachsenen männlichen Arbeiters. Beide Faktoren bleiben jedoch
bei der folgenden Untersuchung ausgeschlossen.“ 32
Vogel führt die marx‘sche Analyse in diesem Feld also fort und steht keineswegs in einem
Gegensatz zu Marx. Das Buch und die Position Vogels stellt aber ebenfalls „nur“ die
ideengeschichtliche Grundlage für die aktuellen Debatten um die SRT dar. Es geht
insofern nicht um eine Glorifizierung Lise Vogels, die einen Platz im „Pantheon der großen
DenkerInnen“ erhalten soll, sondern um solide Theoriearbeit. Viele andere marxistische
AutorInnen denken die Theorie weiter. Zwar wird die SRT seit etwa vier Jahren
zunehmend im Netzwerk Marx21 diskutiert, in der deutschen Debatte ist die Theorie
allerdings bisher nicht wirklich angekommen. Die Texte liegen nahezu ausschließlich in
englischer Sprache vor, was sich langsam ändert. 33 Die geplante Broschüre soll es daher
ermöglichen, die Argumente der SRT einem breiteren Kreis in Deutschland zugänglich zu
machen, weil wir uns davon einen Mehrwert für die politische Praxis erhoffen.
Im angelsächsischen Raum ist der Disskussionsstand ein anderer. Hier wurde die SRT
seit einigen Jahren nicht nur an den Universitäten, sondern auch unter marxistischen
AktivistInnen diskutiert und weiterentwickelt. Tithi Bhattacharya hat einen Sammelband zur
SRT herausgegeben34, den sie u.a. 2017 auf der Londoner Konferenz Historical
Materialism und 2018 in Berlin auf dem Marx-is-muss-Kongress vorgestellt hat. Viele sich
selbst als Marxisten verstehende Intellektuelle haben sich in der vergangenen Zeit positiv
auf die SRT bezogen. Der 2019 verstorbene britische Marxist Colin Baker schrieb zu dem
erwähnten Sammelband: „Die Theorie der sozialen Reproduktion, wie diese
ausgezeichnete Sammlung zeigt, ist sowohl ein berauschendes Gebräu als auch eine sehr
produktive Denkweise.“ Ähnlich angetan äußerte sich auch Alex Callinicos auf Historical
Materialism zur SRT. Für den kanadischen Marxisten und Politikwissenschaftler David
McNally ist die SRT sogar die „vielversprechendste Perspektive für jene, die an einer
historisch-materialistischen Theorie mehrfacher Unterdrückung in der kapitalistischen
32 K. Marx, Kapital I, MEW 23, 542.
33 Lise Vogels Buch erscheint in den nächsten Monaten in deutscher Übersetzung im Unrast Verlag.
34 Bhattacharya, Tithi, Social Reproduction Teory: Remapping Class, Recentering Oppression.

18
Gesellschaft interessiert sind.“ Auch ich verstehe die SRT als Vertiefung der marxistischen
Theorie, mit der wir den Bereich der Sozialen Reproduktion detaillierter analysieren
können, als es uns bisher möglich war.
3. SRT und Klassenkampf
Die SRT hilft dabei, die Prozesse der Reproduktion besser zu verstehen und wichtige
Kampffelder ausfindig zu machen. Wie wir uns reproduzieren, unterliegt nicht nur der
Agenda der herrschenden Klasse oder der Staats- und Unternehmenspolitik, sondern
auch unserem Widerstand gegen jene Abwertung, gegen staatliche Kürzungen im
Gesundheitswesen, gegen Privatisierungen von sozialen Diensten, gegen wirtschaftlich-
rassistisch motivierte Grenz- und Einwanderungspolitik, gegen Spekulation mit Wohnraum
und gegen Lohnkürzungen. Es hängt daher maßgeblich von unserem Widerstand ab, wie
sich unser Leben gestaltet.
Dennoch wird teilweise behauptet, der Fokus der SRT auf den Reproduktionsbereich
würde vom eigentlichen Ort der Klassenkämpfe ablenken, weil er auf den Bereich der
Unterdrückung und nicht den der Ausbeutung zielt. Um einem Missverständnis
vorzubeugen: Der Reproduktionsbereich erschöpft sich nicht im privaten Haushalt, in dem
Frauen weiterhin einen Großteil der unbezahlten Arbeit leisten. Der von der SRT
analysierte Reproduktionsbereich ist viel größer und umfasst Kitas, Schulen,
Universitäten, Krankenhäuser, Pflegeheime, staatliche Sozialleistungen, die
Sozialgesetzgebung und vieles mehr. Hier werden Kämpfe organisiert, wie beispielsweise
der LehrerInnenstreik in den USA 35 oder der Charité Streik in Deutschland. Es geht
darüber hinaus aber auch um reproduktive Rechte, wie das Recht auf Abtreibung, was
viele Frauen weltweit mobilisiert.
Laut Cinzia Arruzza, die beim kommenden MiM auf einem Panel sprechen wird, entstand
die aktuelle „feministische Bewegung aus der Asche der vergangenen Saison der sozialen
Bewegungen“, sie meint damit die Kämpfe u.a. von Occupy, den Indignados, die
Besetzung des Taksim-Platz und den Arabischen Frühling. „Sie [die Frauenbewegung] hat
einige ihrer Merkmale geerbt, aber gleichzeitig einen entscheidenden Schritt nach vorne
getan: die international koordinierte Annahme und Wiedererfindung des Streiks als seine
wichtigste Kampfform und seine politische Identität. Weit davon entfernt, einen
Partikularismus, eine partielle Perspektive, innerhalb eines breiteren
Subjektivierungsprozesses auszudrücken, positioniert sich die feministische Bewegung
durch Frauenstreiks zunehmend als internationaler Prozess der Klassenbildung.“ 36
Zwar ist der Begriff des Klassenkampfs für den Marxismus von grundlegender Bedeutung,
was genau eine Klasse ist, wird hingegen kontrovers diskutiert. Es gibt den soziologischen
Ansatz, der eine spezifische Gruppe aufgrund ihrer Position im Produktionsprozess als
eine bestimmte Klasse definiert, das wäre, was Marx in „Das Elend der Philosophie“ als
„Klasse an sich“ beschreibt. Und es gibt einen politischen Ansatz, in dem eine soziale
Gruppe nicht als Klasse angesehen werden kann, wenn sie nicht politisch als Klasse in
einem antagonistischen Verhältnis zu einer anderen Klasse handelt („Klasse für sich“).
Der Klassenbegriff kann nicht auf die soziologische Kategorisierung sozialer Gruppen
reduziert werden. Die Arbeiterklasse als Gruppe aller Lohnarbeitenden zu definieren, ist
zwar nicht falsch, aber diese Definition bleibt unvollständig. „So paradox es auch

35 Tithi Bhattacharya zu den LehrerInnenstreiks in den USA und warum es sich dabei um verbindende Klassenkämpfe
handelt: http://www.rebelnews.ie/2019/01/14/american-teachers-striking-back/
36 Cinzia Arruzza: 2018. From Women‘s Strikes to an New Class Movement: The Third Feminist Wave, in: Viewpoint
Magazin, abrufbar unter: https://www.viewpointmag.com/2018/12/03/from-womens-strikes-to-a-new-class-
movement-the-third-feminist-wave/ [28.3.2019].

19
erscheinen mag“, schreibt Arruzza, „Klasse ist das Produkt des Klassenkampfes und nicht
seine Voraussetzung.“37 Individuen, die sich in einer gemeinsamen „Klassensituation“
befinden, müssen als Klasse kämpfen, um sich als Klasse zu konstituieren.
„In der Tat, wenn die Klasse das dynamische, variable und
kontingente Ergebnis eines historischen Prozesses der
Selbstkonstitution durch den Kampf ist, ist einer der schlimmsten
politischen Fehler, die begangen werden können, die Auferlegung von
vorgefertigten abstrakten Modellen auf die Geschichte in Bezug
darauf, was als Klassenkampf gilt und was nicht. Tatsächlich besteht
die Gefahr, dass wir uns weiterhin nach den Formen und Erfahrungen
der Vergangenheit (oder nach denen, die nur Erfindungen unserer
Vorstellungskraft sind) sehnen, anstatt die Prozesse der
Klassensubjektivierung anzuerkennen, die vor unserer Nase
stattfinden.“38
In den zunehmenden Streiks im Reproduktionsbereich existiert ein gewaltiges Potenzial
für das Ausgreifen von Klassenkämpfen. So schreibt Bhattacharya in einem Artikel zu den
LehrerInnenstreiks in den USA: „Angesichts der essentiellen Bedeutung von Schulen und
Krankenhäusern für die gesamte Reproduktion des Systems und den jüngsten Streiks im
Bereich der sozialen Reproduktion, kommt den LehrerInnen und PflegerInnen eine
erhebliche Macht zuteil. In einem Interview mit mir beschreibt die Lehrerin Jessie Muldoon
die Schulen bezeichnenderweise als ‚Engpässe‘, an denen mehrere Schichten der
ArbeiterInnenklasse zusammenkommen und dabei etliche andere Arten von care-Arbeit
ausführen, zusätzlich zum Unterricht.“39 Sie hat die SozialarbeiterInnen,
Kantinenangestellte, BusfahrerInnen, Reinigungskräfte und andere im Sinn, sowie die
Eltern, die die neoliberale Zurichtung ihrer Kinder in den Schulen oder ihrer eigenen
pflegebedürftigen Eltern am eigenen Leib erleben.
Vogel hat auf die Logik der „parallelen Bewegungen“ 40 hingewiesen, die davon ausgeht,
dass es auf der einen Seite „den“ Klassenkampf gäbe und auf der anderen Seite die
Frauenbewegung, die ökologische Bewegung, die antirassistische Bewegung und andere.
Wenn überhaupt stellte sich die Frage, wie diese Bewegungen zu verbinden wären, oft
wurde den „partiellen“ Bewegungen schlicht vorgeworfen, die Klasse zu spalten und von
der wirklich zentralen Frage der Ausbeutung abzulenken. Doch es ist aktuell gerade die
Frauenbewegung, die gemeinsame „Klassensituationen“ hervorbringt und in einem
gemeinsamen Kampf gegen Sexismus, Ausbeutung und Unterdrückung wirkliches
Klassenbewusstsein erzeugt. „Die feministische Bewegung wird immer mehr zu einem
Prozess der Bildung einer Klassensubjektivität mit spezifischen Merkmalen: sofort
antiliberal, internationalistisch, antirassistisch, offensichtlich feministisch und tendenziell
antikapitalistisch.“41
In Deutschland steckt die Bewegung noch in den Anfängen, doch sie hat im letzten Jahr
einen großen Schritt getan. Zum ersten Mal gab es Ende 2018 ein bundesweites Treffen
des „Frauenstreiks“ und bundesweit größere Aktionen am 8. März. Gestreikt wurde in
Deutschland allerdings bisher kaum. Immer mehr AktivistInnen pochen jedoch auf eine

37 Ebd.
38 Ebd.
39 Tithi Bhattacharya zu den LehrerInnenstreiks in den USA und warum es sich dabei um verbindende Klassenkämpfe
handelt: http://www.rebelnews.ie/2019/01/14/american-teachers-striking-back/
40 Vogel Marxism and the Oppression of Women, S. 139.
41 Arruzza: From Women‘s Strikes to an New Class Movement: The Third Feminist Wave.

20
stärkere gewerkschaftliche Orientierung und eine konkrete Streikperspektive. 42 Wie das für
Deutschland unter dem herrschenden Streikrecht aussehen kann, muss gemeinsam
entwickelt werden. Die Streiks im „Care-Bereich“ existieren, ganz unabhängig vom
internationalen Frauentag. Es wird in der nächsten Zeit also vor allem um wichtige
strategische Fragen und eine Menge revolutionärer Ausdauer gehen. Die SRT kann dabei
für Orientierung sorgen.

42 Vgl. Yanira Wolff: 2019. Nur der Wille zählt? Anmerkungen zum Frauen*streik. Abrufbar unter: www.labournet.de/
wp-content/uploads/2019/01/Frauenstreik_Yanira_Wolf.pdf

21
Soziale Reproduktion im Kapitalismus
(Gekürzte Version des Artikels im m21 Magazin)

Von Ronda Kipka


Wenn in den letzten Jahren in Deutschland gestreikt wurde, war es in den aller seltensten
Fällen der klassische Fabrikarbeiter, der in den Ausstand trat. Im Gegenteil: Größere
Streikbewegungen gab es vielmehr in den sogenannten Frauenberufen, wie den Sozial-
und Erziehungsdiensten oder in der Krankenhauspflege. Galten diese Bereiche lange als
»nicht streikfähig« und »schwer organisierbar«, so ist inzwischen der Fachbereich
Gesundheit einer der wenigen Sektoren, in dem ver.di Mitgliederzuwächse zu verzeichnen
hat und neue, lebendige Streikbewegungen entstehen. Was ist passiert? Wieso sind es
gerade diese »weiblichen« Berufe, in denen Arbeitskämpfe stattfinden und wie sind diese
einzuordnen? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat es, wenn Erzieherinnen streiken?
Und was hat das alles mit Frauenunterdrückung, unbezahlter Arbeit und sogenannter
Care-Arbeit zu tun?
Diesen Fragen widmet sich die Theorie der Sozialen Reproduktion, die ausgehend von
Marx’ »Kapital« untersucht, wie die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus
vonstattengeht, welche Widersprüche sich hier auftun und was das für den Klassenkampf
und den Kampf um die Befreiung der Frau bedeutet.
Zur sozialen Reproduktion zählen alle Arbeiten, die notwendig sind, um unsere Arbeitskraft
(wieder)herzustellen. Marx schrieb: »Die Arbeitskraft eines Menschen existiert nur in
seiner lebendigen Leiblichkeit. Eine gewisse Menge Lebensmittel muß ein Mensch
konsumieren, um aufzuwachsen und sich am Leben zu erhalten. Der Mensch unterliegt
jedoch, wie die Maschine, der Abnutzung und muß durch einen andern Menschen ersetzt
werden. Außer der zu seiner eignen Erhaltung erheischten Lebensmittel bedarf er einer
andern Lebensmittelmenge, um eine gewisse Zahl Kinder aufzuziehn, die ihn auf dem
Arbeitsmarkt zu ersetzen und das Geschlecht der Arbeiter zu verewigen haben. Mehr
noch, um seine Arbeitskraft zu entwickeln und ein gegebnes Geschick zu erwerben, muß
eine weitere Menge von Werten verausgabt werden.«
Hier wird bereits deutlich, dass die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft ein weites
Feld umfasst: den Konsum von Lebensmitteln, das Aufziehen von Kindern, um eine neue
Generation von Arbeitskräften hervorzubringen, aber auch die eigene Aus- und
Weiterbildung. Die Theorie der Sozialen Reproduktion fragt nun: Unter welchen
Bedingungen findet diese Reproduktion statt?
Bei Betrachtung der oben genannten Tätigkeiten, wird deutlich, dass ein erheblicher Teil
der Reproduktion nach wie vor im Privaten, also im Haushalt, stattfindet. Wir bereiten
unsere Mahlzeiten zuhause zu, waschen unsere Wäsche und kümmern uns um Kinder
und Angehörige. Aber reproduktive Tätigkeiten finden bei weitem nicht nur zuhause statt:
Es gibt eine Vielzahl an Prozessen, Aktivitäten und Institutionen, die allesamt dafür Sorge
tragen, dass die Arbeitskraft der Lohnabhängigen erhalten und die nächste Generation an
Arbeitskräften »reproduziert« wird, die auf verschiedene Art und Weise vergesellschaftet
sind. Hierzu zählen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Universitäten, aber auch
Krankenhäuser, Pflegeheime, Kantinen, Beratungsstellen, das ganze System der
Sozialleistungen und viele andere Dienstleistungen.
Soziale Reproduktion kann in einer kapitalistischen Gesellschaft also unterschiedlich
realisiert werden. In der Regel wird sie mit einem Mix aus unbezahlten Tätigkeiten

22
innerhalb des Haushalts einerseits sowie staatlichen und privatwirtschaftlichen
Dienstleistungen andererseits ausgeführt. Zugleich ist sie eng verwoben mit der
kapitalistischen Produktion: Die Lebensmittel, die wir zuhause zubereiten, haben wir in der
Regel nicht selbst produziert, sondern zuvor im Supermarkt gekauft.
Hier wird bereits deutlich, dass die Art und Weise, wie soziale Reproduktion im
Kapitalismus vonstattengeht, einem stetigen Wandel unterliegt. Es gibt jedoch eine
wichtige Konstante: den Widerspruch zwischen ökonomischer Profitmaximierung
einerseits und Reproduktion der Arbeitskraft andererseits. Um diesen Widerspruch zu
verstehen, lohnt ein Blick in Marx’ »Kapital«: Kapitalismus beruht auf Ausbeutung. Dies ist
im marxistischen Sinn keine moralische Kategorie, sondern besagt, dass der Kapitalist
sich den durch die Arbeit Anderer geschaffenen Mehrwert aneignet. Die Arbeiterklasse ist
gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Arbeitskraft wird so zu einer Ware. Ihr Wert bemisst sich laut Marx wie bei jeder anderen
Ware auch durch die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, um diese
Ware herzustellen.
Aber die Ware Arbeitskraft weist eine Besonderheit auf: Sie ist in der Lage, Mehrwert zu
produzieren. Das heißt, der Gebrauchswert der Arbeitskraft, konkrete Arbeit zu leisten, ist
nicht gleich ihrem Tauschwert, der notwendigen Arbeit zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft.
Oder einfacher ausgedrückt: Die Waren, die eine Arbeiterin oder ein Arbeiter während der
Arbeitszeit herstellt, sind mehr wert als die zu ihrer eigenen Reproduktion benötigten.
Wäre dies nicht der Fall und der Wert der Arbeitskraft größer als ihr Gebrauchswert für
den Kapitalisten, würde es sich für Letzteren schlicht nicht lohnen, die Arbeitskraft zu
kaufen.
Wenn nun aber der Wert der Ware Arbeitskraft durch die gesellschaftlich notwendige
Arbeitszeit für deren Reproduktion bestimmt wird, bedeutet dies, dass ihr Wert umso
höher ist, je mehr gesellschaftliche Arbeitszeit für die soziale Reproduktion aufgebracht
wird. Nicht nur höhere Löhne, mit denen wir uns mehr Konsumgüter und Dienstleistungen
leisten können, schmälern daher den Anteil des durch unsere Arbeit geschaffenen Werts,
den sich der Kapitalist als Mehrwert aneignen kann, sondern auch der Ausbau des
öffentlichen Bildungs- oder Gesundheitssystems, mehr Kindergartenplätze oder
Pflegeheime, aber auch mehr Zeit für Haushalt, Kochen, Pflege und Kindererziehung.
Aus Sicht des Kapitals ist die Reproduktion der Arbeitskraft also ein Kostenfaktor, der
direkt oder indirekt zu Lasten der Mehrwertproduktion geht. Je mehr Geld in die
Gesundheitsversorgung geht, je mehr Arbeitszeit der Regeneration oder der Pflege
zugestanden wird, desto weniger Arbeitszeit steht für den Kapitalisten zur Verfügung. Das
bedeutet, dass die Herrschenden darauf angewiesen sind, Strategien zu entwickeln, die
Reproduktion »ihrer« Arbeitskräfte möglichst günstig und effizient zu gewährleisten.
Anders gesagt: Es wird versucht, den Wert der Ware Arbeitskraft gering zu halten, denn je
weniger Arbeitszeit für die Reproduktion aufgewendet werden muss, desto mehr Zeit bleibt
für Ausbeutung. Benötigt werden hoch kompetente, mobile Arbeitskräfte zu möglichst
geringen Löhnen und Gehältern, ohne dass für deren Reproduktion und Bereitstellung zu
hohe Kosten entstehen. Doch wodurch wird nun bestimmt, wieviel gesellschaftlich
durchschnittlich notwendige Arbeitszeit in die soziale Reproduktion fließt?
Es sind verschiedene Faktoren, die hier zusammenwirken: Offensichtlich spielt es eine
entscheidende Rolle, welche Anforderungen an die zu reproduzierenden Arbeitskräfte
gestellt werden. Eine qualifizierte Fachkraft erfordert höhere Reproduktionskosten als eine
ungelernte Hilfskraft, da mehr Zeit und Ressourcen in ihre Ausbildung und Qualifikation
investiert werden müssen. In den modernen, hochgradig arbeitsteilig organisierten

23
Industriegesellschaften sind die Anforderungen, die an die Qualifikation von Arbeitskräften
gestellt werden, wesentlich gestiegen. Gleichzeitig hat jedoch auch deren
durchschnittliche Produktivität massiv zugenommen: Wo früher hunderte Arbeiterinnen
und Arbeiter in einer Werkshalle produzierten, werden heute nur noch wenige gut
ausgebildete Fachkräfte für die Steuerung und Wartung der Maschinen benötigt. Der Wert
ihrer Arbeitskraft ist deutlich höher, so aber auch der Wert der durch ihre Arbeit
geschaffenen Waren.
Hier zeigt sich bereits ein weiterer entscheidender Faktor: Die Entwicklung der
Produktivkräfte, also aller natürlichen, technischen, organisatorischen und geistig-
wissenschaftlichen Ressourcen, die der Gesellschaft zur Produktion von Gütern und
Dienstleistungen zur Verfügung stehen. Denn die Entwicklung der Produktivkräfte
beeinflusst nicht nur die Produktion, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf den
Bereich der Reproduktion. So hat etwa die Einführung der Waschmaschine die
gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für das Wäschewaschen massiv gesenkt. Durch
die industrielle Landwirtschaft ist die Nahrungsmittelproduktion wesentlich weniger
zeitaufwendig und damit kostengünstiger. Statt der aufwendigen Zubereitung einer
Mahlzeit, kann ich heute eine Tiefkühlpizza für zehn Minuten in den Ofen schieben.
Es ist also das Zusammenspiel von kapitalistischen Anforderungen an die Arbeitskräfte
und Entwicklung der Produktivkräfte, das bestimmt, wie viel gesellschaftlich
durchschnittlich notwendige Arbeitszeit für die soziale Reproduktion aufgewendet werden
muss und damit wie hoch der Wert der Ware Arbeitskraft ist.
Doch es gibt noch einen weiteren wesentlichen Faktor. Marx schreibt: »Der Wert der
Arbeitskraft wird aus zwei Elementen gebildet,  einem rein physischen und einem
historischen oder gesellschaftlichen. Seine äußerste Grenze ist durch das physische
Element bestimmt, d.h. um sich zu erhalten und zu reproduzieren, um ihre physische
Existenz auf die Dauer sicherzustellen, muß die Arbeiterklasse die zum Leben und zur
Fortpflanzung absolut unentbehrlichen Lebensmittel erhalten. [...] Außer durch dies rein
physische Element ist der Wert der Arbeit in jedem Land bestimmt durch einen
traditionellen Lebensstandard. Er betrifft nicht das rein physische Leben, sondern die
Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, entspringend aus den gesellschaftlichen
Verhältnissen, in die die Menschen gestellt sind und unter denen sie aufwachsen.«
Dieser traditionelle Lebensstandard kann von Land zu Land und Zeit zu Zeit stark
variieren. So ist der durchschnittliche Lebensstandard in den heutigen westlichen
Industriegesellschaften deutlich höher, als noch vor einhundert Jahren, genau wie er etwa
in Schweden um ein vielfaches höher ist als in Sierra Leone.
Was zum Lebensstandard der Arbeiterklasse zählt und was nicht, wird dabei nicht allein
durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt, sondern durch den Klassenkampf. So
mag die Einführung der Waschmaschine sowohl im Interesse des Arbeiterhaushalts sein,
der weniger körperlich anstrengende Arbeit verrichten muss, als auch im Interesse des
Kapitals, da durch die Durchsetzung einer effizienteren Reproduktion der Wert der
Arbeitskraft sinkt. Ob die Arbeiterklasse aber in schönen, hellen Wohnungen mit Heizung
und Badezimmer lebt oder in dunklen Verschlägen, ob sie sich einen Kinobesuch leisten
kann oder gar eine Garage für ihr Auto und einen Urlaub in Übersee ist nicht nur durch das
Wachstum der Produktivkräfte bestimmt, sondern auch das Ergebnis von
Klassenkämpfen.
Im Klassenkampf wird ausgefochten, wie hoch die Ausbeutungsrate in einer Gesellschaft
ist, also das Verhältnis zwischen notwendiger Arbeit zur Reproduktion der Arbeitskraft und
Mehrarbeit für den Kapitalisten. Die Untergrenze für den Wert der Arbeitskraft wird durch

24
das physische Minimum für ihre Reproduktion bestimmt, die Obergrenze rein theoretisch
durch die Produktivität, also den Gebrauchswert der Arbeitskraft. In der Praxis wird diese
Obergrenze jedoch nicht annähernd erreicht. Im Gegenteil: Ohne ständigen Abwehrkampf
der Arbeiterklasse wird der Wert ihrer Arbeitskraft immer weiter nach unten gedrückt.
Wie die soziale Reproduktion organisiert wird, ist einem stetigen Wandel unterlegen.
Konstant ist im Kapitalismus jedoch die ständige Tendenz, die Reproduktionsarbeit
abzuwerten, um den Wert der Arbeitskraft zu senken und die Mehrwertrate zu steigern.
Und es gibt noch eine weitere Konstante: Es sind Frauen, die den Großteil der
reproduktiven Arbeit leisten  ob bezahlt oder unbezahlt, ob privat im Haushalt und der
Familie oder in staatlichen oder privatwirtschaftlichen Institutionen wie Krankenhäusern,
Kindertagesstätten oder Pflegeheimen. So leisten Frauen in Deutschland laut einem
Gutachten des Familienministeriums aus dem Jahr 2017 täglich 52 Prozent mehr
unbezahlte Arbeit für Kinder, Haushalt, Pflege und Ehrenamt als Männer. Gleiches gilt für
die reproduktiven Arbeiten in Form von Lohnarbeit, bei denen es sich häufig zudem um
prekäre Arbeitsverhältnisse handelt. (...)
Aber warum fallen diese reproduktiven Tätigkeiten meist Frauen zu? Wäschewaschen,
Kinder erziehen und Kranke pflegen, können schließlich auch Männer. Tatsächlich ist
diese Arbeitsteilung nicht naturgegeben und es gibt keinen objektiven Grund, warum
gerade Frauen die Hauptlast der Reproduktionsarbeit tragen müssen. Doch mit der
Entstehung von Klassengesellschaften und der Herausbildung der Kernfamilie als
vorherrschender Lebensform setzte sich allmählich eine Arbeitsteilung zwischen Männern
und Frauen durch, mit der Letztere in die Reproduktionssphäre verdrängt wurden.
Im Prinzip sind die unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern in der Reproduktion
der Arbeitskraft von begrenzter Dauer und spielen nur während der Monate der
Schwangerschaft und Geburt eine Rolle. In Klassengesellschaften führt die biologisch
beschränkte Zeit der Schwangerschaft, in der die Frau das Kind austrägt und der Mann
oder andere Personen für die Frau sorgen, jedoch tendenziell zu einer bestimmten
Arbeitsteilung, die sich langfristig institutionalisiert und verfestigt. Zugleich erhalten
»produktive« Arbeiten in Klassengesellschaften eine übergeordnete Stellung, während
Tätigkeiten, die kein Mehrprodukt schaffen, wie das Kinderkriegen oder das Pflegen von
anderen Menschen eine Abwertung erfahren. Auf dieser historisch gewachsenen
Arbeitsteilung und der Abwertung der Reproduktionssphäre erwächst zudem ein
gewaltiger ideologischer und politischer Überbau mit festgeschriebenen Rollen- und
Geschlechterbildern und einer männlichen Erbschaftsfolge. Friedrich Engels nannte dies
die »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts«.
Frauenunterdrückung ist also keine rein ideologische Frage, sondern fußt auf den realen,
materiellen Bedingungen und Strukturen in der Gesellschaft, die wiederum dazu führen,
dass Staat und herrschende Klasse Frauen eine gewisse Rolle und gewisse Arbeiten
zuschreiben. Der Grund weshalb der Kapitalismus also weiterhin auf Frauenunterdrückung
angewiesen ist, besteht darin, dass das Kapital ein Interesse daran hat, jene »weiblichen«
Tätigkeiten, sowohl das Gebären, aber auch andere »unproduktive« Aufgaben, zu
kontrollieren und möglichst kostengünstig abzuwickeln. Frauenunterdrückung reproduziert
sich so tagtäglich aufgrund der Strukturlogik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses.
In einem kapitalistischen System wird die mehrheitlich von Frauen geleistete
Reproduktionsarbeit abgewertet und nur insoweit berücksichtigt, als es für das
ökonomische Ziel, möglichst hohe Profite zu erzielen, von Bedeutung ist. Je nach
historisch spezifischen Rahmenbedingungen der Produktionsweise, wandeln sich jedoch
die Strategien der Herrschenden mit dem Dilemma der Reproduktion umzugehen.

25
(...)
Heute steht das Zwei-Verdiener-Modell im Zentrum, bei dem alle erwerbsfähigen
Personen – unabhängig vom Geschlecht, Familienstatus und der Anzahl der zu
betreuenden Kinder und Angehörigen – durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft für ihren
eigenen Lebensunterhalt aufzukommen haben. Mit dieser Entwicklung verliert das
traditionelle Konzept der Hausfrau an Bedeutung. Das bedeutet jedoch nicht, dass
Frauenunterdrückung eine weniger zentrale Funktion einnehmen oder die Verteilung der
Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern gerechter würde.
Zwar gab es mit dem Anstieg der Frauenerwerbsquote einhergehend auch einen Ausbau
an staatlicher Kinderbetreuung. Allerdings macht sich der Staat auch hier das Rollenbild
der Frau zu eigen, um die Kosten hierfür möglichst gering zu halten  dementsprechend
schlecht sehen die Löhne und Arbeitsbedingungen aus. Außerdem bleibt ein großer Teil
der Reproduktionsarbeit nach wie vor an den Familien und damit zumeist an den Frauen
hängen. So ist der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen, als auch der Frauen in
geringfügiger Beschäftigung stark gestiegen. Der Vorteil für das Kapital: Frauen in Teilzeit
dienen als billige Arbeitskräfte und können dennoch zusätzlich unbezahlte
Reproduktionsarbeit zu Hause leisten. Beispielsweise wurden im Jahr 2015 von insgesamt
2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland über 2 Millionen in privaten Haushalten
versorgt, davon 1,4 Millionen von Angehörigen ganz ohne Unterstützung ambulanter
Pflegedienste. Knapp die Hälfte aller Pflegebedürftigen wird also allein von Angehörigen
gepflegt.
Deutschland setzt heute auf eine große und flexible, aber prekäre Arbeiterklasse. Das
bedeutet im Kern auch eine gezielte Familienpolitik zu entwickeln, die sowohl die
generationelle Reproduktion im Blick hat, als auch der Frauenerwerbstätigkeit nicht im
Wege steht. So heißt es in einem Gutachten des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend: »Die Zahl der Erwerbstätigen bestimmt das
Produktionspotenzial und der Anteil der Erwerbspersonen an der gesamten Bevölkerung
bestimmt maßgeblich die Leistungsfähigkeit umlagefinanzierter, sozialer
Sicherungssysteme. Die Erwerbspersonenzahl wird durch die Generationennachfolge
erhalten. Die Familie erfüllt insofern eine gesellschaftlich relevante
Reproduktionsfunktion.« Hier wird der komplexe Zusammenhang deutlich zwischen
staatlicher Sozialhilfe unter Kostendruck und Familien-, Wirtschafts- und
Bevölkerungspolitik.
Auch im öffentlichen Sektor finden wir die Maxime des Kostendrucks. So wird
beispielsweise eine Gesundheitspolitik gefahren, die sich daran bemisst, ob sie effizient
und möglichst kostengünstig Arbeitskräfte »repariert«. Gesundheit wird zur Ware, Pflege
wird auf das Minimum rationalisiert. Der gesamte Sektor des Gesundheitswesens muss
sich aus Sicht des nationalen Kapitals daran messen, dass er möglichst günstig die
Arbeitskraft wiederherstellt.
Gleichzeitig ist durch die prekäre Form der Vergesellschaftung von Reproduktionsarbeit
ein riesiger Wirtschafts- und Beschäftigungssektor entstanden. Schon heute arbeiten über
eine Million Menschen in Krankenhäusern, darunter eine halbe Million Pflegekräfte. Hinzu
kommen weitere 427.000 im stationären und 215.000 im ambulanten Pflegebereich. Zum
Vergleich: In der Automobilindustrie waren 2011 ungefähr 712 000 Menschen beschäftigt.
Zudem erleben auch wir eine Ökonomisierung von Reproduktionsarbeit durch
privatwirtschaftliche, warenförmig organisierte Angebote. Die Privatisierung von
Staatsfunktionen, etwa die Übernahme von öffentlichen Krankenhäusern, findet jedoch nur
dort statt, wo das Kapital Profite erwartet. So reduzieren privatisierte Krankenhäuser die

26
Liegezeiten und spezialisieren sich beispielsweise auf Knie- oder Hüftoperationen, da
diese wie am Fließband profitabel abzuwickeln sind.
Es unterliegt einem steten Aushandlungsprozess, welche reproduktiven Arbeiten privat in
der Familie, staatlich oder marktwirtschaftlich organisiert werden. Das Ergebnis dieser
Aushandlungen ist das Resultat von Klassenkämpfen. Doch die Tatsache, dass
Reproduktionsarbeit zunehmend in Form von Lohnarbeit organisiert ist, gibt den
Kämpfenden neue Machmittel zur Hand. Das zeigen die Streiks in Krankenhäusern, Kitas
oder im Reinigungsgewerbe. Die Klassenkämpfe in der hauptsächlich von Frauen
getragenen Reproduktionssphäre haben zudem das Potenzial, den feministischen Kampf
um Gleichberechtigung neu zu beleben.
Die Theorie der sozialen Reproduktion zeigt uns, dass die Art und Weise, wie im
Kapitalismus die Reproduktion strukturiert wird, Einfluss auf die Mehrwertrate hat. Das
bedeutet, dass die Umstrukturierung des Sektors in marktkonforme Prozesse, neue
Widersprüche entstehen lässt. Arbeitskämpfe in diesen Bereichen rütteln an genau jenen
Stellschrauben. Das Besondere an diesen Auseinandersetzungen ist, dass sich die
Beschäftigten beim Streik oft in einer speziellen, sozialen Situation befinden: Streiken sie,
betrifft es zuallererst die Patienten, die Kinder, die Eltern usw. Dies bedeutet zum einen
eine größere Hürde in den Arbeitskampf zu treten, zum anderen aber auch ein Potenzial
für die Solidarisierung aus der breiten Bevölkerung, die auf jene Arbeiten angewiesen
sind.

27
Einschätzung zu Frauen*streik 2019 :Anknüpfungspunkte für eine weitergehende
Debatte zur politischen Ausrichtung und den Gewinn-Chancen.

Wir sind an einer Debatte zum Frauenstreik interessiert. Wir wollen eine erste
Einschätzung zum Frauen*kampftag und Frauen*streik geben. Die Einschätzung im
vorliegenden Text basiert auf einer gemeinsamen Diskussion in der MIM-Frauenblock-
Gruppe. Wir wollen damit die Diskussion, die wir auf der UV in Essen im Januar begonnen
haben fortsetzen. Wir sind an Euren Einschätzungen interessiert. Wir hoffen, dass wir hier
im Bulletin zur SRT-Debatte und der Frage der Frauenbefreiung auch eine politisch
praktische Ebene hinzufügen können. Ein highlight in der Fortsetzung der Debatte zum
Frauen*streik, ist das Podium bei MarxIsMuss mit Cinzzia Arruzza (Mitautorin von
„Feminism for the 99% - A Manifesto“), Kerstin Wolter (Frauen*streikbündnis), Ulrike Eifler
(Referentin für internationale Gewerkschaftspolitik, RLS). Dort wollen wir Erkenntnisse
unserer Diskussion einfließen lassen.

Der internationale Frauentag war auch 2019 wieder ein beeindruckender nationaler und
weltweiter Protesttag. WOLTER/ WISCHNEWSKI geben einen kleinen Überblick über
Proteste in Deutschland. Sie sprechen von bis zu 70.000 Menschen, die sich bundesweit
am Frauen*kampftag/ Frauen*streik beteiligt haben. Besonders die Demonstrationen
waren beeindruckend. In Berlin sind mit 20.000-25.000 nochmal mehr Menschen auf der
Straße gewesen als im letzten Jahr. Hier hat sicher auch der Feiertag seinen Anteil daran.
Es scheint auf jeden Fall so zu sein, dass die bundesweite Vernetzung in Vorbereitung auf
den Frauen*streik (Göttingen: 300 Frauen) Impulse gegeben hat für eine bundesweite
Ausweitung von Protestaktionen.43 Ebenso hat die Debatte rund um die
Informationsfreiheit zu Schwangerschaftsabbrüchen und die Paragrafen 218 und 219a
StGB sowie die bundesweiten Aktivitäten und Bündnisgründungen einen Beitrag geleistet
zur Ausweitung und Stärkung der Proteste am 8. März. Aus dem Pflegestreik -Umfeld gab
es einen eigenen, großer Care-Block auf der Frauen*kampftag Demo.
Das knüpft an den Erfahrungen der internationalen Frauenproteste an, wie wir sie in
Polen, Argentinien, Spanien oder Irland erleben/ erlebt haben. Dort waren es sehr
konkrete Anlässe, die Frauen und Männer für große Proteste oder Streiks mobilisiert
haben. Polen: Protest gegen Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Irland: Referendum
gegen das Abtreibungsverbot mit 66 % Zustimmung. Argentinien: Proteste gegen Gewalt/
Mord an Frauen sowie Kampf für legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbruch.

1) Politik und Bewegung


Daraus lassen sich erste Schlußfolgerungen ziehen für eine politische Orientierung.
Je konkreter Forderungen sind, um so eher bieten sich Anknüpfungspunkte für Menschen
mitzumachen, sich zu organisieren und Strukturen zu bilden, die dann letztlich große
Streiks und Demos ermöglichen. Der Kampf gegen §§ 218 und 219a ist ein Beispiel, an
dem dies gelungen ist. Nicht nur, dass die Diskussion (siehe Verleihung Goldene Kamera)
an Breite gewonnen hat. Auch die Mobilisierungen im Vorfeld vom 8. März, im Dezember
2018 und Januar 2019, stellten Kristallisationspunkte dar, ebenso wie die Kampagne
#wegmit219a, die das Jahr 2018 über geführt wurde Die Außeinandersetzungen im
Bundestag haben den Forderungen eine mediale Öffentlichkeit geboten, die von der
Standhaftigkeit der angezeigten Ärzt*innen, der Kampagne und den Bündnisaktivitäten
und bundesweiter Vernetzung flankiert und aufrecht erhalten wurde.

43 Zur Einschätzungen von Debatten und politischer Orientierung des Göttinger Treffens gibt es im vergangenen Bulletin (UV 2019 in Essen)
Beiträge von Rosi Nünning und Anderen.

28
Die Pflegekampagne findet lokal statt und hat ihren Ausdruck im Care Block gefunden.
Ebenso haben KiTa Streiks, Einzelhandelstreiks u.ä. das Potential, den 8. März politisch
zu bereichern. Am Beispiel Spanien lässt sich anhand des Interview mit Ana Rincón in der
aktuellen marx21 S.34ff. ablesen, dass die beständige gewerkschaftliche Organisation der
meist weiblichen Beschäftigten und deren koordinierte Beteiligung am 8.3. Frauen*streik
eben eine der wesentlichen Grundlagen für die großen Zahlen auf Spaniens Straßen sind.

Das Material der LINKEN war dagegen inhaltsleer: "8. März. - Wenn wir streiken steht die
Welt still“ oder „Vom Frauentag zum #frauenstreik“
Es bleibt – ähnlich wie die ursprünglichen Texte des Frauen*streik Bündnisses eher
abstrakt, unspezifisch und damit zahnlos. 

Die Frauen*streik-Bündnisse bieten eine gute Möglichkeit der Vernetzung und des
Austausches. Und, wir denken, dass es sinnvoll ist, sich unterjährig in konkrete
Kampagnen und Projekte einzubringen wie: § 219a abschaffen, Kita-Streiks,
Krankenhausvolksbegehren oder Pflegestreik.

2) Wie gewinnen? Vom symbolischen Protest zu realen Kämpfen.


In der Mehrzahl der Veröffentlichungen und Bewerbungen des Frauen*Kampftages wurde
ein weites Verständnis von Streik propagiert: Kundgebungen, Sit-ins, symbolische
Aktionen in Betrieben, an öffentlichen Plätzen oder Hausarbeit nicht erledigen.
Einen Überblick, was real passiert ist, scheint es noch nicht zu geben. Spannend bleibt,
wo es wirkliche betriebliche Aktionen gegeben hat.
WOLF fragt, inwieweit ein weiter Begriff von Streik hilfreich ist und kritisiert den
Verbalradikalismus. Sie fordert „eine langfristig angelegte organisierende Kampagne, die
nicht aus den eigenen feministischen Reihen von dem ausgeht, was da ist, sondern aktiv
versucht Mehrheiten zu gewinnen.“
Sie fordert auf, die Wahrnehmung in Bezug auf die deutschen Gewerkschaften zu
schärfen und mahnt an, internationale Entwicklungen, wie in Spanien, nicht eins zu eins
auf Deutschland und deutsche Gewerkschaften zu übertragen. Hier gilt es genauer zu
werden und detailliertere Analysen zu liefern über:
- Sozialpartnerschaft Arbeitgeber und Gewerkschaften
- Standortnationalismus vs. globalisierte Konkurrenz
- Gewerkschaftsbürokratie
- schwäche gewerkschaftlicher Organisierung/ Kämpfe
- Dominanz der Sozialdemokratie
- etc.

Wenn wir überlegen, wie eine Verbindung von außerparlamentarischer Frauenbewegung


oder der Partei DIE LINKE mit gewerkschaftlichen oder Betriebsstrukturen und Kämpfen
aussehen kann, können wir bei vorhandenen oder vergangenen Kämpfen starten, wie
Bspw.:

- Volksbegehren für bessere Krankenhäuser (Berlin, Bayern, …) mit Solibündnissen und


engen Kontakten zu Gewerkschaftsaktivist_innen
- Kita-Protesten
- Kontakt zu kämpfenden Amazon-Arbeiter_innen
- Streik der Reinigungskräfte
– Soli mit Tarifrunde im Einzelhandel

29
Hier bieten sich Möglichkeiten ökonomische/ soziale Kämpfe mit politischen Fragen und
Forderungen zu verknüpfen.

WOLF’s Vorschläge zu den politischen Forderungen/ Inhalten und Kampagnen bleiben


allerdings ebenfalls unkonkret. In gewisser Weise ist das konsistent, da sie ja gerade
fordert, dass Kampagnen und politische Inhalte von den Aktivist_innen und
Gewerkschafter_innen von unten entwickelt werden müssen. Aber eine Klammer für die
bundesweite Bewegung fehlt.44 Sie bezieht sich außerdem in ihrer Analyse/ Kritik „nur“ auf
das bundesweite Bündnis. Ansonsten ist nicht klar, welche Organisationen oder Strukturen
sie meint. Daher bleibt es bei einer Methode.45 Das positive ist, dass sie in der Methode
viel genauer und detaillierter ist, als andere Veröffentlichungen im Vorfeld. 

In Bezug auf die LINKE, können wir hier wiederrum viel konkreter werden als WOLF, da es
die oben benannten Verknüpfungen, Forderungen und Kontakte bzw. aktive Beteiligung in
konkreten Kampagnen und Bündnissen bereits gibt. DIE LINKE könnte also zum 8.3. mit
ihren Forderungen viel konkreter werden und müsste nicht bei den Allgemeinplätzen des
Frauen*streik Bündnis stehen bleiben.

3) Kampf um die Küche? Kampf in den Betrieben? Kampf ums Ganze?


a) In den Bündnisaufrufen des Frauen*streik Bündnis wird häufig von Streik im Betrieb
einerseits und dem Bestreiken von Haus- und Sorgearbeit auf der anderen Seite
gesprochen.
Es ist noch immer so, dass Frauen den größten Teil der Hausarbeit und Sorgearbeit (zu
Hause) übernehmen. Hier liegt nicht zuletzt auch ein Grund für die Doppelbelastung von
Frauen.
Nicht selten ließt es sich in den Aufrufen und Artikeln so, dass die Küche bestreikt werden
soll, damit Mann das endlich versteht.46 Hier kann der Eindruck entstehen, dass Männer
das Problem sind und weniger eine materielle und strukturelle Basis im Kapitalismus. Das
führt in eine Sackgasse. Wir sehen die Ursache für Frauenunterdrückung im Kapitalismus
und den geschichtlichen Ursprung in der Entstehung von Klassengesellschaften.
Wir sollten den Fokus auf eine Vergesellschaftung von Haus- und Sorgearbeit stärken. 

b) Auch der Ausschluß von Männern auf Demonstrationen oder Bündnistreffen oder die
„Beschränkung“ der Rolle der Männer am 8. März als Kindersitter, kann schräg enden.
Natürlich kann es sinnvoll sein oder manchmal ist es bitter nötig, dass Frauen sich
eigenständig organisieren: als Methode. Als grundsätzliche Strategie führt auch das in
eine Sackgasse. Die Spaltung der Herrschenden sollten wir durchkreuzen. Unser Fokus
ist ein gemeinsamer Kampf von Frauen und Männern im Betrieb und auf der Strasse.
Dafür gilt es Extra-anstrengungen zu unternehmen, um Frauen zu organisieren und
Männer für den Kampf gegen Sexismus und Ungleichheit zu gewinnen.

c) Der Kampf um die Küche bedeutet schlußendlich auch ein isolierter Kampf von
Individuen. Doch gerade die Demonstrationen am 8. März und die Streikbewegungen in
Spanien und Griechenland oder während der arabischen Revolution, zeigen das
44 Die Demonstrationen zum ersten internationalen Frauentag hatten die Forderung nach dem Frauenwahlrecht.
45 Sie versucht Antworten zu geben auf die Fragen: Wie können wir Gewerkschaften/ Gewerkschafter_innen einbinden, bzw. wie
können wir Streiks im engeren Sinne erreichen.
46 Auch im M21-Extra zum Frauen*streik: Interview mit Ana Rincon.

30
stärkende Element ist die Solidarität und das Kollektive. Hier schöpfen wir Kraft. Hier
werden wir selbstbewusst.

Quellen:
1) aktuelles heft m21 (insbesondere interview mit spanischer Aktivistin)
2) Wolter/ Wischnewski: https://www.freitag.de/autoren/alekswisch/der-8-maerz-war-erst-
der-anfang
3) socialist worker: https://socialistworker.co.uk/art/47974/We+have+millions+
+of+reasons+to++protest+on+International+Womens+Day
4) Yanira Wolf:
http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2019/01/Frauenstreik_Yanira_Wolf.pdf
5) etwas umfangreicher: Ingrid Artus (rls):
https://www.rosalux.de/publikation/id/39917/frauenstreik/
6) Cinzzia Arruzza: https://www.viewpointmag.com/2018/12/03/from-womens-strikes-to-a-
new-class-movement-the-third-feminist-wave/

Silke Stöckle, Oliver Klar (m21 Neukölln)

31
Abschrift eines Artikels, denn ich für die Zeitschrift „Klassenkampf“, Ausgabe Juli/August
1989 geschrieben habe.
Ich finde ihn, obwohl das 30 Jahre her ist, für die heutige Diskussion noch nützlich. Es
wird ein wichtiger Mechanismus dargestellt, der dazu führt , dass im Kapitalismus
Bedingungen für die Unterdrückung der Frauen sich weiter aufrechterhalten lassen. Mit
der „ganzen Kraft“ ist der gemeinsame Kampf der weiblichen und männlichen Teile der
Arbeiterklasse gemeint.
Stefanie Haenisch

Gleichstellung der Frauen:


Um die Mauern niederzureißen, ist die ganze Kraft nötig

Die Forderung nach Gleichstellung der Frauen mit den Männern hat in den letzten
Jahren immer mehr Bedeutung gewonnen. In vielen Gewerkschaften ist sie ins
Programm aufgenommen worden. Die SPD hat sich die Gleichstellung der Frauen
als Nahziel auf ihre Fahne geschrieben. Sie führt auch die beschlossene Quotierung
bei den Funktionärswahlen zügig durch. In den rot-grünen Stadtregierungen von
Berlin und Frankfurt sind die Frauen nicht mehr unterrepräsentiert.
Endlich Hoffnung für die Frauen? Doch es gibt Erfahrung: In den letzten 100 Jahren
hat die Masse der Frauen, trotz gleicher Rechte, trotz wesentlich verbesserter
Ausbildung, trotz zunehmender Erwerbstätigkeit nicht die gleiche Stellung wie die
Masse der Männer gewonnen.
Die Frage ist: was waren bisher die unüberwindlichen Mauern für die tatsächliche
Gleichstellung der Frauen? Können diese Mauern durch die vorgeschlagene
Lösung niedergerissen werden?

Kaum mehr Nur-Hausfrauen

Fast alle arbeitenden Frauen erleben, daß ihre Arbeit „weniger wert“ ist als die eines
Mannes. 80,5% aller Arbeiterinnen verdienten 1985 weniger als 1400 DM netto monatlich,
aber nur 21% aller Arbeiter. Die weiblichen Angestellten verdienen zwar etwas bessere als
die Arbeiterinnen, doch 77% lagen unter 1800 DM im Monat, während nur 24% der
männlichen Angestellten ein so niedriges Gehalt hatten. Die untersten Lohngruppen sind
fast ausschließlich mit Frauen besetzt. Die Arbeit der Masse der Frauen ist so wenig wert,
daß sie mit diesem Einkommen kaum sich, geschweige denn, sich und ihre Kinder
versorgen können. Deshalb sind sie weiterhin vom Mann materiell abhängig, obwohl die
Mehrheit der Frauen berufstätig ist. Die Nur-Hausfrau ist die Ausnahme, nicht die Regel.

1985 gingen 53% aller Frauen zwischen 15 und 65 arbeiten (zum Vergleich: 82% aller
Männer). Fast 60% dieser Frauen waren verheiratet, weitere 7% geschieden oder
verwitwet. 70% dieser Frauen, also die große Mehrheit, arbeitet Vollzeit.

Zwar haben 70% der arbeitenden Frauen erwachsene, bzw. keine Kinder, doch die
meisten haben als Mütter Kinder erzogen. Das führt dazu, daß die Frauen auf dem
Arbeitsmarkt nicht die gleichen Chancen haben wie die Männer.

Heute haben die Frauen eine viel bessere schulische und berufliche Ausbildung als noch
vor 20 Jahren. Sie geben ihre Arbeit nicht mehr bei der Heirat auf, sondern erst beim
ersten Kind. Im Durchschnitt ist das 8 bis 9 Jahre nach Abschluß der Ausbildung. Da die

32
Frau jedoch in der Regel schlechter verdient als der Mann, ist die Entscheidung, wer zu
Hause bleibt und sich um das Baby kümmert, finanziell fast immer vorgegeben: die Frau
hört auf zu arbeiten oder such sich einen Stundenjob. Frühestens wenn die Kinder in die
Schule kommen, ist es ihr wieder möglich, länger zu arbeiten. Vorausgesetzt es gibt eine
entsprechende Schicht oder eine Kinderbetreuung ist möglich.

Mütterarbeitslosigkeit

Fünf, meist mehr Jahre, aus der Erwerbsarbeit draußen, heißt fünf oder mehr Jahre
fehlende Betriebszugehörigkeit und Berufserfahrung, neue Arbeitssuche, neue
Bewerbung, neue Arbeit. Die neue Arbeitssuche der vereinzelten Frauen nutzen die
Kapitalisten aus, um die Arbeitsbedingungen, insbesondere die Unterbezahlung, zu
diktieren. Die Masse der Frauen muß wieder ganz unten anfangen, auch beim Lohn.
Schon in Zeiten der Hochkonjunktur und kräftiger Arbeitskraftnachfrage wirkt dieser
Mechanismus, der die Frauenlöhne unten hält. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, wie heute,
kommt es zu noch stärkerem beruflichen Abstieg, z.D. zum Abschieben in die
Teilzeitarbeit. Teilzeit ist ein Abstieg, denn Teilzeit heißt weniger Verdienst. Seit Beginn der
Wirtschaftskrise hat die Teilzeitarbeit stark zugenommen – von etwas mehr als einer
Million auf drei Millionen. 97% der Teilzeitler sind Frauen. Es ist ein weit verbreitetes
Vorurteil, daß die meisten Frauen Teilzeitarbeitsplätze suchen. 77% der arbeitslosen
Frauen suchten 1986 eine Vollzeittätigkeit. Sicher, sie würden gern weniger arbeiten, aber
nicht zu weniger Lohn. Teilzeitarbeitsplätze sind in der Regel Hilfs-oder Anlerntätigkeiten.
Eine gute Ausbildung nutzt wenig, wenn die Berufstätigkeit unterbrochen wurde. Z.B. sind
53% der teilzeitbeschäftigten Frauen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung in
einem Angestelltenberuf als Hilfs- oder angelernte Arbeiterinnen tätig.

Die Aussicht auf Abstieg beim Wiedereintritt in das Berufsleben läßt auch einen Großteil
der Nur-Hausfrauen zögern, die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Mann zu lockern. Für
Männer, die ihre Frauen zu Hause halten wollen, ist das ein starkes Argument.

Der ewige Kreis

So dreht sich der Kreis. Niedrigstlöhne, weil die Frauen die Kinder erziehen, Ausstieg aus
der Arbeit, weil es keine ausreichenden und guten Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt,
und noch am ehesten auf den Lohn der Frau für den Familienunterhalt verzichtet werden
kann, Wiederbeginn, bei dem die Unternehmer schlechtere Bedingungen diktieren
können. Durch die stetige „Kinderarbeitslosigkeit“ besteht ständig eine Konkurrenz
zwischen weiblichen Arbeitskräfen. Und diese Konkurrenz ist der Grund für die schwache
Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Sie drückt gegen eine Verbesserung der
Arbeitsbedingungen, insbesondere des Lohns. Umgekehrt zementiert die Unterbezahlung,
daß es immer wieder die Frauen sind, die die Kinder erziehen und daß sie trotz
Berufstätigkeit von den Männern materiell abhängig bleiben, usw. usw.

Dieser ewige Kreis, der immer wieder dazu führt, daß die Frauen tatsächlich ungleich
gehalten werden, müßte an zwei Stellen unterbrochen werden: durch eine drastische
Anhebung der Frauenlöhne und –gehälter einerseits und durch die Ausweitung und
Verbesserung von Haushaltsdienstleistungen, insbesondere der „Kinder“dienstleistungen
andererseits.

Gleichstellung

33
Die unter dem Einfluß der feministischen Bewegung entwickelten Vorstellungen und
Forderungen zur Gleichstellung der Frauen sehen die schwache Position der Frauen auf
dem Arbeitsmarkt, die aus ihrer „Mutteraufgabe“ herrührt. Sie wollen für die Frauen auf
dem Arbeitsmarkt die gleichen Chancen herstellen wie für die Männer.

Dann, so die Überlegung, wird sich auch der Verdienst angleichen; es wird zwar immer
noch niedrige Löhne und hohe Einkommen geben, Aufstieg und Abstieg, aber die
Verteilung verläuft nicht mehr so, daß die Frauen immer unten sind und die Männer ein
Stück darüber. Damit wäre dann auch die Chance gegeben, daß Frauen, die ihre
wirtschaftliche Abhängigkeit vom Mann lösen wollen, dies auch tatsächlich tun können.

Diese Überlegung krankt an einem entscheidenden Punkt. Sie kümmert sich nicht um die
Ursache für die Aufrechterhaltung der Ungleichheit der Frauen in der kapitalistischen
Gesellschaft. Daß die Frauen trotz Erwerbstätigkeit nicht zu „gleichen“ Lohnarbeitern
geworden sind, hat seinen Grund weder in der männlichen Herrschaft, noch in
eingeschliffenen, überholten gesellschaftlichen Traditionen. Die Ungleichhaltung der
Frauen liegt im Interesse der Kapitalisten. Zum einen ist die von den Müttern geleistete
Kindererziehung viel billiger als eine vergleichbar gute staatliche Kindererziehung, zum
andern sichert diese private Kindererziehung durch die Frauen, vermittels der
„Kinderarbeitslosigkeit“, die Konkurrenz der weiblichen Arbeitskräfte untereinander, damit
die Unterbezahlung und besonders hohe Profite.

Verdienstangleichung

Um den Lohn, bzw. das Gehalt der Frauen an die Männerverdienste anzugleichen, gibt es
den Vorschlag der Förderung der Ausbildung von Frauen in technischen Berufen. Es ist
sicherlich eine vernünftige Sache, das technologische Defizit einer Mädchenerziehung
durch besondere Förderung auszugleichen. Doch damit ändert sich an der
Unterbezahlung der Masse der Frauen nichts. Die Männer verdienen nicht deshalb mehr,
weil sie in technischen Berufen ausgebildet sind. Die meisten jungen Männer müssen
nach ihrer Lehre vom Handwerk in Anlerntätigkeiten in der Industrie wechseln, für die sie
nicht ausgebildet wurden.

Es gibt ganze Industriezweige, in denen fast ausschließlich Frauen arbeiten: die


Textilindustrie, die Lederindustrie, große Teile der Elektroindustrie. Hier werden technische
Kenntnisse und Erfahrungen gefordert. Die Frauen bekommen trotzdem Niedrigstlöhne
gezahlt.

Die niedrigen Löhne, bzw. die Eingruppierung in die untersten Lohngruppen, werden völlig
willkürlich damit begründet, daß die Anforderungen an diesen Frauenarbeitsplätzen
niedriger seien als an Männerarbeitsplätzen. Das mag sich aufgrund der technologischen
Veränderungen an den Männerarbeitsplätzen verändern; aber so willkürlich wie bisher die
Begründungen waren, so willkürlich können neue Begründungen gefunden werden, mit
denen die Frauen unten gehalten werden. Hinzu kommt, daß bei der Bestimmung der
Lohnhöhe, Kriterien wie die Dauer der Betriebszugehörigkeit ein großes Gewicht
zukommt. Und hier sind die Frauen wegen der Unterbrechung der Berufstätigkeit wegen
der Kindererziehung grundsätzlich im Nachteil.

Andere Vorschläge, wie die Förderung der beruflichen Wiedereingliederung oder der

34
betrieblichen Weiterbildung sind auch vernünftig, ändern aber gleichermaßen nichts an der
jahrelangen „Kinderarbeitslosigkeit“ und der diskriminierenden Einstufung sogenannter
„leichter“ Frauenarbeiten. Es gibt nur eine Möglichkeit, den Kreis am Punkt der
Niedrigstlöhne zu unterbrechen: der gewerkschaftliche Kampf, der Streik für eine
drastische Erhöhung der Frauenlöhne- und gehälter.

Festbeträge statt Prozentforderungen


Abschaffung der unteren Lohn – und Gehaltsgruppen
Angleichung der Frauen- an die Männerlöhne

Wie wirksam ein solcher Kampf sein kann, zeigt die Entwicklung in der ersten Hälfte der
70ger Jahre. Damals wurden Festgeldbeträge gefordert und auch erstreikt: der
Bruttostundenlohn der Arbeiterinnen in der Metallverarbeitung lag 1970 noch 29% unter
den Männerlöhnen, 1980 „nur“ noch 25% unter den Männerlöhnen, in den folgenden
sieben Jahren verringerte sich der Abstand aber nur noch um ein Prozent – das Ergebnis
von Prozentforderungen. 1973 kam es zu einer großen Welle wilder Streiks in der
Automobil und Zulieferindustrie. Den vorwiegend ausländischen Frauen von
Pierburg/Neuß gelang es mit ihrem wilden Streik die deutschen Facharbeiter in den Kampf
zu ziehen, und dieser Front gelang es, die Lohngruppe II bei Pierburg abzuschaffen.

Spätestens in der Tarifrunde 1986 hat die IG-Metall das Ziel der Abschaffung der
Leichtlohngruppen aufgegeben. Die Forderung nach einem Festbetrag von 150 Mark für
alle, um die unteren Lohngruppen stärker anzuheben, wurde stillschweigend fallen
gelassen. Ein halbes Jahr später – nach dem Gewerkschaftstag der ID`G-Metall – trat das
Vorstandsmitglied Janssen (Ressort Tarifpolitik) zurück, weil er mit seinem Programm der
Anhebung der unteren Lohngruppen und seinem Widerstand gegen Flexibilisierung eine
Niederlage erlitten hatte.

Heute empfiehlt die IG-Metall stattdessen, den Weg über die Arbeitsgerichte statt Streiks,
um Höhergruppierungen durchzusetzen. Darüberhinaus hat sie sich vorgenommen,
Frauenförderungspläne tarifvertraglich durchzusetzen, die kleine Gruppen im Betrieb
durchsetzen müssen. (vrgl. Gewerkschafter 9/88). Die Masse der betroffenen Frauen
weiß, daß Gerichtsprozesse kein Ersatz für gewerkschaftlichen Kampf sind und daß
Förderpläne allenfalls einzelnen Frauen bessere Berufschancen geben können. (Die
berufliche Förderung entspricht gegenwärtig angesichts des absehbaren
Facharbeitermangels den Interessen der Kapitalisten, insbesondere wenn der Staat dafür
bezahlt).

Die Kapitalisten haben aber kein Interesse daran, daß die Masse der unterbezahlten
Frauen höhere Löhne bekommt. Sie wollen weiterhin die Kombination von
Unterbezahlung, schlechteren Arbeitsbedingungen, mehr Teilzeitarbeit einerseits und
billiger privater Kinderbetreuung in der Familie andererseits aufrechterhalten, um ihre
Profite zu erhalten und zu steigern.

Kinderbetreuung

Um die Fesselung der Frauen an die Kinderbetreuung aufzulösen, fordern die


feministische Bewegung und die SPD langfristig den 6-Stunden-Tag, bzw. die 30 –Stunden
–Woche für alle. Erst dann bestünde praktisch die Möglichkeit, daß sich Mann und Frau
die Hausarbeit, also insbesondere die Kindererziehung, teilen.

35
Gegen die Teilung der Hausarbeit haben wohl die meisten Frauen nichts einzuwenden. Ob
aber eine 30-Stunden-Woche tatsächlich dazu führt, daß auch Männer „Mütter“ werden, ist
nicht die Frage der Arbeitszeit „an sich“, sondern die Frage der Arbeitszeit zu welchem
Lohn.

Eine drastische Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, wie sie z.B. der bisher
ungekürte Kanzlerkandidat der SPD, Lafontaine, propagiert, wird den Mann nur dazu
zwingen, einen zweiten Job anzunehmen, um aufs Geld zu kommen. Die noch schlechter
verdienende Frau würde weiterhin die „Mutter“aufgaben übernehmen.

Die Verkürzung der Arbeitszeit mit dem Ziel, die Hausarbeit zu teilen, ist nur dann ein Weg
zu größerer Chancengleicheit, wenn das Einkommen so hoch ist, daß die Familie
vernünftig leben kann.

Die andere Möglichkeit, die Frauen von den Fesseln der Kindererziehung zu befreien, ist
der Ausbau und die qualitative Verbesserung der öffentlichen
Kinderbetreuungsmöglichkeiten. (Dazu gehörte auch ein Elternurlaub mit
Arbeitsplatzgarantie und voller Lohnfortzahlung in den ersten beiden Jahren nach der
Geburt).

Eine Ausdehnung der öffentlichen Kinderbetreuung lehnt Lafontaine ab, mit der
Behauptung – die allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und auch Erfahrungen
widerspricht – eine „Dienstleistung“ könne nicht die Zuwendung der Familie ersetzen.
Damit leugnet er nicht nur das Elend der Kindern in unzähligen Familien, er macht den
Eltern darüberhinaus ein schlechtes Gewissen und behauptet gleichzeitig, daß die
bestehenden, nicht zuletzt aus Personalmangel und Arbeitsbelastung resultierenden
unbefriedigende öffentliche Kinderbetreuung unabänderlich wäre.

Für die Masse der Frauen ist die Verbesserung der öffentlichen Kinderbetreuung in allen
Altersstufen jedoch die einzige Möglichkeit, die durch die Kindererziehung erzwungene
zeitweilige Arbeitslosigkeit und damit eine entscheidende tatsächliche Ungleichheit
abzuschaffen.

Dafür müßte sehr viel Geld ausgegeben werden, Steuergeld. Die Steuern, die die
abhängig Beschäftigten zahlen, sind Teil ihres Lohns. Beim Streit darum, wofür die
Steuern ausgegeben werden, geht es um die Frage, werden sie für den „kollektiven
Konsum“ der Lohnabhängigen ausgegeben , z.B. für die Betreuung ihrer Kinder, oder für
die Profite des Kapitals. Seit Beginn der Wirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre, wird der
kollektive Konsum gekürzt. Ohne harten gewerkschaftlichen Kampf gegen den
Sozialabbau und für eine Verbesserung der öffentlichen Kinderbetreuung, wird es für die
Masse der Frauen keine Lösung von den Fesseln der Kindererziehung geben. Ein
Möglichkeit bestünde darin, den Kampf der ÖTV für mehr Stellen bei den sozialen
Dienstleistungen (Kindereinrichtungen, Krankenhäuser, Altenpflege) mit Solidaritätsstreiks
praktisch zu unterstützen.

Die gesellschaftliche Aufgabe der Gleichstelung der Frauen, der völligen Beseitigung jeder
Form sexistischer Unterdrückung der Frauen durch Männer ist untrennbar verbunden mit
der materiellen und wirtschaftlichen Gleichstellung und Sicherheit der Frauen, unabhängig
vom Einkommen der Männer. Deshalb kann der politische Kampf gegen den Sexismus

36
nicht vom ökonomischen Kampf gegen Ausbeutung getrennt werden.
Vor 100 Jahren kämpfte Klara Zetkin innerhalb der Sozialdemokratie für das Recht der
Frauen auf Erwerbstätigkeit. „Die Frauenarbeit ….. auch nur beschränken zu wollen, das
läuft darauf hinaus, die Frau zu dauernder ökonomischer Abhängigkeit, zu
gesellschaftlicher Knechtung und Ächtung, zur Prostitution in – und außerhalb der Ehe zu
verurteilen; es läuft aber auch darauf hinaus, den Mann mit dem doppelten
Arbeitsquantum zu belasten und ihn dadurch ebenfalls einer größeren Abhängigkeit
preiszugeben.“ … man „darf die Interessen der männlichen und weiblichen Arbeit einander
nicht feindselig gegenüberstellen, sondern man muß beide miteinander vereinigen und in
geschlossener Masse, als Arbeiterinteressen überhaupt, den kapitalistischen Interessen
gegenüberstellen.“ (Klara Zetkin, 1889)

Das geschieht bei den Vorschläger der feministischen Bewegung und der SPD heute
nicht. Deshalb werden die Mauern, die bisher gegen die Gleichstellung errichtet wurden,
so nicht niedergerissen werden. Für die Masse der Frauen gibt es heute, wie vor 100
Jahren, nur eine Alternative:

Die Gleichstellung muß durch den wirtschaftlichen und politischen Klassenkampf


erkämpft werden.

37
Frank Renken
Über Vogels „Toward a Unitary theory“
(Teil 1)

Marx21 versteht sich seit der Gründung vor zwölf Jahren als revolutionärer
Organisationskern innerhalb einer reformistischen Massenpartei. Das Verhältnis zwischen
beiden ist keine Einbahnstraße. Der Druck der reformistischen Massenorganisation führt
zu einem permanenten Fragmentierungsdruck auf die revolutionäre Minderheit. Ergebnis:
Marx21 nimmt zunehmend die Geografie die Linkspartei an. Unser Anspruch ist es, einen
theoretisch gefestigten revolutionären Pol mit gemeinsamer Strategie zu entwickeln. In der
Praxis arbeiten unsere Organisationsteile häufig nebeneinander her.

In Berlin ist dieser Widerspruch am schärfsten zu spüren. Es gibt seit Jahren wenig
koordinierte und gemeinsame Praxis. Daraus folgt, dass es kaum noch gemeinsame
Debatte über die Bezirksgrenzen hinweg oder zwischen Bezirksorganisationen und SDS-
Gruppen gibt.

Dies erklärt, warum Berlin im letzten Jahr zum Zentrum eines zum Teil irrational
erscheinenden Konflikts um die sogenannte „Theorie der sozialen Reproduktion“
geworden ist. Dieser Konflikt hat sich direkt in den Kokreis übersetzt: Ein Teil des
Kokreises war auf seinen Sitzungen im Dezember 2018 der Meinung, wir hätten diese
Theorie bereits Jahre diskutiert, sie müsse nun als „notwendige Erweiterung und
Ergänzung des Marxismus“ beschlossen werden. Ein anderer Teil war der Auffassung,
diese Debatte sei noch nicht einmal begonnen worden.

Die „Theorie der sozialen Reproduktion“ wird im Zusammenhang mit der erstarkenden
Frauenbewegung in die Organisation getragen. Sie wurde aus zwei Gründen zum Fokus
eines internen Konflikts. Erstens, weil der Grundlagentext dieser Theorie, Lise Vogels
„Marxism and the Oppression of Women – Toward a unitary theory“ in der Organisation
weitgehend unbekannt ist, ebenso wie andere Beiträge, die jüngst unter Berufung auf
dieses Werk entstanden sind.47 Vogels Werk ist bis heute noch nicht einmal in deutscher
Sprache erhältlich. Auf dieser Grundlage lässt sich ein Konflikt kaum produktiv führen.

Der zweite Grund, so meine These, liegt in Vogels Werk selbst, das sich keineswegs so
widerspruchsfrei mit den von uns in zahlreichen Artikeln im Magazin Marx21, in unseren
Broschüren und in Theorie21 entwickelten Positionen zur Frauenunterdrückung
vereinbaren lässt. Der auf der UV im Januar 2019 gefällte Beschluss zur „Theorie der
sozialen Reproduktion“ wird dem Werk von Vogel nicht gerecht. In der Unitary theory,
ihrem Grundlagentext, versucht sie nicht weniger, als zentrale Annahmen der
marxistischen Theorie zu revidieren, wie sie ausgehend von Friedrich Engels formuliert
worden sind. Im folgenden Artikel setzte ich mich mit diesem Anspruch auseinander.
Meine These ist, dass das Grundlagenwerk von Lise Vogel a.) Frauenunterdrückung nur
lückenhaft erklärt und strategisch zu völlig falschen Schlussfolgerungen führt; b.) sie keine
„Ergänzung“ des Marxismus darstellt, sondern im Widerspruch zur Marxschen Methodik
steht.

1. Engels als Urheber einer hundert Jahre währenden Fehlerserie


Was ist Frauenunterdrückung? Was ist ihr Ursprung? Wie können wir dagegen kämpfen?
Wie kann sie aufgehoben werden? Das sind Fragen, deren Beantwortung mit dem

47 Lise Vogel, Marxism and the Oppression of Women – Toward a unitary theory, Chicago, 2013 (2. Aufl.)

38
globalen Aufschwung der Frauenbewegung an Dringlichkeit gewinnt. Wie immer, wenn
eine Bewegung im Aufschwung ist, kommen unterschiedliche Theorien auf, werden
verschüttete Beiträge wiederentdeckt, insbesondere solche, deren Antwort gerade dem
Stand der Bewegung entsprechen.

Lise Vogels Unitary theory erschien 1983, ohne dass es damals einen großen Widerhall
gefunden hätte. Die Herausgabe der zweiten Auflage 2013 wurde völlig anders
aufgenommen. Seitdem wird das Buch weithin an Universitäten diskutiert, ist Gegenstand
vieler Rezensionen und wurde bereits ins Türkische und Chinesische übersetzt.

Als Vogels Buch ursprünglich erschien, begünstigte der Niedergang der Klassenkämpfe
den Aufstieg des Neoliberalismus, und mit ihm individualistische Theorien. Dies machte
vor der Frauenbewegung nicht halt, die sich in Richtung Identitätspolitik und Separatismus
entwickelte. Die „Patriarchatstheorie“ setzte sich durch – das heißt die Vorstellung, dass
es neben einem ökonomischen System noch ein eigenes System männlicher
Vorherrschaft über die Frau gebe. Grundlage dieser Theorie war die Annahme, alle
Männer profitierten von der Unterdrückung der Frauen und hätten daher ein Interesse an
der Aufrechterhaltung dieses „Systems“. Ein Buch, das sich wie jenes von Vogel auf Marx
beruft und die Formulierung einer „unitary theory“, also einer „einheitlichen“ statt einer
„dualen“ Theorie bereits im Titel trägt, musste auf viele der Aktivistinnen wie aus der Zeit
gefallen erscheinen.

Die heutige Frauenbewegung ist demgegenüber deutlich geprägt von sozialen


Auseinandersetzungen. Der Aufstieg der Linken in den 2000er Jahren ging mit dem Kampf
für „soziale Gerechtigkeit“ einher. In den letzten Jahren gab es Kampagnen und Kämpfe
um die Bedingungen im Einzelhandel wie bei Lidl und Schlecker; Themen sind die
Einkommenslücke, die Rentenlücke und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Selbst
innerhalb der #MeToo-Debatte wird häufig ein Zusammenhang zwischen sexueller
Belästigung und der Abhängigkeit am Arbeitsplatz hergestellt. Vogels Anspruch,
Marxismus und die Unterdrückung der Frauen im Rahmen einer in sich geschlossenen
Theorie zu analysieren, deutet die Suche nach einer Verbindung des politischen Kampfes
für Gleichheit mit dem ökonomischen Kampf, mit dem Klassenkampf an. Das passt in die
Zeit.

Das Grundproblem: Wer nach einer Erklärung für Frauenunterdrückung sucht, oder auch
nur eine Beschreibung der Felder, die sie ausmacht, wird bei Vogel kaum fündig. Das
Buch ist für ein akademisches Publikum geschrieben. Vogel entwickelt die Fragestellung
aus verschiedenen Beiträgen des Feminismus seit 1966 (Seiten 1 – 40); dann stellt sie die
Ideengeschichte des Marxismus zum Thema anhand ausgewählter Texte von Marx,
Engels, Bebel, Zetkin, Eleanor Marx und Lenin dar (Seiten 41 – 140). Die Methode ist die
der Exegese, der Auslegung von Texten. Auf den anschließenden 40 Seiten folgt eine
überaus abstrakte Darstellung der eigenen Theorie, wobei die Antwort auf das
selbstgesteckte Ziel, die Herausarbeitung eines „theoretischen Rahmens“ der
Frauenunterdrückung sich im Kern auf die Seiten 151 – 156 reduziert.

Obgleich Vogel unentwegt die „materiellen Grundlagen“ der Frauenunterdrückung


beschwört, setzt sie sich nicht mit der materiellen, mithin realen Welt auseinander. Sie legt
auch keine historischen Entwicklungen, politischen Kämpfe oder empirischen Daten als

39
Maßstab an die Konzepte an, vor denen es in ihrem Buch wimmelt. 48 Folglich erklärt sie
auch nicht die Entwicklung des „Dualismus“ in der Frauenbewegung aus den Umständen,
in denen sich die Theorie entwickelt hat, sondern führt die falsche Ansicht auf die falschen
Ansichten früherer Theorien zurück. Vogel hat den Anspruch, materialistische Theorie zu
entwickeln – mittels idealistischer Methode. In ihrem Buch erscheint der von ihr kritisierte
Dualismus als Ergebnis einer Serie von theoretischen Fehlern, die sich aus sich selbst
heraus entwickelt haben.

Der Ausgangspunkt dieser vermeintlichen Fehlerserie überrascht: Vogel macht ihn nicht in
den kleinbürgerlichen Theorien des Feminismus der 1970er Jahre selbst aus, sondern
findet ihn hundert Jahre zuvor angelegt, bei … Friedrich Engels. Der habe im Vorwort zu
seinem bahnbrechenden Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staats eine „fehlerhafte“, eine „dualistische Formulierung“ gewählt, die von
Theoretikerinnen der Frauenbewegung immer wieder zur Begründung ihrer eigenen
dualistischen Anschauungen angeführt worden sei. 49 Engels habe ein „duales Erbe“
hinterlassen.50

Konkret handelt es sich um folgende Passage:


„Nach der materialistischen Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende
Moment der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Dies
ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von
Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen
Werkzeugen; andererseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der
Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer
bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt
durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit,
andererseits der Familie.“51

Tatsächlich ist dieses Zitat von jenen Verfechterinnen der Patriarchatstheorie benutzt
worden, die der Theorie von der Existenz eines eigenen Systems männlicher
Vorherrschaft einen materialistischen Anstrich geben wollten, darunter Heidi Hartmann. 52
Es konnte den Eindruck vermitteln, Engels habe mit Produktion und Reproduktion zwei
verschiedene Systeme gemeint, die unabhängig und gleichwertig nebeneinander stehen.
Diese Sätze wurden indessen aus dem Zusammenhang gerissen. Engels lieferte in
seinem Werk auf Grundlage der damals neuesten Erkenntnisse des Ethnologen Henry L.
Morgan den ersten zusammenhängenden Versuch, die Entstehung der
Frauenunterdrückung parallel zur Entstehung der Klassengesellschaft zu erklären. In der
Urgesellschaft, die noch keine nennenswerte Produktion und nur wenige Produktionsmittel
kannte, gab es auch noch keine Frauenunterdrückung. Diese Gesellschaft, auf die sich
Engels in der genannten Passage bezieht, erscheine beherrscht durch Geschlechtsbande.
Doch je mehr sich die Produktivität der Arbeit entwickle, und mit ihr ein wachsendes
Mehrprodukt, Privateigentum und Austausch, werde die „alte, auf Geschlechtsverbänden
beruhende Gesellschaft gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten
gesellschaftlichen Klassen; […] eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von

48 So ist für Vogel nicht nur die Reproduktion der Arbeitskraft (S. 27), sondern auch die Arbeitskraft selbst nur ein
„Konzept“ (S. 143, 148).
49 Unitary Theory, S. 33, 94.
50 So die Überschrift des 9. Kapitels in Unitary Theory.
51 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats; in: MEW, Band 21, S. 27 f.
52 Heidi Hartmann, The unhappy marriage of Marxism and Feminism; in: Capital and Class, Nr. 8, Sommer 1979.

40
der Eigentumsordnung beherrscht wird und in der sich nun jene Klassengegensätze und
Klassenkämpfe frei entfalten […].“53

Es brauchte keine zweideutige Formulierung bei Engels, damit hundert Jahre später die
Patriarchatstheorie oder andere dualistische Konzeptionen entstanden, wie Vogel meint.
Tatsächlich trennen Hartmann und Engels Welten. Engels’ Kernthesen jenseits des
missbrauchten Zitats waren deshalb in der feministisch geprägten Frauenbewegung der
1980er Jahre dann auch überaus unpopulär. Sie waren revolutionär und lassen sich so
zusammenfassen:

„a) Frauenunterdrückung ist keine allgemeingültige Erscheinung der menschlichen Natur,


sondern sie hat ihre Wurzeln in der vorherrschenden Form der Familie;

b) die Familie selbst ist nicht unveränderlich, und wir können zurückblicken auf
Gesellschaften, in denen die Familie, so wie wir sie kennen, gar nicht existierte, ebenso
wenig wie Frauenunterdrückung;

c) Die Entwicklung fiel zusammen mit dem Entstehen der Klassengesellschaft.“ 54

Vogel entwickelte ihre Theorie gegen Hartmann und andere, akzeptierte aber deren
Argumentation, Engels habe die Grundlage für eine „duale“ Sicht auf die Frauenfrage
gelegt. Sie begründet das so: „Indem Engels der Familie ein eigenes Kapitel widmet,
unterstellt Engels implizit, dass die Kategorie der Familie […] als nahezu autonom
betrachtet werden kann. Zudem hält er die geschlechtliche Arbeitsteilung für biologisch
und historisch statisch, während alle wesentlichen Phänomene im Ursprung
gesellschaftliche Grundlagen haben. […] Schließlich stimmt die Diskussion der Familie als
Ort des Kampfs zwischen den Geschlechtern mit der Vorstellung von einem Doppelsystem
überein. […] Die beiden Entwicklungen [das Aufkommen des Geschlechter- und des
Klassenkonflikts] bleiben ein historisch parallel auftretendes Phänomen, deren
theoretische Beziehung zueinander als von Autonomie geprägt erscheint.“ 55

Nichts könnte den Inhalt und das Herangehen Engelsʼ schlechter beschreiben. Zunächst
einmal ist für Engels, anders als für Vogel, die Familie keine „Kategorie“, sondern eine
Realität. Ebenso wie für ihn zwischen der Entstehung der Frauenunterdrückung
(„Geschlechterkonflikt“) und der Entstehung des Klassenkonflikts nicht nur eine
theoretische, sondern eine reale Beziehung bestand. Die Tatsache, dass Engels der
Familie in ihrer historischen Veränderung ein eigenes Kapitel widmet, heißt auch nicht,
dass er ihr „implizit“ einen autonomen Charakter zuschreiben würde. Vielmehr entwickelt
er ausführlich die sich verändernden Formen der Familie, der Ehe und der damit
einhergehenden Vorstellungen von Liebe über verschiedene historische Epochen hinweg,
auf Grundlage der jeweils vorherrschenden Produktionsweise. 56
Die Arbeitsteilung unter den Geschlechtern nimmt bei ihm im Übrigen ebenso wenig einen
überhistorischen Charakter an; so beschreibt er, wie mit dem Aufkommen des industriellen
Kapitalismus in England die Frauen in die Fabrik versetzt und sie somit „oft genug zur

53 Engels, Ursprung, MEW 21, S. 28.


54 Chris Harman, 100 Jahre Engels‘ Ursprung der Familie; in: Klassenkampf – Zeitschrift der Sozialistischen
Arbeitergruppe, Nr. 25, Januar 1985.
55 Vogel, Unitary theory, S. 136 f.
56 Engels, Ursprung, MEW 21, Kapitel 2.

41
Ernährerin der Familie“ gemacht wurden – was „der Männerherrschaft in der
Proletarierwohnung allen Boden entzogen“ hat. 57

Frauenunterdrückung hat, ebenso wie die sich verändernden Formen von Ehe und
Familie, in denen sie wurzelt, sehr wohl eine materielle Grundlage bei Engels. Diese
materielle Basis bildet die sich wandelnde Produktionsweise. Engels selbst bekämpfte in
seiner Zeit jene, die dies anders sahen und der Familie einen autonomen Status
zubilligten. So kritisierte er Eugen Dühring, wonach man „die moderne bürgerliche Familie
von ihrer ganzen ökonomischen Grundlage losreißen“ könne, ohne dadurch ihre ganze
Form zu verändern“. Er kritisierte Dühring, dass dieser sich die Familie als
unveränderliche Institution vorstellen würde, als ewige „vererbende, das heißt als
besitzende Einheit“.58

Für Engels waren auch die Phänomene, in denen Frauenunterdrückung praktischen


Ausdruck findet, anders als Vogel unterstellt, stets an die ökonomische Grundlage
gekoppelt. So erklärte er, dass mit dem „Aufschwung der Industrie auf kapitalistischer
Grundlage“ zwar die Ehe „gesetzlich anerkannte Form“ blieb, sich aber zugleich die
Prostitution „in bisher unerhörtem Maß“ ausgebreitet habe. 59 Die ganze Fortschrittlichkeit
im Denken Engelsʼ kommt zum Ausdruck, wenn er sich über Dührings Idee lustig macht,
dass Prostitution quasi natürlich an das weibliche Geschlecht gebunden sei. 60

Schließlich schafft der Übergang zum Kapitalismus die Voraussetzungen für die Befreiung
der Frau. So zitiert Engels Marx zustimmend, wonach „die große Industrie mit der
entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei
Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre
des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage schafft für eine höhere Form
der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter“. 61

Allerdings, Engels diskutierte die Entwicklung der Familie und der Ehe als das, was sie ist:
als eine Institution, die nicht nur mit dem Staat entstanden ist, sondern schließlich ein Teil
von ihm wird, als eine juristisch fixierte Einheit zur Übertragung von Eigentum. Vogel
kritisiert: Im Ursprung habe Engels das Eigentum und den Warentausch auf dem Markt
zum Dreh- und Angelpunkt sozialer Entwicklungen gemacht. Nirgends diskutiere er diese
Phänomene mit Blick auf die „gesellschaftlichen Beziehungen, die die Produktionsweise
darstellen, der sie entspringen“. In „Marxʼ Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion“
hingegen stellten Privateigentum und Warentausch nur „spezifische Ausdrucksformen
bestimmter Formen von Klassengesellschaften“ dar. Engels sei hier Utopist wie der
Frühanarchist Proudhon, der ebenso wenig die Produktionsverhältnisse analysiert habe
und stattdessen „die Eigentumsverhältnisse […] in ihrem juristischen Ausdruck als
Willensverhältnisse […] verflocht“.62

57 Engels, Ursprung, MEW 21, S. 73 f. Es gehört zu den zahlreichen Ungereimtheiten in Vogels Buch, dass sie selbst
am Ende ihres Buches eine auf dem biologischen Unterschied begründete Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau
in der Familie als epochenübergreifendes, unüberwindbares Hindernis im Kampf für die Gleichstellung der Frau
darstellt; siehe Unitary Theory, S. 178.
58 Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: MEW, Band 20, 1984, S. 296.
59 Ebd., S. 239 f.
60 Ebd. S. 300.
61 Ebd., S. 296.
62 Vogel, Unitary Theory, S. 91; Karl Marx an J. B. von Schweitzer über Proudhon; in: MEW 16, S. 26.

42
Engels war sich des Unterschieds zwischen Produktionsverhältnissen und der aus ihnen
abgeleiteten Eigentumsformen sehr wohl bewusst. So kritisierte er Dühring für die
Abtrennung der kapitalistischen Verteilungsweise von der kapitalistischen
Produktionsweise.63 Im Ursprung diskutiert er nicht nur die Eigentumsformen auf
Grundlage der sich verändernden Produktionsweisen, er kritisiert jene, die die juristische
Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe mit tatsächlicher Gleichberechtigung
verwechseln: „Die rechtliche Ungleichheit beider, die uns aus früheren
Gesellschaftszuständen vererbt, ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung der
ökonomischen Unterdrückung der Frau.“64 Im Folgenden beschreibt Engels, wie vor dem
Hintergrund dieser ökonomischen Beziehungen die Frau mit dem Entstehen der
Klassengesellschaften aus dem öffentlichen Raum herausgedrängt worden ist, und wie
divers zugleich sich dieser Prozess für die Frauen in den unterschiedlichen Klassen und
selbst Berufszweigen im Rahmen ein und derselben ökonomischen Ordnung darstellen
kann.

Frauenunterdrückung ist eine sehr spezifische Erscheinungsform des gesellschaftlichen


Überbaus, der sich über der ökonomischen Basis erhebt, abhängig von nationalen,
historischen Besonderheiten. Dies erklärt die enorme Spreizung in Qualität und Quantität.
Die Stellung der Frau im Kapitalismus des 19. Jahrhundert war anders als die im
Kapitalismus des 21. Jahrhundert. Sie unterscheidet sich heute in verschiedenen
kapitalistischen Ländern, wenn man zum Beispiel Deutschland mit China vergleicht, oder
Norwegen mit Saudi-Arabien. Selbst zwischen zwei eher ähnlichen Staaten kann es im
Detail erhebliche Unterschiede geben, die wir nicht mit Unterschieden in der
ökonomischen Basis erklären können. So gilt in Frankreich das Bodenrecht, in
Deutschland das Blutrecht in Bezug auf die Staatsbürgerschaft. In Deutschland lassen
sich heutzutage 2 Prozent der Männer sterilisieren, in Großbritannien 20 Prozent.
Es ist diese Diversität der Ausdrucksformen und Abstufungen des realen Lebens, die sich
bei Vogel nirgends findet. Ihre Darstellung ist bar jeder konkreter historischer Phänomene.
Der Grund ist einfach: Vogel versucht, Frauenunterdrückung direkt aus abstrakten,
ökonomischen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, wie sie Karl Marx im 1. Band seines
Hauptwerks „Das Kapital“ entwickelt hat. So wie Engelsʼ Ursprung als die theoretische
Ursünde erscheint, ist Das Kapital für Vogel der Urtext einer gänzlich anderen Theorie, der
„Theorie der sozialen Reproduktion“. Darin habe Marx „mehr von Bedeutung zum Thema
Frauenbefreiung gesagt, als er selbst oder seine sozialistischen Anhänger je begriffen
haben“.65 Es brauchte laut Vogel 150 Jahre, bis das erkannt worden sei. „Spätere
Versuche von Sozialisten Ende des 19. Jahrhunderts, darunter Engels, mit Marxʼ Theorie
der gesellschaftlichen Entwicklung die Lage von Frauen zu untersuchen, blieben
unzulänglich.“66 Die sozialistisch-feministischen Theoretikerinnen Ende der 1970er Jahre
hätten „den ersten nachhaltigen Versuch unternommen, ein Verständnis der
Frauenunterdrückung auf Grundlage von Marxʼ Theorie der sozialen Reproduktion zu
entwickeln.“67

Ausgehend von Engels frühstückt Vogel dann auch gleich eine ganze Reihe weiterer
bedeutsamer marxistischer Beiträge zum Thema ab, genauer: spricht ihnen den

63 Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 278.


64 Engels, Ursprung, MEW 21, S. 75.
65 Vogel, Unitary Theory, S. 66.
66 Ebd., S. 76.
67 Ebd. Eigentlich handelt es sich bei dem Begriff „soziale Reproduktion“ um eine unpräzise Rückübersetzung aus
dem Englischen. Im Kapitel 21 des ersten Bandes des Kapital, auf das sich Vogel offenbar bezieht, wird vom
„gesellschaftlichen“ Produktionsprozess und Reproduktionsprozess gesprochen.

43
Marxismus ab. Dies trifft insbesondere August Bebel und Eleanor Marx. Clara Zetkin wird
bescheinigt, dass ihr Beitrag „ungeachtet seiner Probleme wichtig“ gewesen sei, aber
doch „in Bezug zur Frage der Frauenunterdrückung unentwickelt blieb“. 68
Das völlige Ignorieren aller praktischen Erfolge der Arbeiterbewegung im Kampf für
Gleichberechtigung, die mit Bebel und Zetkin verbunden sind, und die geradezu abfällige
Behandlung nahezu aller Beiträge aus der marxistischen Tradition sind Ausdruck ihres
Kernanliegens, die grundlegende Revision des Marxismus. So schreibt sie im Jahr 1996:
„Nur wenige [sozialistische Feministinnen] trauen sich, die gewaltige Aufgabe auch nur zu
benennen, geschweige denn anzugehen: den Marxismus selbst radikal zu
transformieren.“69

Marx21 hat in den vergangenen zwölf Jahren Artikel, Broschüren und ein Theoriemagazin
zu den Themen Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung herausgebracht, die allesamt
im Geiste von Engels und Zetkin verfasst worden sind. 70 Der Versuch, Vogels
„theoretischen Rahmen, den sie „Theorie der sozialen Reproduktion“ nennt, damit zu
fusionieren, kann nur eklektische Ergebnisse hervorbringen.

2. Familie und Staat im Kapitalismus



Sozialistinnen und Sozialisten unterstützen alle Maßnahmen, die die Last der
Reproduktion der Arbeitskraft sozialisiert und so den auf der Familie lastenden Druck
verringert. Vollständige Einbeziehung aller Frauen in das Erwerbsleben, gleiches
Einkommen und öffentliche, kostenlose Einrichtungen zur Kindererziehung,
Bildungserwerb, Altenpflege und Krankenversorgung sind die Voraussetzung für die
Überwindung der Frauenunterdrückung. 71

Vogel hebt zu Recht die scharfe Trennung der öffentlichen und der privaten Sphäre im
Kapitalismus hervor. Ihr Ansatz lässt es indessen nicht zu, dass sie sich den Bereich
privatisierter Reproduktion der Arbeitskraft genauer anguckt und die Wirkung, die der
Kapitalismus auf die proletarische Kleinfamilie entfaltet. Sie behauptet, aus der Familie
werde „auf Ebene der totalen sozialen Reproduktion ein Fetisch gemacht, indem
generationsmäßige Ersetzung als einzige Quelle der Erneuerung der Arbeitskräfte der
Gesellschaft angesehen wird“.72

Sie führt zum Beleg das Südafrika der Apartheid mit seinen kasernierten Arbeitern an, die
ihre Familien nur einmal im Jahr sehen würden. Sie verweist auf die Arbeitsmigration und
führt die Versklavung fremder Völker an, die zur Arbeit gezwungen werden können. Auch

68 Ebd., S. 119. Die positive Darstellung Lenins ist bei Vogel eine Ausnahme, und stellt mithin eine der besten Teile
des Buchs dar. Allerdings diskutiert sie Lenins Beitrag ebenfalls, ohne die sich verändernden sozialen
Rahmenbedingungen für die Frau in der Revolution selbst zu diskutieren. Ebd., S. 122 – 129. Das Fazit bleibt dann
gewohnt ernüchternd. Lenin hätte, wie auch Zetkin, „keinen bleibenden Eindruck hinterlassen“. Dass dies mit der
Stalinisierung der russischen Revolution zusammenhängen könnte, und wie sich die Lage der Frau im Russland der
30er Jahre massiv verschlechterte, wird von Vogel nicht erklärt.
69 Lise Vogel, Engels’s Origin: Legacy, Burden and Vision; in: Christopher J. Arthur (Hg.), Engels Today. A
Centenary Appreciation, London, 1996, S. 147.
70 Ebenso haben wir das in diesem Geist gehaltene und von Michael Ferschke, Christine Behrens und Katrin
Schierbach verfasste Buch Marxismus und Frauenbefreiung verbreitet, das 1999 bei Aurora erschien.
71 Engels hat diese Position in seinem Anti-Dühring mit Berufung auf die Frühsozialisten formuliert; sie sei laut
Vogel seitdem Losung für die Arbeiterbewegung geworden. MEW, Bd. 20, S. 296; Vogel, Unitary Theory, S. 78.
72 Ebd. S. 147.

44
in „Arbeitslagern“ oder „Gemeinschaftsschlafsälen“ könne Arbeitskraft reproduziert
werden.73 Schließlich geht sie im Geiste zum Äußersten und sagt: „Grundsätzlich ist
denkbar, dass der heute vorhandene Satz Arbeitskräfte bis zum Tod schuften muss und
dann durch einen neuen Satz ersetzt wird.“ 74

Wenn man von den realen Menschen und den realen Gesellschaften abstrahiert und sich
den Kapitalismus als Brettspiel vorstellt, dann ist es natürlich möglich, alle Spielfiguren
einer Farbe auf einen Schlag vom Tisch zu räumen und durch andere Spielfiguren zu
ersetzen. In der Tat ist es den Kapitalisten egal, wie sie an die Arbeitskräfte kommen. Aber
Vogel macht die Rechnung ohne den Wirt, die Arbeiterinnen und Arbeiter. Die
Zwangstrennung von Familien, wie sie nicht nur im Südafrika der Apartheid, sondern auch
unter Seeleuten oder ausländischen Arbeitskräften in den Golfstaaten heute gang und
gäbe ist, verringert die Bedeutung der Familie für die Betroffenen keineswegs.
Die Form der Familie, wie sie im modernen Kapitalismus besteht, wurde nicht als Teil einer
„Reproduktionsstrategie“ von oben heruntergereicht. Familie ist viel mehr als nur eine
Institution der herrschenden Ordnung. Sie ist Sehnsuchtsort für Milliarden von Menschen
weltweit, die nach einem Hafen in einer herzlosen Welt suchen, in dem sie Stabilität,
Wärme und Sicherheit finden. Also genau das, was die ökonomische Ordnung des
Kapitalismus nicht bietet. Das bleibt richtig, auch wenn sich die Form der Familie
verändert, wenn sie nicht formal durch den Eheschluss begründet wird, wenn die Ehe
gleichgeschlechtlich ist, wenn die Scheidungsraten hoch sind und Patchworkfamilien
entstehen. Das Gebären von Kindern und Kindererziehung findet in aller Regel in der
Familie statt, auch wenn ein Elternteil unter ökonomischem Zwang zum Wanderarbeiter,
Matrosen oder Wochenendpendler wird. Diese Lebenswirklichkeit als Ausgangspunkt zu
nehmen, hat nichts mit „Dualismus“ oder Patriarchatstheorie zu tun.

Das Problem mit der Familie heute ist, dass sie sich dem Druck nicht entziehen kann, den
der Kapitalismus auf sie ausübt. Sie kann die in sie gesteckten Hoffnungen häufig nicht
oder nur eingeschränkt erfüllen. Einer der Gründe ist, dass der ökonomische Druck es
praktisch unmöglich macht, dass beide Partner zu gleichen Teilen arbeiten und die Kinder
erziehen. Wenn Kinder dazu kommen, muss mindestens ein Partner zu Hause bleiben,
und das ist in der Regel die Frau. Wenn sie in den Beruf nach Jahren zurückkehrt, geht sie
sehr häufig in Teilzeit. Es gibt einen eigenen, weiblich geprägten Teilzeitarbeitsmarkt, sehr
zum Vorteil der kapitalistischen Klasse. Folge ist ein großes Einkommensgefälle zwischen
Männern und Frauen, das sich im hohen Alter als Rentengefälle darstellt.

Unter den Bedingungen der globalen Ausdehnung des Kapitalismus nach dem Zweiten
Weltkrieg wurden immer mehr Arbeitskräfte benötigt. Um mehr Frauen in die Produktion
zu holen, wurden Bereiche sozialisiert, die früher ausschließlich private Angelegenheit
waren. Dieser Prozess hat allerdings enge Grenzen und findet unter kapitalistischen
Bedingungen statt. Das heißt: entweder werden sie zur Ware auf dem Bildungs- und
Pflegemarkt, oder sie werden geregelt und subventioniert durch den kapitalistischen Staat.

Dies ändert nichts daran, dass die Familie der zentrale Ort bleibt, wo Kinder großgezogen
werden und Arbeiterinnen wie Arbeiter Zuflucht suchen. Das Krankenhaus, die Schule, das
Pflegeheim oder auch das Schnellrestaurant sind alles Orte, an denen wir nur
vorübergehend sind, oder in denen wir eigentlich gar nicht sein wollen.

73 Unitary Theory, S. 144


74 Ebd. S. 145. (“In principle, at least, the present day set of labourers can be worked to death, and then replaced by a
new set.”)

45
In ihrem Buch spricht Vogel von „Strategien“ der „herrschenden Klasse“, um die Kosten
der Reproduktion der Arbeitskraft zu senken. Sie sagt: „Inwieweit es dieser tatsächlich
gelingt, diese umzusetzen, ist natürlich eine Frage des Klassenkampfs.“ 75

Tatsächlich gibt es keinen übergeordneten Plot in Form einer kohärenten Strategie, die die
Reproduktion der Arbeitskraft außerhalb des Arbeitsplatzes regeln würde. Wohl aber eine
ständige Auseinandersetzung über die Kosten der Ware Arbeitskraft. Sie wird über den
Lohnkampf ausgetragen - in allen kapitalistischen Betrieben, nicht nur im Pflegebereich.
Wenn Vogel es ernst meint, dass der Klassenkampf die alles entscheidende Determinante
hinsichtlich der Stellung der Frau in der Gesellschaft ist, wäre zu erwarten, dass diesem
Aspekt zentrale Bedeutung in ihrer Theorie zukommt. Das Gegenteil ist der Fall. Jenseits
des zitierten Postulats ist der Klassenkampf weitgehend abwesend oder bleibt eine
Abstraktion.

Ende der ersten Teils (gekürzte Fassung); der zweite Teil erscheint im nächsten
Bulletin.

Inhalte des zweiten Teils:


- Althussers Methode
- Die Verballhornung von Marx‘ „Kapital“
- Mit einer Halb-halb-Theorie zu Klassenbündnissen
*

Der ungekürzte Text inklusive Teil 2 ist bereits fertig verfasst und beim Autor zu
erhalten. Bitte schreibt an frankrenken@gmx.de.

75 Unitary Theory, S. 151.

46

Das könnte Ihnen auch gefallen