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Zusammenfassung
Seit Ende der 1990er Jahre ist »Familiengesundheit« die Primärver-
sorgungsstrategie im Rahmen einer grundlegenderen Umgestaltung
des Versorgungsmodells, des Einheitlichen Gesundheitssystems SUS,
in Brasilien. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Primärversorgung
in Brasilien, analysiert das der Familiengesundheitsmodell und disku-
tiert die Herausforderungen von multiprofessioneller Teamarbeit und
Gemeindeorientierung unter Auswertung einer externen Evaluierung
des »Nationalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der
Qualität der Primärversorgung«. Dabei zeigt sich, dass trotz einer
spürbaren Verbesserung der Primärversorgung Brasilien weiterhin vor
großen Herausforderungen steht, universellen Zugang zu einer qualita-
tiv hochwertigen, an den Bedürfnissen der BürgerInnen ausgerichteten
medizinischen Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig den ge-
sellschaftlichen Ungleichheiten in Folge der sozialen Determinanten
von Gesundheit entgegenzuwirken.
Abstract
Since the late 1990s, »Family Health« is the primary-health care (PHC)
strategy in the context of a broader reform of the healthcare model of
the Brazilian Unified Health System (SUS). This article analyses the
Family Health Strategy with special focus on two principal components
of the Brazilian primary health care approach: multi-professional
teamwork and community orientation. The paper presents and analy-
ses information from the national database of surveys conducted in the
external evaluation of the »National Programme for Improving Access
and Quality of Primary Care« (PMAQ-AB). Despite an evident im-
provement of primary health care in Brazil, important challenges still
remain for ensuring universal access to quality health services, while
simultaneously addressing social determinants of health and reducing
social inequalities.
Einleitung
Im zurückliegenden Jahrzehnt standen auch in Lateinamerika die
Stärkung der medizinischen Primärversorgung (Primary Health Care
bzw. PHC) und der Aufbau koordinierter Versorgungsnetze auf der
gesundheitspolitischen Agenda. Damit verfolgten die Länder das Ziel,
universellen Zugang zum Versorgungssystem zu garantieren, soziale
Ungleichheiten abzubauen und die neuen demografischen und epide-
miologischen Herausforderungen anzugehen. Die Alterung der Bevöl-
kerung, Veränderungen der Familienstrukturen und das Vordringen
chronischer Erkrankungen verlangen nach unterschiedlichen komple-
xen Dienstleistungen und ihrer Koordination. Dabei kommt prinzipiell
der Primärversorgung eine entscheidende Rolle zu, die barrierefrei, von
hoher Qualität und in das allgemeine Fürsorgenetz integriert sein muss.
Diese Herausforderungen veranlassten die Panamerikanische Ge-
sundheitsorganisation (PAHO) (2005) und die Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) (2008), einen Prozess zur »Erneuerung von Primary
Health Care« einzuleiten (vgl. Labonté et al. 2009). So widmete die
WHO ihren Weltgesundheitsbericht 2008 der medizinischen Primär-
versorgung (PHC), die sie für »nötiger denn je« hielt. Der WHO-
Bericht ordnet PHC die Koordinierungsfunktion für eine umfassende
und abgestimmte Antwort auf allen Versorgungsebenen zu. PHC ist
dabei Teil eines komplexen Reformansatzes im Sinne einer universel-
len Absicherung und nicht mehr bloß ein »armes Programm für Arme«
(World Health Organization 2008).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 55
Seit der PHC-Konferenz von Alma Ata besteht allerdings auch in
Lateinamerika ein Spannungsverhältnis zwischen zwei unterschiedli-
chen PHC-Konzepten, nämlich a) einer selektiven Primärversorgung
(selective primary care), die auf der Grundlage begrenzter staatlicher
Interventionen im Rahmen einer segmentierten Gesundheitsversorgung
extrem armen Bevölkerungsgruppen in Abhängigkeit von deren Ein-
kommen ein Minimalpaket an Versorgungsleistungen gewährt, und
b) einer integralen Primärversorgung (comprehensive primary health
care) als einer das gesamte Gesundheitssystem umfassenden und orga-
nisierenden Strategie, die ein universell gültiges Recht auf Gesundheit
und den bedarfsgerechten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen un-
abhängig vom Einkommen garantiert.
Anders als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern
mit segmentierten Gesundheitssystemen (Fleury 2001; ISAGS 2012),
wo also verschiedene Teilsysteme für unterschiedliche Bevölkerungs-
gruppen bestehen, begann Brasilien vor mehr als zwei Jahrzehnten mit
der Einführung des weiter unten eingehender vorgestellten universellen
öffentlichen Gesundheitssystems »Sistema Único de Saúde« (Einheit-
liches Gesundheitssystem, abgekürzt SUS) und seit Ende der 1990er
Jahre mit der Entwicklung einer Familiengesundheitsstrategie (mit
der portugiesischen Abkürzung ESF) als neuem Fürsorgemodell der
Primärversorgung. Diese Familiengesundheitsstrategie ist Bestandteil
einer grundlegenden Erneuerung des PHC-Ansatzes im Rahmen des
SUS. Sie beinhaltet Elemente eines integralen Konzepts von Primär-
versorgung, wobei multiprofessionelle Teamarbeit und Gemeinde-
orientierung im Vordergrund stehen sollen. Diese Strategie unterschei-
det sich von anderen Primärversorgungskonzepten wie beispielsweise
dem deutschen, in denen diese Aspekte unzureichend oder gar nicht zur
Geltung kommen.
Der vorliegende Beitrag beschreibt wesentliche Ansätze der Primär-
versorgung in Brasilien, analysiert die Merkmale des Fürsorgemodells
der Familiengesundheitsstrategie ESF und diskutiert die Herausforde-
rungen, die mit der wirksamen Umsetzung von multiprofessioneller
Teamarbeit und Gemeindeorientierung verbunden sind. Die Darstel-
lung ausgewählter Tätigkeiten der Familiengesundheitsteams beruht
auf der Auswertung von Informationen einer Datenbank des Natio-
nalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität der
Primärversorgung (PMAQ-AB) des brasilianischen Gesundheitsmi-
nisteriums (Ministério da Saúde 2012). Als Teil dieses Programms
erfolgten 2012 eine externe Evaluierung der in Brasilien auch als
»Basisversorgung« bezeichneten Primärversorgung, eine Erfassung
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
56 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
aller Primärgesundheitseinrichtungen sowie eine Befragung der Fa-
miliengesundheitsteams, die am PMAQ-Programm teilnehmen. Die
MitarbeiterInnen der Familiengesundheitsteams beantworteten dafür
einen Fragebogen über Tätigkeiten und Arbeitsprozesse der Teams,
die Organisation der Versorgung und die Einbindung der Primärver-
sorgung in das Gesamtnetzwerk der Gesundheitsdienste. Landesweit
beteiligten sich 17.201 Teams bzw. etwa 38.000 Einrichtungen der
Primärgesundheit an der Evaluierung. Von den zahlreichen Aspekten
der umfangreichen Evaluation stehen im vorliegenden Beitrag zwei
Aspekte im Mittelpunkt: multiprofessionelle Teamarbeit und Gemein-
deorientierung.
Hintergrund
Brasilien ist ein sehr ausgedehntes Land mit rund 200 Millionen Ein-
wohnerInnen und einer relativ jungen Bevölkerungsstruktur, die zur-
zeit im Rahmen eines raschen demografischen und epidemiologischen
Wandels spürbaren Änderungen unterliegt. Brasilien ist die siebtgrößte
Volkswirtschaft der Welt, verzeichnet ein mittleres Einkommensniveau
und weist eine regional sehr heterogene Wirtschaftsentwicklung sowie
gravierende soziale Ungleichheiten auf (s. Tab. 1). In den vergange-
nen Jahrzehnten haben Links- und Mitte-Links-Regierungen in Brasi-
lien ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern eine Politik
der sozialen Absicherung vorangetrieben. Nicht zuletzt aufgrund der
Programme zur Armutsminderung kann Lateinamerika insgesamt Ver-
besserungen der ökonomischen und sozialen Indikatoren vorweisen
(s. Tab. 1). Während der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da
Silva (2003-2010) konnten schätzungsweise 28 Millionen Menschen
in Brasilien der Armut entfliehen. Maßgeblichen Anteil daran hatten
die reale Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von ca. 80 auf 250
Euro und die Ausweitung des Sozialhilfeprogramms Bolsa Família, das
heute 13,9 Millionen Familien mit 25 bis 113 Euro im Monat unter-
stützt. Trotz einer Verbesserung der Einkommensverteilung in den letz-
ten Jahren besteht in Brasilien allerdings weiterhin eine extrem große
Einkommensungleichheit, erkennbar an einem Gini-Koeffizienten von
0,508 gegenüber 0,290 in Deutschland (2011).
Ökonomische Indikatoren
2,49 Billionen
Bruttoinlandsprodukt (2012)
USD
Einkommen pro Kopf USD KKP
11.720
(2012)
Arbeitslosigkeit (2013) 7,5%
Informelle Arbeit (2012) 43%
Anteil der Bevölkerung in Armut 2002 2008 2011
Extreme Armut (%)
13,2 7,3 6,1
(<1,25 USD/Tag)
Armut (%) (<2,5 USD/Tag) 32,4 22,6 20,9
Index für menschliche
2000 2005 2012
Entwicklung (HDI)
0,669 0,699 0,730
Gini-Koeffizient zur
0,572 0,552 0,508
Einkommenskonzentration
Demografische Indikatoren
Bevölkerung (2010) 190.732.694
unter 18 Jahren 29,6%
60 Jahren und älter 11,3%
Lebenserwartung Männer Frauen insgesamt
Brasilien (2011) 70,6 77,7 74,1
Nordosten (2009) 66,9 74,1 70,4
Süden (2009) 71,9 78,7 75,2
Fertilitätsrate
1,9
(Lebendgeburten je Frau) (2010)
Säuglingssterblichkeit
(Säuglingssterbefälle je 1995 2010
1000 Lebendgeborene)
Brasilien 31,9 15,3
Nordosten 50,4 20,1
Süden 17,5 11,3
Todesursachen (2010)
Krankheiten des Kreislaufsystems 32,0%
Neubildungen 16,5%
Äußere Ursachen 13,6%
Krankheiten des Atmungssystems 10,9%
Infektiöse und parasitäre Krank-
4,9%
heiten
Bestimmte Zustände perinatalen
3,0%
Ursprungs
1 Als Beispiele seien hier der Seguro Básico de Salud (SBS) in Bolivien und der
Seguro Integral de Salud (SIS) in Peru genannt. Beide steuerfinanzierten Program-
me boten der armen Bevölkerung anfangs ausschließlich Leistungen im Bereich der
Mutter-Kind-, sowie im Fall des SIS auch der Jugendgesundheit, und entwickelten
sich erst später zu Ansätzen für ein bisher nicht erreichtes universelles System in
beiden Ländern.
Dimensionen Merkmale
Reformperiode 1980er
Jahr der Verabschie-
dung des Gesetzes 1988
Politischer Kontext Übergang von einem diktatorischen Regime zur
Demokratie
Soziales Gesundheits- Nationaler Gesundheitsdienst – Beveridge-Modell
versorgungsmodell
Bezeichnung Sistema Único de Saúde (SUS) / Einheitliches
Gesundheitssystem
Allgemeine Prinzipien Gesundheit als Bürgerrecht – Universalität
Umfassende Gesundheitsfürsorge (öffentliche
Gesundheit und persönliche primäre, sekundäre und
tertiäre Versorgung)
Gesundheit als Komponente des sozialen Wohl-
fahrtssystems
System der sozialen Partizipation
Organisatorische Dezentralisierung und verteilte
Verantwortlichkeiten auf den drei Ebenen Bund,
Länder und Kommunen
Wichtige Reform- Soziale »Gesundheitsbewegung« getragen von
Akteure einzelnen Parlamentariern, Verwaltungsfachkräften
und Grassroots-Organisationen
Finanzierung Der SUS wird aus Steuermitteln der drei Regie-
rungsebenen finanziert: der Bund zu 44,8%, die
Länder zu 25,6% und die Kommunen zu 29,6%
(2010); es gibt keine Zuzahlungen.
Soziale Schichtung Der SUS deckt die gesamte Bevölkerung beitrags-
frei ab, unabhängig von Einkommen und Beschäf-
tigungsstatus.
Neben dem Zugang zum SUS haben 25% der
Bevölkerung eine zweite Absicherung, einen so-
genannten privaten Gesundheitsplan im Rahmen
einer Privatversicherung (teilweise in Form einer
vom Arbeitgeber bezahlten Lohnzusatzleistung).
Gemeindeorientierung % der
Teams
Territorialisierung (Definition des Einzugsbereichs)
Das sozialräumliche Einzugsgebiet des Teams ist definiert 98%
Das ESF-Team besitzt Karten mit Eintragungen des 85%
Einzugsbereichs
Die Gebietskarte enthält:
Markierung der ACS-Mikrobereiche 72%
Markierung der sozialen Einrichtungen (Geschäfte, Kirchen, 46%
Schulen)
Kennzeichnung der Patienten mit prioritären Krankheitsbildern 26%
(Diabetes, Bluthochdruck, mentale Gesundheit
Monitoring und Analyse der Gesundheitsindikatoren und 82%
-informationen der Gebietsbevölkerung
Intersektorialität
In der Arbeitsagenda des Teams ist das Angebot von 79%
gesundheitsbildenden Gruppenaktivitäten und Gemeinde-
aktionen vorgesehen
Bei der Aktivitätenplanung berücksichtigt das Team:
die Einbindung der Gemeindeorganisationen 63%
(Partnerschaft und Aushandeln mit der Gemeinde)
die Einbindung anderer im Gebiet agierender 60%
Sektoren/Diensten
die Einbindung der Gemeindeakteure 57%
Verhältnis zu anderen Sektoren
Register der im Programm Bolsa Família eingeschriebenen 82%
Familien des Territoriums liegt vor
Aktivitäten der Gesundheitserziehung in den Schulen des 75%
Quartiers/der Gemeinde
Korrespondenzadresse:
Prof. Lígia Giovanella
National School of Public Health / Oswaldo Cruz Fundation
Av. Brasil, 4036
21040-361 Rio de Janeiro RJ
Brasil
Tel.: +55 (0)21 3882 9134 / 2209 3347
Fax: +55 (0)21 2209 3119
E-Mail: giovanel@ensp.fiocruz.br
4 Damit sind die stationären Aufnahmen gemeint, die potenziell durch gute am-
bulante Versorgung vermeidbar wären. Ambulant-sensitive Krankenhausfälle treten
vor allem auf bei
1. akuten Erkrankungen, die durch Impfung oder andere präventive Maßnahmen
zu vermeiden gewesen wären,
2. akuten Erkrankungen, die bei adäquater Behandlung und Kontrolle ambulant
zu beherrschen wären,
3. Exacerbationen chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie
und chronischer Herzinsuffizienz, die durch angemessene ambulante Versor-
gung vermeidbar wären (vgl. Burgdorf/Sundmacher 2014: 215).