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Die neurologische Untersuchung
M. E. Kornhuber z S. Zierz (Hrsg.)
Die neurologische
Untersuchung
Mit 77 zum Teil farbigen Abbildungen
und 10 Tabellen
Dr. Malte E. Kornhuber
Prof. Dr. Stephan Zierz
Universitåtsklinik und Poliklinik fçr Neurologie
Klinikum der Martin-Luther-Universitåt Halle-Wittenberg
Ernst-Grube-Straûe 40
06120 Halle (Saale)
1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
M. E. Kornhuber
2 Werkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
S. Sommer
3 Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
K. Traufeller
6 Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
M. Deschauer
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Autorenverzeichnis
Das sorgfåltige Aufnehmen der Anamnese ist fçr die richtige Diagnose von
ebenso groûer Bedeutung wie die exakte Untersuchung. Nicht selten sind
die anamnestischen Daten ausschlaggebend fçr die Diagnose. Mit zuneh-
mender Kenntnis der verschiedenen Krankheitsbilder und ihrer Verlaufs-
form wird auch das Aufnehmen der Vorgeschichte leichter, gezielter und
ertragreicher. Die Syndromdiagnose fçhrt, gestçtzt auf gezielt ausgewåhlte
Zusatzuntersuchungen (z. B. bildgebende Verfahren, Doppler-Sonographie,
elektrophysiologische Untersuchungen, Diagnostik aus Kærperflçssigkeiten
oder -geweben etc.), zur definitiven Diagnose. Die grçndliche klinische Un-
tersuchung bewahrt den guten Arzt vor einer undisziplinierten Polyprag-
masie und den Kranken vor unnætigen Belastungen und Kosten.
Zweifellos færdert eine kompetent aufgenommene Anamnese das Ver-
trauen des Kranken zum Arzt, ein wichtiger Faktor mit psychotherapeuti-
scher Wirkung.
Es erfordert besondere Aufmerksamkeit und Erfahrung, Tendenzen zur
Suggestibilitåt, Dissimulation, Phobie, Hypochondrie oder zur Aggravation
rechtzeitig zu erkennen und die Art der Befragung und Untersuchung auf
diese Besonderheiten auszurichten. Dabei ist ein Hineinfragen von Sympto-
men zu vermeiden.
Die kærperliche Untersuchung ergibt im besten Falle eine Momentauf-
nahme aller objektiv erfassbaren Symptome. Eine Reihe neurologischer Di-
agnosen ist çberhaupt nur çber die Anamnese bzw. Fremdanamnese zu
stellen, weil der neurologische Untersuchungsbefund immer oder zwi-
schenzeitlich unauffållig ist (episodische Kopfschmerzen, Bewegungs-
stærungen, Låhmungen, Anfallserkrankungen). Wenn die Erkrankung mit
einer Amnesie verbunden ist oder gar mit einer Bewusstseinstrçbung, kann
man die Diagnose eventuell auf eine Fremdbeobachtung stçtzen.
Die subjektive Wahrnehmung fçr Reiz- oder Enthemmungssymptome ist
håufig empfindlicher als jede objektive Untersuchung. Ausfallsymptome
(negative Symptome; Hyposmie, Skotom, Hærminderung, Hypåsthesie etc.)
werden demgegençber håufig nicht unmittelbar wahrgenommen. Manch-
mal fallen sie nur zufållig auf und die Dauer des Bestehens ist nicht exakt
einzugrenzen. Reizsymptome (positive Symptome; Parosmie, Lichtblitze,
Tinnitus, Paråsthesien, Schmerz, Myoklonien etc.) werden dagegen als ein-
schneidend empfunden, sie kænnen zeitlich besser eingeordnet werden und
sie veranlassen den Patienten eher, zum Arzt zu gehen.
2 z M. E. Kornhuber
z Zeitliche Dynamik
Die zeitliche Dynamik von Symptomen ist eines der wichtigsten anamnes-
tischen Kriterien. Ein abrupter Beginn von einer Sekunde auf die andere
tritt z. B. auf bei Ischåmien, zerebralen Anfållen, neuralgiformen Schmer-
zen, Lagerungsschwindel und Ermçdungsrupturen (etwa Diskusprolaps,
Håmorrhagien, Sehnenruptur, Ermçdungsfraktur, Abszessruptur). Die sub-
akute Entwicklung der Symptome ohne abrupten Beginn çber Stunden, Ta-
ge oder Wochen spricht dagegen u. a. fçr einen entzçndlichen, toxischen,
metabolischen, tumoræsen oder reparativen Prozess. Die zeitliche Dynamik
1 Anamnese z 3
wird ferner gekennzeichnet durch die Dauer vom Beginn bis zur maxima-
len Ausprågung der Symptome sowie durch die Dauer bis zum vælligen Ab-
klingen. Diese Zeitråume sollten mæglichst genau erfragt werden. Der Pa-
tient gibt sie nicht von sich aus exakt an. Håufig ist es hilfreich, dem Pa-
tienten vor Augen zu fçhren, dass der Untersucher die Beschwerden des
Patienten nicht selbst erleben kann und dass die Beschwerdeschilderung
fçr die Beurteilung der Erkrankung oft entscheidend ist.
Beispiele: Bei Trigeminusneuralgie tritt heftigster Schmerz fçr den
Bruchteil einer Sekunde auf (z. T. in Salven) und kann fçr einige Sekunden
nachwirken (unmyelinisierte Fasern!). Beim benignen paroxysmalen Lage-
rungsschwindel tritt nach Lageånderung abrupt ein heftiger Drehschwindel
auf, der binnen einer halben Minute abklingt. Danach kann noch ein Un-
wohlsein bestehen, jedoch kein Drehschwindel. Zerebrale Anfålle dauern
Sekunden bis wenige Minuten. Je långer der Bewusstseinsverlust ist, desto
långer ist auch die anschlieûende Reorientierungsphase. Nach einer Syn-
kope ist der Patient sofort wieder ¹ganz daª.
Eine chronische Entwicklung der Symptome ohne zwischenzeitliche Bes-
serung findet man z. B. bei hereditåren Erkrankungen (z. B. hereditåre Poly-
neuropathien, Muskeldystrophien, Leukodystrophien etc.), bei so genannten
neurodegenerativen Krankheiten (motorische Systemerkrankungen, Multi-
systematrophie, M. Parkinson, M. Wilson, M. Huntington), Slow-Virus-
Krankheiten (subakute sklerosierende Panenzephalitis, HIV-Enzephalo-
pathie), Post-Polio-Syndrom, Prionen-Krankheiten (Jakob-Creutzfeldt-
Krankheit), bei Strahlenfolgekrankheiten (wachsende Strahlennekrose, Ple-
xusneuropathie), gutartigen Tumoren (Meningeom, Akustikusneurinom,
Neurofibromatose) sowie selten bei entzçndlich-autoimmunen Erkrankungen
(multifokale motorische Neuropathie, primår chronische multiple Sklerose).
z Wiederkehrende Symptome
Wiederkehr von Symptomen bedeutet, dass ein krankmachendes Agens la-
tent vorhanden ist und nur unter bestimmten Umstånden symptomatisch
wird (z. B. bei so genannten Ionenkanalerkrankungen). Die Ursachen sind
vielfåltig und reichen von Reizerscheinungen (visuell, sensibel, motorisch
etc.) bis zu persistierenden Symptomen im Rahmen von Erkrankungen des
peripheren oder zentralen Nervensystems. Wiederkehrende Symptome tre-
4 z M. E. Kornhuber
z Positionsabhångigkeit
Positionale Symptome sind in der Regel diagnostisch wertvoll. Recht håufig
ist die orthostatische Hypotension, die in der Regel eine autonome Funk-
tionsstærung anzeigt. Der Patient berichtet çber Benommenheit oder
Schwarzwerden vor den Augen bei raschem Aufstehen.
z Beim benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel ist die Positions-
abhångigkeit der Symptome wegweisend.
z Kopfschmerz, der im Liegen verschwindet und reproduzierbar in Ortho-
stase auftritt, ist pathognomonisch fçr ein Liquorunterdrucksyndrom
(meist iatrogen nach Lumbalpunktion).
z Kopfschmerzen, die im Liegen zunehmen, treten z. B. bei erhæhtem in-
trakraniellen Druck auf, so z. B. in einem Teil der Fålle mit Sinusvenen-
thrombose sowie beim Pseudotumor cerebri.
z Kopfschmerzen, die beim Vorbeugen des Oberkærpers deutlich zuneh-
men, sind ganz charakteristisch fçr die Sinusitis.
6 z M. E. Kornhuber
z Recht håufig ist der essenzielle Tremor, der sich in der Regel als positio-
naler (Halte-)Tremor zu erkennen gibt.
z Temperaturabhångigkeit
Temperaturabhångige Symptome kænnen in einigen Fållen wertvolle Hin-
weise geben. Bei MS-Patienten låsst die Sehkraft håufig nach einem heiûen
Bad nach (Uhthoff-Zeichen). Øhnlich nimmt die Spastik bei Erhæhung der
Kærpertemperatur zu (nach heiûem Bad oder bei Fieber).
z Bei etlichen Patienten mit neurogenen Paresen nimmt die Parese in der
Kålte zu.
z Myotonien nehmen in der Regel mit Kålte zu. Besonders ausgeprågt ist
dies bei der Paramyotonie (Eulenburg).
z Bei besonderer Veranlagung kann Fieber bei Såuglingen oder kleinen
Kindern Krampfanfålle auslæsen.
z Tageszeitliche Symptome
Es gibt Symptome, ¹nach denen man die Uhr stellen kannª. Dazu gehært
etwa der intensive abendliche oder nåchtliche Schmerz bei einer Lyme-Po-
lyneuritis. Es gibt aber darçber hinaus eine Vielzahl von Symptomen, die
mehr oder weniger stark an die Tageszeit bzw. den Schlaf-Wach-Rhythmus
gebunden sind.
z Ganz charakteristisch ist das Auftreten der nicht so seltenen juvenilen
myoklonischen Epilepsie etwa eine halbe bis gut eine Stunde nach dem
Aufstehen.
z Bei Patienten mit generalisierter idiopathischer Epilepsie mit Grand-mal-
Anfållen treten mehr als ein Drittel dieser Anfålle im Schlaf auf und et-
wa ein Drittel beim Aufwachen. Weniger als ein Drittel der Anfålle hat
keine tageszeitliche Bindung.
z Patienten mit Cluster-Kopfschmerz wachen nicht selten nachts mit einer
Kopfschmerzattacke auf.
z Das Karpaltunnelsyndrom verursacht vor allem nachts Beschwerden
(Brachialgia paraesthetica nocturna).
z Auch beim Restless-legs-Syndrom tritt das charakteristische Unruhe-
gefçhl in den Beinen vor allem nachts auf.
z Zyklusabhångige Symptome
Hormonelle Einflçsse finden sich z. B. zyklusabhångig und in der Schwan-
gerschaft. Recht håufig treten Migråneattacken perimenstruell auf. In der
Schwangerschaft treten nicht selten Aura-Symptome bzw. Migråneåquiva-
lente bei Individuen auf, die nie zuvor eine Migråneattacke hatten.
Bei der multiplen Sklerose treten kontrastaufnehmende Låsionen und
Schçbe gehåuft perimenstruell auf. Schçbe sind in der Schwangerschaft sel-
1 Anamnese z 7
Spezielle Symptome
z Schmerz
Schmerz ist ein håufiges Begleitsymptom ganz verschiedener Krankheiten.
Schmerz ist selten ¹objektivierbarª wie beim Tic douloureux (Trigeminus-
neuralgie) oder bei Druck- oder Klopfdolenz. Die Anamnese kann oft ganz
wesentlich zur Aufdeckung der Schmerzursache beitragen. Peripherer
Schmerz kann durch Entzçndungsmediatoren an Nozizeptoren ausgelæst
werden (z. B. Zahnschmerz) oder mechanisch, z. B. durch Druck (z. B. Deh-
nung eines Hohlraumes). Die Schmerzqualitåt ist in der Regel stechend oder
ziehend, bei Hohlraumschmerz auch drçckend. Nozizeptorschmerz kann in
der Regel klar lokalisiert werden.
Neuropathischer Schmerz ist vielgestaltig und hat meist mehrere Quali-
tåten: kribbelnd, bohrend, reiûend, brennend, juckend. Bei abruptem, hef-
tigstem elektrisierendem Schmerz fçr den Bruchteil einer Sekunde handelt
es sich um eine Neuralgie (ephaptische Pathogenese).
Verzægerten Schmerzbeginn kennen wir auch von postoperativen Neural-
gien, bei denen ein oberflåchlicher Nerv in den Bereich einer Narbe geråt,
8 z M. E. Kornhuber
z Schwindel
Handelt es sich um einen Drehschwindel, das heiût, der Patient hat das
Gefçhl, Karussell zu fahren oder dass die Umgebung sich dreht, geht der
Schwindel fast immer mit Ûbelkeit und Erbrechen einher. Dies ist ein peri-
pherer vestibulårer Schwindel. Die Vestibulariskerne gehæren funktionell
zur Peripherie, sodass auch beim Wallenberg-Syndrom Drehschwindel,
Ûbelkeit und Erbrechen beobachtet werden (zusåtzliche Symptome: Heiser-
keit, Gefçhlsstærung im Gesicht, evtl. Schluckstærung, Lateropulsion u. a.).
Handelt es sich um Attacken, die im Anschluss an eine Ønderung der
Kopf- bzw. Kærperposition auftreten und 20 s bis 1 min anhalten, so kann
man von einem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel ausgehen.
Handelt es sich um einen Dauerschwindel mit abruptem Beginn und An-
halten çber Stunden und Tage, so wird man von einer Neuropathia vestibu-
laris oder einem M. Meni re ausgehen. Beim M. Meni re sind meist zusåtz-
1 Anamnese z 9
z Vegetative Symptome
Benommenheitsgefçhl, Pulsfrequenzverånderungen, Schweiûausbruch,
Ûbelkeit und Erbrechen sind neben dem Schmerz håufige Begleitsympto-
me. Die Symptome zeugen von einer Stressreaktion oder von einer endo-
krinen Fehlregulation. Auslæser ist håufig Schmerz, Drehschwindel, vagova-
sale Dysregulation oder psychogenes Panikerleben. Er ist seltener Ausdruck
einer autonomen Neuropathie, einer Epilepsie oder einer zentralen auto-
nomen Regulationsstærung, etwa bei Multisystematrophie, M. Parkinson
oder beim Wallenberg-Syndrom. Hormonelle Ursachen wie Schilddrçsen-
erkrankungen und diabetische Entgleisungen sind zu berçcksichtigen, fer-
ner pharmakogene Ursachen, insbesondere Alkoholentzug. Autonome
Stærungen sind nicht selten Teil einer Zyklothymie (Depression, Manie)
oder einer posttraumatischen Stressreaktion. Dazu zåhlen insbesondere
auch Stærungen des Appetits, der Verdauung und des Schlafverhaltens.
Verminderter Trånen- und Speichelfluss kann Ausdruck eines Sjægren-
Syndroms sein oder auf anticholinerge Pharmaka zurçckgehen. Vermehrter
Speichelfluss kommt regelmåûig bei Parkinson-Syndromen und bei mya-
trophischer Lateralsklerose vor.
Blasen- und Mastdarmstærungen sind ein wichtiges Symptom bei Låsion
der Nervenwurzeln S2 bis S4 (z. B. Bandscheibenvorfall, Caudakompressi-
on), bei Myelopathien (entzçndlich, mechanisch, ischåmisch), bei Multisys-
tematrophie und bei demenziellen Prozessen.
z Bewusstseinsstærung
Bewusstseinsstærung ist ein vieldeutiger Ausdruck einer Fehlfunktion des
Gehirns, insbesondere der Formatio reticularis des Hirnstamms. Håufig ist
es die zerebrale Hypoxåmie, die akut bei vagovasaler Synkope (oder selten
bei der Basilaristhrombose) einsetzt. Ebenfalls håufig ist die Funktions-
stærung Ausdruck der abnorm erhæhten Erregbarkeit von Neuronenverbån-
den bei der Epilepsie. Seltener sind Schock und metabolische Bewusstseins-
stærung etwa bei Hypo- oder Hyperglykåmie, Leber- und Niereninsuffizienz
sowie bei Intoxikationen anderer Genese. In der Fremdanamnese sind ne-
ben der genauen Schilderung von Prodromi und dem Ablauf der Erkran-
kung die verschiedenen Mæglichkeiten kardialer, metabolischer oder poly-
neuropathischer Vorerkrankungen zu eruieren sowie der mægliche Einfluss
von Pharmaka.
1 Anamnese z 11
z Psychogene Symptome
Nicht selten sind die geschilderten Beschwerden diffus und kænnen auch auf
Nachfrage nicht pråzisiert werden. Es kann sein, dass dem Patienten die
sprachlichen Mittel fehlen, um das Erlebte zu schildern. Håufig fallen aber
in der neurologischen Untersuchung bizarre Symptome auf, die in kein Sche-
ma fçr eine organische Genese passen. Dann ist an eine funktionelle (psycho-
gene) Stærung zu denken. Es ist sinnvoll, die genauen Umstånde zu eruieren,
unter denen solche mutmaûlich psychogenen Symptome erstmals aufgetreten
sind. Ferner ist in der Lebensgeschichte nach traumatisierenden Ereignissen
zu fahnden (Arbeitsplatzverlust, Tod einer nahe stehenden Person, Tren-
nungssituation etc.). Der Patient wird diese Ereignisse in der Regel nicht
von sich aus ansprechen. Es gehært etwas Feinfçhligkeit und Empathie dazu,
diese diagnostisch relevanten Tatsachen zu eruieren.
Eine der håufigsten funktionellen Stærungen ist die so genannte Panikat-
tacke. Der Patient kommt mit Schmerzen oder Palpitationen in der Brust,
Benommenheitsgefçhl, Hitze- oder Kåltewellen, Schweiûausbruch, Kribbeln
in Hånden oder Fçûen, Zittern, z. T. in Kombination mit weiteren Be-
schwerden. In der Attacke verspçrt der Patient nicht selten Todesangst.
Auslæsende Faktoren
z Vorerkrankungen
In der Neurologie spielen insbesondere vorausgegangene Infekte, metabo-
lische Erkrankungen, Kollagenosen, Tumorerkrankungen, Arzneitherapie,
physikalische Noxen etc. eine groûe Rolle. Als Beispiele mægen die folgenden
Gegençberstellungen dienen: Blutdrucksenkung ± Hirninfarkt (arterielle Ste-
nose, håmodynamischer Infarkt), Durchfallerkrankung ± Guillain-Barr-
Syndrom, Erythema chronicum migrans ± Fazialisparese (Borreliose), Nar-
kose ± Auslæsung einer Myasthenia gravis, Radiatio ± Plexusparese (nach
Jahren), Ablatio mammae ± subakute Kleinhirndegeneration (Paraneoplasie),
Herniotomie ± Genitofemoralisneuralgie (Nervenreizung durch Narbenzug).
z Medikamente
Arzneimittel sind unter zwei verschiedenen Blickwinkeln anamnestisch be-
deutsam: als Ursache fçr Symptome sowie als Mittel zur Rçckbildung von
Symptomen. Es fçhrt zu weit, an dieser Stelle auf die vielfåltigen Arznei-
mittelneben- und -wechselwirkungen einzugehen. Der andere Aspekt ist je-
doch ebenfalls wichtig. Arzneimittel kænnen helfen, eine Diagnose ¹ex ju-
vantibusª zu stellen. Wenn z. B. nach Absetzen eines Betablockers Kopf-
schmerzattacken nach jahrelanger Pause wieder auftreten, so ist eine Mi-
gråne die wahrscheinliche Diagnose.
12 z M. E. Kornhuber
z Toxine
Es gibt eine Reihe von Intoxikationen, die mit akuten Polyneuropathien
einhergehen. Dazu gehæren z. B. Organophosphate und Thallium. Die Into-
xikationen wird man in diesen Fållen aufgrund der Schwere der Erkran-
kung z. T. nicht eigenanamnestisch klåren kænnen.
Alkohol ist ein weit verbreitetes Toxin. Wenn Alkohol als pathogeneti-
scher Faktor vermutet wird (Polyneuropathie, Kleinhirnzeichen in Kom-
bination mit internistischen Symptomen und Stigmata wie z. B. Palmarery-
them), ist es wichtig, gegebenenfalls auch çber mehrere Personen fremdan-
amnestisch behutsam die tatsåchliche Situation zu erfragen. Alkohol sollte
vor allem dann in die Ûberlegungen einbezogen werden, wenn eine abdo-
minelle Adipositas (¹Bierbauchª) vorliegt. Es ist daran zu denken, dass die
abdominelle Adipositas schwåcher ausgeprågt ist oder fehlt, wenn ein
gleichzeitiger Nikotinabusus besteht. Trinker von hochprozentigen Alkoho-
lika kænnen demgegençber auch ohne Nikotinabusus auffallend schlank
sein. Entzug oder Spiegelschwankungen verursachen leicht Gelegenheits-
anfålle, die z. T. mehr als gelegentlich zu stationåren Aufnahmen Anlass ge-
ben. Relativ håufig sind die Druckparesen, die im Tiefschlaf nach Alkohol-
exzess auftreten. Meist handelt es sich um Radialis- oder Peronåusparesen.
Ferner gibt es chronische (axonal betonte) und akute Polyneuropathien,
die Kleinhirndegeneration und die Alkoholhalluzinose. Nicht so håufig sind
das Wernicke-Korsakow-Syndrom und die pontine oder extrapontine Mye-
linolyse, u. a. das Marchiafava-Bignami-Syndrom. Bei Unfållen ist an Alko-
hol als Teilursache zu denken.
Rauschgifte (Cannabis, Amphetamine, Designerdrogen, Morphine u. a.)
spielen vor allem in den Groûstådten bei Adoleszenten und im frçhen Er-
wachsenenalter eine Rolle. Kokain wird auch von ålteren Personen kon-
sumiert. Wie bei Alkoholexzessen kann es im Rausch zu Paresen kommen,
nicht selten auch Plexusparesen durch Liegen mit çber den Kopf gestreck-
tem Arm. Håufiger als beim Alkoholismus kann es zu chronischen, sub-
akuten oder akuten Myopathien bis hin zur Rhabdomyolyse kommen. Bei
Patienten, die sich Drogen injizieren, sollte an eine HIV-Infektion gedacht
werden. Alkoholismus und Drogenabhångigkeit gehen teilweise mit einer
erhæhten Infektanfålligkeit einher.
z Ernåhrung
Die Ernåhrung kann vielfåltige, kurz-, mittel- und langfristige Auswirkun-
gen auf die Gesundheit haben, abhångig von individuellen Prådispositio-
nen. Kurzfristig ist z. B. die Auslæsung einer Migråneattacke durch nitrit-
haltige Nahrungsmittel oder durch schwefelhaltige Stoffe im Wein. Intoxi-
kationen sind meist auch kurzfristig wirksam. Långerfristig wirksam ist ei-
ne ¹westlicheª Fehlernåhrung mit der Folge eines metabolischen Syndroms,
das zu Schlaganfall prådisponiert. Bei abdomineller Adipositas tritt gehåuft
eine Meralgia paraesthetica auf. Eine eher seltene Erkrankung, die durch
Adipositas begçnstigt wird, ist der Pseudotumor cerebri.
1 Anamnese z 13
z Auslandsaufenthalte
Bei unklaren Symptomen sollte die Frage nach einem zurçckliegenden
Auslandsaufenthalt nicht fehlen. Bei einer fieberhaften Erkrankung und
entsprechender Exposition ist an eine Malaria oder andere fieberhafte Tro-
penkrankheiten zu denken. Auch Tuberkulose, Diphtherie, Echinokokkose
und andere Krankheiten werden vereinzelt von Auslandsaufenthalten mit-
gebracht.
z Manifestationsalter
Eine Vielzahl von Erkrankungen tritt altersgebunden auf. Dies soll am
Symptom der externen Ophthalmoparese erlåutert werden. Bei einer here-
ditåren bilateralen kongenitalen Ptose und Ophthalmoplegie ist an die
Aplasie im Okulomotoriuskerngebiet zu denken. Treten hereditåre Ptose
und Ophthalmoparese erst im mittleren Lebensalter auf, so ist u. a. eine mi-
tochondriale, chronisch-progressive externe Ophthalmoplegie in Erwågung
zu ziehen. Tritt die Ptose erst im hæheren Lebensalter auf, so ist z. B. eine
okulopharyngeale Muskeldystrophie mæglich.
Einen relativ engen Zusammenhang mit dem Manifestationsalter gibt es
fçr die primår generalisierten Epilepsien. In der Erwachsenenneurologie
handelt es sich oft um eine juvenile myoklonische Epilepsie, die sich bis zu
einem Alter von etwa 25 Jahren, selten evtl. auch noch spåter, erstmals ma-
nifestieren kann.
Man wird bei einem 75 Jahre alten Mann eher an einen Hirninfarkt den-
ken als bei einer 30 Jahre alten Frau, bei der evtl. eher an eine multiple
Sklerose gedacht werden kann. Die Altersverteilungen sind aber nicht so
starr, dass man sich im Einzelfall fest darauf stçtzen kænnte. Z.B. kommt
es im Rahmen des Sneddon-Syndroms zu gehåuften Hirninfarkten bereits
bei jçngeren Frauen. Das Manifestationsalter wird daher bei den Ûberle-
gungen eher eine untergeordnete Rolle spielen.
z Familienanamnese
Bei einer Vielzahl hereditårer Erkrankungen kann die Familienanamnese
diagnostisch wegweisend sein: hereditåre Polyneuropathien, Myopathien,
spinale Muskelatrophie, Migråne, essenzieller Tremor, M. Huntington, ver-
schiedene Epilepsie-Syndrome etc.
14 z M. E. Kornhuber: 1 Anamnese
Der genetische Hintergrund kann eine wichtige Information sein fçr sel-
tene Erb- oder Autoimmunkrankheiten. Z.B. kommt M. Behet bevorzugt
im Mittleren und Fernen Osten vor. Die Moyamoya-Erkrankung gibt es
håufiger im Fernen Osten. Multiple Sklerose ist bei Ostasiaten selten und
hat zum Teil einen anderen Krankheitsverlauf als bei uns.
z Soziale Situation
Die soziale Situation gibt eine Vorstellung von mæglichen privaten Stresso-
ren. Wenn ein junger Erwachsener arbeitslos ist und im Haushalt der El-
tern lebt, sind Konflikte vorprogrammiert. Nicht selten sind dann Abusus
von Alkohol oder Pharmaka im Spiel. Eine Fremdanamnese ± mit Wissen
des Patienten! ± ist hilfreich. Bei einer jungen Frau mit mehreren kleinen
Kindern ist ebenfalls eine vermehrte psychophysische Belastung zu unter-
stellen, einschlieûlich Schlafentzug. So gibt es vielfåltige Auslæsefaktoren
sowohl fçr organische als auch fçr psychische Erkrankungen, die durch die
soziale Anamnese rasch aufgedeckt werden.
z Beruf
Berufliche Einflçsse sind vielfåltig. Beispiele sind Nervenengpasssyndrome
bei besonderer mechanischer Beanspruchung (Karpaltunnelsyndrom, Sul-
cus-ulnaris-Syndrom), Dystonien bei stark beçbten Tåtigkeiten (Geiger-
Dystonie, Golfer-Dystonie etc.). Forstleute haben mæglicherweise ein hæhe-
res Risiko, sich eine Borreliose zuzuziehen. Polyneuropathien durch beruf-
liche Exposition mit organischen Læsungsmitteln oder mit Schwermetallen
sind durch verbesserte Arbeitsschutzmaûnahmen selten geworden.
2 Werkzeuge
S. Sommer
z Ein Otoskop ermæglicht die Inspektion des Trommelfells und des åuûe-
ren Gehærgangs. Sie kann wichtige Hinweise auf otogene Ursachen von
neurologischen Erkrankungen geben, beispielsweise ein otogener Fokus
bei Meningitis oder Blåschen am Trommelfell bei einer peripheren Fa-
zialisparese als Hinweis auf eine Herpes-Zoster-Infektion (Ramsay-Hunt-
Syndrom).
z Geschmacksstoffe dienen der Prçfung der Geschmacksempfindung. Da-
zu werden Læsungen mit den verschiedenen Geschmacksqualitåten sçû,
sauer, bitter, salzig verwendet. Diese kænnen mit einem Watteståbchen
auf verschiedene Bereiche der Zunge aufgetragen werden.
z Der Zungenspatel ist ein wichtiges Werkzeug zur Einsicht und Sensibili-
tåtsprçfung des Gaumensegels. Durch Berçhrung der Rachenhinterwand
mit dem Zungenspatel wird der Wçrgreflex ausgelæst.
N. olfactorius (N. I)
z Anatomische Grundlagen
Das olfaktorische System setzt sich zusammen aus der Riechschleimhaut
der Nase, den Fila olfactoria, dem Bulbus und Tractus olfactorius sowie ei-
nem Rindengebiet, das sich vom Uncus des Temporallappens çber die Sub-
stantia perforata anterior zur medialen Flåche des Stirnhirns unterhalb des
Balkenknies erstreckt. Im Bereich der Riechschleimhaut lokalisierte Sinnes-
zellen sind die so genannten Riechzellen. Die zentralen Fortsåtze dieser
Zellen vereinigen sich zu Bçndeln (Fila olfactoria), die durch die Lamina
cribrosa der Schådelbasis ziehen und dort den Bulbus olfactorius bilden.
Der Bulbus olfactorius wird çber den Tractus olfactorius mit dem Trigo-
num olfactorium verbunden. Hier spalten sich die Fasern und bilden die
Striae olfactoriae. Afferenzen çber die Stria olfactoria lateralis erreichen
Bereiche im lateralen Abschnitt der Substantia perforata rostralis, im Gyrus
ambiens, im Gyrus semilunaris und im Corpus amygdaloideum. Diese Re-
gionen werden als primåre Riechrinde bezeichnet. Die Area entorhinalis,
als sekundåres Riechfeld (Erinnerungsfeld) angesprochen, empfångt eine
Vielzahl von Afferenzen aus der primåren Riechrinde. Weitere, der Regula-
tion dienende Verbindungen çber die Stria olfactoria medialis und vom
primåren Riechfeld erreichen benachbarte Hirnzentren wie Thalamus, Hy-
pothalamus und Hippokampus.
3 Hirnnerven z 19
z Klinische Untersuchung
Bei der klinischen Geruchsprçfung låsst man den Patienten an Gefåûen
mit Riechsubstanzen schnçffeln. Der Patient soll bei geschlossenen Augen
einen aromatischen Geruchsstoff (z. B. Kaffee, Zimt, Anis, Vanille, Seife)
identifizieren. Dazu erfolgt die Prçfung jedes Nasenlochs gesondert, wåh-
rend das andere zugehalten wird. Die Identifikation kann dem Patienten er-
leichtert werden, in dem man eine græûere Auswahl aromatischer Geruchs-
stoffe nennt, unter denen sich der geprçfte befindet.
Patienten mit einer quantitativen Riechstærung klagen oft çber eine Ge-
schmacksstærung, da die aromatische Geruchskomponente fehlt. Bei einer
isolierten Låsion des N. olfactorius ist immer die Funktion der sensiblen
Nervenendigungen des N. trigeminus intakt, die mittels Trigeminusreizstof-
fen (Ammoniak, Essig) geprçft werden kann. Werden Trigeminusreizstoffe
auch nicht wahrgenommen, muss nicht sofort an eine bewusste Tåuschung
(Rentenbegehren) gedacht werden, da z. B. auch Verånderungen der Nasen-
schleimhaut und eine gestærte Nasenbelçftung (z. B. bei Rhinorrhoe) vorlie-
gen kænnen.
z Riechstærungen
Unter einer Hyposmie versteht man eine Herabsetzung und unter einer
Anosmie einen totalen Verlust des Riechvermægens. Stærungen des Ge-
ruchsempfindens kænnen ausgelæst werden durch Erkrankungen der Riech-
schleimhaut (z. B. grippale Infekte), durch einen Abriss der Fila olfactoria
(z. B. durch eine Fraktur im Bereich der frontalen Schådelbasis oder bei
Sturz auf den Hinterkopf durch eine Contrecoupwirkung), eine Meningitis,
durch Tumoren (insbesondere durch das Olfaktoriusmeningeom). Riechstæ-
rungen treten ferner auch bei starken Rauchern auf. Bei jedem Schådel-
Hirn-Trauma ist der Geruch zu prçfen (Anamnese gençgt nicht!).
Qualitative Ønderungen des Geruchssinns werden als Parosmien be-
zeichnet. Kakosmien (ekelerregende Geruchshalluzinationen) sind nicht
selten Symptom einer zentralen Låsion (im Bereich des Temporallappens,
Uncus gyri hippocampi oder des Ammonshorns). Temporallappenanfålle
beginnen gelegentlich mit einer olfaktorischen Aura.
Beim Kallmann-Syndrom (hypogonadotroper Hypogonadismus mit eu-
nuchoidem Hochwuchs) ist die Anosmie bei Aplasie des Bulbus olfactorius
genetisch bedingt. Ein vermindertes Geruchsempfinden bzw. ein Geruchs-
verlust bei M. Parkinson sowie anderen neurodegenerativen Erkrankungen
wie der Chorea Huntington oder der Demenz vom Alzheimer-Typ wird
nicht selten beschrieben.
20 z K. Traufeller
Abb. 3.1. a Schema der Sehbahn im Gehirn des Menschen. CGL Corpus geniculatum laterale; H
Hypothalamus; PT Pråtektum. b Gesichtsfelddefekte bei verschieden lokalisierten Låsionen. 1
Amaurose links; 2 bitemporale Hemianopsie; 3 homonyme Hemianopsie nach rechts; 4 obere
homonyme Quadrantenanopsie nach rechts; 5 homonyme Hemianopsie nach rechts; 6 zentrale
homonyme Hemianopsie nach rechts (1±6) (nach Schmidt et al. 2000)
Bei Låsionen von N. opticus oder Tractus opticus (afferente oder amau-
rotische Pupillenstærung) ist die direkte Reaktion auf dem betroffenen Au-
ge ausgefallen, wåhrend bei Belichtung des kontralateralen Auges die direk-
te und die konsensuelle Reaktion normal ist.
Efferente Pupillenstærungen (Låsion der mit dem N. oculomotorius zie-
henden parasympathischen Fasern) sind durch eine Stærung der Konver-
genzreaktion der Pupille und der Lichtreaktion gekennzeichnet (absolute
Pupillenstarre).
Eine reflektorische Pupillenstarre liegt vor bei meist beidseitig erlosche-
ner direkter und konsensueller Lichtreaktion. Die Konvergenzreaktion der
Pupille ist intakt. Bei zusåtzlich beidseitiger, håufig asymmetrischer Miosis
wird von einer Argyll-Robertson-Pupille gesprochen, die bei Neurolues
und auch bei anderen entzçndlichen ZNS-Erkrankungen beobachtet wird.
Im Unterschied zur Argyll-Robertson-Pupille, bei der im Dunkeln keine
Pupillenerweiterung ausgelæst werden kann, kommt es bei der Pupillotonie
zu einer allmåhlichen Mydriasis in einem dunklen Raum. Bezeichnend fçr
die Pupillotonie ist eine sehr verzægerte Reaktion auf Licht und eine sehr
verlangsamte Konvergenzreaktion. Die Pupillen sind so tråge, dass erst
nach långerem Aufenthalt im Dunklen eine Pupillenerweiterung und nach
dauerhafter Belichtung eine Verengung erzielt wird. Die Pupillotonie, die
meist einseitig beginnt und spåter auch das zweite Auge betrifft, hat keinen
Krankheitswert. Sie tritt håufig nach einer Windpockeninfektion auf und
wird auch bei autonomer Neuropathie beim Diabetes mellitus beobachtet.
Bei zusåtzlich zur Pupillotonie bestehender Areflexie an den Beinen besteht
ein Adie-Syndrom.
z Klinische Untersuchung
Die Untersuchung dieses Hirnnervs umfasst die Prçfung von Sehkraft (Vi-
sus), Gesichtsfeld, Pupillenreaktion und Augenhintergrund (Fundus). Der
afferente Schenkel der Lichtreaktion der Pupille låuft çber den N. opticus.
z Visus. Die Testung der Sehschårfe erfolgt monokulår (ohne Druck auf
den Bulbus) mit Sehprobentafeln. Im Abstand von fçnf Metern wird der
Fernvisus und/oder mit Schrifttafeln der Nahvisus im Leseabstand von 25
cm geprçft. Refraktionsanomalien des Patienten sollen dabei durch eine
bereits vorhandene Brille ausgeglichen werden. Bei ausgeprågtem Visusver-
lust mçssen einfache Untersuchungen wie Fingerzåhlen bzw. die Wahrneh-
mung von Lichtschein angewandt werden.
z Okulomotorisches System
Die Funktion des okulomotorischen Systems besteht darin, durch entspre-
chende Augenbewegungen einen ungestærten Sehvorgang zu ermæglichen.
Die Augen werden von drei Paaren quergestreifter Augenmuskeln horizon-
tal, vertikal und rotierend bewegt. Bei allen Augenbewegungen wirken alle
Augenmuskeln mit, zum Teil durch Anspannung und zum Teil durch Ent-
spannung. Es handelt sich immer um konjugierte, fein abgestufte Augen-
bewegungen, sodass das Objekt exakt beidseits auf der Fovea abgebildet
wird. Dieses feine Zusammenspiel der verschiedenen Augenmuskelnerven
und Augenmuskeln wird durch einen komplizierten zentralen Mechanismus
gewåhrleistet. Fçr die klinische Untersuchung ist bedeutsam, dass es eine
enge Beziehung zwischen Vestibulariskernen und Augenmuskeln gibt. Beide
Vestibularorgane çben einen tonischen Einfluss auf die Augenmuskeln aus.
Der Tonus der beiden Vestibularorgane ist gegenlåufig. Dies ist die Grund-
lage fçr den vestibulookulåren Reflex (VOR), der dafçr sorgt, dass ein Ziel
bei bewegtem Kopf fixiert werden kann. Fållt ein Vestibularorgan aus, so
entsteht durch den Tonus des intakten Vestibularorgans eine langsame Drift
des Auges zur Gegenseite. Diese wird reflektorisch mit einer ruckartigen
Augenbewegung (Sakkade) zurçckgestellt. Es resultiert ein spontaner Ruck-
nystagmus mit langsamer und schneller Komponente (s. u.). Ferner unter-
liegt die Blickmotorik einer Feinsteuerung durch das Zerebellum.
Durch Lichteinfall auf die Retina veråndert sich die Pupillenweite. Hel-
ligkeit bewirkt Pupillenverengung, Abdunkelung Pupillenerweiterung.
z Klinische Untersuchung
Die Prçfung der drei Nerven fçr die åuûeren und inneren Augenmuskeln
erfolgt gemeinsam. Die Untersuchung beginnt mit der Inspektion bei pri-
mårer Kopfhaltung des Patienten. Es wird auf eine Primårabweichung des
Bulbus, auf Blickdeviationen, Spontannystagmus, Pupillen- und Lidspalten-
weite und eine eventuell kompensatorisch bestehende Kopffehlhaltung ge-
achtet. Im Rahmen der Untersuchung muss die Fehlhaltung durch strenges
Geradehalten des Kopfes korrigiert werden, um Doppelbilder bei Augen-
muskelparesen nicht zu verschleiern. Der Ausfall eines oder mehrerer Au-
genmuskelnerven fçhrt zu Fehlstellungen (Strabismus paralyticus) und
Fehlbewegungen des betroffenen Auges. Subjektiv bestehen Doppelbilder.
Eine Schådigung des N. abducens hat zur Folge, dass der Patient das Au-
ge nicht nach lateral auûen bewegen kann. Es kommt daher zum Einwårts-
schielen.
Bei jeder Schådigung eines der Augenmuskelnerven treten Doppelbilder
auf. Horizontal nebeneinander bzw. vertikal çbereinander stehende Doppel-
bilder entstehen bei Parese der geraden Augenmuskeln, wåhrend es bei
Miteinbeziehung der schrågen Augenmuskeln zu schråg versetzten Doppel-
bildern kommt.
Im Unterschied zu peripheren Blickparesen treten bei supranukleåren
Blickparesen keine Doppelbilder auf, da beide Augen im selben Ausmaû
von der Einschrånkung der konjugierten Augenbewegungen (z. B. Deviation
conjuge) betroffen sind. Die Patienten bemerken die Beeintråchtigung
håufig zunåchst nicht. Die klinische Differenzierung zwischen supranukleå-
rer und peripherer Blickparese gelingt durch die Beurteilung von Puppen-
kopfphånomen und Bell-Phånomen, die bei supranukleåren Stærungen po-
sitiv sind. Zur Prçfung des Puppenkopfphånomens fixiert der Patient ein
feststehendes Objekt, wåhrend der Untersucher dabei passiv den Kopf des
Patienten nach vorn neigt. Dabei kommt es zur Hebung der Bulbi. Durch
passives Anheben des geschlossenen Lides kann nachgewiesen werden,
dass die Bulbushebung bei Augenschluss nicht paretisch ist (Bell-Phåno-
men). Supranukleåre Blickparesen im Sinne vertikaler Blickparesen treten
z. B. im Rahmen des Parinaud-Syndroms oder des Steele-Richardson-
Olszewski-Syndroms auf.
Bei der internukleåren Ophthalmoplegie (INO) liegt eine Parese des ad-
duzierenden Auges bei gleichzeitigem dissoziierten Nystagmus des abdu-
zierenden Auges vor (Abb. 3.3). Der Ort der Låsion ist der Fasciculus longi-
tudinalis medialis ipsilateral. Die Bezeichnung internukleår steht fçr die
Låsionslokalisation zwischen dem III. und dem VI. Hirnnervenkern. Die
INO tritt bei raschem Blickwechsel zwischen seitlichen Extrempositionen
noch stårker zutage. Wenn beide medialen Långsbçndel betroffen sind,
kænnen beide Augen nicht adduziert werden.
Das Eineinhalb-Syndrom ist charakterisiert durch eine konjugierte hori-
zontale Blickparese in einer Richtung (infolge Låsion der parapontinen
Formatio reticularis) und eine Låhmung der Adduktion eines Auges beim
Blick in die andere horizontale Richtung aufgrund einer zusåtzlichen INO.
Ein Auge kann also çberhaupt nicht aus der Mittellinie gefçhrt werden,
wåhrend das andere Auge nur abduziert werden kann.
N. trigeminus (N. V)
z Anatomische Grundlagen
Der N. trigeminus ist ein gemischter Nerv, bestehend aus einem græûeren
sensiblen Anteil (Portio major) fçr das Gesicht sowie aus einem kleineren
motorischen Teil (Portio minor) fçr die Kaumuskulatur. Die sensiblen Fa-
sern entstammen den pseudounipolaren Zellen des Ganglion trigeminale,
deren zentrale Fortsåtze in den sensiblen Trigeminuskernen enden. Die
motorischen Fasern stammen von groûen multipolaren Nervenzellen des
Nucleus motorius nervi trigemini. Der N. trigeminus tritt als dicker Stamm
aus der Pons mit einer dickeren Radix sensoria, einer dçnneren Radix mo-
toria und der dazwischen liegenden Portio intermedia.
Vom Ganglion trigeminale, das sich an der Schådelbasis çber der Spitze
des Os petrosum auûerhalb des Sinus cavernosus befindet, gehen die drei
Hauptåste ± der N. ophtalmicus, der N. maxillaris und der N. mandibularis
± ab.
Der N. ophthalmicus (V1) verlåsst den Schådel durch die Fissura orbita-
lis, und noch vor dem Eintritt in die Augenhæhle teilt er sich in seine drei
Øste (N. lacrimalis, N. frontalis, N. nasociliaris). Der rein sensible N. ma-
xillaris (V2) gelangt durch das Foramen rotundum in die Fossa pterygopa-
latina, wo er seine drei Hauptåste (N. pterygopalatinus, N. zygomaticus, N.
infraorbitalis) abgibt. Der N. mandibularis (V3) ist der stårkste Trigemi-
nusast und zieht vom Ganglion trigeminale durch das Foramen ovale an
die åuûere Schådelbasis. Dicht unterhalb des Foramen ovale ist dem 3. Ast
des N. trigeminus das parasympathische Ganglion oticum aus dem N. glos-
sopharyngeus angegliedert. Im Verlauf entspringen vier Øste: N. auriculo-
temporalis, N. alveolaris inferior, N. lingualis, N. masticatorius.
z Klinische Untersuchung
Klinisch kann die motorische und die sensible Funktion des N. trigeminus
sowie seine Beteiligung am Geschmack geprçft werden. Der sensible Anteil
des Nervs versorgt die Gesichtshaut bis zum Scheitel hinauf, die Schleim-
haut von Mund, Nase, Gaumen und Nebenhæhlen, die Zåhne sowie supra-
tentoriell die Dura mater des Gehirns. Die Beurteilung der Gesichtssensibi-
litåt erfolgt durch Prçfung der Schmerz-, Temperatur- und Berçhrungs-
empfindung im Seitenvergleich. Dabei ist ein peripherer von einem zentra-
len sensiblen Innervationstyp zu unterscheiden (Abb. 3.4). Periphere Låsio-
3 Hirnnerven z 29
z Anatomische Grundlagen
Das Kerngebiet des N. facialis liegt in der Formatio reticularis im rostralen
Anteil des Rautenhirns. Im Kerngebiet des Nervs låsst sich eine Pars me-
dialis, eine Pars lateralis und eine Pars intermedia unterscheiden. Die ver-
schiedenen Kerngebiete des N. facialis lassen sich einzelnen Abschnitten
der Gesichtsmuskulatur zuordnen. Diese somatotopische Gliederung ist fçr
die klinische Diagnostik von Bedeutung. Man unterscheidet ein ¹oberes
Kerngebietª, aus dem die Fasern fçr den oberen Fazialisast stammen, von
einem ¹unteren Kerngebietª. Das ¹obere Kerngebietª enthålt Fasern aus
dem motorischen Rindenzentrum beider Hemisphåren, das ¹untereª hin-
gegen nur aus der kontralateralen Hemisphåre. Aus diesen anatomischen
Gegebenheiten erklårt sich das unterschiedliche Bild der zentralen und der
peripheren Fazialisparese.
Nach seinem Austritt aus dem Gehirn zieht der N. facialis zusammen
mit dem N. vestibulocochlearis durch den Porus acusticus internus in den
32 z K. Traufeller
z Klinische Untersuchung
Die Funktion der mimischen Muskulatur wird zunåchst durch Inspektion
der Stirnheber (Asymmetrie in der Stirnfurchung), des forcierten Augen-
schlusses (¹signe des cilesª bei latenter Fazialisparese oder Lagophthalmus
mit ¹Bell-Phånomenª bei manifester Parese), der Nasolabialfalte (Asym-
metrie) sowie der Stellung des Mundes (Schiefstellung, ¹hångender Mund-
winkelª) beurteilt. Beim so genannten ¹signe des cilesª gelingt dem Betrof-
fenen das Befolgen der Aufforderung, die Augen mæglichst fest zuzuknei-
fen, auf der paretischen Seite nicht so gut. Die Wimpern auf dieser Seite
sind im Vergleich zur gesunden Seite deutlicher sichtbar. Die Bewegung
des Bulbus nach oben wird bei unvollståndigem Lidschluss bei einer Fazia-
lisparese wahrnehmbar und wird als ¹Bell-Phånomenª bezeichnet (Abb.
3.5). Im weiteren Untersuchungsgang låsst man den Patienten bestimmte
Bewegungen ausfçhren: Stirn runzeln, Augen fest schlieûen, Nase rçmpfen,
Abb. 3.5. Periphere faziale Parese mit Bell-Phånomen (aus Berlit 1998)
3 Hirnnerven z 33
Zåhne zeigen, Mund spitzen, vorstçlpen, weit æffnen und fest schlieûen,
Wangen aufblasen und pfeifen. Bei einer diskreten Fazialisparese kommen
die genannten Gesichtsbewegungen zustande, sie sind aber bei der Ausf-
çhrung gegen einen Widerstand im Seitenvergleich çberwindbar.
Symptom einer latenten fazialen Parese ist neben dem ¹signe des cilesª
auch der verminderte Lidschlag auf der betroffenen Seite (abgeschwåchter
Orbicularis-oculi-Reflex). Das feine, mit dem Finger fçhlbare Vibrieren
çber dem M. orbicularis oculi bei festem Zukneifen der Augen verschwin-
det ebenfalls bei einer latenten Parese (Lidvibrationstest nach Wartenberg).
Bei zentralen (supranukleåren) Fazialisparesen ist meistens die periorale
Muskulatur, bei peripheren (nukleåren und infranukleåren) Paresen die ge-
samte faziale Muskulatur gelåhmt, was auf der bereits oben erwåhnten bila-
teralen zentralen Repråsentation beruht.
Die Funktion des M. stapedius kann im Rahmen der Hærprçfung mit-
beurteilt werden. Bei einer Parese des Muskels besteht initial eine Hyper-
akusis (abnorme Empfindlichkeit des Gehærs).
Abb. 3.6. N. facialis und mit ihm verlaufende Nerven sowie lokalisatorische Zuordnung der Låsi-
on (aus Berlit 1999)
34 z K. Traufeller
Der Verlauf des peripheren N. facialis erlaubt in Abhångigkeit von den je-
weils vorhandenen Symptomen eine genaue lokalisatorische Zuordnung der
Låsion (Abb. 3.6). Bei einer Schådigung distal vom Foramen stylomastoideum
liegt eine isolierte Låhmung der Gesichtsmuskulatur vor. Bei einer Låsion
oberhalb der Abzweigung der Chorda tympani und vor Abgang des N. stape-
dius treten zusåtzlich Geschmacksstærungen und Stærungen der Speichel-
sekretion auf. Im Rahmen einer Stærung proximal des Abgangs des N. stape-
dius, aber noch distal des Abzweigs des N. petrosus superficialis major kommt
es auûerdem initial noch zu Hærstærungen. Eine Låsion proximal des Abgangs
des Ganglion geniculi und des N. petrosus superficialis major fçhrt neben
allen bisher genannten Symptomen auch noch zu einer gestærten bzw. fehlen-
den Trånen- und Speicheldrçsensekretion (u. a. trockenes Auge).
z Erkrankungen
Neben verschiedenen Ursachen kann eine periphere Fazialisparese auch
idiopathisch, das heiût ohne erkennbare Ursache, auftreten. Symptomatisch
kommen periphere Fazialislåhmungen bei Otitis media, Zoster oticus,
durch Borrelien, Tumoren, traumatisch oder auch iatrogen im Rahmen von
Operationen vor. Rezidivierend auftretende periphere faziale Paresen wer-
den z. B. beim Melkersson-Rosenthal-Syndrom beobachtet. Die Ursache ei-
ner zentral bedingten Fazialislåhmung kann z. B. eine zerebrale Ischåmie
oder eine multiple Sklerose sein. Weitere das Gesicht betreffende Bewe-
gungsstærungen sind u.a. Hypomimie (z. B. beim M. Parkinson), Tic, Cho-
rea, Meige-Syndrom sowie der Spasmus hemifacialis (Abb. 3.7), bei dem es
zu anfånglich nur den M. orbicularis oculi betreffenden, kurz dauernden
Bewegungen kommt, die spåter auf die çbrigen Muskeln çbergreifen und
an Intensitåt zunehmen.
Bei Tetanie im Rahmen einer Hypokalziåmie låsst sich als mechanischer
Reiz bei pråaurikulårem Beklopfen des Fazialisstammes eine Kontraktion
der gesamten ipsilateralen mimischen Muskulatur auslæsen (Chvostek-Zei-
chen).
z Anatomische Grundlagen
Der Nerv ist der Sinnesnerv fçr die beiden im Innenohr oder Labyrinth
lokalisierten Sinnesorgane, das Gleichgewichtsorgan und das Hærorgan.
Demnach besteht der N. vestibulocochlearis aus zwei Anteilen. Die Pars
vestibularis leitet die Sinneserregung vom Vestibulum und den Bogengån-
gen zum Gehirn. Die peripheren Fasern vereinigen sich zu dem am Grund
des inneren Gehærgangs liegenden Ganglion vestibulare. Dessen zentrale
Fortsåtze bilden die Pars vestibularis, die, mit der Pars cochlearis zum N.
vestibulocochlearis vereint, den inneren Gehærgang durch den Porus acus-
ticus internus verlåsst und im Kleinhirnbrçckenwinkel das Gehirn erreicht.
Innerhalb des Gehirns verlaufen sie zu den im Rautenhirn liegenden Nuclei
vestibulares und zum Teil direkt zum Kleinhirn.
Die Pars cochlearis leitet die Erregung von der Cochlea hirnwårts. Die Ner-
venfasern ziehen zunåchst zum Ganglion spirale. Die zentralen Fortsåtze
der Ganglienzellen treten am Grund des inneren Gehærgangs zur Pars
cochlearis zusammen, die bis zum Eintritt in das Gehirn den gleichen Ver-
lauf wie die Pars vestibularis aufweist. Im Gehirn begeben sich die Fasern
der Pars cochlearis zu den Nuclei cochleares ventralis und dorsalis, die
seitlich dem Pedunculus cerebellaris inferior anliegen. Das zweite Neuron
der Hærbahn beginnt an beiden Cochleariskernen. Die Efferenzen vom dor-
salen Cochleariskern bilden offenbar die Hauptstrecke der Hærbahn. Als
Striae acustici dorsales kreuzen sie vollståndig und bilden auf der Gegen-
seite den Lemniscus lateralis, der zum ipsilateralen Colliculus caudalis des
Mittelhirndaches zieht.
Abb. 3.8. Stimmgabelversuche nach Weber und Rinne (aus Berlit 1998)
z Hærstærungen
Die Mittelohr- oder Schallleitungsschwerhærigkeit wird durch Prozesse im
åuûeren Gehærgang und noch håufiger im Bereich des Mittelohres (z. B.
Otitis media, Defekte des Trommelfells, Otosklerose) bedingt.
Eine Innenohr- oder Schallempfindungsschwerhærigkeit wird durch eine
Schådigung des Innenohres, des N. cochlearis bzw. seiner zentralen Verbin-
dungen hervorgerufen. Ursachen sind neben dem Akustikusneurinom Me-
ningitiden, toxische Substanzen (z. B. Aminoglykoside, Salizylsåure, Strepto-
mycin, Cisplatin, Schleifendiuretika etc.), Traumata oder Lårmschådigung.
Reizerscheinungen im Sinne eines Tinnitus kænnen vaskulår bedingt
sein, z. B. bei einer Stenose der Arteria carotis interna oder bei einer AV-
Malformation (pulsatiler Tinnitus). Als Begleitsymptom von Hærstærungen
treten sie håufig im Rahmen von Innenohrerkrankungen auf.
z Gleichgewichtsstærungen
Irritationen des Vestibularapparats mit seinen zentralen Verbindungen be-
dingen vor allem einen Drehschwindel, wodurch Unsicherheit im Gehen
und Stehen mit Fallneigung entsteht. Es kænnen Ûbelkeit, Brechreiz, Erbre-
chen und evtl. Schweiûausbruch und Blåsse hinzukommen. Objektiv findet
sich meist ein Nystagmus.
Im Rahmen von Intoxikationen (z. B. Carbamazepin-Ûberdosierung, Al-
koholintoxikation) ist klinisch der Nystagmus neben anderen Symptomen
einer zerebellåren Ataxie zu beobachten. Zu den Kardinalsymptomen einer
Wernicke-Enzephalopathie zåhlt ein horizontaler, seltener ein vertikaler
Blickrichtungsnystagmus.
Ein reproduzierbarer erschæpflicher seitenkonstanter Nystagmus nach
Kopfschçtteln oder Aufrichten nach Kopftieflage entspricht in der Regel ei-
nem gelockerten Spontannystagmus nach långer zurçckliegender periphe-
rer vestibulårer Schådigung. Im Rahmen der zentralen Kompensationsvor-
gånge wird der Nystagmus zunehmend unterdrçckt. Beim benignen peri-
pheren paroxysmalen Lagerungsnystagmus tritt nach dem Hinlegen vom
Sitzen zur Seitenlage (mit leicht nach hinten geneigtem Kopf) mit wenigen
Sekunden Latenz nach Lageånderung ein rotatorischer Nystagmus zum un-
ten liegenden Ohr auf, der von heftigem Schwindel begleitet ist. Der Nys-
tagmus erlischt meistens nach ca. 10 bis 30 Sekunden. Beim Aufrichten
zum Sitzen folgt ein gegenlåufiger schwåcherer Nystagmus.
Patienten mit einem akuten Vestibularisausfall (Neuropathia vestibularis)
klagen çber Drehschwindel, der von Fallneigung zur betroffenen Seite so-
wie Ûbelkeit und Erbrechen begleitet ist. Die Patienten sind meistens nicht
in der Lage zu stehen oder zu gehen. Klinisch bieten sie unter anderem ei-
nen lebhaften horizontalen und rotierenden Spontannystagmus zur Gegen-
seite sowie eine konstante Seitenabweichung im Unterberger-Tretversuch.
Beim M. Meni re bestehen wåhrend des anfallsweise auftretenden
Schwindels neben einem lebhaften horizontalen Spontannystagmus, meist
mit rotierender Komponente, Ûbelkeit, Erbrechen, einhergehend mit Hær-
minderung, Tinnitus und Druckgefçhl im betroffenen Ohr.
3 Hirnnerven z 39
z Anatomische Grundlagen
Der N. glossopharyngeus verlåsst zusammen mit dem N. vagus und dem
N. accessorius den Schådel durch das Foramen jugulare. Er enthålt neben
motorischen auch sensible, sekretorische und sensorische Fasern. Nach
dem Durchtritt durch die Schådelbasis zieht der Nerv zwischen A. carotis
interna und V. jugularis interna zum M. stylopharyngeus. Auf seinem Weg
zur Zungenwurzel, zur Schleimhaut des Schlundes, den Tonsillen sowie
dem hinteren Drittel der Zunge gibt er den N. tympanicus, den R. stylo-
pharyngeus, die Rr. pharyngei, den R. sinus caroticus sowie die Rr. lingua-
les ab. Der N. glossopharyngeus fçhrt parasympathische Fasern fçr die
Glandula parotis, die Drçsen der Wangenschleimhaut, die Zungendrçsen
sowie fçr die Schleimhautdrçsen des Schlundes und der Paukenhæhle.
Der N. vagus kann aus anatomischer Sicht in einen intrazerebralen und
einen extrazerebralen Abschnitt unterteilt werden. Extrazerebral gibt der
Nerv auf seinem Weg zur Bauchhæhle mehrere Øste ab (R. meningeus, R.
auricularis, N. laryngeus superior, N. laryngeus recurrens, Rr. cardiaci cer-
vicales superiores, Rr. cardiaci thoracici, Rr. bronchiales, Rr. gastrici ante-
riores et posteriores, Rr. hepatici, Rr. coeliaci und Rr. renales).
z Anatomische Grundlagen
Der N. accessorius ist kein typischer Hirnnerv, da er zwei Wurzeln (Radi-
ces craniales und Radices spinales) hat und die meisten seiner Wurzelfa-
sern aus dem Halsmark entspringen. Da sein Kerngebiet nicht im Vorder-
horn des Rçckenmarks liegt, ist er auch kein typischer Spinalnerv. Der
Nerv bildet eine kraniale und eine spinale Fasergruppe. Den oberen Anteil,
der seinen Ursprung im gleichen Kerngebiet wie der N. vagus nimmt,
wçrde man besser als Bestandteil des N. vagus ansehen (Accessorius vagi).
Die spinale Fasergruppe besteht aus sechs bis sieben Wurzelbçndeln, die
aus dem Halsmark austreten und sich im Wirbelkanal zu einem Stamm
(Accessorius spinalis) vereinigen, der durch das Foramen occipitale mag-
num in den Schådel eintritt, mit dem Accessorius vagi vereint durch das
Foramen jugulare wieder austritt und sich nach seinem Austritt aus der
Schådelhæhle in seine zwei Endåste, R. internus und R. externus, teilt.
z Anatomische Grundlagen
Das Kerngebiet des N. hypoglossus befindet sich im unteren Drittel der
Medulla oblongata. Der Nerv tritt mit 10±15 Wurzelfåden aus der Medulla
aus, verlåsst die Schådelhæhle durch den Canalis hypoglossi und verlåuft
zunåchst hinter dem N. vagus und der A. carotis interna. Er kreuzt dann
in einem Bogen die A. carotis externa. Ûber die Auûenflåche des M. hy-
oglossus dahinziehend, verschwindet der Nerv am hinteren Rand des M.
mylohyoideus aus der Halsregion, um die Mundhæhle zu erreichen und få-
cherfærmig in die Zungenmuskulatur einzustrahlen.
beim Essen nicht oder nur geringfçgig nach vorn geschoben werden kann
und erhebliche Artikulationsstærungen bestehen.
Eine periphere Schådigung des N. hypoglossus hat eine einseitige Låh-
mung zur Folge. Ursachen kænnen z. B. eine Schådelbasisfraktur, ein Aneu-
rysma oder ein Tumor sein. Der Nerv ist ferner in seinem Verlauf im Be-
reich des Halses z. B. durch eine Dissektion der A. carotis interna sowie bei
einer Thrombendarteriektomie gefåhrdet. Eine Låsion im Kerngebiet des
Nervs fçhrt zumeist zu einer bilateralen Parese, da die Kerngebiete dicht
beieinander liegen. Die amyotrophe Lateralsklerose, die Syringobulbie oder
vaskulåre Prozesse kommen als Ursache in Betracht.
Die Geschmacksqualitåten sçû, sauer, salzig und bitter werden çber ver-
schiedene Typen von Geschmacksknospen vermittelt. Die Verteilung der
Geschmacksknospen auf der Zunge ist in Abbildung 3.10 dargestellt. Die
Geschmackswahrnehmung im Bereich der beiden vorderen Drittel der Zun-
ge erfolgt çber die Chorda tympani, die zunåchst mit dem N. lingualis (N.
trigeminus) und nachfolgend mit dem Intermediusanteil des N. facialis ver-
låuft. Die afferente Leitung von Geschmacksreizen vom hinteren Zungen-
drittel wird çber den N. glossopharyngeus vermittelt.
Klinisch wird der Geschmack seitengetrennt mit Læsungen, z. B. aus Zu-
cker, Salz, Chinin und Zitronensåure, geprçft. Dazu wird mit einem mit
der jeweiligen Læsung angefeuchteten Wattetupfer der Rand der weit he-
rausgestreckten Zunge bestrichen und der Patient zeigt auf einem vor ihm
liegenden Blatt auf die dort niedergeschriebenen Qualitåten ¹sçûª, ¹salzigª,
¹bitterª oder ¹sauerª. Es ist zu beachten, dass die einzelnen Qualitåten un-
terschiedlich lokalisiert sind, z. B. ¹sçûª eher im vorderen Zungenbereich
(Abb. 3.10). Ob dies die Grundlage dafçr ist, dass Kçsse sçû schmecken,
muss offen bleiben. Zwischen den verschiedenen Testlæsungen wird der
Mund ausgespçlt.
Ursachen von Geschmacksstærungen (Ageusie bzw. Hypogeusie) kænnen
starkes Rauchen, Mundtrockenheit ± im Rahmen eines Sjægren-Syndroms
oder bedingt durch trizyklische Antidepressiva ± Speichelhyperviskositåt,
Virusinfektionen, Medikamente (z. B. Penicillin, Vincristin etc.), entspre-
chende Hirnnervenlåsionen, Vitamin-A- oder -B-Mangel und oropharyn-
geale Karzinome sein.
Alternierende Hirnstammsyndrome
sucht werden sollte. Weiterhin ist dieses Wissen notwendig, um die tatsåch-
lich fçr die klinische Symptomatik verantwortliche, mit der bildgebenden
Diagnostik nicht immer darstellbare Hirnstammlåsion von anderen kern-
spintomographisch dargestellten, klinisch jedoch stummen Herden zu dif-
ferenzieren.
3 Hirnnerven z 45
Literatur
Muskeltrophik
Abb. 4.1. Ulnarisparese. a Bei Parese der Daumenadduktion wird kompensatorisch çber den M.
flexor pollicis longus das Daumenendglied vermehrt gebeugt (Froment-Zeichen). b Das spatium
interosseum I/II fållt als Folge der Atrophie der Daumenadduktoren ein. Ferner kommt es zu ei-
ner leichten Flexionsstellung der Finger V und IV (¹Krallenhandª). c Bei entsprechender Beweg-
lichkeit des Daumengrundgelenks kommt es zur Extensionsstellung des Daumens (Jeanne-Zei-
chen) (aus Berlit 1998)
Abb. 4.2. Trendelenburg-Zeichen. Links: Normalbefund. Mitte: Bei Parese der Hçftabduktoren re-
sultiert beim Einbeinstand auf dem ipsilateralen Bein ein Absinken der Hçfte nach kontralateral
(Trendelenburg-Zeichen). Rechts: Wird kompensatorisch die Kærperachse (schwungvoll) zur Seite
der Parese verlagert, so spricht man von Duchenne-Hinken (aus Berlit 1998)
Kraft
Abb. 4.3. Halteversuche. a Armhalteversuch mit vorgehaltenen, gestreckten Armen und supi-
nierten Hånden (Augen geschlossen). Bei einer latenten Armparese kommt es meist zu Pronati-
on der Hand, Flexion im Ellenbogen und geringem Absinken im Schultergelenk. Zusåtzlich kann
der Versuch mit pronierten, leicht gestreckten Hånden und Fingern durchgefçhrt werden. Im
pathologischen Fall kommt es zum Absinken von Hand und Fingern. Ferner ist auf Tremor so-
wie positive und negative Myoklonien (Asterixis) zu achten. b Eine von drei çblichen Varianten
des Beinhalteversuchs. In Rçckenlage werden die Beine in Knie- und Hçftgelenk um 908 ge-
beugt (Mingazzini-Stellung), ohne dass sie sich berçhren (Augen geschlossen). Auf der pareti-
schen Seite sinkt die Ferse ab. Alternativ kann der Versuch mit im Hçftgelenk etwa 458 ge-
beugten, im Kniegelenk gestreckten Beinen durchgefçhrt werden. Dies erfordert eine græûere
Kraft der Hçftbeuger, die gerade bei ålteren Personen oft nicht gegeben ist. Alternativ werden
in Bauchlage die Knie in stumpfem Winkel gebeugt (Barr-Stellung) (aus Berlit 1998)
z Latente Paresen
Im Gesichtsbereich spielen die Ausprågung der Nasolabialfalte im Seiten-
vergleich und das Zilienzeichen die græûte Rolle (vgl. Kapitel 3). Eine la-
tente Armparese kann sich unterschiedlich åuûern. Der Armvorhaltever-
such mit geschlossenen Augen und maximal supinierten Hånden (sowie
auch mit pronierten, gestreckten Hånden und Fingern) ist ein empfindli-
cher Test auf eine latente Armparese. Sie zeigt sich bei supinierten Hånden
in Form einer vermehrten Pronationsbewegung der Hand (Abb. 4.3), ver-
bunden mit einem Einknicken im Ellenbogengelenk oder dem Absinkens
des Armes. Seltener ist ein Anheben des Armes im Ellenbogengelenk zu
beobachten. Beim Armvorhalten mit den Handflåchen nach unten und mit
leicht gestreckten Hånden und Fingern zeigt sich z.T. ein Absinken der
paretischen Hand, teils auch ein Einknicken des Unterarms nach medial
im Ellenbogengelenk. Deutliches Absinken im Schultergelenk kommt bei
zentralen Prozessen selten vor, einerseits weil die Schultermuskulatur åhn-
52 z M. E. Kornhuber
lich wie die Stirnmuskulatur meist eine bilaterale Innervation aufweist, an-
dererseits wohl auch, weil der Schulterbereich kortikal bereits am Ûberg-
ang vom Media- zum Anteriorstromgebiet repråsentiert ist. Absinken im
Schultergelenk kommt bei einer kranialen zervikalen Myelopathie vor, auch
bei Kleinhirnlåsionen, håufiger aber im Rahmen von Myopathien (bilate-
ral), bei peripheren Låsionen (radikulår, Plexus zervicobrachialis) und bei
funktionellen Stærungen.
Latente Beinparesen zeigen sich relativ zuverlåssig im Beinhalteversuch
(Abb. 4.3). Der Patient liegt auf dem Rçcken und beugt die gestreckten Bei-
ne um 458 von der Unterlage. Die Beine bzw. Fçûe dçrfen sich nicht
berçhren und die Augen sollen geschlossen sein. Oft låsst sich der Beinhal-
teversuch in dieser Form nicht durchfçhren, z. B. bei ålteren Personen oder
nach chirurgischen Eingriffen im Bauchbereich. Alternativ ist es mæglich,
die Beine jeweils um 908 im Hçft- und im Kniegelenk beugen zu lassen
(Mingazzini-Stellung), sodass die Unterschenkel parallel zur Liege stehen.
Das latent paretische Bein sinkt leicht ab. Der Beinhalteversuch kann auch
in Bauchlage durchgefçhrt werden mit im stumpfen Winkel gebeugtem
Knie (Barr-Stellung). Das latent paretische Bein sinkt ebenfalls ab.
z Manifeste Paresen
Alle Muskelgruppen werden separat und im Seitenvergleich untersucht. Die
Aufforderungen erfolgen in einer klar verståndlichen Sprache, also z. B.
¹die Ferse zum Po ziehenª statt ¹das Knie beugenª. Es zåhlt die jeweils ma-
ximal erzielte Kraft. Dabei werden nach dem British Medical Research
Counsil 5 Kraftgrade unterschieden (BMRC-Score): 5/5 ist volle Kraft, 4/5
Kraft gegen Widerstand, 3/5 Bewegung gegen die Schwerkraft, 2/5 Bewe-
gung unter Aufhebung der Schwerkraft, 1/5 Muskelkontraktion ohne Bewe-
gungseffekt, 0/5 entspricht einer kompletten Parese (Plegie). Kraftgrad 4
wird noch unterteilt in 4+, 4 und 4±, weil das Spektrum im Bereich der
Kraftentfaltung gegen Widerstand besonders groû ist. Der BMRC-Score ist
nicht linear. Bei Kraftgraden von 0/5 bis 3/5 ist die Funktionsfåhigkeit we-
niger motorischer Einheiten (s. o.) entscheidend; demgegençber macht der
Unterschied zwischen 4±/5 und 5/5 eine erhebliche Zahl von motorischen
Einheiten aus. Selbst bei voller Kraft kann bereits eine noch kompensierte
Einbuûe an Muskelmasse vorliegen (s.o.). Ferner ist zu bedenken, dass z. B.
eine Bewegung gegen die Schwerkraft im Schulter- und Hçftbereich eine
ganz andere Kraftentfaltung erfordert als im Bereich der Finger oder Ze-
hen. Bestehen lokale Schmerzen, wird die Kraft aus diesem Grund mægli-
cherweise nicht voll entfaltet. Oft kann der Patient dann aber kurzzeitig
maximale Kraft aufbauen. Ebenso kommt es vor, dass der Patient aus nicht
organisch bedingten Grçnden die Kraft nicht voll entfaltet (s. u.).
Fçr die Situation des Patienten im Alltag ist entscheidend, wie sehr der
Patient durch seine Paresen behindert ist. Kann er allein Treppen steigen,
Einkåufe erledigen, zur Toilette gehen, sich waschen, kåmmen etc.? Es emp-
fiehlt sich daher, sich diese Situationen zu vergegenwårtigen und gegebe-
4 Das motorische System z 53
Abb. 4.4. M. sternocleidomastoideus, N. accessorius. Flexion und Wendung des Kopfes nach
kontralateral. Der Patient fçhrt eine horizontale Drehbewegung des Kopfes aus. Eine Hand des
Untersuchers liegt auf der Wange des Patienten und drçckt gegen die intendierte Drehbewe-
gung. Mit den Fingern der anderen Hand werden Tonus und Græûe des Muskels getastet
Abb. 4.5. M. trapezius, N. accessorius, C2±C4. Der Patient hebt die Schultern gegen den Wider-
stand des Untersuchers nach oben. Die oberen Muskelpartien sind dabei tastbar und gut zu
sehen. Die Abduktion und Elevation des Arms çber die Horizontale ist bei einer Låhmung des
M. trapezius behindert, der obere Skapulawinkel entfernt sich weiter von der Mittellinie des
Rçckens als der untere
54 z M. E. Kornhuber
Abb. 4.7. Kopf- und Nackenextensoren: Mm. splenius capitis et cervicis, semispinalis capitis et
cervicis und erector spinae (Mm. iliocostalis cervicis und longissimus cervicis). Der Patient ver-
sucht, den Kopf gegen den Widerstand des Untersuchers nach hinten zu extendieren. Die Ex-
tensoren und die Flexoren lassen sich am besten in Bauch- bzw. Rçckenlage prçfen
nenfalls die konkrete Situation in und auûerhalb der Wohnung des Patien-
ten zu dokumentieren. Die Untersuchung der verschiedenen Muskelgrup-
pen ist in den Abbildungen 4.4 bis 4.42 und den Legenden beschrieben
(aus Zierz u. Jerusalem 2003). Tabelle 4.1 enthålt eine Zuordnung der un-
tersuchten Funktionen zu Nerven und Nervenwurzeln.
4 Das motorische System z 55
Abb. 4.8. M. rhomboideus, N. dorsalis scapulae, C4±C5. Adduziert und eleviert die Skapula. Der
Patient klemmt den Unterarm des Untersuchers mæglichst fest zwischen seine nach hinten abge-
winkelten Ellenbogen ein. Mit der freien Hand tastet der Untersucher den Muskel zwischen den
Schulterblåttern. Die Kraft der Mm. rhomboidei låsst sich auch prçfen, indem der Patient seine
Hand in die Hçfte legt und den Arm gegen den Widerstand des Untersuchers nach hinten bewegt
Abb. 4.10. M. supraspinatus, N. suprascapularis, C4±C6. Der Patient versucht den Arm gegen
Widerstand zu abduzieren, dabei kann der Muskel palpiert werden, wenn der M. trapezius ent-
spannt ist, deshalb soll der Patient Kopf und Hals extendieren, zur prçfenden Seite neigen und
den Kopf zur Gegenseite drehen
Abb. 4.11. M. infraspinatus, N. suprascapularis, (C4), C5±C6. Auûenrotation des Oberarms. Bei
adduziertem Oberarm und rechtwinklig gebeugtem Ellenbogengelenk wird der Unterarm gegen
Widerstand nach auûen bewegt (Auûenrotation des Oberarms), gleichzeitig kann der Muskel
getastet werden. Die Mm. subscapularis und teres major (N. subscapularis, C5±C7) werden in
der gleichen Armstellung geprçft, die Bewegung des Unterarms erfolgt nach innen (Innenrotati-
on des Oberarms)
4 Das motorische System z 57
Abb. 4.12. M. latissimus dorsi, N. thoracodorsalis, C6±C8. Der Patient versucht, den bis zur Ho-
rizontalen abduzierten Oberarm gegen Widerstand zu adduzieren, der Muskel kann gleichzeitig
in der Achselhæhle getastet werden. Eine andere Testmæglichkeit besteht in Bauchlage mit ge-
strecktem, innenrotierten und zum Rçcken extendierten Arm. Der M. latissimus dorsi hat in die-
ser Stellung ebenfalls eine adduzierende Wirkung
Abb. 4.13 a, b. M. pectoralis major, Nn. pectorales med. et lat., C5±C8. a Der Patient hebt den
Oberarm çber die Horizontale und adduziert gegen Widerstand. Die klavikulåren und sternalen
Anteile des Muskels kænnen getastet werden. b Beide Arme werden nur leicht angehoben (un-
terhalb der der Horizontalen) und gegen Widerstand adduziert. Der untere, sternokostale Teil
des Muskels wird sichtbar
58 z M. E. Kornhuber
Abb. 4.14. M. deltoideus, N. axillaris, C5±C6. Der Patient hebt den seitwårts um 15±308 abdu-
zierten Arm gegen Widerstand
Abb. 4.15. M. biceps brachii, N. musculocutaneus, C5±C7. Der Patient beugt den supinierten
Unterarm gegen Widerstand. An der Beugung des Unterarms ist u. a. auch der M. brachialis
(N. musculocutaneus, C5±C6) beteiligt
4 Das motorische System z 59
Abb. 4.16 a, b. M. pronator teres, N. medianus, C6±C7, M. supinator, N. radialis, C5±C6. Bei ge-
strecktem und adduziertem Arm proniert (a) bzw. supiniert (b) der Patient gegen Widerstand
des Untersuchers, dieser fixiert mit der freien Hand den Oberarm. Der Pronator quadratus
(N. medianus, C7±Th1) wird bei komplett gebeugtem Unterarm geprçft
Abb. 4.17. M. extensor carpi radialis longus, N. radialis, (C5), C6±C7, (C8). Mit ausgestreckten
Fingern extendiert der Patient das Handgelenk gegen Widerstand. Der Muskel unterstçtzt auch
die Beugung im Ellenbogengelenk und abduziert im Handgelenk nach radial. Der M. extensor
carpi radialis brevis (N. radialis, [C5], C6±C7, [C8]) extendiert und abduziert, der M. extensor
carpi ulnaris (N. radialis, C6±C8) extendiert und abduziert nach ulnar
60 z M. E. Kornhuber
Abb. 4.18. M. extensor digitorum, N. radialis, C6±C8. Der Untersucher versucht, die Metakarpo-
phalangealgelenke II±V gegen den Widerstand des Patienten zu beugen. Der Muskel hat auch
eine leichte adduzierende Wirkung auf Zeige-, Ring- und Kleinfinger und unterstçtzt die Hand-
gelenkextension
Abb. 4.19. M. extensor pollicis brevis, N. radialis, C6±C8. Der Patient versucht, das Metakarpophal-
angealgelenk des Daumens (Grundglied) gegen den Widerstand des Untersuchers zu extendieren
Abb. 4.20. M. extensor pollicis longus, N. radialis, C6±C8. Der Untersucher versucht, das Dau-
menendglied gegen den Widerstand des Patienten zu beugen
4 Das motorische System z 61
Abb. 4.21. M. abductor pollicis longus, N. radialis, C6±C8. Der Patient versucht, den Daumen
im rechten Winkel zur Handflåche zu abduzieren. Der Muskel hat zudem eine abduzierende
und beugende Wirkung auf das Handgelenk
Abb. 4.22. M. abductor pollicis brevis, N. medianus, (C6±C7), C8±Th1. Der Patient abduziert
den Daumen im rechten Winkel zur Handflåche gegen Widerstand
Abb. 4.23. M. opponens pollicis, N. medianus, (C6±C7), C8±Th1. Der Patient legt das Daumen-
endglied auf die Kleinfingerkuppe. Der Untersucher versucht, diesen Kontakt gegen den Wider-
stand des Patienten zu læsen. Die Aktion des M. opponens pollicis ist immer begleitet von einer
Kontraktion des M. palmaris longus, seine Sehne wird am Handgelenk sichtbar
62 z M. E. Kornhuber
Abb. 4.25. Mm. lumbricales I und II, N. medianus, (C6±C7), C8±Th1. Mm. lumbricales III und IV,
N. ulnaris, (C7), C8±Th1. Diese Muskeln beugen die Metakarpophalangealgelenke und strecken
die Interphalangealgelenke der Finger II±V. Bei gestrecktem Metakarpophalangealgelenk ver-
sucht der Patient, das gebeugte erste Interphalangealgelenk gegen den Widerstand des Unter-
suchers zu strecken. Der M. flexor digiti V (N. ulnaris, [C7], C8±Th1) beugt ebenfalls im Grund-
gelenk (Metakarpophalangealgelenk)
Abb. 4.26. M. flexor digitorum superficialis, N. medianus, C7±Th1. Beugt die Finger II±V in den
Mittelphalangen. Der Untersucher versucht, die gebeugten Mittelphalangen gegen den Wider-
stand des Patienten zu strecken
4 Das motorische System z 63
Abb. 4.27. M. flexor digitorum profundus I und II, N. medianus, C7±Th1; M. flexor digitorum pro-
fundus III und IV, N. ulnaris, C7±Th1. Diese Muskeln beugen die Endglieder der Finger II±V. Der
Untersucher versucht, die gebeugten Endglieder gegen den Widerstand des Patienten zu strecken
Abb. 4.29. Mm. interossei dorsales I±IV, N. ulnaris, C8±Th1. Abduzieren die Finger II nach radial
und die Finger III und IV nach ulnar und die Mittelfinger nach beiden Seiten. Der Patient spreizt
die gestreckten Finger und der Untersucher versucht, gegen Widerstand die Finger zu adduzieren.
Abgebildet ist die Kraftprçfung fçr den M. interosseus dorsalis I, der bei Innervation im ersten In-
terphalangealraum deutlich sichtbar wird. Die Kraft der Mm. interossei dorsales kann auch gut
geprçft werden, wenn der Untersucher mit seinem Daumen und Zeigefinger die gespreizten Finger
II und III des Patienten umfasst und gegen dessen Widerstand zusammenpresst
64 z M. E. Kornhuber
Abb. 4.33. M. gluteus maximus, N. gluteus inf., L5±S1, S2. Hçftstrecker. In Bauchlage versucht
der Patient, das gestreckte Bein gegen den Widerstand des Untersuchers anzuheben. Die Mus-
kelkontraktion kann palpiert werden
Abb. 4.34. Mm. glutei medius und minimus, M. tensor fasciae latae, N. gluteus sup., L4±S1.
Hçftabduktion. In Rçckenlage versucht der Patient, die gestreckten Beine gegen den Widerstand
des Untersuchers zu spreizen. In Bauchlage und bei gebeugten Kniegelenken kann die auûenro-
tierende Funktion geprçft werden
66 z M. E. Kornhuber
Abb. 4.36. M. gastrocnemius, N. tibialis, S1±S2. Plantarflexion des Fuûes. Der Patient flektiert
den Fuû gegen den Widerstand des Untersuchers nach plantar. Der Muskel und seine Sehne
kænnen palpiert werden. Eine zuverlåssige Prçfung ist der Zehenstand
4 Das motorische System z 67
Abb. 4.41. M. extensor digitorum longus, N. fibularis, L4, L5±S1. Der Patient extendiert die
Zehen gegen den Widerstand des Untersuchers
Abb. 4.42. M. extensor digitorum brevis, N. fibularis, L4, L5±S1. Der Patient extendiert die
Zehen gegen den Widerstand des Untersuchers. Der Muskelbauch kann auf dem lateralen Fuû-
rçcken gesehen und palpiert werden
70 z M. E. Kornhuber
z Belastungsabhångige Paresen
Belastungsabhångige Paresen sind ein Kardinalsymptom der Myasthenia
gravis.
Proximale Muskeln sind meist mehr betroffen als distale. Die åuûeren
Augenmuskeln sind am håufigsten und z.T. isoliert betroffen (okulåre My-
asthenie). Bei konstantem Blick nach oben und Fixation eines vorgehalte-
nen Gegenstandes (z. B. Bleistiftspitze) fçr zwei Minuten (Simpson-Test)
entwickelt sich bei okulårer Myasthenie eine Ptose (oft einseitig betont),
teils auch eine Bulbusdeviation mit Doppelbildern. In einem långeren Ge-
språch kann das Sprechen zunehmend schwerfållig und nåselnd werden,
ein Hinweis fçr die Parese der Pharynx- bzw. Zungenmuskulatur. Auf
Nachfrage wird håufig angegeben, dass Probleme beim Kauen fester Spei-
sen auftreten sowie Schluckstærungen (vitale Gefåhrdung!). Eine Betei-
ligung der Rumpf- und Extremitåtenmuskulatur ist mit der Haltezeit von
Kopf, Arm und Bein zu erfassen. Nicht so håufig sind Beinmuskeln isoliert
betroffen. Dann kann es zur belastungsabhångigen Peronåusparese kom-
men. Wenn der Patient im Fersengang, also mit extendierten Fçûen, durch
das Untersuchungszimmer geht, sinkt der paretische Fuû zunehmend ab.
Bei Verdacht auf Myasthenie sollte die Vitalkapazitåt mit einem Handspiro-
meter erfasst werden. Normwerte liegen fçr die Frau bei 2 bis 4 Litern, fçr
den Mann bei 3 bis 5 Litern. Unter einem Liter ist von einer vitalen Ge-
fåhrdung auszugehen (s. auch Besinger-Score in Kapitel 13).
z Funktionelle Paresen
Patienten mit funktionellen (somatoformen) Særungen machen einen nicht
unerheblichen Anteil der Patienten aus, sei es im Sinne der Aggravation ei-
ner organischen Krankheit, sei es im Sinne einer Fehlverarbeitung einer
abgelaufenen organischen Erkrankung oder aber im Sinne einer vollståndig
psychogenen Symptomatik. Bei den funktionellen Stærungen haben Paresen
neben Schwindel und Sensibilitåtsstærungen einen groûen Anteil. Die emp-
findlichste Untersuchung zur Aufdeckung funktioneller Paresen oder von
Gleichgewichtsstærungen ist der Gang (einschlieûlich Zehengang und Fer-
sengang), der in der Regel mit erhæhtem Kraftaufwand ein bizarres Einkni-
cken im Kniegelenk, Gehen mit supiniertem Fuû auf dem lateralen Fuûrand
oder andere Auffålligkeiten zeigt, die in kein Schema einer organischen Ge-
nese passen (siehe Kapitel 6). Bei der funktionellen Parese kann die ver-
minderte Kraft nicht gleichmåûig aufrechterhalten werden. Es resultiert ei-
ne fluktuierende Kraftentfaltung mit Nachlassen der Kraft. ¹Nachlassenª
wird daher im Befund synonym verwendet mit einer nichtorganischen Pa-
rese. Darçber hinaus werden funktionelle Låhmungen in aller Regel auch
deshalb richtig gedeutet, weil selbst der Patient, der sich medizinisches
Wissen angeeignet hat, ¹Fehlerª macht, die nicht mit der pråsentierten Pa-
rese vereinbar sind. Funktionelle Paresen sind in der Regel schlaff (¹peri-
pherª), halten sich nicht an die periphere Innervation durch Nerven, Ple-
74 z M. E. Kornhuber
xusanteile oder Wurzeln. Bei einer Beinparese hebt der Patient das Bein
mit den Hånden am Oberschenkel ins Bett, hålt aber z. B. den Unterschen-
kel und den Fuû aktiv angespannt. Bei Einzelkraftprçfung tritt dann wie-
der eine ¹schlaffeª Parese oder ein Nachlassen im zuvor angespannten Be-
reich auf. Bei einer funktionellen Armparese fållt der vom Untersucher ge-
haltene Arm nach Loslassen, mæglicherweise mit Verzægerung, herunter.
Bei organisch bedingten Paresen existiert diese Verzægerung nicht. Die Kopf-
wendung zur Seite erfordert eine Aktivierung des M. sternocleidomastoideus
der Gegenseite. Dies weiû der Patient mit funktioneller Parese in der Regel
nicht. Låsst man bei funktioneller Beinparese in Rçckenlage das gesunde
Bein heben, so spçrt man mit der Hand unter der Ferse des ¹gelåhmtenª Bei-
nes einen Druck, was bei einer organisch bedingten Parese kaum der Fall ist.
Manchmal kann es schwierig sein, z. B. zwischen schmerzbedingtem
Schonverhalten, Verdeutlichungstendenzen (Aggravation) und darçber hi-
nausgehenden psychischen Reaktionen zu unterscheiden. In dieser Situati-
on sollten Krånkungen des Patienten vermieden werden, weil sie zur Ver-
festigung psychoreaktiver Symptome beitragen kænnen.
Muskeltonus
z Spastik
Die Pathophysiologie der Spastik ist bis heute nicht vollståndig verstanden,
auch wenn die Bedingungen der Entstehung im zentralen Nervensystem
evident sind. Spastik ist eine geschwindigkeitsabhångige tonische Re-
flexçberaktivitåt des Skelettmuskels auf eine passive Bewegung (Abb. 4.43).
Neben der kombinierten Låsion pyramidaler und extrapyramidaler Bahnen
werden auch reaktive Verånderungen im Muskel als Teilursache der Spastik
angesehen. Eine Spastik benætigt nach einer akuten Låsion im zentralen
Nervensysem i. d. R. Tage bis Wochen, um sich zu entwickeln. Isolierte Py-
ramidenbahnlåsionen (sehr seltenes Ereignis) kænnen eine Hyperreflexie
ohne begleitende Spastik verursachen (z. B. Sherman et al. 2000). Eine
Spastik ist also nicht in jedem Fall einer Pyramidenbahnlåsion vorhanden.
Latente Spastik an den Beinen kann man erfassen, wenn man am Patien-
ten in Rçckenlage das ausgestreckte, entspannte Bein unter dem Kniegelenk
ruckartig anhebt. Die Spastik fçhrt dazu, dass das Bein einen Streckimpuls
erfåhrt, sodass die Ferse von der Unterlage abgehoben wird. Ein sehr emp-
findliches (aber nicht spezifisches) Zeichen fçr eine latente Spastik ist ver-
mindertes Abfedern beim Einbeinhçpfen. Latente Spastik (aber auch Rigor)
kann man mit dem Armpendeltest erfassen. Die Schultern des entspannten,
stehenden Patienten werden mit den Hånden des Untersuchers durch
gleichzeitige alternierende Impulse nach vorne und hinten bewegt. Norma-
lerweise resultiert ein lockeres seitengleiches Pendeln der Arme. Bei laten-
ter Spastik tritt eine ellipsoide Pendelbewegung auf. Entsprechend låsst
sich eine latente Spastik der Beine auch im Beinpendeltest erfassen. Der
Abb. 4.43. Muskeltonus: Spastik, Rigor, Zahnradphånomen. Es ist der Widerstand aufgetragen,
den die Muskelgruppen einer Gliedmaûe bei passiver Bewegung im zeitlichen Verlauf entgegen-
setzen, also z. B. die Oberarmbeuger bei passiver Beugung im Ellenbogengelenk. Bei Vorliegen
einer Spastik (durchgezogene Linie) nimmt der Widerstand zunåchst zu, um danach nachzulas-
sen (Taschenmesserphånomen). Die Amplitude des Widerstands ist umso hæher, je schneller die
passive Bewegung erfolgt (¹einschieûende Spastikª). Beim Rigor (gepunktete Linie) findet sich
ein ¹wåchsernerª Widerstand, der çber die gesamte passive Bewegung etwa gleich stark ist,
und zwar relativ unabhångig von der Bewegungsgeschwindigkeit. Zahnradphånomen (gestri-
chelte Linie) nennt man eine rigorartige Muskeltonuserhæhung, bei der der erhæhte Muskelto-
nus sakkadenartig unterbrochen ist
76 z M. E. Kornhuber
Patient sitzt entspannt auf einer Untersuchungsliege. Die Beine hången lo-
cker und mit einem Abstand von etwa 25 bis 30 cm herab, ohne dass die
Fçûe den Boden berçhren. Die Beine werden mit den distalen Unterschen-
keln im Knie in lockere Flexions- und Extensionsschwingung versetzt. Bei
einseitiger Spastik resultiert auf der betroffenen Seite ein stårkerer Kreis-
impuls als auf der nicht betroffenen Seite.
Manifeste Spastik erfasst man durch passives Bewegen einer mæglichst
entspannten Extremitåt mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten (s. o.). Bei
rascher Bewegung kommt es abrupt zu einem federnden Widerstand, der
sich nach kurzer Zeit wieder læst (Taschenmesserphånomen). Nicht selten
lassen sich durch abrupte und dann fortdauernde Muskeldehnungen er-
schæpfliche oder auch unerschæpfliche rhythmische Myoklonien auslæsen
(unerschæpflicher Patella- bzw. Fuûklonus), die rhythmischen Wiedererre-
gungen im Bereich der spinalen Reflexschleife entsprechen. Die Spastik
kann so ausgeprågt sein, dass sie schwer zu çberwinden ist. Eine deutliche
Spastik kann çber einen Zeitraum von Wochen oder Monaten zu Beuge-
kontrakturen in Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenken sowie Hçft- und
Kniegelenken fçhren bzw. zu Kontrakturen in Supinations- und Spitzfuû-
stellung in den Sprunggelenken. Halbseitige Spastik nach hemisphåralen
Låsionen åuûert sich in der Regel in Form einer Beugespastik des kontrala-
teralen Arms und einer Streckspastik des kontralateralen Beins, das beim
Gehen zirkumduziert wird (sog. Wernicke-Mann-Gang). Bei einer Para-
spastik, also der Spastik in beiden Beinen (z. B. nach Rçckenmarkslåsion),
resultiert in der Regel ein Ûberwiegen des Adduktionstonus bei gestreck-
tem Bein. Beim Gehen imponiert als Folge der Adduktionsspastik ein
¹Scherengangª. Die Fçûe (und Schuhsohlen) werden çberwiegend vorne
und seitlich belastet.
z Rigor
Rigor geht demgegençber auf eine gleichzeitige Anspannung von Agonisten
und Antagonisten zurçck und entspricht einer ¹wåchsernenª, kaum von
der Geschwindigkeit einer passiven Bewegung abhångenden Form der
Muskeltonuserhæhung (Abb. 4.43). Sie ist charakteristisch fçr einige Basal-
ganglienerkrankungen (M. Parkinson, Multisystematrophie, progressive su-
pranukleåre Blickparese; s. Kapitel 6). Pathophysiologisch kommt es nicht
zur Enthemmung auf der spinalen Ebene, sondern zu einer Funktions-
stærung im Bereich der Basalganglienschleife, die u.a. die Erregbarkeit des
motorischen Kortex reguliert. Daraus wird verståndlich, dass der Muskelto-
nus relativ unabhångig von der Bewegungsgeschwindigkeit çber die ganze
Dauer der Bewegung erhæht ist. Dem Rigor kann, muss aber nicht ein sak-
kadisches Nachgeben des Muskeltonus çberlagert sein. Dieses Zusammen-
spiel von Rigor und sakkadischem Nachgeben wird als Zahnradphånomen
bezeichnet.
Klinisch relativ håufig anzutreffen ist ein ¹Gegenhaltenª, das einem
mangelnden Entspannungsvermægen entspricht. Es nimmt in der Regel mit
4 Das motorische System z 77
dem Alter zu und ist bei Demenzpatienten die Regel. Beim Gegenhalten
fållt es schwer, die Muskeleigenreflexe zu beurteilen.
z Muskelhypotonie
Sie kommt auûer bei peripheren Nervenverletzungen z.T bei akuten spina-
len und auch bei supraspinalen Låsionen vor. Bei den zentralen Låsionen
bleibt eine Muskelhypotonie nur bei Kleinhirnlåsionen auf Dauer bestehen.
Tatsåchlich çben Neurone tiefer Kleinhirnkerne (u. a. Ncl. interpositus)
çber die Erregung rubrospinaler und kortikospinaler Neurone einen star-
ken aktivierenden Einfluss auf den Muskeltonus aus. Umgekehrt fçhrt der
Ausfall dieser Neurone zu einer verminderten Erregung dieser Neurone
mit der Folge eines reduzierten Muskeltonus. Dieser verminderte Muskel-
tonus macht sich z. B. im Armvorhalteversuch in einem Absinken des ge-
streckten Arms im Schultergelenk bemerkbar. Beim Durchbewegen von
Arm oder Bein (s.o.) setzt die Muskulatur einen verminderten Widerstand
entgegen, sodass passive Bewegungen abnorm ¹leichtª mæglich sind.
Muskeleigenreflexe
Tabelle 4.2. Klinisch wichtige Muskeleigenreflexe und beteiligte Nerven bzw. Nervenwurzeln
Muskeleigenreflex Auslæsemodus Erfolgsmuskel(n) Nerv Nervenwurzeln
z Masseterreflex Schlag auf Kinn kaudalwårts M. masseter, M. temp., Trigeminus Radix motoria
Mm. pterigoidei
z Pektoralisreflex Schlag auf vorgedehnte Sehne des M. pectoralis M. pectoralis Nn. pectorales C5 bis C8
M. E. Kornhuber
z Bizepssehnenreflex Schlag auf vorgedehnte Bizepssehne M. biceps brachii (M. brachialis) N. musculocutaneus C5, C6
z Radiusperiostreflex Schlag auf distales Radiusende (gebeugter Arm) M. brachioradialis (M. biceps, N. radialis C5, C6
M. brachialis) (N. musculocutaneus)
z Trizepssehnenreflex Schlag auf Trizepssehne bei gebeugtem Arm M. triceps brachii N. radialis C7 (C8)
z Fingerbeugereflex Schlag von volar auf Kuppe des 3. Fingers bei M. flexor dig. profundus, M. flexor N. medianus, N. ulnaris C8, Th1
(Træmner) gestreckter Hand dig. superficialis
z Bauchmuskelreflex Schlag auf vorgedehnte Bauchmuskeln çber Bauchmuskeln Nn. intercostales Th6 bis L1
Symphyse oder unter Rippenbogen
z Adduktorenreflex Schlag auf vorgedehnte Adduktorensehnen Adduktoren N. obturatorius L2 bis L4
oberhalb des Condylus med.
z Patellarsehnenreflex Schlag auf die Patellarsehne bei leicht gebeugtem M. quadriceps femoris N. femoralis L2 bis L4
Knie oder Schlag auf den oberen Patellarand nach
kaudal
z Tibialis-posterior- Schlag auf die Sehne des M. tib. post çber oder M. tibialis posterior N. tibialis (L4) L5
Reflex unter dem Innenknæchel bei leicht proniertem (M. flex. dig. longus)
Fuû
z Achillessehnenreflex Schlag auf die Achillessehne bei gebeugtem Knie M. triceps surae N. tibialis S1 bis S2
und leicht gestrecktem Fuû; alternativ Schlag auf
den Zehenballen
z Rossolimo Schlag von plantar gegen die Zehenkuppen bei Zehenbeuger N. tibialis S1 bis S2
leicht gestrecktem Fuû
4 Das motorische System z 79
z Pektoralisreflex (C5±C8). Die Finger einer Hand dehnen die Sehne des M.
pectoralis major, indem der Muskel zum Brustkorb gedrçckt wird. Der Re-
flex wird durch einen Schlag auf die Fingerrçcken ausgelæst. Es folgt eine
reflektorische Adduktion des Oberarms im Schultergelenk.
z Bizepssehnenreflex (BSR; C5±C6). Die Sehne des Bizeps wird bei måûig in
Richtung Unterbauch gebeugtem Unterarm mit dem Daumen palpiert und
in die Tiefe der fossa cubitalis gedrçckt. Dem Schlag auf den Daumenrç-
cken folgt eine Beugung des Unterarms.
z Rossolimo (S1±S2). Der Fuû wird leicht passiv gestreckt. Die Zehen erhal-
ten durch einen Schlag der Fingerkuppen von ventral her einen Streck-
impuls. Es resultiert eine reflektorische Zehenbeugung. Der Reflex ist nur
in etwa 10% physiologischerweise auslæsbar. Vermehrte Auslæsbarkeit zeigt
eine Pyramidenbahnschådigung an.
4 Das motorische System z 81
Fremdreflexe
z Physiologische Fremdreflexe
Physiologische Fremdreflexe sind z.T. Schutzreflexe. Dazu zåhlen im Hirn-
nervenbereich bzw. im vegetativen Nervensystem (siehe jeweils dort) der
Kornealreflex, die Pupillenreaktion, der Spinoziliarreflex (SCR), der vesti-
bulookulåre Reflex (VOR), der Lidschluss auf taktile (Glabellareflex, Blink-
reflex, taktiles Blinzeln), visuelle und akustische Stimuli, der Nies-, der
Wçrg- und der Hustenreflex, der Schwitzreflex, vasale Reflexe (etwa der
Karotissinusreflex) und kardiale Reflexe (z. B. der okulokardiale Reflex).
Schmunzelreflex, Saugreflex, Palmomentalreflex und Greifreflex sind ledig-
lich im Såuglingsalter physiologisch. Im Bereich des çbrigen Kærpers sind
folgende Fremdreflexe diagnostisch wichtig: Bauchhautreflexe, Kremaster-
reflex, Analreflex, Bulbocavernosusreflex und Plantarreflex. Ein Charakte-
ristikum aller physiologischen Fremdreflexe ist, dass sie schnell habituie-
ren. Das bedeutet, dass sie bei mehrfacher Auslæsung in rascher Folge erlæ-
schen. Daher sollte man, wenn die Reflexantwort und nicht das Habituati-
onsverhalten im Vordergrund steht, zwischen zwei Stimuli jeweils einige
Sekunden Zeit verstreichen lassen. Wenn es um die Frage geht, ob der Re-
4 Das motorische System z 83
z Pathologische Fremdreflexe
Pathologische Fremdreflexe oder im klinischen Jargon kurz ¹pathologische
Reflexeª sind çberwiegend Phånomene und Reflexe, die bei unvollkom-
mener Myelinisierung im Såuglingsalter physiologisch sind, mit der Ge-
hirnreifung rasch sistieren und deren Wiederauftreten daher Krankheits-
wert besitzt. Dazu zåhlen Schnauz- bzw. Schmunzelreflex, Beiûreflex,
Palmomentalreflex (Abb. 4.44), Greifreflex und die Babinski-Reflexgruppe
(Abb. 4.45). Der vermindert habituierende Glabellareflex stellt einen ent-
hemmten physiologischen Reflex dar, er wird meist gemeinsam mit den
Primitivreflexen im Gesichtsbereich angetroffen.
Die Primitivreflexe im Gesicht stellen ein pathologisches Enthemmungs-
phånomen dar, das bei allen diffus-generalisierten oder ausgedehnten mul-
tifokalen zerebralen Prozessen wirksam wird. Diese Reflexe werden regel-
måûig beobachtet nach zerebraler Hypoxie, bei Enzephalitis, Multiinfarkt-
syndrom, bihemisphårischen Hirntumoren, z. B. Schmetterlings-Glioblas-
Abb. 4.44. Palmomentalreflex. Beim Bestreichen des Hypothenars oder Thenars von der Hand-
wurzel in Richtung auf die Fingergrundgelenke kommt es im pathologischen Fall zu einer toni-
schen Abwårtsbewegung der ipsilateralen Unterlippe bzw. des Mundwinkels. Neben dem M.
mentalis sind die Mm. depressor labii inferioris und depressor anguli oris daran beteiligt. Der
Palmomentalreflex gehært zu den sog. Primitivreflexen des Gesichtsbereichs. Sie zeigen unspezi-
fisch eine diffuse zerebrale Schådigung an (zerebrale Hypoxie, neurodegenerative Erkrankungen,
vaskulåre Enzephalopathie, hirneigene Tumoren etc.) (aus Berlit 1998)
4 Das motorische System z 85
Abb. 4.45. Babinski-Reflex. a Folgt dem kråftigen Bestreichen des lateralen Fuûrandes in einem
Bogen çber den Kleinzehenballen bis zum Groûzehenballen mit einem festen Gegenstand
(Schlçssel o.å.) eine tonische Extension der Groûzehe und ggf. ein Abspreizen der çbrigen Ze-
hen, so ist der Babinski-Reflex ¹positivª und somit als Pyramidenbahnzeichen zu werten.
Flçchtige Zehenextension entspricht demgegençber i.d.R. einer sog. Fluchtreaktion und ist nicht
als pathologisch zu bewerten. b Die Groûzehenextension als Reaktion auf sensorische Stimuli
entspricht einem pathologischen Fremdreflex, der je nach Ausmaû der Pyramidenbahnschådi-
gung auch an anderen Stellen des Fuûes und auch des Unterschenkels ausgelæst werden kann.
Stellvertretend ist hier die Auslæsung nach Oppenheim durch druckvolles Bestreichen der Tibia-
kante von proximal nach distal dargestellt (aus Berlit 1998)
86 z M. E. Kornhuber
chen am Bein und an der Hand, die aber nur eine untergeordnete Bedeu-
tung haben.
Wir fçhren hier einige davon auf, weil sie neuerdings in Untersuchungs-
befunden wieder gelegentlich zu lesen sind. Am Bein: Adduktion und In-
nenrotation des Fuûes nach Bestreichen der medialen Fuûsohle (Hirsch-
berg; eher keine pathologische Bedeutung); in Rçckenlage kann der Patient
jedes Bein einzeln heben, aber nicht beide gleichzeitig ± wenn der Unter-
sucher das gesunde Bein hebt, fållt das aktiv gehaltene paretische Bein
zurçck (Grasset und Gaussel); Hçftbeugung, Kniestreckung mit Beinhe-
bung nach abruptem Valsalva-Manæver (Huntington; entspricht vermutlich
einer einschieûenden Spastik), Hçft- und Kniebeugung nach forcierter Ze-
hen- bzw. Vorfuûbeugung (Marie und Foix; entspricht einem Massenbeuge-
reflex); in Rçckenlage bei gebeugten Beinen verursacht Stimulation der
Fuûsohle Streckung des kontralateralen Beins (gekreuzter Streckreflex);
wird am gebeugten Bein der Fuû gestreckt, so folgt eine Streckreaktion.
Am Arm: Der Patient soll die Finger 2 bis 5 gegen den Widerstand des Un-
tersuchers beugen. Das Zeichen ist positiv, wenn der Daumen deutlich op-
poniert und flektiert wird (Wartenberg); Fingerbeugung nach Beugen und
abruptem Loslassen des Zeigefingerendglieds (Hoffmann); Fingerbeugung
nach Druck auf die volarseitigen Fingerkuppen (Kleist); Finger- bzw. Dau-
menstreckung nach Druck auf das Handgelenk çber dem Os pisiforme
(Gordon-Fingerzeichen); Handbeugung mit gestreckten Fingern nach Be-
streichen des distalen ulnaren Unterarms (Chaddock-Handgelenkzeichen);
Daumenflexion und -adduktion nach abruptem Strecken der gebeugten
Finger (Klippel und Weil); bei Armbeugung berçhrt der Handrçcken (und
nicht die Handflåche) die Schulter (Strçmpells Pronationszeichen); prolon-
gierte Fingerstreckung beim Versuch, den gelåhmten Arm zu heben (Sou-
ques). Eine kritische Wertung dieser und anderer echter und vermeintli-
cher Pyramidenbahnzeichen findet sich bei Hiller sowie bei Laubenthal
(1953).
Darçber hinaus gibt es den pathologischen Greifreflex (Zwangsgreifen),
der bei schwerer diffuser Hirnschådigung manifest werden kann. Berçhren
oder Bestreichen der Finger oder der volaren Handflåche in seitlicher Rich-
tung fçhren zum Greifen. Der Patient fçhrt bisweilen die Hand in alle
Richtungen, die der Untersucher vorgibt (Magnetreaktion). Das Zwangs-
greifen kann so ausgeprågt sein, dass es schwierig ist, die Finger des Pa-
tienten wieder zu æffnen.
Fokales Nachlassen des Muskeltonus fçr den Bruchteil einer Sekunde nennt
man negative Myoklonie oder Asterixis. Die Prçfung setzt eine aktive toni-
sche Muskelanspannung voraus, z. B. Armhalteversuch mit pronierten,
leicht extendierten Hånden und leicht abgespreizten Fingern. Bei geringer
Ausprågung in distalen Muskelgruppen spricht man auch von Mikroasteri-
xis. Eine deutliche Ausprågung, die die proximalen Muskelgruppen ein-
schlieût, nennt man Flçgelschlagen oder ¹flapping tremorª. Ursache sind
håufig diffuse Funktionsstærungen, z. B. hepatische Enzephalopathie oder
multiple zerebrale Metastasen. Ursache ist vermutlich die Inhibition des
Motorkortex çber Axonkollateralen von einem oder mehreren entfernten
Arealen. Erfolgt diese Inhibition im Bereich des bilateralen aufsteigenden
retikulåren Systems im Bereich des Hirnstamms, so resultiert ein generali-
sierter Tonusverlust, der bei kurzer Dauer ein kurzes Kopfnicken und Ein-
knicken im Knie zur Folge hat und bei geringfçgig långerer Dauer eine
Astasie mit Sturz bedingen kann.
90 z M. E. Kornhuber
Literatur
z Berçhrungsempfinden
Berçhrung setzt sich aus verschiedenartigen Stimuli zusammen, fçr die es
jeweils eigene Rezeptoren gibt. Bewegte Reize werden vor allem çber
schnell adaptierende Rezeptoren wahrgenommen (Meissner-Kærperchen
und Krause-Endkolben). Druck wird çber langsam adaptierende Rezep-
toren registriert (Merkel-Zellen, Ruffini-Kærperchen). Im Bereich der be-
haarten Haut tragen ferner verschieden schnell adaptierende Haarrezepto-
ren zum Berçhrungsempfinden bei. Das Berçhrungsempfinden der Haut
wird mit den Fingerkuppen oder mit einem Wattebausch untersucht.
Schleimhaut, etwa im Mundbereich, wird ebenfalls mit einem Wattetråger
untersucht. Einige Autoren bevorzugen die Untersuchung der Hautsensibili-
tåt mit den Fingern, weil der Untersucher eine unmittelbare Kontrolle çber
die Vergleichbarkeit des dargebotenen Reizes erhålt. Fçr wissenschaftliche
Zwecke werden ferner von-Frey-Reizhaare verwendet. Es wird vergleichend
untersucht zwischen den Seiten, proximal-distal, sowie zwischen Gesicht,
Rumpf, Armen und Beinen. Da die Dermatome der Nervenwurzeln und der
peripheren Nerven an den Extremitåten långs angeordnet sind, ist mindes-
tens eine zirkulåre Untersuchung in der Mitte von Ober- und Unterarm
bzw. Ober- und Unterschenkel vorzunehmen. Hånde und Fçûe werden ge-
nauer untersucht (s. o.). Am Rumpf verlaufen die Dermatome annåhernd
zirkulår, sodass die Untersuchung in kraniokaudaler Richtung sinnvoll ist.
Eine herabgesetzte Oberflåchensensibilitåt wird als Hypåsthesie bezeichnet,
eine vermehrte Oberflåchensensibilitåt als Hyperåsthesie. Nur reproduzier-
bare hyp- bzw. hyperåsthetische Areale sind diagnostisch verwertbar. Auf-
grund der çberlappenden Dermatome peripherer Nerven ist das hypåsthe-
tische Areal nach einer Nervenlåsion meist kleiner als erwartet. Aus dem
5 Das sensible System z 97
Abb. 5.3. Hautinnervation. Dermatome und Segmente (aus Lang u. Wachsmuth 1982)
98 z M. E. Kornhuber
gleichen Grund ist ein hyperåsthetisches Areal in der Regel græûer als er-
wartet. Wegen der Ûberlappung der Dermatome sind median begrenzte
Sensibilitåtsstærungen anatomisch nicht erklårbar und legen daher eine
psychogene Ursache nahe. Es gibt allerdings Fålle, bei denen es fçr eine ei-
genartig inkongruente Beteiligung von Dermatomen physiologische Erklå-
rungen gibt. Als Beispiel sei die inguinale Schmerzausstrahlung bei lumbo-
sakraler Wurzelkompression genannt. Diese geht auf die Innervation des
vorderen Teils des Foramen intervertebrale in diesem Bereich durch die
Wurzel L1 oder L2 zurçck (Morinaga et al. 1996) (Abb. 5.3).
z Vibrationsempfinden
Die Wahrnehmung der Vibration (Pallåsthesie) erfolgt çber extrem schnell
adaptierende Rezeptoren (Vater-Pacini-Kærperchen, Golgi-Mazzoni-Kærper-
chen). Das Rezeptorpotenzial wird in eine hochfrequente Abfolge afferenter
Aktionspotenziale umgesetzt. Die Generierung hochfrequenter Entladungen
ist besonders stæranfållig, sodass das Vibrationsempfinden ein recht emp-
findliches Maû fçr eine Nervenschådigung darstellt. Eine wichtige Eigen-
schaft ist ferner die Quantifizierbarkeit im ærtlichen und zeitlichen Ver-
gleich. Untersucht wird mit speziellen Aufsåtzen mit einer 8-teiligen Skala
auf den Armen der Stimmgabel. Die Stimmgabel wird z. B. an der Handflå-
che angeschlagen und mit ihrem Fuû auf einen Fingernagel oder Knochen-
vorsprung aufgesetzt. Der in Schwingung gesetzte Kærper (Knochen) çber-
trågt die Schwingung auf ein græûeres Hautareal. Die Untersuchung wird
bei geschlossenen Augen des Patienten durchgefçhrt. Zunåchst wird die
Stimmgabel an einer Stelle aufgesetzt, an der die Vibration sicher wahr-
genommen wird, also z. B. Akromion oder Clavicula, damit der Patient
weiû, worauf er zu achten hat. Die nicht in Schwingung gesetzte Stimm-
gabel wird als Referenz verwendet, um die Mitarbeit zu prçfen. Danach
werden distale Orte (Groûzehennagel, Kleinfingernagel) untersucht. Bei dis-
tal vermindertem Vibrationsempfinden sollten auch proximale Punkte, etwa
Patella, Spina iliaca anterior superior, Sakrum und Dornfortsåtze der Wir-
belkærper untersucht werden, um so den Ort der Låsion eingrenzen zu
kænnen. Da der Fuûbereich von den Wurzeln L5 und S1 versorgt wird,
muss ein reduziertes Vibrationsempfinden in diesem Bereich nicht unbe-
dingt auf eine Polyneuropathie hindeuten, selbst wenn Patella und spina
iliaca anterior superior einen normalen Befund zeigen. In diesem Fall ent-
scheidet der Befund im lumbosakralen Bereich, sofern nicht eine adipæse
Haut die Untersuchung in dieser Region beeintråchtigt. Bei Hinterstranglå-
sionen ist die Vibration unterhalb der Låsion (Dornfortsåtze) gleichblei-
bend reduziert, oberhalb normal. Die Låsion liegt, u. a. aufgrund des As-
census des Rçckenmarks, in der Regel kranial des sensiblen Niveaus.
An den Hånden sollte das Vibrationsempfinden 8/8 betragen. An den
Malleoli wçrden wir auch einen Wert von 6/8 noch als normal betrachten.
Mit zunehmendem Alter ist mit einer leichten Einbuûe an Pallåsthesie zu
rechnen. Bei fortgeschrittenen Polyneuropathien kann das Vibrationsemp-
5 Das sensible System z 99
finden so stark beeintråchtigt sein, dass mit aufgesetztem Fuû der Stimm-
gabel keine Differenzierung des Verteilungsmusters mæglich ist. In diesem
Fall låsst sich mit dem an verschiedenen Stellen auf die Haut aufgelegten
unteren Teil des schwingenden Stimmgabelarms meist eine Aussage zum
Verteilungstyp der Pallhypåsthesie machen. Auch bei Údemen oder schwe-
rer Adipositas kann man so zu einigermaûen verlåsslichen Befunden kom-
men.
z Lage-Empfinden
Propriozeptive Qualitåten, also Lage-, Kraft- und Gewichtsempfinden spie-
len eine wesentliche Rolle bei der Koordination, also bei Stand, Gang,
Unterberger-Tretversuch, Hçpfen, Fingerspiel, Finger-Nase-Versuch, Knie-
Hacke-Versuch etc. (s. Kapitel 6). Propriozeptive Wahrnehmung erfolgt vor
allem çber Muskelspindelafferenzen und Sehnenorgane. In der klinischen
Untersuchung wird das Lage-Empfinden insbesondere dann eingehend un-
tersucht, wenn die Koordinationsprçfung auffållige Befunde zeigt. In der
Regel untersucht man die Verånderung einer Gelenkstellung, z. B. am Zei-
gefinger oder am groûen Zeh. Finger oder Zeh werden seitlich zwischen
Daumen und Zeigefinger des Untersuchers gehalten. Auf diese Weise wird
die Stimulation von Druckrezeptoren im Bereich der Finger- bzw. Zehen-
kuppen vermieden. Die Bewegung nach oben bzw. unten erfolgt bei ge-
schlossenen Augen des Patienten. Der Patient soll dabei allein die Bewe-
gungsrichtung nach oben bzw. unten einschåtzen, nicht aber den Winkel-
grad. Die Lageånderung wird schrittweise reduziert. Der gesunde Proband
kann die Richtung kleinster Exkursionen richtig einschåtzen. Bei proprio-
zeptiver Deafferenzierung kann der Patient bei geschlossenen Augen nicht
mehr die Stellung von Hand und Fingern regeln. Es kommt zu charakteris-
tischen langsamen, teils athetoiden Bewegungen von Hand und Fingern.
z Schmerzwahrnehmung
Schmerz wird çber zwei unterschiedlich schnell leitende Rezeptoren wahr-
genommen: Die schwach myelinisierten Ad-Fasern leiten rascher (12±30 m/s)
und vermitteln einen gut lokalisierbaren, ¹hellenª Schmerz. Unmyelinisierte
C-Fasern leiten langsam (0,5±2 m/s) und vermitteln einen schlechter lokali-
sierbaren ¹dumpfenª Schmerz. Schmerzfasern befinden sich in allen periphe-
ren Nerven und in vegetativen Nerven. Die Untersuchung erfolgt vor allem
mit spitzen Gegenstånden (z. B. Zahnstocher). Die Haut wird an verschiede-
nen Stellen im Bereich von Gesicht, Armen, Beinen, Rumpf etc. stimuliert
und ggf. hypalgetische Areale markiert. Es kann auch ein spitzer Gegenstand
im Vergleich mit einem stumpfen getestet werden, z. B. mit einem Wattetråger
(Spitz-Stumpf-Diskrimination). Fçr wissenschaftliche Zwecke werden auch
standardisierte von-Frey-Borsten verwendet. Dermatome fçr die Algesie
çberlappen geringer als die fçr die Oberflåchensensiblitåt, sodass die Gren-
zen des betroffenen Dermatoms am besten mit einem spitzen Gegenstand
100 z M. E. Kornhuber
z Thermåsthesie
Die Testung der Kalt-Warm-Diskrimination erfolgt mit Reagenz- bzw. Pro-
bengefåûen, die mit kaltem bzw. warmem Wasser gefçllt sind. Die Tem-
peraturdifferenz sollte zwar gut zu spçren, jedoch nicht zu groû sein. Als
Grenzwerte kænnen 10 8C und 30 8C gelten. Hat man keine Reagenzglåser
zur Verfçgung, kann man die Vibrationsstimmgabel ohne Aufsåtze verwen-
den, einen Stimmgabelarm in der Faust anwårmen und dann die Arme zur
Kalt-Warm-Testung nutzen. Ferner gibt es spezielle Geråte fçr die ther-
mische Testung. Øhnlich wie die Prçfung des Schmerzempfindens spielt
die thermische Untersuchung eine groûe Rolle zum Erkennen einer dissozi-
ierten Sensibilitåtsstærung. In der Routineuntersuchung kann man sich auf
wenige Stellen im Gesicht, am Rumpf und den Extremitåten beschrånken.
Bei bestimmten Verdachtsdiagnosen wird man jedoch gezielt nach einer
dissoziierten Sensibilitåtsstærung suchen. Dazu gehæren: Wallenberg-Syn-
drom, zentromedullåre Syndrome (Syringomyelie, A.-spinalis-anterior-Syn-
drom), Brown-Sequard-Syndrom.
z Juckreiz
Juckreizempfinden kann bislang nicht im Rahmen der Routineunter-
suchung geprçft werden. Kitzeln, Juckreiz und Schmerz werden z. T. als
Kontinuum aufgefasst. Alle Intensitåten an Juckreiz und Schmerz kænnen
aber unabhångig voneinander hervorgerufen werden. Aufgrund der Bezie-
hung zur Schmerzwahrnehmung ist eine Fortleitung im Tractus spinothala-
micus anzunehmen. Juckreiz ist als Symptom neurologischer Krankheiten
eher selten, er tritt z. B. im Rahmen einer Postzosterneuropathie auf. Seg-
mentaler Juckreiz ist das Hauptsymptom der Notalgia paraesthetica, die
5 Das sensible System z 101
eine sensible Neuropathie mit Beteiligung der Rami dorsales spinaler Ner-
venwurzeln darstellt (Savk et al. 2000). Juckreiz als Hauptsymptom neuro-
logischer Erkrankungen wurde bei verschiedenen Låsionen des peripheren
und zentralen Nervensystems in Einzelfållen beschrieben. Juckreiz in der
Peripherie geht z. B. auf die Freisetzung von Histamin bzw. Serotonin zu-
rçck.
Reflexe
wird. Zur Untersuchung der Stereognosie wird dem Patienten bei geschlos-
senen Augen ein Gegenstand in die Hand gegeben, der durch Tasten er-
kannt werden soll. Geeignet sind Mçnzen, Bçroklammer, Bleistiftspitzer,
Schlçssel etc. Verlust der Diskriminationsfåhigkeit nennt man Astereogno-
sie. Bei graphåsthetischen und stereognostischen Tests ist das Zusammen-
spiel kortikaler Assoziationsgebiete fçr die Oberflåchensensibilitåt und z. B.
Zeichenerkennen bzw. råumliches Vorstellungsvermægen nætig.
Sensible Reizerscheinungen
z Schmerz. Schmerz hat fçr alle Bereiche der Medizin eine so çberragende
Bedeutung, dass ein eigener Abschnitt gerechtfertigt ist. Der ¹physiologi-
scheª Schmerz ist der Nozizeptorschmerz, etwa im Bereich einer Entzçn-
dungsreaktion oder einer mechanischen Ûberlastung (Kapseldehnung o. å.).
Diese Schmerzart zåhlt nicht zu den sensiblen Reizerscheinungen. Es han-
delt sich um meist oberflåchlich empfundene Schmerzen mit stechendem,
5 Das sensible System z 103
Abb. 5.4. Maximalpunkte der oberflåchlichen Hyperalgesie bei Erkrankung innerer Organe [nach
Head 1898 (schwarz); nach Hansen und Schliack 1962 (rot)] (aus Lang u. Wachsmuth 1982)
wie bei den vielen Spielarten von Nervenengpasssyndromen, also bei Kar-
paltunnelsyndrom (Brachialgia paraesthetica nocturna), Meralgia paraes-
thetica, Tarsaltunnelsyndrom, Sulcus-ulnaris-Syndrom, Wurzelkompression
durch Bandscheibenlåsion oder Ganglien. Nicht selten sind neuropathische
Schmerzen nach Nervenzerrung, etwa nach Hçftendoprotheseoperationen.
Attacken intensiver, krampfartiger, reiûend-bohrender Schmerzen fçr Mi-
nuten bis zu Stunden kennzeichnen die Infiltration maligner solider Tumo-
ren in periphere Nerven, z. B. in den Plexus lumbosacralis bei einem Rek-
tumkarzinom.
Neuralgiformer Schmerz ist ein Spezialfall eines neuropathischen
Schmerzes. Er tritt spontan auf oder auch triggerbar durch taktile Stimuli.
Charakteristisch sind ¹blitzartigeª, elektrisierend-stechende Schmerzen, die
meist nicht långer als fçr den Bruchteil einer Sekunde anhalten und in Sal-
ven auftreten kænnen. Typisches Beispiel ist die Trigeminusneuralgie. Ursa-
che ist die elektrische Koppelung (Ephapsen) z. B. taktiler und nozizeptiver
Afferenzen im Bereich einer fokalen Demyelinisierung. Diese liegt in der
Regel im Bereich eines abnormen Gefåû-Nerven-Kontakts oder im Bereich
einer Multiple-Sklerose-Plaque.
Ein anderer Sonderfall neuropathischer Schmerzen ist der Stumpf-
schmerz nach einer Gliedmaûenamputation. Im Bereich des durchtrennten
Nervenendes entwickelt sich ein Neurom, das Hyperåsthesie, kribbelnde
bzw. elektrisierende Dysåsthesien bzw. Paråsthesien, Hyperalgesie, Allody-
nie, Hyperpathie und auch Kausalgie verursachen kann. Ferner prådis-
poniert die Amputation zum Deafferenzierungsschmerz, z. B. in Form von
Phantomschmerzen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn bereits vor der
Amputation (chronische) Schmerzen bestanden. Es sei noch erwåhnt, dass
es nach Amputationen zu einem schmerzhaften ¹Stumpfschlagenª kommen
kann. Dies sind Myoklonien, die willkçrlich nicht zu beeinflussen sind und
zu Schmerzen fçhren, die durch das Schlagen selbst, teils aber auch durch
Stumpfschmerzen bedingt sind. Øhnliche schmerzhafte Myoklonien werden
selten auch nach komplizierten Hçftoperationen im Bereich des Oberschen-
kels beobachtet.
Der Deafferenzierungsschmerz ist gekennzeichnet durch Hypåsthesie in
Kombination mit permanentem Brennschmerz oder brennend-bohrendem
Schmerz. Oft sind auch Hyperalgesie und Allodynie vorhanden. Beweisend
fçr die zentrale Genese ist die Persistenz der Schmerzen unter Spinalanås-
thesie. Maximalvariante des Deafferenzierungsschmerzes ist die Anaesthe-
sia dolorosa, die nach Wurzelausriss aus dem Hinterhorn des Rçckenmarks
(z. B. nach einem Motorradunfall) auftritt oder auch iatrogen als Komplika-
tion der Thermokoagulation des Ganglion gasseri im Rahmen der Ultima-
ratio-Therapie der Trigeminusneuralgie.
tischen Anfalls (Dauer meist <1 Minute) sein. Sie haben håufig eine bra-
chiofaziale Betonung. Weniger håufig handelt es sich um so genannte Mi-
gråneåquivalente (Auraphånomene ohne Kopfschmerzen, Migraine sans
Migraine), die u. a. in der frçhen Schwangerschaft auftreten kænnen. Selten
sind rein sensible Attacken bei Demyelinisierungsherden (z. B. als so ge-
nannte paroxysmale Phånomene bei multipler Sklerose).
Abb. 5.6. a Las gue-Zeichen, b umgekehrtes Las gue-Zeichen (aus Berlit 1998)
Literatur
soll, langsam pendeln låsst. Dies sollte mæglichst vor einem neutralen Hin-
tergrund (z. B. weiûe Wand) geschehen, damit der Patient nicht durch an-
dere Punkte, die er fixieren kænnte, abgelenkt wird. Die langsame Blickfol-
ge ist eine hæhere Leistung, die das Zusammenspiel von okulomotorischen
und vestibulåren Hirnnervenkernen sowie Teilen des Kleinhirns erfordert.
Stærungen im Bereich dieser Zentren fçhren zu einer ¹Ataxieª der lang-
samen Blickfolge, die in Sakkaden zerfållt. Bei peripheren vestibulåren Lå-
sionen tritt Sakkadierung der Blickfolge vor allem in Richtung des Spon-
tannystagmus auf und geht gelegentlich mit Doppelbildwahrnehmung in
dieser Richtung einher. Bei zerebellåren Låsionen ist die Sakkadierung in
der Regel ungerichtet.
Unwillkçrliche rhythmische Augenbewegungen werden als Nystagmus
bezeichnet und sind in der Regel pathologisch, wobei nur manche Patien-
ten Scheinbewegungen der Umgebung (z. B. Wackeln) wahrnehmen, die
man Oszillopsien nennt. Auf die Untersuchung und Interpretation der ver-
schiedenen Nystagmusformen wurde bereits im Kapitel ¹Hirnnervenª ein-
gegangen, insbesondere auf einen durch eine periphere Labyrinthlåsion be-
dingten Nystagmus. Durch zentrale Låsionen bedingte Nystagmen kænnen
sehr vielgestaltig sein. Ein horizontaler Nystagmus tritt bei Låsionen in
den Vestibulariskerngebieten oder den benachbarten Blickzentren fçr hori-
zontale Augenbewegungen auf (Ncl. praepositus hypoglossi). Ein vertikaler
Nystagmus mit rascher Komponente nach unten (Downbeat-Nystagmus) ist
ein Hinweis auf eine paramediane bilaterale pontomedullåre Låsion oder ei-
ne bilaterale Låsion des Kleinhirnflokkulus. Schlågt er nach oben (Upbeat-
Nystagmus), so weist dies auf eine mediane Låsion in der Brçckenhaube
oder der kaudalen Medulla oblongata hin. Es kann auch ein Auge aufwårts
und das andere Auge abwårts schlagen mit zusåtzlicher Rotation (Schaukel-
nystagmus, Seesaw-Nystagmus), dies kann u. a. Symptom einer posterolate-
ralen Thalamuslåsion sein.
Myoklonien (siehe Kapitel 4) kænnen auch die Augenmuskeln betreffen
und werden dann als Opsoklonien bezeichnet, bei denen man unregelmåûi-
ge Bewegungen der Bulbi in verschiedene Richtungen beobachtet und die
der Patient auch als Oszillopsien wahrnehmen kann.
Durch das Nachsprechen von sog. ¹Zungenbrechernª kann eine nicht of-
fensichtliche Dysarthrie erkannt werden, z. B.: ¹liebe Lilli Lehmannª oder
¹dritte reitende Artilleriebrigadeª.
z Test der Fingerfeinmotorik. Der Patient soll mit dem Daumen nacheinan-
der die anderen Finger berçhren oder er soll wiederholt rasch Zeigefinger
und Daumen zusammenfçhren (Finger-Tapping). Interpretation: Eine Fein-
motorikstærung findet sich sowohl bei Pyramidenbahnlåsionen als auch
bei extrapyramidalen Låsionen oder bei Hinterstranglåsionen.
z Gangprçfungen. Zuerst wird der normale Gang ohne Schuhe geprçft. Da-
bei wird auf Folgendes geachtet: Fallneigung, Schrittlånge und Schrittregel-
måûigkeit, Beinfçhrung (schmal oder breitbasig) sowie Mitschwingen bei-
der Arme (vermindertes Mitschwingen kann nicht nur auf eine Låhmung,
sondern auch auf ein akinetisch-rigides Syndrom hinweisen). Bei einer ze-
rebellåren Gangataxie geht der Patient unsicher und breitbasig, leicht nach
vorne gebeugt mit unregelmåûiger Schrittfolge. Schwierigkeiten beim Um-
wenden kænnen auf ein Parkinson-Syndrom hinweisen (normalerweise
kann mit drei Schritten um 1808 gewendet werden), ebenso eine Starthem-
mung, die durch das Vorhalten eines Stockes, çber den der Patient steigen
muss, çberwunden werden kann. Ein ångstlich schlurfender Gang mit Kle-
ben der Fçûe am Boden kann durch Frontalhirnlåsionen bedingt sein. Dis-
krete Gangstærungen werden durch erschwerte Gangprçfungen erkannt wie
z. B. Blindgang und Seiltånzergang (d. h. Strichgang ± einen Fuû vor den
anderen setzen) oder durch Hçpfen auf einem Bein. Schwere Koordinati-
onsstærungen kænnen bis zur Gangunfåhigkeit (Abasie) fçhren, auch wenn
keine Paresen bestehen.
z Radfahren in der Luft. Der Patient fçhrt im Liegen in der Luft Bewegun-
gen wie beim Radfahren aus. Die Bewegungen mçssen flçssig sein und
decken im pathologischen Fall eine Asynergie auf.
Zunåchst wird beurteilt, ob der Patient frei sitzen kann und dabei nicht
schwankt oder ob eine Rumpfataxie besteht. Anschlieûend wird das Stehen
beurteilt, wenn mæglich fçhrt der Patient den oben beschriebenen Rom-
berg-Stehversuch aus. Eine Stehunfåhigkeit wird als Astasie bezeichnet.
Spezielle Symptome
Ataxie, Asynergie und Dysmetrie sind die drei Hauptsymptome bei Klein-
hirnlåsionen. Von einer Ataxie spricht man, wenn Zielbewegungen nicht
geradlinig ausgefçhrt werden bzw. wenn eine Haltung nur verwackelt ein-
gehalten werden kann. Als Asynergie wird eine Stærung des Zusammen-
spiels antagonistischer Muskelgruppen bezeichnet, welches fçr Diadochoki-
nese und Feinmotorik wichtig ist. Unter einer Dysmetrie versteht man das
Verfehlen des Ziels bei gerichteter Bewegung. Kleinhirnlåsionen manifestie-
ren sich wegen der ungekreuzten Verbindungen mit dem Rçckenmark ipsi-
lateral. Ûber die drei beschriebenen Symptome hinaus kann bei einseitigen
Kleinhirnerkrankungen ein ipsilateral reduzierter Muskeltonus auffallen.
Kleinhirnsymptome zeigen sich nicht nur bei Schådigung des Kleinhirns
selbst, sondern auch bei Schådigung der afferenten und efferenten Bahnen
im Hirnstamm, sodass immer auf zusåtzliche Hirnstammzeichen geachtet
werden sollte. Eine zerebellåre Ataxie kann sich als Sprech-, Rumpf-,
Stand-, Gang- oder Extremitåtenataxie zeigen, abhångig davon, welche An-
teile des Kleinhirns bevorzugt betroffen sind.
Das Archizerebellum, wegen seiner Verbindung zum Vestibularorgan auch
Vestibulozerebellum genannt, besteht aus dem Lobulus flocculonodularis und
reguliert die Rumpfmotorik. Bei Stærungen des Archizerebellums findet sich
daher eine Rumpf- und Standataxie, jedoch keine Extremitåtenataxie.
Das Palåozerebellum, wegen seiner Verbindungen zum Rçckenmark auch
Spinozerebellum genannt, besteht aus dem Oberwurm und dem anterioren
Teil der Kleinhirnhemisphåren und reguliert besonders die Position der
Extremitåten. Bei Stærungen des Palåozerebellums steht eine Stand- und
Gangataxie im Vordergrund.
Das Neozerebellum, wegen seiner Verbindungen zum Groûhirn çber die
Brçcke auch Pontozerebellum genannt, besteht aus dem Rest der Kleinhirn-
hemisphåren und reguliert rasche Extremitåten- und Augenbewegungen.
Bei Stærungen des Neozerebellums findet man eine Extremitåtenataxie mit
deutlicher Dysmetrie.
Neben einer zerebellåren Ataxie gibt es eine spinale Ataxie, die durch ei-
ne Stærung der Tiefensensibilitåt bedingt ist und auch sensible Ataxie ge-
nannt werden kann. Selten findet man eine durch eine Frontalhirnschådi-
gung bedingte Ataxie, die sich meist als Gangataxie zeigt und auch als
Gangapraxie bezeichnet wird.
Stærungen der Basalganglien fçhren zu Bewegungsstærungen, die entwe-
der zu unwillkçrlichen çberschieûenden Bewegungen fçhren, die als Hyper-
kinesien bezeichnet werden, oder zu Minderbewegungen, die als Hypokine-
sien bezeichnet werden. Hyperkinesien kænnen sich sehr unterschiedlich
pråsentieren. Man unterscheidet verschiedene Symptome, die nachfolgend
beschrieben werden.
Eine håufige Hyperkinesie ist der Tremor, der sich durch unwillkçrliche
rhythmische oszillierende Bewegungen auszeichnet. Man unterscheidet zwi-
116 z M. Deschauer
sen und æffnen unwillkçrlich den Mund oder sind unfåhig ihn zu æffnen.
Nicht selten sind weitere Muskelgruppen einbezogen, etwa Zunge oder
Stimmlippen (spasmodische Dysphonie).
Unter aktionsinduzierten Dystonien (Beschåftigungskråmpfen) versteht
man Dystonien, die nur bei bestimmten komplexen erlernten Tåtigkeiten
auftreten. Am bekanntesten ist der Schreibkrampf. Andere spezielle Dys-
tonieformen findet man bei Musikern (z. B. Pianisten) und bei Sportlern
(z. B. Golfern).
Nach dem Verteilungsmuster kann man zwischen fokaler (nur eine
Kærperregion betroffen, z. B. Blepharospasmus), segmentaler (mehrere be-
nachbarte Kæperregionen betroffen, z. B. zervikale Dystonie), multifokaler
(mehrere nicht benachbarte Kærperregionen betroffen), halbseitiger und
generalisierter Dystonie unterscheiden.
6 Koordination z 119
Weiterfçhrende Literatur
Als hæhere Hirnleistungen werden Funktionen bezeichnet, die çber die pri-
måre Motorik, die Sensibilitåt und die Funktion der Hirnnerven hinaus-
gehen. Sie umfassen die Orientierung, die Aufmerksamkeit und Wahrneh-
mung, das Gedåchtnis, die Sprache, Rechnen, Lesen und Schreiben. Sie
werden auch als neuropsychologische Leistungen bezeichnet. Eindeutig
psychische Funktionen wie z. B. Affekt gehæren nicht dazu.
Im Folgenden werden im Wesentlichen einfache, das heiût wåhrend einer
klinischen Untersuchung durchfçhrbare Untersuchungen beschrieben. Die
zu untersuchenden Stærungen bzw. Funktionen werden kurz erlåutert, zur
eingehenderen Lektçre sei auf die ausfçhrlichen Monographien verwiesen
(Hartje u. Poeck 2002, Goldenberg 1998). Skalen und Scores findet man in
der Monographie von Masur (1995).
Orientierung
Wir unterscheiden die Orientierung zur Person, zum Ort, zur Zeit und zur
(aktuellen) Situation.
z Fragen Sie den Patienten nach seinem Vor- und Zunamen, seinem Ge-
burtsdatum und nach seiner Adresse.
z Fragen Sie den Patienten wo er (bzw. er und sie) sich im Moment befindet.
z Fragen Sie nach dem Jahr, dem Monat und dem Wochentag bzw. dem
aktuellen Datum. Cave: Wer keine aktuelle Information durch Kalender,
Zeitung oder Nachrichten hat (z. B. weil er bewusstlos ins Krankenhaus
eingeliefert wurde), kann oft das korrekte Datum nicht nennen. Dies ist
daher nichts Abnormales. Jahr und Monat oder Jahreszeit mçssen aber
benannt werden kænnen.
z Fragen Sie den Patienten, was ihm fehlt, was gerade mit ihm gemacht
werden soll (warum er bei Ihnen ist).
122 z G. Leonhardt
Aufmerksamkeit
Gedåchtnis
z Arbeitsgedåchtnis (Kurzzeitgedåchtnis)
z Sprechen Sie Zahlenreihen vor und lassen Sie diese wiederholen. Die
¹Zahlenspanneª entspricht der Anzahl der Ziffern, die zweimal korrekt
wiedergegeben werden:
653 ± 948 ± 8517 ± 5346 ± 69437 etc.
z Lassen Sie den Patienten die drei folgenden Wærter so lange wiederholen,
bis alle korrekt wiedergegeben werden: ¹Hundª ± ¹Apfelª ± ¹Schokoladeª.
z Langzeitgedåchtnis
z Prçfen Sie, wie viele der drei Wærter, die der Patient bei der Prçfung
des Arbeitsgedåchtnis gelernt hat, er nach ca. 30 min noch reproduzie-
ren kann.
7 Die Untersuchung der hæheren Hirnleistungen z 123
z Altgedåchtnis
z Fragen zur Ausgestaltung des letzten Geburtstages, aktueller politischer
oder sportlicher Ereignisse etc. (= episodisches Gedåchtnis).
z Fragen zu Schulwissen, allgemeiner Bildung (¹Wer ist der Bundeskanz-
ler? Wie heiût die Hauptstadt von .....ª) (semantisches Gedåchtnis).
Sprachstærungen
die Sprachzentren nicht als isolierte Module arbeiten, sondern als Netzwer-
ke miteinander verbunden sind, ist es oft nicht mæglich, aufgrund des
Typs der Aphasie auf die genaue Lokalisation der Låsion zu schlieûen und
umgekehrt. Mit einiger Zurçckhaltung låsst sich sagen, dass Schådigungen
des frontalen Sprachfeldes (Broca-Areal) zu einer Aphasie mit deutlich ver-
minderter Sprachproduktion und -flçssigkeit, aber erhaltenem Sprachver-
ståndnis fçhren. Demgegençber bleibt die Sprachproduktion bei Schådi-
gungen des temporalen Sprachfeldes (Wernicke-Areal) oft gut erhalten.
P. Broca und C. Wernicke waren unter den Ersten, die bestimmte Typen
von Sprachstærungen beschrieben und bei den Patienten neuropathologi-
sche Schådigungen in den nach ihnen benannten Gebieten beobachteten.
Aphasien werden in verschiedene Typen eingeteilt. Im deutschsprachigen
Raum hat sich folgende Einteilung durchgesetzt.
z Globale Aphasie. Die Patienten sind nicht mehr in der Lage, sich differen-
ziert sprachlich zu åuûern. Die Spontansprache ist fast vollståndig erlo-
schen, gelegentlich werden noch Sprachautomatismen oder ein unverstånd-
licher Jargon geåuûert. Das Sprachverståndnis ist so stark beeintråchtigt,
dass die Patienten auch einfache verbale Aufforderungen nicht verstehen.
Bei dem Versuch der Einteilung darf nicht vergessen werden, dass sich die
typischen Syndrome oft erst nach bis zu sechs Monaten herausbilden und
sich das klinische Bild bis dahin noch åndern kann. Zur ausfçhrlichen
Darstellung der Aphasien sei auf die entsprechenden Monographien ver-
wiesen (Hartje u. Poeck 2002, Goldenberg 1998).
Bei der klinischen Untersuchung werden die folgenden Leistungen
geprçft.
7 Die Untersuchung der hæheren Hirnleistungen z 125
Spontansprache
z Stellen Sie eine offene Frage: ¹wie hat es mit Ihrer Krankheit angefan-
gen?ª. Achten Sie auf Flçssigkeit der Sprache, Wortfindungsstærungen,
Paraphasien, Grammatik und Artikulation.
Sprachverståndnis
z Geben Sie Aufforderungen: ¹Nehmen Sie ein Blatt Papier in die rechte
Handª, ¹falten Sie es in der Mitteª, ¹legen Sie es auf den Bodenª.
Nachsprechen
z Lassen Sie nachsprechen: ¹Ich bin im Krankenhausª, ¹heute ist [Wochen-
tag] [Datum]ª, ¹ohne Wenn und Aberª.
Benennen
z Zeigen Sie dem Patienten drei bis vier Gegenstånde des Alltagslebens
(Schlçsselbund, Taschentuch, Geldbærse, Brille) und lassen Sie ihn diese
benennen.
Lesen
z Der Patient soll einen Artikel aus der Tageszeitung oder einer Illustrier-
ten vorlesen. Fçnf bis sechs Såtze gençgen. Achten Sie auf die Flçssig-
keit, die Intonation und auf Paraphasien. Der Patient soll anschlieûend
den Inhalt des Gelesenen zusammenfassen.
Schreiben
z Lassen Sie den Patienten einen Satz seiner Wahl schreiben. Der Satz gilt
als korrekt, wenn er sinnvoll ist und Subjekt und Verb hat.
z Diktieren Sie einen Satz, der einen Nebensatz hat (z. B. ¹Die alten Leute
hatte man, um sie zu ehren, an einen Tisch gesetzt.ª)
Apraxie
Der Begriff Apraxie beschreibt Stærungen, die das willentliche Ausfçhren von
Bewegungen oder das zweckmåûige Benutzen von Gegenstånden betrifft.
Man kann die Apraxien in Gliedmaûenapraxien einerseits und bukkofaziale
Apraxien (Gesichtsapraxien) andererseits einteilen. Andere Untersucher un-
terscheiden zwischen den ideomotorischen Apraxien, die den Gebrauch der
Gliedmaûen bei imitierten oder willkçrlichen Bewegungen stæren, und den
selteneren ideatorischen Apraxien, die den sinnvollen Gebrauch von Werk-
zeugen des Alltags (z. B. Besteck) beschreiben. Dabei wird die Stærung der
Gesichtsmuskulatur bei den ideomotorischen Formen eingereiht. Eine Apra-
xie darf nur diagnostiziert werden, wenn der Patient nicht wegen einer Parese
die Bewegung nicht ausfçhren kann und wenn der Patient nicht durch eine
Aphasie daran gehindert wird zu verstehen, was von ihm erwartet wird.
Apraxien werden in der Regel durch Hirnlåsionen der dominanten He-
misphåre verursacht und betreffen beide Kærperseiten. Bedingt durch die
Lokalisation treten sie håufig zusammen mit einer Aphasie auf, allerdings
gibt es auch Fålle von Apraxie ohne Aphasie (selten) und von Aphasie
ohne Apraxie (håufiger).
Vor allem die ideatorische Apraxie fçhrt zu sozialen Beeintråchtigungen,
wenn z. B. ein Patient nach einem Schlaganfall und gut rçckgebildeter Pare-
se nicht in der Lage ist, sich ein Frçhstçcksbrætchen zuzubereiten. Die
bukkofaziale Apraxie kann zu Stærungen des Essens und Trinkens fçhren.
z Untersuchungsgang
Ideomotorische und bukkofaziale Apraxie
z Es werden bedeutungsvolle (¹Gestikª) und bedeutungslose Bewegungen
geprçft. Die Patienten sollen diese a) auf verbale Aufforderung hin aus-
fçhren und b) nach Vorgabe imitieren.
Gesicht:
¹Rçmpfen Sie die Naseª
¹Fletschen Sie die Zåhneª
¹Råuspern Sie sichª
¹Spitzen Sie den Mundª
Gliedmaûen:
¹Tun Sie, als ob Sie einen Schnaps trinkenª
¹Winken Sieª
¹Drohen Sie mit der Handª
¹Legen Sie den Handrçcken an die Stirnª
Es sollen ca. 10 Aufgaben pro Gebiet mit und ohne Bedeutung produziert
bzw. imitiert werden. Typische ¹Fehlerª wie sie bei einer Apraxie vorkom-
men, sind
7 Die Untersuchung der hæheren Hirnleistungen z 127
Ideatorische Apraxie
z Der Patient bekommt eine komplexe Aufgabe und soll diese mit den ent-
sprechenden Gegenstånden auch ausfçhren, z. B. einen Brief falten, in ei-
nen Umschlag stecken, den Umschlag zukleben und mit einer Briefmar-
ke frankieren.
Neglect
Beispiele:
z Motorischer Neglect
¹Heben Sie den rechten Armª: Patient hebt den rechten Arm an.
¹Heben Sie den linken Armª: Patient hebt den linken Arm an.
¹Heben Sie beide Armeª Patient hebt nur den rechten Arm an.
z Sensibler Neglect
Sie berçhren den rechten Arm, der Patient beståtigt dies.
Sie berçhren den linken Arm, der Patient beståtigt dies.
Sie berçhren beide Arme, der Patient gibt an, Sie wçrden ihn auf der rech-
ten Seite berçhren (Extinktion).
z Visueller Neglect
Bei Stimulation im rechten und linken Gesichtsfeld erkennt dies der Pa-
tient, bei simultaner Stimulation nur im rechten Gesichtsfeld.
Man kann einen visuellen Neglect auch sehr eindrucksvoll durch Nach-
zeichnen einer Vorlage demonstrieren, auf der betroffenen Seite fehlen
(fast) alle Details, z. B. einer Blume.
Der Neglect betrifft auch die Vorstellung, die wir uns von unserer Umwelt
machen. Wenn man Patienten bittet, sich einen Raum vorzustellen und da-
von zu berichten oder diesen aufzuzeichnen, fehlt in der Schilderung oder
der Zeichnung die linke Seite dieses Raumes.
Patienten mit Neglect haben auch eine verånderte Wahrnehmung der
Kærperhaltung im Raum und der eigenen Kærpermitte. Dies kann u. a. zu
dem in der Akutphase eines Schlaganfalls auftretenden ¹Pushenª fçhren.
Der Patient drçckt sich mit der gesunden auf die betroffene Kærperseite
hinçber und sitzt daher vællig schief im Stuhl oder kann nicht frei sitzen.
Wenn man den Patienten die Mæglichkeit gibt, sich in einem frei drehbaren
und schwenkbaren Stuhl so zu positionieren, dass sie subjektiv eine gerade
Haltung einnehmen, drehen und kippen die betroffenen Patienten den
Stuhl um ca. 158 in Richtung der betroffenen Seite.
Demenz
z Orientierung
z Prçfen Sie die Orientierung, wie bei ¹Stærung der Orientierungª beschrie-
ben.
z Gedåchtnis
z Langzeit-(Alt-)gedåchtnis. Fragen Sie den Patienten nach seiner Heirat,
den Namen und den Geburtstagen der Kinder, dem Mådchennamen der
Mutter. Sinnvoll ist es auch, den Patienten nach politisch wichtigen Per-
sonen und Ereignissen seiner frçhen Erwachsenenzeit (20. bis 40. Le-
bensjahr) zu fragen.
z Kurzzeitgedåchtnis. Fragen Sie nach anderen Krankheiten in der letzten
Zeit, ob der Patient Ihren Namen behalten hat, welche Untersuchungen
schon durchgefçhrt wurden.
z Arbeitsgedåchtnis. Nennen Sie eine Serie von drei bis acht einstelligen
Zahlen, die der Patient direkt im Anschluss daran rçckwårts wiederholen
muss.
z Merkfåhigkeit. Nennen Sie dem Patienten vier Begriffe, die sowohl konkre-
te als auch abstrakte Inhalte haben (¹Auto, Liebe, Schokolade, Wolkeª), die
er sich einprågen soll. Prçfen Sie, ob der Patient, nachdem er durch andere
Tåtigkeiten abgelenkt wurde, sich noch an diese Begriffe erinnern kann.
z Sprachvermægen
Bitten Sie den Patienten, so viele Begriffe zu einer Kategorie (Tiere, Obst-
sorten, Automarken etc.) zu nennen, wie ihm in den Sinn kommen. Auch
ein ålterer gesunder Mensch sollte auf ca. 12 Begriffe kommen.
z Rechenleistungen
Lassen Sie einfache Aufgaben der Grundrechenarten durchfçhren. Bei der
Aufgabe, jeweils fortlaufend 3 oder 7 von 100 abzuziehen, wird gleichzeitig
die Konzentration getestet.
z Visuokonstruktive Fåhigkeiten
Lassen Sie den Patienten eine Uhr zeichnen, bei der die Zeiger auf 22.10
Uhr stehen. Weitere Aufgaben kænnen das Anfertigen einer Karte von
Deutschland mit der Hauptstadt oder der Wohnung des Patienten sein
(allerdings låsst sich dies vom Untersucher nicht so gut kontrollieren).
z Abstraktionsvermægen
Prçfen Sie, ob der Patient Øhnlichkeiten und Gemeinsamkeiten von Be-
griffspaaren (¹Orange ± Apfel, Hund ± Pferd, Zeitung ± Radioª) erklåren
kann. Lassen Sie den Patienten die Bedeutung eines Sprichworts erklåren.
7 Die Untersuchung der hæheren Hirnleistungen z 131
Bei der neurologischen Untersuchung ist vor allem auf die so genannten
¹Primitivreflexeª wie pathologisches Greifen, enthemmter Palmoplantarre-
flex oder Schnauzreflex (s. Kap. ¹Hirnnervenª) zu achten.
Um den Patienten zu einer guten Mitarbeit zu bewegen, empfiehlt es
sich, çber die Art der Fragen aufzuklåren. Unvorbereitet empfinden einige
Patienten die o. a. Fragen als herabsetzend oder verletzend. Auch muss
dem Patienten erklårt werden, dass nicht eine psychische Krankheit diag-
nostiziert werden soll, sondern dass die gestellten Fragen geeignet sind,
Aspekte von Gedåchtnis und Merkfåhigkeit zu prçfen, die dem Patienten
von sich aus nicht zugånglich sind.
Die so genannten Demenztests haben den Vorteil, dass sie einfach und
in kurzer Zeit durchfçhrbar sind. Der Nachteil dieser Verfahren ist jedoch
die schlechte Validierung und die geringe Sensitivitåt und Spezifitåt. Gera-
de beim bekanntesten dieser Tests, der Mini Mental Status Examination
(MMS), kann man sagen, dass er bestenfalls das abbildet, was eine ausfçhr-
liche Erhebung der Fremdanamnese und eine gute klinische Untersuchung
am Krankenbett schon gefunden haben. Diese Demenztests sind nicht in
der Lage, die Stærung in einer frçhen, noch wenig symptomatischen Phase
zu erkennen und sie sind ebenfalls nicht in der Lage, die verschiedenen Ty-
pen einer Demenz voneinander zu differenzieren. Hierzu sind neuropsy-
chologische Leistungstests erforderlich, die gezielt die einzelnen Leistungen
prçfen (visuokonstruktive Fåhigkeiten, Aufmerksamkeit, Merkfåhigkeit,
Sprache, logisches Denken). Dies erfordert geschulte Untersucher und wird
heute vorwiegend von in Neuropsychologie spezialisierten Psychologen,
Psychiatern oder Neurologen geleistet. Hierzu sei auf die einschlågigen
Werke der Testpsychologie verwiesen.
Weiterfçhrende Literatur
z Schmerz
Schmerz im Bereich von Rçcken und Wirbelsåule ist ein håufiges Symp-
tom, das detailliert exploriert und klinisch untersucht werden muss, um ei-
ne korrekte diagnostische Zuordnung zu ermæglichen.
Nach umschriebenen oder diffusen Druck- und Klopfschmerzen wird ge-
sucht durch Beklopfen der Dornfortsåtze (z. B. lokaler entzçndlicher oder
neoplastischer Prozess, Fraktur) und Palpation der paravertebralen Musku-
latur (z. B. lokalisierte Myogelosen, groûflåchiger Muskelhartspann).
Kennzeichnend fçr Erkrankungen der unteren Wirbelsåule ist die Lumb-
algie, die von Bewegungseinschrånkung und Fehlhaltung begleitet sein
kann. Informationen çber Schmerzcharakter, Lokalisation und modifizie-
rende Faktoren der Lumbalgie erlauben artdiagnostische Rçckschlçsse.
Ein radikulårer Schmerz strahlt regelmåûig von einem zentralen wirbel-
såulennahen Punkt nach distal, d. h. in das Versorgungsgebiet der betroffe-
nen Wurzel, aus. Ursåchlicher Mechanismus ist eine Affektion der Nerven-
wurzel, z. B. infolge von Irritation oder Kompression innerhalb oder zentral
des Foramen intervertebrale. Husten, Niesen und Pressen sowie Dehnung
(meistens bei Reklination der Wirbelsåule) verstårken den Schmerz. Neuro-
logische Symptome wie Sensibilitåtsstærung, Reflexabschwåchung und Pa-
resen sind keineswegs obligat.
Charakteristisch fçr eine Claudicatio intermittens spinalis aufgrund ei-
ner lumbalen Spinalkanalstenose sind durch långeres Gehen (besonders
Bergabgehen) oder Stehen provozierte, zumeist in den dorsalen Oberschen-
keln und Waden lokalisierte krampfartige Schmerzen. Begleitend treten
passagere sensomotorische Defizite in den betroffenen Wurzelarealen auf.
Entlastende Bewegungen mit Verminderung der Lendenlordose (z. B. Hin-
setzen) lassen die Symptome remittieren.
Pseudoradikulåre Schmerzen kænnen typischerweise nicht einem anato-
misch definierten segmentalen Versorgungsgebiet zugeordnet werden. Aus
dem Lendenwirbelsåulenbereich fortgeleitete Schmerzen projizieren sich in
der Regel nicht distal der Kniegelenke und weisen keine objektivierbaren
neurologischen Defizite auf.
Håufige Differenzialdiagnosen eines pseudoradikulåren Schmerzsyn-
droms sind (degenerative) Prozesse der Iliosakralgelenke und der Gelenkfa-
cetten der kleinen Wirbelgelenke. Dem Iliosakralgelenksyndrom liegen Blo-
ckierungen und Arthrosen der Iliosakralgelenke und anderer Strukturen
der lumbosakralen Wirbelsåule zugrunde. Die Schmerzen werden sowohl
lokal im Bereich von Gesåû und Sakrum als auch in der Kreuzgegend und
in der dorsolateralen Oberschenkelregion angegeben. Auslæsende Mecha-
nismen sind das Aufrichten aus dem Bçcken und das Heben von Lasten.
Diagnostisch hilfreich ist die Anwendung des Mennell-Manævers, wobei der
8 Das muskuloskelettale System z 135
Patient auf der gesunden Seite liegend das eigene Knie umfasst (Hçfte ge-
beugt), der Untersucher das gestreckte Bein der betroffenen Seite stark ret-
roflektiert und dadurch einen lokalen Schmerz provoziert.
Irritationen freier Nervenendigungen an Periost, Synovia und Kapsel der
Intervertebralgelenke durch arthrotische Verånderungen bedingen das so
genannte Facettensyndrom mit einem oft paravertebralen, diffusen, in der
Tiefe empfundenen Schmerz von zumeist brennend-stechender Qualitåt.
Prinzipiell kann jeder Abschnitt der Wirbelsåule betroffen sein. Die
Schmerzen kænnen unabhångig von radikulåren Innervationsgebieten aus-
strahlen und durch Fehlbewegungen einschieûend verstårkt werden. Ûber
den betroffenen Segmenten lassen sich Klopfschmerzen und Blockierungen
nachweisen.
Der Spondylolisthesis liegt ein knæcherner Defekt der Pars interarticula-
ris ± zumeist Gleiten des LWK 5 gegençber SWK 1 ± zugrunde. Die
Stærung verlåuft in den meisten Fållen asymptomatisch, kann aber ± vor
allem nach långerem Sitzen oder Tragen von Lasten ± Ursache von Lumbal-
gien mit Ausstrahlung in die Oberschenkel sein. Palpatorisch findet sich
gelegentlich eine Stufe zwischen den Dornfortsåtzen; nur in schweren Fål-
len treten objektivierbare neurologische Defizite auf.
Gemeinsame Merkmale der Insertionstendopathien sind der lokalisierte
Schmerz am Sehnenansatz/-ursprung, verbunden mit dem Nachweis eines
umschriebenen Druckpunktes und anamnestisch eruierbarer Ûber- und
Fehlbelastung, z. B. durch sportliche Aktivitåt. Am håufigsten findet sich
die Insertionstendopathie des Ellenbogens, die Epicondylitis humeri latera-
lis (sog. Tennisellenbogen). Betroffen sind die langen Hand- und Finger-
strecker mit der Folge, dass die Extension der Hand und der Finger den
lokalen Druckschmerz verstårken.
Chronische Leistenschmerzen, insbesondere bei Fuûballspielern, aber
auch bei Fechtern, Tennisspielern und Schwimmern, kænnen Folge einer
Adduktorentendinose sein. Die Beschwerden werden durch rezidivierende
Mikrotraumen am Ansatz der Adduktorenmuskulatur verursacht.
Generalisierte bzw. polytope Schmerzen des gesamten Bewegungsappa-
rates, die von den Patienten als Myalgien und Arthralgien geschildert wer-
den, charakterisieren das Fibromyalgie-Syndrom (¹generalisierte Tendomyo-
pathieª). Die Diagnose erfordert den Nachweis von definierten Haupt-
schmerzpunkten, die periartikulår im Bereich der Sehnenansåtze lokalisiert
sind und eine intensive Druckdolenz zeigen. Die fçr die Diagnosestellung
geforderten Schmerzpunkte liegen u.a. in der Mitte des åuûeren oberen
Quadranten der Glutåalregion, in der distalen Region des Epicondylus hu-
meri lateralis, an den Ansåtzen der subokzipitalen Muskulatur und an der
Knorpel-Knochen-Grenze der 2. Rippe. Darçber hinaus finden sich auto-
nome Funktionsstærungen (Obstipation, Kreislaufdysregulation, kalte
Akren, Sicca-Symptomatik von Mund und Augen u. a.), Schlafstærungen
und psychische Verånderungen (v. a. depressive Stærungen).
Die Sehne des M. supraspinatus bildet den kranialen Anteil der Rotato-
renmanschette. Typisch fçr das Supraspinatus-Syndrom ist ein intensiver
136 z V. Hackel
z Kontrakturen
Zu einer mehr oder weniger stark ausgeprågten Bewegungseinschrånkung
fçhren muskulåre Kontrakturen infolge eines zumeist degenerativ bedingten
Parenchymumbaus mit fixierter Muskelverkçrzung. In der Mehrzahl der
Erkrankungen handelt es sich um genetisch determinierte Syndrome, deren
Manifestationsalter von kongenital bis in das Erwachsenenalter reichen
kann.
Definitionsgemåû weisen Patienten mit Arthrogryposis-Syndromen (Ar-
throgryposis multiplex congenita) bereits zum Zeitpunkt der Geburt nicht
progrediente Kontrakturen von zwei oder mehr Gelenken auf. Oft sind alle
vier Extremitåten symmetrisch und mit distalem Schwerpunkt (Ellbogen >
Knie > Fuû > Hçfte > Hand > Schulter) betroffen. Der Verteilungstyp, das
Vorliegen zusåtzlicher somatischer Stigmata (z. B. Skelettanomalien, Haut-
verånderungen, renale, kardiale und pulmonale Stærungen), der Ort des
Gendefekts bzw. das mutierte Genprodukt erlauben eine subtile Klassifika-
tion.
Gemeinsames funktionelles Korrelat ist immer eine fetal einsetzende Im-
mobilisation mit konsekutiver Gelenkversteifung, die auf åtiologisch unein-
heitlichen Stærungen basiert. So kænnen Arthrogryposis-Syndrome mit Er-
krankungen des Gehirns (z. B. Lissenzephalie, Corpus-callosum-Agenesie),
des Rçckenmarks (z. B. Meningozele), der Vorderhornzellen (z. B. spinale
Muskelatrophie) und des peripheren Nervs (z. B. Hypomyelinisierung), aber
auch mit primåren Muskelerkrankungen (z. B. Myasthenia gravis, kongeni-
tale Muskeldystrophien, Mitochondriopathien) assoziiert sein. Darçber hi-
8 Das muskuloskelettale System z 137
Literatur
Das autonome bzw. vegetative Nervensystem hat die Aufgabe, das innere
Milieu des Kærpers zu regulieren und die viszeralen und homæostatischen
Funktionen an die wechselnden Umweltbedingungen anzupassen. Es unter-
liegt nicht der willkçrlichen Steuerung. Somatisches (zentrales und peri-
pheres) Nervensystem und vegetatives Nervensystem sind untrennbar mit-
einander verflochten; sie verhalten sich komplementår.
Das autonome Nervensystem besteht aus einem zentralen und einem pe-
ripheren Anteil. Im Gegensatz zum somatischen System, wo die Verbin-
dung zwischen dem zentralen Nervensystem und dem Zielorgan durch ein
einziges Motoneuron realisiert wird, gibt es im autonomen Nervensystem
fçr den efferenten Weg immer mindestens zwei Neurone. Das erste (prå-
ganglionåre) Neuron geht aus einem Kern in Hirnstamm oder Rçckenmark
hervor, das zweite (postganglionåre) Neuron stellt die Verbindung zwischen
spezialisierten peripheren Ganglienzellen und dem Erfolgsorgan her.
Der Hypothalamus çbernimmt die zentrale Rolle in der Regulation auto-
nomer Funktionen. Er steht in wechselseitiger Verbindung mit weiteren
funktionell bedeutsamen anatomischen Strukturen des zentralen autono-
men Nervensystems wie dem limbischen System (insbesondere Amygdala
und angrenzende Kerngebiete) und dem pråfrontalen Kortex.
Efferente Verbindungen bestehen u. a. zu Kerngebieten von Pons und
Medulla oblongata sowie çber die Epiphyse zu endokrinen Drçsen.
Das periphere autonome Nervensystem gliedert sich in einen sympathi-
schen und einen parasympathischen Anteil sowie das enterische Nervensys-
tem (¹brain of the gutª). Acetylcholin ist der Neurotransmitter im prågang-
lionåren Abschnitt des gesamten vegetativen Nervensystems und im post-
ganglionåren Anteil des Parasympathikus. Als Transmitter der postganglio-
nåren sympathischen Neurone dient Noradrenalin.
Die Zellen der pråganglionåren Neurone des Sympathikus befinden sich
in den thorakalen und oberen lumbalen Segmenten des Myelons (C8 bis
L2/3). Ûber die Vorderwurzeln erreichen sie als Rr. communicantes albi die
paravertebral angeordneten Ganglien des Grenzstrangs. Die Fasern werden
z. T. umgeschaltet und verlaufen als Rr. communicantes grisei zurçck zu
den Spinalnerven, mit denen sie dann die Erfolgsorgane innervieren. Ein
9 Autonome Funktionen z 143
se sollte auch der Blutdruck kontinuierlich erfasst werden (z. B. mittels Fin-
ger-Infrarot-Plethysmographie).
Verlåsslich und ohne græûeren Aufwand durchzufçhren ist der Schellong-
Test. Er erfordert die Kooperation des Patienten. Vereinfacht betrachtet,
reflektiert die Herzfrequenzånderung wåhrend des Tests die parasympathi-
sche, die Blutdruckånderung die sympathische Aktivitåt. Nach 10-minçti-
gem Liegen mit Blutdruck- und Herzfrequenzmessung steht der Patient auf.
Nun werden die Ønderungen von Blutdruck und Puls im Abstand von einer
Minute çber einen Zeitraum von zehn Minuten dokumentiert.
Physiologischerweise fçhrt Stehbelastung in den ersten drei Sekunden
zu einer plætzlichen leichten Herzfrequenzzunahme (um 5 bis 20 pro Minu-
te) bei anfangs stabilem oder passager leicht absinkendem systolischen
Blutdruck (um 5 bis 10 mmHg) und gleich bleibenden bzw. leicht anstei-
genden diastolischen Werten (wenige mmHg). Etwa 15 Herzschlåge nach
dem initialen Anstieg verlangsamt sich der Puls, um nach ca. 30 Schlågen
eine stabile Frequenz zu erreichen.
Als pathologisch nach orthostatischer Belastung werden ein Absinken
des systolischen (um mehr als 30 mmHg) und des diastolischen Drucks
(um mehr als 15 mmHg) sowie der Abfall der Herzfrequenz bewertet. Die-
ses Verhalten weist auf eine geringe oder fehlende Aktivierung des sym-
pathischen Systems hin und wird daher auch als hypo- bzw. asympathiko-
tone Form der Kreislaufregulationsstærung bezeichnet. Sie findet sich beim
Shy-Drager-Syndrom, einer seltenen Form einer Multisystematrophie.
Ein Herzfrequenzanstieg um mindestens 30 pro Minute bei gleichzeiti-
gem Absinken des systolischen Blutdrucks um mehr als 20 mmHg und des
diastolischen Wertes um mehr als 10 mmHg weist auf eine orthostatische
Intoleranz bzw. Hypotonie hin.
Die systolische bzw. diastolische Blutdruckdifferenz nach Orthostase
(Wert im Stehen minus Wert im Liegen) ca. eine Minute nach dem Aufste-
hen reflektiert den sympathischen Anteil der Blutdruckregulation. Eine pa-
thologische Gegenregulation ist ab einer systolischen Differenz von
±25 mmHg und einer diastolischen Differenz von ±5 mmHg anzunehmen;
je hæher die negativen Werte, desto insuffizienter ist die Gegensteuerung.
Die 30 : 15 Ratio (Ewing-Index), das Verhåltnis zwischen dem långsten
RR-Intervall um den 30. Herzschlag nach Orthostase und dem kçrzesten
Intervall um den 15. Herzschlag, ist ein sensitiver Parameter der parasym-
pathisch (N. vagus) vermittelten Inhibition des Sinusknotens. Die Norm-
werte sind alterskorreliert; Werte < 1,05 bei jungen Patienten sind als pa-
thologisch anzusehen.
Die Herzfrequenzanalyse bei tiefer Inspiration und Exspiration erlaubt
Rçckschlçsse auf die Funktion des Parasympathikus. Normalerweise
kommt es wåhrend der Inspiration zu einer Zunahme der Herzfrequenz,
wåhrend der Exspiration zu einer Abnahme der Herzfrequenz (respiratori-
sche Sinusarrhythmie). Die atemsynchrone Herzfrequenzvarianz wird mit-
tels EKG in Ruhe und bei tiefer Atmung (ca. 6 Atemzçge/min çber 3 Minu-
ten) gemessen. Die Normwerte sind altersabhångig: im Alter von 10 bis 40
148 z V. Hackel
Tabelle 9.2. Physiologische Verånderungen von Blutdruck und Herzfrequenz wåhrend des Val-
salva-Manævers
Phase Blutdruck Herzfrequenz Pathophysiologischer
Mechanismus
I (Beginn Anstieg Abnahme Zunahme des intra-
der Exspiration) thorakalen Drucks
II (Weitere Abfall mit Tachykardie Verminderter venæser
Exspiration) Normalisierung Rçckfluss zum Herzen,
auf Ausgangswerte reflektorische Vasokon-
striktion peripherer
Gefåûe
III (Ende Abfall maximale Tachykardie Abnahme des intra-
der Exspiration) thorakalen Drucks
IV (Erholungsphase, çberschieûender kompensatorische Vasokonstriktion,
ca. 10 s nach Anstieg (çber Bradykardie verstårkter venæser
Ende des Press- Ausgangsniveau) Rçckfluss zum Herzen
manævers)
Jahren çber 15 bis 20/min, bei Personen çber 60 Jahre zwischen 5 und
8/min. Die Methode eignet sich auch fçr die Abschåtzung des Risikos kar-
dialer Rhythmusstærungen bei Patienten mit einem akuten Guillain-Barr-
Syndrom.
Die normalen Verånderungen von Blutdruck und Herzfrequenz wåhrend
des Valsalva-Manævers unterliegen dem Einfluss der arteriellen Presso-
bzw. Barorezeptoren und der efferenten sympathischen Gefåûinnervation
(Tabelle 9.2). Innerhalb der vier Testphasen exspiriert der Patient çber 15
Sekunden gegen einen konstanten Widerstand, wobei idealerweise eine
kontinuierliche Registrierung von Blutdruck und Herzfrequenz erfolgt. Er-
krankungen des autonomen Nervensystems wirken sich nur auf die Phasen
II und IV des Valsalva-Manævers aus; die Phasen I und III bleiben unbeein-
flusst, da sie lediglich einer mechanischen Regulation unterliegen (Ønde-
rung des intrathorakalen Druckniveaus). Pathologisch zu bewerten sind:
z reduzierte Valsalva-Ratio, d. h. verminderter Quotient aus maximaler
Phase-II-Tachykardie und minimaler Phase-IV-Bradykardie (<1,1).
z Fehlen von Phase-II-Blutdruckabfall und çberschieûendem Phase-IV-
Blutdruckanstieg.
Vigorimeter einen Faustschluss mit ca. 30% seiner Maximalkraft aus. Der
diastolische Druckanstieg wird nach 3 bis 5 Minuten am kontralateralen
Arm gemessen.
Abschlieûend sei erwåhnt, dass mentaler Stress wie Kopfrechnen in ei-
ner reizçberfluteten, lauten Umgebung zu einem messbaren, Sympathikus-
vermittelten Anstieg der diastolischen Blutdruckwerte fçhrt.
z Isolierte Miosis. Die Kombination aus gering ausgeprågter Ptosis ± die da-
her auch çbersehen werden kann ± und Miosis bildet das Horner-Syndrom,
das in Abhångigkeit von der Lokalisation der Schådigung von einer fazia-
len Anhidrose begleitet sein kann. Ein zuverlåssiger Test zum Nachweis der
sympathischen Denervierung ist die schrittweise lokale Applikation von 4-
bis 10%igen Kokain-Augentropfen, die den Effekt des biologischen Neuro-
transmitters Noradrenalin verstårken. Beim peripheren Horner-Syndrom
fehlt die physiologische mydriatische Wirkung einer lokalen Kokaingabe,
da Noradrenalin nicht verfçgbar ist. Liegt eine zentrale sympathische Låsi-
on vor, kann eine geringe Dilatation der Pupille auftreten.
Die Applikation des Sympathikomimetikums Phenylephrin 1% bleibt bei
Schådigung zentraler und peripherer pråganglionårer sympathischer Fasern
ebenso wie am gesunden Auge ohne Effekt. Die durch peripher postganglio-
nåre Schådigung entstandene Horner-Pupille hingegen reagiert infolge ei-
ner Denervierungshypersensitivitåt mit einer ausgeprågten Mydriasis.
Literatur
Literatur
rakter, da die Geburt nicht selten Auswirkungen auf das Neugeborene hat.
Aussagekråftiger wird die Untersuchung nach dem dritten Lebenstag. Bei
Auffålligkeiten sollte der Såugling wiederholt untersucht werden, um die
Zeitdauer der Stærungen festhalten zu kænnen. Nachfolgend sollen nur die
wesentlichen Untersuchungen dargestellt werden.
z Saugreflex. Dieser Reflex ist etwa bis zum dritten Lebensmonat auslæsbar.
Der vom Untersucher in den Mund des Neugeborenen eingefçhrte Finger
læst rhythmische Zungenbewegungen aus (Abb. 11.1 b). Ein schwacher oder
fehlender Saugreflex kann Ausdruck herabgesetzter Vigilanz sein. Die In-
tensitåt der Saugbewegungen hångt auch vom Såttigungszustand des Kin-
des ab.
Abb. 11.2. Moro-Reflex. a Haltung des Kindes, b Umklammerungsreflex (aus Anschçtz 1985)
Abb. 11.3. Muskeltonus des Såuglings in Rçckenlage (aus Zierz u. Jerusalem 2003)
162 z K. Traufeller
Abb. 11.5. Muskeltonus des Såuglings beim Aufziehen. a Gesunder Såugling, b hypotoner
Såugling (aus Zierz u. Jerusalem 2003)
11 Neurologische Untersuchung von Såuglingen und Kindern z 163
(Abb. 11.6), die Ellenbogengelenke neigen zur Flexion und die Kopfflexoren
sind stimuliert, den Kopf zu heben, sodass der Kopf kurzzeitig in der
Rumpfebene verbleibt. Der Test ist pathologisch, wenn der Kopf gehalten
werden muss und dann nach vorn fållt oder wenn der Kopf zurçck bleibt.
Ersteres spricht fçr eine Hypotonie der Hals- und Rumpfmuskeln, letzteres
fçr eine abnorme Hypertonie der Halsextensoren.
z Primitivreflexe
Die Untersuchung der verschiedenen primitiven Reflexe ist ein wesentlicher
Bestandteil der neurologischen Untersuchung von Kindern bis zum ersten
Lebensjahr.
z Landau-Reflex (Abb. 11.7 und 11.8). Die Reflexantwort ist zwischen dem
4. und dem 18. Lebensmonat zu erwarten. Der vom Untersucher mit bei-
164 z K. Traufeller
z Gekreuzter Streckreflex. Bis etwa zum dritten Lebensmonat ist dieser Re-
flex als physiologisch anzusehen. Ein Bein des auf dem Rçcken liegenden
Kindes wird von einer Hand des Untersuchers an der oberen Schienbein-
kante fixiert. Mit der anderen Hand drçckt der Untersucher mit der Spitze
des Reflexhammers gegen die Mitte der Fuûsohle. Am kontralateralen Bein
ergibt sich folgendes Bewegungsmuster: Zunåchst wird das Bein in allen
Gelenken gebeugt, anschlieûend gestreckt und zuletzt tritt eine Adduktion
des Beines ein.
z Kubitalreflex (C5±C6). Die Reaktion besteht etwa bis zum 10. Lebens-
monat. Das Berçhren der Ellenbogeninnenseite beim Såugling fçhrt zu ei-
ner prompten Beugung im Ellenbogengelenk.
z Axillarreflex (C8±Th4). Der Reflex låsst sich bis etwa zum neunten Lebens-
monat auslæsen. Durch Bestreichen der Axillarregion tritt eine prompte
Adduktion des Armes mit Beugung im Ellenbogengelenk ein.
z Inguinalreflex (Th12±L1). Der Reflex låsst sich ungefåhr bis zum sechsten
Lebensmonat auslæsen. Das Bestreichen der Leistengegend fçhrt zu einer
mehr oder weniger deutlich ausgeprågten Beugung in Hçft-, Knie- und
Sprunggelenk auf der gereizten Seite.
z Abduktionsreflex (L4±L5). Die Waltezeit des Reflexes ist bis etwa zum sechs-
ten Lebensmonat. Der Untersucher streicht çber die Auûenflåche des Ober-
schenkels und es kommt zu einer Abduktion im ipsilateralen Hçftgelenk.
166 z K. Traufeller
z Poplitealreflex (S1±S2). Der Reflex låsst sich ca. bis zum neunten Lebens-
monat auslæsen. Das Bestreichen der Kniekehle des auf dem Bauch liegen-
den Såuglings fçhrt zu einer Beugung des betroffenen Beins.
z Hirnnerven
Eine funduskopische Untersuchung mit Hilfe der Eltern oder einer Kran-
kenschwester, wenn notwendig nach Applikation eines Mydriatikums, ist
bedeutungsvoll zur Beurteilung des N. opticus. Bei Kindern ist die Papille
physiologischerweise blass und grau, åhnlich wie bei der Optikusatrophie
des Erwachsenen. Der makulåre Lichtreflex fehlt etwa bis zum vierten Le-
bensmonat. Die Auslæschung des Papillenrandes und fehlende Pulsationen
der Zentralvenen sind die ersten und wichtigsten Hinweise auf ein Papil-
lenædem. Die Sehschårfe kann bei ålteren Kindern mittels standardisierter
Tafeln geprçft werden. Bei Kleinkindern ist nur eine Abschåtzung des Vi-
sus durch benennen lassen von im Untersuchungszimmer aufgehångten Bil-
dern unterschiedlicher Græûe mæglich. Der optokinetische Nystagmus kann
durch Drehen einer gestreiften Trommel getestet werden. Das Auftreten
dieser physiologischen Nystagmusform beståtigt das Vorhandensein korti-
kaler Visionen. Das Gesichtsfeld bei ålteren Såuglingen und Kleinkindern
168 z K. Traufeller
låsst sich çberprçfen, indem man das Kind auf den mçtterlichen Schoû
setzt. Der Untersucher sitzt dem Kind mit einem interessanten Spielzeug
gegençber, um die Aufmerksamkeit des Kindes darauf zu lenken. Hinter
dem Rçcken des Kindes steht eine zweite Person und bringt ein anderes
Objekt in das kindliche Gesichtsfeld. Es wird der Punkt notiert, an dem
sich Augen bzw. Kopf des Kindes zum Objekt drehen. Der visuelle Blinkre-
flex, der ausgelæst wird, indem ein Objekt auf die Augen des Kindes zu-
gefçhrt wird und dieses die Augen schlieût, ist bei etwa 50% der Kinder
im fçnften Lebensmonat auslæsbar. Der Reflex sollte bei allen Kindern im
Alter von einem Jahr vorhanden sein.
Zur Beurteilung von N. oculomotorius, N. trochlearis und N. abducens
wird zunåchst die Position der Augen in Ruhe betrachtet. Die Græûe der
Pupillen und ihre Reaktion auf Licht und Konvergenz werden untersucht.
Bei Frçhgeborenen vor der 30. Schwangerschaftswoche sind die Pupillen
weit und nicht auf Licht reagibel. Nach der 32. Schwangerschaftswoche ist
eine fehlende Lichtreaktion pathologisch. Die Augenbewegungen sind un-
tersuchbar, indem ein interessantes Spielzeug vor den Augen des Kindes
bewegt wird und die Mutter den Kopf des Kindes dabei festhålt. Physiolo-
gischerweise sind die Augen kurz nach der Geburt konjugiert, und im Al-
ter von zwei Wochen bewegt das Neugeborene seine Augen zum Licht und
fixiert. Die Augenfolgebewegungen in alle Richtungen sind bei einem vier
Monate alten Såugling vollståndig erhåltlich.
Eine gestærte motorische Funktion des Gesichts (N. facialis) fållt bereits
durch seine Asymmetrie auf. Die Schwåche der Gesichtsmuskulatur kann
ferner beurteilt werden, wenn das Kind lacht oder schreit.
Das Hærvermægen bei kleinen Kindern wird çber ihre Reaktion auf ei-
nen Glockenton geprçft. Die Fåhigkeit, die Augen in Richtung des Glocken-
tons zu wenden, ist in der siebten bis achten Lebenswoche zu erwarten. Im
Alter von drei bis vier Monaten kænnen die Såuglinge Augen und Kopf in
170 z K. Traufeller
Richtung der Glocke wenden. Ein ålteres Kind kann aufgefordert werden,
ein ihm zugeflçstertes Wort oder eine Zahl zu wiederholen. Zur weiteren
differenzierten Diagnostik sind die Audiometrie oder akustisch evozierte
Potenziale notwendig.
Genaueren Aufschluss çber die Funktionsfåhigkeit der Vestibularorgane
erhålt man durch die Beobachtung des Nystagmusverhaltens. Die zu unter-
scheidenden Formen sind ausfçhrlich im Kapitel ¹Hirnnervenª dargestellt.
z Motorisches System
Zu Beginn der Untersuchung wird auf die Kærperhaltung des Kindes im
Stehen geachtet. Spielerisch, z. B. durch Aufforderung des Kindes, einen
Ball zu holen oder in ein anderes Zimmer zu laufen, kænnen weitere Infor-
mationen gewonnen werden. Charakteristisch z. B. fçr Patienten mit pro-
ximalen Paresen der unteren Extremitåten, wie sie im Rahmen einer Mus-
keldystrophie vom Gliedergçrteltyp auftreten kænnen, ist das so genannte
Gowers-Zeichen. Die Betroffenen helfen sich beim Aufstehen aus der Ho-
cke, indem sie sich an ihren Beinen abstçtzen und daran nach oben klet-
tern (Abb. 11.11). Kinder mit einer infantilen Zerebralparese zeigen typi-
scherweise eine Spitzfuûstellung und beim Gehversuch eine ¹Scherenstel-
lungª der Beine, bedingt durch die Muskeltonuserhæhung in den Addukto-
ren.
Die formale Testung der Muskelkraft ergånzt bei ålteren Kindern die in-
formative Untersuchung. Der Muskeltonus wird durch Manipulation an den
groûen Gelenken und Prçfung des Ausmaûes des Widerstands festgestellt.
z Koordination
Die Koordination von Kleinkindern låsst sich testen, indem die Kinder sich
nach ihrem Spielzeug strecken, dieses anfassen und damit spielen. Bei ålte-
ren Kindern kann eine Ataxie genau wie bei Erwachsenen durch den Fin-
ger-Nase-Versuch und den Knie-Hacke-Versuch nachgewiesen werden. Zur
Testung der Diadochokinese wird das Kind gebeten, wiederholt mit der ei-
genen Hand auf die des Untersuchers zu schlagen. Auffålligkeiten vor dem
achten Lebensjahr sind håufig und nur begrenzt verwertbar, da es sich bei
der Ausfçhrung rascher, harmonischer Bewegungen um komplexe zerebrale
Reaktionsmuster handelt.
z Sensibilitåt
Die Prçfung der Sensibilitåt erfordert ein vigilantes und kooperatives Kind,
weshalb diese Untersuchung bei Kindern meist nur eingeschrånkt durch-
fçhrbar ist, z. B. allseits gezielte Reaktion auf Berçhrung, Kalt- oder Warm-
reize etc.
11 Neurologische Untersuchung von Såuglingen und Kindern z 171
Sowohl die motorische als auch die geistige Entwicklung von Kindern voll-
zieht sich in bestimmten Phasen, die eine gewisse Variabilitåt aufweisen
(Tab. 11.2). Im ersten Lebensmonat çberwiegt die Beugehaltung der Extre-
mitåten. Moro-Reflex, Greifreflexe und ziellose Impulsbewegungen beste-
hen. Intermittierendes Heben des Kopfes in Bauchlage ist im Alter von
zwei Monaten mæglich. Im dritten Lebensmonat sind willkçrliche Kopfbe-
wegungen auf Reize zu erwarten. Motorisch aktive Greifbewegungen, freie
Haltung des Kopfes und Rollen dominieren etwa im vierten und fçnften
Lebensmonat. Nach dem sechsten Lebensmonat bleibt das aufgerichtete
Kleinkind sitzen, um den 10. Monat richtet es sich selbst auf (Aufstehver-
suche am Gitter). Gehen lernt das Kind nach Abschluss des ersten Lebens-
jahres. Im zweiten Lebensjahr spielen die Kinder mit einem Ball und Bau-
klætzen und kænnen Treppen steigen.
Kurz nach der Geburt kann das Neugeborene nahe Objekte fixieren und
mit langsamen Kopfbewegungen verfolgen sowie sein Missbehagen åuûern.
Im zweiten Lebensmonat findet man das erste Kontaktlåcheln auf entspre-
11 Neurologische Untersuchung von Såuglingen und Kindern z 173
chende Reize, der Såugling reagiert auf optische und akustische Reize, be-
trachet die eigenen Hånde und verfolgt ihm hingehaltenes Spielzeug. Zwi-
schen dem dritten und dem sechsten Monat reagiert der Såugling auf Aus-
drucksbewegungen und kann auch eigene Ausdrucksbewegungen wider-
spiegeln (affektiver Kontakt). Vom dritten Lebensmonat an moduliert sich
das Schreien und die Lallsprache beginnt. Nach dem sechsten Monat wer-
den Laute nachgeahmt (Echolalie). Aus dem Lallen wird gegen Ende des
ersten Lebensjahres sinnvolle Lautbildung. Einfache Zusammenhånge (z. B.
winken) werden verstanden. Im zweiten Lebensjahr sind Dreiwortsåtze mit
Eigenschaftswærtern und Verben zu erwarten. In diesem Zeitraum besteht
auch teilweise Sauberkeit. Mit fortschreitender Bewusstwerdung und dem
Erleben des eigenen Willens setzt im Laufe des dritten Lebensjahres die
erste Trotzphase ein. In der Regel haben die Kinder mit etwa zweieinhalb
Jahren die Kontrolle çber Miktion und Defåkation. Im Alter von 6 bis 7
Jahren wird aus dem Kleinkind ein Schulkind. Die Extremitåten wachsen.
Das Kind lernt sich konsequent einer Sache zuzuwenden, sich an Regeln in
der Gemeinschaft zu halten und es schlieût Freundschaften. Um das 11. bis
13. Lebensjahr beginnt die Pubertåt, in der sich die kærperlichen Propor-
tionen veråndern und eine gewisse Eigenståndigkeit der Jugendlichen be-
ginnt.
Literatur
Fremdanamnese
Eine Fremdanamnese kann entscheidende Hinweise auf die Ursache einer Be-
wusstlosigkeit geben. Wichtige Fragen an Familienangehærige, Freunde oder
Beobachter sind: Ist die Dauer der Bewusstlosigkeit bekannt? Wie wurde der
Patient aufgefunden? Wann wurde der Patient zuletzt gesehen? Bestanden
Auffålligkeiten in der Zeit vor Eintritt der Bewusstlosigkeit? Hat sich der
Patient verletzt? Sind bei dem Patient Vorerkrankungen bekannt? Nahm er
regelmåûig Medikamente ein? Welche Medikamente wurden gelegentlich ein-
genommen? Konsumierte der Patient Drogen und/oder Alkohol? Wenn ja,
wie stark war der Konsum in den letzten Tagen/Wochen/Monaten?
12 Die Untersuchung des bewusstlosen Patienten z 175
Inspektion
Eine genaue Inspektion gibt wertvolle Hinweise auf die Ursache einer Be-
wusstlosigkeit. Wichtig ist: Wie erscheint das Hautkolorit des Patienten,
wirkt er blass, rosig oder livide als Hinweis auf eine Zyanose? Hat der Pa-
tient åuûere Verletzungen, z. B. Prellmarken, Platzwunden oder Håmatome?
Bestehen diffuse petechiale Blutungen als Hinweis fçr eine Gerinnungs-
stærung? Gibt es Hinweise auf innere Verletzungen? Hat der Patient einge-
nåsst? Enurese kann auf einen Krampfanfall hindeuten (falls der Patient be-
reits entkleidet ist, unbedingt die abgelegte Kleidung inspizieren). Gibt es
Hinweise auf einen Zungenbiss? Auch dies låsst einen Krampfanfall ver-
muten. Wie ist der Allgemeinzustand des Patienten? Ist ein Fætor wahr-
nehmbar? Zeigt der Patient Spontanbewegungen? Wie ist das Atemmuster?
Die Cheyne-Stokes-Atmung etwa mit periodischer Zu- und Abnahme der
Atemtiefe deutet auf eine Schådigung des Zwischenhirns hin (z. B. bei Ein-
klemmung am Tentorium). Die Biot-Atmung, die durch unregelmåûige
Atempausen gekennzeichnet ist, zeigt sich bei Schådigung der Medulla
oblongata.
Allgemein-internistische Untersuchung
Neurologische Untersuchung
z Meningismus
Die Untersuchung auf Meningismus darf nur durchgefçhrt werden, wenn
anamnestisch keine Hinweise auf eine Verletzung der Halswirbelsåule vor-
liegen. Der Kopf des Patienten wird mit beiden Hånden umgriffen und
nach vorne gezogen. Spçrt man dabei einen Widerstand, zeigt dies eine
schmerzreflektorische Nackensteifigkeit an. Je nach Stårke des Widerstands
spricht man von leicht-, mittel- oder hochgradigem Meningismus. Wichtig
ist, die Gesichtszçge des Patienten zu beobachten. Grimassieren stçtzt die
Diagnose eines Meningismus. Jedoch kann es auch im Rahmen anderer
Zustånde zu einer Tonuserhæhung der Nackenmuskulatur kommen. Nicht
jede Tonuserhæhung der Nackenmuskulatur darf vorschnell als Meningis-
mus bezeichnet werden. Bei schmerzbedingten Nackenzwangshaltungen ist
die Beweglichkeit der Halswirbelsåule in alle Richtungen stark einge-
schrånkt. Zu bedenken sind ferner generalisierte axiale Tonuserhæhungen
beim Mittelhirnsyndrom. Bei Patienten mit hypoxischem Hirnschaden
kann man ebenfalls rigorartige Tonuserhæhungen der Nackenmuskulatur
finden. Andererseits muss stets daran gedacht werden, dass Meningitiden
im Alter je nach Erreger nicht notwendigerweise von einem Meningismus
begleitet sind. Auf keinen Fall darf das Symptom Meningismus mit der Di-
agnose Meningitis gleichgesetzt werden, da z. B. auch eine Subarachnoidal-
blutung zu einem Meningismus fçhren kann.
Als Brudzinski-Zeichen bezeichnet man die reflektorische Beugung der
Beine in Hçft- und Kniegelenk bei passiver Anhebung des Kopfes. Das Ker-
nig-Zeichen wird çberprçft, indem das Bein in Hçft- und Kniegelenk um
jeweils 908 gebeugt wird. Bei passivem Strecken des Beines kommt es bei
meningealer Reizung zu einer tonischen Beugung der Unterschenkelbeuger,
welche eine komplette Streckung des Beines verhindern. Bei Plegien ist das
Kernig-Zeichen trotz meningealer Reizung negativ und Seitendifferenzen
kænnen auf eine Halbseitensymptomatik hinweisen. Das Las gue-Zeichen
wird çberprçft, indem das gestreckte Bein passiv angehoben wird. Kommt
es dabei zu Schmerzen, ist der Test positiv. Beim Bewusstlosen kann dieser
Schmerz eventuell durch Grimassieren deutlich werden. Sind die Nervendeh-
nungszeichen nur einseitig auslæsbar, ist eine periphere Nervenlåsion ipsila-
teral oder eine Halbseitensymptomatik kontralateral in Erwågung zu ziehen.
z Hirnstammreflexe
z Pupillenreaktion. Die Augen des Patienten werden passiv geæffnet und die
Pupillen werden getrennt voneinander beleuchtet. Beobachtet wird die Re-
aktion beider Pupillen, der beleuchteten und der unbeleuchteten. Anschlie-
ûend wird das andere Auge beleuchtet und es werden wiederum beide Sei-
ten beurteilt. Im Normalfall sind die Pupillen seitengleich mittelweit, und
12 Die Untersuchung des bewusstlosen Patienten z 177
z Kornealreflex. Das Auge wird passiv geæffnet und die Kornea mit dem
ausgezogenen Wattefaden eines Watteståbchen berçhrt. Beobachtet wird
der Lidschlag des Auges. Geprçft wird der Reflexbogen, dessen Afferenz
çber den N. trigeminus und dessen Efferenz çber den N. facialis geleitet
178 z S. Sommer
wird. Ist eine Schådigung der Kornea vorhanden, so kann ein åhnlicher Re-
flex durch Bestreichen der Wimpern des Unterlides ausgelæst werden.
z Muskeleigenreflexe (MER)
Auch beim Bewusstlosen kænnen Muskeleigenreflexe durch Schlag auf die
Sehne eines Muskels mit dem Reflexhammer ausgelæst werden. Pathologi-
sche Reflexe erkennt man an Reflexdifferenzen, verbreiterten Reflexzonen
sowie çberspringenden Reflexen. Reflexdifferenzen sind dabei nicht nur im
Seitenvergleich zu bewerten, sondern auch in kraniokaudaler Richtung.
Wenn z. B. alle Extremitåtenreflexe lebhaft auslæsbar sind, der Masseterre-
flex aber nur schwach oder gar nicht, dann liegt eine Låsion am kraniozer-
vikalen Ûbergang nahe (hoher Querschnitt).
z Muskeltonus
Der Muskeltonus wird durch passives Bewegen der Extremitåten getestet.
Beim Bewusstlosen findet sich meist eine erniedrigter Muskeltonus. Die
Extremitåten wirken schlaff. Bei zentralen Paresen zeigt sich oft eine To-
nuserhæhung. Beim Mittelhirnsyndrom kommt es zu einer generalisierten
Tonuserhæhung mit Beugespastik der Arme und Streckspastik der Beine.
Bei beidseitigen Låsionen im oberen Ponsbereich oder darunter kommt es
zu einer Streckspastik von Armen und Beinen.
180 z S. Sommer
z Motorische Reizerscheinungen
Muskelzuckungen ohne Bewegungseffekt (Faszikulationen) treten generali-
siert z. B. bei cholinergen Krisen auf (Cholinesterasehemmer-Ûberdosie-
rung) sowie bei motorischen Systemerkrankungen mit Vorderhornbetei-
ligung. Muskelzuckungen mit Bewegungseffekt (Myoklonien) sind ein diag-
nostisch wichtiges Reizsymptom bei zerebralen Anfållen, Enzephalitis und
z. B. bei der Jakob-Creutzfeld-Erkrankung. Seltener treten Myoklonien nach
Intoxikationen auf. Negative Myoklonien (Asterixis) stellen kurzzeitige Un-
terbrechungen des Muskeltonus dar, wie etwa bei metabolischen Enzepha-
lopathien oder z. B. auch bei diffuser Metastasierung. Da mit zunehmender
Komatiefe der Muskeltonus nachlåsst oder erlischt, ist Asterixis dann in
der Regel nicht zu erfassen.
z Primitivreflexe
Primitivreflexe sind Reflexe, die im Neugeborenenalter physiologischerwei-
se vorkommen, im Verlauf der Entwicklung jedoch verschwinden. Durch
diffuse Hirnschådigungen kann es zum Wiederauftreten der Reflexe kom-
men.
z Autonomes Nervensystem
Wåhrend der Untersuchung ist des Weiteren auf Verånderungen von Blut-
druck und Herzfrequenz auf åuûere Reize zu achten. Bradykardien, ins-
besondere bei Kopftieflagerung, kænnen Ausdruck von erhæhtem Hirn-
druck sein. Bei hypothalamischen Låsionen finden sich gehåuft Stærungen
der Temperaturregulation, welche sich zum Beispiel als zentrale Hyperther-
mie manifestieren.
Punkte 0 1 2 3
Ausprågung ohne gering måûig schwer
Symptome
Extremitåten- und Rumpfmuskulatur (Dauer in Sekunden)
z Armvorhalten >180 60±180 10±60 <10
(908, stehend)
z Beinvorhalten >45 30±45 5±30 <5
(458, Rçckenlage)
z Kopfheben >90 30±90 5±30 <5
(458, Rçckenlage)
Vitalkapazitåt (in Litern, max. Exspiration nach max. Inspiration)
z månnlich >3,5 2,5±3,5 1,5±2,5 <1,5
z weiblich >2,5 1,8±2,5 1,2±1,8 <1,2
Faziopharyngeale Muskulatur
z Mimik normal leichte Lidschluss- Lidschluss Amimie
schwåche inkomplett
z Kauen/Schlucken normal Kauschwåche Verschlucken Kieferhången,
(Ermçdung wåhrend Magensonde
des Essens)
Okulåre Symptome im Simpson-Test (Dauer in Sekunden)
z Doppelbilder >60 10±60 0±10 spontan
z Ptosis >60 10±60 0±10 spontan
13 Spezielle standardisierte Kurzuntersuchungen z 183
Die Expanded Disability Status Scale (EDSS) nach Kurtzke (1983) ist die
derzeit am weitesten verbreitete Skala fçr die Beurteilung des Defizits bei
der multiplen Sklerose. Der Score wird çberproportional stark von der
Gehfåhigkeit des Patienten beeinflusst, sodass ab einem Wert > 5 eine rela-
tive Ungenauigkeit insbesondere fçr Verånderungen der Funktionsfåhigkeit
der oberen Extremitåten besteht.
4,0 gehfåhig ohne Gehhilfe und Pause fçr mindestens 500 m, aktiv wåhrend ca. 12 Stun-
den pro Tag trotz relativ schwerer Behinderung
4,5 gehfåhig ohne Gehhilfe und Pause fçr mindestens 300 m, ganztågig arbeitsfåhig, ge-
wisse Einschrånkung der Aktivitåt, benætigt minimale Hilfe, relativ schwere Behin-
derung
5,0 gehfåhig ohne Gehhilfe und Pause fçr ca. 200 m, Behinderung schwer genug, um
tågliche Aktivitåt zu beeintråchtigen
5,5 gehfåhig ohne Gehhilfe und Pause fçr ca. 100 m, Behinderung schwer genug, um
normale tågliche Aktivitåt unmæglich zu machen
6,0 bedarf intermittierend oder auf einer Seite konstant Unterstçtzung durch Krçcke,
Stock oder Schiene, um ca. 100 m ohne Pause zu gehen
6,5 benætigt konstant beidseits Hilfsmittel, um ca. 20 m ohne Pause zu gehen
7,0 unfåhig, selbst mit Hilfe mehr als 5 m zu gehen, weitgehend an den Rollstuhl ge-
bunden, bewegt Rollstuhl selbst, transferiert ohne Hilfe
7,5 unfåhig, mehr als ein paar Schritte zu tun, an den Rollstuhl gebunden, benætigt Hilfe
fçr Transfer, bewegt Rollstuhl selbst, aber vermag nicht den ganzen Tag im Rollstuhl
zu verbringen
8,0 weitgehend an Bett oder Rollstuhl gebunden, pflegt sich weitgehend selbstståndig,
meist guter Gebrauch der Arme
8,5 weitgehend an Bett gebunden, auch wåhrend des Tages, teilweise nçtzlicher Ge-
brauch der Arme, einige Selbstpflege mæglich
9,0 hilfloser Patient im Bett, kann essen und kommunizieren
9,5 gånzlich hilfloser Patient, unfåhig zu essen, zu schlucken oder zu kommunizieren
10,0 Tod infolge multipler Sklerose
Der Mini-Mental-Status-Test
Der Mini-Mental-Status-Test nach Folstein et al. (1975) ist eine weit ver-
breitete Screening-Methode, um sich einen Eindruck çber die kognitiven
Fåhigkeiten eines Patienten zu verschaffen. Die exakte Durchfçhrung des
13 Spezielle standardisierte Kurzuntersuchungen z 185
Tests erfordert auf Seiten des Patienten Leistungen der Orientierung, der
Merkfåhigkeit, der Aufmerksamkeit und der Auffassung sowie sprachliche
Leistungen. Der Test ist zur Eingangsuntersuchung, vor allem aber zur Ver-
laufskontrolle geeignet.
Auswertung:
25±30 Punkte: keine Demenz
<22±24 Punkte: måûiggradige Demenz
<16 Punkte: schwere Demenz
13 Spezielle standardisierte Kurzuntersuchungen z 187
Literatur
Befunddokumentation
So wie die Untersuchung selbst unabhångig von dem aktuellen und mægli-
cherweise lokalen Problem stets vollståndig durchgefçhrt werden sollte,
sollte sich auch die Befunddokumentation im Krankenblatt und im spåte-
ren Arztbrief nicht auf das aktuell vorliegende und auf den ersten Blick
mæglicherweise sehr begrenzte Symptom beziehen, sondern den gesamten
Neurostatus wiedergeben und damit auch unauffållige Befunde dokumen-
tieren. Die Ausfçhrlichkeit der Beschreibung auch der normalen Befunde
richtet sich vielfach nach der Differenzialdiagnose. So kann es durchaus
wichtig sein zu wissen, ob bei progredienten Atrophien und Paresen der
Beine und Arme vom Patienten subjektiv nicht wahrgenommene Atrophien
oder Faszikulationen der Zunge bestehen, wenn zur Frage einer mæglichen
amyotrophen Lateralsklerose Stellung genommen werden soll. Erst die Voll-
ståndigkeit des Untersuchungsbefundes ermæglicht es, in der weiteren Be-
schåftigung mit dem Fall mægliche relevante syndromale Zusammenhånge
zu erkennen und im weiteren Krankheitsverlauf neu auftretende Symptome
oder Befunde als solche zu identifizieren. Dies bedeutet, dass der gelegent-
lich zu findende Ausdruck ¹grob-neurologisch unauffålligª nicht nur
sprachlich, sondern auch intellektuell nicht zu akzeptieren ist.
Wie bei jeder technischen Untersuchung muss auch der klinische Befund
verbal-schriftlich fixiert werden. Vielerorts ist es çblich, sich hierzu tabella-
rischer Formulare zu bedienen, in denen die einzelnen Untersuchungspunkte
aufgelistet sind und vom Untersucher kommentiert werden sollten. Dies fçhrt
in der Praxis håufig dazu, dass ganze Absåtze oder sogar die ganze Seite vom
Arzt mit einer Klammer versehen werden, neben die dann als Ergebnis ¹o. B.ª
geschrieben wird. Als Leser einer solchen Dokumentation kann man nahezu
sicher sein, dass hier keinesfalls alle aufgefçhrten Untersuchungen durch-
gefçhrt worden sind. Ironischerweise entspricht dies genau der falschen, aber
weit verbreiteten Interpretation der Abkçrzung o. B. als ¹ohne Befundª.
¹Ohne Befundª bedeutet, dass etwas nicht untersucht worden ist, also kein
Befund erhoben werden konnte. Tatsåchlich steht die Abkçrzung ¹o. B.ª aber
fçr ¹orthograder Befundª, also fçr einen regelrechten Befund.
Trotz der Forderung nach Vollståndigkeit der Dokumentation ist es im
Einzelfall immer notwendig, eine Gewichtung in der detaillierten Ausfçhr-
14 Befunddokumentation und Arztbrief z 189
lichkeit der Beschreibung vorzunehmen, die auch die Aussagekraft eines Ein-
zelbefundes berçcksichtigt. So ist es beispielsweise wenig sinnvoll, bei einer
chronisch-peripheren Problematik die Beschreibung des Neurostatus mit der
Floskel ¹kein Meningismusª einzuleiten. Sinnvoller ist hier die sehr viel aus-
sagekråftigere Formulierung ¹Kopf aktiv (oder nur passiv) frei beweglichª.
Scheidt (1983) bemerkte in seinem klassischen Lehrbuch der Neurologie,
dass auch bei einer vællig unzureichenden Untersuchung die Druckschmerz-
haftigkeit der Austrittspunkte des N. trigeminus geprçft und erwåhnt wird,
obgleich mit diesem Befund recht wenig anzufangen sei.
Fçr das Einçben eines geordneten und standardisierten Untersuchungs-
ganges und der verbalen Dokumentation der Ergebnisse ist es didaktisch
hilfreich, einen normalen Neurostatus positiv zu formulieren:
Arztbrief
vielen Dank fçr die freundliche Ûberweisung Ihrer Patientin Frau XY, geb.
am 1. 2. 1965, die sich vom 7.2. bis 12. 2. 2004 in unserer stationåren Be-
handlung befand.
z Diagnosen
z Sekundår chronisch-progrediente Multiple Sklerose
z Harnwegsinfekt
192 z S. Zierz
Literatur
A Apraxie 126
±, bukkofaziale 126
Abasie 113 ±, ideatorische 126
Abduktionsreflex 165 ±, ideomotorische 126
Absence-Epilepsie 90 Argyll-Robertson-Pupille 22
Abstraktionsvermægen 130 Armhalteversuch 51
Achillessehnenreflex 80 Armpendeltest 75
Adduktorenreflex 79 arterielle Verschlusskrankheit 4, 155
Adduktorentendinose 135 Arteriitis temporalis 7
Adie-Snydrom 22, 152 Arthritis, rheumatoide 138
afferente Pupillenstærung 22 Arthrogryposis 136
Ageusie 43 Artikulationsstærung 111
Agnosie, visuelle 128 Astasie 89
Agrammatismus 124 Asterixis 89, 116, 180
Akathisie 119 Ataxie 113, 115, 170
Akinese 119 ±, spinale 115
Aktionstremor 115 Athetose 116
akustischer Blinzelreflex 178 Atropin 152
Alkohol 12 Aufmerksamkeit 121, 185
Allodynie 100 Aufsetzreaktion 159
Amnesie 122 Aufziehreaktion 162, 167
±, anterograde 122 Auge, trockenes 34
±, transiente globale 123 ±, wanderndes 179
amyotrophe Lateralsklerose 42, 156 Augenbewegung 24
Anaesthesia dolorosa 8, 104 Augenhintergrund 15
Analreflex 83, 150, 151 Auskultation 154, 155
Anamnese 1 Avellis-Syndrom 44
Anåsthesie 93 Axillarreflex 165
Anfall, fokaler 91
±, generalisierter 91
±, komplex fokaler 91 B
±, tonischer 90 Babinski-Nageotte-Syndrom 44
±, versiver 90 Babinski-Reflex 85, 86, 166
Anisokorie 23 Babinski-Reflexgruppe 84
Aortenbogensyndrom 154 Bahnung 77
Aphasie 123 Ballismus 116
±, globale 124 Barany-Zeigeversuch 112
±, transkortikale 124 Barr-Stellung 52
Aphonie 40 Bauchdeckenreflex 79
196 z Sachverzeichnis
Bauchhautreflex 83 D
Beinhalteversuch 51
Bell-Phånomen 32 Deafferenzierungsschmerz 7, 104
Benedikt-Syndrom 46 Defåkation 150
Beugespastik 179 Demenz 19, 129, 186
Bewegungsstærung, choreati- Dviation conjuge 24, 178
forme 116, 117 Diadochokinese 112
Bewusstlosigkeit 174 Diagnose ex juvantibus 11
Bielschowsky-Phånomen 26 Diplopie 25
Biot-Atmung 156, 175 Downbeat-Nystagmus 110
Bizepssehnenreflex 79 Drehschwindel 8
Blasenstærung 10, 150 Dreiwortsatz 173
Blepharospasmus 117 Dysarthrie 111
Blickbewegung, glatte 109 Dysarthrophonie 123
Blickeinstellsakkade 109 Dysåsthesie 102
Blickfolge, langsame 110 Dysdiadochokinese 112
Blickfolgebewegung 169 Dyskinesie 119
Blickparese, supranukleåre 27 Dysmetrie 111, 112, 115
Blickrichtungsnystagmus 9 Dysphonie, spasmodische 118
Blickzielbewegung 25 Dyspnoe, obstruktive 40
Blindgang 113 Dystonie 117
Blinkreflex 160 ±, oromandibulåre 117
±, visueller 169
Blinzelreflex, akustischer 178 E
±, visueller 178
Blutdruck 148, 154 Echolalie 173
Blutung, petechiale 175 EDSS s. Expanded Disability Status
BMRC-Score 52 Scale
Bradydiadochokinese 112 efferente Pupillenstærung 22
Bradykinese 119 Einbeinhçpfen 75
Bragard-Zeichen 106 Eineinhalb-Syndrom 27
Brissaud-Sicard-Syndrom 45 Empfindungsstærung, dissoziierte 29
Broca-Aphasie 124 Endokarditis, bakterielle 154
Brudzinski-Zeichen 105, 176 Endstellnystagmus 37
bulbokardialer Reflex 149 Enthemmungssymptom 1
Bulbokavernosusreflex 84, 150, 151 Enurese 175
Enzephalopathie, subkortikale arterio-
sklerotische 129
C Epikondylitis 135
Cestan-Chenais-Syndrom 44 Epilepsie, juvenile myoklonische 13
Chaddock 86 Ermçdbarkeit, abnorme,
Cheyne-Stokes-Atmung 156, 175 eines Armes 154
Chorea 116 Ewing-Index 147
Choreoathetose 117 Expanded Disability Status Scale
Chvostek-Zeichen 34, 89 (EDSS) 183
Claude-Syndrom 46 Exsikkose 144
Claudicatio intermittens 155 Extinktion 101, 128
± ± spinalis 134 Extremitåtenataxie 111
CMD s. Muskeldystrophie, kongenitale
Cover-Test 25
Sachverzeichnis z 197
F Gliedergçrtelsyndrom 48
Gliedmaûenapraxie 126
Facettensyndrom 135 Gordon 86
Fallneigung 113 Gowers-Manæver 171
Fallschirmreaktion 165 Gowers-Zeichen 170
Farbempfindungsstærung 23 Grand-mal-Anfall 90
Farbsehen 20 Graphåsthesie 101
Faszikulation 88, 180 Greifreflex 84, 87, 162, 165, 180
Fechterstellung 90 Grenet-Syndrom 45
Fibromyalgie-Syndrom 135 Guillain-Barr-Syndrom 148, 149, 156
Finger-Boden-Abstand 133
Fingerfeinmotorik 112
Finger-Finger-Versuch 112 H
Fingerflexorenreflex 79
Finger-Nase-Versuch (FNV) 111, 170 Habituationsverhalten 82
Fingerperimetrie 23 Halsflexor 54
Finger-Tapping 112 Haltetremor 111
Fistelsymptom 39 Haltung 161
flapping tremor 89, 116 Haltungsinstabilitåt 183
FNV s. Finger-Nase-Versuch Handgrifftest 149
Fætor 175 Hautantwort, sympathische 145
Foville-Syndrom 45 Hauttemperatur 149
Fremdanamnese 174 Head-Zone 103
Fremdreflex 82 Heiserkeit 40
Frenzel-Brille 15, 37 Hemianopsie, homonyme 20
Fundus 23 Hemiballismus 116
Fuûklonus 76 Hemichorea 116
Hemineglect 127
Hemiparese 7
G
Herdenzephalitis, embolische 154
Galant-Reflex 165 Hertwig-Magendie-Schielstellung 178
Gang 73 Heterophorie 25
Gangapraxie 115 Hinterstranglåsion 98
Gangataxie 132 Hirndruck 156, 181
Gangbild 132 Hirnleistungen, hæhere 121
Ganglion 138 Hirnstammsyndrome,
Gangprçfung 113 alternierende 43
Gånsehaut 144 Hoffmann-Tinel-Zeichen 108
Gasperini-Syndrom 45 Hohlfuû 48, 139
Gedåchtnis 121, 130 Horner-Syndrom 21, 25, 152
Gegenhalten 76 Hærstærung 37
geistige Entwicklung 172 Hærvermægen 35, 169
gekreuzter Streckreflex 165 Hustenreflex 178
Geruchsstoff 15, 19 Hypalgesie 100
Geschmack 42 Hypåsthesie 93, 96
Geschmacksstoff 16 Hyperakusis 33
Geschmacksstærung 34, 43 Hyperalgesie 100
Gesichtsschmerz, atypischer 31 Hyperåsthesie 96
geste antagonistique 117 Hyperkinesie 115
Glabellareflex 30, 84, 160 Hyperpathie 100
Gleichgewichtsstærung 38 Hyperreflexie 75
198 z Sachverzeichnis
Reizsymptom 1 ±, ungerichteter 9
respiratorische Insuffizienz 156 second wind 4
Restharn 150 Seesaw-Nystagmus 110
Restless-legs-Syndrom 6 Sehschårfe 15, 22
Retrobulbårneuritis 7 Sehtafel 15
Retrokollis 117 Seiltånzergang 113
Rhabdomyolyse 4 Sensibilitåt 170
Riechstærung 19 Sensibilitåtsstærung, dissoziierte 93,
rigid spine 137 100
Rigor 76, 119 sensible Reizerscheinung 93, 105
Rinne-Versuch 35 Shy-Drager-Syndrom 147
Romberg-Stehversuch 113 signe des ciles 32
Rooting-Reflex 159 Simpson-Test 73
Rossolimo 80 Singultus 156
Rçckgratreflex, tonischer 165 Sinusitis 5
Rucknystagmus 24, 37 Sinusvenenthrombose 5
Ruhetremor 115 Sjægren-Syndrom 10
Rumpfataxie 114 skew deviation 178
Sklerose, multiple 184
small fiber neuropathy 146
S
Sneddon-Syndrom 13
Sakkade 24, 109 Sælder-Linien 29
Saugreflex 30, 159, 180 Somnolenz 175
Scapula alata 48, 132 Sonnenuntergangsphånomen 178
scarf sign 162 Sopor 175
Schådel-Hirn-Trauma 19 Spasmus 88
Schallleitungsschwerhærigkeit 35, 37 ± hemifacialis 34
Schellong-Test 147 Spastik 75, 132
Schenkelhalsfraktur 133 Speichelfluss 10
Scherengang 76, 170 Spiegelbewegung 74
Schmerz 102 Spiller-Dejerine-Syndrom 44
±, kolikartiger 3 Spinalkanalstenose, lumbale 4, 134,
±, neuralgiformer 104 155
±, neuropathischer 7, 103 Spitzfuûstellung 170
Deafferenzierungsschmerz 7 Spitz-Stumpf-Diskrimination 99
Ischåmieschmerz 7 Spondylolisthesis 135
Phantomschmerz 104 Spontannystagmus 110
Stumpfschmerz 104 ±, gelockerter 38
Schmerzreiz 178, 179 Spontansprache 124, 125
Schmerzsyndrom, pseudoradikulå- Sprache, bulbåre 111
res 134 ±, nåselnde 111
±, radikulåres 134 ±, pseudobulbåre 111
Schmerzwahrnehmung 99 ±, skandierende 111
Schnauzreflex 30, 180 Sprachproduktion 124
Schober-Index 133 Sprachstærung 123
Schreibkrampf 118 Sprachverståndnis 124, 125
Schreitreflex 160 Sprechstærung 111
Schulterschçtteln 113 Sprungbereitschaft 165
Schçrzengriff 133 Stauungspapille 23
Schwindel 37 Steal-Effekt 154
202 z Sachverzeichnis
T V
Takayasu-Arteriitis 154 Valleix-Druckpunkt 107
Tapia-Syndrom 44 Valsalva-Manæver 84, 107, 148
Taschenmesserphånomen 76 ±, Blutdruck 148
Teleopsie 21 ±, Herzfrequenz 148
Temperaturempfindung 16 VAS s. visuelle Analog-Skala
Temporallappenepilepsie 9 Verschlusskrankheit, arterielle 155
Tender-Points 108 Vestibularisausfall 38
Tennisellenbogen 135 Vestibularisparoxysmie 9
Tetanie 34, 89 vestibulookulårer Reflex (VOR) 24,
Tetanus 89 110, 177
Thermåsthesie 100 Vibrationsempfinden 16, 98
Thomas-Handgriff 133 Vigilanz 175
Tibialis-posterior-Reflex 80 visuelle Analogskala (VAS) 2
Tic 119 visueller Blinzelreflex 178
± douloureux 7 visuokonstruktive Fåhigkeiten 130
±, vokaler 119 visuospatiale Stærung 127
Tietze-Syndrom 136 Visus 22
Tinel-Zeichen 139 Vitalfunktion 174
Tinnitus 37, 38 Vitalkapazitåt 73, 156
±, pulsatiler 37 Vokalisation 118
±, pulssynchroner 3 von-Frey-Reizhaare 16, 96
tonischer Rçckgratreflex 165 VOR s. vestibulookulårer Reflex
Tortikollis 117
Sachverzeichnis z 203
W Z
Wachheit 175 Zahnradphånomen 76
Wallenberg-Syndrom 8, 44 zerebraler Anfall 3
warm up 4 Zilienzeichen 51
Wartenberg 87 ziliospinaler Reflex 181
Weber-Syndrom 46 Zungenbiss 90, 175
Weber-Tastzirkel 17 Zungenmotilitåt 111
Weber-Versuch 35 Zweipunktdiskrimination 101
Wernicke-Aphasie 124 Zwerchfellbewegung, paradoxe 155
Wernicke-Enzephalopathie 38 Zyanose 175
Wernicke-Mann-Gang 76
Wçrgreflex 39, 178