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19.

IBN SINA (AVICENNA)


Das Buch des Wissens
Metaphysica*

Kapitel 12
Das Erkennen der wahren Grundlage der
Universalität und Partikularität

Die überkommene Ansicht besteht darin, daß alle Schwärze eins ist und daß alle
Menschen in Hinsicht auf das Menschentum eins sind. Folgerichtig gelangen die
Menschen zu der Vorstellung, daß es möglicherweise ein gegenüber der Seele des
Menschen äußeres Sein gibt - wie etwa die Schwärze oder das Menschentum das
in Wirklichkeit auf eine identische Art und Weise in zahllosen Dingen existiert. Es
gibt zum Beispiel eine Schulrichtung, die der Ansicht ist, daß in Zaid und Amr eine
einzige Seele auf eine identische Art und Weise existiert - analog wie ein Vater
mehrere Söhne besitzen kann bzw. die Sonne in mehreren Städten scheinen kann.
Diese Meinung stimmt nicht, sie ist falsch.
Eine solche Universalität, die eine einzelne Idee darstellen soll und zu vielem
anderen in Analogie sein soll, existiert natürlich nicht, es sei denn in der Einbildung
und im menschlichen Denken. Beim erstmaligen Anblick eines Körpers eines
Menschen (d. h. eines Exemplars des Menschen) ist man geneigt zu denken, dieser
besäße die Form des Menschentums infolge des einen einzigen Menschentums;
man ist ebenfalls geneigt zu denken, daß die Form, die in dem einen Menschen ist,
mit der einen universellen Form und mit allen anderen Exemplaren der Formen des
Menschentums vereinigt ist, die einem Menschen gegenüberstehen. Es ist fur einen
Menschen, der das Produkt eines anderen Menschen ist, notwendig, dieselbe Form
zu besitzen wie seine Ursache. Wenn er von einem Menschen herkommt und die

* Ibn Sina, Daniä Nama-i Ala'i. - Unser Auszug: Metaphysica, Kap. 12, in: Danish Nama-i
Ala'i. The Metaphysica of Avicenna. A critical translation-commentary and analysis of the
fundamental arguments in Avicennas Metaphysica in the Danish Nama-i Ala'i (The book of
Scientific Knowledge), übers, v. P. Morewedge, London 1973, S. 32-36; danach Deutsch v.
H.-U. Wöhler.
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Form des Menschentums besitzt, kann er nicht akzidentiell eine andere Form
besitzen. Es kann zum Beispiel nicht sein, daß etwas, was von Zaid herkommt, nicht
Amr (d. h. ein anderer Mensch, der die Form des Menschentums besitzt), sondern
ein Löwe ist, der eine andere Form (als das Menschentum) besitzt.
Ferner: Wenn es mehrere Ringe mit denselben Insignien gibt, dann ist der
Abdruck, den der eine an einer Stelle hinterläßt, derselbe, wie ihn ein anderer
hinterlassen hätte. Ein und dasselbe Menschentum oder ein und dieselbe Form der
Schwärze kann es außerhalb der Seele, der Einbildung oder des Denkens jedoch
nicht geben. Die Existenz der Form des Menschentums kann nicht auf irgendein
Ding bzw. irgendein Exemplar der Klasse der Menschen beschränkt sein. Ebenso
kann die Existenz der Form der Schwärze nicht auf schwarze Menschen noch auf
Exemplare von schwarzen Entitäten beschränkt sein. Die identische Form des
Menschen als Menschen kann nicht ein Wissender wie Piaton und ebenso ein
Nichtwissender wie jemand anders als Piaton sein. Es ist fur das Wissen nicht
möglich, in ein und demselben Ding zu sein und nicht zu sein. Ebenso unmöglich
ist es für ein und dasselbe Ding, (zugleich) Schwärze und Weißheit zu enthalten. Es
ist gleichfalls unmöglich für das universale Lebewesen, ein besonderes wirkliches
Lebewesen zu sein, da es dann sowohl ein Schreitendes als auch ein Fliegendes wie
gleichermaßen nicht ein Schreitendes oder ein Fliegendes sein müßte, und es
müßte auch gleichermaßen zweifüßig und vierfüßig sein.
Somit wird es einleuchten, daß die Idee der Universalität nur auf Grund dessen,
daß sie ein Universale ist, kein aktual Existierendes ist, es sei denn im Denken. Ihre
Realität ist jedoch sowohl im Denken als auch außerhalb des Denkens gegeben;
denn die Realität des Menschentums und der Schwärze ist gleichermaßen im
Denken und außerhalb des Denkens in den Dingen gegeben. Freilich gibt es nicht
das, was angeblich ein einziges Menschentum mit einer einzigen Schwärze ist und
das angeblich wie eine Universalität in allen Entitäten existiert.
Eine Idee, die ein Universale ist, kann nicht vieles Partikuläre besitzen, das nicht
unterscheidbar ist mit Hilfe einer partikulären Kennzeichnung oder einer partikulä-
ren Relation. Es kann zum Beispiel nicht zwei Schwärzen geben, da die Schwärze
dann in zwei Körpern existieren müßte und jeder der beiden Entitäten dann
ermangelte, eine ganz genau umrissene Beschaffenheit zu besitzen. Der Grund für
diese Ausführung ist, daß jedes Exemplar der Schwärze identisch ist mit jedem
beliebigen anderen Exemplar im Hinblick auf die Bezeichnung derselben Schwär-
ze. Deshalb ist es Schwärze. Wäre es so, daß das „Eine-Einheit-Sein" und das
„Schwarz-Sein" dieselbe Idee ausmachten und wäre die Schwärze zudem notwen-
dig, um es zu einer Einheit zu machen, dann würde es notwendig sein, daß die
Schwärze mit der Einheit als solcher identisch ist. Wenn es also nicht der Fall ist, daß
ein Ding infolge der Schwärze zu einer Einheit wird und diese Einheit - wenngleich
durch ein anderes Ding verursacht - in der Realität mit der Schwärze verbunden ist,
dann kann diese Schwärze nicht in zwei aufgeteilt werden infolge der Schwärze
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selbst, vielmehr infolge eines Grundes, durch den die Schwärze jeder der beiden
Entitäten auf partikuläre Weise zuteil wird. Wir wissen, daß die Beziehung einer
allgemeinen Idee zu einer partikulären entweder von einer Differenz oder einem
Akzidens abhängt. Wenn nun eine Differenz und ein Akzidens in einer allgemeinen
Idee verwurzelt sind - sowohl im Kontext der Abstraktion als auch im Kontext der
Aktualisierung eines Partikulären -, so sollte man wissen, daß sie nicht in dem
Wesen der allgemeinen Idee verwurzelt sind.
Die Belebtheit, die gleichermaßen auf Mensch und Pferd bezogen ist, veran-
schaulicht diese These. Sobald die Idee der Belebtheit auf beide gleichermaßen in
Beziehung gebracht wurde, sind sie in bezug auf die Belebtheit vollkommen. Wäre
irgendeines von beiden unvollkommen, so könnte die Belebtheit auf es nicht in
Beziehung gebracht werden; denn ein in der Realität der Belebtheit mangelhaftes
Ding ist kein Lebewesen. Die Vernunftbegabung zum Beispiel - die Differenz des
Menschen - ist nicht notwendigerweise bezogen auf die Realität und das Wesen der
Belebtheit, denn sonst könnte die Belebtheit in der Realität nicht in Beziehung zu
einem Pferd gebracht werden. Tatsächlich muß es erst entweder die Vernunftbega-
bung oder eine Differenz, die der Vernunftbegabung ähnlich ist, geben, ehe die
Belebtheit in einem Existierenden aktualisiert ist, welches offensichtlich als ein
Lebewesen zu bezeichnen ist. Ohne daß es einen Menschen, ein Pferd oder etwas
aus den anderen Spezies des Genus der Beliebtheit gibt, wird die Belebtheit nicht
akutalisiert werden, denn die Belebtheit als solche ist von jeglichem menschlichen
Sein unabhängige Belebtheit. Sie ist unterschieden vom Menschentum und von der
Pferdheit, wie wir zuvor dargelegt haben.
Die Abhängigkeit eines partikulären Lebewesens von einer Differenz ist somit
nicht der Grund dafür, daß die Realität der Belebtheit unter Vermittlung der
Differenz die Realität der Belebtheit ist. Diese Abhängigkeit ergibt sich aus der
Beziehung des Genus der Belebtheit auf die Existenz und aus dem Fakt, daß die
Existenz unterschieden ist von dem Wesen. Da die Beschaffenheit der Differenz
derart ist, ist es um so notwendiger für die Beschaffenheit eines Akzidens, ebenso zu
sein. Analog ist der Beweis für das Zutreffen dieser Beschaffenheit auf das Akzidens
bedeutender und notwendiger. Somit kann das, dessen Wesen Existenz ist, weder
durch eine Differenz noch durch ein Akzidens unterscheidbar gemacht werden. 1
Wünscht jemand zu wissen, ob eine wesentliche Idee, die sich auf mehrere Dinge
bezieht, zum Genus oder zur Spezies gehört, so sollte man die folgende Überlegung
beachten.
Wäre es der Fall, daß die Form einer Idee vollständig in der Seele von jemand
enthalten wäre und bestände dann für nichts weiter ein Bedarf als für ein Akzidens,
um dieses anzugliedern, damit einer annehmen kann, sie sei ein Existierendes,
dann würde sie zur Spezies gehören, wie ζ. B. die Fünfheit und die Zehnheit. Wenn
demgegenüber jemand etwas nicht für ein Existierendes erachten kann, es sei denn,
es befände sich in dem Zustand, in dem seine Quiddität erforscht würde, dann
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handelte es sich um ein Genus, wie ζ. B. die Zahl. So, wie man die Zahl nicht für
etwas Existierendes erachten kann, kann man auch über die Zahl nicht nachdenken
ohne einen substantiellen oder akzidentellen beschränkten Zuwachs. Ist es doch
natürlich, wenn man fragt: „Welche Zahl ist es?" Ist es vier, fünf oder sechs? Und
sobald es feststeht, daß es vier, fünf oder sechs ist, ist keine weitere Untersuchung in
bezug auf die „Quiddität" notwendig, während es noch notwendig ihre akzidentel-
len Attribute zu erforschen gilt, wie zum Beispiel: „Wovon ist sie eine Zahl?", „In
welchem Ding existiert sie (d. h. welcher Klasse von Gegenständen wird sie zuge-
schrieben)?" Im Unterschied zur Vierheit, die selbst ein Exemplar einer Zahl ist,
sind diese Attribute gegenüber ihrer Natur äußerlich. Es verhält sich nicht so, daß
die Zahl etwas ist und die Vierheit etwas anderes, von ihr Getrenntes und ihr
gegenüber akzidentiell ist, so daß das Zahl-Sein für sich selbst etwas Reales wäre,
das ohne die Vierheit ein Dasein besäße. Mehr noch - man muß wissen, daß die
Ursache für jedes, was eine akzidentelle Idee ist, entweder jenes Ding selbst ist, von
dem die akzidentelle Idee aktualisiert wird, oder sie ist diesem Ding gegenüber
äußerlich. Beispiele für ersteres sind das Besitzen eines Gewichtes und die Fähig-
keit zu fallen, die ein Felsen infolge seiner eigenen Natur besitzt. Ein Beispiel für das
zweite ist das Warmwerden infolge einer Ursache, die einem Ding gegenüber
äußerlich ist - wie zum Beispiel wenn Wasser warm wird. Möchte jemand wissen,
warum wir behaupten, daß entweder das Subjekt oder etwas anderes die Ursache für
ein Akzidens ist, so muß man wissen, daß die Ursache nur einer dieser beiden Fälle
sein kann. Entweder besitzt das Akzidens eine Ursache oder es besitzt keine
Ursache. Wenn es keine Ursache besitzt, dann beruht seine Existenz auf sich selbst;
und was auf Grund seiner selbst existiert, benötigt in seiner Existenz nichts außer
sich selbst. Was jedoch nicht von etwas außer sich selbst abhängt in bezug auf seine
Existenz, kann kein Akzidens von etwas anderem sein, welches ohne es existiert.
Weil es aber eine Ursache für es gibt, ist seine Ursache entweder in dem Ding, in
dem es subsistiert, oder sie ist etwas Äußeres, das als Ursache für sein Dasein wie
auch dafür auftritt, daß es einem Zugrundeliegenden zukommt. Von welcher Art
dies auch sein mag - die Existenz des Dinges, das die Ursache ist, muß zuvor
aktualisiert sein, damit etwas auf Grund von ihm existieren kann.

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