Sie sind auf Seite 1von 29

53

Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça

Primary Health Care in Brasilien:


multiprofessionelle Teamarbeit und
Gemeindeorientierung

Zusammenfassung
Seit Ende der 1990er Jahre ist »Familiengesundheit« die Primärver-
sorgungsstrategie im Rahmen einer grundlegenderen Umgestaltung
des Versorgungsmodells, des Einheitlichen Gesundheitssystems SUS,
in Brasilien. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Primärversorgung
in Brasilien, analysiert das der Familiengesundheitsmodell und disku-
tiert die Herausforderungen von multiprofessioneller Teamarbeit und
Gemeindeorientierung unter Auswertung einer externen Evaluierung
des »Nationalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der
Qualität der Primärversorgung«. Dabei zeigt sich, dass trotz einer
spürbaren Verbesserung der Primärversorgung Brasilien weiterhin vor
großen Herausforderungen steht, universellen Zugang zu einer qualita-
tiv hochwertigen, an den Bedürfnissen der BürgerInnen ausgerichteten
medizinischen Versorgung zu gewährleisten und gleichzeitig den ge-
sellschaftlichen Ungleichheiten in Folge der sozialen Determinanten
von Gesundheit entgegenzuwirken.

Abstract
Since the late 1990s, »Family Health« is the primary-health care (PHC)
strategy in the context of a broader reform of the healthcare model of
the Brazilian Unified Health System (SUS). This article analyses the
Family Health Strategy with special focus on two principal components
of the Brazilian primary health care approach: multi-professional
teamwork and community orientation. The paper presents and analy-
ses information from the national database of surveys conducted in the
external evaluation of the »National Programme for Improving Access
and Quality of Primary Care« (PMAQ-AB). Despite an evident im-
provement of primary health care in Brazil, important challenges still
remain for ensuring universal access to quality health services, while
simultaneously addressing social determinants of health and reducing
social inequalities.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


54 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Resumo

Desde o final da década de 1990, a »Saúde da Família«, é a estraté-


gia para a transformação do modelo assistencial no Sistema Único de
Saúde (SUS), o serviço nacional de saúde brasileiro de acesso univer-
sal e financiamento fiscal. Este artigo analisa o modelo assistencial da
Estratégia Saúde da Família com foco em dois componentes, o trabalho
em equipe multi-profissional e orientação para a comunidade, a partir
de informações do banco de dados nacional dos inquéritos realizados
na avaliação externa do »Programa Nacional para Melhoria do Aces-
so e Qualidade da Atenção Básica (PMAQ-AB)«. Não obstante uma
melhora notável na atenção primária, permanecem importantes desa-
fios para garantir o acesso universal à atenção à saúde de qualidade
conforme necessidades e simultaneamente enfrentar determinantes
sociais da saúde para reduzir as desigualdades sociais.

Einleitung
Im zurückliegenden Jahrzehnt standen auch in Lateinamerika die
Stärkung der medizinischen Primärversorgung (Primary Health Care
bzw. PHC) und der Aufbau koordinierter Versorgungsnetze auf der
gesundheitspolitischen Agenda. Damit verfolgten die Länder das Ziel,
universellen Zugang zum Versorgungssystem zu garantieren, soziale
Ungleichheiten abzubauen und die neuen demografischen und epide-
miologischen Herausforderungen anzugehen. Die Alterung der Bevöl-
kerung, Veränderungen der Familienstrukturen und das Vordringen
chronischer Erkrankungen verlangen nach unterschiedlichen komple-
xen Dienstleistungen und ihrer Koordination. Dabei kommt prinzipiell
der Primärversorgung eine entscheidende Rolle zu, die barrierefrei, von
hoher Qualität und in das allgemeine Fürsorgenetz integriert sein muss.
Diese Herausforderungen veranlassten die Panamerikanische Ge-
sundheitsorganisation (PAHO) (2005) und die Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) (2008), einen Prozess zur »Erneuerung von Primary
Health Care« einzuleiten (vgl. Labonté et al. 2009). So widmete die
WHO ihren Weltgesundheitsbericht 2008 der medizinischen Primär-
versorgung (PHC), die sie für »nötiger denn je« hielt. Der WHO-
Bericht ordnet PHC die Koordinierungsfunktion für eine umfassende
und abgestimmte Antwort auf allen Versorgungsebenen zu. PHC ist
dabei Teil eines komplexen Reformansatzes im Sinne einer universel-
len Absicherung und nicht mehr bloß ein »armes Programm für Arme«
(World Health Organization 2008).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 55
Seit der PHC-Konferenz von Alma Ata besteht allerdings auch in
Lateinamerika ein Spannungsverhältnis zwischen zwei unterschiedli-
chen PHC-Konzepten, nämlich a) einer selektiven Primärversorgung
(selective primary care), die auf der Grundlage begrenzter staatlicher
Interventionen im Rahmen einer segmentierten Gesundheitsversorgung
extrem armen Bevölkerungsgruppen in Abhängigkeit von deren Ein-
kommen ein Minimalpaket an Versorgungsleistungen gewährt, und
b) einer integralen Primärversorgung (comprehensive primary health
care) als einer das gesamte Gesundheitssystem umfassenden und orga-
nisierenden Strategie, die ein universell gültiges Recht auf Gesundheit
und den bedarfsgerechten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen un-
abhängig vom Einkommen garantiert.
Anders als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern
mit segmentierten Gesundheitssystemen (Fleury 2001; ISAGS 2012),
wo also verschiedene Teilsysteme für unterschiedliche Bevölkerungs-
gruppen bestehen, begann Brasilien vor mehr als zwei Jahrzehnten mit
der Einführung des weiter unten eingehender vorgestellten universellen
öffentlichen Gesundheitssystems »Sistema Único de Saúde« (Einheit-
liches Gesundheitssystem, abgekürzt SUS) und seit Ende der 1990er
Jahre mit der Entwicklung einer Familiengesundheitsstrategie (mit
der portugiesischen Abkürzung ESF) als neuem Fürsorgemodell der
Primärversorgung. Diese Familiengesundheitsstrategie ist Bestandteil
einer grundlegenden Erneuerung des PHC-Ansatzes im Rahmen des
SUS. Sie beinhaltet Elemente eines integralen Konzepts von Primär-
versorgung, wobei multiprofessionelle Teamarbeit und Gemeinde-
orientierung im Vordergrund stehen sollen. Diese Strategie unterschei-
det sich von anderen Primärversorgungskonzepten wie beispielsweise
dem deutschen, in denen diese Aspekte unzureichend oder gar nicht zur
Geltung kommen.
Der vorliegende Beitrag beschreibt wesentliche Ansätze der Primär-
versorgung in Brasilien, analysiert die Merkmale des Fürsorgemodells
der Familiengesundheitsstrategie ESF und diskutiert die Herausforde-
rungen, die mit der wirksamen Umsetzung von multiprofessioneller
Teamarbeit und Gemeindeorientierung verbunden sind. Die Darstel-
lung ausgewählter Tätigkeiten der Familiengesundheitsteams beruht
auf der Auswertung von Informationen einer Datenbank des Natio-
nalen Programms zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität der
Primärversorgung (PMAQ-AB) des brasilianischen Gesundheitsmi-
nisteriums (Ministério da Saúde 2012). Als Teil dieses Programms
erfolgten 2012 eine externe Evaluierung der in Brasilien auch als
»Basisversorgung« bezeichneten Primärversorgung, eine Erfassung
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
56 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
aller Primärgesundheitseinrichtungen sowie eine Befragung der Fa-
miliengesundheitsteams, die am PMAQ-Programm teilnehmen. Die
MitarbeiterInnen der Familiengesundheitsteams beantworteten dafür
einen Fragebogen über Tätigkeiten und Arbeitsprozesse der Teams,
die Organisation der Versorgung und die Einbindung der Primärver-
sorgung in das Gesamtnetzwerk der Gesundheitsdienste. Landesweit
beteiligten sich 17.201 Teams bzw. etwa 38.000 Einrichtungen der
Primärgesundheit an der Evaluierung. Von den zahlreichen Aspekten
der umfangreichen Evaluation stehen im vorliegenden Beitrag zwei
Aspekte im Mittelpunkt: multiprofessionelle Teamarbeit und Gemein-
deorientierung.

Hintergrund
Brasilien ist ein sehr ausgedehntes Land mit rund 200 Millionen Ein-
wohnerInnen und einer relativ jungen Bevölkerungsstruktur, die zur-
zeit im Rahmen eines raschen demografischen und epidemiologischen
Wandels spürbaren Änderungen unterliegt. Brasilien ist die siebtgrößte
Volkswirtschaft der Welt, verzeichnet ein mittleres Einkommensniveau
und weist eine regional sehr heterogene Wirtschaftsentwicklung sowie
gravierende soziale Ungleichheiten auf (s. Tab. 1). In den vergange-
nen Jahrzehnten haben Links- und Mitte-Links-Regierungen in Brasi-
lien ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern eine Politik
der sozialen Absicherung vorangetrieben. Nicht zuletzt aufgrund der
Programme zur Armutsminderung kann Lateinamerika insgesamt Ver-
besserungen der ökonomischen und sozialen Indikatoren vorweisen
(s. Tab. 1). Während der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da
Silva (2003-2010) konnten schätzungsweise 28 Millionen Menschen
in Brasilien der Armut entfliehen. Maßgeblichen Anteil daran hatten
die reale Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von ca. 80 auf 250
Euro und die Ausweitung des Sozialhilfeprogramms Bolsa Família, das
heute 13,9 Millionen Familien mit 25 bis 113 Euro im Monat unter-
stützt. Trotz einer Verbesserung der Einkommensverteilung in den letz-
ten Jahren besteht in Brasilien allerdings weiterhin eine extrem große
Einkommensungleichheit, erkennbar an einem Gini-Koeffizienten von
0,508 gegenüber 0,290 in Deutschland (2011).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 57
Tabelle 1:
Ausgewählte ökonomische, demografische und gesundheitliche
Indikatoren Brasiliens

Ökonomische Indikatoren
2,49 Billionen
Bruttoinlandsprodukt (2012)
USD
Einkommen pro Kopf USD KKP
11.720
(2012)
Arbeitslosigkeit (2013) 7,5%
Informelle Arbeit (2012) 43%
Anteil der Bevölkerung in Armut 2002 2008 2011
Extreme Armut (%)
13,2 7,3 6,1
(<1,25 USD/Tag)
Armut (%) (<2,5 USD/Tag) 32,4 22,6 20,9
Index für menschliche
2000 2005 2012
Entwicklung (HDI)
0,669 0,699 0,730
Gini-Koeffizient zur
0,572 0,552 0,508
Einkommenskonzentration

Demografische Indikatoren
Bevölkerung (2010) 190.732.694
unter 18 Jahren 29,6%
60 Jahren und älter 11,3%
Lebenserwartung Männer Frauen insgesamt
Brasilien (2011) 70,6 77,7 74,1
Nordosten (2009) 66,9 74,1 70,4
Süden (2009) 71,9 78,7 75,2
Fertilitätsrate
1,9
(Lebendgeburten je Frau) (2010)

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


58 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça

Säuglingssterblichkeit
(Säuglingssterbefälle je 1995 2010
1000 Lebendgeborene)
Brasilien 31,9 15,3
Nordosten 50,4 20,1
Süden 17,5 11,3
Todesursachen (2010)
Krankheiten des Kreislaufsystems 32,0%
Neubildungen 16,5%
Äußere Ursachen 13,6%
Krankheiten des Atmungssystems 10,9%
Infektiöse und parasitäre Krank-
4,9%
heiten
Bestimmte Zustände perinatalen
3,0%
Ursprungs

Quelle: Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística 2013; ECLAC 2012;


Ministério de Saúde (2012c)

Das Einheitliche Gesundheitssystem – Sistema Único de Saúde (SUS)


Im Rahmen des allgemeinen Demokratisierungsprozesses nach dem
Ende der Militärdiktatur in Brasilien (1964-1985) setzte sich in den
1980er Jahren eine starke Bürgergesundheitsbewegung aus Intellek-
tuellen, Gesundheitsfachkräften, GesundheitskommunalbeamtInnen,
Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen, Studierenden und der
organisierten Zivilgesellschaft für das universelle Recht auf Gesundheit
ein. Diese soziale Bewegung führte im größten Land in Lateinamerika
den Widerstand gegen die weltweite neoliberale Agenda der 1980er
und 1990er Jahre an, die einen Rückbau des Staates und die Privatisie-
rung aller gesellschaftlicher Bereiche anstrebte (Paim et al. 2011).
Anders als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas, die zu
Vorreitern der neoliberalen Politik wurden, erfolgte im brasilianischen
Gesundheitswesen eine Strukturreform, die der öffentlichen Hand eine
zentrale Rolle zuwies. Die brasilianische Verfassung von 1988 macht
Gesundheit zu einem universellen Grundrecht und Gesundheitsfürsor-
ge zu einer verpflichtenden Aufgabe des Staates. Die Einführung des
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 59
Einheitlichen Gesundheitssystems SUS als steuerfinanziertes Kran-
kenversorgungssystem mit freiem universellen Zugang für alle Bürger
bedeutete den Übergang von einem am Bismarck-Modell orientierten
Sozialversicherungssystem zu einem Beveridge-Modell (Giovanella
und Porto 2004). Gleichzeitig stellte die Einführung des SUS einen we-
sentlichen Schritt in Richtung universeller Absicherung im Krankheits-
fall dar. Angehörige des großen informellen Sektors – damals 60 % und
heute immerhin noch 43 % der Bevölkerung – hatten vorher keinen An-
spruch auf Sozialversicherungsschutz und waren somit praktisch von
der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Das steuerfinanzierte
SUS ermöglichte und verbesserte für die Bevölkerungsmehrheit den
Zugang zur Krankenversorgung (Paim et al. 2011). Die Grundprinzi-
pien des SUS als National Health Service Brasiliens sind universeller
Zugang zu einer umfassenden Versorgung, soziale Partizipation und
Dezentralisierung.
Universeller Zugang zu umfassender Versorgung schließt Gesund-
heitsförderung und Prävention ebenso ein wie die bedarfsgerechte
Behandlung im Krankheitsfall auf allen Versorgungsebenen. Einen
klar definierten Leistungskatalog des SUS gibt es zwar nicht, aber das
Leistungsangebot des SUS umfasst im Prinzip die gesamte ambulante
und stationäre Versorgung unterschiedlicher Komplexität sowie alle
Leistungen von der Impfung bis zur Nierentransplantation; allerdings
ist das tatsächliche Versorgungsangebot in der Praxis vielfach unzu-
reichend. In begrenztem Umfang stellen die öffentlichen Versorgungs-
einrichtungen kostenlos Arzneimittel zur Verfügung; darüber hinaus
gewährleisten spezifische öffentliche Gesundheitsprogramme wie das
für Aids-PatientInnen eine umfassende Arzneimittelversorgung.
Soziale Partizipation bedeutet die Beteiligung der Bevölkerung an
gesundheitsbezogenen Entscheidungsprozessen. Dafür sorgen heute re-
gelmäßig tagende Gesundheitsräte sowohl auf Bundesebene als auch in
allen 26 Bundesländern und im Bundesdistrikt Brasília, sowie in allen
5.560 Kommunen. Die Gesundheitsräte sind paritätisch mit Vertrete-
rInnen der Leistungsempfänger und der Leistungserbringer besetzt. Die
Zielvorgaben des SUS sehen alle vier Jahre Gesundheitskonferenzen
auf den drei Verwaltungsebenen vor.
Die mit der Einführung des SUS verbundene Dezentralisierung des
Gesundheitssystems beinhaltet eine Dreiteilung der Verantwortlich-
keiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Die Kommunen sind
dabei alleine für die Primärversorgung verantwortlich und teilen sich
die Verantwortung für die fachärztliche und stationäre Versorgung mit
den Bundesländern. Für die medizinische Versorgung stehen sowohl
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
60 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
öffentliche als auch private LeistungserbringerInnen zur Verfügung:
etwa 38.000 kommunale Gesundheitszentren in öffentlicher Trä-
gerschaft garantieren die Primärversorgung; private und öffentliche
Fach(poli)kliniken, Labore und Krankenhäuser erbringen auf der Basis
vertraglicher Regelungen mit dem SUS weiterführende Leistungen.
Im Unterschied zu anderen Nationalen Gesundheitssystemen zeich-
net sich das brasilianische dadurch aus, dass vor allem die fachärztli-
che und teilweise die stationäre Versorgung überwiegend durch private
LeistungserbringerInnen erfolgt. Zwei Drittel der Krankenhausbetten
(65 %) sind in privater Hand, 72 % davon hat das SUS unter Vertrag
genommen. Auch die meisten Diagnostikeinrichtungen und Großgeräte
sind privat geführt, und nur ein Drittel der MRT-Geräte in Brasilien
steht dem SUS zur Verfügung (CNES 2012).
Die Dezentralisierung des brasilianischen Gesundheitswesens be-
deutet auch, dass sich alle drei Verwaltungsebenen an der Finanzie-
rung des SUS beteiligen. Der Bund trägt zurzeit knapp die Hälfte der
SUS-Ausgaben, die Länder etwa ein Viertel und die Kommunen rund
30 %. Zwischen 2000 und 2008 ging der Anteil des Bundes an der
SUS-Finanzierung von etwa 60 auf rund 45 % zurück; und obwohl die
Kommunen nur rund ein Fünftel der gesamten öffentlichen Einnahmen
erhalten, tragen sie aktuell rund 30 % zur SUS-Finanzierung bei (Piola
et al. 2012).
Dieses bisher für Schwellenländer einzigartige, überaus ambitionierte
politische Projekt, im Zuge einer grundlegenden Reform in vergleichs-
weise kurzer Zeit ein universelles Absicherungssystem im Krankheits-
fall aufzubauen, stieß trotz seiner teilweise konkreten Konzeption und
Ausgestaltung immer wieder auf erhebliche Widerstände. So litt das
SUS in den 1990er Jahren erkennbar unter der zeitgleich stattfindenden
generellen Strukturanpassungspolitik und der neoliberal ausgerichteten
Umgestaltung des brasilianischen Staates. Dem Abbau staatlicher Ver-
antwortlichkeiten, der Reduzierung öffentlicher Ausgaben, der Priva-
tisierung im Infrastrukturbereich und der Flexibilisierung des Arbeits-
marktes zum Trotz blieb aber das Verfassungsgebot zur Umsetzung
einer universellen Gesundheitsversorgung formal auf der politischen
Agenda aller Regierungen.
So konnte Brasilien sein universelles, steuerfinanziertes nationales
Gesundheitssystem in einer Zeit durchsetzen, als etliche andere Län-
der in Lateinamerika definierte Basisversorgungspakete für die ärmere
Bevölkerung, Zuzahlungen für medizinische Behandlungen in öffent-
lichen Gesundheitseinrichtungen und soziale Absicherungsprogramme
für ausgewählte Gruppen wie Schwangere, Kleinkinder oder Arme ein-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 61
1
führten . In Brasilien hielten hingegen selbst die von rechten oder ge-
mäßigt-rechten Parteien geführte Regierungen an einer vergleichsweise
progressiven Gesundheitspolitik fest (Victora et al. 2011). Ein entschei-
dendes Manko blieb jedoch immer die unzureichende Finanzierung, die
in der Praxis schwerlich die ausreichende medizinische Versorgung aller
BürgerInnen erlaubt: Bis heute liegen die öffentliche Gesundheitsquote
in Brasilien bei gerade einmal 3,7 % und der Anteil der öffentlichen
an den gesamten Gesundheitsausgaben unter 50 %, was Brasilien eine
Ausnahmeposition unter den Ländern mit universeller Absicherung im
Krankheitsfall beschert, denn andernorts liegt der Anteil öffentlicher
Ausgaben bei mindestens zwei Drittel und oft sogar über drei Viertel
(WHO 2014: 142ff.). Die Pro-Kopf-Ausgaben lagen 2010 bei 970 USD
in Kaufkraftparitäten und damit deutlich unter dem mitteleuropäischen
Niveau (Piola et al. 2012).
Die anhaltende Unterfinanzierung verursacht nicht nur erhebliche
Mängel in der Versorgungsqualität, sondern auch Zugangsbarrieren
insbesondere bei der Facharztbehandlung, die sich in teils langen War-
telisten niederschlägt. Das unzureichende Versorgungsangebot des
SUS verstärkt die ohnehin bestehende starke soziale Segmentierung im
brasilianischen Gesundheitswesen: JedeR Vierte hat zusätzlich eine pri-
vate Krankenversicherung abgeschlossen – die meisten von ihnen über
den Arbeitsplatz im Rahmen einer formalen Beschäftigung (Giovanella
et al. 2012). Damit können Bessergestellte nicht nur vermeiden, mit ar-
men SUS-PatientInnen ein Zimmer im öffentlichen Krankenhaus teilen
zu müssen, sondern sie bekommen darüber auch schnelleren Zugang
zu ambulanter Facharztbehandlung und Diagnostik. Einige ausgewähl-
ten Strukturmerkmale des brasilianischen Gesundheitssystems sind in
Tabelle 2 zusammengefasst.

1 Als Beispiele seien hier der Seguro Básico de Salud (SBS) in Bolivien und der
Seguro Integral de Salud (SIS) in Peru genannt. Beide steuerfinanzierten Program-
me boten der armen Bevölkerung anfangs ausschließlich Leistungen im Bereich der
Mutter-Kind-, sowie im Fall des SIS auch der Jugendgesundheit, und entwickelten
sich erst später zu Ansätzen für ein bisher nicht erreichtes universelles System in
beiden Ländern.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


62 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Tabelle 2:
Merkmale des brasilianischen Gesundheitssystems

Dimensionen Merkmale
Reformperiode 1980er
Jahr der Verabschie-
dung des Gesetzes 1988
Politischer Kontext Übergang von einem diktatorischen Regime zur
Demokratie
Soziales Gesundheits- Nationaler Gesundheitsdienst – Beveridge-Modell
versorgungsmodell
Bezeichnung Sistema Único de Saúde (SUS) / Einheitliches
Gesundheitssystem
Allgemeine Prinzipien Gesundheit als Bürgerrecht – Universalität
Umfassende Gesundheitsfürsorge (öffentliche
Gesundheit und persönliche primäre, sekundäre und
tertiäre Versorgung)
Gesundheit als Komponente des sozialen Wohl-
fahrtssystems
System der sozialen Partizipation
Organisatorische Dezentralisierung und verteilte
Verantwortlichkeiten auf den drei Ebenen Bund,
Länder und Kommunen
Wichtige Reform- Soziale »Gesundheitsbewegung« getragen von
Akteure einzelnen Parlamentariern, Verwaltungsfachkräften
und Grassroots-Organisationen
Finanzierung Der SUS wird aus Steuermitteln der drei Regie-
rungsebenen finanziert: der Bund zu 44,8%, die
Länder zu 25,6% und die Kommunen zu 29,6%
(2010); es gibt keine Zuzahlungen.
Soziale Schichtung Der SUS deckt die gesamte Bevölkerung beitrags-
frei ab, unabhängig von Einkommen und Beschäf-
tigungsstatus.
Neben dem Zugang zum SUS haben 25% der
Bevölkerung eine zweite Absicherung, einen so-
genannten privaten Gesundheitsplan im Rahmen
einer Privatversicherung (teilweise in Form einer
vom Arbeitgeber bezahlten Lohnzusatzleistung).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 63

Abdeckung durch SUS sorgt für eine universelle Absicherung mit


Dienstleistung umfassender Versorgung von einer Basis- bis
Tertiärversorgung (z. B. Organtransplantationen);
beim SUS stehen sowohl öffentliche wie private
Leistungserbringer unter Vertrag.
Die meisten Primärversorgungseinrichtungen sind
in öffentlicher Trägerschaft; 65% der Krankenhaus-
betten sind privat.
Privatversicherte haben einen frühzeitigeren
Zugang zu Leistungen bei einem Netz privater
Leistungserbringer ihrer Versicherer.
Unmittelbare Reform- Universalisierung des Zugangs zu einer umfassen-
ergebnisse den Versorgung
Dezentralisierung bei Fragmentierung für 5.560
Stadtverwaltungen
Zugangsbarrieren und Wartelisten in der fachärzt-
lichen Versorgung
Abdeckung der SUS: 100%
Bevölkerung 2012 Zusätzliche freiwillige private Versicherung: 25%

Der SUS und das Konzept der Primären Gesundheitsversorgung


Primary Health Care (PHC) spielte von Anfang an eine wichtige Rol-
le in der brasilianischen Gesundheitsreform zur Einführung des SUS.
In den 1990er Jahren ging die Verantwortung für die in Brasilien als
Basisgesundheitsversorgung bezeichnete Primärversorgung an die
Stadtverwaltungen (Municípios) über. Diese übernahmen nach und
nach neue Verantwortlichkeiten in der medizinischen Versorgung, die
sich in einer beachtlichen und über die Jahre zunehmenden Ausweitung
des Leistungsangebotes niederschlugen. Über die Jahre war das PHC-
Konzept des SUS verschiedenen Veränderungen unterworfen:
Zunächst war die Primärversorgung selektiv, d. h. ein restriktiv zu-
sammengestellter Leistungskatalog war vorrangig auf die ärmsten Be-
völkerungsschichten ausgerichtet. 1990 entstand das Programm der
»Gemeindegesundheitsarbeiter« und 1994 begann eine erste Phase des
Familiengesundheitsprogramms.
Im Laufe der 1990er Jahren definierte das SUS die Primärversorgung
als erste Versorgungsebene: »Die Basisversorgung besteht aus einer
Palette von individuellen und kollektiven Leistungen auf der ersten
Versorgungsebene zur Gesundheitsförderung und -vorsorge, Behand-
lung und Rehabilitation bei Krankheit« (Ministério da Saúde 1996).
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
64 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Heute verfolgt die »Nationale Politik der Primärversorgung« ein
umfassendes Versorgungskonzept als grundlegende Strategie zur Or-
ganisation des Gesundheitswesens und zur gesamtgesellschaftlichen
Gesundheitsförderung (Ministério da Saúde 2006; 2011).
Ab 1998 schuf die Bundesregierung mit der Zuweisung einer Kopf-
pauschale für die Primärversorgung ihrer BürgerInnen an die 5.560
Kommunen und zusätzlichen Sondertransfers an jedes Familiengesund-
heitsteam einen starken Anreiz zur Umsetzung der Familiengesundheits-
strategie. Dieser neue Ansatz in der medizinischen Primärversorgung
sollte das bis dahin geltende Fürsorgemodell ablösen. Das »Familien-
gesundheitsprogramm« (Programa de Saúde Familiar – PSF) genannte
Konzept erweitert den ursprünglichen PHC-Ansatz von der Fürsorge
mit eingeschränktem Leistungskatalog für extrem arme Bevölkerungs-
gruppen zu einem grundlegenden Versorgungskonzept für die ganze
Bevölkerung.
Die derzeitige brasilianische Primärversorgungspolitik folgt dem
Konzept des Comprehensive Primary Health Care (CPHC) und basiert
auf folgenden Grundlagen: Universeller und kontinuierlicher Zugang
zu effektiven Gesundheitsdienstleistungen; PHC als wichtigster Zu-
gang zum Gesundheitssystem (first contact service), umfassende und
verzahnte Versorgung (comprehensiveness), Versorgungssteuerung im
Leistungserbringernetz (coordination), Entwicklung von nachhaltigen
Vertrauensbeziehungen zwischen Familiengesundheitsteams und Be-
völkerung im Einzugsbereich (longitudinality) und soziale Partizipa-
tion (community oriented) (Ministério da Saúde 2006, 2011).
Auch wenn sie für die Versorgung letztlich unzureichend blieben,
stärkten die über ein Jahrzehnt vom Bund geleisteten Finanztransfers
an die Kommunen die Primärversorgung und setzten wichtige Impulse
für die flächendeckende Verbreitung der Familiengesundheitsstrategie
ESF. 2014 erreichte sie mit rund 35.000 Teams und 258.000 Gemein-
degesundheitsarbeiterInnen (Community Health Worker – CHW) über
90 % der brasilianischen Kommunen und damit etwa 110 Millionen
Menschen oder 56 % der Bevölkerung (s. Tabelle 3). Allerdings weist
das brasilianische Versorgungssystem nach wie vor gravierende Unter-
schiede zwischen den bzw. innerhalb der verschiedenen Regionen sowie
enorme sozialen Ungleichheiten auf. Um diese regionalen Unterschiede
zu verringern, erfolgte die Umsetzung der Familiengesundheitsstrategie
schneller und umfassender im armen und wenig entwickelten Nordosten
des Landes sowie in kleineren Gemeinden mit vergleichsweise wenigen
Primärversorgungseinrichtungen als in den großen Städten, wo es schon
vorher Primärversorgungsstrukturen gegeben hatte.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 65
Tabelle 3:
Anzahl der Teams und geschätzte Abdeckung der Bevölkerung
pro Familiengesundheitsteam in den Regionen Brasiliens, 2013

Region Bevölke- ACS ESF ESB An-


rung Anzahl % Ab- Anzahl % Ab- zahl
deckung deckung NASF

Norden 16.347.807 30.101 79,45 2.647 52,75 1.730 230

Nord- 53.907.144 102.045 86,72 13.598 75,76 1.405 1.357


osten

Zentrum- 14.423.952 18.791 65,06 2.483 55,73 1.862 191


Osten

Südosten 81.565.983 75.706 49,35 11.077 44,34 6.058 685

Süden 27.730.644 31.293 58,47 4920 56,51 2.995 304

Brasilien 193.976.530 257.936 64,74 34.715 56,37 23.150 2.767

Stand: Dezember 2013


Quelle: MS/SAS/DAB 2014
ACS (Gemeinde-Gesundheitsarbeiter) · ESF (Familiengesundheitsteam)
ESB (Mundgesundheitsteams)

Auch das Leistungsangebot im Bereich der Primärversorgung erfuhr


seit der Entstehung des SUS eine spürbare Erweiterung. So hat sich
seither die Zahl der Primärversorgungseinrichtungen auf bundesweit
38.000 verdoppelt, und heute liegt die Primärversorgung ganz über-
wiegend in öffentlicher Hand und in der Verantwortung der Gemein-
den. Dabei sind die meisten kommunalen Einrichtungen klein oder sehr
klein und verfügen nur über ein Primärversorgungsteam: 13 % arbeiten
ohne ärztliches Personal, 68 % verfügen nur über einen und nur 19 %
über zwei oder mehr Ärzte (PMAQ-AB 2012).
Das erweiterte Angebot an Primärversorgungseinrichtungen führte
auch zu einer stärkeren Inanspruchnahme. Ein Indikator dafür ist der
Zugang zu bzw. die Verfügbarkeit von regelmäßig geöffneten Gesund-
heitseinrichtungen (regular source of care). Als 1998 der Sockeltrans-
fer für die Primärversorgung an die Kommunen begann, hatten 71 %
der BrasilianerInnen irgendeine Art regelmäßigen Zugangs zur Versor-

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


66 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
gung. Dieser Anteil stieg bis 2003 auf 79 %, sank allerdings 2008 wie-
der auf 74 % (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística 2010). »Ge-
sundheitsposten« oder »Gesundheitszentren« sind die häufigste Form
dieser regelmäßig verfügbaren Einrichtungen; 57 % der Bevölkerung
und drei Viertel der Armen nehmen deren Dienste in Anspruch (ibid.).
Seit Ende der 1990er Jahre ist »Familiengesundheit« die Primärver-
sorgungsstrategie im Rahmen einer grundlegenderen Umgestaltung
des Versorgungsmodells im SUS. Dabei verknüpft Familiengesundheit
Prävention, Gesundheitsförderung und medizinische Versorgung in
einem bestimmten Einzugsbereich (Territorium), um den wichtigsten
Gesundheitsproblemen der dort lebenden Bevölkerung zu begegnen.
Das dahinter stehende Versorgungsmodell beruht im Wesentlichen auf
multiprofessionellen (ESF-)Teams, die in ihrem jeweiligen Einzugs-
gebiet tätig sind. Sie sollen eine gut erreichbare erste Anlaufstelle sein
und für die gesamte gesundheitsbezogene Versorgung der Bevölkerung
ihres Einzugsbereichs verantwortlich sein. Als gemeindeorientiertes
Angebot sollen die Teams Vertrauen zu den dort lebenden Familien
aufbauen und die soziale Partizipation der Bevölkerung fördern. Sie
sollen Gesundheitsprobleme und Risikosituationen in ihrer Umgebung
erkennen, gesundheitsförderliche sektorenübergreifende Maßnahmen
zur Problemlösung entwickeln und in einem Netzwerk mit fachärzt-
licher und stationärer Versorgung eine umfassende und koordinierte
Versorgung gewährleisten.
Die multiprofessionellen ESF-Teams in öffentlichen Gesundheitszen-
tren sollten sich in der Regel aus einem/einer AllgemeinmedizinerIn,
einer akademisch ausgebildeten Pflegefachkraft, zwei Krankenpflege-
Hilfskräften (mit einem Abschluss der Primar- oder Berufsschule) und
fünf bis sechs GemeindegesundheitsarbeiterInnen (CHW) zusammen-
setzen.2 Jedes ESF-Team ist verantwortlich für 700 bis 1.000 Fami-
lien bzw. etwa 3.000 Personen. JedeR GemeindegesundheitsarbeiterIn
ist für bestimmte Haushalte zuständig und begleitet nach anfänglicher
Registrierung 100 bis 150 Familien, vor allem durch monatliche Haus-
besuche. Die GesundheitsarbeiterInnen haben eine Vermittlerrolle
zwischen der Primärgesundheitseinrichtung, den jeweils vor Ort vor-
handenen Laien-Kompetenzen und -Kenntnissen und der behandlungs-
bedürftigen Bevölkerung (Fonseca et al. 2013).
Die GemeindegesundheitsarbeiterInnen (CHW) sollen kollektiv
arbeitende Public-Health-ArbeiterInnen für ihr Viertel sein. Zu ihren
Aufgaben gehören die Registrierung der Familien ihres Einzugsge-

2 Näheres zu Qualifikation und Tätigkeit siehe weiter unten.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 67
biets, Aufklärungsarbeit über präventive Maßnahmen, Durchführung
einer »Gemeindediagnostik«, Organisation von Einwohnerversamm-
lungen, Identifizierung von Risikofamilien, Begleitung ausgewählter
Personengruppen (Säuglinge, Schwangere, Diabetiker, Bluthochdruck-
patienten) durch regelmäßige Hausbesuche, bei der Wahrnehmung von
Impfterminen oder anderen präventiven und gesundheitsfördernden
Maßnahmen, bei der Einhaltung von regelmäßigen Arztbesuchen oder
bei der Kontrolle der Medikamenteneinnahme. Ebenso wie die anderen
Mitglieder des ESF-Teams sind die CHW vollzeitbeschäftigte Ange-
stellte. Sie arbeiten in den Quartieren, in denen sie wohnen, hatten in
der Anfangsphase in der Regel keine gesundheitliche Vor- oder Ausbil-
dung und erwerben ihre Kompetenzen meistens »on the job«. Eigent-
lich sah die 2002 gesetzlich festgelegte Regelung der Berufsordnung für
CHW eine formalisierte technische Ausbildung im Umfang von 1.200
Unterrichtsstunden (in drei Durchgängen mit jeweils 400 Stunden) vor,
um den GesundheitsarbeiterInnen Kompetenzen für die Durchführung
von individuellen und kollektiven Maßnahmen der Gesundheitserzie-
hung, Verhütung von Krankheiten und Gesundheitsförderung in einzel-
nen Haushalten und in der Gemeinde zu vermitteln (Governo do Brasil
2002). Mittlerweile nehmen die meisten CHW diesen Kurs allerdings
nicht mehr wahr und verfügen nur über eine 80- bis 400-stündige Aus-
bildung. Auch sind ihre Kompetenzen und Tätigkeitsbereiche bisher
nicht klar definiert. Eine ihrer unbestrittenen Hauptaufgaben ist zwar
die Gesundheitserziehung, aber weder das Vorgehen noch die Ausrich-
tung ist eindeutig festgelegt (David 2011).
In die Familiengesundheitsstrategie eingebettet sind seit 2003
auch Mundgesundheitsteams sowie seit 2008 so genannte Unterstüt-
zungsteams (NASF), die in unterschiedlich zusammengesetzten multi-
professioneller Gruppen arbeiten (Tabelle 3). Dabei gibt es zwei Arten
von Mundgesundheitsteams, die sich in der Zahl und Qualifikation des
dem Zahnarzt oder -chirurgen assistierenden Personals unterscheiden
(Mundgesundheitstechniker oder Mundgesundheitshelfer). Heute ar-
beiten in ganz Brasilien 23.150 solcher Mundgesundheitsteams. Die
multiprofessionellen Unterstützungsteams haben die Aufgabe, das Pri-
märversorgungsangebot der Familiengesundheitsteams zu erweitern.
In den Unterstützungsteams fließen acht verschiedene Strategiebe-
reiche zusammen: physische Aktivitäten, integrative und ergänzende
Praktiken (Alternativmedizin), Rehabilitation, Ernährung, psychische
Gesundheit, Sozialarbeit, Gesundheit von Kindern und Jugendlichen,
Frauengesundheit und pharmazeutische Versorgung. Ein NASF-Team
arbeitet jeweils drei bis neun Familiengesundheitsteams zu.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
68 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Multiprofessionelle Teamarbeit
Die von der Familiengesundheitsstrategie ESF geleistete Versor-
gung beruht auf multiprofessioneller Teamarbeit und richtet sich an
Bevölkerungsgruppen in definierten Einzugsgebieten, für deren Ge-
sundheit das Team die Verantwortung übernimmt. Zur Steigerung der
Effizienz der Teams in der konkreten Primärversorgung brach man
mit der technisch-hierarchischen Arbeitsweise und drängte die domi-
nante Rolle der ÄrztInnen im Gesundheitsteam zurück (Almeida und
Mishima 2001). Denn die Arbeit im multiprofessionellen Team ver-
langt ein kooperatives, Professionen übergreifendes Vorgehen, eine
gemeinsame Entwicklung von Projekten sowie gemeinsame Prioritä-
tensetzungen.
Die im Rahmen der PMAQ-AB-Evaluierung erhobenen Daten, die
auf Interviews mit tausenden Teamleitern in ganz Brasilien beruhen,
geben anschaulichen Einblick in die Grundzüge und Schwerpunkte der
Arbeit der ESF-Teams. Tabelle 4 vermittelt einen Überblick über we-
sentliche Aspekte der multiprofessionellen Teamarbeit bei der Famili-
engesundheitsstrategie im Hinblick auf die Teammitglieder, Teamlei-
tung, die Planung der Teamarbeit, Themen der Teamsitzungen und die
Zusammenarbeit mit den NASF-Unterstützungsteams.
Die Erhebung zeigte, dass die befragten Familiengesundheitsteams
wie vorgesehen jeweils eine/n A(e)rztIn (95 %), eine/n akademische
KrankenpflegerIn (100 %) sowie GemeindegesundheitsarbeiterInnen
(100 %) und Krankenpflegehilfskräfte (auf dem Niveau von Facharbei-
terInnen) (71 %) umfassen. Gut vier Fünftel der Teams unterstehen
der Leitung des/der akademischen KrankenpflegerIn. Es gibt eine klar
geregelte Kooperation und Arbeitsteilung zwischen Krankenpflege-
kraft und MedizinerIn: Gemeinsam mit den ÄrztInnen versorgen die
akademisch ausgebildeten Pflegekräfte chronisch Kranke und führen
selbständig verschiedene administrative und klinische Aufgaben, Prä-
ventivmaßnahmen in Form von Gruppenfortbildungen sowie Patien-
tenschulungen durch. Außerdem veranlassen sie Früherkennungs- und
Vorsorgeuntersuchungen sowie Impfungen und leiten die Gemein-
degesundheitsarbeiterInnen an bzw. bilden sie aus (Giovanella et al.
2009).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 69
Tabelle 4:
Charakteristika der multiprofessionellen Teamarbeit
bei der Familiengesundheitsstrategie in Brasilien

Arbeit im multiprofessionellen Team % der


Teams
Teammitglieder
Arzt 95%
Akademische Krankenpflege 100%
Hilfskräfte-Krankenpflege (Niveau Facharbeiter) 71%
Hilfskräfte-Krankenpflege (Niveau Hilfskraft) 41%
GemeindegesundheitsarbeiterInnen 100%
Zahnarzt 71%
MundgesundheitstechnikerInnen 27%
Mundgesundheitshilfskraft 57%
Teamleitung durch akademische Krankenpflege 81%
Planung der Teamarbeit
Planung der Teamarbeit in den letzten 12 Monaten 88%
Erhebungen von Problemen 80%
Festlegung von Prioritäten 81%
Festlegung eines Aktionsplans 77%
Arbeitsprozesse im Team
Arbeitssitzungen 98%
Arbeitssitzungen, wöchentlich 42%
Arbeitssitzungen, ein oder zwei Mal im Monat 46%
Wöchentliche unter den Fachkräften ausgehandelte Agenda 81%
zu Maßnahmen liegt vor
Themen der Teamsitzungen
Organisation des Arbeits- und Dienstleistungsprozesses 95%
Maßnahmenplanung 94%

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


70 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça

Diskussion über Familiensituation und Krankheitsfälle 88%


(schwierige Fälle, Herausforderungen)
Monitoring und Analyse der Gesundheitsindikatoren 78%
Klinische Qualifizierung unter Mitwirkung der Unterstüt- 47%
zungsteams NASF (Liaisonteams)
Festlegung Einzelfall-Therapieprojekte 47%
Aktivitäten der NASF Unterstützungsteam in
Zusammenarbeit mit den Familiengesundheitsteams
Behandlung überwiesener PatientInnen aus der Primärversorgung 75%
Hausbesuche 63%
Gemeinsame Konsultationen und Aufgabenteilung bei 62%
klinischen Maßnahmen (Diskussion klinischer Fälle)
Organisierung von Interventionen auf dem Territorium 55%
Ständige gesundheitsbildende Maßnahmen 52%
Gemeinsames Festlegen von Einzelfall-Therapieprojekten 46%

Quelle: PMAQ-AB. [Datenbank Evaluierung 2012].


N = 17.201 am PMAQ-AB teilnehmende Familiengesundheitsteams

Die Teamarbeit umfasst auch die Planung der gesundheitsbezogenen


Interventionen. Die Survey-Ergebnisse zeigen, dass 88 % der Teams
ihre Aktivitäten gemeinsam planen, 81 % definieren abgestimmte Prio-
ritäten und 77 % entwerfen Aktionspläne. Die Arbeitsplanung der
Teams erfolgt bei 98 % der Teams in regelmäßigen wöchentlichen
(42 %) oder monatlichen (46 %) Sitzungen. Dabei geht es um die Klä-
rung von Zuständigkeiten, die Verteilung anstehender Aufgaben bzw.
die Organisation von Abläufen (in 95 % der Fälle), um die Diskussion
familiärer Fallgeschichten und Krankheitsfälle (88 %) sowie das Moni-
toring bzw. die Analyse gesundheitsrelevanter Indikatoren (78 %). Für
etwa die Hälfte der Teams gehört auch Weiterbildung zur Verbesserung
der klinischen Qualifikation zu den Sitzungsthemen, die unter Beteili-
gung der multiprofessionellen NASF-Teams stattfinden (vgl. Tabelle
4). Die unterstützenden NASF-Teams begleiten jeweils zwischen 8 und
20 ESF-Teams und bieten ihnen fachliche sowie technisch-pädagogi-
sche Unterstützung. Dies soll als Dialog im Rahmen einer horizontalen,
nicht-hierarchischen Beziehung zwischen den Spezialisten der NASF-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 71
Teams und dem Familiengesundheitsteam geschehen (Giovanella und
Mendonça 2012).
2013 waren in Brasilien 2.767 multiprofessionell zusammenge-
setzte NASF-Teams im Einsatz; das berufliche Spektrum ihrer Mit-
arbeiterInnen umfasst PhysiotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen,
FrauenärztInnen, PsychologInnen, PsychiaterInnen, SportlehrerInnen,
ErnährungsberaterInnen, HomöopathInnen, AkupunkteurInnen, Ergo-
therapeutInnen und LogopädInnen. Aus der PMAQ-Erhebung geht her-
vor, dass die NASF-Unterstützungsteams in Zusammenarbeit mit den
Familiengesundheitsteams überwiesene Patienten aus der Primärver-
sorgung (75 %) behandeln, Hausbesuche durchführen (63 %), an ESF-
Teambesprechungen teilnehmen und gemeinsame Konsultationen bei
besonderen Patientenfällen (62 %) durchführen. Sie organisieren Aktio-
nen im Wohnviertel (55 %) – zum Beispiel Nachbarschaftsversamm-
lungen zu Gesundheitsproblemen – und sorgen für die Weiterbildung
der ESF-Teams (52 %) (Tabelle 4).
Die Verbesserung der multiprofessionellen Teamarbeit ist eine kom-
plexe Herausforderung, die gegenseitigen Respekt und flachere bzw.
eingeebnete Hierarchien verlangt (Almeida und Mishima 2001). In
der Zusammenarbeit sollen sich die jeweiligen Disziplinen ergänzen
und gemeinsame Entscheidungen entstehen, die fachliche Autonomie
jeder Disziplin jedoch gewahrt bleiben. Zugleich erfordert die Team-
arbeit eine flexible Arbeitsorganisation und -teilung sowie gleichzeitig
die Beachtung der fachlichen Besonderheiten in komplementärer und
interdependenter Form (Peduzzi 2001). Eine solche Zusammenarbeit
gelingt einfacher und besser zwischen Fachkräften desselben Ausbil-
dungsniveaus als zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen. Obwohl
in Brasilien sowohl ÄrztInnen als auch KrankenpflegerInnen eine uni-
versitäre Ausbildung haben, sind die Beziehungen offenbar weiterhin
von Konflikten geprägt (Pedrosa und Teles 2001). Bei der Arbeit in
den Gesundheitseinrichtungen besteht bis heute eine Dominanz von
ÄrztInnen gegenüber anderen Fachkräften im Gesundheitswesen, ins-
besondere gegenüber dem Pflegepersonal, was nicht zuletzt eine Folge
hierarchischer Geschlechterverhältnisse ist, denn die meisten Pflege-
kräfte sind weiblich. Die Dominanz der Medizin spiegelt sich auch in
der Hierarchie in den Gesundheitseinrichtungen wieder und erschwert
die Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen. Die Beziehun-
gen der Familiengesundheitsteams mit den Fachkräften des Unterstüt-
zungsteams NASF sind weniger konfliktgeladen, da sich diese im All-
gemeinen aus Fachkräften unterschiedlicher nichtärztlicher Disziplinen
zusammensetzen.
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
72 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Gemeindeorientierung

Die Familiengesundheitsstrategie strebt eine gemeindeorientierte


Primärversorgung an. Der Aufbau einer umfassenden Gesundheits-
primärversorgungsstruktur verlangt neben einer angemessenen
medizinischen Versorgung auch Public Health-Interventionen im
Wohnviertel und sektorenübergreifende Aktivitäten, um die sozia-
len Determinanten von Gesundheit angemessen zu berücksichtigen.
Nach dem Verständnis von Comprehensive Primary Health Care im
Sinne von Alma Ata ist die Gesundheit der Bevölkerung untrennbar
mit der ökonomischen und sozialen Entwicklung verbunden. Sie ist
abhängig von Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, vom
Einkommen, von Bildung, Freizeitaktivitäten, Ernährung, Wohnver-
hältnissen, Mobilität sowie vom Zugang zu Gesundheitsdiensten. Um
diese vielfältige soziale Bedingtheit von Gesundheit berücksichtigen
zu können, ist eine übergreifende Verknüpfung aller öffentlichen
Sektoren der Daseinsfürsorge erforderlich, um die nötigen komple-
mentären Interventionen und Aktivitäten durchführen zu können.
Hier spielen die GemeindegesundheitsarbeiterInnen eine gewichtige
Rolle, indem sie die gesundheitlichen Probleme in ihrem Einzugsbe-
reich erkennen, AnwohnerInnen und Nachbarschaftsorganisationen
mobilisieren und Nachbarschaftsversammlungen organisieren, um
Maßnahmen zur Problemlösung und Druck auf andere öffentliche
Einrichtungen zu entwickeln. Da die CHW ihre Quartiere kennen,
sind sie in der Lage, den Bedarf der BewohnerInnen zu erkennen.
Insofern ist ihre Tätigkeit für die Einrichtung sektorenübergreifen-
der Kooperationen von großer Bedeutung; sie sind damit auch ein
strukturbildendes Element einer umfassenden primären Gesundheits-
versorgung.
Die ESF-Teams sollen Antworten geben auf individuelle und
kollektive Bedürfnisse der Familien in ihrem Einzugsbereich. Um
Risikosituationen und Probleme in der Nachbarschaft zu erkennen,
haben sie die Aufgabe, sozioökonomische Familiendaten zu erfas-
sen und in Stadtteilversammlungen zur Diskussion zu stellen, um
daraus Maßnahmen zur Problemlösung abzuleiten. Um die sozialen
Determinanten hinreichend zu berücksichtigen, sollen die Familien-
gesundheitsteams eng mit Organisationen und Institutionen anderer
Sektoren zusammenarbeiten, so mit den Behörden für Wasserversor-
gung oder der Müllabfuhr, um deren Dienstleistungen zu sichern, mit
Schulen, um dort beispielsweise Zahnprophylaxe oder Kariespräven-
tion zu betreiben, oder mit Sozialhilfediensten, um beispielsweise
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 73
die gesundheitlichen Maßnahmen im Rahmen des Bolsa-Família-
Programms zu begleiten.3
Die Ergebnisse einer repräsentativen Stichprobe von registrierten
Familien und ESF-Teams in vier großen brasilianischen Städten zei-
gen, dass die GemeindegesundheitsarbeiterInnen (CHW) eine wich-
tige Rolle bei der Problemerkennung und der Mobilisierung der Be-
wohnerInnen der jeweiligen Wohnviertel spielen, damit diese Druck
auf die GemeindevertreterInnen ausüben und ihre Forderungen ver-
treten können (Giovanella et al 2009). Die Studie zeigt auch, welch
große Anstrengungen die ESF-Fachkräfte bei der Entwicklung von
Interventionen in der community an den Tag legen. Diese Erhebung
verdeutlicht an Hand verschiedener Indikatoren die gemeindeorien-
tierte Arbeit der ESF-Teams: So untersuchten zwei Drittel der Ge-
meindegesundheitsarbeiter den Zugang der Familien zu Trinkwasser
und zur Abwasserentsorgung, und zwischen einem Drittel und einem
Viertel der ÄrztInnen sowie zwischen einem und zwei Dritteln der
akademischen Pflegekräfte hatten im letzten Monat eine Versamm-
lung in der Nachbarschaft durchgeführt. Bis zu 40 % der ÄrztInnen
und 58 % der Pflegekräfte arbeiteten mit anderen Organisationen zu-
sammen, um Problemen in der Gemeinde zu begegnen (Giovanella
et al 2009).
Die Daten der Evaluierungsstudie PMAQ-AB (s. Tab. 5) belegen
zudem, dass die meisten ESF-Teams tatsächlich die konkrete Fest-
legung eines Einzugsbereiches (Bedingung für die gemeindeorien-
tierte Arbeit), Planungen von Gemeindeaktivitäten und gemeinsame
Aktionen mit anderen lokalen Organisationen vorgenommen haben.
98 % kennen ihr sozialräumlich klar definiertes Einzugsgebiet und
85 % besitzen eine Karte ihres Territoriums und 82 % der Teams ana-
lysieren die Gesundheitsindikatoren ihres Einzugsbereichs. Eine kar-
tografische Kennzeichnung der Mikro-Bereiche haben immerhin 72 %
der Teams vorgenommen, aber nur ein Viertel hat darauf das gesund-
heitliche oder soziale Risikoprofil vermerkt (26 %). Aber immerhin:

3 Die Inanspruchnahme von Leistungen des Sozialhilfeprogramms Bolsa Família


ist an die Erfüllung der folgenden Gesundheitsvorsorgemaßnahmen gebunden: Kon-
trolle von Wachstum und Entwicklung sowie Impfungen bei Kindern und Schwan-
gerschaftsvorsorge. Die GesundheitsarbeiterInnen sind nicht nur verantwortlich für
die Begleitung und Registrierung der Gesundheitsbedingungen des Bolsa-Família-
Programms, sondern auch für die Identifizierung der extrem armen Familien für das
Programm.

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


74 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Tabelle 5:
Charakteristika der gemeindeorientierten Arbeit im Rahmen der
Familiengesundheitsstrategie in Brasilien

Gemeindeorientierung % der
Teams
Territorialisierung (Definition des Einzugsbereichs)
Das sozialräumliche Einzugsgebiet des Teams ist definiert 98%
Das ESF-Team besitzt Karten mit Eintragungen des 85%
Einzugsbereichs
Die Gebietskarte enthält:
Markierung der ACS-Mikrobereiche 72%
Markierung der sozialen Einrichtungen (Geschäfte, Kirchen, 46%
Schulen)
Kennzeichnung der Patienten mit prioritären Krankheitsbildern 26%
(Diabetes, Bluthochdruck, mentale Gesundheit
Monitoring und Analyse der Gesundheitsindikatoren und 82%
-informationen der Gebietsbevölkerung
Intersektorialität
In der Arbeitsagenda des Teams ist das Angebot von 79%
gesundheitsbildenden Gruppenaktivitäten und Gemeinde-
aktionen vorgesehen
Bei der Aktivitätenplanung berücksichtigt das Team:
die Einbindung der Gemeindeorganisationen 63%
(Partnerschaft und Aushandeln mit der Gemeinde)
die Einbindung anderer im Gebiet agierender 60%
Sektoren/Diensten
die Einbindung der Gemeindeakteure 57%
Verhältnis zu anderen Sektoren
Register der im Programm Bolsa Família eingeschriebenen 82%
Familien des Territoriums liegt vor
Aktivitäten der Gesundheitserziehung in den Schulen des 75%
Quartiers/der Gemeinde

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 75

Karte für Begleitung der im Bolsa-Família-Programm 62%


eingeschriebenen Familien
Soziale Partizipation
Lokaler Gesundheitsrat 59%
Kommunikationskanäle mit den Nutznießern 73%
Quelle: PMAQ-AB. [Datenbank Evaluierung 2012].
N = 17.201 am PMAQ-AB teilnehmende Familiengesundheitsteams

Trotz aller bisherigen Erfolge bleibt die Umsetzung einer umfassenden


Primärversorgung in Brasilien eine zentrale Herausforderung, schließ-
lich erfordern die Entwicklung von Gemeindeaktivitäten und der Auf-
bau eines Sektoren übergreifenden Zusammenspiels das eine ange-
messene Reaktion auf die sozialen Gegebenheiten und eine effektive
Gesundheitsförderung erlaubt, anhaltende und dezidierte Bemühungen
(Giovanella et al. 2009). Mittlerweile zeigen die Daten des PMAQ-AB-
Surveys aber, dass fast vier Fünftel der ESF-Teams im Rahmen ihrer
Agenda gesundheitsfördernde Gruppenangebote und Gemeindeaktivi-
täten als gemeindeorientierte Initiativen anbieten (79 %). In ihrer Pla-
nung legen die Teams dabei Wert auf eine intersektorale Perspektive.
Knapp zwei Drittel der ESF-Teams (63 %) berücksichtigten bei ihrer
Aktivitätenplanung die Einbindung von Gemeindeorganisationen und
von anderen Bereichen der öffentlichen Hand (60 %) für ein gemeinsa-
mes Vorgehen im Wohnviertel, um angemessen die sozialen Determi-
nanten von Gesundheit berücksichtigen zu können.
Die Einbindung von AkteurInnen aus der Gemeinde in die geplan-
ten Aktivitäten (bei 57 % der Teams) und die Präsenz von lokalen Ge-
sundheitsräten bei den Primäreinrichtungen (bei 59 % der Teams) sind
weitere Komponenten der Community-Orientierung. Dabei zeigen die
Daten auch, dass es sich bei den kooperierenden öffentlichen Dienst-
leisterInnen vor allem um Einrichtungen der Sozialarbeit und Schulen
handelt. Drei Viertel der Teams führen gesundheitsfördernde Aktivi-
täten in Schulen durch, 82 % verfügen über ein Register der Familien
im Bolsa-Família-Programm in ihrem Einzugsgebiet, und 62 % haben
sogar eine gezeichnete Karte mit der Adresse dieser Sozialhilfeemp-
fänger, so dass sie die Einhaltung der Gesundheitsvorsorgemaßnahmen
regelmäßig überprüfen können (s. Tab. 5).
Zwar können die ESF-Teams Sektoren übergreifende Initiativen
auf den Weg bringen, insgesamt ist ihr Handlungsspielraum gegen-

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


76 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
über grundlegenden sozialen Problemen aber eher begrenzt. Befragte
Führungskräfte weisen auf die Notwendigkeit hin, die Grenzen der Ge-
meindearbeit des ESF-Teams anzuerkennen, schließlich bedürfen ef-
fektive intersektorale Initiativen gemeinsamer Interventionen auf ver-
schiedenen Verwaltungsebenen. Im kommunalen Bereich sind sie am
wirkungsvollsten, wenn sie sich in strukturellen Vorgaben der Stadtver-
waltung niederschlagen, d. h dass alle Sektoren der öffentlichen Hand
gemeinsam Probleme erkennen, in gemeinsamer Planung angehen und
abgestimmte Maßnahmen ergreifen (Giovanella et al. 2009).
Ein weiteres Hindernis bei der Weiterentwicklung der Gemeindear-
beit stellen neuere Veränderungen der Tätigkeit kommunaler Gesund-
heitsarbeiterInnen (CHW) vor allem in Großstädten wie Rio de Janeiro
dar, wo ihre zunehmende Einbindung in bürokratische Verwaltungsab-
läufe die Wahrnehmung von Gemeindeaktivitäten beeinträchtigt. Ur-
sprünglich waren die CHW in ihrer Tätigkeit als »AufklärerInnen« eng
in die Gemeinde eingebunden, aber im Lauf der Zeit nahm der Anteil
technischer und administrativer Tätigkeiten in den Gesundheitszentren
zu. Zudem stehen die CHW bei der Patientenaufnahme, Digitalisierung
von Krankenakten, Eingabe der erfüllten Voraussetzungen für die Aus-
zahlung von Sozialtransfers im Rahmen des Bolsa-Família-Programms
und ähnlichen Dingen viel stärker unter ständiger Beobachtung durch
das Pflegepersonal als bei ihrer Arbeit vor Ort in den Gemeinden.

Bestehende Herausforderungen bei der Umsetzung des umfassenden


Primary-Health-Care-Konzepts
Trotz aller Fortschritte bei der Primärversorgung in Brasilien bleiben
wesentliche Herausforderungen bei der Implementierung der Familien-
gesundheitsstrategie im Sinne von comprehensive primary health care
bestehen. Denn letztlich sind hierfür nicht weniger als eine Neuorga-
nisation des Gesundheitssystems und die tatsächliche Gewährleistung
des universellen Bürgerrechts auf Gesundheit erforderlich. Vorausset-
zungen wären die Erweiterung der Versorgungs- und Behandlungs-
möglichkeiten der Familiengesundheitszentren, ein erweitertes SUS-
Leistungsangebot an fachärztlicher Versorgung sowie eine deutliche
weitere Förderung und konkrete Umsetzung der Intersektoralität, also
eine durchsetzungsmächtigere Politik zur Förderung der Zusammen-
arbeit zwischen den Sektoren, um die sozialen Determinanten von Ge-
sundheit und Krankheit stärker berücksichtigen zu können. Die größte
Herausforderung bei der Implementierung einer CPHC-Strategie in
Brasilien bleibt aber die gleichzeitige Gewährleistung des garantierten
Zugangs zu qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung, die sich
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
Primary Health Care in Brasilien 77
an den Bedürfnissen und Erwartungen der BürgerInnen orientiert, und
gesellschaftliche Gesundheitsinterventionen, die den sozialen Ursachen
gesundheitlicher Ungleichheit entgegenwirken.
Die generelle Personalknappheit im Gesundheitsbereich ist auch in
Brasilien ein grundlegendes Problem. Das betrifft sowohl die Ausbil-
dung und Qualifikation der in der Primärversorgung tätigen Fachkräfte
als auch die oft unattraktiven Arbeitsbedingungen und die Strategien zur
Personalrekrutierung bzw. -bindung für die Familiengesundheitsfürsorge.
In Brasilien kommen 1,8 A(e)rztInnen auf 1.000 EinwohnerInnen, wobei
erhebliche regionale Unterschiede bestehen (zwischen 0,7 im nördlichen
Bundesland Pará und 3,5 im Bundesland Rio de Janeiro); bei weniger als
5.000 FachärztInnen in Allgemeinmedizin ist deren Versorgungsdichte
überall in Brasilien sehr niedrig. Hinzu kommt die hohe Fluktuation der
Fachkräfte und vor allem der ÄrztInnen, die nach wie vor ein großes Hin-
dernis für effektive Teamarbeit im Primärversorgungssystem darstellt.
Als Antwort startete Brasilien Ende 2013 das Bundesprogramm »Pro-
grama Mais Médicos« (»Programm mehr Ärzte«) zur Rekrutierung
ausländischer ÄrztInnen für die Primärversorgung in benachteiligten
Regionen, darunter 11.000 MedizinerInnen aus Kuba, die im Rahmen
eines Vertrags mit der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation
(PAHO) ins Land kamen. Zu diesem Programm gehört aber auch die
Erweiterung der Aus- und Weiterbildung in Allgemeinmedizin durch
die Einrichtung von 11.400 neuen Medizinstudienplätzen in öffentli-
chen wie in privaten Universitäten im ganzen Land – und hier insbeson-
dere in unterversorgten Gebieten – und von 12.000 neuen Stellen für die
allgemeinmedizinische Facharztweiterbildung bis zum Jahr 2018.
Dies soll einem weiteren wesentlichen Problem entgegen treten, näm-
lich der unzureichenden Ausbildung von ÄrztInnen und Pflegekräften
für die Primärversorgung mit angemessener Vorbereitung auf indivi-
duelle und kollektive Public-Health-Tätigkeiten. In Brasilien existiert
keine Hausarzt-Tradition, und die Ausbildung der Fachkräfte ist nicht
auf die Primärversorgung orientiert, auch wenn es in den letzten Jah-
ren verschiedene Fördermaßnahmen des Gesundheitsministeriums zur
Aus- und Weiterbildung im Bereich von PHC gab.
Abschließend lässt sich festhalten: In Brasilien hat sich die Primärver-
sorgung in den letzten Jahren aufgrund gesetzlicher Neuerungen, finan-
zieller Anreize, technischer Entwicklungen und des Aufbaus politischer
Strukturen in der Gesundheitsverwaltung spürbar verbessert. Allen fort-
bestehenden Problemen zum Trotz gibt es Hinweise darauf, dass die Fa-
miliengesundheitsstrategie positive Auswirkungen auf die Gesundheit
der Bevölkerung hat, erkennbar an einem Rückgang der Kindersterb-
JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50
78 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
lichkeit (Rasella et al. 2010), der kardiovaskulären Mortalität (Rasella
et al 2014) und der stationären Behandlungsfälle für ambulant-sensitive
Bedingungen4 (Macinko et al. 2011; Guanais und Macinko 2009). Nicht
zuletzt diese Ergebnisse haben dazu beigetragen, dass PHC heute zu
einem vorrangigen Thema in der Gesundheitspolitik geworden ist.
Die Weiterentwicklung der Primärversorgung in Brasilien war nicht
nur bisher ein Wegbereiter für den Ausbau des SUS, sondern bleibt
es auch in der Zukunft. Die wichtigste Herausforderung besteht in der
Reorganisation des brasilianischen Gesundheitssystems auf Basis einer
umfassenden Primärversorgung, die strukturbildend für die Versor-
gungsprozesse, erfolgreich in das gesamte Gesundheitswesen integriert
und in hohem Maße gemeindeorientiert ist, Perspektiven für den Ab-
bau sozialer und regionaler Ungleichheiten eröffnet und einen besse-
ren Zugang zu sowie eine höhere Inanspruchnahme von Gesundheits-
leistungen gewährleistet. Eine derartige Neuausrichtung des gesamten
Gesundheitswesens würde die Aussichten auf Durchsetzung des Men-
schenrechts auf Gesundheit verbessern.

Korrespondenzadresse:
Prof. Lígia Giovanella
National School of Public Health / Oswaldo Cruz Fundation
Av. Brasil, 4036
21040-361 Rio de Janeiro RJ
Brasil
Tel.: +55 (0)21 3882 9134 / 2209 3347
Fax: +55 (0)21 2209 3119
E-Mail: giovanel@ensp.fiocruz.br

Übersetzung: Lutz Taufer; redaktionelle Bearbeitung: Jens Holst

4 Damit sind die stationären Aufnahmen gemeint, die potenziell durch gute am-
bulante Versorgung vermeidbar wären. Ambulant-sensitive Krankenhausfälle treten
vor allem auf bei
1. akuten Erkrankungen, die durch Impfung oder andere präventive Maßnahmen
zu vermeiden gewesen wären,
2. akuten Erkrankungen, die bei adäquater Behandlung und Kontrolle ambulant
zu beherrschen wären,
3. Exacerbationen chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Hypertonie
und chronischer Herzinsuffizienz, die durch angemessene ambulante Versor-
gung vermeidbar wären (vgl. Burgdorf/Sundmacher 2014: 215).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 79
Literatur

Almeida, M.C.P.; Mishima, S.M. (2001): O desafio do trabalho em equipe na atenção


à Saúde da Família: construindo »novas autonomias« no trabalho (The challenge
of teamwork in providing Family Healthcare: building »new autonomies« in the
workplace). Interface Comunic Saúde Educ 9: 150-153 (http://www.scielo.br/
pdf/icse/v5n9/12.pdf).
Burgdorf, F.; Sundmacher, L. (2014). Potenziell vermeidbare Krankenhausfälle in
Deutschland: Analyse von Einflussfaktoren auf die Raten ambulant-sensitiver
Krankenhauseinweisungen (Potentially avoidable hospital admissions in Germany
– an analysis of factors influencing rates of ambulatory care sensitive hospitaliza-
tions). Dtsch Arztebl Int 111 (13): 215-23. DOI: 10.3238/arztebl.2014.0215 (http://
www.aerzteblatt.de/archiv/157200/Potenziell-vermeidbare-Krankenhausfaelle-
in-Deutschland-Analyse-von-Einflussfaktoren-auf-die-Raten-ambulant-sensiti-
ver-Krankenhauseinweisungen; http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=157200).
David, H. M. S. L. (2011): Educação em saúde e o trabalho dos agentes comunitários
de saúde. In: Mialhe, F. L. (ed.). O agente comunitário de saúde: práticas educa-
tivas. Campinas: Editora Unicamp: 41-50.
Economic Commission for Latin America and the Caribbean (2012): Social Panora-
ma of Latin America. Santiago de Chile: ECLAC (http://www.cepal.org/publica-
ciones/xml/4/48454/SocialPanorama2012DocI.pdf).
Fleury, S. (2001): Universal, dual or plural? Health Care Models and dilemmas in
Latin America: Chile, Brazil and Colombia. In: Molina, C.G. and del Arco J.N.
(eds.): Health Services in Latin America and Asia. Washington DC: IDB-Inter-
American Development Bank: 3-36 (http://app.ebape.fgv.br/comum/arq/pp/
peep/cap_liv/universal_dual_plural.pdf).
Fonseca, A.F.; Morosini, M.V.G.C.; Mendonça, M.H.M. (2013): Atenção primária à
saúde e o perfil social do trabalhador comunitário em perspectiva histórica. Trab
Educ Saúde 11 (3): 525-552 (http://www.scielo.br/pdf/tes/v11n3/v11n3a05.pdf).
Giovanella, L.; Mendonça, M. H. M.; Carvalho, A. I. (2012): Brazil. In: Fried, B.;
Gaydos. L. (eds): World Health Systems Challenges and Perspectives, 2nd edition.
Chicago/Arlington: HAP/AUPHA): 341–379.
Giovanella, L.; Mendonça, M.H.M.; Almeida, P.F.; Escorel, S.; Senna, M.C.M.;
Fausto, M.C.R.; Delgado, M.; Andrade, C.L.T.; Cunha, M.S.; Pacheco, C. (2009):
Family health: limits and possibilities for an integral primary care approach to he-
alth care in Brazil. Ciênc Saúde Coletiva 14 (3): 783-794 (http://www.scielo.br/
pdf/csc/v14n3/en_14.pdf).
Giovanella, L.; Porto, M.F. (2004): Gesundheitswesen und Gesundheitspolitik in
Brasilien. Arbeitspapier Nr.25/2004. Frankfurt am Main: Institut für Medizini-
sche Soziologie. Johann Wolfgang Goethe-Universität (http://core.kmi.open.
ac.uk/download/pdf/14501878.pdf; http://www.links-netz.de/rtf/T_giovanella_
brasilien.rtf; http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/files/1914/Giovanel-
la_Brasilien_25.pdf).
Governo do Brasil (2002): Lei n.10.507, de 10 de julho de 2002. Cria a profissão de
Agentes Comunitários de Saúde e dá outras providências. Brasília: Ministério de
Saúde (www.010.dataprev.gov.br/sislex/páginas/42/2002/10507.htm).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


80 Lígia Giovanella, Maria Helena Magalhães de Mendonça
Guanais, F.; Macinko, J. (2009): Primary care and avoidable hospitalizations: evi-
dence from Brazil. Journal of Ambulatory Care Management 32 (2): 115–122.
DOI: 10.1097/JAC.0b013e31819942e51.
Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (2010): Pesquisa Nacional por Amostra
de Domicílios 2008 – Suplemento Saúde. [National Household Sampling Survey
2008 – Health]. Rio de Janeiro: IBGE (http://www.ibge.gov.br/home/estatistica/
populacao/trabalhoerendimento/pnad2008/default.shtm).
Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (2013): Síntese dos Indicadores Soci-
ais. Uma Análise das Condições de Vida da População Brasileira 2010. Rio de
Janeiro: IBGE (ftp://ftp.ibge.gov.br/Indicadores_Sociais/Sintese_de_Indicado-
res_Sociais_2013/SIS_2013.pdf).
ISAGS (2012): Health Systems in South America: Challenges to the Universality,
Integrality and Equity. Rio de Janeiro: ISAGS – South American Institute of
Government in Health (http://isags-unasul.org/biblioteca_interna.asp?idArea=33
&lang=2&idPai=5139).
Labonté, R.; Sanders, D.; Baum, F.; Schaay, N.; Packer, C.; Laplante, D.; Vega-Ro-
mero, R.; Viswanatha, V.; Barten, F.; Hurley, C.; Tujuba-Ali, H.; Manolakos, H.;
Acosta Ramírez, N.; Pollard, J.; Narayan, T.; Mohamed, S.; Peperkamp, L.; Johns,
J.; Ouldzeidoune, N.; Sinclair, R.; Pooyak, S. (2009): Aplicación, efectividad y
contexto político de la atención primaria integral de salud: resultados preliminares
de una revisión de la literatura mundial. Dossier. Rev Gerenc Polit Salud 8 (16):
14-29 (http://rev_gerenc_polit_salud.javeriana.edu.co/vol8_n_16/dosier.pdf).
Macinko, J.; Oliveira, V.B.; Turci, M.A.; Guanais, F.C.; Bonolo, P.F.; Lima-Costa,
M.F. (2011): The influence of primary care and hospital supply on ambulatory
care-sensitive hospitalizations among adults in Brazil, 1999–2007. Am J Public
Health 101 (10): 1963-1970. DOI: 10.2105/AJPH.2010.198887.
Ministério da Saúde. (1996): Norma Operacional Básica do SUS 1996 (NOB 96). Brasí-
lia: Ministério da Saúde (http://conselho.saude.gov.br/legislacao/nobsus96.htm).
Rasella, D.; Aquino, R.; Barreto, M.L. (2010): Impact of the Family Health Program on
the quality of vital information and reduction of child unattended deaths in Brazil:
an ecological longitudinal study. BMC Public Health 10: 380. DOI: 10.1186/1471-
2458-10-380 (http://www.biomedcentral.com/content/pdf/1471-2458-10-380.pdf).
Ministério da Saúde (2006): Portaria GM/MS n. 648, de 28 de março de 2006. Apro-
va a Política Nacional de Atenção Básica, estabelecendo a revisão de diretrizes e
normas para a organização da Atenção Básica para o Programa Saúde da Família
(PSF) e o Programa de Agentes Comunitários de Saúde (PACS). Brasília: Mi-
nistério da Saúde (http://dtr2001.saude.gov.br/sas/PORTARIAS/Port2006/GM/
GM-648.htm).
Ministério da Saúde. (2011): Portaria n. 2.488, de 21 de outubro de 2011. Aprova
a Política Nacional de Atenção Básica, estabelecendo a revisão de diretrizes e
normas para a organização da Atenção Básica, para a Estratégia Saúde da Família
(ESF) e o Programa de Agentes Comunitários de Saúde (PACS). Brasília: Minis-
tério da Saúde (http://www.brasilsus.com.br/legislacoes/gm/110154-2488.html).
Ministério da Saúde (2012a): Programa Nacional de Melhoria do Acesso e da Qua-
lidade da Atenção Básica (PMAQ): Documento síntese da Avaliação Externa do
Programa de Melhoria do Acesso e da Qualidade na Atenção Básica. Brasília:
Secretaria de Atenção à Saúde, Departamento de Atenção Básica, Ministério de

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50


Primary Health Care in Brasilien 81
Saúde (http://189.28.128.100/dab/docs/sistemas/pmaq/Documento_Sintese_Ava-
liacao_Externa_2012_04_25.pdf).
Ministério de Saúde (2012b): CNES-Cadastro Nacional de Estabelecimento de Saú-
de. Brasília: DATASUS, Rede Interagencial de Informações para a Saúde (RIP-
SA) (http://www2.datasus.gov.br/DATASUS/index.php?area=0204&id=6906&
VObj=http://tabnet.datasus.gov.br/cgi/deftohtm.exe?cnes/cnv/estab).
Ministério de Saúde (2012c): Basic Data and Indicators Brazil – IDB 2012. Brasília:
DATASUS, Rede Interagencial de Informações para a Saúde (RIPSA) (http://
tabnet.datasus.gov.br/cgi/idb2012/matriz.htm).
Ministério da Saúde (MS/SAS/DAB) (2014): Histórico de Cobertura da Saúde da
Família. Brasília: Secretaria de Atenção à Saúde. Departamento de Atenção Bá-
sica, Ministério da Saúde.
Paim, J.; Travassos, C.; Almeida, C.; Bahia, L.; Macinko, J. (2011): The Brazilian he-
alth system: history, advances, and challenges. The Lancet 377 (9779): 1778-1797.
Pan-American Health Organization (2005): Renewing Primary Health Care in the
Americas. A Position Paper of the Pan American Health Organization. Washington:
PAHO/WHO (http://apps.who.int/medicinedocs/documents/s19055en/s19055en.
pdf; http://www.ihf-fih.org/content/download/360/2803/file/Renewing%20prima-
ry%20health%20care%20in%20the%20Americas%20.pdf).
Peduzzi, M. (2001): Equipe multiprofissional de saúde: conceito e tipologia (Multi-
professional healthcare team: concept and typology). Rev Saúde Pública 35 (1):
103-109 (http://www.scielo.br/pdf/rsp/v35n1/en_4144.pdf).
Pedrosa, J.I.S.; Teles, J.B.M. (2001). Consenso e diferenças em equipes do Progra-
ma Saúde da Família [Agreements and disagreements in the Family Health Care
Program team]. Rev Saúde Pública 35 (3): 303-311 (http://www.scielo.br/pdf/
rsp/v35n3/5017.pdf).
PMAQ-AB. (2012): [Datenbank PMAQ-AB Evaluierung 2012]. Brasília: MS/SAS/
DAB.
Piola, S.; Ugá M.A.; Porto, S.M. (2012): Financiamento e alocação de recursos em
saúde no Brasil. In: Giovanella, L.; Escorel, S.; Lobato, L. V.; Noronha, J. C.
N.: Carvalho, A. I. Políticas e Sistema de Saúde no Brasil. Rio de Janeiro: Edi-
tora Fiocruz: 395-426 (http://apsredes.org/site2013/wp-content/uploads/2013/10/
IPEA18461.pdf).
Rasella, D.; Harhay, M.O.; Pamponet, M.L.; Aquino, R.; Barreto, M. (2014): Impact
of primary health care on mortality from heart and cerebrovascular diseases in
Brazil: a nationwide analysis of longitudinal data. BMJ 348 g4014 DOI: 10.1136/
bmj.g4014 (http://www.bmj.com/content/349/bmj.g4014.full.pdf+html).
Victora, C.; Barreto, M.L.; Leal, M.C.; Monteiro, C.A.; Schmidt, M.I.; Paim, J.;
Bastos, F.; Almeida, C.; Bahia, L.; Travassos, C.; Reichenheim, M.; Barros, F.
(2011): Health conditions and health-policy innovations in Brazil: the way for-
ward. The Lancet 377 (9782): 2042-2053.
Walt, G. (1990): Community Health Workers in National Programme: Just Another
Pair of Hands? Philadelphia: Open University Press.
World Health Organization (2008): The World Health Report 2008 – Primary Health
Care. Now More Than Ever. WHO: Genf (http://www.who.int/whr/2008/en).
WHO (2014). World Health Statistics 2014. Geneva: World Health Organization
(http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/112738/1/9789240692671_eng.pdf).

JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN UND GESUNDHEITSWISSENSCHAFTEN 50

Das könnte Ihnen auch gefallen