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Das jüdische Genie -


Die Hintergründe des
Phänomens der Prager
Deutschen Literatur

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Aufklärung ~1650-1800 (F, GB, HRR)
1763 kommt Moses Mendelssohn, Talmudschüler, nach
Berlin und wird zum Filosofen: Gedanken- und Redefreiheit,
Trennung von Staat u. Religion, Toleranz. (Lessings
“Nathan der Weise”)
1781: Christian Konrad Wilhelm Dohm: "Über die
bürgerliche Verbesserung der Juden"
1784: Johann Gottfried Herder:
„Es wird eine Zeit kommen, da man in Europa nicht mehr
fragen wird, wer Jude oder Christ sei; denn auch der Jude
wird nach europäischen Gesetzen leben und zum Besten
der Staaten beitragen, woran nur eine barbarische
Verfassung ihn hindern oder seine Fähigkeit schädlich
machen konnte."

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Maria Theresia (1717-1780): Keine "klassische" Aufklärerin,
aber pragmatische Reformerin: Verwaltung, Armee, Zölle usw.
Nach den Schlesischen Kriegen musste der Staat produktiver
werden: 1774 Unterrichtspflicht (nicht Schulpflicht!) für Kinder
„beyderley Geschlechts als wichtigste Grundlage für die wahre
Glückseligkeit der Nationen“.
Ihr Sohn Joseph II. (1741-1790) wollte auch die Juden zu
produktiven Staatsbügern machen: Toleranzedikte 1781/1782
und staatliches jüdisches Pflichtschulwesen mit der Prämisse:

Grundschule in Lokalsprache,

Hauptschule/Gymnasien in deutscher Sprache.
Organisation durch jüdische Gemeinden, wo nicht vorhanden,
christliche Schule ohne Einflussnahme! Lehrbücher: italienisch,
tschechisch, polnisch, ruthenisch, slowenisch, kroatisch,
serbisch, kirchenslawisch, ungarisch, rumänisch und hebräisch.
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Der Mann hinter den Reformen: Joseph von
Sonnenfels (1732 Nikolsburg-1817 Wien). Enkel des
Berliner Stadtrabbiners. Vater konvertierte, wurde
Orientalist a.d. Uni Wien ("Sprachknaben-Institut"),
wurde geadelt.

DER Aufklärer Österreichs: Abschaffung der Folter,
Sprachreform ("Hochdeutsch"), Konzepte zum
Sprachproblem d. Monarchie: Deutsch UND lokale
Sprachen.

Organisator, Förderer d. jüdischen Schulwesens:
Ferdinand Kindermann, (1740 Königswalde-1801
Leitmeritz), 1775 Lehrkanzel für Pädagogik am
Kleinseitner Gymnasium, später Bischof v.
Leitmeritz/Litoměřice
Ignaz Böhm: Historische Nachrichten von der Entstehungsart und der
Verbreitung des Normalschulinstituts in Böhmen, 1784
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Gleichzeitig entstand die jüdische Reformbewegung
Haskala mit der Forderung nach einer jüdischen
Bildungsreform (Naphtali Herz-Wessely, 1725-1805)

Erfolge: In den deutschen Staaten (Von Preussen
ausgehend) bis ca. 1820 8(!) jüdische Schulen, in
den Habsburgischen Erbländern 250(!), davon in
Böhmen 45 und in Mähren 42!

Eröffnung der Prager jüdischen Normalschule
grossartiges Ereignis, Feiern, Festreden.

1783 bereits 347 Knaben >30% aller schulfähigen
Kinder. Am 5. 10. 1784 eröffnete Mädchenschule: Im
1. Schuljahr ca. 100 Schülerinnen = ca. 40%.
Sohn Bernhard Freiherr von Eskeles
Finanzierung aus den jüdischen Steuern + staatliche (1753-1839), Privatbankier in Wien und
Zuschüsse, tw. Mäzene (z.B. Landesrabbiner Bernd einer der Mitgründer der Österreichischen
Gabriel Eskeles in Mähren). Nationalbank
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Hier stand die Erste jüdische
Normalschule
in Prag

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Ab 1811 Peter Beer Direktor der Normalschule,
Reformer, Maskil, Historiker und Schriftsteller

Unzahl an edukativer, religiöser und historischer
Literatur, Mitglied d. Vereins zur Verbesserung des
Israelitischen Kultus (1830), 1835 Mitbegründer der
Prager Reformsynagoge.

Wollte die Stellung der jüdischen Frauen verbessern:
Erstes deutschsprachiges Gebetbuch für Frauen:
Gebetbuch für gebildete Frauenzimmer mosaischer
Religion.

1. jüdischer Absolvent d. juridischen Fakultät,
Raphael Joel aus Wien sollte im November 1790
promovieren: massiver Widerstand d. Prager
Rechtsanwälte und d. obersten Aufsichtsorgans der Peter Beer: Gebetbuch für gebildete
Karlsuniversität, des Erzbischofs von Prag. Durch Frauenzimmer mosaischer Religion, 1815
amtliche Intervention aus Wien Promotion mit einem
Monat Verspätung. 8
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1797: Kaiser Franz I. bestätigte d. Böhmische
Systemalpatent d. Joseph II.: Ermöglichte Juden
Grosshandel, Fabriken und Manufakturen.

Rascher Aufstieg vom Hausierer ("Dorfgeher") zum Klein-
händler und zum Industriellen: Baumwolle, Kattun, Tabak

1829 Ehrung verdienter Unternehmer: Silbermedaille d.
Jury für Moses & Juda Löw ("Leopold") Porges
(Portheimka!), Leopold Jerusalem, Aaron Beer Przipram.

Oft besser organisiert als Konkurrenz, flexibel. Aufschwung
auch durch Napoleons Kontinentalsperre.

1807: Von 58 böhmischen Textilfabriken 15 jüdisch, = ~
25% bei max. 2% der Gesamtbevölkerung.

Prag um 1800: 8500 Juden=10,6%, höchster Anteil an
jüdischer Bevölkerung unter allen Großstädten im
deutschsprachigen Raum. 1848: 11700.
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Symptomatische Entwicklung: Joseph, Sohn des Leopold
Porges, übernimmt zwar die Firma, widmet sich jedoch ab
1873 Musik u. Literatur. Gründung des noch heute
bestehenden Prager Kammermusikvereins (Český spolek
pro komorní hudbu)

Weiteres Beispiel: Simon Lämel (1766-1845),
Gemischtwarenladen in Kolín, dann Grosshandels- und
Bankhaus. Rüstungsmaterial f.d. kaiserliche Armee gegen
Napoleon. Aus den Einnahmen Kredite an d. Kaiserhaus.

Wird nobilitiert, zieht nach Wien. Sein Sohn Leopold
Ritter von Lämel gründet mit Lobkowicz, Colloredo-
Mansfeld, Schwarzenberg die Böhmische Spar-Casse. 1857 Der ehemalige Kassensaal der
Konzession f.d. Bau d. Westbahn: Prag (Smíchov)-Pilsen. Böhmischen Spar-Casse, heute

Gründet 1855 gemeinsam mit Anselm Salomon v. Lesesaal der Bibliothek der Akademie
der Wissenschaften, rechts vom Café
Rothschild u.A. k. k. priv. Österreichische Credit-Anstalt für Slavia
Handel und Gewerbe, später Creditanstalt
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Hier: Kurze Lesung zu Ludwig


August Frankl, Elise Herz,
zur ersten Zuckerfabrik und
zur Familie Petschek:

Aus dem Buch


"Mein ganz anderes Prag",
Kapitel "Das jüdische Genie",
Seiten 149-155

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Prager Deutsche Literatur: Wer machte den Anfang?
Schwer zu sagen.

Aber: Prag war im 16. Jhdt. das erste Zentrum Hebräischen
Buchdrucks nördlich der Alpen.
Im Zuge der deutschsprachigen Akkulturation der Juden in
B/M/S begann Autor u. Verleger Wolf Pascheles (1814-1875),
auf deutsch zu verlegen: "Sippurim, eine Sammlung jüdischer
Sagen, Märchen und Geschichten als ein Beitrag zur
Völkerkunde". Sehr populär, zahlreiche Auflagen bis 1920.
"Ghettoliteratur" wurde der Nährboden für die meist jüdischen
AutorInnen der Prager deutschen Literaturszene.

Übrigens typisch: Pascheles' Sohn (1839-1997) wurde Arzt u.
Universitätsprofessor, zog nach Wien, konvertierte als
Wolfgang Joseph Pauli zum Katholizismus, dessen Sohn war
der Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900 Wien-1958
Zürich)
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Von der Mitte des 19. Jahrhunderts zieht sich die wechselvolle
Geschichte dieses einzigartigen kulturellen Phänomens bis in
die jüngste Vergangenheit.

Zahlreiche Werke entstanden nach der Emigraton vieler
Autoren bereits ab 1910 (Berlin, Dresden, Wien) und vor allem
im Exil ab 1933 bzw. 1938/39 (NY, LA, Palästina).

Viele AutorInnen wurden erst spät hauptberufliche
SchriftstellerInnen.

Untypische Ausnahme: Rilke

Typisch: Franz Kafka, Leo Perutz – Versicherung, Max Brod:
Post, August Sauer, Ernst Weiss: Arzt usw.

Fast alle schrieben für die Tageszeitungen Bohemia, Prager
Tagblatt, Prager Presse, Neue Freie Presse, Die Zeit (Wien) und
vor allem für deutsche Literaturzeitschriften (Die Aktion usw.)

Das Phänomen endet mit dem Tod Lenka Reinerovás 2008.
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