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Bibel

Die Bibel als Tradierungsprozess


Biblische Bücher sind vielfach nicht in einem Guss oder von einem Autor geschrieben
worden. Gerade in der jüdisch-christlichen Tradition stand zunächst die mündliche
5 Überlieferung am Anfang. Gotteserfahrungen wurden von Generation zu Generation
weitererzählt. Geschichten erzählten die Geschichte mit Gott. Mit der Überlieferung
dieser Geschichten setzte unweigerlich ein Selektions- und Extraktionsprozess ein. Nur
Erzählungen, die immer wieder neu etwas zu sagen hatten, die Lebenssinn und
-wahrheit vermittelten, hatten Bestand im Strom der Tradierung. So wurden einige
10 Erzählungen aufgeschrieben, wurden zu Texten, die Kontinuität und Identität einer
religiösen Gruppe verbürgen konnten. Nur wenn ein Text in einer neuen
Lebenssituation immer wieder herangezogen wird, von ihm etwas Klärendes erwartet
wird, rückt er in den Rang eines heiligen Textes auf, um schließlich zum Grundbestand
zu zählen, d.h. zum klassischen bzw. kanonischen Text zu werden. Biblische Texte
15 haben deshalb, wie die meisten heilige Texte, eine längere
Überlieferungsgeschichte.
Man kann davon ausgehen, dass die mündliche
Überlieferung des biblischen Stoffes um ca. 1800 v.
Chr. beginnt. Um 1000 v. Chr., an den Königshöfen
20 mündliche von David und Salomo, erfolgten die ersten
Überlieferung schriftlichen Niederlegungen, während vor allem im
babylonischen Exil nach 587 v. Chr. Priester zum
ersten Mal Teiltexte der hebräischen Bibel
Verschriftlichung;
redigierten. In nachexilischer Zeit verfestigte sich der
Sammlungen;
25 Bearbeitungen Textbestand von Tora (fünf Bücher Mose) und
Propheten, während der Umfang der „Schriften“
(ketubim) noch bis ca. 100 n. Chr. offen blieb und
durch die Einbeziehung griechisch-sprachiger
Text Originalschriften aus dieser Zeit zusätzlich kontrovers
30 beurteilt wurde. Die Texte des Neuen Testaments
Überlieferung; stammen hingegen aus einer vergleichsweise kurzen
Bearbeitungen des Zeitspanne, denn die ältesten Schriften lassen sich
Textes
auf eine Zeit um 50 n. Chr. (Paulusbriefe) datieren,
während der jüngste neutestamentliche Text nicht
35 einmal 80 Jahre danach entstanden ist (2.
Petrusbrief, ca. 130 n. Chr.).
Unter überlieferungsgeschichtlicher Perspektive sind besonders die Evangelien
interessant. Jesus selbst, der aramäisch sprach, hat keine schriftlichen
Aufzeichnungen hinterlassen. Seine Worte und Gleichnisse, ebenso wie Erzählungen
40 von Wundern oder von Tod und Auferstehung wurden zunächst mündlich überliefert.
Erst ca. 40-70 Jahre nach seinem Tod sind die Evangelien entstanden, die alle
griechischsprachig sind, wie überhaupt das Neue Testament. Die Zeitspanne
zwischen Jesu Tod und der Verschriftlichung seines Lebens entspricht genau den
auch sonst zu beobachtenden 40 Jahren, nach denen Zeitzeugen zunehmend
45 sterben und ein Schub schriftlicher Erinnerungsarbeit einsetzt (Assmann).
In den Evangelien wurden unterschiedliche vorfindliche Quellen (z.B. Sammlungen von
Jesusworten) zusammengefügt und zu einem neuen Ganzen vereint. Die Evangelisten
der ersten drei Evangelien werden deshalb oft als Sammler bzw. Redaktoren
bezeichnet, die zum Teil sogar gleiche Quellen verarbeitet haben. Eine Aufgabe
50 historischer Kritik besteht darin, mit literarkritischen Methoden nach den in einen Text
integrierten Quellen zu fragen. Manchmal kann man sogar Sammlungen von Texten

© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2008 1


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erkennen, die offenbar einem Autor vorgelegen haben und in sein Werk eingeflossen
sind.
Die komplexe und vielfältige Überlieferungsgestalt der Jesustradition beschränkt sich
55 jedoch nicht nur auf eine einzelne Schrift, sondern lässt sich auch an der Existenz
unterschiedlicher Evangelien innerhalb der Gesamtschrift ablesen. Indem vier
Evangelien in aller Unterschiedlichkeit und zum Teil sogar Widersprüchlichkeit
Aufnahme in den Kanon des Neuen Testaments gefunden haben, wird eindrucksvoll
der Charakter der Jesusüberlieferung unterstrichen: Es geht nicht um einen einzigen,
60 möglichst präzisen historischen Faktenbericht, sondern um die jeweils neu und dabei
auch verändert zu sagende Botschaft, deren bleibende Gültigkeit ein einzelner Christ
bezeugen möchte.
Bis zur endgültigen Festschreibung des Umfangs der biblischen Bücher (Kanon)
vergehen noch einmal 200 Jahre. Die Schriften der Bibel sind also Niederschlag einer
65 ca. 2000-jährigen Überlieferungsgeschichte.

Aufgabe:
1. Beschreiben Sie in Ihren Worten die Entstehungsgeschichte – vom Wort Jesu
zur Bibel.
2. Fantasieren Sie, wie die Verbreitung solch einer Überlieferung heutzutage
ablaufen würde.

2 © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2008

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