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THEMA

DAS LUDISCHE UND DIE NEUE MUSIK


ZWISCHEN SPIELTHEORIE UND GAME STUDIES, ACOUSTIC RESEARCH UND GAMIFICATION

von Anna Schürmer

Jede Musikerin, jeder Musiker spielt ein Instrument. Und jede:r in irgendeiner Form mit Sprache befasste Mensch weiß, dass
Worte nicht einfach Schall und Rauch sind, dass sie Sprechakte darstellen, dass sie «agency» besitzen. Umso frappierender ist
es, dass die Musikwissenschaft lange Zeit das ihrem Fach und Gegenstand inhärente ludische Element ignorierte; und auch im
professionellen klassischen Musikbetrieb wird der Spieltrieb oft ins Abseits gestellt, steht er doch dem heiligen «Ernst» der kano-
nisierten Kunstreligion entgegen. Etwas anders sieht es in der Szene Neuer Musik aus, wo Spielwitz spätestens seit Cages alea-
torischen Experimenten und Kagels musiktheatralen Matches ausgelebt wird, während das Gaming insbesondere für die in Hör-
weite von Videospielen aufgewachsene Komponist:innengeneration zum innovativen Faktor wird. Schließlich und endlich wird
das ludische Element auch in der Musikforschung lauter – und findet seine interdisziplinäre Rahmung in der «Ludomusikologie»,
die ihr Spielfeld irgendwo zwischen Spieltheorie, Game Studies und Artistic Research absteckt. Ein Streifzug.

LUDUS [ZEITVERTREIB, SPASS, KIN- Eilige Korrektur


DERSPIEL]
Bitte umgehend zurück!
Das ludische Element zieht sich durch die
Musikgeschichte – man denke nur an die Liebe Autorin, lieber Autor,
unzähligen Prä-, Inter- und Postludien.
Indem ludus im Lateinischen für «Grund- Sie erhalten heute die Korrekturfahnen Ihres Bei-
schule» steht, kommt unweigerlich auch trags mit der Bitte um rasche Bearbeitung und
die musikalische Früh- oder Elementar- Rücksendung an die Redaktion.
erziehung ins Spiel, die Carl Orff mit sei-
nem auf Selbsterfahrung und Intuition zie- Bitte bestätigen Sie die Freigabe des Beitrags zum
lenden Instrumentarium für eine immer- Druck und zur Nutzung im Rahmen des Online-
hin postklassische Musikkultur fruchtbar Angebots von Schott Music GmbH & Co. KG
machte. Im ungerichteten, spielerischen durch Datum und Unterschrift.
Tun wird der Ernst zum Spaß – und im-
merhin lassen sich Scherz und Schäkerei als Es gilt die neue Rechtschreibung. Bitte nur Kor-
probate Gegenpole zur «Ernsten» Musik rekturen bezüglich der Orthografie und Zeichen-
interpretieren. Gingen Hohepriester der setzung anbringen. Inhaltliche und stilistische Än-
Neuen Musik wie Adorno und Schönberg derungen sind nur noch in Absprache mit der Re-
im Schatten der Schoah eher humorlos zu daktion möglich.
Werke, erlebt der Witz spätestens seit der
Postmoderne eine Renaissance. Mehr als Mit freundlichen Grüßen
Galgenhumor im Zeichen der sozialen Ihre Redaktion
Isolation Neuer Musik, ist er auch Mittel,
um die Barrieren zwischen «U» und «E» Nach Korrektur freigegeben:
einzureißen und damit ein konzeptuelles
Tool – was etwa bei Johannes Kreidler
nachzuhören ist. Wer den belächelt, möge Datum Unterschrift
an Lachenmanns in hemdsärmeliger Har-

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monie daherkommenden Marche fatale
denken – auch wenn der in einem Inter-
view nonchalant behauptete: «Ich hasse
Humor!»1

Denker wie Thomas von Aquin und


Friedrich Schiller reflektierten das huma-
nistische Element des Spiel(en)s, was Johan …, was Johan Huizinga 1939 in seinem heute
Huizinga 1939 in Homo Ludens zur Groß- kanonischen Buch »Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur
these ausarbeitete: «Die Kultur hat ihren im Spiel« zur Großtheorie ausarbeitete.
Ursprung im Spiel, sie ist im Spiel entstan-
den.»2 Und tatsächlich hat ja auch die Mu-
sikkultur ihren Ursprung im Spiel, sie ist
im Spiel entstanden: Instrumente werden
gespielt, im Orchester wird das Zusam-
menspiel abgestimmt und im Studio spie-
lerisch experimentiert; in jeder Aufführung
steht etwas auf dem Spiel und das Wett-
kampfprinzip steckt schon im Wortstamm
des Konzerts, das in seiner lateinischen Fas-
sung concertare nichts anderes bedeutet als
wetteifern, kämpfen, disputieren.

AGON [KAMPFSPIEL, WETTKAMPF]

In der griechischen Antike bezeichnete der


Agon das Wettkampfprinzip, das gleicher-
maßen für sportliche und künstlerische,
politische und rhetorische Konkurrenzen
galt. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert Abstand
wurde das agonistische Prinzip durch
Denker wie Jacob Burckhardt und Fried-
rich Nietzsche zur kulturtheoretischen
Formel aufgewertet – die gerade auch für
die Neue Musik Relevanz besitzt. Man
denke grundsätzlich an den Wettlauf um
Innovation, den sich die musikalischen
Avantgarden nach 1945 lieferten. Ganz
konkret wird der Wettkampf bei Mauricio
Kagel zum musiktheatralen Spielfeld: In
Match für drei Spieler (1964) liefern sich
zwei Cellist:innen ein «Battle», bei dem der
dritte im Bunde mit seinem Schlagzeug
den Spielleiter und Schiedsrichter gibt.

Den Konnex vom musikalischen Spiel


und sportlichen Wettkampf denkt aktuell
Julian Kämper in seinem Promotionspro-
jekt weiter. Als Vertreter der musikwissen-

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schaftlichen Ludologie hat er 2021 den
Sammelband Musik Als Spiel – Spiel Als
Musik mitherausgegeben, der sich der «In- Das ist schlichtweg der Untertitel des Buchs, das ich also
tegration von Spielkonzepten in zeitgenös- wie angegeben ohne Seitenzahl aufführen würde.
sischer Musik, Musiktheater und Klang-
kunst»3 widmet und die «zunehmende Be- – und dabei auch die zunehmende Bedeutung des
deutung des Spielbegriffs als ästhetischer Spielbegriffs als ästhetischer Kategorie reflektiert
Kategorie»4 reflektiert. Methodisch bildet
der Band die Grundpfeiler der ludomusi- —> ohne Anführungszeichen
kologischen Forschung in drei Kapiteln ab:
«Spielkonzepte und Spieltheorien» bereitet
den diskursiven Boden, «Klangkunst und
Performance» präsentiert praxisbezogene
Annäherungen im Sinne der künstleri-
schen Forschung, «Computerspiel» reflek-
tiert mediale Spielformen im Zeichen des
Gaming – dem Schwerpunktthema der
medienwissenschaftlich geprägten Ludo-
musicology.

ALEA [WÜRFEL, GLÜCKSSPIEL]

Aleatorik gibt es nicht erst seit Cage in der


Musik. Bereits Mozart formulierte eine
Anleitung so viel Walzer oder Schleifer, mit zwei
Würfeln, zu componiren, so viel man will, ohne
musikalisch zu seyn, noch etwas von der Com-
position zu verstehen (1787). Das Ensemble
Resonanz bietet auf seiner Website5 eine
gamifizierte Variante des aleatorischen
Kombinationsspiels an: mit 16 Würfen von
zwei Würfeln entstehen 16 Takte Musik –
möglich sind fast 760 Billionen Stücke, was
gewissermaßen die rechnergenerierte KI-
Komposition vorwegnimmt. Betonte Mo-
zarts musikalisches Würfelspiel eher den
zweckgerichteten Formalismus klassischer
Komposition, zielte Cages Aleatorik gerade
aufs Gegenteil: mit Konzepten wie «Inde-
terminacy» und «Chance» betonte er die
zweckfreie, die ludische Komponente der
Musik; und tatsächlich war der amerikani-
sche Komponist ein echter Lude – ein ver-
schmitzter und leicht anrüchiger Trickster.

Melanie Fritsch ist die vielleicht promi-


nenteste Vertreterin der ludomusikologi-
schen Forschung hierzulande. In ihrem
Aufsatz darüber, Wie das ‹Ludo-› in die Mu-

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sikologie kam, skizziert sie die Themenfelder
ihrer Disziplin: «Neben der Musik in
Computerspielen selbst, Musikspielen und
musikalischen Praktiken der Computer-
spielkultur jenseits der Spiele [...] rückt der
[...] im Begriff der Ludomusicology bereits
verankerte Konnex zur (Computer-)Spiel-
forschung – und in der Folge die Frage
nach einem Verständnis von Musik als spie-
lerischer Praxis – immer stärker in den
Fokus des Interesses.»6 Musik als spieleri-
sche Praxis findet sich insbesondere bei der
um 1980 geborenen und mit Computer-
spielen aufgewachsenen Komponist:innen-
Generation: Analog sozialisiert und zu-
gleich die ersten «digital natives», (inter)-
agieren ihre Vertreter:innen mit einer ge-
hörigen Portion Spieltrieb an den hybri-
den Schnittstellen einer medienästheti-
schen Ordnung, die Pop und Kunst, Rea-
lität und Virtualität, Unterhaltungsindustrie
und den Ernst des Lebens beziehungsweise
der Musik nicht mehr unterscheiden will:
Jagoda Szmytka (geb. 1982) kreierte die in-
terdisziplinäre Plattform PLAY, während
Brigitta Muntendorf (geb. 1982) das Next
Level – Festival for Games kuratiert; Julia
Mihály (geb. 1984) bezeichnete Chiptunes
als «Punk der elektronischen Musik»7, wäh-
rend Johannes Kreidler (geb. 1980) die 8-
Bit-generierten Todesmelodien von Hel-
den der klassischen Spiele-Ära zu einem
«Requiem auf schmalem Frequenzband»8
sampelte. Gemeinsam öffnen sie Möglich-
keitsräume für eine audiovisuell animierte
und interaktiv modellierte Zukunftsmusik.

MIMIKRY [MASKERADE, VERKLEI-


DUNG, NACHAHMUNG]

Während Spiele ganz grundsätzlich andere


Welten kreieren, erlaubt mimicry Spieler:-
innen die Flucht vor sich selbst durch Hin-
einschlüpfen in fremde Rollen. Zur pro-
minenten Figuration in Hörweite der Di-
gitalisierung wurde der Avatar: computer-
generierte Personae in virtuellen Umge-
bungen, die ihren User:innen ähneln oder
auch völlig neue Verkörperungen sein kön-

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nen. Im Kreise der zeitgenössischen Kom-
ponist:innen bedient sich etwa Alexander
Schubert (geb. 1979) dieser Figuration, die
analoge und virtuelle Welten verknüpft: In
seinem «Real Live Computer Game» Ge-
nesis kann sich das Publikum über ein In-
terface einloggen, um von Performer:innen
dargestellte Avatare in einer zunächst lee-
ren Halle wie in einem First-Person-Com-
puterspiel zu steuern – um mit wählbaren
Gegenständen wie Musikinstrumenten
und Farbeimern, Möbeln und Schallplat-
ten binnen einer Woche eine neue Welt zu
kreieren.

Marko Ciciliani ist 1970 geboren und


gehört damit streng genommen nicht zur
«Generation Gaming». Und doch ist er die
zentrale Figur im Bereich Gamified Audio-
visual Performance and Performance Practice –
kurz: GAPPP, wie das groß angelegte Pro-
jekt heißt, das er von 2016 bis 2020 an der
Universität für Musik und darstellende
Kunst Graz realisierte. Antworten auf die
Ausgangsthese, dass Game-Anleihen und
Spiel-Strategien neue, unerforschte Pfade
in die Zukunftsmusik weisen, finden sich
in der silbern glänzenden Anthologie Lu-
dified (2021): ein verspieltes Doppelbuch,
das von beiden Seiten gelesen werden
kann, während ein USB-Stick die audio-
visuelle Ebene sinnlich vermittelt und zu-
gleich als Lesezeichen fungiert. Jenseits der
theoretischen ludischen Positionen zwi-
schen Spieltheorie und Game Studies
schlägt Ciciliani einen künstlerisch-for-
schenden Weg ein – der es verdient hätte,
innerhalb der kunstspartenübergreifenden
«Artistic Research» als «Acoustic Research»
weiter konturiert zu werden: Welches im-
plizite Wissen – tacit knowledge – liegt den
Praktiken und Rezeptionsweisen des mu-
sikalischen Spiels zugrunde?

ILINX [LAT. RAUSCH, EKSTASE]

Manche Spiele beziehen ihren Reiz aus


Rausch, Ekstase und Nervenkitzel. Ziel ist
die Herbeiführung tranceartiger Zustände,

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eine Störung der eigenen Wahrnehmung,
indem Spieler:innen sich großen Ge-
schwindigkeiten, Stürzen und kreisförmi-
gen Bewegungen aussetzten. Analoge Bei-
spiele dafür sind kindliche Drehspiele, eks-
tatisches Tanzen und Jahrmarktattraktio-
nen; auf digitaler Ebene rückt hier das pro-
minente Schlagwort der «Immersion» in
den Sweet Spot – das multimodal getrig-
gerte Abtauchen in eine (virtuelle) Szene-
rie, wie sie viele zeitgenössische Perfor-
mances anstreben: Das kann über 3D-
Audio geschehen, durch die Inszenierung
«anderer Orte» oder durch Ansprache aller
Sinne – man denke etwa an Georg Fried-
rich Haas‘ Lichtkomposition Hyperion
(2006), Gerhard Stäblers Geruchsmusik
Dämpfe (1968/70) oder eben die multime-
dial generierten Welten der Komponist:in-
nengeneration um 1980.

Neben den theoretischen Diskursen der


Ludomusicology und den kunstprakti-
schen Ansätzen der «Acoustic Research»
bleibt noch eine letzte ludische Methode:
«Gamification» – der Einsatz von spieleri-
schen Elementen in spielfremden Kontex-
ten, als die man die «ernste» Kunstmusik
trotz ihrer diversen ludischen Aspekte ver-
stehen kann. Gerade im Bereich der Ver-
mittlungsarbeit mag Gamifizierung ein
probates Mittel sein, um die viel beschwo-
rene Isolation zu überwinden und ein
neues, jüngeres Publikum zu gewinnen.
Aber Achtung – unter dem Deckmantel
von Spiel und Spaß lauern oft genug neo-
liberale Vermarktungsstrategien und eine
musikalische Warenlogik, die das freie Spiel
und die Kunst kapitalisiert …

CIRCENSES [LAT. ZIRKUSSPIELE,


SCHAUSPIELE]

Musikalische Virtuosität gerät, schon seit


dem «Teufelsgeiger» Paganini und dem
«Tastenlöwen» Liszt, immer mehr zur Ar-
tistik. Dieses perfektionistische Kunsthand-
werk der Interpretation aber überdeckt all-
zuoft das Spielerische, die Leichtigkeit. Und

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an genau dieser Stelle werden Irritationen,
Fehler und Störungen zum künstlerisch
produktiven Moment, gerade unter den
Vorzeichen digitaler Perfektion: Wenn das
Material ausgeschöpft ist und technischer
Perfektionismus den menschlichen Genius
überholt, nimmt der Fehler strategisch die
Rolle der Innovation ein. Zu nennen wäre
hier einmal mehr Alexander Schubert, der
die «Ästhetik des Fehlers» nicht nur theo-
retisch, sondern auch in vielen seiner
Werke reflektiert. Jenseits der Neuen
Musik im strengeren Sinne darf Noise-
und Glitch-Art als die Sparte gelten, in
welcher Störgeräusche am genuinsten äs-
thetisiert werden. Das Ergebnis ist zeitge-
nössische Musik, die weder «U» noch «E»,
die gleichermaßen Kunst wie Rausch ist.

Game over. ■
1 Anmerkungen

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