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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Jan Andres, Alexa Geisthövel, Matthias Schwengelbeck

Repräsentation als Performanz:


Die symbolisch-rituellen Ursprünge des Politischen
im Leviathan des Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Dirk Tänzler

Literarische Repräsentation – Überlegungen


zur Doppelungsstruktur des Repräsentativen:
Hölderlins Gedicht An eine Fürstin von Dessau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Jan Andres

Herstellung und Darstellung politischer Einheit:


Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer
Repräsentation im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Barbara Stollberg-Rilinger

Monarchische Repräsentation in der


entstehenden Mediengesellschaft: Das deutsche
und das englische Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Martin Kohlrausch
6 DIE SINNLICHKEIT DER MACHT

Monarchische Herrschaftsrepräsentationen
zwischen Konsens und Konflikt: Zum Wandel des
Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells
im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Matthias Schwengelbeck

Wilhelm I. am »historischen Eckfenster«:


Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Alexa Geisthövel

Das ambivalente Angebot der Macht: Der Einsatz


der SS-Männer in der NS-Herrschaftsinszenierung . . . . . . . . . . 187
Paula Diehl

Gewalt als Grenzphänomen von Herrschafts-


repräsentation – exemplarisch dargestellt an
Gewalthandlungen der 1960er und 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . 213
Gisela Diewald-Kerkmann
Einleitung
Jan Andres, Alexa Geisthövel, Matthias Schwengelbeck

»An eine Macht, die zwar vorhanden ist, aber nicht sichtbar im Auftreten
des Machthabers selbst in Erscheinung tritt, glaubt das Volk nicht. Es muß
sehen, um zu glauben.«1 Man mag einwenden, dass Norbert Elias, als er
diese Zeilen verfasste, den absolutistischen Herrschaftsstil Ludwigs XIV.
vor Augen hatte. In den aufgeklärten Gegenwartsgesellschaften dagegen,
könnte man argumentieren, muss Macht nicht mehr sinnlich sein, um ihre
Wirkung entfalten zu können. Schließlich bedeutet Macht nach Max Weber
ohnehin die spezifische Chance, »seinen eigenen Willen auch gegen Wider-
streben durchzusetzen«.2 Warum sollte der Machthaber seine Macht dann
aber darstellen müssen? Bedarf er nicht vielmehr lediglich der geeigneten
Mittel des physischen Zwangs, um seine Ziele durchzusetzen?
Richtet man seinen Blick auf parlamentarische Demokratien der Ge-
genwart, wird eine solche, vermeintlich nüchtern-realistische Betrach-
tungsweise schnell unhaltbar. Ein besonders anschauliches Beispiel für die
Bedeutung von Darstellungskompetenz in modernen demokratischen
Gemeinwesen liefert der Wahlkampf. Verstanden als »Kommunikations-
und Interaktionsprozeß«, der in einem Dreieck von Parteien, Medien und
den Wählern verläuft, stellt er eine »rituelle Inszenierung des demokrati-
schen Mythos« dar: Der Wahlkampf vermittelt symbolisch den Grundge-
danken der parlamentarischen Demokratie, dass nämlich die souveräne
Entscheidung des Wählers über die Ordnung und Verteilung der politi-
schen Macht entscheidet.3 »Das was man heutzutage in repräsentativ-
demokratisch organisierten Gemeinwesen noch ›politische Macht‹ nennen
——————
1 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des König-
tums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983, S. 179.
2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972, S. 28.
3 Andreas Dörner, Wahlkämpfe – eine rituelle Inszenierung des »demokratischen My-
thos«, in: ders./Ludgera Vogt (Hg.), Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokrati-
sches Ritual, Frankfurt/M. 2002, S. 16-42, hier S. 21 u. 28.
8 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK

könnte«, so der Soziologe Ronald Hitzler, »entsteht [...] vor allem durch
Darstellungskompetenz.«4
Elias’ Einschätzung ist also nach wie vor aktuell, sie trifft ebenso die
vormodernen Gesellschaften der Frühen Neuzeit wie sie für die europäi-
schen Staaten des 20. und 21. Jahrhunderts gültig bleibt. Anders als ein ab-
solutistischer Herrscher wie Ludwig XIV., der seine Macht darstellen
musste, um diese zu haben und zu sichern, müssen sich Politiker in mo-
dernen Demokratien dagegen darstellen, um politische Macht überhaupt
erlangen zu können. Diese muss dann aber auch jenseits des Wahlkampfes
dargestellt werden, um wirksam zu werden und zu bleiben. Auch wenn
man im Anschluss an Max Weber analytisch zwischen Macht und Herr-
schaft differenzieren könnte, eignet der Zwang zur Darstellung doch bei-
den Phänomenen.
Der vorliegende Band versucht diese Thematik von der Sinnlichkeit der
Macht dadurch zu erschließen, dass er weniger die viel diskutierte Diffe-
renzierung von Macht und Herrschaft fokussiert als vielmehr den Aspekt
der Darstellung, der Repräsentation im Sinn von Sinnlichkeit, ins Zentrum
rückt. Unter dem noch näher zu erläuternden Begriff der Herrschaftsreprä-
sentation werden Erscheinungs- und Darstellungsweisen des Politischen
von den Autoren des Bandes untersucht.
Die versammelten Aufsätze schließen dabei an die jüngsten Bestrebun-
gen an, eine neue Politikgeschichte zu entwerfen, die sich gegen die traditi-
onelle Vorliebe der Forschung für die Rekonstruktion großer Staatsaktio-
nen positioniert. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen nicht mehr
die vermeintlich rationalen Entscheidungswege »großer Männer«. Vielmehr
wird nach den Konstruktionsprinzipien des Politischen selbst gefragt. Da-
bei geht es den neueren, kulturgeschichtlichen Forschungsansätzen jedoch
auch nicht um die von der politischen Sozialgeschichte privilegierte Entlar-
vung sozioökonomischer Interessenlagen, die sich hinter den Entschei-
dungsprozessen verbergen. Vielmehr beginnt sich der Begriffapparat nicht
nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Soziologie und ansatz-
weise der Politikwissenschaft auf ein kulturwissenschaftlich informiertes
Verständnis politischer Strukturen und Prozesse hin auszurichten. Danach
wird Politik als figuratives Ensemble symbolischer Praktiken verstanden,

——————
4 Ronald Hitzler, Inszenierung und Repräsentation. Bemerkungen zur Politikdarstellung
in der Gegenwart, in: Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur
Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, S. 35-49, hier
S. 37.
EINLEITUNG 9

wird ein kulturgeschichtlicher Blick auf die Politik eingefordert, werden die
symbolischen Dimensionen politischer Verfahren erkundet oder das Politi-
sche als semiotisch strukturierter Kommunikationsraum begriffen.5
Diesem letzten Ansatz ist auch der Bielefelder Sonderforschungsbe-
reich 584 der Deutschen Forschungsgemeinschaft »Das Politische als
Kommunikationsraum in der Geschichte« verpflichtet, aus dessen Arbeit
der vorliegende Band hervorgegangen ist. Der Sonderforschungsbereich
untersucht das Politische als kommunikativ hergestellten Raum, der durch
den Gebrauch von Symbolen und Signifikanten von Semantiken struktu-
riert wird.6 Der Raum des Politischen wird weder als klar abgrenzbarer
Sachbereich vorgestellt noch über die Entscheidungsgewalt im Ausnahme-
zustand definiert. Vielmehr liegt seine Spezifik in der Breitenwirkung, der
Nachhaltigkeit und der Verbindlichkeit – zumindest dem Streben danach –
der ihn konstituierenden symbolischen und diskursiven kommunikativen
Praktiken. Politische Kommunikationsprozesse zielen stets auch auf die
Konstitution, Aufrechterhaltung und Infragestellung von Herrschaftsver-
hältnissen. Sie beschreiben im Sinne Pierre Bourdieus einen »symbolischen
Kampf um die Bewahrung oder Veränderung der sozialen Welt durch die
Bewahrung oder Veränderung der Sicht- und Teilungsprinzipien«.7
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes konzentrieren sich auf die
Analyse unterschiedlicher Repräsentationsformen von Herrschaft zwischen
dem 18. und 20. Jahrhundert. Damit schließen sie an die oben erwähnten
Diskussionen um die symbolische Konstitution des Politischen an und
vermitteln über den Begriff der Repräsentation Einblicke in die Funktions-
und Darstellungsweisen von Herrschaft. Mit der Herausbildung frühneu-
zeitlicher Territorialstaaten konstituierten sich Herrschaftsverhältnisse zu-
nehmend nicht mehr in den unmittelbaren sozialen Erfahrungsräumen
historischer Akteure, sondern bezogen sich immer mehr auf ein jeweils
——————
5 Vgl. etwa Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz
der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002; Thomas Mergel, Überlegungen
zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-
606; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001;
Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.), Kom-
pass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152-177.
6 Ute Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Mediali-
tät in der Geschichte, Göttingen 2004; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue
Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt/M./New
York 2005.
7 Pierre Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik
der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 81.
10 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK

vorgestelltes staatliches Ganzes, das als Einheit selbst nicht mehr erfahrbar
war. Daher bedürfen moderne Herrschaftsverhältnisse in besonderer
Weise der Repräsentation, der sinnlich-sinnhaften Vergegenwärtigung. Be-
wusst setzt der Band zeitlich an der Nahtstelle zwischen Vormoderne und
Moderne an, um die Veränderungen und Kontinuitäten von Herrschafts-
repräsentationen über konventionelle Epochenschwellen hinaus zu disku-
tieren.
Dabei bietet wieder Max Weber einen guten Anknüpfungspunkt für
eine theoretische Reflexion des Themas. Seine viel zitierte Definition von
Herrschaft als »Chance für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angeb-
baren Personen Gehorsam zu finden«, lässt Herrschaftsverhältnisse als
grundsätzlich reziproke Beziehungen erscheinen.8 Dem Befehl des Herr-
schenden muss stets ein Minimum an Bereitschaft zum Gehorsam ent-
sprechen. Diese Bereitschaft beruht nach Weber auf bestimmten »Moti-
ven der Fügsamkeit«. Neben Interessenlage, Gewöhnung und affektueller
Neigung, die lediglich eine relativ labile Grundlage für Herrschaftsver-
hältnisse schaffen, gewinnt Herrschaft innere Stabilität erst durch die
»Gründe ihrer Legitimität«, beziehungsweise genauer: den spezifischen
Glauben der Gehorchenden an die Legitimität der Herrschaftsbezie-
hung.9 Bekanntlich hat sich Weber weniger für das Zustandekommen
dieses Legitimitätsglaubens interessiert, sondern lediglich eine typologi-
sche Unterscheidung von rationalen, traditionalen und charismatischen
Legitimationsgründen vorgenommen. Jedoch wird Herrschaft nicht per se
in jeweils verschiedener Weise als legitim oder illegitim anerkannt. Legi-
timität, das ist schon vor einiger Zeit von Peter Graf Kielmannsegg be-
merkt und jüngst von Andreas Gestrich am Beispiel absolutistischer
Herrschaft empirisch gestützt vorgeführt worden, ist kein statisches Phä-
nomen. Legitimation ist vielmehr immer ein Prozess.10 Legitimität von
Herrschaft, verstanden als »Geltungserfahrung« (Kielmannsegg) einer
konkreten Herrschaftsbeziehung, realisiert sich erst in der kommunikati-

——————
8 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 2], S. 28; vgl. dazu auch Stefan Breuer,
Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1991; Dirk Kaesler, Max Weber. Eine
Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M./New York 1995, S. 207ff.
9 Vgl. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 475-488, Zitate S. 475.
10 Vgl. Peter Graf Kielmannsegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: Politische
Vierteljahresschrift 12 (1971), S. 367-401; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffent-
lichkeit, Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts,
Göttingen 1994.
EINLEITUNG 11

ven Praxis und kann darüber auch infrage gestellt werden. »Eine Herr-
schaftsordnung ist nicht legitim, sie wird es ständig.«11 Oder, so ist dem
hinzuzufügen, sie wird es eben möglicherweise nicht. Erst in der kom-
munikativen Praxis politischer Prozesse jedenfalls kann ein Legitimitäts-
glaube an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen hergestellt
oder erschüttert werden. Hans-Georg Soeffner und Dirk Tänzler haben
jüngst darauf hingewiesen, dass dieser Legitimitätsglaube zu wesentlichen
Teilen durch spezifische Darstellungsleistungen als »Versinnbildlichung
der Politik« hervorgebracht wird.12 Man kann sogar noch radikaler sagen:
Politik wird erst politisch, wenn sie sinnlich ist, zur Erscheinung kommt,
repräsentiert ist. Herrschaft muss sich darstellen, um als legitim aner-
kannt werden zu können.
Daher ist Herrschaft grundsätzlich auf Repräsentation angewiesen.
Der in dem Sammelband fokussierte Begriff der Herrschaftsrepräsenta-
tion zielt dabei auf die spezifische »fabrication« (Peter Burke), die sym-
bolische Gestaltung, Hervorbringung oder Infragestellung der Legitimität
von Herrschaftsverhältnissen. In den Präsentationen von Herrschaft äu-
ßern sich bestimmte Legitimitätsansprüche, die sich als Legitimitäts-
glaube in die »kollektiven Vorstellungen« der Akteure einschreiben kön-
nen – oder verworfen werden.13 Bezug nehmend auf Ernst Cassirers
erkenntnistheoretisches Repräsentationsverständnis zielt der Begriff der
Herrschaftsrepräsentation in diesem Sinn auf den Umstand, dass sich
Herrschaftspraxis überhaupt erst in ihren vielschichtigen diskursiven und
nicht-diskursiven symbolischen Repräsentationen realisiert.14 Herrschafts-
praxis und Herrschaftsrepräsentation sind mithin grundsätzlich zu-
sammen zu denken.
Dabei grenzt sich der Band von Carl Schmitts Verständnis der Reprä-
sentation als einer Urbild-Abbild-Dialektik ab, die sich einem neuplatoni-
schen Modell verdankt. Nach Schmitt manifestiert sich in der Repräsenta-

——————
11 Kielmannsegg, Legitimität [wie Anm. 10], S. 373.
12 Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler, Einleitung, in: dies. (Hg.), Figurative Politik [wie
Anm. 5], S. 7.
13 Vgl. Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt/M. 1995;
Lynn Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkeley 1984; Emile
Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, S. 577ff.
14 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache,
Gesammelte Werke Bd.11, Darmstadt 2001, S. 39ff.; zu diskursiven und nicht-diskursi-
ven Logiken der symbolischen Formen Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem
Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. 1965.
12 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK

tion ein »höheres Sein«. Repräsentieren bedeutet ihm eine existenzielle


Vergegenwärtigung. Im Akt der Repräsentation, so Schmitt, werde »ein un-
sichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar« gemacht
und vergegenwärtigt. Dabei liege die »Dialektik des Begriffs« darin, »daß
das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwe-
send gemacht werde«.15 Die mit Schmitt und anderen verknüpfte Dis-
kussion um eine vermeintlich ontologische Wesenhaftigkeit der Re-
präsentation ist von Hasso Hofmann als spezifisch deutsches Problem
herausgearbeitet worden, das seinen Ursprung in der polemischen Diskre-
ditierung demokratisch-parlamentarischer Formen besitzt. Dagegen zeigt
Hofmanns begriffsgeschichtliche Studie, dass der Repräsentationsbegriff
keinen ursprünglichen Wesenskern besitzt, sondern in unterschiedlichen
Kontexten jeweils verschiedene Bedeutungen angenommen hat.16 An
anderer Stelle kontrastiert er dabei zwei Sprachtraditionen: zum einen Re-
präsentation als »Darstellung politischer Einheit durch Personifizierung«,
zum anderen Repräsentation als »Bildung politischer Einheit durch Ver-
bindlichkeit erzeugendes Verhalten ihrer Mitglieder«. Entspreche dem ers-
teren Begriffsgebrauch eine »mehr oder weniger zeremonielles Rollenspiel
eines einzelnen«, ziele der andere auf »organisierte kollektive Handlung«.
Historisch entstammen die Verwendungen dem liturgischen Kontext der
Stellvertretung einerseits sowie dem korporationsrechtlichen Begriff der
Identitätsrepräsentation als körperschaftlicher Handlungen eines Teils für
das Ganze andererseits.17
Während Hofmanns begriffsgeschichtliche Herleitung historisch-
semantisch überzeugt, fragt sich jedoch, ob sich die Dinge in der Praxis
so genau trennen lassen. So zeichnen sich zum einen Organe der klassi-
schen corpus-Repräsentation – vormoderne Landtage ebenso wie moderne
Parlamente – durch symbolische und zeremonielle Praktiken aus. Folgt
man Hans-Georg Soeffner, dann sind politische Repräsentationsformen
grundsätzlich dem »Reich des symbolisch-vermittelten Wissens« be-
ziehungsweise dem »symbolisch ausgeformten Kosmos der Weltbilder
——————
15 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 209f.
16 Vgl. Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der
Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974; vgl. auch Hanna F. Pitkin, The Concept of
Representation, Berkeley 1972.
17 Hasso Hofmann, Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Staat und
Kirche, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zere-
moniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 17-42, Zitate S. 21; vgl. dazu auch ders.,
Repräsentation [wie Anm. 16].
EINLEITUNG 13

und der in sie eingelagerten Traditionen« verhaftet. Neben der alltäg-


lichen, unmittelbaren Welt und der Welt in »potentieller Reichweite« ist
damit eine dritte Ebene angesprochen, auf der sich das Politische als spe-
zifische Repräsentationsbeziehung zwischen Repräsentant und Reprä-
sentierten offenbart, die sich als dreistellige Relation immer auch auf das
sie legitimierende Weltbild richten muss.18 Auch die von Hofmann ange-
sprochenen Formen der Identitätsrepräsentation, die primär auf die Her-
stellung politischer Einheit gerichtet sind, müssen sinnlich sein und sich
darstellen, um als legitim anerkannt zu werden. Zum anderen realisiert
sich die caput-Repräsentation des Monarchen wie auch nichtmonarchi-
scher Staatsoberhäupter nicht nur durch das »Rollenspiel eines einzel-
nen«, sondern ist grundsätzlich auf wechselseitige medial vermittelte
Kommunikationsprozesse zwischen Monarch/Präsident und Unterta-
nen/Staatsbürgern angewiesen. Hier zeigt sich auch ein Strukturproblem
von Jürgen Habermas’ Modell der »repräsentativen Öffentlichkeit«. In
Anlehnung an Carl Schmitt hatte Habermas die Repräsentation des Herr-
schers als per se öffentliches Phänomen gewertet. Repräsentative Öffent-
lichkeit sei mithin an die »Attribute der Person« geknüpft, markiere keine
Sphäre politischer Kommunikation, sondern offenbare lediglich einen
sozialen und politischen Status.19
Demgegenüber hat die interaktionistische Soziologie gezeigt, dass
Repräsentation als basale Form sozialen Handelns zu verstehen ist und
keineswegs auf die existenzielle Wertigkeit einer gesteigerten Seinsform
beschränkt werden kann.20 Folgt man Hans-Paul Bahrdt, so ist Re-
präsentation zu konzeptualisieren als »eine Form der Selbstdarstellung, in
der ein Subjekt sowohl sich selbst als auch ein Gemeinsames, das nicht
ohne weiteres sichtbar ist, sichtbar macht und hierdurch Kommunikation
und Integration ermöglicht.«21 Die von Hofmann angesprochenen For-
men der caput-Repräsentation sind daher grundsätzlich als kommunika-
tive Phänomene zu betrachten. Sie richten sich an jeweils spezifische
medial konstituierte Öffentlichkeiten, die als Kommunikationsräume
——————
18 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung
zur gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden, in: Ragotzky/Wenzel, Reprä-
sentation, S. 43-63 [wie Anm. 17].
19 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Ka-
tegorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuauflage Frankfurt/M. 1990, S. 58ff.
20 Vgl. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, Middlesex 1969.
21 Hans Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau,
Reinbek b. Hamburg 1961, S. 69.
14 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK

aufzufassen sínd.22 Deren mediale Verfasstheiten bestimmen dabei die


Kommunikationsformen. Die Ausprägungen der Herrschaftsrepräsentati-
onen hängen mithin wesentlich von ihrer je spezifischen Medialität ab.
Ein immer mitschwingendes Problem der Herrschaftsrepräsentation ist
schließlich das für den modernen Staat kennzeichnende »Monopol legiti-
men physischen Zwanges«. Einerseits ist die Darstellung des staatlichen
Gewaltpotenzials ein wesentliches funktionales Mittel zur Sicherstellung
von Herrschaft, andererseits hatte bereits Weber betont, dass politisch le-
diglich jenes Handeln zu nennen ist, das die »Leitung eines politischen
Verbandes [...] auf nicht gewaltsame Weise bezweckt«.23 Gewalt markiert
insofern einen Grenzfall von Herrschaft. Einerseits ruhen Herrschaftsver-
hältnisse stets auf dem Drohpotenzial physischen Zwangs, andererseits
darf die Gewalt letztlich nicht eingesetzt werden, wenn die grundsätzlich
als reziproke Beziehung gedachte Herrschaftsstruktur nicht in bloße Ge-
waltherrschaft umschlagen soll. Aus diesem Grund ist Gewalt sowohl
Grenzfall als auch zugleich konstitutiver Bestandteil von Herrschaftsreprä-
sentation.

Die analytisch auseinander dividierten Ebenen – die juristisch-politische


Problematik der Herrschaft kraft Stellvertretungs- und Identitätsrepräsen-
tation einerseits, die präsentative Darstellung und öffentliche Rezeption
von Herrschaft andererseits – lassen sich im konkreten historischen Zu-
sammenhang nicht trennen. Die Sinnlichkeit der Macht entsteht im Span-
nungsfeld der verschiedenen Facetten des Repräsentationsbegriffs. Die
Beiträge des Bandes sind daher in thematische Paare gegliedert. Darüber
hinaus fügen sie sich in eine chronologische Struktur vom 17. Jahrhundert
im Falle des Leviathan des Thomas Hobbes bis zum 20. Jahrhundert ein,
markieren aber nicht nur Stationen einer Entwicklung, sondern verweisen
argumentativ auch aufeinander.
Die theoretisch angelegten Beiträge von Dirk Tänzler und Jan Andres
akzentuieren die grundlegend performative Qualität von Repräsentation.
Dirk Tänzler hat sich einen kanonischen Text der politischen Theorie he-
rausgegriffen, Thomas Hobbes’ Leviathan, den er als ein Zusammenspiel
von rationalem Text und den latenten Botschaften des bekannten Frontis-

——————
22 Vgl. dazu aus historischer Perspektive auch Gestrich, Absolutismus [wie Anm. 10];
Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen
Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u.a. 2000.
23 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 2], S. 29.
EINLEITUNG 15

piz versteht. Dieses entfaltet sich jedoch erst im sinnlichen Vorgang der
Bildbetrachtung. Die visuelle Repräsentation erfüllt ihre zentrale Aufgabe,
Widersprüche in der Argumentation zu überbrücken, indem das Bild den
Betrachter in einen reziproken Blickwechsel mit dem dargestellten Herr-
scher hineinzieht.
Das rezipierende Subjekt leitet auch in Jan Andres’ Analyse einer Ode
Friedrich Hölderlins an die Fürstin Amalie von Anhalt-Dessau eine per-
formanztheoretische Formulierung »des Repräsentativen« an. Entlastet
man die Repräsentation von der Zumutung, ein nur vermeintlich authenti-
sches Ab-Bild von etwas liefern zu sollen, eröffnet sich ihr Potenzial als
eine Instanz, die ein Abstraktum wie die Macht, die es losgelöst von ihren
konkreten Erscheinungsformen nicht gibt, in einer sinnlich erfahrbaren
Form bereithält. Aktiviert wird die latente Bedeutung des Präsentierten erst
in der Verstehensleistung des Zuhörers oder Lesers – in der Doppelungs-
struktur der Re-Präsentation.
Dass der Leviathan als mediales Konstrukt Herrschaft nicht nur sichtbar
macht, sondern damit gleichzeitig die Künstlichkeit der herrschaftlichen
Stellvertretung offenlegt, verweist laut Dirk Tänzler bereits auf die mo-
derne Problematisierung des Repräsentativen. Die Darstellung von Stell-
vertretung verändert sich um 1800 strukturell, wie Barbara Stollberg-Rilinger
und Matthias Schwengelbeck herausarbeiten. Die Landtage des Kurfürsten-
tums Köln handelten im 18. Jahrhundert, so Barbara Stollberg-Rilinger,
noch für ein »Ganzes« (das Land), das jenseits dieses gemeinsamen Han-
delns der anwesenden Ständevertreter nicht existierte. Die politische Be-
deutung des Stellvertretungsorgans lag daher weniger in seinen ebenso
vorhersehbaren wie folgenlosen Beschwerden an den Landesherrn als
darin, zwischen- und innerständischen Konsens zum Ausdruck zu bringen,
die »Ungleichheitsstrukturen des Gemeinwesens« symbolisch zu bestätigen.
1790 brachen die Vertreter der Städte mit diesem Prozedere und machten
das Konsensforum erstmals zu einem Schauplatz moderner politischer In-
teressenvertretung, die Differenzen statt Identität darstellte. Ähnlich hatten
die Königs-Huldigungen, das zeigt Matthias Schwengelbeck, gegen Ende
des 18. Jahrhunderts den rechtsverbindlichen Charakter einer Verfassung
in actu schon weitgehend verloren. Während Jan Andres das Widmungsge-
dicht Hölderlins als ästhetisches Produkt mit eingeschriebener sozialer Lo-
gik analysiert, wird an den Huldigungs- und Krönungsritualen im 19. Jahr-
hundert deutlich, wie die neue symbolische Offenheit dieser Handlungen
zu Deutungskämpfen führte, die vor allem in den weltanschaulich ausdiffe-
16 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK

renzierten Printmedien ausgetragen wurden. Welches Prinzip der Stellver-


tretung – Konstitutionalismus oder Gottesgnadentum – Huldigung und
Krönung darstellten, war nicht mehr selbstverständlich.
Dass der tief greifende Wandel medialer Kommunikation im späten
19. Jahrhundert die (Selbst-)Darstellung der Monarchen signifikant umgestal-
tete, ist das Ergebnis der Beiträge von Alexa Geisthövel und Martin Kohl-
rausch. Bei Alexa Geisthövel steht die Frage im Vordergrund, wie das neue
Medium der illustrierten Familienzeitschrift das öffentliche Interaktions-
verhalten des Monarchen präsentierte. Wilhelm I. von Preußen-Deutsch-
land ließ sich durch das Fenster seines Arbeitszimmers beobachten und
interagierte mit den Anwesenden, worüber in Wort und Bild berichtet
wurde. Wie das Titelkupfer des Leviathan machte auch diese Berichterstat-
tung Lesern und Betrachtern das Angebot, sich dem dargestellten Herr-
scher zu nähern, mit ihm zu kommunizieren. Martin Kohlrausch un-
tersucht die Beziehung von Monarchie und der nun konsequent
kommerziellen, aktualitäts- und nicht mehr in erster Linie parteigebunde-
nen Massenpresse um 1900 im deutsch-englischen Vergleich. Während die
nicht regierende Monarchin Victoria persönlich keine Angriffsfläche für
eine alle politischen Lager einende Kritik bot, wurde Kaiser Wilhelm II.
zum Gegenstand von neuartigen Medienskandalen. Die kontroverse Dis-
kussion um die Person des Monarchen schuf einen übergreifenden »Dis-
kursanker« und setzte, statt die Monarchie als Institution zu gefährden,
eine Verständigung über die Beziehung von Herrscher und Beherrschten
in Gang.
Es ist ein gängiger Einwand gegen die Repräsentationsgeschichte, ihr
konstruktivistischer Zugriff relativiere die existenzielle Unmittelbarkeit bei-
spielsweise von Hunger oder Schmerz. Insbesondere wo soziale Akteure
Urheber des Leidens anderer sind, wird auf die hinter den Vergegenwärti-
gungen liegende »Realität« verwiesen. In dieser Perspektive stellen die Aus-
übung und das Erleiden von Gewalt einen Grenzfall des Repräsentativen
dar. In der Tat könnte man argumentieren, dass es nicht mehr um Verge-
genwärtigung geht, wenn die auf Distanz beruhende Sinnlichkeit der Macht
in unmittelbare, nicht kontingente Gewalthandlung umschlägt. Dagegen
rückt Gewalt durchaus in das Blickfeld einer kommunikationsorientierten
Herrschaftskonzeption, wenn Gewalthandlungen an einzelnen Dingen
oder Personen an ein breiteres Publikum von Beherrschten adressiert sind
und auch für etwas anderes als nur für sich selbst stehen. Gewalt als ein
solchermaßen konstitutives Element von Herrschaftsrepräsentation ist das
EINLEITUNG 17

Thema von Paula Diehl und Gisela Diewald-Kerkmann. Paula Diehl behandelt
den ambivalenten Effekt, den die Auftritte der SS in der Darstellung natio-
nalsozialistischer Herrschaft hatten. Aus dem Zeichenarsenal von Stärke,
Kampf und Tod schöpfend, verkörperten die SS-Formationen bei Paraden
oder Staatsfeiern die Drohgebärde willkürlicher Gewalt, die sie in Aktionen
gegen Minderheiten auch realisierten. Zugleich barg diese an alle Be-
herrschten gerichtete Botschaft potenzieller Willkür ein Sicherheitsverspre-
chen. Die auf eine starke Präsenz der SS-Männer abgestimmten Herr-
schaftsinszenierungen unterbreiteten dem Publikum ein Angebot, sich
positiv mit der dargestellten Staatsmacht zu identifizieren. Im Beitrag von
Gisela Diewald-Kerkmann sind es dagegen staatsferne Gruppierungen, die
in einem Eskalationsprozess das staatliche Gewaltmonopol herauszufor-
dern beginnen, um »die« Gesellschaft tatkräftig zu verändern. Seit in den
1960er Jahren Studenten und andere außerparlamentarische Oppositionelle
eine ubiquitäre »strukturelle Gewalt« (Johann Galtung) im Staat diagnosti-
zierten und das System der Bundesrepublik unter Faschismusverdacht
stellten, begann eine Debatte um die Legitimität gewaltsamer Aktionen zu-
erst gegen dingliche Symbole und Zeichen, dann auch gegen Institutionen
und Funktionsträger des Staates. Adressat solcher (zunächst noch nur po-
tenziellen) Handlungen war die Gesamtheit der Staatsbürger, denen die
Gewalttätigkeit staatlicher Überreaktion vor Augen geführt werden sollte.
Selbst die terroristischen Gruppen der 1970er Jahre beharrten noch darauf,
»Widerstand« und »Notwehr« zu leisten und befanden sich damit in einem
traditionsreichen Diskurs über die Legitimität staatlicher Herrschaft.

Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Rah-
men des Bielefelder Sonderforschungsbereiches 584 am 14. und 15. No-
vember 2003 im Internationalen Begegnungszentrum (IBZ) der Universität
Bielefeld stattgefunden hat. Wir danken der Herausgeberin und den Her-
ausgebern der Reihe »Historische Politikforschung« für die Gelegenheit,
diesen Band in der Reihe zu publizieren.
Repräsentation als Performanz:
Die symbolisch-rituellen Ursprünge
des Politischen im Leviathan des
Thomas Hobbes
Dirk Tänzler

I. Repräsentation und Politiktheater


Politiktheater ist zur Metapher für die Krise des politischen Systems in der
so genannten Mediendemokratie geworden. Theatralität und Repräsenta-
tion nimmt der ganz an seine rationale Entscheidungsfähigkeit glaubende
moderne Mensch fast nur noch als Lug und Trug, vielleicht noch als schö-
nen Schein wahr, rechnet Darstellung aber nicht mehr zum »harten« Kern
des politischen Geschäfts. »Staat machen« war und ist aber immer auch ein
Spektakel. Das gilt für die balinesische negara (sansk. für ưƼƫƩƲ: Stadt, Staat)
des 19. Jahrhunderts, einen wahren Idealtypus des rituellen Theaterstaats,1
und nicht minder für den Leviathan des Thomas Hobbes, der Ikone der
modernen Staatsrepräsentation.
Auf die Sprache des Theaters in dieser Schrift machte schon Ferdinand
Tönnies,2 einer der Wiederentdecker von Hobbes, aufmerksam und die
amerikanische Politologin Hannah Pitkin3 verweist in ihrem grundlegenden
Buch über politische Repräsentation ausdrücklich auf Erving Goffmans
dramatologische Soziologie,4 sieht aber im Begriff der Repräsentation und
nicht im Theatermodell den relevanten Erklärungsschlüssel für die politi-
sche Theorie im Leviathan.5 Im Zuge des performative turn erweist sich das
allerdings als eine falsche Gegenüberstellung. Hobbes schließt Stellvertre-
tung und Darstellung in dem seiner politischen Theorie zugrunde gelegten

——————
1 Vgl. Clifford Geertz, Negara. The Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton
1980.
2 Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Werk, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971.
3 Hannah Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley/Los Angeles 1967.
4 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München
1969.
5 Pitkin, Representation [wie Anmerkung 3], S. 24f.
20 DIRK TÄNZLER

Begriff der persona kurz und überträgt so das »Als-ob« des Theaters auf die
Staatsaktionen des Souveräns.6 Bleibt man allerdings dem dramatischen
Theatermodell des 18. Jahrhunderts verhaftet, führt das, wie der Disput
zwischen Runciman und Skinner zeigt,7 zu exegetischen Problemen, denen
man entgehen kann, wenn man, wie die moderne Theaterwissenschaft, ei-
nen erweiterten Begriff der Theatralität zugrunde legt.8 Erst dann er-
schließt sich ein für das Verstehen des Personenbegriffs und der Reprä-
sentationstheorie im Leviathan relevanter Horizont. Der Begriff des
Horizonts9 verweist auf eine für die hier vorgestellte Analyse relevante
Sinnschicht im Denken des Thomas Hobbes’: das Sehen.10 Das Optische
liefert die Grundlage für den aus performanztheoretischer Perspektive
»erweiterten« Begriff der Theatralität im Sinne des öffentlichen Schauhan-
delns.11 Theatralität ist dann im Sinne Helmuth Plessners der conditio hu-
mana zuzurechnen.12 Von Natur wesenlos, ist der Mensch gezwungen, sich
»performativ« eine kulturelle Identität zu schaffen. Da die Identität gegen
konkurrierende Entwürfe durchgesetzt werden muss, ist die menschliche
Existenz unmittelbar politisch und auf Gemeinschaftlichkeit bezogen. Ar-
chetypus der Vergemeinschaftung ist das Ritual – ein Gedanke, der für die
folgende Deutung des Leviathan und den darin entwickelten Begriff der
——————
6 Joseph Vogel zitiert in: Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer
organischen Gemeinschaft in der »Politischen Romantik«, Freiburg 1999, S. 78.
7 David Runciman, Pluralism and the Personality of the State, Cambridge 1997; Quentin
Skinner, Visions of Politics. Volume III: Hobbes and Civil Science, Cambridge 2002.
8 Erika Fischer-Lichte u.a., Theatralität, 7 Bde. Tübingen/Basel 2000ff.; Andreas Kotte,
Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater, in: Theaterwissenschaftliche
Beiträge, Beilage zu: Theater der Zeit, S. 2-9.
9 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8,
Hamburg 1992; Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975, S. 286.
10 Vasco Ronchi, Preface à Thomas Hobbes ›De Homine‹. Traité de L’Homme, traduction
et commentaire par Paul-Marie Maurin, Paris 1974, S. 5-26; Horst Bredekamp, Thomas
Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651-
2001, Berlin 2003.
11 Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren Jahrmärkte und Handelsmessen die Orte,
auf denen die Handwerker, Ärzte und Spielleute ihr Können zur Schau stellten (vgl.
Katrin Kröll, Körperbegabung versus Verkörperung. Das Verhältnis von Geist und
Körper im frühneuzeitlichen Jahrmarktspektakel, in: Erika Fischer-Lichte/Christian
Horn/Matthias Warstat (Hg.): Verkörperung, Theatralität Bd. 2, Tübingen/Basel 2001,
S. 29-52). Erst zu Hobbes’ Zeiten wurde das Theater als privilegierter Ort professioneller
Darstellung «wiederentdeckt«.
12 Helmuth Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, in: Gesammelte Schriften VII,
Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 1982, S. 399-418.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 21

Repräsentation als Stellvertretung fruchtbar gemacht werden soll: Die von


Hobbes aus der rationalen Konstruktion des Textes ausgeschlossene my-
thisch-mystische Identitätsrepräsentation hat im Titelkupfer des Leviathan
Spuren hinterlassen, die in der folgenden bildhermeneutischen Rekon-
struktion aufgedeckt werden. Das Bild erlaubt dann eine performanztheo-
retische Deutung als medial konstruiertes politisches Ritual. Diese Ausfüh-
rungen werden zum Schluss als Ausgangspunkt für einige Überlegungen
zur Repräsentation in der Mediendemokratie der Gegenwart genommen.

II. Die Auflösung der antiken Ordnungsvorstellung


und die Erfindung der Repräsentation
Hobbes’ Einführung des Repräsentationsbegriffs im Rahmen eines Thea-
termodells ist nicht nur Tribut an den Zeitgeist des Barock und seiner
Kosmologie des Welttheaters.13 Der Begriff der Repräsentation markiert
im Sinne Gaston Bachelards14 einen epistemologischen Bruch im politi-
schen Denken des Abendlandes und konstituiert ein neues wissenschaftli-
ches Paradigma im Sinne von Thomas Kuhn,15 das bis in die Gegenwart
Theorie und Praxis des Politischen bestimmt. Zwar kannten schon die al-
ten Griechen politische Repräsentationstechniken,16 doch waren diese
nicht prägend für ihre Praxis der direkten Demokratie.17 Der Begriff der
Repräsentation im Sinne der Stellvertretung, den Hobbes in die politische
Theorie einführt, trennt das Politische vom Moralischen, führt zur Über-
windung der aristotelisch-scholastischen Tradition, die den Staat aus der
Natur des Menschen ableitet. Die konträre Idee der »Künstlichkeit« des
Politischen entwickelt Hobbes in Begriffen des Theaters, denn die organi-
sche Theorie des Politischen ist für Hobbes in doppelter Hinsicht proble-

——————
13 Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München
1959.
14 Gaston Bachelard, Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen
wissenschaftlichen Geistes, Wiesbaden 1978.
15 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 2003.
16 Jakob A.O. Larsen, Representative Government in Greek and Roman History, Berke-
ley/Los Angeles 1966; Raban von Haeling, Repräsentation antiker Staaten. Persepolis
und Athen, in: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992,
S. 37-61.
17 Dolf Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, Stuttgart 1971.
22 DIRK TÄNZLER

matisch geworden. Sie diente in seinen Augen sowohl zur Legitimation der
im vierten Teil des Leviathan als Reich der Finsternis apostrophierten Herr-
schaft der katholischen Kirche als auch der gnostischen Gegenbewegun-
gen, die er beide für die Zerstörung der paganen Einheit von Religion und
Politik verantwortlich macht.18 Mit den Ideen der Repräsentation und der
Souveränität intendiert Hobbes die Restitution dieser Ordnungsvorstellung
auf neuer, moderner, konstruktivistischer Grundlage.
Die antike Vorstellung von einer natürlichen Ordnung, in der das
ƦƾƯƭ ưƯƫƩƴƩƪƼƭ seine Bestimmung findet, muss – darauf hat Eric Voe-
gelin hingewiesen – jede Evidenz einbüßen, wenn zum Beispiel, um den
mystischen Charakter des Glaubens wieder in den Vordergrund zu rücken,
Wilhelm von Ockham das christliche Dogma als unbeweisbar und die
Metaphysik sowie die rationale Theologie als unsinnig erklärt. Damit wer-
den die Grundlagen der aristotelisch-scholastischen Lehre vom rationalen
Staat erschüttert und das Einsickern der gnostischen Idee der Glaubens-
gemeinschaft setzt die kirchlichen und weltlichen Hierarchien der perma-
nenten Gefahr der Entlegitimierung durch mehr oder weniger demokrati-
sche charismatische Bewegungen aus.19 Die Wurzeln dieses Konflikts
liegen in innerkirchlichen Auseinandersetzungen, wie sie sich auf den Kon-
zilien in Konstanz und Basel manifestieren, wo um die Frage gestritten
wird, ob der Papst oder die Versammlung die Stellvertretung Gottes auf
Erden beanspruchen dürfe. Die Ordnungsvorstellungen der societas und der
universitas, die hier aufeinanderstoßen, gründen auf der für die moderne po-
litische Theorie folgenreichen Unterscheidung zwischen einer Vertretungs-
repräsentation und einer Identitätsrepräsentation.
Nach römischer Rechtsauffassung ist die societas eine vertragliche
Zweckgemeinschaft (engl. partnership), die universitas dagegen die Idee einer
Korporation, einer dauerhaften Glaubens- und Lebensgemeinschaft analog
der Familie.20 Archetypus der societas und – daraus abgeleitet – des moder-

——————
18 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehl-
schlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938.
19 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959.
20 Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der
Antike bis ins 19.Jahrhundert, Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 22, Berlin 1998;
Oakeshott nach Runciman, Pluralism [wie Anm. 7], S.13ff. Schon die Römer werteten
gegenüber den Griechen die Familie auf, hielten aber an der Unterscheidung zwischen
ƯƟƪƯƲ und ưƼƫƩƲ fest. Erst die Christen rissen mit ihrer »Umwertung aller Werte» die
Grenze ein und »familiarisierten« die entpolitisierte Gemeinschaft (vgl. Hannah Arendt,
Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002).
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 23

nen europäischen Staates ist die katholische Amtskirche. Diese ist als realer
hierarchischer Herrschaftsverband ein dem Papst gehorsamspflichtiger cor-
pus fictum, das heißt ein Abbild oder eine Repräsentation der Herrschaft
Christi. In Gestalt der universitas tritt der paternalistisch-vormundschaftli-
chen Stellvertretungsrepräsentation durch das Verbandsoberhaupt (»guter
Hirte«) die Identitätsrepräsentation eines Vertretungskörpers gegenüber,
dessen Haupt (caput) nicht der Papst, sondern Christus selbst ist. Dieser
zweite Typus von Repräsentation beruht auf einem transzendenten Iden-
titätsprinzip: der Identität von Repräsentant und Repräsentiertem, gestiftet
durch den Geist, der über die Gläubigen gekommen ist und in ihnen – und
nicht nur im Priester – anwesend ist. Der Priester ist zwar weiterhin Organ
des Körpers Kirche, aber nur Verkörperung (persona repraesentativa) einer in
der Versammlung/Kirche (collectio repraesentativa) lebendigen, doch unsicht-
baren Wirklichkeit. Die Identitätsrepräsentation setzt eine jenseitige, irratio-
nal-hierokratische Legitimation durch Gott an die Stelle der diesseitigen,
formalrational-hierarchischen Legitimation und untergräbt damit prinzipiell
die Herrschaft der katholischen Kirche unter Führung des Papstes.
Nikolaus von Kues versucht diese Spannung in der später von ihm re-
vidierten Idee der Vermittlungsrepräsentation aufzuheben, die er jenseits
von Gemeinde und Papst dem Konzil zuschreibt. Der consensus communis,
manifest in der electio oder Bischofswahl, konstituiert Organschaft und wird
damit zur Bedingung von Vertretung und Zurechnung. Die Organschaft
ist nicht als demokratische Bündelung individueller Willensmacht konzi-
piert, denn repräsentiert werden nicht Individuen, sondern was sie vereint.
Noch ist die Vermittlungsrepräsentation ständische »Ratsrepräsentation«
durch das Konzil (nicht die Kirchengemeinde) und vormodern auch da-
durch, dass die Vermittlung nur möglich ist, weil Konsens und Hierarchie
auf die Wirkung von Gottes Gegenwart zurückgehen und im Zeichen des
Vertrauens auf die christliche Seelengemeinschaft stehen – eine Bedingung,
die dann bei Hobbes nicht mehr gegeben ist. Trotzdem ist damit die für
Hobbes und die Moderne folgenreiche und revolutionäre Vorstellung for-
muliert, dass nur ein durch Gesellschaftsvertrag freier Menschen legiti-
mierter Herrschaftsvertrag Geltung beanspruchen kann.21 Die katholische
Kirche drängte die mystischen oder, mit Eric Voegelin zu sprechen, gnos-
tischen Ideen der universitas und der Identitätsrepräsentation, die im inner-
kirchlichen Streit zwischen Papst und Konzil, aber auch in häretischen

——————
21 Dazu Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20].
24 DIRK TÄNZLER

Bewegungen zum Ausdruck kamen, immer wieder zurück. Geschichts-


trächtig wurden sie in den protestantischen, insbesondere puritanischen
Sekten.22 Der Gegensatz zwischen Repräsentation und Identität fand
schließlich in den konkurrierenden Theorien von Hobbes und Rousseau
seinen Niederschlag. Die ursprünglich theologischen Begriffe societas und
universitas leben in säkularisierter Form in den soziologischen Grundbegrif-
fen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung fort.23

III. Die Repräsentationstheorie des Thomas Hobbes


im Leviathan
Die durch die irrationalen Glaubensvorstellungen permanent drohende
Legitimationskrise und schließlich faktische Zerstörung des Staates im
englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts – von Thomas Hobbes in die
Metapher des Behemoth gekleidet – bilden den Hintergrund, vor dem er
seinen Leviathan24 entwirft. Jenseits von Metaphysik und religiösem Glau-
ben will er zu einer Wissenschaft der Politik zurückfinden, welche die Be-
dingungen für den sozialen Frieden formuliert, indem er die nicht mehr
überzeugende Idee der natürlichen Ordnung durch die Idee eines Gesell-
schaftsvertrages ersetzt.
Hobbes gilt dann auch als Begründer der Vertragstheorie und im Allge-
meinen nicht als einschlägiger Autor über das Problem der Repräsentation.
Vertragsgedanke und Vertretungsgedanke gehören in seiner politischen
Theorie aber zusammen.25 Grundlage des modernen Vertragsverständ-
nisses wird die im Leviathan entwickelte Idee der Stellvertretung. Es ist
wiederum Ferdinand Tönnies, der auf die Schlüsselrolle des Repräsentati-
——————
22 Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft [wie Anm. 19].
23 Die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft ist aus Tönnies’
Beschäftigung mit Hobbes hervorgegangen, dessen individualistisch-vertragsrechtliches
und staatspolitisch verengtes Gesellschaftskonzept er um Gierkes Genossenschaftstheo-
rie als moderner Variante nichtstaatlicher Ordnungsmächte ergänzte (vgl. Einleitung von
Karl-Heinz Ilting in: Tönnies, Thomas Hobbes [wie Anm. 2], S. 88). Zu denken ist wei-
terhin an die Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Gesellschaften bei
Bergson und Popper.
24 Leviathan und Behemoth bilden bei Hobbes ein Gegensatzpaar: »der Staat das eine
Ungetüm, die Revolution das andere.« (Tönnies, Thomas Hobbes [wie Anm. 2], S. 61;
vgl. Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18].
25 Johannes Weiß, Handeln und handeln lassen. Über Stellvertretung, Wiesbaden1998.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 25

onsbegriffs in Hobbes’ politischer Theorie hinweist, mit dem die Wissen-


schaft der Politik vom Primat des Rechts und der Moral, damit von jeder
Willensmetaphysik abgelöst wird.26 Kreiste die Idee der Politik seit Plato
und Aristoteles bis zu den Kirchenvätern um die Fragen des guten Herr-
schers und des Gemeinwohls, so trennt das moderne Verständnis das Po-
litische vom Moralischen. Bereits Machiavelli formuliert eine »wertneut-
rale«, erfolgsorientierte Kunstlehre der Macht, bewegt sich aber noch ganz
im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Vorstellungen, wenn er politi-
sches Handeln (ưƱƜƮƩƲ) weiterhin an das Gemeinwohl knüpft. Erst Hobbes
vollzieht die radikale Umdeutung der Machttechnik zu einem künstlichen
Herstellen (ưƯƟƧƳƩƲ) des Politischen – bildlich dargestellt im Frontispiz –
und einer technischen Konstruktion der Staatsmaschine.27 Herrschaft – bei
Max Weber, der diese instrumentelle Auffassung fortsetzt, identisch mit
Ordnung – avanciert zu einem Wert an sich, einer nicht mehr im Rahmen
der praktischen, sondern der theoretischen Vernunft wissenschaftlich be-
handelten autonomen Wertsphäre.28 Im Zentrum dieser neuen Wissen-
schaft der Politik stehen die Souveränitätslehre und die Theorie der Reprä-
sentation.29 Hobbes’ Votum für den Absolutismus ist eine Entscheidung,

——————
26 Hans Maier nennt zwei Gründe für diese Abkehr vom Prinzip der Willensfreiheit.
»Theologisch ist es der Nominalismus in der Linie Duns Scotus, Ockham und der engli-
schen philosophischen Tradition, durch den die Gottesmacht ins Absolute gesteigert
und der Mensch zum Spielball des göttlichen Willens gemacht wird. Naturwissenschaft-
liche Quelle ist ein Determinismus, der aus dem Verständnis eines in sich zusammen-
hängenden, konsistenten, nicht zufälligen Universums fließt, das individuelle Willensre-
gungen aus systematischen Gründen ausschließt.« (Hans Maier, Hobbes, in: Hans
Maier/Heinz Rausch/Horst Denzer (Hg.), Klassiker des Politischen Denkens, Bd. 1,
München 1968, S. 351-375, hier S. 360f.).
27 Tönnies hebt den Unterschied zwischen mittelalterlicher Vertragstheorie, die den Staat
als »Rechtsstaat« begründet, und Hobbes’ Vertragstheorie hervor, die den Staat zum
menschlich-sozialen Konstrukt macht (vgl. Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 103f;
Arendt, Vita activa [wie Anm. 20].
28 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der Verstehenden Soziologie,
Tübingen 1976.
29 Repräsentation und nicht Souveränität führt zur Unterscheidung zwischen dem gesell-
schaftlichen Naturzustand und der Zivilgesellschaft. Auch Eric Voegelins »Neue Wis-
senschaft der Politik« behandelt den Begriff der Repräsentation als »das Zentralproblem
einer Theorie der Politik« (Voegelin, Neue Wissenschaft [wie Anm. 19], S. 17). »Die
neue Repräsentationstheorie, die Hobbes in seinem Leviathan entwickelte, erkaufte zwar
ihre eindrucksvolle Geschlossenheit um den Preis einer Simplifizierung, die selbst in die
Klasse der gnostischen Missetaten gehört. [...] [doch sie] trifft ins Herz des Übels« (ebd.,
S. 211f.), der Auflösung politischer Rationalität in Theorie und Praxis. Der moderne Ra-
tionalisierungsprozess hat für Voegelin einen zutiefst irrationalen Kern.
26 DIRK TÄNZLER

erstens, gegen die Idee der im irrationalen Glauben gründenden universitas


samt Identitätsrepräsentation sowie, zweitens, für die Idee einer rationalen
Konstruktion der societas als Vertragsgemeinschaft mit Stellvertretungsre-
präsentation. Im Moment seiner Ausdifferenzierung zur autonomen Hand-
lungssphäre erkennt Hobbes die Repräsentation als Kern des Politischen.
Das Faktum des Staates versucht Hobbes durch die Fiktion vom Ge-
sellschaftsvertrag plausibel zu machen. Notwendig war dieser Schritt, weil
mit den liberal-naturrechtlichen Fundamenten des Leviathan, also der Idee
des von Natur aus freien Menschen, die antike Vorstellung einer aus der
Natur des Menschen abgeleiteten Herrschaftsbegründung obsolet wurde.
Die Fiktion des Gesellschaftsvertrages soll eine rationale, aus dem Prinzip
der Selbsterhaltung (Nutzen) abgeleitete Erklärung für die Unterwerfung
unter den Staat erlauben. Der von Natur aus freie Mensch verzichtet auf
seine unumschränkte Freiheit, weil er ein höheres Gut dafür erhält. Dieses
höhere Gut ist das Leben selbst beziehungsweise die Bedingung dauerhaf-
ter Existenzsicherung: Frieden. Frieden kann aber weder durch Vernunft-
beschluss noch Selbsterhalt herbeigeführt werden, weil Selbsterhaltung
zum bellum omnium contra omnes führt und unter diesen Bedingungen allein
die Unterwerfung und gegebenenfalls Tötung des Kontrahenten rational
ist. Es ist dann auch die Furcht vor dem Tod durch den anderen, die zu
dem vernünftigen Schluss führt, dass alle auf die unumschränkte Freiheit
und das Recht auf Selbstverteidigung verzichten und beides auf einen
Stellvertreter übertragen. Einerseits ist der Gesellschaftsvertrag ein Vertrag
zwischen natürlichen, das heißt unverbundenen Personen zur Erreichung
eines bestimmten Zwecks, kein Bündnis zur Bildung einer Korporation
mit eigener Identität und einem über die Selbsterhaltung hinausgehenden
kollektiven Ziel. Die Erfüllung des Vertrages ist aber an Stellvertretung ge-
bunden. Hobbes gibt dem Gesellschaftsvertrag nach römischem Recht die
Form einer Vereinbarung zugunsten eines durch diesen Vertrag selbst
nicht gebundenen Dritten.30 Darüber hinaus ist der Gesellschaftsvertrag als
Herrschaftsvertrag konzipiert, nicht als Begünstigungsvertrag nach dem
Modell des auf Wechselseitigkeit beruhenden Lehnsverhältnisses, der bei
Verletzung von beiden Partnern gekündigt werden könnte und damit aus
Hobbes’ Sicht (wieder) die Gefahr des Bürgerkrieges heraufbeschwören

——————
30 Iring Fetscher, Einleitung, in: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt
eines kirchlichen Staates, übersetzt von Walter Euchner, hg. von Iring Fetscher, Frank-
furt/M. 2002, S. IX-LXVI.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 27

würde.31 Der Gesellschafts-/Herrschaftsvertrag kann von den Untertanen


nicht mit Verweis auf Vertragsbruch gekündigt werden, weil der Souverän
gar nicht Vertragspartner war und ist. Da er nichts hat versprechen können
und müssen, ist der Souverän völlig frei und ungebunden. Der Vertrag
konstituiert keine Willensübereinstimmung und kein Mandatsverhältnis in-
nerhalb einer paritätischen Körperschaft, sondern ein Verhältnis der Vor-
mundschaft nach römischem Recht, die sich allerdings nur auf die öffentli-
chen Angelegenheiten des Citoyens, nicht auf die Privatinteressen des
Bürgers erstreckt. Diese, im Hobbes’ Werk unaufgelöste Spannung zwi-
schen Liberalismus und Autoritarismus wird sehr deutlich, wenn er dem
Bürger einerseits Glaubensfreiheit und das Recht auf Desertion attestiert,
anderseits von ihm ein Lippenbekenntnis zur Staatsreligion beziehungs-
weise Unterwerfung unter die Gesetze des Souveräns fordert.
Stellvertretung im Sinne des »Handelns für« bedeutet bei Hobbes also
Delegation der Gewalt, analog dem römischen Vormundschaftsverhältnis
nicht Interessenvertretung – denn der Citoyen hat im Gegensatz zum Bour-
geois keine Interessen und Rechte, sondern nur Pflichten. Stellvertretung
hat nach antikem Vorbild bei Hobbes auch noch die Bedeutung des »Ge-
genwärtigmachens«: In der körperlichen Repräsentation des Souveräns er-
hält das Volk reale Gestalt. Das Volk existiert nur in und durch die Reprä-
sentation, ist nur im fiktiven Moment des förmlichen Vertragsschlusses
vom Souverän unterschieden. Denn der Vertrag führt seinem Inhalt nach
dazu, dass sich das Volk dem Souverän unterwirft und sich in ihm sogleich
auflöst – in dem doppelten Sinne, dass allein der Souverän – durchaus
wörtlich genommen – das einige Volk verkörpert, während sich die Bürger
wieder in eine Menge vereinzelter Einzelner zurückverwandeln. Die Zivil-
gesellschaft bildet, wie schon Ludwig Feuerbach in seiner Hobbesinter-
pretation hervorhebt,32 keinen Organismus, sondern ist eine durch die Ge-
waltmaschine des Staates zusammengehaltene äußere Verbindung. Die
Bürger, so Feuerbach, befinden sich im Staate außerhalb des Staates, also
weiterhin im Naturzustand der Vereinzelung. Auch der Souverän handelt
wie im Naturzustand, weil er Souverän nur ist, insofern ihm die Menschen
alle natürlichen Rechte übertragen haben, die er ohne Einschränkung aus-
üben muss, um dem Gesellschaftsvertrag Geltung zu verschaffen. Der Ge-
sellschaftszustand, so sein Resümee, unterscheidet sich vom Naturzustand
——————
31 Ebd., S. XXVI.
32 Ludwig Feuerbach, Geschichte der neueren Philosophie von Bacon bis Spinoza, Berlin
1969, S. 99-138.
28 DIRK TÄNZLER

nur dadurch, »daß in jenem auf einen einzelnen oder auf einige konzen-
triert und gehäuft ist, was in diesem alle hatten.«33 Eine mit unbeschränkter
Souveränität ausgestattete Staatsgewalt sei reine Willkür, unsittlich, rohe
Naturgewalt. Insofern sei der Unterschied zwischen Staat und Naturzu-
stand wieder aufgehoben.
Diesen merkwürdig changierenden Übergang zwischen Natur- und
Gesellschaftszustand beschreibt Hobbes dann nicht zufällig in Theaterbe-
griffen. Zunächst führt er in dem zentralen 16. Kapitel den Begriff der
Repräsentation im Sinne der Präsentation oder Darstellung ein. Der Reprä-
sentant ist ein Rollenspieler. Wie auf dem Theater präsentiert ein Akteur
(Schauspieler) die von einem Autor (Dichter) geschaffenen Rollen. Als-
dann zählt Hobbes eine Reihe von Repräsentationsverhältnissen auf. Als
terminus comparationis fungiert dabei der Begriff der Autorisierung, mit des-
sen Hilfe sich Stellvertretungen mit und ohne Vertretungsmacht wie zum
Beispiel Mandat und Vormundschaft unterscheiden lassen. Die verschlun-
gene Argumentation zielt auf das Problem der Personifikation einer Men-
schenmenge und die Herleitung eines Gemeinwillens aus einzelvertrag-
lichen Bindungen der Individualwillen:34
»A Multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one
Person, Represented; so that it be done with the consent of every one of that Mul-
titude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Rep-
resented, that maketh the Person One. And it is the Representer that beareth the
Person, and but one Person: And Unity, cannot otherwise be understood in Multi-
tude.«35

Die Sprache der Textpassage ist wie die damit beschriebene Sache von Un-
eindeutigkeit geprägt. Mehr noch: Hobbes macht sich hier die Äquivokati-
onen zu nutze, die im Begriff der Repräsentation liegen, so dass diese
Textpassage weniger durch Argumentation als Suggestion geprägt ist. Un-
ter der Hand wandelt sich dabei der Sinn der Ausdrücke »Vertretung« und
»Repräsentation«:
»Denn wenn der Souverän, autorisiert durch die Einzelnen, eben nicht nur diese,
sondern vor allem das Commonwealth oder die Civitas vertritt (civitatis personam
gerit), welche er zugleich erst durch seine Souveränität konstituiert, so bedeutet das,
daß die ursprüngliche Einheit von Vollmacht, Zuschreibung der Handlung und
——————
33 Ebd., S. 125.
34 Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 390.
35 Thomas Hobbes, Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth
Ecclesiasticall and Civill, reprinted from the edition of 1651, Oxford 1909.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 29

Zurechnung ihrer Rechtsfolgen auseinander bricht: Die Ermächtigung trägt die


Zurechnung der Rechtsfolgen der Vertretungshandlung nur noch, wenn man sie
als blinde Unterwerfung unter alle künftigen Vertretungshandlungen versteht, die
damit zu Herrschaftsakten eines ›Vertreters‹ werden, der ein Subjekt berechtigt und
verpflichtet, das es ohne ihn nicht gibt, das er allein verkörpert.«36

Hobbes Theorie der Repräsentation, wie sie hier skizziert ist, enthält im
Kern Elemente, die mit seiner These von der Einheit von Gesellschafts-
und Herrschaftsvertrag sowie mit seiner Theorie der unumschränkten
Souveränität nicht ohne weiteres vereinbar sind.

IV. Der Titelkupfer des Leviathan und die optische


Konstruktion der Repräsentation
Die sich in Hobbes’ Schrift offenbarenden Spannungen kulminieren im
Konstrukt einer freiwilligen Unterwerfung. Dieses Paradox verweist auf
den Doppelcharakter der Staatsraison: einerseits gründet sie im Prinzip der
Selbsterhaltung der Individuen, andererseits erstrebt sie die Selbsterhaltung
einer symbolischen Ordnung. Beides lässt sich aber nicht ohne weiteres auf
einen Nenner bringen und bleibt dann auch im Leviathan rätselhaft: Der
künstliche Gott Leviathan ist so unergründlich wie Gott im Himmel. Legi-
timitätsgrund ist nicht ein Rationales, sondern ein Mysterium, die Verkör-
perung.37 Die bildliche Darstellung des corpus politicum auf dem Titelblatt ist
daher keine bloße Illustration zum Text des Leviathan. Sie dient, wie die
folgende rezeptionsästhetische Analyse zeigt, auch weniger einem Verste-
hen der Repräsentation als vielmehr ihrer performativen Erzeugung.
Wie die Griechen misstraut Hobbes der Verführung durch das Wort und
die Schrift, setzt aber an die Stelle der Tonkunst, die bei den Griechen als
Medium der politischen Bildung galt, die Bildkunst.38 Den Übergang in den
——————
36 Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 390.
37 Ähnlich Max Weber, der von der Pflicht des Gehorsams gegenüber dem charismati-
schen Führer spricht, dessen Anerkennung notwendige Folge seiner Legitimität und
nicht Legitimitätsgrund sei (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 28], S. 155f).
38 Dirk Tänzler, Der Charme der Macht. Zur medialen Inszenierung politischer Eliten am
Beispiel Franklin D. Roosevelts, in: Ronald Hitzler/Stefan Hornbostel/Cornelia Mohr
(Hg.), Elitenmacht, Wiesbaden 2004, S. 275-291. Die geometrische Konzeption des Ti-
telblatts folgt, so Reinhard Brandt, verborgenen musiktheoretischen Grundlagen und
manifestieren eine Kosmologie: die harmonia mundi civilis et ecclesiastici (Reinhardt Brandt,
30 DIRK TÄNZLER

Staatszustand kann die Macht des besseren Arguments weder herbeiführen


noch sichern. Es bedarf der Macht eines rational konstruierten technischen
Mediums, das über die Sinne die Seele beeindruckt und beim Bürger den
Sinneswandel zum Citoyen bewirkt. Die Repräsentation der Repräsentation
im Titelkupfer des Leviathan demonstriert und verschleiert ein der Repräsen-
tation immanentes Moment der Verführung, so dass der Herrschaftsvertrag
natürlich, als Teil der kosmologischen Ordnung erscheint. Im Spiegelkabi-
nett der Repräsentation irrealisiert sich der Unterschied zwischen Subjekt
und Objekt, die wie in einem Ritual als Momente einer höheren Macht er-
scheinen. Subjekt dieser imaginierten Verführung ist das Opfer selbst. Wie
bei Freud die psychodynamische Urszene,39 so müssen auch die ge-
sellschaftliche Urszene und der sie hervorrufende Krieg aller gegen alle40,
von denen Hobbes im Leviathan erzählt, nicht naturalistisch als reales histori-
sches Geschehen, sondern strukturell und symbolisch als Gründungsmythos
gedeutet werden. Das Frontispiz des Hobbesschen Leviathan überbrückt, so
Horst Bredekamp, wie eine effigies das den Bürgerkrieg ermöglichende inter-
regnum zwischen dem Tod des Königs und der Krönung seines Nachfolgers.
Im einen wie im anderen Fall droht mit dem individuellen Tod des Herr-
schers der soziale Tod der Ordnung, der Einbruch des Naturzustandes in
den Gesellschaftszustand und der bellum omnium contra omnes. Die individuell
wie sozial drohende Vernichtung durch den Tod muss rituell gebannt41 wer-
——————
Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante, in: Udo Bermbach/Klaus-M. Ko-
dalle (Hg.), Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes,
Opladen 1982, S. 203-231, hier S. 211).
39 Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1974,
S. 287-444.
40 Eine genauere Analyse der Hobbesschen These vom »Krieg aller gegen alle« hätte der
Einschätzung von Panajotis Kondylis zu folgen: »Der sprichwörtliche Krieg aller gegen
alle bildet einfach eine praktische Unmöglichkeit, das heißt es ist kein Zustand vorstell-
bar, in dem ein solcher Krieg samt all seinen Implikationen buchstäblich stattfindet und
mehr als einen Augenblick dauert. [...] Die Formel ist entweder metaphorisch oder
sinnlos. Genauer: Sie hatte keinen realen, sondern nur einen polemischen Sinn, als sie in
der frühen Neuzeit aufgeboten wurde, um die aristotelisch-scholastische Lehre von der
Ursprünglichkeit der Gesellschaft aus den Angeln zu heben und in einem zweiten Schritt
die Vertragstheorie dieser oder jener Couleur zu stützen. Was man Hobbes entgegnen
kann, will man ihn im Nominalwert nehmen, ist folgendes: Gesellschaft wurde nicht
gegründet, damit der Krieg aller gegen alle ein Ende nimmt; Gesellschaft besteht, weil der
Krieg aller gegen alle praktisch unmöglich ist.«
(Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie,
Bd. 1, Berlin 1999, 296f.).
41 Vgl. Carlo Ginzburg, Repräsentation – das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, Frei-
beuter 52 (1998), S. 2-23.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 31

den in der die Königswürde (dignitas) verewigenden effigies beziehungsweise


im Bild vom Staatskörper des Leviathan.
»Die Leerstelle zwischen den Worten des Vertrages und dem Gesamtkörper des
Staates füllt die ›visible power‹ des Bildes. [...] Damit Verträge und Gesetze zu
kontrollierten Handlungen werden, müssen sich Worte in Körper verwandeln, und
diesen Vermittlungsschritt leistet das Bild des Leviathan.«42

Die im Bild festgehaltene Szene der den corpus des Staates bildenden und zum Sou-
verän als caput aufschauenden Menschen deutet Bredekamp als pseudosakralen
Akt der Erschaffung des sterblichen Gottes durch die Versammelten.
»Keineswegs nur Symbol eines Nicht-Darstellbaren, schließt das zum mentalen
Bild gewordene Frontispiz die Lücke zwischen Repräsentant und Repräsentiertem,
um damit die symbolische Achillesferse des Leviathan zu heilen, als Gesamtkörper
nicht körperlich erfahrbar zu sein.«43

Im Frontispiz gibt Hobbes, so


könnte man im Anschluss for-
mulieren, eine optische Kon-
struktion der Identitätsreprä-
sentation, die er auf geometri-
sche Weise zu enträtseln sucht,
ihr damit aber nur einen neuen,
den Schleier des Vernunftglau-
bens umhängt. Denn zumin-
dest in einem Punkt bleibt der
Akt des Vertragsschlusses ir-
rational, dort nämlich, wo Ver-
nunft in blinde Herrschaft um-
schlägt und der Bürger zum
Untertan wird. Die vom Bild
überbrückte Lücke in der logi-
schen Ableitung der Repräsen-
tation reist im Bild erneut auf.
Die optische Konstruktion der
Repräsentation hat einen blin-
den Fleck.

Abbildung 1: Abraham Bosse, Leviathan, Frontispitz


von: Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, a.

——————
42 Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10], S. 130f.
43 Ebd., S. 72.
32 DIRK TÄNZLER

Zwar mache das Bildnis des Leviathan, so Ethel Matala de Mazza, Rep-
räsentation als Darstellung eines Sichtbaren und Stellvertretung eines Un-
sichtbaren ansichtig; alle, König, Volk, Hobbes und Gott als universeller
Beobachter seien im Bild vorhanden, aber:
»Dafür gibt es in dem Feld der Repräsentation nun keine für sich seienden Reprä-
sentierten mehr. [...] Das Leben, dem der Leviathan Schutz gibt, ist erkauft in ei-
nem symbolischen Tausch des eigenen Gesichts gegen die Maske der politischen
Person. [...] Der symbolische Tausch vollstreckt mit Zeichen, was der Machtan-
spruch des Despoten [...] von den Körpern fernhält: den Tod – besiegelt nun in
der Auslöschung des Individuums als handelndes Subjekt.«44

Die Verleugnung der Identität wird hier als ideologisch motivierter Kon-
struktionsfehler dechiffriert. Die Verleugnung der Identität ist aber der
Kern aller zivilisatorischen Rationalität und ein der Subjektivität inhärentes
strukturelles Moment, genetisch ihre erste Erscheinungsform, wie Sigmund
Freud am Beispiel der Ich-Spaltung angesichts der Kastrationsdrohung
und am Fetischismus,45 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an den
Abenteuern des Odysseus zeigen, dessen Name sowohl Held als auch
Niemand (ƯƵƤƟƲ) bedeuten kann.46 Identität wird aus Abwehr geboren, ist
keine an sich seiende Entität. Unter dem Fluch der Naturabhängigkeit ist
Autonomie nur durch selbst verleugnende List und Mimikry ans Hetero-
nome zu erschleichen.
Die ideologiekritische Deutung der Huldigung als Auslöschung the-
matisiert den Gesellschaftsvertrag nur aus der Perspektive der societas, der
geltenden Ordnung und der Stellvertretung. Diese bei Hobbes – im
wahrsten Sinne des Wortes – im Vordergrund stehende und im Frontis-
piz dargestellte »technische Repräsentation« erklärt den Vorgang noch
nicht hinreichend. Tatsächlich finden sich in dem Frontispiz, Brede-
kamps Deutung zeigt das deutlich, auch Spuren der Identitätsrepräsenta-
tion und der Idee der universitas. Das Moderne an Hobbes Konstruktion
ist ja, dass er den Herrschaftsvertrag, also die paternalistische societas, an
den modernen Gesellschaftsvertrag und an die Identitätsrepräsentation
rückbindet. Indem er beide Verträge verknüpft, lässt er die universitas in

——————
44 Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6], S. 82-85.
45 Freud, Totem und Tabu [wie Anm. 39], S.371-394; siehe unter dem Stichwort »Verleug-
nung« in: Jean Laplanche/J. B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2,
Frankfurt/M. 1977, S. 595-598.
46 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-
mente, Amsterdam 1968.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 33

der societas verschwinden und Identität in der Stellvertretung aufgehen.


Die societas verliert dadurch ihren natürlichen oder göttlichen Ursprung
und wird zum künstlichen Konstrukt, geschaffen von freien Menschen
zum eigenen Schutz.
Die Paradoxie des Gesellschaftsvertrages, das Rätsel der Selbsttrans-
formation einer wilden Horde in eine geordnete Gemeinschaft, hat Emile
Durkheim als das zentrale soziologische Problem bezeichnet und als Su-
che nach dem »Nichtkontraktuellen des Kontraktes« formuliert.47 Dieser
Übergang, und das ist Durkheims Lösung, vollzieht sich im Ritual. Wir
müssen also die Urstiftung der Gesellschaft nicht nur juristisch als Ver-
trag, sondern – soziologisch grundlegender – als Passageritual im Sinne
Arnold van Genneps lesen.48 In einem Ritual bringt sich eine religiöse
Gemeinschaft hervor und gibt sich dauerhafte Existenz durch die Schaf-
fung eines Selbstbildes und eines Stellvertreters, dem es die rituelle
Funktion sowie deren Verkörperung und Ausdeutung überträgt. Aller-
dings wirft diese auch von Voegelin nahegelegte Deutung ein Problem
auf: Sie irrealisiert den Gesellschaftsvertrag, der nicht mehr allein in der
rationalen Konstruktion der societas aufgeht, sondern zumindest auch Züge
der mystischen Identitätsrepräsentation der universitas annimmt.49 Die ratio-
nale Konstruktion des Leviathan verbirgt ein rational nicht auflösbares
Rätsel, wie die Bildanalysen von Ethel Matala de Mazza und Horst Brede-
kamp zeigen. Diese Bildanalysen versäumen es allerdings, aus der Bildlich-
keit des Leviathan auf das bildähnliche Wesen der Identitätsrepräsentation
zu schließen. Die Leerstelle verweist nicht auf einen Fehler in der Kon-
struktion der societas, sondern auf das Wesen der Macht; ihr Anderes wäre
——————
47 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1984
(zuerst 1912).
48 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt/M. 1986.
49 »Der Scharfsinn Hobbes’ zeigt sich am deutlichsten in seiner Erkenntnis, dass die
Vertragssymbolik, die er in Übereinstimmung mit den Gepflogenheiten des siebzehnten
Jahrhunderts verwandte, nicht das Wesentliche an der Sache ist. Der Zusammenschluß
zu einem Gemeinwesen unter einem Souverän mag sich in Rechtsform vollziehen, aber
seinem Wesen nach ist er eine psychologische Wandlung der sich zusammenschließen-
den Personen. Die Hobbessche Konzeption des Prozesses, durch welchen eine politi-
sche Gesellschaft existent wird, kommt der Auffassung Fortescues über die Schaffung
eines neuen corpus mysticum durch die Eruption eines Volkes ziemlich nahe. Die Ver-
tragspartner schaffen nicht etwa eine Regierung, die sie als Einzelpersonen repräsentiert.
Durch den Vertragsakt hören sie auf, selbstbestimmende Menschen zu sein, und lassen
ihre Machttriebe in einer neuen Person, dem Gemeinwesen, aufgehen, und der Träger
dieser neuen Person, ihr Repräsentant, ist der Souverän.« (Voegelin, Neue Wissenschaft
[wie Anm. 19], S. 250).
34 DIRK TÄNZLER

nicht die Autonomie des Subjekts – diese ist mit jener identisch –, sondern
Ohnmacht, Auslöschung, Rückfall in den Naturzustand.
Im Frontispiz des Leviathan sehen Matala de Mazza und Bredekamp
nicht bloß eine adäquate Versinnbildlichung der Repräsentationstheorie,
sondern eine sinnhafte Einheit von Wort und Bild.50 Diese Deutungen be-
ziehen sich vornehmlich auf Form und Inhalt des Bildes und untersuchen
die Wechselwirkung mit dem Text. Erweitert man die Analyse der Bild-
wahrnehmung und des Bildverstehens jedoch um die rezeptionsästhetische
Rekonstruktion des Bildes als Protokoll einer sozialen Handlung, dann er-
öffnen sich Anschlüsse für eine medien- und ritualsoziologische Deutung
der »Repräsentation der Repräsentation« im Bildnis des Leviathan. Aus
dieser Perspektive rückt dann an die Position des in aller Regel mit Gott
identifizierten Betrachters der reale beziehungsweise idealtypische Be-
trachter (generalized other) vor dem Bild und an die Stelle der großen, jeder
Erfahrung sich entziehenden Transzendenz die mittlere, durch face-to-face-
Interaktionen überbrückbare Transzendenz zwischen zwei Akteuren.51 Im
Akt der Bildwahrnehmung wird der Betrachter aus der Alltagswirklichkeit
herausgerissen und in die Bildwirklichkeit hineingezogen, im Akt des Bild-
verstehens aber auch wieder von dieser Bildwirklichkeit auf die Hand-
lungswirklichkeit des Akteurs verwiesen, weil ein Verstehen nur mit Rekurs
auf einen gesellschaftlichen Wissensvorrat möglich ist. Die Intention des
Bildes erfüllt sich schließlich nicht in der Beschaulichkeit des interesselosen
Wohlgefallens an dem Bildinhalt, der Prosopopöie des Politischen, oder an
der Form des Bildaufbaus, die sich als Allegorie der Repräsentation lesen
lässt,52 sondern erst, mit Hegel gesprochen, in der Reflexion auf die durch
das Sehen inaugurierte Erfahrung des Bewusstseins.

V. Die Repräsentation der Repräsentation


im Bildnis des Leviathan
Der Bildaufbau – die Säulen des Unterbaus sowie das sich darüber dachartig
erhebende, über das Bild hinausragende, von Schwert und Bischofsstab ge-
bildete Dreieck – leitet den Blick des Betrachters auf das Gesicht des Souve-
——————
50 Vgl. auch Brandt, Titelblatt [wie Anm. 38].
51 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Die Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003.
52 Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6], S. 80.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 35

räns.53 Der Blickkontakt auf gleicher Augenhöhe stellt Nähe her, ein Ein-
druck, den die geöffneten Arme des Souveräns – sowohl Einladungs- als
auch Schutzgeste – unterstreichen. Der Betrachter wird aufgefordert, sich
unter die schützenden Arme des mit den Insignien der geistigen (Bischofs-
stab) und der weltlichen Macht (Schwert) bewehrten Souveräns zu begeben
und sich in die den Körper des Souveräns bildende Menschenmenge einzu-
reihen. Der wechselseitige Anerkennung signalisierende und face-to-face-Inter-
aktion eröffnende Blickwechsel auf gleicher Augenhöhe scheint sich »mi-
krologisch« und en detail im zentralen Bildinhalt zu wiederholen, so als ver-
körpere die Figur nach dem caput-corpus-Schema die Repräsentationsbe-
ziehung, die der Betrachter als »inneres Bild« im Kopf entwirft: Auf den aus-
gestreckten Armen der Figur sieht man Menschen in Richtung der den
Oberkörper der Figur bildenden Menge strömen. Alle den Körper der Figur
bildenden Menschen blicken auf den Kopf derselben, einige sogar in knieen-
der Pose. Aber der Blick der Menge findet keine Erwiderung. Die Einladung
zur Annäherung schlägt um in eine Distanzmarkierung und in einen Akt der
Huldigung zwischen Ungleichen. Der Beobachter versetzt sich, ästhetisch
verführt durch die Inszenierung des »guten Hirten«, in die unter dem – durch
die Insignien der Macht symbolisierten – Baldachin im Körper des Souve-
räns vereinte und zu seinem Kopf aufschauende Menschenmenge. Unmerk-
lich hat sich eine asymmetrische und schließlich hierarchische Machtbezie-
hung hergestellt, die den Betrachter mit einbezieht, aber »ungreifbar« bleibt,
weil sie das im Bild Dargestellte übersteigt.
Differenz und Distanz des Souveräns zu dem seinen Körper bildenden
Landvolk wird durch das metaphorische Symbol (»eins fürs andere«) des
den Wassern entsteigenden Meeresungeheuers Leviathan dargestellt.
Zugleich tritt der künstliche politische Körper aber auch als Ganzer in
Distanz zur alltäglichen Lebenswelt, die unterhalb der Figur sichtbar wird,
wie die Festtagskleidung der am Huldigungsritual Teilnehmenden unter-
streicht. Gemeinsam bilden caput und corpus – jetzt als Manifestation einer
metonymischen Beziehung (»pars pro toto«) – das Inselreich des Common-
wealth. Ein Commonwealth ist mehr und anderes als eine Ansammlung von

——————
53 Eingehendere Beschreibungen und Deutungen des Titelbildes finden sich bei Margery
Corbett/Ronald Lightbown, The Comely Frontispiece. The emblematic Title-Page in
England 1550-1660, London/Henley/Boston 1979; Brandt, Titelblatt [wie Anm. 38];
Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6]; Bredekamp, Thomas Hobbes [wie
Anm. 10] u.a. Die folgende Analyse beschränkt sich auf die für das vorgetragene Argu-
ment wesentlichen Bildelemente.
36 DIRK TÄNZLER

Menschen und hat sein Vorbild im Himmelreich Christi im Sinne der uni-
versitas-Idee. Der künstliche Gott des Leviathan ist also nicht nur ein Eben-
bild des fürchterlichen und unberechenbaren deus absconditus Calvinscher
Prägung.54 Zu diesem Eindruck passt die Miene des Souveräns auf dem
Frontispiz nicht, der alles andere als grimmig und Angst einflößend schaut,
sondern wie ein gütiger Vater, ja freundlich und barmherzig wie Jesus
Christus, den Menschen nah und ähnlich – ein Nähe suggerierendes, daher
für die Identitätsrepräsentation prädestiniertes Objekt. Die Beziehung zwi-
schen Souverän und Volk ist also durchaus ambivalent.55
Tatsächlich schauen die den Körper des Leviathan bildenden Men-
schen nicht nur gebannt auf den Souverän, sondern repräsentieren sich
und kommunizieren auch unterein-
ander; in anderen Versionen des Fron-
tispizes (vgl. Abb. 2) wenden sie sich
gemeinsam mit dem Souverän sogar
dem Betrachter zu  allerdings ver-
schwindet hier die im Original von
1671 gezeigte »Repräsentationsoptik«.
Beide Formen der Repräsentation –
die zur Verleugnung zwingende Stell-
vertretung (Repräsentation) und die
reziproke Darstellung der bürgerli-
chen Identitäten (Präsentation = Per-
formanz) – stehen aber nicht unver-
mittelt oder gar unvereinbar neben-,
beziehungsweise gegeneinander, son-
dern im Wechselverhältnis. Erniedri-
gung und Erhöhung werden im
Hegelschen Sinne rituell aufgehoben
und bilden eine neue, mystische
Abbildung 2: Abraham Bosse, Leviathan,
Frontispiz von Thomas Hobbes, Qualität. Die absolute Macht des
Le Corps Politique 1652. Souveräns zwingt zur Vortäuschung
——————
54 »Der hervorragende englische Kenner dieser Epoche religiöser Kämpfe und Begriffsbil-
dungen, John Neville Figgis, sagt sogar, der Gott des Calvinismus sei der Leviathan des
Hobbes, mit einer weder durch Recht, noch Gerechtigkeit, noch Gewissen einge-
schränkten Allmacht.« (Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 49f.).
55 Auch darauf hat schon Carl Schmitt hingewiesen. Gerade in seiner Kontrastierung zum
Behemoth erscheint der Leviathan als »Symbol schützender und gütiger Gottheiten«
(Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 19).
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 37

und Verschleierung. Dieser gesellschaftliche Zwang wird aber zu Selbst-


zwang und damit zum Mittel der Zivilisierung im Sinne von Norbert
Elias.56
Die Maske verschließt den Menschen wie in einer Leibnizschen Monade,
ist aber andererseits auch das Fenster, durch das man – gefiltert, also durch-
aus das Geheimnis der Person wahrend – Botschaften senden kann, die
doppeldeutig sind. Da der Mensch nur durch ein Sich-Versetzen in den An-
deren, also über eine Hermeneutik der Maske auch zur Selbsterkenntnis gelangt,
der große Andere aber – der jenseitige ewige, Jahwe, wie der diesseitige
sterbliche Gott, der Leviathan, unbegreifbar und von einem Geheimnis
umgeben bleibt,57 bleibt sich auch der Mensch ein ewiges Rätsel. Die Maske
ist eine Lebensmetapher und das Leben, so Goethe, nur ein Gleichnis.
Es ist aber nicht der im Bild dargestellte Blickwechsel zwischen Men-
schen und Souverän, der gemäß dem caput-corpus-Schema die Repräsen-
tationsbeziehung her- oder vorstellt und auf deren Mysterium ein
scheinbar neutraler Beobachter seinen distanzierten Blick wirft. Realisiert
wird die Repräsentationsbeziehung durch den Einbezug aller potenzieller
Rezipienten dank der technischen Installation eines optischen Mediums.
Der imaginäre Blickwechsel zwischen dem Betrachter (einer durch die
Rahmung als Bild gesetzten Rolle) und dem Souverän zieht den Be-
trachter in die Bedeutungskonstitution des Bildes hinein. Der Betrachter
sieht sich nicht nur gezwungen, den scheinbar im Bild manifestierten
Sinn nachzuvollziehen, sondern im Akt des Sehens den latenten Sinn des
Bildes zu generieren, der darin besteht, ihn als Betrachter zum Souverän
sozial zu positionieren und einem Gesinnungswandel zu unterziehen, der
Bedingung der Repräsentation ist. Wie die rezeptionsästhetische Analyse
zeigt, sind Form und Inhalt des Bildes so gestaltet, dass das Verhältnis
von Bild und außerbildlicher Realität zentral zum Bedeutungssinn des
Bildes gehört, der seinerseits das im Bild Gezeigte übersteigt. All dies
sprengt die Textbedeutung des Leviathan. Denn auf Grund des dar-
gelegten Zusammenspiels von Bildgegenstand und Bildverstehensprozess
transzendiert sich die als Huldigung dargestellte Stellvertretungsreprä-
sentation im Blickkontakt zwischen Betrachter und Souverän auf gleicher
Augenhöhe zur Identitätsrepräsentation. Hinter der rationalen Kon-
struktion der societas, deren Urbild der Souverän ist, scheint die mystische
——————
56 Norbert Elias, Die Höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des König-
tums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983.
57 Skinner, Visions [wie Anm. 7], S. 204.
38 DIRK TÄNZLER

universitas durch, die den Souverän zum Stellvertreter Gottes und damit
schließlich zu einem von Menschen geschaffenen künstlichen Abbild des
wahren Herren macht. Gott als der absolute Referent erscheint aber nur
in der durch den Betrachter gestifteten Repräsentationsbeziehung, und
die Repräsentation wiederum existiert nur in der Imagination aller Bild-
betrachter. So gesehen würde das Auslöschen der Identität des Betrach-
ters – die, kantisch gesprochen, alle meine performativen Akte, zu denen
ich als soziales Wesen fähig bin, muss begleiten können – auch Gott und
den Souverän zum Verschwinden bringen.
Die Repräsentation ist nicht Täuschung oder Verfälschung, sondern Kon-
stitution einer symbolischen Wirklichkeit, einer anderen, künstlichen Welt, in
der sich eine höhere Wahrheit offenbart als sie sich in Worte fassen ließe. In
ihr allein, nur in diesem über das Medium Bild hergestellten Schwellen- und
Schwebezustand, in den sich der Betrachter versetzt, wenn er sich aus seiner
Wirklichkeit vor dem Bild in die Bildwirklichkeit begibt, existiert die communitas,
wie Victor Turner die Identitätsrepräsentation bezeichnet.58 Das Bild ist das
Medium einer rituellen Vergemeinschaftung und diese die imaginäre Repro-
duktion der politischen Urszene. Die universitas, die im nur von der societas han-
delnden Text als rätselhafter Grund der rationalen Ordnungskonstruktion, als
das »Nichtkontraktuelle des Kontraktes«, ausgespart bleibt, stellt sich zwar
auch nicht im Bild dar, aber in der Bildbetrachtung her. Analog den transfor-
mierenden, in andere Zustände versetzenden Handlungen eines Rituals führen
die im Bild wie durch ein Kaleidoskop oder Perspektivglas59 gebrochenen
Blickwechsel in die imaginäre Sphäre der Repräsentation. Die rezeptive Ver-
senkung ins Bild ist die Bildung der die universitas stiftenden Identitätsreprä-
sentation oder außeralltägliche Erfahrung der communitas.

VI. Das Ende der Repräsentation?


Dem Bildnis des Leviathan konnte die Analyse eine politische Medienäs-
thetik ablesen, welche die Notwendigkeit einer Visibilisierung der Macht
manifestiert.60 Darüber hinaus konnte sie die vom Text des Leviathan ver-

——————
58 Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M. 2000.
59 Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10], S. 83ff. u. 95ff.
60 Ein Vergleich von Hobbes’ Leviathan mit Geertz’ Negara wäre reizvoll. Der Hinweis
muss genügen, dass trotz aller Unterschiede – auf Bali gilt die Theorie der zwei Körper
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 39

drängte latente Botschaft freilegen, die historisch gesehen geradezu visio-


när vorwegnimmt, was im modernen Medienzeitalter eine Dominante der
sozialen Wirklichkeitskonstruktion werden sollte: die technisch erzeugte
Faszination angesichts eines ebenso technisch erzeugten politischen My-
thos. Kernstück dieses politischen Mythos ist die von Rousseau in den
Vordergrund gerückte Identitätsrepräsentation, deren technische Erzeu-
gung Ernst Cassirer zum ersten Mal am Beispiel der nationalsozialistischen
Propaganda beschrieben hat. Hobbes vertrieb dieses Gespenst der Identi-
tätsrepräsentation aus der rationalen Konstruktion des Leviathan als Text,
indem er sie in das Abbild des Leviathan verbannte, wo die technisch-me-
diale Konstruktion das Vexierspiel der Repräsentation nur umso deutlicher
sichtbar werden ließ.
Im 20. Jahrhundert werden dann immer wieder Versuche unternom-
men, das vertrackte Problem der Repräsentation endgültig zu lösen oder
schlicht abzuschütteln. Zu Beginn des Jahrhunderts ruft Georg Lukács in
seiner Theorie des Romans die Krise der Repräsentation aus und erklärt nur
noch die Fiktionalisierung und Ironisierung für historisch angemessen.61
Ein halbes Jahrhundert später lässt Michel Foucault, ebenfalls von der
Philosophie der Sprache geleitet, abermals den Abgesang erklingen – mit
nachhaltiger Wirkung.62 Was zunächst nur für den Roman gelten sollte,
wird jetzt zum umfassenden postmodernen Weltbild.
In der politikwissenschaftlichen Debatte wird die Krise der Repräsen-
tation spätestens in der Weimarer Republik spürbar, führt aber nicht, wie
schließlich in den Kulturwissenschaften, zur Aufgabe des Begriffs, auch
dann nicht, als im Zuge der Globalisierung der »natürliche Referent« der
Repräsentation, der Staat, an Bedeutung einzubüßen scheint. Eine der ein-
flussreichsten modernen Demokratietheorien geht auf Joseph Schumpeter
zurück, für den die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervor-
zubringen oder sonst eine dazwischen geschobene Körperschaft, die ihrer-
——————
des Königs nicht, Königs- und Priesterfunktion sind strikt getrennt etc. – auch Ähnlich-
keiten zu finden sind. Das zentrale Heiligtum, der Sitz der göttlichen Macht, ist nicht
nur die Weltachse, sondern hat auch die Bedeutung eines Auges im Auge: auf Bali wird
das Politische durch ein optisches Medium konstituiert. Ist die vorgeschlagene perfor-
manztheoretische Interpretation des Leviathan richtig, dann erscheint die Differenz zwi-
schen der »poetics of power« der Negara und der »mechanics« des Leviathan (Geertz,
Negara [wie Anm. 1], S. 123) geringer als Geertz annimmt.
61 Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 1970 (zuerst 1922).
62 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,
Frankfurt/M. 1974 (zuerst 1966); ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M./
Berlin/Wien 1977.
40 DIRK TÄNZLER

seits eine nationale Exekutive oder Regierung hervorbringt: Einzelne errin-


gen im Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes politische Ent-
scheidungsbefugnisse.63 Die liberale Konkurrenzdemokratie scheint ohne
die Idee einer Identität von Regierten und Regierenden, die auf einem vor-
politischen Konsensus beruht, auszukommen. Ganz im Sinne Hobbes’ als
dem Urvater des Liberalismus, der er ja auch ist, erscheint Repräsentation
als ein Prinzip der Künstlichkeit: Nicht ein natürlicher Wille ist vorausge-
setzt, sondern Politik wird als die Konstruktion eines Willens durch be-
stimmte Verfahren begriffen. Wird im US-amerikanischen Verständnis
Repräsentation schlicht als Recht der Wahl verstanden, gilt diese verfah-
renstechnische Deutung in der deutschen Tradition als Verkennung des
Wesens der Repräsentation, die bei Carl Schmitt zur Erscheinung einer Art
höheren Seins wird, nämlich der politischen Einheit als Ganzer.64 Der
»künstlichen« Stellvertretung als Technik der Herrschaftslegitimation stellt
Schmitt die »natürliche« oder »organische« Ganzheit des body politique als
eine Wirklichkeit sui generis gegenüber. Schmitts Analyse legt die Wider-
sprüchlichkeit des Begriffs der repräsentativen Demokratie offen, schließt
dann aber in seiner eigenwilligen Interpretation der traditionellen Begriffe
das Demokratieprinzip, die Stellvertretung, aus seinem politischen »Haupt-
widerspruch« zwischen Identität und Repräsentation aus. In der demokra-
tischen Stellvertretung wittert er den anarchistischen Geist des Individua-
lismus, gegen den Hobbes seinen Leviathan errichtete, der, das sieht
Schmitt durchaus, in Hobbes’ Liberalismus selbst angelegt ist.65 Schmitts
Lösung mag nicht überzeugen, aber seine Analyse hat die politische Wis-
senschaft auf ein neues Niveau gehoben,66 zeigt sie doch unmissverständ-
——————
63 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950.
64 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1989.
65 Im Gegensatz zur rechtsgeschäftlichen Vertretung erweise sich politische Repräsenta-
tion nach Carl Schmitt »ausschließlich als Reproduktion ideeller Werte«, so dass »der
Repräsentant kraft dieses Wertes und daraus emanierender persönlicher Würde allemal
Herr, nicht Diener sein [soll] [...], womit [...] der Anspruch der Repräsentation jeder
demokratischen Funktionselite entzogen, einer exklusiven bildungsbürgerlichen Wert-
elite vorbehalten bleibt.« (Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 17). Diese obrig-
keitsstaatliche Haltung hat sich bis in das Grundgesetz der Bundesrepublik durchgehal-
ten, das dem Abgeordneten ein »Mandat der Verfassung«, das heißt der »Vertretung im
staatlichen Sinne«, kein »Mandat des Wählers« (ebd., S. 20) zuspricht, was Max Webers
Verständnis von Repräsentation als Herrschaft entspricht, der deswegen – was Hof-
mann entgangen ist – für den plebiszitären Präsidenten als Gegengewicht plädierte, der,
ganz im Sinne der Identitätsrepräsentation, direktdemokratisch legitimiert ist (vgl. Tänz-
ler, Charme der Macht [wie Anm. 38]).
66 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M.1980.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 41

lich, dass allein die Idee der »gemischten Verfassung« der Realität moder-
ner politischer Systeme gerecht wird. Die repräsentative Demokratie stellt
eine Synthese aus Demokratieprinzip und Amtsprinzip dar, wobei unter
der Prämisse der Identitätsrepräsentation das Stellvertretungs- oder
Amtsprinzip als die Befugnis angesehen wird, für andere verbindlich zu
entscheiden.67
Wie Carl Schmitt hat auch Eric Voegelin das »technische« Prinzip der
Stellvertretung – er spricht in seiner Kritik an der positivistischen Politik-
wissenschaft von deskriptiver Repräsentation – als »begrifflosen Begriff«
zurückgewiesen und demgegenüber zwischen expressiver und transzen-
denter Repräsentation unterschieden. Expressive und transzendente Rep-
räsentation stehen bei Voegelin nicht nur wie die entsprechenden Begriffe
der Repräsentation und Identität bei Schmitt in einem unauflöslichen
Wechselverhältnis, sondern sind auch hierarchisch geordnet. Als expressive
Repräsentation fasst Voegelin den Vorgang der Artikulation der politischen
Gesellschaft in einem Repräsentanten, die das Politische wirklich werden
lässt. Das so symbolisch konstituierte Politische verweist als universitas auf
eine transzendente Repräsentation: die Autorisierung der politischen Wirk-
lichkeit durch eine höhere, eben transzendente Ordnung und einer darauf
gegründeten Selbstauslegung des Seinsverständnisses. Die rationale Kon-
struktion der societas ist – das zeigt schon die Rekonstruktion des Leviathan –
immer auch eine verkappte universitas. Voegelin versucht auf diese Weise
den in der Moderne verlorengegangenen Zusammenhang zwischen der
politischen Theorie und der – insbesondere religiösen – Erfahrung des
Menschen und seines darauf gegründeten Seinsverstehens wieder herzu-
stellen. Einem solchen, der abendländischen Metaphysik verpflichteten
Ansinnen konträr ist die Proklamation einer Krise der Repräsentation. Die
Autorisierung, das Zentrum der Hobbesschen Repräsentationstheorie, hat
in den postmodernen Theorien zugunsten der Artikulation abgedankt. Wer
spricht? – mit dieser einfachen Frage verabschiedet Foucault den Autor
und überlässt dem Diskurs als eigentlichem Akteur die Bühne.68 Dem
Souverän wird der Kopf abgeschlagen, personifizierte Herrschaft weicht
anonymen Mächten. Auch auf dem Theater (und in den Theaterwissen-
schaften) wird der Text und der Autor zunehmend durch die Inszenierung

——————
67 Eckehard Jesse, Typologie Politischer Systeme der Gegenwart, in: Bundeszentrale für
politische Bildung (Hg.), Grundwissen Politik, Schriftenreihe Bd. 302, o. O. 1993,
S. 165-227.
68 Foucault, Ordnung des Diskurses [wie Anm. 62].
42 DIRK TÄNZLER

des zum Künstler avancierten Intendanten, dann auch – wie im Film –


durch die Verkörperung einer Rolle des zum Star erhöhten Schauspielers
verdrängt. In der Performance-Kunst schließlich vereinigt der Selbstdar-
steller alle theatralen Funktionen – in autistischer Selbstbezüglichkeit vor
der Videokamera gelegentlich sogar den Zuschauer – in Personalunion, of-
fenbart aber die Paradoxie dieses Prozesses: Die Suche nach Authentizität
endet im Verlust einer repräsentativen Identität – Repräsentation hier im
Sinne der Verinnerlichung der Rollenübernahme, dem sozialen Drama der
Anerkennung in der reziproken Spiegelung von Selbst und Anderem.
Sahen Georg Simmel, Helmuth Plessner und Erving Goffman in der
Dramatologie noch ein »Kleid«, mit dem sich der nackte Mensch vor allzu
viel Menschlichkeit schützen konnte, in der Maske ein Mittel, Distanz zu
schaffen und die Person mit einem Geheimnis zu umgeben, das ihr Tiefe
verlieh,69 so stellt sich in der Postmoderne eine Konsum- und Medienwelt
her, aus der jedes Rätsel entschwunden zu sein scheint. Im Simulacrum der
Baudrillardschen Art hat der alte Mythos der Präsenz endlich seine Er-
füllung gefunden.70 Moral, nach Kant die Idee einer exemplarischen, das
heißt verallgemeinerbaren Lebenspraxis, weicht spätestens mit Nietzsche der
Ästhetik. Die Lüge, Verstellung, der schöne Schein ist die Wahrheit der jedes
Triebaufschubs und Triebverzichts abholden Spaßgesellschaft. Im schroffen
Gegensatz zu Hobbes versteht der postmoderne Zeitgenosse Theatralität
geradezu als Entwirklichung. Politiktheater, wir sagten es eingangs bereits, ist
zur Metapher der Krise politischer Repräsentation geworden.
In der politischen Praxis lässt sich eine Spaltung zwischen der erodie-
renden offiziellen diskursiv-parlamentarischen Stellvertretungsrepräsenta-
tion und einer krebsgeschwürartig wachsenden, offiziösen performativen
Identitätsrepräsentation – paradoxerweise der politischen Stellvertreter – in
den Medien beobachten. Was auf den ersten Blick ausschaut, als würde
Repräsentation in toto durch Performanz verdrängt, entpuppt sich – histo-
risch gesehen – als die durchaus in der Rationalität der Entwicklung
liegende Dominanz der Identitätsrepräsentation über die Stellvertretungs-
repräsentation. Aus deutscher Sicht erscheint das überraschend und prob-
lematisch, da die Naziherrschaft den deutschen Staatskörper mit einer to-
talitären Identitätsrepräsentation besetzt und damit jede Form nationaler

——————
69 Georg Simmel, Das Problem des Stils, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 8, Aufsätze und
Abhandlungen 1901-1908 (II), Frankfurt/M. 1993, S. 374-384; Plessner, Anthropologie
[wie Anm. 12]; Goffman, Theater [wie Anm. 4].
70 Jean Baudrillard, Selected Writings, hg. von Mark Poster, Stanford 2001.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 43

Identität scheinbar desavouiert hatte. Nach dem Krieg tat sich die Bundes-
republik schwer, eine neue Identitätsrepräsentation zu formulieren. Dolf
Sternberger prägte die dann von Jürgen Habermas popularisierte Vorstel-
lung vom Verfassungspatriotismus als einer rationalen Zivilreligion, die
Identitätsrepräsentation auf den nüchternen Charme von Verfahren redu-
zieren sollte.
Der Mangel an politischer Ästhetik,71 die hier offenbar wird, aber weni-
ger ein Ergebnis der Modernisierung als vielmehr des Rückfalls in die Bar-
barei geschuldet zu sein scheint, ist es wohl, der Historiker motiviert, sich
der Tradition politischer Repräsentation zu vergewissern, um neue Deu-
tungshorizonte für die ungelöste Frage zu öffnen. Die deutschen Reichs-
tage der Frühneuzeit waren, so Barbara Stollberg-Rilinger, nicht so sehr
Beschlusskörperschaften, die wie unsere modernen Parlamente kollektiv
bindende Entscheidungen generierten, sondern symbolisch-rituelle Insze-
nierungen eines wohlgeordneten und hierarchisch gegliederten Ganzen,
das in dieser Realpräsenz allererst in Erscheinung trat.72 Umgekehrt gilt
aber auch, dass die modernen Parlamente und Politiker diese urpolitische
Ritual- und Priesterfunktion der Repräsentation erfüllen müssen. Es besteht
in der Mediendemokratie sogar die Gefahr, dass diese Seite der Repräsen-
tation allzu sehr in den Vordergrund rückt und den Eindruck von bloßem
Politiktheater entstehen lässt. Mit ihrer fast vollständigen Verlagerung auf
die Schaubühne des Fernsehens wandelt sich die Identitätsrepräsentation
von der rituellen Selbstaffirmation des Volkes als politischer Souverän (die
auf Wahlbeteiligung reduziert zu werden droht) zur Imagekonstruktion des
politischen Personals. Die symbolische Politik der höfischen Repräsenta-
tion hatte ihren Ort im Parlament; die schleichende Reduktion des »Ar-
beitsparlaments« auf reine Interessenstellvertretung dürfte dagegen, weil als
symbolische Politik im eigentlichen Sinne nicht mehr erkennbar, langfristig
dessen Legitimität in den Augen der Wähler aushöhlen.
Gegenüber dem sich auf das Parlament beziehenden Verfassungspatri-
otismus stellt sich die »wahre« Identitätsrepräsentation heute also über die
mediale Performanz der Politiker her. Nicht in der Fiktion vom herr-
schaftsfreien Diskurs findet das Volk seine imaginäre Selbstaffirmation,

——————
71 Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik, in: Merkur Sonderheft 9/10 (1986), S. 719-724.
72 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und
Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch
(Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Zeitschrift für historische
Forschung Beiheft 19, Berlin 1997, S. 91-132.
44 DIRK TÄNZLER

sondern über die Symbiose von Politik und Unterhaltungskultur. Dem


Frontispiz des Leviathan analog funktioniert das Fernsehen als Medium zur
technisch-vermittelten Identitätsrepräsentation zwischen Politiker und
Publikum der Wähler. Politiker bieten sich im Medium als Objekt der
Identifikation an, um sich jenseits ihrer verfahrenstechnisch erzeugten Le-
gitimität auch plebiszitärer Autorisierung zu versichern. Im Kontrast zu
Hobbes hat der Staatskörper an Autorität eingebüßt, dafür der Körper des
Politikers an Attraktivität gewonnen, der aber keine transzendente Ord-
nung mehr repräsentiert, sondern die nur allzu diesseitige Kultur der
Selbstverwirklichung.73

——————
73 Cornelia Koppetsch, Die Verkörperung des schönen Selbst. Attraktivität als Image-
pflege, in: Herbert Wilhelms (Hg.), Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte.
Produktion und Rezeption. Entwicklungen und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 359-
382; Dirk Tänzler, Politisches Charisma in der entzauberten Welt, in: Peter-Ulrich Merz-
Benz und Gerhard Wagner (Hg.), Politische Grundbegriffe, Weilerswist 2006 (in Vor-
bereitung).
Literarische Repräsentation – Über-
legungen zur Doppelungsstruktur des
Repräsentativen: Hölderlins Gedicht
An eine Fürstin von Dessau
Jan Andres

I. Einleitung
Der Begriff der »Repräsentation« ist zentral in der Politik- und Rechtswissen-
schaft, in der Philosophie und der Geschichtswissenschaft und nicht zuletzt
auch in der Psychologie. Hier aber sollen im Folgenden Ansätze zu einem
Modell von Repräsentation als Präsentation und Performanz entwickelt werden, die
ihren Ursprung – und auch ihr primäres Erkenntnisinteresse – in der Litera-
turwissenschaft haben. Für diese Überlegungen werde ich mich in weiten Tei-
len an Wolfgang Isers Aufsatz über die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven
orientieren.1 Im zweiten Teil des Aufsatzes werde ich mich aber vorher einem
recht wenig interpretierten Hölderlin-Gedicht zuwenden; im dritten Teil erste
Überlegungen zu einer Repräsentationstheorie des Literarisch-Repräsentativen
vorstellen; ein Ausblick beschließt den Aufsatz.

II. Hölderlins Gedicht An eine Fürstin von Dessau


Bevor ich also zum theoretischen Konzept selbst komme, beginne ich wie
angekündigt mit Hölderlin. Vermutlich um 1800 hat der Dichter das

——————
Wolfgang Braungart, Lothar van Laak und Matthias Schwengelbeck danke ich für Kritik
und Anregungen. Eingebunden in einen größeren Zusammenhang von Ästhetik und
Literatur des Politischen finden sich diese Überlegungen jetzt in meiner Studie: »Auf
Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik
im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005.
1 Wolfgang Iser, Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, in: Dieter Henrich/
Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik X),
S. 497-510.
46 JAN ANDRES

folgende Gedicht geschrieben, das je nach Ausgabe als Aus stillem Hauße
senden2 oder An eine Fürstin von Dessau3 betitelt ist:

Aus stillem Hauße senden die Götter oft


Auf kurze Zeit zu Fremden die Lieblinge
Damit, erinnert, sich am edlen
Bilde der Sterblichen Herz erfreue.

So kommst du aus Luisiums Hainen auch


Aus heilger Schwelle dort, wo geräuschlos rings
Die Lüfte sind und friedlich um dein
Dach die geselligen Bäume spielen,

Aus deines Tempels Freuden, o Priesterin!


Zu uns, wenn schon die Wolke das Haupt uns beugt
Und längst ein göttlich Ungewitter
Über dem Haupt uns wandelt.

O theuer warst du, Priesterin! Da du dort


Im Stillen göttlich Feuer behütetest,
Doch theurer heute, da du Zeiten
Unter den Zeitlichen seegnend feierst.

Denn wo die Reinen wandeln, vernehmlicher


ist da der Geist, und offen und heiter blühn
Des Lebens dämmernde Gestalten
Da, wo ein sicheres Licht erscheinet.

Und wie auf dunkler Wolke der schweigende


Der schöne Bogen blühet, ein Zeichen ist
Er künftger Zeit, ein Angedenken
Seeliger Tage, die einst gewesen,

So ist dein Leben, heilige Fremdlingin!


Wenn du Vergangnes über Italiens
Zerbrochnen Säulen, wenn du neues
Grünen aus stürmischer Zeit betrachtest.4

——————
2 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp, 3 Bde., Mün-
chen 1992, S. 255f.
3 So etwa in Friedrich Hölderlin, Gedichte. Hg. v. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit
Wolfgang Braungart. Nachwort von Bernhard Böschenstein, Stuttgart 2000, S. 196.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 47

Dieses Widmungsgedicht ist aller Wahrscheinlichkeit nach, der eine Titel


deutet darauf hin, an Amalie von Anhalt-Dessau, eine Prinzessin von
Homburg, gerichtet.5 Die alkäische Ode ist eines der schönsten Wid-
mungs- und Gelegenheitsgedichte, die man in der langen Tradition der
Gattung überhaupt finden kann. Es eröffnet das Stuttgarter Foliobuch Höl-
derlins in der heute vorliegenden Fassung. Zwar ist die Ode unvollendet
geblieben, und zudem ist auch die Geschichte ihrer Entstehung nicht klar.6
Trotzdem soll sie wegen ihrer ungewöhnlichen literarischen Qualität hier
wenigstens kurz als Beispiel kasuallyrischen, repräsentierenden Herrscher-
lobs interpretiert werden.7 Daraus werden sich die weiterführenden,
theoretischen Überlegungen zum Status von Literatur als Repräsentation
ergeben.
Dem Titel eines Gedichts wird oftmals nur wenig Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Er wird in diesen Fällen als bloßes Beiwerk und nicht zum eigent-
lichen Textkörper gehörend vernachlässigt. Bei Gelegenheitslyrik verbietet
sich dieses an sich schon ungenaue Vorgehen um so mehr, als der Titel in
der Regel der Ort ist, an dem der Anlass und das Ziel – also Kasus und
Adressat – des Gedichts genannt werden. Damit gehört er zu den gat-
tungskonstitutiven Merkmalen dieser anlassgebundenen Lyrik. Hölderlins
Gedicht hat leider keinen eigenen, das heißt: von Hölderlin stammenden
Titel. Entweder wird, gleichsam als Ersatz, der erste Vers genannt, oder die
——————
4 Hölderlin, Aus stillem Hauße, in: Hölderlin, Werke, Ed. Knaupp [wie Anm. 2], S. 255f.
Zum Gedicht vgl. auch Ulrich Gaier, Hölderlins Gärten, in: Turm-Vorträge : 1987/88:
Hölderlin und die Griechen. Tübingen, 1988, S. 54-97.
5 Vgl. auch den Kommentar in der Hölderlin-Ausgabe von Joachim Schmidt, die
unübertroffen kommentiert ist: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde.,
hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1992-1995, hier Bd.1, S. 233f. Schmidt betitelt das
Gedicht »Der Prinzessin Amalie von Dessau«.
6 Vgl. dazu die Kommentare von Schmidt und Knaupp. Nach Jochen Schmidt »spricht
mehr für die Erbprinzessin Amalie«. (S. 648 im Kommentarteil). Vgl. auch Werner
Kirchner, Prinzessin Amalie von Anhalt-Dessau und Hölderlin, in: Hölderlin-Jahrbuch
11 (1958/60), S. 55-71.
7 Vgl. einführend auch Wulf Segebrecht, Artikel Gelegenheitsgedicht, in: Reallexikon der
deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1, hg. v. Klaus Weimar, Berlin/New York 1997,
S. 688-691; ders., Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der
deutschen Lyrik, Stuttgart 1977, sowie Wolfgang Adam, Poetische und Kritische Wälder.
Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens bei »Gelegenheit«, Heidel-
berg 1988. Zum Herrscherlob als Übersicht: Björn Hambsch, Artikel Herrscherlob, in:
Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp.
1377-1392. Auch Andreas Kraß, Artikel Hymne, in: Reallexikon der deutschen Litera-
turwissenschaft. Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin/New York 2000, S. 105-107, dort
auch der anschließende Artikel zum Hymnus.
48 JAN ANDRES

Werk-Herausgeber benennen den Text. Wenn sie so vorgehen und das


Gedicht An eine Fürstin von Dessau überschreiben, reflektieren sie damit
Textaussagen und Gattung gleich mit. Der Ortsbezug »Dessau« wird aus
Luisium, dem Wörlitzer Park bei Dessau, abgeleitet. Der Widmungs
charakter aber und die direkte Ansprache »An eine Fürstin« wird aus der
Tradition der Ode als bevorzugter Gattung preisenden Sprechens her-
geleitet und begründet.8 Dieses Vorgehen begründet sich also durch die
kommentierende Arbeit von Herausgebern. Bezeichnend ist es insofern,
als diese philologische Praxis vor allem des zwanzigsten Jahrhunderts sehr
nachdrücklich zeigt, wie stark Gattungstraditionen den Umgang und die
Rezeption von Texten vor- und mitstrukturieren.
Die erste Strophe allerdings scheint diesen Eindruck der direkten An-
sprache eines Adressaten durch einen Autor, wie ihn der Titel erweckt,
gleich wieder zu verneinen. Sie hat den Sprachgestus einer Art allgemeiner
Reflexion und zeichnet sich durch eine Semantik des Offenen und Unbe-
stimmten aus: Die Götter senden ihre Lieblinge zu Fremden, damit sich
deren Herz an ihnen erfreue. Weder die Götter noch die Fremden oder die
Lieblinge sind damit deutlich benannt. In paradoxer Weise verstärken die
bestimmten Artikel die Unbestimmtheit der Bedeutungen noch. Diese
Rede lässt sich nur durch die ihr eingeschriebene Raum-Zeit-Struktur ge-
nauer bestimmen. In dieser Strophe liegt eine Ordnung der Dinge aus ih-
rem Abstand voneinander zugrunde. Das »stille Haus« der Götter ist of-
fenkundig der Sphäre der »Sterblichen« unerreichbar weit entrückt. Aber es
gibt Vermittler zwischen dem Heiligen, Überzeitlichen und dem Profanen,
Vergänglichen, das sonst so klar getrennt ist. Die »Lieblinge« der Götter,
die sich nur dadurch auszeichnen, dass sie eben erwählt und geliebt sind,

——————
8 Zur Geschichte der Ode und ihrer Funktionen vgl. immer noch den klassischen Über-
blick von Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923, S. 173. Einfüh-
rend in die neuere Forschung Dieter Burdorf, Artikel Ode, in: Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin/New York 2000, S. 735-739;
für den englischen Sprachraum John D. Jump, The Ode. Fakenham 1974; zur Odenthe-
orie: Hans-Henrik Krummacher, Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie
als Beispiel, in: Franz M. Eybl u.a. (Hg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu
ihrer Erforschung, Tübingen 1995, S. 255-285; auch Wolfgang Braungart, Hymne, Ode,
Elegie. Oder: Von den Schwierigkeiten mit antiken Formen der Lyrik (Mörike, George,
George-Kreis), in: Achim Aurnhammer/Thomas Pittroff (Hg.), »Mehr Dionysos als
Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt/M. 2002, S. 245-271;
schließlich Ulrich Schödlbauer, Odenform und freier Vers. Antike Formmotive in
moderner Dichtung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 23
(1982), S. 191-206.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 49

können, wenngleich nur für kurze Zeit und nie auf Dauer, dem Menschen
den Arkan-Bereich des Heiligen und Göttlichen anschaulich machen. Die
Lieblinge sind das »edle Bild«, das an das »Herz« der Sterblichen reichen
und es »erfreuen« kann. So entsteht die Erinnerung als Form des Wissens
und der Gewissheit im Menschen, dass es die Götter gibt und sie ihnen
wohlgesonnen sind.
Diese stille und bescheiden auftretende Einleitungsstrophe enthält gera-
dezu anthropologische und basale theologische Einsichten. Denn Hölderlin
behauptet hier doch nichts anderes, als dass sich das Heilige und damit die
Religionen darstellen müssen, um Dauer und Sicherheit gewinnen zu kön-
nen. Er beteiligt sich so auch an den um 1800 stattfindenden Diskussionen
um die Rolle und die Funktion des Mythos.9 Mythos und Poesie, der Mythos
in der Poesie werden als Möglichkeiten sinnlicher Erkenntnis verstanden.
Der Mythos könne Natur und Kunst vermitteln, er sei weltbildend, erkennt-
nisleitend. So die Hoffnung um 1800; und das scheint auch die implizite Ar-
gumentation dieser Strophe zu sein. Religionen ohne Bildsysteme im wei-
testen Sinn sind zum Scheitern verurteilt. Von Zeit zu Zeit und wenn auch
nur für »kurze Zeit« muss sich das Heilige und Göttliche im »edlen Bilde«
dem Sterblichen präsentieren und ihn so affizieren.10
Religion als Praxis des Heiligen ist damit auch strukturell kongruent mit
Herrschaft als Praxis der Macht. Beide bedürfen existenziell der Darstel-
lung als Bedingung der Möglichkeit ihrer Wirkmacht. Für den Menschen
heißt das, dass er als Sinnenwesen seine je individuell gültige Lebens- und
Umwelt konstruktiv durch Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen
erstellt. Er braucht diese Erfahrungen, zu denen die großen Epiphanien
zumindest gehören können, um Sicherheit und manchmal auch Freude
empfinden zu können. Der Gefühlshaushalt, die Psyche, von Menschen
wird nicht unwesentlich durch »edle Bilder«, durch sinnliche Eindrücke,
durch ästhetische Erfahrungen reguliert.
——————
9 Aus der umfangreichen Forschung vgl. hier nur Manfred Frank, Der kommende Gott.
Frankfurt/M. 1982; ders., Gott im Exil, Frankfurt/M. 1988; Christoph Jamme, Einfüh-
rung in die Philosophie des Mythos. 2. Bde, Darmstadt 1991 u. 1996; Gerhart von
Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987.
10 In religionstheoretischer Hinsicht ist deshalb natürlich das alttestamentliche und jüdi-
sche Bilderverbot mindestens problematisch und erklärungsbedürftig. Das Verbot, sich
ein Bildnis Gottes machen zu dürfen, rührt an die Grundlagen von Religion überhaupt.
Religionen brauchen notwendig Ausdruckssysteme. Die christliche Religion hat das Bil-
derverbot umgangen, indem es sich den, vor allem katholischen, Ritus geschaffen hat.
Der katholische Gottesdienst ist eine Form, sich ein »Bild« im weiteren Sinn der Reli-
gion zu machen. Er ist allerdings kein Bild Gottes im engeren Sinn.
50 JAN ANDRES

Diese Interpretation geht weit, vielleicht zu weit. Aber angesichts des


geschichtsphilosophisch so reichen Werks Hölderlins, das wesentlich in
und nach der Zeit um 1800 entsteht, darf man unterstellen, dass solche
umfangreichen Implikationen mitgelesen werden dürfen. Hölderlin verlässt
dieses grundlegende kulturphilosophische Niveau auch in der zweiten
Strophe wieder. Aber diese wird mit einem »So« eingeleitet, das den An-
schluss zu den Thesen der ersten Verse herstellt.
Allerdings wird jetzt ein »Du« angesprochen, das offensichtlich den
zwei großen Bereichen der Götter und der Sterblichen gleichzeitig zuge-
ordnet ist. Konkret kommt es aus »Luisiums Hainen«. Damit nutzt die
Ode die kasuallyrische Lizenz, konkrete Bezüge auf Personen, Orte oder
Ereignisse ins Gedicht zu integrieren. Vermeintlich autonomen Kunstwer-
ken, und zumal der Lyrik, sind derartige Hinweise poetologisch spätestens
mit der Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis heute verwehrt. Sie gelten
als kunstlos und der Autor als unkünstlerisch, wenn sie nicht ironisch
gebrochen sind. Für Kasuallyrik hingegen sind sie notwendig. Um die Ge-
legenheit gestalten zu können, muss sie auch identifizierbar sein. Das hier
angesprochene Du ist in Luisium zu Haus. Hölderlin – und hier darf man
eine kalkulierte Verwechslung oder Identität von Autor und lyrischem
Subjekt unterstellen – sagt in der zweiten Strophe ganz offen, wem er den
Text zueignet: der Besitzerin der Dessauer Gärten, der Fürstin Amalie.
Neben diesem direkten Bezug schließt das Du aber auch an die Konstella-
tion von Göttern, Lieblingen und Menschen beziehungsweise Sterblichen
der ersten Strophe an. Offensichtlich gehört die Gepriesene zu jenen Lieb-
lingen, die sich die Götter erwählt haben. Der Ortsname Luisium konkreti-
siert die lyrische Rede zwar historisch wie topographisch. Aber zugleich ist
damit der Ort auch idyllisiert. Schließt schon der »Hain« topisch an die
Bild- und Begrifflichkeit der Idyllik an,11 so ist es in diesem Hain auch »ge-
räuschlos« und »friedlich«. Diese Attribute korrespondieren mit dem »stil-
len Haus« der Götter aus der vorhergehenden Strophe. Bei den Göttern,
zumindest bei diesen, ist kein Streit. Für Hölderlin ist das nicht selbstver-
ständlich. Viele seiner Götter sind durchaus nicht still, hier aber stehen sie
auch für Harmonie und Ruhe. Durch die Person, die jenes »Du« bezeich-
net, wird die Parklandschaft der Wörlitzer Gärten zu einer weitgehenden
Entsprechung der Orte des Heiligen umgedeutet. Mensch und Natur kön-
nen hier noch im Einklang leben, die Bäume sind gesellig, es ist still, der
——————
11 Vgl. immer noch Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, 2. Aufl. Stuttgart 1978. Auch
Helmut Schneider (Hg.), Deutsche Idyllentheorien, Tübingen 1988.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 51

Hain ist geheiligter Bezirk. Luisium ist wie der Götter-Garten ein locus
amoenus.
Die Anrede an das »Du« setzt die folgende Strophe fort und treibt da-
bei die Erhöhung der Angesprochenen weiter fort. Die Adressatin, die
Fürstin, wird als Priesterin beschrieben. Damit wird sie erstens direkt auf
das Heilige bezogen.12 Als Priesterin ist sie Sachwalterin der Götter. Zwei-
tens wird die Vermittlerrolle der Priesterin klarer. Sie hat ihres »Tempels
Freuden« verlassen, um zu »uns« zu kommen. Eine Hierarchisierung, die
dem Gedicht zugrunde liegt, wird deutlich. Das Personal des Gedichts ge-
hört drei Gruppen an: Erstens den Göttern oder zweitens den Sterblichen
– die Gruppe des »Wir« –, oder es ist drittens von der Priesterin die Rede.
In dem Moment, da Ungemach droht und die Sterblichen sich den Zorn
der Götter zugezogen haben, tritt die Priesterin auf. Sie ist den beiden
Sphären gleichermaßen zugeordnet. Sie kann Leid und Gefahr abwenden.
Sie ist die Mittlerin.
Dabei handelt sie selbstlos. Schon im Sakralbereich ihres Tempels war
sie den Menschen »teuer«. In Anspielung auf den Vesta-Kult war sie Hüte-
rin des Feuers und hätte ihre Aufgabe auch auf den Tempel beschränken
können.13 Aber sie wendet sich auch den Sterblichen zu. Die vierte Strophe
ist deshalb in sich zweiteilig. Wiederum gibt es den Ort des Überzeitlichen,
den Tempel. Er ist, wie das Haus der Götter, ein Ort der Stille. Er ist auch
der eigentliche Ort der Priesterin. »Da du dort« warst – die Assonanzen
unterstützen diese Verweisung schon rein lautlich. Aber sie wendet sich
dem Zeitlichen zu und wird den Sterblichen dadurch »teurer heute«. Denn
jetzt gilt nicht mehr nur: »da du dort« behütetest, sondern: »da du Zeiten der
Zeitlichen seegnest«. Es hat eine Verschiebung stattgefunden. Die Assonan-
zen nehmen auf, wie sich die Priesterin über ihren Tempel hinaus den
Menschen zuwendet. Weil sie so handelt, kann es in der Sphäre des Sozia-
len und Zeitlichen zur segnenden Feier, zum praktizierten Gottesdienst
kommen. Jetzt hat die Priesterin ihre eigentliche Bestimmung erfüllt. Ihr
»edles Bild« erinnert die Sterblichen an die Götter. In diesem Sinne ist die
——————
12 Vgl. bspw. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen,
Reinbek b. Hamburg 1957. Mit anderen Implikationen, aber ebenfalls ein Standardwerk
zum Thema: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen
und sein Verhältnis zum Rationalen, 13. Aufl., Gotha 1925.
13 Schmidt weist im Kommentar seiner Ausgabe darauf hin, dass das »göttliche Feuer«
auch für die Sphäre eines offenen und humanistischen Geistes stehen kann. Für diese
Atmosphäre war der Dessauer Hof berühmt. Vgl. Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie
Anm.5], S. 650.
52 JAN ANDRES

Fürstin aus Hölderlins Ode eine charismatische Priesterin: sie ist gnaden-
begabt. Der Begriff des »Charisma« meint genau das: eine Begabung, die
durch die Gnade einer höheren, heiligen Instanz vergeben und legitimiert
ist. Aus diesem theologischen Kontext ist der Begriff von Max Weber und
anderen in soziologische und politische Zusammenhänge überführt wor-
den. Allerdings blendet Weber meines Erachtens mindestens eine Konse-
quenz dieses Transfers aus. Wenn der Charismatiker politischer Führer ist
und diese Führung nur seiner Gnadenbegabung entspringt, ist die Gefolg-
schaft in letzter Konsequenz von allen Verantwortungen für ihr Handeln
entbunden. Denn dem Gnadenbegabten kann man sich letztlich nicht wi-
dersetzen. Seine Legitimation ist nicht anzuzweifeln, denn sie entspringt
dem Heiligen. Wendet man diesen Begriff auf politische Verhältnisse und
Handlungen an, ist er ethisch ausgesprochen problematisch, weil er jede
individuelle Verantwortung schlussendlich negiert.
Soweit reichen Hölderlins Verse allerdings nicht. Wie die erwähnte Er-
innerung geschieht, führt die fünfte Strophe vor. Hier findet man jenen
Ton, der einem so typisch für Hölderlin erscheinen will. Ein Thema wird
ganz allgemein, fast gnomisch aufgenommen. Die Strophe gleicht insge-
samt einer lyrisch formulierten Lebensweisheit. Solche Formen spruch-
hafter Dichtung kommen bei Hölderlin immer wieder und oftmals überra-
schend vor. In den komplexesten Zusammenhängen fallen die einfachsten
und grundlegendsten Sätze. Deshalb sind sie oft so anrührend. Die Ge-
dichte Das Gasthaus. An Landauer und Stutgard. An Siegfried Schmidt, zwei
weitere Widmungsgedichte aus dem Foliobuch und der Zeit um 1800, ent-
halten ebenfalls solche Sentenzen.14 Im Gasthaus heißt es zum Schluss der
zweiten Strophe: »Möge der Zimmermann vom Gipfel des Daches den
Spruch thun,/Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.«15 Da bleibt
dem Leser nicht viel zu sagen. Man kann nach jedem getanem Werk nur
hoffen, dieser Einsicht zustimmen zu können. Die Elegie Stutgard beginnt
sogar mit einer solchen, fast lakonischen Feststellung: »Wieder ein Glück
ist erlebt.«16 Diese melancholische Ausgangshaltung formuliert und variiert
——————
14 Vgl. zu den Gedichten Wolfgang Braungart, »Komm! Ins Offene, Freund!« Zum
Verhältnis von Ritual und Literatur, lebensweltlicher Verbindlichkeit und textueller Of-
fenheit. Am Beispiel von Hölderlins Elegie »Der Gang aufs Land. An Landauer«, in: Iris
Denneler (Hg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu
Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 96-114. »Der Gang aufs
Land« ist ein anderer Titel für »Das Gasthaus«.
15 Hölderlin, Werke, Ed. Knaupp [wie Anm. 2], S. 309.
16 Ebd., S. 310.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 53

der Text im Folgenden. In der sechsten Strophe von Stutgard schließlich


kommt es wieder zu einer Sentenz: »Voll ist das Herz, aber das Leben ist
kurz,/Und was uns der himmlische Tag zu sagen geboten,/Das zu nennen,
mein Schmidt! reichen wir beide nicht aus.«17 Mitten in die komplexesten
kulturphilosophischen Ansichten Hölderlins hinein fällt die konkrete An-
rede an den Freund, die in großer Einfachheit formuliert fast schon kalen-
derblatt-artig erscheinen will. Sie überschreitet aber die Grenze zum Bana-
len nicht und gewinnt gerade deswegen ihr großes Gewicht. Hier werden
Einsicht und Bescheidenheit lyrisch offenbar. Es ist bezeichnend, dass der
Büchmann, die Sammlung der geflügelten Worte im deutschen Sprachhaus-
halt, nur ein Hölderlin-Zitat verzeichnet. Es ist aus dem Anfang von Pat-
mos: »Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.«18 Auch hier findet
sich wieder die Verbindung der ganz einfachen Rede mit großem Ernst
und intuitiver Gewissheit. Auf dieses Niveau zielt der Büchmann aber ei-
gentlich nicht. In Hölderlins Werk hingegen lassen sich ohne viel Mühe
weitere Belege dieser besonderen Rede finden.
Die einfachen und zugleich großen Einsichten formuliert auch die
fünfte Strophe. Zugleich behält sie die Zweiteilung von Göttern und Men-
schen bei, die das gesamte Gedicht ordnet. Der Geist wird vernehmlich,
fassbar, erfahrbar: Nämlich da, wo die Reinen wandeln. Das ist zugleich
ein sozio-kulturelles Phänomen als es auch ein Bezug auf das Verhältnis
von Priesterin und Sterblichen ist. In der Strophe wird insgesamt der
Rückbezug auf das Erscheinen der Priesterin unter den Menschen mit evo-
ziert. »Des Lebens dämmernde Gestalten«: das sind die Zeitlichen. Sie blü-
hen auf, wenn das »sichere Licht erscheinet«: also das edle Bild aus dem
Tempel tritt und Segen spendet. Die Sphäre des Sozialen gewinnt durch
den oder die große Einzelne, die Begnadete. Als Anrede an eine Fürstin
heißt das aber auch: das Fürstliche realisiert sich nur in der Hinwendung an
seine »dämmernden Gestalten«, das Volk. Die Strophe impliziert ethische
Konsequenzen. Nicht ohne Grund wird die Fürstin von Hölderlin zur
Priesterin erhoben. Sie ist damit auch den religiösen Regeln guten und ge-
rechten Lebens unterworfen. Die Fürstin muss rein sein und rein bleiben,
um als Lichtgestalt erscheinen zu können. Nur wenn die Reinen wandeln,
dann ist das Leben offen und heiter. Das konsekutive »Denn« vom Versbe-
ginn lässt sich konditional reformulieren. Sicher überwiegt der lobende,
preisende Ton. Zugleich aber bleibt ein Rest an Mahnung, denn es droht
——————
17 Ebd., S. 313.
18 Ebd., S. 447.
54 JAN ANDRES

immer die Gefahr, dass die Sterblichen bloß »dämmernde Gestalten« blei-
ben. Es obliegt der Fürstin, zur Priesterin zu werden, den Tempel zu ver-
lassen und den Segen zu spenden.
Die beiden abschließenden Strophen müssen schließlich zusammen
gelesen werden. Sie bilden inhaltlich und gedanklich eine Einheit, die auch
der Verssprung zwischen den Strophen formal ausdrückt. Die ganze
sechste Strophe bereitet einen Vergleich vor, den die siebte dann vollzieht.
Die Versanfänge »Und wie« (sechste Strophe) sowie »So ist« (siebte Stro-
phe) spiegeln grammatisch die Verwiesenheit der Strophen aufeinander
wider. Das Leben der Priesterin/Fürstin wird mit einem Regenbogen, dem
alten Symbol von Frieden und Harmonie, verglichen.19 Er erscheint »auf
dunkler Wolke«, also angesichts drohenden Unwetters. Aber er selbst
»blühet« und weist sowohl zurück in die Vergangenheit wie voraus in die
Zukunft, er verbindet Rückschau, Gegenwart und Ausblick. So wie der
Regenbogen ist auch die Fürstin als Mittlerin zwischen Menschen und
Göttern. Wie der Bogen Himmel und Erde zu verbinden scheint, »so ist
auch dein Leben, heilige Fremdlingin!« Die Verse sind wohl auch ein Ver-
weis auf die Bibel. Im ersten Buch Mose, Vers 13f. ist der Regenbogen
Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen.20 Auch die Fürstin
kann in ihrem Tempel, nämlich in Luisium, die Vergangenheit betrachten.
Sie kann die Ruinenarchitektur ihrer Gärten täglich besuchen. Aber sie
sieht in den Parks auch immer »neues Grünen«, zyklisches Blühen der
Natur, den stets wiederkehrenden Frühling als Zeichen von Zukunft und
Aufbruch. So wie die Fürstin als Priesterin Menschen und Götter zu verei-
nen vermag, ist sie zugleich lebende Einheit der Zeit. Damit ist sie der Zeit
aber zugleich enthoben. Raum und Zeit als Einheiten der Differenz und
des Abstands werden in ihrer Person aufgehoben. Deshalb ist sie die »hei-
lige Fremdlingin«. Letztmalig wird die Fürstin attributiv auf die Götter und
das Heilige verwiesen. In seinem berühmten Gedicht Brot und Wein. An
Heinze beschreibt Hölderlin mit »Fremdlingin unter den Menschen« die
aufkommende Nacht.21 Auch in diesem Gedicht benutzt er den Begriff,
um etwas zu beschreiben, das Staunen macht, das dem Menschen fern und

——————
19 Vgl. dazu etwa auch Klopstocks Gedicht »Frühlingsfeier«, in dem der Regenbogen eben-
falls der »Bogen des Friedens« ist.
20 Vgl. auch Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm. 5], S. 652.
21 Vgl. Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in: Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm.
5], S. 285ff.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 55

doch zugleich eigen ist. So wird auch hier die Fürstin von Dessau in ihrer
Position des Sowohl-als-auch bestimmt.
Ob die Ode Fragment ist, wie der Kommentar der Münchner Ausgabe
vermutet, ist für die Interpretation nicht mehr entscheidend. Denn die
grundlegende Konstellation ist auch so ausreichend bestimmt. Die Fürstin,
die durch das Gedicht gepriesen wird, wird durchgängig zwei Sphären zu-
gewiesen. Zwischen diesen Bereichen hat sie die Aufgabe der Mittlerin.
Wenn sie ihre Aufgabe gut erfüllt, können sich die Menschen an ihr er-
freuen.
Reduziert man die Ode auf diese Kernaussage, ist es legitim, das reprä-
sentierende Herrscherlob zugleich als Fürstinnenspiegel zu lesen. Denn das
Lob beinhaltet eine Aufgabe und ist insofern auch Aufforderung. Auch die
Fürstin ist zwei sozialen Bereichen zugeordnet. So wie die Priesterin zwi-
schen Göttern und Menschen vermittelt, ist die Fürstin als Landesherrin
die Verbindung von Hof und Volk. Eine Herrschaft, die noch durch das
Gottesgnadentum begründet und unhintergehbar ist, kann so ethisch ver-
pflichtend verstanden werden. Sie ist nicht nur ein Recht. Denn weil das
Recht von Gott stammt, ist es ein ganz besonderes. Aus ihm leiten sich
andere, umfassendere Pflichten ab, als es vordergründig scheint. Weil sich
aber die beiden Modelle von Religion und Macht strukturell gleichen, ist
Hölderlins Ode implizit eine Aufforderung zu guter Herrschaft. Zumindest
kann das Gedicht auch so gelesen werden. Religiöse Praxis und herrschaft-
liche Praxis werden enggeführt. Die repräsentierende Panegyrik ist zugleich
ethisch-soziales Programm.

III. Literarische Repräsentation


Aus dieser kleinen Interpretation lassen sich weiterführende Annahmen
ableiten. Denn Gedichte sind besondere Weisen, etwas zu verstehen zu
geben. So hat Hans-Georg Gadamer in seinem Essay Gedicht und Gespräch
eine Eigenart von Lyrik charakterisiert.22 Auch dieses Gedicht an eine
Fürstin gibt dem Leser etwas zu verstehen. Neben den Implikationen des

——————
22 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gedicht und Gespräch. Überlegungen zu einer Textprobe
Ernst Meisters, in: ders., Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt/M. 1990, S. 165-182.
Der Band versammelt einige Essays Gadamers zur Dichtung und zu Dichtern wie
George, Hölderlin oder Celan, die ihn zeitlebens immer wieder beschäftigt haben.
56 JAN ANDRES

Textes als Text, gleichsam seiner Oberfläche, kann man weitere Funktio-
nen und Aussagen des Gedichts ausmachen. Eine Eigenart, die dem Text
gleichsam vor- oder übergeordnet ist, liegt im Charakter der Ode, ein
Widmungsgedicht zu sein. Die Fürstin von Dessau wird direkt und per-
sönlich durch den Text von seinem Autor angesprochen. Zwar gilt auch
hier die obligatorische Trennung von Autorsubjekt und lyrischem Ich.23
Das Gedicht selbst macht aber spätestens in der zweiten Strophe deutlich,
dass hier auch der historische Autor Hölderlin etwas sagen will. Die be-
rüchtigte Frage: Was will uns der Autor damit sagen?, hat in einem solchen
Fall dann doch einmal ihre Berechtigung. Denn Widmungsgedichte sind in
besonderer Weise symbolische Handlungen.24 Durch die Widmung, die
hier im – wenngleich nachträglichen – Titel, vor allem aber der zweiten
Strophe steckt, gewinnt das Gedicht eine neue Qualität. Es wird über den
Kunstwerk-Status hinaus eine Form sozialer Gabe. Überspitzt gesagt, be-
schenkt Hölderlin die Fürstin mit dem, was er am besten kann und was er
selbst am höchsten schätzt – seiner Dichtkunst. Weil das Gedicht so kon-
kret in einen sozialen Zusammenhang eingelassen ist, seinen identifizierba-
ren »Sitz im Leben« hat, muss man es sogar in dieser Hinsicht autobiogra-
phisch lesen, um den sozio-symbolischen Dimensionen auf die Spur zu
kommen.
Abstrakter gesprochen lässt sich Hölderlins Gedicht als Ansprache an
eine adelige Standesperson der größeren Gruppe des Herrscherlobes zu-
rechnen. Es ist vermutlich anlässlich eines Besuches, zumindest aber als
Reflex auf diesen, entstanden. Es ist insofern ein preisendes Gelegenheits-
gedicht, das als Medium und Ort der Erinnerung zwischen den beiden be-
teiligten Personen steht. Trotzdem, und das gilt generell für jede Gelegen-
heitsliteratur, lässt es sich auch als Kunstwerk lesen und verstehen. Diese
beiden Eigentümlichkeiten schließen sich nicht aus.
Kasualgedichte sind in der literaturwissenschaftlichen und vor allem
rhetorischen Forschung immer wieder als Beispiele für das Thema litera-
risch-ästhetische Repräsentation herangezogen worden: Bei ihnen handele
es sich um rhetorische Repräsentationen, Herrscherpanegyrik als »Feier-
tagsrhetorik« solle repräsentieren und den Besungenen im Sinne der Epi-

——————
23 Vgl. Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart 1995; Dieter Lamping,
Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen
1989.
24 Zum Begriff vgl. Kenneth Burke, Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der
Literatur, Frankfurt/M. 1966.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 57

deixis, der sprachlichen Zurschaustellung, glanzvoll darstellen.25 Diese


rhetorikgeschichtlichen Thesen bleiben in der Regel unhinterfragt. Was die
Rede von der literarischen Repräsentation genau heißen sollen, bleibt of-
fen. Wer aber hier wen repräsentiert, und wie genau das als Text geschieht,
wird fast nie erläutert.
Mit einigen theoretischen Überlegungen zum ästhetischen Status der
Repräsentation möchte ich an dieser Stelle anschließen. Die einschlägigen
Lexikon- und Handbuchartikel machen allerdings recht unterschiedliche
Angebote. Carlo Ginzburg hat zwar vor einigen Jahren festgestellt, dass
Repräsentation seit etwa 1980 geradezu zum Mode- und Schlüsselwort ge-
worden ist.26 Trotzdem bleibt der Begriff je nach Verwendung und Kon-
text unterschiedlich definiert. Eine allgemeine und die Fächer übergrei-
fende Definition hat sich nie herausgebildet. Der Artikel in den Ge-
schichtlichen Grundbegriffen geht nahezu ausschließlich auf die historische
Genese der Stellvertreter-Funktion ein, die ein Repräsentierendes einem
Repräsentierten gegenüber hat.27 Innerhalb dieses Verwendungskontextes
wird der Begriff, so stellt das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte er-
gänzend fest, zum staatsrechtlichen Terminus, weil er im Zusammenhang
mit Herrschaftsbeziehungen steht.28 In Politik und Recht wird mit Reprä-
sentation das Verhältnis der Teile zu ihrem Ganzen dargestellt sowie der
Anspruch eines besonderen Teils, dieses Ganze darzustellen. Die beste und
mehrfach aufgelegte Studie zur Begriffsgeschichte stammt von Hasso
Hofmann, ist verfassungs- bzw. staatsrechtlich angelegt und geht anhand
der Wortgeschichte vor allem den Aspekten der Stellvertretung und der
Identitätsrepräsentation nach.29 Aber trotz dieser Arbeit bleibt »[e]ine Beg-
——————
25 Vgl. Stefan Matuschek, Art. Epideiktische Beredsamkeit, in: Historisches Wörterbuch
der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 1258-1267, Zitat Sp. 1265.
26 Siehe Carlo Ginzburg, Repräsentation  das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, in:
Freibeuter 53 (1992), S. 3-23.
27 Vgl. Adalbert Podlech, Art. Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histori-
sches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner/
Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 509-547.
28 So I. Reiter, Art. Repräsentation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte.
Hg. v. Adalbert Erler/ Ekkehard Kaufmann unter philologischer Mitarbeit von Ruth
Schmidt-Wiegand, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 904-911.
29 Siehe Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von
der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 u.ö. Zusammenfassend auch ders., Der
spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Hedda
Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zei-
chen, Tübingen 1990, S.17-42. Der Band versammelt zahlreiche und instruktive Auf-
sätze zur Zeremonialgeschichte und -theorie und ist insofern immer auch einschlägig zu
58 JAN ANDRES

riffsgeschichte von ›Repräsentation‹ am Leitfaden dieser vier Grundbe-


deutungen [Vorstellung als mentaler Zustand mit kognitivem Gehalt, Vor-
stellung als Reproduktion eines mentalen Zustandes, Darstellung von
etwas und viertens Stellvertretung] ein Desiderat.«30
Gänzlich konträr ist eine Position, die in den letzten Jahren immer wie-
der und besonders in der Philosophie und der Literaturwissenschaft disku-
tiert worden ist. Dort wird im Gefolge des Poststrukturalismus von der
»Krise der Repräsentation« gesprochen. Die Behauptung ist dabei, die Rep-
räsentationssysteme – und darunter besonders die Sprache – seien einer
zunehmend komplex gewordenen Wirklichkeit längst nicht mehr angemes-
sen und Repräsentation in der modernen Lebenswelt daher nicht mög-
lich.31 Die triadische Sprachzeichenkonzeption von Saussures Ansatz wird
kritisch gelesen und besonders der Referent als Ziel der Repräsentation
durch Zeichen wird hier zweifelhaft.
Anschlussfähiger für diese Überlegungen zur Repräsentation von Herr-
schaft und Macht durch Literatur ist hingegen der Artikel im Historischen
Wörterbuch der Philosophie. Dort wird festgestellt, Repräsentation sei je nach
Kontext als Stellvertreterschaft, Vorstellung oder Darstellung zu fassen.32
Als Darstellung sei Repräsentation dann die »strukturerhaltende Abbildung
durch Bilder, Symbole und Zeichen aller Art.«33 Schließlich hat auch der
Soziologe Martin Fuchs unlängst darauf hingewiesen, dass Repräsenta-
tion innerhalb eines jeweils neu zu bestimmenden Handlungskontextes
eine Vermittlerrolle einnehme und insofern ein Bedeutungsverhältnis be-

——————
Fragen der Repräsentation. Vgl. aus soziologischer Sicht bes. den Aufsatz Hans-Georg
Soeffner, Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur gesellschaftli-
chen Darstellung des Wahrzunehmenden, in: Ebd., S. 43-64. Wichtig ebenfalls: Pierre
Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1991),
S. 489-515.
30 Eckart Scheerer, Art. Repräsentation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.
v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 790-797, hier Sp. 790.
31 Vgl. beispielsweise den DFG-Band zur Krise der Repräsentation: Erika Fischer-Lichte
(Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart u.a. 2001. Die wichtigen
Arbeiten, die den Weg in dieser theoretischen Hinsicht bereitet haben, sind: Michel
Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frank-
furt/M. 1971 und Jaques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1972. In
ihrer Nachfolge ist die These vom »Ende der Repräsentation« immer wieder und unter-
schiedlich überzeugend wiederholt worden.
32 Vgl. Scheerer, Art. Repräsentation [wie Anm. 30].
33 Ebd., Sp. 790.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 59

nenne.34 Der aisthetischen, sinn- und sinnenhaften Qualität der Reprä-


sentation, die Horst Wenzel im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft
als »Vergegenwärtigung von Abwesendem« durch »sinnlich erfahrbare
Darstellung mittels verbaler und non-verbaler Zeichen« bezeichnet hat,35
werde ich jetzt in Anlehnung an Wolfgang Iser genauer nachgehen.
Repräsentation ist nicht primär Fiktion. Bei Repräsentationshandlungen
wird nicht gezielt fingiert oder etwas fiktional erstellt. Jedenfalls ist das nicht
der Zweck. Das liegt daran, dass man bei Repräsentationen eine vermeintlich
hintergründige Wirklichkeit und die angebliche, vordergründige Fiktion einer
andersartigen Wirklichkeit zweiter Stufe nicht gegeneinander ausspielen
kann. Die Rede von Vorder- und Hintergrund ist ohnehin immer dann
problematisch, wenn mit ihr soziale Phänomene metaphorisch gefasst wer-
den. Denn die Metapher ist, willentlich oder nicht, einem platonischen Mo-
dell des Sozialen verpflichtet, dessen Implikationen meist gar nicht er-
wünscht sind. Das Präsentische und Präsentative der Repräsentation
hingegen ist zunächst grundsätzlich authentisch.36 Es liegt an der Verfasst-
heit und Funktion der Repräsentation, dass sie sich eher hermeneutisch als
erkenntniskritisch fassen lässt. Damit will ich sagen, dass es bei repräsentati-
ven Akten in erster Linie darum geht, etwas zu verstehen zu geben. Reprä-
sentation als Begriff setzt voraus, dass es durch und in der Darstellung etwas
zu präsentieren gilt.37 Die grundlegende Funktion ist es, eine Verstehensleis-
tung überhaupt erst möglich zu machen.38 Und das Ziel ist individuelle Sinn-
konstitution, nicht aber Beweis von Wahrheit der Aussage.
Repräsentation ist also nicht das Andere der Wirklichkeit. Sie ist vielmehr
Teil und Gestaltung von Wirklichkeit. Wenn man so will, ist sie eine Form

——————
34 Vgl. Martin Fuchs, Kampf um Differenz. Repräsentation, Subjektivität und soziale
Bewegungen: das Beispiel Indien, Frankfurt/M. 1999, bes. Kap. 5.5: Politik der Reprä-
sentation, hier S. 393. Fuchs plädiert für einen weiten, sozialwissenschaftlichen Reprä-
sentationsbegriff, der in der Lage ist, soziale Verhältnisse situationsabhängig und trotz-
dem ausreichend allgemein beschreiben zu können.
35 Horst Wenzel, Art. Repräsentation 2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissen-
schaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 268-271, hier S. 268.
36 Zum Begriff vgl. Jutta Schlich, Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tü-
bingen 2002.
37 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthro-
pologie, Frankfurt/M. 1993, S. 481.
38 Diese These gilt meines Erachtens auch über die verschiedenen Verwendungen des Beg-
riffs hinweg. Vermutlich könnten sich alle Wissenschaften mit etwas Wohlwollen auf
diese Basis einlassen. Die Ableitungen, die dann gezogen werden müssen, fallen aller-
dings sicher ganz unterschiedlich aus.
60 JAN ANDRES

von Aisthetisierung im nicht-pejorativen, deskriptiven Verständnis: Im re-


präsentativen Prozess geht es um eine sinn- und sinnenhaften Konstitution
von Wirklichkeit. Für Literatur als einer möglichen Form – vermutlich einer
der schwierigsten – des sinnlich Seins kann man sagen, dass das Repräsentative
eine Funktion oder Komponente, ein Bedeutungsanteil von Texten ist. Sie
gehen in dieser Funktion nicht auf, aber diese Eigenart ist ein Hinweis. Sie ist
ein Hinweis auf die ästhetische Dimension der Repräsentation insgesamt.
Akte der Repräsentation sind Grenzüberschreitungen.39 Das Repräsen-
tierte – also etwa Macht oder Herrschaft – wird im Repräsentierenden –
beispielsweise einem Gedicht – zwar evoziert, dabei aber zugleich über-
schritten. Das Gedicht ist schließlich etwas anderes als Macht, es ist nicht
selber Macht. Macht ist ein soziales und interpersonales und vor allem:
abstraktes Phänomen. Aber das Gedicht als Repräsentierendes wird nicht
überstiegen: das Repräsentierte wird im Re-Präsentierenden lediglich be-
reitgehalten. Damit wird der Text nicht überfordert, sondern erhält einen
medialen Status. Wenn das Repräsentierende dann durch den Betrachter40
aktualisiert wird, ist es sinnlich fassbar. Der Text braucht das Subjekt. In
dieser Zweiheit, dem Bereithalten einer Vorstellung in der Darstellung und der gleich-
zeitigen Überschreitung der Darstellung durch eine realisierte Vorstellung, liegt die
Doppelungsstruktur des literarisch Repräsentativen.41
Literarische Repräsentation ist in diesem Sinne zweipolig: Im Präsen-
tierten, also dem konkreten Text, ist immer bereits das zu re-präsentie-
rende Abstraktum, etwa Macht und Herrschaft, als Möglichkeit enthalten.
Es handelt sich um ein metonymisches Verhältnis. Die Doppelungsstruk-
tur des literarisch Repräsentativen ist ein nicht festlegbares, kombinatori-
sches Spiel, in dem der Rezipient erstens unerlässlich ist und zweitens das
Abwesende im sinnlich Anwesenden überhaupt erst realisiert. Insofern ist
Repräsentation dann symbolische Potentialität, bei der für das Subjekt das
Anwesende, der Text, in den Dienst des Abwesenden tritt, sofern denn der
Rezipient verstehend auf das Angebot zugreift. Mit den Worten Wolfgang
Isers kann man sagen: »Das Einzeichnen des Abwesenden in das Anwe-
sende [wird] zur Matrix des Ästhetischen im Text.«42 Dabei, das wäre mei-
——————
39 Vgl. dazu Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 499f.
40 Betrachter verstehe ich hier als medienneutrale Form des historischen Akteurs. Es kann
sich also um Leser, Sehende in der Form des Zuschauers, aber auch um Hörer und
Fühlende handeln. Die Form der Affizierung hängt von den Eigenarten und der Materi-
alität des repräsentativen Aktes ab.
41 Angelehnt an Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 501f.
42 Ebd., S. 502.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 61

nes Erachtens zu ergänzen, muss die Einstellung des Rezipienten oder


hermeneutisch gesprochen: müssen seine Vorurteile mitgedacht werden.
Denn diese Vorurteile, die historisch gesehen aus den langfristig wirkenden
sozialen Strukturen erwachsen und internalisiert sind, stellen die Bedingung
der Möglichkeit dar, das Einzeichnen hermeneutisch produktiv im jeweili-
gen Ereignis vollziehen zu können. Im repräsentativen Prozess müssen
Struktur und Ereignis notwendig zusammenkommen, wenn das herme-
neutische Spiel gelingen soll.
Denn die Einstellungen des beobachtenden Dritten bilden die eigentli-
che Basis des ästhetischen Spiels der Repräsentation. Ein Spiel ist es, weil
für den Beobachter Repräsentierendes und Repräsentiertes zugleich mit-
und gegeneinander stehen, das eine ohne das andere nicht zu denken ist
und sich gegenseitig bedingt.43 Nur im jeweiligen »Gespieltwerden« gelangt
der repräsentative Prozess zu seiner völligen Gültigkeit.44 Gadamers Spiel-
Begriff, den er in Wahrheit und Methode entwickelt, eignet sich zumindest zu
Teilen. Er versteht Spiele als ernste Angelegenheiten, sie sind nur dann
ganz Spiel, wenn sie ernst sind.45 Entscheidend aber sind zwei weitere Be-
stimmungen, die verdeutlichen, wie eng repräsentative Prozesse auf das
Spiel bezogen werden können: Spiele sind mit einem Hin und Her verbun-
den, sind also oszillierend.46 Das Spiel ist immer offen, ohne sicheren Aus-
gang und auch flexibel zu gestalten. Zugleich ist es reguliert; es ist bei aller
Offenheit nicht willkürlich und es bleibt in einem bestimmten Rahmen ab-
sehbar, was passiert. Spiele haben Regeln und Grenzen, innerhalb derer
gespielt wird.47 Und »Spielen [ist] immer schon ein Darstellen«,48 was
Gadamer für eine ontologische Qualität hält. Es ist ein Darstellen für den
anderen. So wie der Betrachter auf das Spiel bezogen ist, ist das Spiel auch
auf den Betrachter verwiesen, um Spiel sein zu können.49 Stimmen diese
——————
43 Vgl. dazu Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 426ff. Zum Begriff des Spiels zuletzt Ruth
Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigen-
sinn der Kunst, Frankfurt/M. 2000; literaturwissenschaftlich wichtig Stefan Matuschek,
Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg 1998.
Vgl. auch die Ausführungen von Wolfgang Braungart, Ritual und Literatur. Tübingen
1996, S. 216ff.
44 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, 3., erw. Aufl., Tübingen 1972, S. 97ff. zum Spiel, Zitat, S. 101f.
45 Gadamer, Wahrheit und Methode [wie Anm. 44], S. 97.
46 Ebd., S. 99.
47 Siehe Braungart, Ritual und Literatur [wie Anm. 43], S. 217.
48 Gadamer, Wahrheit und Methode [wie Anm. 44], S. 103.
49 Braungart, Ritual und Literatur [wie Anm. 43], S. 218.
62 JAN ANDRES

Festlegungen, sind Repräsentationen in ihrer Doppelungsstruktur herme-


neutische Spiele.
Pointiert kann man sagen, dass der repräsentierende Text eine »Welt in
Klammern«50 ist, in der sich das Repräsentierte genau dann versinnlicht
und aktualisiert, wenn das Subjekt die Klammer erst erkennt und dann
auflöst. Mit diesem hermeneutischen Akt wird die repräsentierende Hand-
lung beziehungsweise der Text in und als Teil der Handlung gleichsam os-
zillierend.51 Im Aisthetischen, im Sinnlichen der Re-Präsenz, gewinnt das
Abwesende seine je individuelle Realität. Im Ästhetischen werden die zwei
Welten, die eingeklammerte und die klammerlose, der Text und sein Kor-
respondent, zu einer zusammengeführt. Oszillierend und sich ausschließlich
im Vollzug realisierend ist dieser Akt, weil die Repräsentation wie gesagt
doppelt oder zweiteilig ist und der Rezipient zwischen den »Welten« stän-
dig vermittelt.
Das heißt aber in letzter Konsequenz auch, dass Repräsentation sich
nur und ausschließlich performativ realisiert. Der Akt ist auf seinen Voll-
zug angewiesen, um seine Existenz überhaupt erst zu gewinnen. Reprä-
sentation ist nicht im ontologischen Sinn »seiend«. Besonders für die Dop-
pelungsstruktur des literarisch Repräsentativen hat Performativität eine
entscheidende Bedeutung: »Sofern Performanz Erzeugung ist, bezieht sie
sich auf die Übersetzung dessen, was ist, so dass sich die Notwendigkeit
der Performanz immer dort ergibt, wo es Differenzen zu überbrücken
gilt.«52 Da Repräsentationen Grenzen und Grenzüberschreitungen notwen-
dig voraussetzen, »gibt es keine Repräsentation ohne Performanz, die in
jedem Fall anderen Ursprungs ist als das zu Repräsentierende.«53 Die Ver-
sinnlichung, der Prozess des verstehenden Interpretierens des zu Reprä-
sentierenden, ist mithin eine performative Tätigkeit.54

——————
50 So formuliert Iser mit Blick auf den Status des Fiktiven im Roman: Iser, Doppelungs-
struktur [wie Anm. 1], S. 502.
51 Ebd., S. 502.
52 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 485.
53 Ebd., S. 481.
54 Mit Bezug auf Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 484, der allerdings von Ver-
gegenständlichung des Nachgeahmten spricht. Er hat auch nicht primär Repräsentation
im Blick, wenn er diese Begriffe wählt. Sie sind in diesem Kontext problematisch, weil
natürlich nicht jede Versinnlichung, die die Repräsentation leisten kann, notwendig eine
Vergegenständlichung ist, obwohl sie sich als solche realisieren kann. Besonders aber
ahmt die Repräsentation nichts nach. Sie ist gleichwohl mimetisch, wenn man den
Begriff poietisch denkt. Wenn Mimesis weniger Nachahmung als Hervorbringung ist –
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 63

Die Doppelheit der Repräsentation ist die Gleichzeitigkeit des Kon-


kreten, des Textes, und des Abstrakten, der Macht, die repräsentiert wer-
den muss, die im hermeneutischen Akt zusammenkommen. Dabei durch-
dringt sich das Unterschiedene dann gegenseitig. In dieser Strukturformel
des literarisch Repräsentativen, und das scheint mir ein wichtiger und in-
tegrierender Punkt in der Diskussion, fallen die Aspekte von Darstellung,
Vorstellung und – daraus ableitbar – auch von Stellvertreterschaft weitge-
hend zusammen.
Das literarisch Repräsentative ist damit auch als ästhetikspezifische Set-
zung bestimmt.55 Repräsentation ist nur in der Sinnlichkeit des Gesetzten
möglich. Und man muss konstatieren: Das Nicht-Repräsentierbare ist
nicht, weil es keine soziale Relevanz gewinnen kann. Aber die Setzung des
Repräsentativen ist keine Fiktion oder gar Täuschung, um einen Gedanken
vom Anfang wieder aufzunehmen. Ein solcher Charakter des Als-Ob, des
sedierenden Placebo, wird in der Forschung gelegentlich symbolisch-re-
präsentativen Akten unterstellt.56 Diese These verkennt allerdings eine
wesentliche Eigenschaft der Repräsentation. Die Setzung der Repräsenta-
tion zeigt ihren Status, nämlich Repräsentation zu sein, selbst an. Sie tut
das, indem die Setzung in aller Regel inszeniert und also markiert ist.57
Repräsentationen sind generell Inszenierungsformen. Denn auch jede
»Inszenierung gilt der Erscheinung dessen, was nicht gegenwärtig zu wer-
den vermag«,58 wenn es nicht inszeniert wird. Die Struktur der Differenz,
die für die Repräsentation gilt, kommt bereits bei der Inszenierung zum
Tragen. Denn auch der Inszenierung liegt etwas voraus, das durch sie er-
scheint. Dieses Vorausliegende kann aber nie ganz in der Inszenierung auf-

——————
was vermutlich näher an den aristotelischen Intentionen ist –, so ist allerdings jede Rep-
räsentation zugleich Mimesis.
55 Zum Begriff der Setzung vgl. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 503.
56 Vgl. vor allem die Forschungen von Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins.
Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt/M. 1992; ders./Rüdiger
Ontrup/Christian Schicha (Hg.), Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von
Mediendiskursen, Wiesbaden 2000; ders., Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik
durch das Mediensystem, Frankfurt/M. 2001; ders., Die Transformation des Politischen,
Frankfurt/M.1994. Vgl. jetzt auch Ute Frevert, Politische Kommunikation und ihre Me-
dien, in: dies./Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Media-
lität in der Geschichte, Göttingen 2004. Die Beiträge des Bandes, der aus einer Tagung
des Bielefelder SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«
hervorgegangen ist, widmen sich politischer Kommunikation allerdings wertfrei.
57 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 503f.
58 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 505.
64 JAN ANDRES

gehen, weil sie ja sonst selbst das Vorausliegende wäre.59 Aus der Differenz
resultiert die Inszenierung »als Form der Doppelung schlechthin, nicht zu-
letzt, weil in ihr die Bewusstheit herrscht, dass diese Doppelung [aus der
Differenz heraus] unaufhebbar ist.«60 Inszenierungen und Repräsentatio-
nen schaffen »Simulacra des [sonst] Unverfügbaren.«61
Konkret gesprochen: Die literarischen Repräsentationen in Form von
Panegyrik, Herrscherlob und der Kasuallyrik allgemein werden in der Regel
als Druck überreicht. Bereits mit der Übergabe und der Materialität des
Mediums beginnt die Inszenierung der Repräsentation. Ein Prunkdruck ist
rein äußerlich so deutlich von einer Handschrift unterschieden, dass er als
»besonders« ausgezeichnet ist. Zudem werden die Texte vorgetragen, auch
dann, wenn sie nicht als materiale, sondern symbolische Gabe dienen. Sie
haben, etwa bei nahezu allen Inthronisationen des 18. und 19. Jahrhun-
derts, ihren eigenen Ort im Herrschafts-Zeremoniell.
Nicht zuletzt haben Widmungen, wie bei Hölderlin, markierende
Funktion. Gerard Genette hat in seiner Untersuchung der Paratexte im
Kapitel zu den Widmungen diese noch von der Zueignung unterschie-
den. Beides seien differierende Handlungen: Die Zueignung sei die Wid-
mung eines einzelnen Werks, die Widmung beziehe sich auf ein Exemp-
lar eines Werkes, also auf die stoffliche Wirklichkeit eines einzelnen
Textes.62 Danach schließt er allerdings gerade solche Texte aus seiner
Überlegung aus, die hier interessieren. Er redet nicht mehr über Werke,
»die vollständig an einen besonderen Adressaten gerichtet sind wie [ …]
manche Oden, manche Hymnen [...].«63 Warum er das tut, wird nicht
richtig klar. Wichtig ist aber, dass der Unterschied von Zueignung und
Widmung bei Gelegenheitslyrik in der Regel gar nicht zum Tragen
kommt. Manchmal sind Werk und Exemplar identisch. Immer aber ist
die Gelegenheitslyrik sowohl stoffliche Wirklichkeit wie symbolische
Handlung. Der Adressat lebt zum Zeitpunkt des Verfassens, und die
Widmung ist »nicht nur ein symbolischer, sondern ein tatsächlicher
Akt«64 mit einer bestimmten Funktion. Der repräsentierende Akt zeigt
sich als solcher an. Schon die Darbringungsform – also der Handlungs-
——————
59 Ebd., S. 511.
60 Ebd., S. 511.
61 Ebd., S. 508.
62 Vgl. Gerard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M.
2001, S. 115.
63 Ebd., S. 115.
64 Ebd., S. 137.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 65

vollzug, die Performanz – literarischer Repräsentation markiert sie als


repräsentativen Akt.
Die repräsentative Qualität der literarischen Texte resultiert aus dem
Bewusstsein der angesprochenen Doppelungsstruktur und dem gleichzeiti-
gen Bestreben, den dabei vorherrschenden Abstand zwischen Repräsentie-
rendem und Repräsentierten zu überbrücken. Dazu nochmals in Anleh-
nung an Formulierungen Isers: Repräsentation ist eine »dritte Dimension,
in der das zur Äquivalenz drängt, was in der Doppelheit auseinanderge-
spannt ist.«65 Die Differenz wird für den Rezipienten zwar niemals völlig
aufgehoben, weil sie letztlich gewusst bleibt. Nie kommt es zur vollständi-
gen Identifikation. Identifikatorische Repräsentation, die diesen Namen
dann fälschlich trüge, läge höchstens bei der Eucharistie vor.66 Dort aber
muss man theologisch im Sinne des »Hoc est corpus« Real-Präsenz unterstel-
len.67 Im Vollzug der Eucharistie, ihrer Performanz, wird durch die Perfor-
manz Identität geschaffen. Insofern handelt es sich um einen Sonderfall,
der zudem Glaubens- und Konfessionsfragen berührt, die sich nicht voll-
ständig analytisch einholen lassen. Der oben angesprochene Spiel- und Os-
zillationscharakter ästhetisch-literarischer Repräsentation wäre zudem
plötzlich auf Null gestellt. Es fiele schwer, zumal für einen gläubigen
Christen, die Gegenwart Christi im Abendmahl als oszillatorisches, herme-
neutisches Spiel zu beschreiben.
Die prinzipielle Differenz innerhalb des Repräsentationsprozesses
bleibt in den anderen Fällen immer erhalten, wird aber bei der gelingenden
Repräsentation überbrückt. Diese basale Struktur von Differenz und Überbrü-
ckung während der repräsentierenden Handlungen lässt sich dann noch
durch die konkreten historischen Kontexte variieren. Die einzelnen Akte
können Kontexthandlungen betont oder gezielt räumlich exponiert wer-
den; sie können aber auch randständig und nebensächlich inszeniert wer-
den.68 Es kommt auf die Inszenierungssituation an. An ihrem generellen
Status ändert das nichts.

——————
65 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 504.
66 Vgl. hier auch Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 29], S. 65ff.
67 Vgl. hier mit einem soziologischen Schwerpunkt auch Hans-Georg Soeffner, Emble-
matische und symbolische Formen der Orientierung, in: ders., Auslegung des Alltags –
Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissen-
schaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989; bes. S. 162.
68 Es ist natürlich ein Unterschied in der Inszenierung, ob ein Text beispielsweise einem
Monarchen bei seiner Krönung unter einer Ehrenpforte übergeben wird, oder ob sich
der Text zum gleichen Anlass in der Tagespresse zwischen oder vor den Kleinanzeigen
66 JAN ANDRES

Literarische Repräsentation ist präsentisch und präsentativ-sinnlich und


insgesamt eine Gegebenheit aus einer Struktur der Differenz heraus. Die
Differenz von Präsentisch-Repräsentierendem, mithin den Texten selbst,
und dem damit Repräsentierten, der Macht und Herrschaft, bedarf des re-
präsentierenden Aktes. Nur in ihm wird die Gleichzeitigkeit der beiden Pole
der Doppelungsstruktur des literarisch Repräsentativen durch den Rezi-
pienten überbrückt. Nur in Akt und Rezeption wird das Dargestellte real.
Repräsentation ist – wenn überhaupt – nur insofern scheinhaft, »als sie
dem [sonst] Unverfügbaren eine Form gibt.«69 Man müsste für diese These
also Form und Anschein synonym lesen, was allenfalls umgangssprachlich
zu vertreten ist.70 Repräsentation ist sinnlich-ästhetisch, weil sie einem
Abstrakten gilt, das ohne sie nicht gegenständlich wird. Erst die Repräsen-
tation ermöglicht dem verstehenden Subjekt, aus erstens der Darstellung
zweitens eine Vorstellung zu entwickeln, in der dann drittens der stellvertre-
tende Charakter der Repräsentation auch reflektiert ist. Repräsentation als
Überbrückung der Differenz zwischen einem gegenstandsunfähigen Abs-
traktum und seiner trotzdem vollzogenen sinnlichen und gegenständlichen
Realisierung geschieht in einem performativen Akt. Repräsentierende Lite-
ratur wird vollzogen und gewinnt erst im Vollzug Gültigkeit. Dieser per-
formative Akt am Präsentischen der Literatur ist poietisch, um aristotelisch
zu sprechen. Er bringt etwas hervor, ist produktiv-ästhetisch und weltbil-
dend, wenngleich er im Sinne dieser Argumentation natürlich nicht ab-bil-
dend ist.71 Das Konzept der Ab-Bildung einer ontologischen, aber unsicht-
baren Welt im Abbildenden, die Vorstellung von Idee und Realisierung
wäre Platonismus und geradezu das Gegenteil dieses hermeneutischen Vor-
schlags.
Hier verstehe ich die Sinnlichkeit der Repräsentation als ein Symptom
dafür, dass sich das Abstrakte nur und ausschließlich inszeniert und dar-
stellend fassen lässt, dass das Abstrakte seiner sinnlichen Konkretisierung
——————
findet. Von den medialen Differenzen und den Aspekten unterschiedlicher Öffentlich-
keit ganz zu schweigen.
69 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 505.
70 Zum Begriff der Form vgl. jetzt umfassend und mit den ästhetischen Implikationen Die-
ter Burdorf, Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, Stuttgart u.a. 2001.
71 Ohne hier auf die lange Tradition der aristotelischen und platonischen Auslegung von
poiesis und der Ur-Bild-Ab-Bild-Dialektik eingehen zu können, ist dieser Vorschlag na-
türlich einem aristotelischen Verständnis verpflichtet. Platon hätte repräsentative Akte
der Literatur, wie sie hier im Zentrum stehen, sicher aus seinem Staat verbannt, weil sie
ihm als lügenhaft gegolten hätten. Gerade die entgegengesetzte These von der sinngene-
rierenden Kraft der Repräsentation wird aber hier vertreten.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 67

bedarf, um existent zu sein. Nicht wahrnehmbare Macht ist keine Macht!


Dass die historischen Akteure und Beobachter zeremonialer Handlungen
einem Mächtigen, also etwa einem Fürsten, begegnet sind, ohne ihn als
Mächtigen erkannt zu haben, ist praktisch auszuschließen. Es kann aber
nur deshalb ausgeschlossen werden, weil jedem Teilnehmer bewusst war,
dass die Teilnahme am Zeremoniell und der Repräsentation zugleich Teil-
habe an der Macht war. Ganz anders wäre es jedem Fürsten gegangen,
hätte er sich incognito in die Öffentlichkeit begeben. Seine Macht, die
auf der Anerkennung durch die anderen beruhte, wäre sofort dahin ge-
wesen. Andersens Erzählung von Des Kaisers neuen Kleidern handelt von
genau diesem Phänomen.72 Für die modernen Demokratien mit ihrem
zunehmend reduzierten Zeremonialaufwand und seltenen großen sym-
bolischen Handlungen stellt sich dieses Problem in besonderer, wenn-
gleich historisch und politikwissenschaftlich anderer Weise. Auch hier
gilt natürlich, dass sich der Mächtige als solcher zeigen muss. Die soge-
nannte Medienkanzlerschaft Gerhard Schröders vor allem in seiner
zweiten Amtszeit zeigt, dass auch moderne Amtsinhaber vom Zwang zur
Re-Präsentation von Macht wissen. Zwar wird nicht mehr die Kanzler-
herrschaft oder die Demokratie als solche in Frage gestellt, wenn die
Repräsentation scheitert. Aber wenn es einem Kanzler nicht gelingt, sich
der Öffentlichkeit als Mächtiger im Sinne des Machers zu präsentieren,
wird sein Mandat angezweifelt. Das Amt bleibt unbeschädigt, der Träger
aber wird problematisch, wenn er die Macht zur Veränderung und Re-
form nicht glaubhaft machen kann.
Durch die Repräsentation soll sichergestellt werden, dass jeder zum rich-
tigen Zeitpunkt weiß, mit wem oder was er es zu tun hat. Denn nur dann
kann vermieden werden, dass potenzielle Macht verkannt und faktische
Macht nicht realisiert werden kann. Um solche Situationen zu vermeiden
und den Mächtigen zur Anerkennung ihrer Macht zu verhelfen, ist Reprä-
sentation präsentisch, präsentativ und performativ. Diese drei »P« sind der Grund
dafür, dass Repräsentation nicht ab-bildend ist. Literarische Repräsentation
als ästhetische Präsenz ist die »Besetzung [des sonst] Unverfügbaren.«73

——————
72 Vgl. Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider, in: Thomas Frank u.a. (Hg.),
Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder,
Lektüren, Frankfurt/M. 2002, S. 15-21; der Band versammelt im zweiten Teil wissen-
schaftliche Lesarten zu verschiedenen Primärtexten.
73 Vgl. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 506; allerdings mit Bezug auf den ästheti-
schen Schein.
68 JAN ANDRES

Für literarische Repräsentation, ja sogar für jede Repräsentation, gilt,


»daß in der Repräsentation eine Überbrückung der Differenz erfolgt, deren
Unaufhebbarkeit alle Repräsentation in Inszenierung [und Darstellung]
verwandelt [und so] auch die Vielgestaltigkeit der Inszenierung [ermög-
licht], da keine – im Gegensatz zur Deutung – sich je als eine Ursprungser-
klärung verstehen kann.«74 Darin liegt eine grundsätzliche Herausforderung
für den historischen Akteur als Rezipienten beschlossen, ebenso, wie es die
rekonstruierende und deutende Arbeit zu einer hermeneutischen macht.
Ich fasse den bisherigen Vorschlag kurz nochmals zusammen. Ich habe
literarische Repräsentation als einen doppelten Akt der Inszenierung eines
Darstellenden bei seiner gleichzeitigen Überschreitung beschrieben. Die
Bedingung dieser Doppelungsstruktur ist der aisthetische, präsentische
Charakter von Literatur in repräsentativer Funktion. Nur wenn solche Lite-
ratur vollzogen wird, und zwar produktiv wie rezeptiv, kann der repräsen-
tative Akt gelingen.
In den Termini der klassischen Rhetorik, die für solche Texte zuständig
ist, als sie sich als Theorie der wirkenden Rede versteht,75 ist literarische
Repräsentation wie jede Repräsentation ein Verfahren der enargeia, der
sprachlichen Demonstration. Enargeia meint eine Methode, etwas sinnlich
wahrnehmbar und intuitiv nachvollziehbar zu machen.76 Evidenz durch
enargeia kann durch plastische Gestaltungen, aber auch durch Sprachvoll-
züge erzielt werden. Hier, aber dies nur als Randbemerkung, wäre an
Humboldts Theorie oder Unterscheidung von ergon und energeia, Werk und
Sprachvollzug, zu denken.77 Insofern ist Repräsentation in der aristoteli-
schen Tradition, der sich dem Begriff im dritten Buch seiner Rhetorik
gewidmet hat, immer enargetisch und zugleich energetisch.78 Denn rhetori-
sche Evidenz ist ein Mittel, um nicht-diskursive, unmittelbare und veran-
——————
74 Ebd., S. 507.
75 So Wilfried Barner in seiner nach wie vor wichtigen Studie Barockrhetorik. Unter-
suchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970.
76 Vgl. dazu Ansgar Kemmann, Art. Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der
Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 33-47. Jetzt auch Lothar van
Laak, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur
des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003, bes. Kap. II. Weiterführend zum Aspekt
von Rhythmik und Sinnlichkeit Hans Lösener, Der Rhythmus in der Rede. Linguistische
und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, Tübingen 1999.
77 Vgl. dazu Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach-
baues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Hg. v.
Donatella Di Cesare, Paderborn u.a. 1998.
78 Vgl. Aristoteles, Rhetorik. München 1980.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 69

schaulichende Einsicht beim Rezipienten zu erzielen. Sinnliche Evidenz


liegt vor, wenn für ein Subjekt eine Gegebenheit A zu B in einer direkt
einsehbaren Beziehung steht. Allerdings passieren Evidenzerfahrungen
einfach und sind nicht oder nur sehr gering steuerbar. Sie haben Ȇberfall-
charakter« und wecken gleichsam Neugier, die sich als »Anschauungsbe-
gehren«79 äußert. Nichts anderes will der repräsentierende Akt erreichen.
Auch ihm geht es um Einsicht und Nachvollzug, ohne dass das Geschehen
in eine methodische Vermittlung im engeren Sinn gefasst würde. Die un-
mittelbare Gewissheit ergibt sich allein durch das anschaulich Eingesehene
oder Erlebte. So dient das literarische Herrscherlob, die Panegyrik, seit je
her und bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, wo es dann nahezu ganz
verschwindet, dazu, Evidenz von Macht und Herrschaft zu schaffen. Auch
das Hölderlin-Gedicht kann so gelesen werden. Andere, weniger elabo-
rierte Texte aus der Masse der Panegyrik zeigen noch plakativer, dass ihr
Zweck ist, den Gelobten zu überhöhen, ihn glanzvoll darzustellen und
damit die Repräsentation zu inszenieren.
Gneisenaus berühmter Satz, auf Poesie sei die Macht der Throne be-
gründet,80 erscheint so in einem anderen Licht. Zumindest ist die Macht
der Throne und Regenten auch auf Poesie gegründet. Das gilt sogar in
zweifacher Weise. Erstens sind Macht, Herrschaft, Politik auf Darstellung
– also den aristotelischen poiesis-Begriff – angewiesen. Poietisch wird Macht
zum Beispiel zweitens dann, wenn diese Macht durch Lyrik, Poesie im en-
geren Sinn, repräsentiert wird, indem die Lyrik sich präsentiert. Präsenta-
tion als Gegenwärtigkeit eines Inhalts und Repräsentation als nachvollzie-
hende, verdoppelnde Aktualisierung dieses Inhalts sind eine der Bedingun-
gen der Möglichkeit von Macht und Herrschaft.

IV. Ausblick
Ich habe Literatur ausgehend von Hölderlins Gedicht als Gestaltung und
Vollzug von Macht und Herrschaft zu beschreiben versucht. Der präsen-
tative Zug von Panegyrik disponiert sie dazu, teilzuhaben an der Konstitu-
ierung des Politischen, indem die Kernbegriffe Macht und Herrschaft hier
——————
79 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 509.
80 Gneisenau in einem Brief an den König. Siehe Gneisenau  Ein Leben in Briefen. Hg. v.
Karl Griewank, Leipzig 1939, S. 175.
70 JAN ANDRES

manifest werden. Insofern ist Literatur eine der Bedingungen der Möglich-
keit des Erscheinens des Politischen. Insofern ist literarische Repräsenta-
tion figurative Politik nach dem Ansatz von Dirk Tänzler und Hans-Georg
Soeffner.81 Ich hatte kurz angedeutet, dass Repräsentation und Symbolizi-
tät von Literatur zusammenhängen. Repräsentative Akte in der Literatur
sind fast immer auch symbolische Handlungen. Sie zeichnen etwas aus und
sie geben zugleich im kantischen Sinn wenn schon nicht immer viel, so
doch etwas zu denken. Das ist ihr Sinn und ihre Bedeutung. Der Sinn ist
Repräsentation, die Bedeutung ist Macht, die sich durch die Performanz
ergibt.82
Deswegen ist ein Verlust des Symbolischen und Ästhetischen immer
auch ein Verlust an gestalterischen Möglichkeiten. Deswegen kann man
Klage führen angesichts eines immer wieder konstatierten Verlustes politi-
scher Ästhetik in diesen Tagen. Je weniger Ästhetik, desto weniger Mög-
lichkeit zur Gestaltung des Politischen.83 Deswegen kann man Walter
Benjamins warnender These von einer Ästhetisierung des Politischen im
Faschismus und Nationalsozialismus die Überlegung vom Verschwinden
des Politischen ohne seine Ästhetisierung entgegensetzen. Benjamins
These war, dass der Faschismus die Massen im Führerkult vergewaltige.84
Die Masse werde gelenkt und verführt, indem man ihr die Möglichkeit
zum Ausdruck, nicht aber ihr Recht zukommen lasse. Diese Strategie der
Nationalsozialisten, eine solche Ästhetisierung des politischen Lebens,
münde unweigerlich im Krieg. Historisch hat Benjamin Recht behalten.
Systematisch darf man sein Argument, dass letztlich nicht begründet wird,
bezweifeln. Zumindest für die nicht-totalitären politischen Systeme des
achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, egal ob monar-
chisch oder demokratisch, kann man sehr wohl der Ansicht sein, dass das
Politische immer seiner Ästhetisierung im gestalterischen und versinnli-
chenden Verständnis bedurfte. Denn nur so war und ist es möglich, soziale
——————
81 Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht
in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002.
82 Locker angelehnt an Freges berühmte Unterscheidung von Sinn und Bedeutung; vgl.
Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: Zeitschrift für philosophische Kritik N.F.
100 (1892), S. 25-50; auch in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Hg. v. Gunther Pat-
zig, 5. Aufl. 1980, S. 40-66.
83 Vgl. auch Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik sowie einige damit zusammenhän-
gende Fragen, in: Merkur 40 (1986), S. 719-724.
84 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-
keit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei
Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/M. 1977, S. 7-44.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 71

Zusammenhänge, Lebenswelt, und dazu gehört auch das politische Teil-


system, zu kommunizieren und in diesen Prozessen die soziale Umwelt
gestaltend zu verändern und zu entwickeln.
Herstellung und Darstellung politischer
Einheit: Instrumentelle und symbolische
Dimensionen politischer Repräsentation
im 18. Jahrhundert
Barbara Stollberg-Rilinger

I.
»Repräsentation von Herrschaft« hat auf den ersten Blick zwei unter-
schiedliche Bedeutungsdimensionen, eine instrumentelle und eine symbo-
lische. Zum einen die technisch-instrumentelle Bedeutung: Repräsentation ist
danach ein formales Zurechnungsprinzip, eine Fiktion, die der Herstellung
politischer Handlungseinheit dient.1 »A repräsentiert B« heißt danach ganz
allgemein: »Was A tut, gilt so, als hätte B es getan«, das heißt das Handeln
——————
1 Einen Teil der folgenden Überlegungen habe ich entwickelt in: Barbara Stollberg-Rilin-
ger, Was heißt landständische Repräsentation? Überlegungen zur argumentativen Ver-
wendung eines politischen Begriffs, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4
(2000), S. 120-135. – Zum Folgenden grundlegend Hasso Hofmann, Repräsentation.
Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Ber-
lin 1974, 3. Aufl. Berlin 1998; ders., Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Reprä-
sentation in Reich und Kirche, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Re-
präsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, 17-42; ferner Adalbert
Podlech, Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner/
Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 509-547; Heinz Rausch
(Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung
(Wege der Forschung, Bd. 184), Darmstadt 1968; anregende Überlegungen zur
politischen Repräsentation ferner bei Dolf Sternberger, Zur Kritik der dogmatischen
Theorie der Repräsentation, in: ders., Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Studien über Repräsentation, Vorschlag und Wahl, Stuttgart 1971, S. 9-39; Edmund
S. Morgan, Government by Fiction. The Idea of Representation, in: The Yale Review
72 (1983), S. 321-339; Hannah F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley
1967; zum Verhältnis von politischer und symbolischer Repräsentation: Gerhard
Göhler u.a. (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen
stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997 (besonders die Beiträge von Göhler,
Speth und Berthold); Pierre Bourdieu, Politisches Feld und symbolische Macht, in:
Berliner Journal für Soziologie 1 (1991), S. 489-515; ders., Politische Repräsentation,
in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001,
S. 67-114.
74 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

von A wird B zugerechnet. Dabei können sowohl A als auch B für einen
Einzelnen oder für eine Gruppe stehen. Wie die Zurechnung zustande
kommt und worauf sie beruht, kann hier dahingestellt bleiben; die zu-
grunde liegenden Herrschafts-, Abhängigkeits- oder Auftragsverhältnisse
können historisch jedenfalls ganz verschieden sein.2
Wozu dient diese Repräsentationsfiktion? Handeln können streng ge-
nommen immer nur Einzelne. Eine Personenmehrheit, ein Gemeinwesen
kann als solches im eigentlichen Sinne nicht handeln. Schon bei elementa-
rer politischer Integration wird es aber nötig, dass einzelne für größere
Einheiten handeln. Jede, auch die einfachste politische Organisation muss
das Problem lösen, wie gewährleistet werden kann, dass das Handeln
Einzelner als Handeln aller gilt, das heißt dass das Handeln Einzelner (oder
eines Gremiums) allen zugerechnet wird – und das bedeutet vor allem: dass
es auch alle verpflichtet. Das bewirkt die Repräsentationsfiktion: Unter be-
stimmten Voraussetzungen gilt das Handeln Einzelner oder einer Gruppe
als Handeln des Ganzen und wird als solches von den Mitgliedern des
Ganzen wie auch von Dritten als legitim anerkannt – und zwar auch und
gerade dann, wenn es nicht dem Willen der Einzelnen entspricht. Der
springende Punkt ist: Erst durch eine solche Fiktion wird das politische
Ganze überhaupt zu einem Ganzen, wird es handlungsfähig nach innen
und außen und fällt nicht in lauter unzurechenbare Einzelhandlungen aus-
einander. Diese Problematik ist schon seit dem Mittelalter theoretisch re-
flektiert worden, und zwar mit Hilfe der Metaphorik des politischen Kör-
pers als einer künstlichen Person, einer persona ficta – zuerst mit Bezug auf
die Kirche und die Stadtgemeinde, erst in zweiter Linie auch für Fürsten-
tümer und Königreiche: Das Gemeinwesen wurde als künstlich kon-
struierte, fiktive Person verstanden, der man einen Willen zuschreiben
kann, so als ob es sich um eine natürliche Person handelte.
Hervorgebracht wird diese fiktive Willenseinheit durch bestimmte for-
male Verfahren der Autorisierung, die bewirken, dass das, was Einzelne
beschließen, der Gesamtheit zugerechnet wird. Wesentliche Unterschiede
bestehen darin, aufgrund welcher formaler Voraussetzungen und welcher
normativen Grundlagen das Handeln welcher Akteure als Handeln der Ge-
samtheit gilt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich vormoderne und mo-
derne politische Ordnungen fundamental. Die fiktive Willenseinheit kann
auf ganz verschiedene Arten gewährleistet werden: Zum Beispiel auch
——————
2 Um von Repräsentation sprechen zu können, ist es beispielsweise keineswegs erforder-
lich, dass ein Auftragsverhältnis zwischen A und B besteht.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 75

aufgrund einer als heilig geltenden Hierarchie (beim sakralen Königtum) 


hier sind die Verfahren, die den Repräsentanten zu einem solchen
machen, sakral überhöhte Rituale, und der Repräsentant des Ganzen ist
zugleich der Herrscher. Was das Repräsentationsprinzip aber generell leistet
ist, dass es das Handeln eines Gremiums oder eines Einzelnen heraus-
hebt und für die Gesamtheit verbindlich macht – nicht etwa, dass es be-
wirkte, dass dieses Gremium tatsächlich handelt, wie es »alle« wollen. In-
sofern ist Repräsentation eine Fiktion, die eine Personenmehrheit in eine
handlungsfähige Einheit verwandelt. Soweit die eine Seite des Repräsenta-
tionsbegriffs, die man die instrumentelle oder prozedurale Seite nennen
kann.
Eine – zumindest auf den ersten Blick  ganz andere Dimension hat
der Begriff der symbolischen Repräsentation: Symbolische Repräsentation
meint die Darstellung, die Verkörperung, im Extremfall die »magische
Identitätssetzung«3 von etwas oder jemand physisch Abwesendem – so
etwa, wenn der Herrscher in seinem Porträt symbolisch repräsentiert wird
–, oder die Darstellung, die Verkörperung von etwas Nicht-Gegenständli-
chem, Abstraktem, das überhaupt nur in seiner symbolischen Verkörpe-
rung konkret wahrnehmbar und erfahrbar wird. Kategorien wie »Reich«,
»Nation«, »Staat« sind solche »Gedankendinge« (Kant), die erst durch Sym-
bole beziehungsweise symbolische Praxis, durch (Re-)Präsentation im letzt-
genannten Sinne also, hervorgebracht werden.4 Auch Macht und Herr-
schaft bedürfen in einem elementaren Sinne der symbolischen Repräsenta-
tion, weil sie nicht bestehen könnten, wenn sie laufend ihre Sanktionsdro-
hungen gewaltsam realisieren müssten.5 Nahe liegender Weise hat für die-
——————
3 Nach Hans Julius Wolff, Organschaft und juristische Person. Untersuchungen zur
Rechtstheorie und zum öffentlichen Recht, Berlin 1934.
4 Vgl. Rudolf Speth, Symbol und Fiktion, und ders., Die symbolische Repräsentation, in:
Göhler (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation [wie Anm.1], S. 65-142, S. 433-475;
Rüdiger Bubner, Über das Symbolische in der Politik, in: Deutsche Zeitschrift für Philo-
sophie 41 (1993), S. 119-126; Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörpe-
rung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer
Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen
kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u.a. 2001, S. 3-52;
Hans-Georg Soeffner, Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht
in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002.
5 In ähnlichem Sinne Luhmanns Begriff der symbolischen Generalisierung von Macht als
Medium des Politischen; vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hg. von
André Kieserling, Frankfurt/M. 2000. – Anregend auch Albrecht Koschorke u.a., Des
Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektü-
ren, Frankfurt/M. 2002.
76 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

sen Begriff der Repräsentation die konstruktivistisch orientierte »Neue«


Kulturgeschichte eine besondere Vorliebe, weil sie die soziale Wirklichkeit
als relationales Geflecht von handlungsleitenden Bedeutungszuschreibun-
gen begreift, das heißt als etwas, das in fundamentaler Weise durch sym-
bolische Praxis erzeugt, aufrechterhalten und verändert wird.6

II.
In der Forschung zur Vormoderne werden allerdings beide Varianten des
Begriffs Repräsentation selten in Zusammenhang gebracht. Sie stammen
aus unterschiedlichen Theorietraditionen, und sie betreffen separate For-
schungsfelder, die kaum Berührungspunkte aufweisen. Unter dem Etikett
»symbolische Repräsentation von Herrschaft« beschäftigen sich Historiker,
aber vor allem auch Kunst- und Literaturwissenschaftler mit Phänomenen
wie Herrschaftsinsignien und Investiturritualen, Chroniken und Monu-
menten, Zeremonien und Feiern. Wer hingegen über »politische Reprä-
sentation« arbeitet, der befasst sich in der Regel mit Ständeversammlungen
und Parlamenten als instrumentellen Organen der politischen Partizipation
und Beschlussfassung.
Beide Dimensionen des Repräsentationsbegriffs werden entweder gar
nicht miteinander in Zusammenhang gebracht oder sogar einander explizit
als Oppositionspaar gegenübergestellt.7 Danach scheint symbolische Repräsen-
tation von Herrschaft etwas tendenziell Vormodernes zu sein, politische
Repräsentation als instrumentelles Verfahren etwas tendenziell Modernes.
Auch die Habermas’sche Gegenüberstellung von vormoderner repräsenta-
——————
6 Vgl. etwa den Repräsentationsbegriff bei Roger Chartier, Die Welt als Repräsentation,
in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die
Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, S. 320-347; statt vieler sei
hier nur zitiert: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüs-
selworte, Frankfurt/M. 2001; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte
der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-607; Thomas Mer-
gel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge
zur Theoriedebatte, München 1997; vgl. auch Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was
heißt Kulturgeschichte des Politischen? (=ZHF, Beih. 35), Berlin 2005.
7 Explizit zum Beispiel bei Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München
1928, der Integration durch Personen, durch Verfahren und durch Symbole unterschie-
den, aber immerhin als einer der ersten bereits symbolisches Handeln als politischen
Integrationsfaktor ernst genommen hat.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 77

tiver und moderner bürgerlich-diskursiver Öffentlichkeit legt solche Asso-


ziationen nahe.8 Zwar lässt sich die fortgesetzte Wirkmächtigkeit von
symbolischer Repräsentation auch für die Moderne nicht bestreiten.9 Aber
es kennzeichnet doch das Selbstbewusstsein der Moderne, für sich in An-
spruch zu nehmen, dass bei der Begründung und Legitimierung von nor-
mativen Geltungsansprüchen rationale »Prozeduren und gute Gründe«
(Habermas) an die Stelle von Inszenierung und emotionalem Appell ge-
treten seien. Wie auch immer – festzuhalten ist jedenfalls, dass aus dieser
Perspektive das symbolisch-expressive und das instrumentell-technische,
prozedurale Verständnis von Repräsentation als Gegensatzpaar erscheinen.
Meine erste These ist nun: Für die europäische Vormoderne, genauer
gesagt: für die ständisch verfasste Monarchie der frühen Neuzeit ist es un-
angemessen, die beiden Bedeutungen des Repräsentationsbegriffs als Ge-
gensatz aufzufassen. Frühneuzeitliche Ständeversammlungen, die schon
von den Zeitgenossen als corpora repraesentativa bezeichnet wurden, waren
nämlich stets – in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße – sowohl politi-
sche Entscheidungsorgane als auch symbolische Inszenierungen. Sie lassen
sich immer zugleich instrumentell als Mittel zur Herstellung und symbolisch als
Mittel zur Darstellung von politischer Einheit verstehen.10
Die traditionelle verfassungsgeschichtliche Ständeforschung war einer
konstitutionalistischen und rechtspositivistischen Begrifflichkeit verpflich-
tet. Deshalb hat sie die symbolische Dimension immer mehr oder weniger
ignoriert, nicht zuletzt weil es ihr darum ging, die vormodernen Repräsen-
——————
8 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Katego-
rie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt 1962; ders., Symbolischer Ausdruck und
rituelles Verhalten, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie
Anm.4], S. 53-67. – Zahlreiche theoriegeschichtliche Nachweise bei Göhler, Institution
[wie Anm.1], dort Beiträge zum Repräsentationsbegriff bei Carl Schmitt, Gerhard Leib-
holz, Hans Julius Wolff , Hannah Pitkin, Pierre Bourdieu u.a.
9 Vgl. etwa Rüdiger Voigt (Hg.), Symbole der Politik – Politik der Symbole, Opladen
1989; Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisuali-
sierung, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht,
Baden-Baden 1995, S. 213-230.
10 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vormoderne politische
Verfahren, Berlin 2001 (ZHF, Beih. 25), S. 9-24. André Kieserling, Herstellung und
Darstellung politischer Entscheidungen, in: Ottfried Jarren (Hg)., Rundfunk im politi-
schen Kommunikationsprozeß, Münster 1995, S. 125-143, geht für die Moderne hinge-
gen von der Ausdifferenzierung zwischen Herstellung und Darstellung aus und analy-
siert deren Funktion für die Komplexitätssteigerung des politischen Systems; so knapp
schon Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1993,
S. 195ff. – Zum Vergleich mit der Moderne s. unten Seite 91f.
78 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

tativkörperschaften als Vorläufer moderner Parlamente zu reklamieren.11


Bei der Konzentration auf das vermeintlich »Eigentliche«, nämlich die po-
litische Beratung und Beschlussfassung, geriet aber gerade die vormoderne
Eigentümlichkeit dieser Institutionen aus dem Blick. Diese Eigentümlich-
keit erschließt sich vielmehr erst, wenn man Ständetage nicht allein als
technische Instrumente zentraler politischer Willensbildung begreift, son-
dern zugleich als symbolische Verkörperungen komplexer Ordnungs-
strukturen.
Schon die spätmittelalterliche Korporationstheorie hat das in der Be-
zeichnung repraesentatio identitatis auf den Begriff gebracht. Hier fallen, so
meine ich, beide Dimensionen von »Repräsentation« zusammen. Reprae-
sentatio identitatis heißt nämlich, dass das, was eine herausgehobene Gruppe
im Namen der Gesamtheit in bestimmten Formen tut und beschließt, so
angesehen wird, als hätte die Gesamtheit es getan und beschlossen. Ein he-
rausgehobener Teil des Ganzen steht also symbolisch, pars pro toto, für das
Ganze.12 Der springende Punkt ist dabei (und das unterscheidet dieses äl-
tere Repräsentationsverständnis fundamental von dem modernen), dass
das Ganze keine größere Rechtsmacht hat als der herausgehobene Teil, das
heißt dass das Ganze überhaupt nur in diesem herausgehobenen Teil als
handlungsfähige Einheit zur Existenz gelangt. Das repräsentative Gre-
mium – hier: eine Ständeversammlung – handelt also nicht nur Verbind-
lichkeit stiftend für die ganze politische Einheit, sondern es verkörpert diese
politische Einheit in einem fundamentalen Sinne und bringt sie gewisser-
maßen in Realpräsenz zur Erscheinung.13 Zugleich hat es symbolischen
Charakter in dem Sinne, dass es über sich selbst hinausweist und den um-
fassenden Ordnungszusammenhang evoziert, dem es seine herausge-
hobene Stellung erst verdankt. Denn immer schon vorausgesetzt werden ja
——————
11 Zur Forschungsgeschichte ausführlich Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Vol-
kes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Ber-
lin 1999, S. 1-21.
12 Hofmann, Repräsentation [wie Anm.1], S. 191-285; ders., Der spätmittelalterliche
Rechtsbegriff [wie Anm.1]; Podlech, Repräsentation [wie Anm.1].
13 Vgl. den Begriff des Präsenzsymbols etwa bei Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörpe-
rung [wie Anm. 4], und Hans-Ulrich Gumbrecht, Ten Brief Reflections on Institutions
and Re/Presentation, in: Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie
Anm.4], S. 69-76; das gleiche wird als »Realsymbol« bezeichnet bei Speth, Symbol und
Fiktion [wie Anm. 1], S. 71ff.: Im Gegensatz zu einem arbiträren Zeichen, das auf ein
Referenzobjekt außerhalb seiner selbst bloß verweist, kennzeichnet es ein solches Prä-
senzsymbol, dass es bewirkt, was es bezeichnet, dass es an dem Anteil hat oder geradezu
ist, was es bezeichnet.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 79

bestimmte Regeln, nach denen das repräsentative Gremium sich zu-


sammensetzt, und bestimmte Verfahrensformen, nach denen es handelt.
Einerseits liegt also die Gesamtordnung – hier das »Land« in seiner jeweili-
gen komplexen Verfasstheit – der einzelnen Ständeversammlung immer
schon voraus. Andererseits tritt es allein in einer solchen Versammlung
handelnd in Erscheinung.14

III.
Konkretisieren möchte ich das bisher Gesagte jetzt anhand einer exemplari-
schen frühneuzeitlichen Ständeversammlung, nämlich am Beispiel der
Landtage des Kurfürstentums Köln im 18. Jahrhundert. Dabei soll die spe-
zifisch vormoderne Eigenart des Symbolcharakters politischer Repräsenta-
tion herausgearbeitet und abschließend gefragt werden, inwiefern er sich
von dem der Moderne grundsätzlich unterscheidet.
Die landständische Verfassung des Erzstifts Köln war in vieler Hinsicht
typisch für die landständischen Verfassungen im Reich im Allgemeinen
und die der geistlichen Reichsterritorien im Besonderen.15 Wie anderswo,
——————
14 In diesem Sinne ist das viel zitierte Diktum von Otto Brunner, »Die Stände sind das
Land«, zu präzisieren (Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territoria-
len Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien, 5. Aufl. 1965 [ND Darm-
stadt 1984], S. 413f.). Vgl. auch André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen.
Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stuttgart 1991, der den sehr hilfrei-
chen Begriff der »Verfassung in actu« geprägt hat.
15 Karsten Ruppert, Die Landstände des Erzstifts Köln in der frühen Neuzeit. Verfassung
und Geschichte, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 174 (1972),
S. 47-111; Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln 1688-1794. Eine Fall-
studie zur Bedeutung »absolutistischer« Hofhaltung, Bonn 1986; Ulf Brüning, Wege
landständischer Entscheidungsfindung. Das Verfahren auf den Landtagen des rheini-
schen Erzstifts zur Zeit Clemens Augusts, in: Frank Günter Zehnder (Hg.), Im Wech-
selspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jhs. in Kurköln (= Der Riß
im Himmel. Kurfürst Clemens Augustund seine Epoche, Bd.11), Köln 1999, S. 160-184;
André Krischer, Symbolisches Handeln als politische Praxis des Kurfürsten Clemens
August von Köln, ungedr. Staatsexamensarbeit Köln 2001, S. 22ff.; vgl. auch die alte
landesgeschichtliche Forschung: Ferdinand Walter, Das alte Erzstift und die Reichsstadt
Cöln. Entwicklung ihrer Verfassung vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu ihrem Unter-
gang, Bonn 1866; Günther Tücking, Der Streit zwischen dem Kurfürsten Josef Clemens
von Köln und seinen Landständen in den Jahren 1688-1701, Würzburg 1934; Dietrich
Dehnen, Kurfürst Josef Clemens von Köln und die Landstände des Erzstifts in den Jah-
ren 1715-1723, Diss. Bonn 1952; Anton Schulte, Die kurkölnischen Landstände unter
80 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

so war auch hier die Institutionalisierung der ständischen Mitwirkung seit


dem Spätmittelalter ein Faktor der territorialen Integration gewesen. Im 15.
Jahrhundert hatte der gestiegene Geldbedarf des Landesherrn infolge einer
Reihe von Konflikten dazu geführt, dass die Stände sich zusammenschlos-
sen, um ihre Privilegien und Freiheiten, Eigentums- und Herrschaftsrechte
korporativ zu verteidigen, indem sie sich ihre zentrale Partizipation schrift-
lich garantieren ließen. In der Erblandesvereinigung von 1463 war das
wechselseitige, bedingungsweise Verpflichtungsverhältnis zwischen dem
Kurfürsten und den korporativ vereinten Ständen vertraglich festgeschrie-
ben worden. Dies wurde später zur Grundlage für ein ständisches Steuer-
bewilligungs-, -erhebungs- und -verwaltungssystem, das alle Krisen des
Verhältnisses zwischen Landesherrn und Ständen (auf die hier nicht einzu-
gehen ist) überdauerte und bis zum Ende des Erzstifts erhalten blieb.
Zum letzten Konflikt zwischen Landesherrn und Ständen um das Steu-
erbewilligungsrecht kam es unter dem Kurfürsten Josef Clemens aus dem
Haus Wittelsbach (1688-1701). Es handelte sich um eine für diese Zeit ab-
solut typische Auseinandersetzung: Der Versuch des Landesherrn, Steuern
zur Unterhaltung seiner Milizen auch ohne Konsens der Stände mit Ge-
walt einzutreiben, weckte deren Widerstand. Sie beriefen eigenständig ei-
nen Landtag ein und wandten sich um Unterstützung an Kaiser und Reich.
Der Konflikt wurde allerdings nie grundsätzlich entschieden, weil der Lan-
desherr wenig später wegen seines Bündnisses mit Frankreich gegen den
Kaiser ins Exil gehen und dem Domkapitel die Regierung überlassen
musste. Unter den folgenden Kurfürsten wiederholten sich solche Kon-
flikte nicht mehr. Erst nach Ausbruch der Revolution in Frankreich, 1790,
kam das Verfahren erneut in Bewegung.
Die Kurkölner Landtage fanden im 18. Jahrhundert in der Regel einmal
im Jahr statt. Es ging stets um zweierlei: erstens um die ständischen Gra-
vamina, das heißt im Wesentlichen immer die gleichen Beschwerden über
landesherrliche Eingriffe in die ständischen Rechte, und zweitens um das
»Hauptgeschäft«, die Bewilligung der Steuern. Der Landesherr lud nach
Rücksprache mit dem Domkapitel vier ständische Korporationen zu den
Beratungen ein:
Erstens das Domkapitel selbst, das aus landfremden, reichsunmittel-
baren Domgrafen und aus bürgerlichen Priesterherren bestand und auf
——————
der Administration des Domkapitels (1702-1714), Diss. Bonn 1949; Karl Essers, Zur
Geschichte der kurkölnischen Landtage im Zeitalter der Französischen Revolution,
1790-1797, Gotha 1909.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 81

die Landtage vier Deputierte entsandte. Es war das mit Abstand mäch-
tigste Kollegium, das aufgrund seines Wahlrechts in der Lage war, jeden
neu zu wählenden Landesherrn auf eine Wahlkapitulation zu verpflich-
ten. Das Domkapitel verstand sich selbst als eigentlichen Inhaber der
Hoheitsrechte des Landes, nicht als ständisches Kollegium im strengen
Sinne.16
Zweitens (und das war eine Kölner Besonderheit) die Grafen, das heißt
Mitglieder eigentlich reichsunmittelbarer hochadeliger Geschlechter, die
zugleich ein Rittergut im Erzstift besaßen, die allerdings nur selten in Per-
son auf dem Landtag erschienen.
Drittens die Ritterschaft, das heißt sämtliche niederadelige männliche
Besitzer eines oder mehrerer im Land gelegener Herrschaftssitze. Ein Ritter
konnte sich auf dem Landtag nicht vertreten lassen, sondern musste ent-
weder in Person erscheinen oder fernbleiben.
Schließlich viertens die landsässigen Städte, vertreten in der Regel durch
ihre Bürgermeister oder andere hohe Magistrate.
Der Clerus secundarius, das heißt die Klöster und Stifte, die in anderen
geistlichen Territorien meist eine eigene Kurie auf Landtagen bildeten,
wurden in Kurköln nicht zum Landtag geladen. Ob der Klerus sich die
Landtagsbeschlüsse trotzdem zurechnen lassen müsse oder nicht, war des-
halb immer umstritten. Die anderen Stände beanspruchten stets, in ihrer
gemeinsam beschlossenen Bewilligungssumme sei das quotum cleri mit ent-
halten, und überließen es dem Landesherrn, es beim Klerus einzutreiben
oder auch nicht. Der Klerus hingegen bestritt das Recht des Landtags, für
ihn mitzusprechen, und leistete stattdessen dem Landesherrn in unregel-
mäßigen Abständen ein separates donum charitativum, ein vorgeblich völlig
freiwillig und unabhängig vom Landtagsbeschluss gewährtes »Geschenk«.17
Betrachtet man nur die letztlich gezahlte Geldsumme, so scheint das auf
dasselbe hinauszulaufen. Im Hinblick auf die wechselseitig erhobenen
Geltungsansprüche der Beteiligten war der Unterschied allerdings erheb-
lich: Indem er die Fiktion einer freiwilligen und unabhängigen Zahlung
aufrecht erhielt, bestritt der Klerus demonstrativ-symbolisch den umfas-
——————
16 Vgl. die neuere Literatur zu geistlichen Territorien und der Rolle der Domkapitel bei
Barbara Stollberg-Rilinger, Die Wahlkapitulation als Landesgrundgesetz? Zur Umdeu-
tung altständischer Verfassungsstrukturen in Kurmainz am Vorabend der Revolution,
in: Helmut Neuhaus u.a. (Hg.), Menschen und Strukturen Alteuropas. Festschrift für
Johannes Kunisch zum 65. Geburtstag (Historische Forschungen 73), Berlin 2002,
S. 379-404.
17 Ruppert, Landstände [wie Anm. 15], S. 89.
82 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

senden Repräsentationsanspruch des Landtags und die allgemeine Ver-


bindlichkeit seiner Beschlüsse.
Wie in vielen frühneuzeitlichen Territorien, so gab es auch im Kurfürs-
tentum Köln verschiedene Landesteile mit je eigenen ständischen Korpora-
tionen. Das Herzogtum Westfalen, das ebenfalls unter der Herrschaft des
Kurfürsten stand, hatte eigene Stände. In Westfalen gab es jährliche Land-
tage, die stets unmittelbar nach den kurkölnischen und auf der Grundlage
derselben Proposition stattfanden und de facto auch zu dem gleichen Er-
gebnis führten.18 Das Vest Recklinghausen hingegen, ebenfalls unter kurköl-
ner Herrschaft, hatte keine eigene Ständeversammlung, sondern war auf den
Kurkölner Landtagen nur durch einige Deputierte ohne Stimmrecht vertre-
ten, galt aber trotzdem als an die dort gefassten Beschlüsse gebunden. Das
komplizierte Verfahren der Steuerbewilligung und die abgestuften Teilnah-
memodi der verschiedenen ständischen Korporationen der verschiedenen
Landesteile spiegelten insgesamt in einer für die Vormoderne charakteristi-
schen Weise die Entstehungsgeschichte des Landes.
In instrumenteller Hinsicht waren die Landtage also – zwar nicht unan-
gefochten, aber jedenfalls ihrem eigenen und dem landesherrlichen An-
spruch nach  repräsentative Korporationen in dem Sinne, dass ihre korpo-
rativ gefassten Beschlüsse das ganze »Land« zu Steuern verpflichteten, das
heißt auch die abwesenden und die möglicherweise dissentierenden Stände,
die landesherrlichen Domänenuntertanen und so weiter. Insofern reprä-
sentierte der formal korrekt zusammengetretene und verabschiedete Land-
tag das »ganze Land« und integrierte die heterogenen ständischen Gruppen
zu einer handlungs- und zurechnungsfähigen Einheit.
Die Stände wurden Jahr für Jahr einberufen und bewilligten Jahr für
Jahr die gewünschten Steuern, obwohl der Landesherr umgekehrt ihre
Gravamina Jahr für Jahr dilatorisch behandelte. Es wäre ihnen wohl auch
nicht sehr viel anderes übrig geblieben, denn reichsrechtlich war ihr Bewil-
ligungsrecht längst ausgehöhlt; eine realistische Chance, es als politisches
Druckmittel einzusetzen, gab es kaum noch.19
——————
18 Elisabeth Schumacher, Das kölnische Herzogtum Westfalen im Zeitalter der Aufklärung
unter besonderer Berücksichtigung der Reformen des letzten Kurfürsten von Köln,
Olpe 1967.
19 Zur reichsrechtlichen Lage der Landstände nach dem Westfälischen Frieden Volker
Press, Vom »Ständestaat« zum Absolutismus. 50 Thesen zur Entwicklung des Ständewe-
sens in Deutschland, in: Peter Baumgart (Hg.), Ständetum und Staatsbildung in Bran-
denburg-Preußen, Berlin 1983, S. 319-327; zusammenfassend Stollberg-Rilinger, Vor-
münder [wie Anm. 11], S. 22-27.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 83

So verhandelte man etwa 1745, um nur ein Beispiel zu nennen, lange


über die notorisch hohen Hofausgaben, über anstehende Repräsentations-
kosten zur Königswahl und über die Folgelasten früherer Truppeneinquar-
tierungen, und die Stände stellten fest, dass die landesfürstlichen Zusiche-
rungen des vergangenen Jahres, Missstände abzustellen, »die anverhofften
würckungen« bisher keineswegs gezeigt hätten. Obwohl sich der Kurfürst
davon zu keiner Minderung seiner Finanzwünsche bewegen ließ, kam es
trotzdem wie immer zu einem feierlichen Landtagsabschied. Die Stände
leisteten nicht nur »freiwillig und mit patriotischem Eifer« ihr übliches sub-
sidium charitativum, sondern bewilligten sogar noch 8000 Reichstaler extra
für das überaus aufwendige marmorne Treppenhaus, das der berühmte
Balthasar Neumann in Schloss Brühl baute. Mit anderen Worten: Die
Freiwilligkeit der Stände, die Lasten als donum charitativum zu übernehmen,
war ebenso eine Fiktion wie die Bereitschaft des Landesherrn, die stets
gleichen Gravamina herzhaft zu bekämpfen.
Die ältere Forschung hat sich stets gefragt, warum die Stände sich zu
diesem Verfahren überhaupt noch hergaben, zumal die Landtage selbst die
Steuern erheblich in die Höhe trieben (die Landtagsdiäten betrugen jeweils
rund 8 Prozent der bewilligten Summe). Eine Antwort auf diese Frage fin-
det man nur, wenn man die komplexen symbolisch-expressiven Funktio-
nen des Verfahrens in Rechnung stellt.
Meine zweite These ist also: Es ging bei den Kurkölner Landtagen des
18. Jahrhunderts nicht mehr so sehr um die Herstellung von Konsens als
vielmehr um die Darstellung von Konsens. Insofern hier die symbolische
Dimension die instrumentelle weitgehend verdrängte, ist der Kurkölner
Fall zweifellos ein extremes, aber kein vereinzeltes Beispiel. Ich wähle es
deshalb, weil sich daran die symbolische Funktion besonders deutlich zei-
gen lässt. Für andere Reichsterritorien, deren Stände ihre Mitgestaltungs-
rolle besser hatten erhalten können, gilt aber gleichfalls, dass sich das
Landtagsgeschehen nur als Zusammenwirken instrumenteller und symboli-
scher Funktionen angemessen verstehen lässt.
Die Konsensfassade, die man auf den Kurkölner Landtagen Jahr für
Jahr aufrichtete, war kein sinnentleertes »politisches Theater«, an das die
Beteiligten selbst nicht glaubten.20 Es lag vielmehr im Interesse aller

——————
20 Also keine »bloß« symbolische Politik im Sinne der politikwissenschaftlichen Forschung
etwa von Murray J. Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher
Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt/M. u.a. 1976; Ulrich Sarcinelli,
Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommu-
84 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

Beteiligten, auf Landtagen die Leitwerte und Ordnungskategorien der


ständischen Verfassung in Szene zu setzen. Um das zu veranschaulichen,
möchte ich die Formalitäten eines solchen Landtags etwas genauer be-
leuchten.21
Der Landtag war ein »solenner Akt«; das heißt eine feierliche, formge-
bundene Veranstaltung »nach altem löblichen Herkommen«. Er verwies
auf eine übergeordnete Rechtsordnung, die teils vertraglich festgeschrie-
ben, teils gewohnheitsrechtlich hergebracht war. »Solenn« bedeutete, dass
jedem Element dieses Aktes ein symbolischer und rechtswirksamer Cha-
rakter zukam. Jede unwidersprochen vorgenommene Veränderung eines
signifikanten Details begründete eine neue possessio, einen neuen gewohn-
heitsrechtlichen Anspruch, auf den man sich später als Rechtstitel berufen
konnte. Deshalb konnte jedes Detail dieses Aktes potenziell konfliktträch-
tig werden.22
Um eine Verbindlichkeit stiftende Wirkung zu entfalten, musste eine
solche Solennität zunächst einmal überhaupt als solche symbolisch mar-
kiert und aus dem höfischen Alltag zeitlich und räumlich herausgehoben

——————
nikation der Bundesrepublik (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 72), Opladen 1987;
Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symboli-
scher Politik, Frankfurt/M. 1992.
21 Zum Verfahren in Kurköln ausführlich Brüning, Wege [wie Anm. 15]; vgl. etwa die Dar-
stellung des kurfürstlichen Hoffouriers Schiller in: Das Hofreisejournal des Kurfürsten
Clemens August von Köln 1719-1745, hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, bearb. von
André Krischer (= Ortstermine, Bd. 12), Siegburg 2000, S. 125, 179f., 196f.  Zum
Landtagsverfahren allgemein Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 13,
Frankfurt/Leipzig 1769, ND Osnabrück 1967; danach Kersten Krüger, Landständische
Verfassung (= EdG, Bd. 67), S. 13-17; zu einzelnen Beispielen vgl. Barbara Stollberg-Ri-
linger (Hg.), Politische Kultur und symbolische Praxis der landständischen Verfassungen
im westfälischen Raum (= Westfälische Forschungen, Bd. 53), Münster 2003 (dort ins-
bes. der Beitrag von Johannes Arndt, Der lippische Landtag – Politisch-soziale Praxis
und symbolische Kultur im 18. Jahrhundert, S. 159-182); Esther-Beate Körber, Öffent-
lichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen
öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (= Beiträge zur
Kommunikationsgeschichte, Bd. 7), Berlin, New York 1998; Andreas Denk, Josef Mat-
zerath, Die drei Dresdner Parlamente. Die sächsischen Landtage und ihre Bauten: Indi-
katoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft, Wolf-
ratshausen 2000, S. 32-51.
22 Zahlreiche Beispiele dafür bei Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 173ff. – Die ältere For-
schung hat das stets als »Kleinigkeitskrämerei« missverstanden (vgl. etwa Tücking, Streit
[wie Anm. 15], 19), so etwa, als während des Konflikts mit dem Kurfürsten Josef Cle-
mens der ständische Syndikus sich über mangelnden zeremoniellen Aufwand beim
Empfang in Bonn beschwerte, weil die Bürgerwache nicht das Gewehr präsentiert hatte.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 85

werden. Das geschah zunächst durch die formal korrekte Ausschreibung:


Zuerst musste der Hoffourier die Zustimmung des Domkapitels einholen,
erst dann wurde das Ausschreiben an alle einzelnen Mitglieder übersandt.
Der besondere Status des Domkapitels als Inhaber der stiftischen Hoheits-
rechte wurde unter anderem dadurch veranschaulicht, dass der Hoffourier
die Deputierten in Köln in kurfürstlichen Kutschen abholen ließ: vierspän-
nig die Priesterherren, sechsspännig – Zeichen souveräner Herrschaft – die
hochadeligen Domgrafen.23
Die Stände versammelten sich zuerst in ihrem Beratungslokal, dem Ka-
puzinerkloster in Bonn, um von dort aus gemeinsam in Prozession unter
den Augen einer städtischen und höfischen Öffentlichkeit zur Residenz zu
ziehen, wo die feierliche Eröffnung stattfand. Durch Kanonendonner,
Glockengeläut, Spaliere der städtischen Miliz und die Ausschmückung des
Raums wurden Zeit und Ort symbolisch markiert. Eine Messe zum Heili-
gen Geist in der Hofkapelle sorgte für die sakrale Überhöhung des Gan-
zen.24 Im Turmzimmer der Residenz platzierten sich die Teilnehmer nach
ausgeklügelter Choreographie gemäß ihrem ständischen Rang. Wenn der
Kurfürst sich in Bonn aufhielt, nahm er an der Eröffnung in Person unter
einem Baldachin sitzend teil, wenn er abwesend war, vertrat ihn sein Statt-
halter vor dem Baldachin stehend. Von einer Galerie aus konnte das Publi-
kum der Zeremonie beiwohnen. Ein kurfürstlicher Rat hielt die Anrede an
die Stände und eröffnete die Proposition. In stereotypem Wortlaut wurden
immer wieder die »mildväterlichste Gnade« des Landesherrn und sein Be-
dauern über die »Zumutung beschwerlichen Geldbeitrags« einerseits, der
»patriotische Eifer« der Stände und ihr willfährigstes Bemühen um das
Landeswohl bekundet. Es handelte sich dabei um formalisierte Sprechakte,
mit denen beide Seiten ihre normgemäßen Rollen als Landtagsteilnehmer
übernahmen.25
Die internen Beratungen der Stände fanden dann in strenger Abge-
schiedenheit und nach Kurien getrennt wiederum im Kapuzinerkloster,
also jenseits der landesherrlichen Sphäre statt. Jeder einzelne Teilnehmer
——————
23 Brüning, Wege [wie Anm. 15], S. 163f.; vgl. Hofreisejournal [wie Anm. 21], S. 196f.
24 Nach dem Vorbild des Reichstages, vgl. Winfried Dotzauer, Anrufung und Messe vom
Heiligen Geist bei Königswahl und Reichstagen in Mittelalter und früher Neuzeit, in:
Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 33 (1981), S. 11-44.
25 Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im
deutschen Territorialabsolutismus, Tübingen 1988; Manfred Beetz, Frühmoderne Höf-
lichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum,
Stuttgart 1990.
86 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

war durch einen Eid zur Verschwiegenheit verpflichtet. Das Beratungsge-


heimnis organisierte mithin die ständischen Grenzen.26 Innerhalb jeder
Kurie verfuhr man nach dem Prinzip der Umfrage; d.h. die Teilnehmer
hatten nach festgelegter Rangfolge ihr inhaltliches Votum abzugeben, und
man fragte so lange um, bis sich eine Mehrheitsmeinung herauskristallisiert
hatte. Es handelte sich also nicht um eine technische Mehrheitsabstim-
mung im modernen Sinne, sondern um ein Verfahren mit hohem symboli-
schem Mehrwert, das immer zugleich die Rangverhältnisse unter den Ak-
teuren abbildete.27
Zwischen den Kurien war Einhelligkeit Ziel des Verfahrens. Eine hoch-
komplexe Verständigungsprozedur zwischen den vier Kurien sorgte im
Normalfall dafür, dass eine gemeinsame Entscheidung zustande kam. War
das nicht der Fall, mussten also dem Landesherrn disparia vota vorgetragen
werden,28 so stellte das den korporativen ständischen Repräsentationsan-
spruch in Frage. Dieser setzte ja voraus, dass »das Land« mit einer Stimme
sprach, nicht aber einzelne Stände ihre je eigenen, partikularen Rechte gel-
tend machten.29 Noch gravierender war die Abreise eines Teils der Teilneh-
mer oder gar eines ganzen Kollegiums; die Drohung damit war daher im
Konfliktfall – so im Jahre 1790 seitens der Städte  eine wirksame Waffe.30
Das Verständigungsverfahren zwischen den Kurien, die so genannte
Re- und Correlation, war hoch zeremonialisiert und bildete die hierarchi-
schen Verhältnisse auf vielerlei subtile Weise ab. Den anderen in seinem

——————
26 Vgl. Alois Hahn, Geheim, in: Gisela Engel u.a. (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der
europäischen Moderne (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 6), Frank-
furt/M. 2002, S. 21-42.
27 Zumindest in der Städtekurie scheint ein späteres Votieren als Zeichen höheren Rangs
aufgefasst worden zu sein, anders als bei ständischen Umfragen sonst üblich; vgl. Brü-
ning, Wege [wie Anm.15], S. 170f.  Zum symbolischen Charakter des Umfrageverfah-
rens allgemein Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rang-
ordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Jo-
hannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin
1997 (= ZHF, Beih. 19), S. 91-132.
28 In diesem Fall war umstritten, wie zu verfahren sei: Ob die disparia vota in getrennten
Resolutionen oder in einer einzigen vorzutragen seien. Vgl. Brüning, Wege [wie
Anm.15], S. 176.
29 Vgl. ausführlich zur zeitgenössischen Theorie Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm.11],
S. 92-103.
30 Zum Konflikt von 1790 Essers, Kurkölnische Landtage [wie Anm.15], S. 46; vgl. auch
das Fernbleiben der Deputierten des Domkapitels vom Landtag des Herzogtums
Westfalen 1698, was die Gültigkeit der dortigen Beschlüsse strittig erscheinen ließ; vgl.
Tücking, Streit [wie Anm.15], S. 66.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 87

Quartier aufsuchen zu müssen und nicht umgekehrt aufgesucht zu werden,


war ein eindeutiges Zeichen geringeren Ranges; ebenso die Verpflichtung,
dabei in corpore, das heißt vollzählig zu erscheinen und sich nicht durch De-
putierte vertreten lassen zu können.31 Von unten nach oben fortschreitend
verständigte sich jeweils eine Kurie mit der nächsten, dann wurde das ge-
meinsame Votum der nächst höheren Kurie kommuniziert und so fort, bis
ein gemeinsames ständisches Votum dem Landesherrn vorgetragen wurde.
Den Städten als rangniedrigster Kurie verschaffte das eigentlich einen ge-
wissen technischen Verfahrensvorteil, denn sie hätten ja mit ihrem ersten
Vorschlag – etwa über die Höhe der zu leistenden Steuersumme  den
Fortgang der Verhandlungen maßgeblich beeinflussen können. Bemer-
kenswerterweise machten sie sich das aber nicht zunutze, sondern fragten
vorab in »vertraulicher Communication« beim Direktor der Ritterkurie an,
»was er vermeine das einzuwilligen wäre«, um dann genau dies als ihr eige-
nes Votum wiederum der Ritterschaft offiziell vorzutragen.32 Erst 1790, als
ein ganz neues Selbstbewusstsein die Städtevertreter erfasst hatte, wichen
sie von dieser vorauseilenden Unterordnung unter die höheren Stände ab
und nutzten ihren Verfahrensvorteil offensiv, um ein Steuerreformprojekt
in Gang zu bringen.33
Das Verfahren hatte zwei Phasen: Zuerst wurde über die Gravamina
beraten und beschlossen, dem Landesherrn das Ergebnis mitgeteilt und die
Antwort entgegengenommen. Auch wenn dieser die Erledigung der Be-
schwerden nur formelhaft in Aussicht stellte oder gar ausdrücklich ab-
lehnte, schloss sich dann die Beratung und Beschlussfassung über die Steu-
ersumme an. Der feierliche Abschied spielte sich schließlich wiederum als
solenner Akt in der Residenz ab: Die Stände übergaben ihre korporative
Resolution und erklärten in formelhaft-feierlicher Rede ihre Bereitschaft,
die gewünschten Steuern aufzubringen. Damit wurden sie verabschiedet,
der Landtag war förmlich beendet und seine Beschlüsse, die von den Stän-
den selbst zu exekutieren waren, galten als verbindlich.
Nun noch einmal zurück zu der Frage: Was lag sowohl dem Landes-
herrn als auch den Ständen an diesem Verfahren, wenn doch im 18. Jahr-
hundert an der Regelmäßigkeit der Steuer nicht mehr zu rütteln war und
die Gravamina nie ernsthaft abgestellt wurden? Warum zog man sich zur

——————
31 Um diesen Punkt gab es 1729 langwierige Auseinandersetzungen zwischen Ritter- und
Grafenkurie; vgl. ausführlich Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 171ff.
32 Ebd., S. 178f.
33 Vgl. unten bei Anm. 41.
88 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

Festlegung der Steuersumme nicht, wie in einigen anderen Reichsterrito-


rien, auf die viel effizientere Arbeit in kleinen Ausschüssen zurück?
Meine These ist: Die Landtage blieben erhalten, weil ihnen ein hoher
symbolischer Mehrwert zukam. Sie dienten zum einen dazu, die politischen
Leitwerte zu bekräftigen, auf die alle Beteiligten sich ihrem Selbstverständ-
nis nach verpflichteten und von denen sie – allerdings in unterschiedlichem
Maße34 – profitierten, weil ihr Status davon abhing: nämlich eben Re-
ziprozität und Konsens. Die Konsensbindung von Herrschaft war ein
schlechthin zentraler Wert, denn auf ihr beruhte ja die landständische Ver-
fassung im Kern.35 Auch wenn der Landesherr auf den Konsens im
Konfliktfall tatsächlich möglicherweise gar nicht mehr angewiesen war,
weil er über genügend Gewaltmittel und zudem über reichsrechtliche Rü-
ckendeckung verfügte, so bescherten ihm die Landtage doch einen nicht zu
unterschätzenden Legitimationsgewinn – beispielsweise für seine gigan-
tisch teuren Bauprojekte. Allerdings war gerade der Kurfürst auf diese
symbolische Inszenierung seiner Herrschaft verhältnismäßig wenig ange-
wiesen, denn er verfügte mit dem Hof über eine effektvolle Bühne zur In-
szenierung seiner Majestät, wo er freier über das Zeremoniell disponieren
konnte und weniger an die Spielregeln der Reziprozität gebunden war als
anlässlich eines Landtags.36
Aber es war ja nicht der Landesherr allein, der Herrschaft innehatte, die
es symbolisch zu repräsentieren galt, sondern das gleiche galt auch für die
einzelnen Stände. Kennzeichen der vormodernen societas civilis war ja, dass
auf allen Ebenen Herrschaftsrechte beansprucht und ausgeübt wurden –
nicht nur auf der Ebene der zentralen Staatlichkeit. Landtage waren also
——————
34 Das geringste Interesse, am Landtag teilzunehmen, hatten nahe liegender Weise die
Deputierten des Vests Recklinghausen, die ja nur ad audiendum et referendum geladen wur-
den und denen kein eigenes Stimmrecht zukam, denen also in dem ganzen Verfahren
ständig ihr inferiorer Status vor Augen geführt wurde. Sie suchten sich deshalb zu ent-
ziehen, worüber sich dann die anderen Teilnehmer beim Landesherrn beklagten und
wofür sie ihn um Sanktionierung baten. Vgl. Brüning, Wege [wie Anm. 15], S. 167f.
35 Vgl. allg. zur vormodernen Konsensorientierung Bernd Schneidmüller, Konsensuale
Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter,
in: Paul-Joachim Heinig u.a. (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neu-
zeit. Festschrift für Peter Moraw (= Historische Forschungen, Bd. 67), Berlin 2000,
S. 53-88.  Grundsätzliche Überlegungen zum höheren Konsensbedarf bei persönlicher
Interaktion (im Gegensatz zu medial vermittelter Kommunikation) bei André Kieserling,
Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt/M.
1999.
36 Grundlegend Winterling, Hof [wie Anm. 15]; ferner Hofreisejournal [wie Anm. 21],
Einleitung.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 89

nur die Spitze eines ganzen Herrschaftsgeflechts, das sie ihrerseits erst als
Ganzes symbolisch zur Erscheinung brachten. Das scheint mir ein wesent-
licher Punkt: Anders als moderne parlamentarische Entscheidungsverfah-
ren besaßen die Landtage keine strukturelle Autonomie gegenüber ihrer
herrschaftsständischen Umwelt. Das heißt: die Rollen, die die Akteure im
Verfahren spielten, waren nicht vom Verfahrenszweck her definiert und
folgten nicht einer verfahrenseigenen Logik, sondern sie wurden von au-
ßen, von der ständischen Herrschafts- und Sozialordnung immer schon
vorgegeben und im Verfahren symbolisch verkörpert.37
Umgekehrt hing die Aufrechterhaltung des politisch-sozialen Status der
Mitglieder des Landes (mit entsprechenden Rechten und Pflichten) aber
auch in gewisser Weise von der Landtagsteilnahme ab.38 Das galt insbeson-
dere für die Ritterschaft. Der Landtag war für jeden einzelnen Ritter näm-
lich der Ort der feierlichen Aufschwörung: Wer zum ersten Mal auf einem
Landtag erschien, weil er einen Rittersitz durch Erbschaft, Heirat oder
auch Kauf erworben hatte, musste in der ersten Sitzung der Ritterkurie
seinen Stammbaum auf adelige Reinheit in väterlicher und mütterlicher Li-
nie, das heißt auf 16 adelige Ahnen prüfen lassen. In einer feierlichen Zere-
monie beschworen und unterzeichneten zwei Zeugen die Ahnentafel des
Bewerbers, was die ganze Korporation überprüfte und bestätigte. Der
Initiand selbst leistete ebenfalls einen Eid und wurde schließlich unter
Gratulation der Standesgenossen in die Ritterkurie aufgenommen. Es han-
delte sich also um ein zentrales ständisches Initiationsritual. Mit diesem
Ritual wurden die Ritter von anderen Besitzern landtagsfähiger Rittergüter
geschieden – nämlich von Bürgern und von Frauen. Zum Landtag aufge-
schworen zu sein war das Konstitutivum für die persönliche Zugehörigkeit
eines Ritters zum Land mit allen daran hängenden symbolischen und mate-
riellen Chancen, die bürgerlichen und weiblichen Rittergutsbesitzern eben

——————
37 Man könnte das auch systemtheoretisch beschreiben und sagen, die Landtage waren
nicht als politische Systeme gegenüber ihrer Umwelt ausdifferenziert, sie waren nicht
operativ geschlossen, wurden nicht über systemeigene rekursive Operationen als System
stabilisiert; vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000; zum
Begriff der Verfahrensautonomie vgl. Stollberg-Rilinger, Vormoderne Verfahren [wie
Anm. 10], S. 15ff.; in Anlehnung an Luhmann, Legitimation durch Verfahren [wie Anm.
10].
38 Vgl. die Definition bei Moser, Neues Teutsches Staatsrecht [wie Anm. 21], Bd.13, 322ff.:
Bei der Bestimmung der Landstandschaft komme es »einig und allein auf das Sitz- und
Stimm-Recht auf Land-Tägen an [...]. Wer dieses hat, ist ein Land-Stand; und wer es
nicht hat, ist keiner.« Vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm.11], S. 77f.
90 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

nicht zukamen.39 Die Teilnahme am Landtag diente also dazu, den poli-
tisch-sozialen Status aufrecht zu erhalten: als im Land angesessene Herr-
schaftsträger, als privilegierte Stände mit einer Fülle von Rechten und Frei-
heiten, als Anwärter auf exklusive Pfründen und Ämter, nicht zuletzt als
Mitglieder eines exklusiven Heiratskreises. Den Landtagsteilnehmern lag
um so mehr am symbolischen Mehrwert des Landtags, als ihnen am Hof
des Kurfürsten von ausländischem Adel zunehmend Konkurrenz gemacht
wurde.40

IV.
Das Kurkölner Beispiel zeigt in pointierter Weise, was auch für andere
Ständeversammlungen dieser Zeit gilt: Sie waren nicht nur ein Verfahren
zur politischen Entscheidungsfindung, Mittel zur Herstellung des »Landes«
als handlungsfähige Einheit, indem sie rechtsverbindliche Beschlüsse für
das Ganze herbeiführten, sondern auch (und im späten 18. Jahrhundert in
diesem Fall sogar in erster Linie) symbolische Verkörperungen des »Lan-
des« in seiner hierarchisch-herrschaftsständischen Verfasstheit. Das Land
wurde hier, in der solennen, das heißt rechtsförmlichen, feierlichen Praxis
konkret und sinnlich erfahrbar. Landtage dienten dazu, die politisch-sozia-
len Ordnungskategorien des Landes in die Praxis zu überführen und dau-
erhaft aufrecht zu erhalten, die einzelnen Mitglieder als solche jeweils neu zu
instituieren, Harmonie zwischen Herrn und Ständen zu demonstrieren und
auf diese Weise die Herrschaft nicht nur des Landesherrn gegenüber den
Ständen, sondern auch jedes einzelnen Standes gegenüber seinen eigenen
Untertanen zu legitimieren. Den verschiedenen ständischen Akteuren
musste in dem Maße an dieser symbolischen Repräsentation gelegen sein,
wie sie von ihrem jeweiligen Ort in der ständischen Hierarchie profitierten.
Erst im Jahr 1790 wurde die kollektive Handlungsfähigkeit des Kurköl-
ner Landtags auf die Probe und sein herkömmliches Procedere in Frage
gestellt – auch hierin ist das Beispiel verallgemeinerbar. Die Städte waren
nicht mehr bereit, die ungleiche Besteuerung der Güter länger hinzuneh-
men. Durch das französische Vorbild ermutigt, scherten sie sich nicht län-
——————
39 In den Hofkalendern wurden die Ritter (und zwar erst nach dem gesamten Hofpersonal)
mit dem Datum und nach der Reihenfolge ihrer Aufschwörung aufgeführt.
40 Vgl. Winterling, Hof [wie Anm. 15], S. 107ff.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 91

ger um die traditionelle Konsensfassade und bedienten sich aller instru-


mentellen Verfahrensmöglichkeiten, um eine grundlegende Steuerreform in
Gang zu bringen. Wenn auch sie sich jetzt auf das Repräsentationsprinzip
beriefen, so meinten sie doch nun etwas völlig anderes damit: Sie verstan-
den sich als Sachwalter des »Bürger- und Bauernstandes« schlechthin, nicht
mehr als Deputierte einzelner privilegierter Stadtkommunen, und sie nah-
men ein stillschweigendes Mandat aller Untertanen für sich in Anspruch.41
Von der kollektiven Inszenierung hierarchischer Harmonie versprachen sie
sich zu Recht nichts mehr. Die Repräsentationsfiktion diente damit nicht
mehr nur als Rechtsgrund für die kollektive Zurechenbarkeit des Land-
tagshandelns, sondern zugleich als Rechtsgrund für die Infragestellung der
ständisch-korporativen Ordnung. Der Landtag war nicht nur Instrument,
sondern auch selbst Gegenstand der Reformforderungen.
Das moderne Konzept politischer Repräsentation, wie es sich – ideal-
typisch – in Folge der Französischen Revolution schrittweise durchsetzte,
trennte das Verfahren der kollektiv bindenden Entscheidungsbildung von
der symbolischen Repräsentation der sozialen Ordnung. Ein modernes
Parlament repräsentiert zwar nach wie vor – im technisch-prozeduralen
wie im symbolischen Sinne  das politische Gemeinwesen als Ganzes, es
verkörpert aber nicht mehr dessen soziale Gliederung, ja es bildet sie nicht
einmal mehr ab. Indem die Beziehung zwischen Repräsentanten und Re-
präsentierten auf allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl und auf freiem
Mandat gründet, abstrahiert sie völlig von der sozialen Zugehörigkeit der
Wähler und Gewählten. Die politische Repräsentation koppelt sich ab von
dem System der gesellschaftlichen Ungleichheit; mit anderen Worten: das
politische System gewinnt Autonomie gegenüber der sozialen Ordnung.42
Das heißt zwar keineswegs, dass moderne Parlamente keine symbolische
——————
41 So die anonyme Flugschrift: Juristisch-philosophische Betrachtungen über die
landesherrlichen Steuerrechte und die Rechte des gemeinen Volkes zur allgemeinen
Wohlfahrt und zum Besten des K.Kölnischen Bürger- und Bauern-Standes, o.O. 1790. –
Die Städte forderten einen modus per totum, d.h. einheitliche Besteuerung aller Güter. Der
Clerus secundarius parierte mit der Forderung, selbst auf Landtage geladen zu werden,
andernfalls aber überhaupt nicht von dessen Beschlüssen zu Steuern verbunden zu sein;
vgl. die ebenfalls anonyme Flugschrift: An die Churkölnischen Landstände über die
Frage des modi contribuendi bey bevorstehendem Landtag 1793, o.O. 1793. Vgl. dazu
Essers, Geschichte [wie Anm. 15]; Ruppert, Landstände [wie Anm.15], S. 104ff. – All-
gemein zu den Landtagsreformbewegungen in verschiedenen Reichsterritorien im An-
schluss an die Französische Revolution Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm. 11],
S. 152ff.; dies., Was heißt landständische Repräsentation [wie Anm. 1], S. 130ff.
42 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren [wie Anm. 10], bes. S. 155ff., 195ff.
92 BARBARA STOLLBERG-RILINGER

Dimension mehr hätten43  man denke nur an die symbolisch-expressive


Inszenierung demokratischer Streitkultur in Bundestagsdebatten oder an
die Symbolisierung politischer Transparenz in der Fosterschen Reichstags-
kuppel. Es heißt aber, dass eine moderne Repräsentativversammlung nicht
mehr wie eine vormoderne Ständeversammlung das Gemeinwesen in sei-
nen Ungleichheitsstrukturen symbolisch darstellt und reproduziert.

——————
43 Vgl. etwa Werner J. Patzelt, Symbolizität und Stabilität. Vier Repräsentationsinstitutio-
nen im Vergleich, in: Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie Anm. 4],
S. 603-638; Heinrich Oberreuter, Institution und Inszenierung. Parlamente im Symbol-
gebrauch der Mediengesellschaft, in: ebd., S. 65-70.
Monarchische Repräsentation in der
entstehenden Mediengesellschaft: Das
deutsche und das englische Beispiel
Martin Kohlrausch

»Die heutigen Souveräne haben, auch wenn sie mit ihrer Persönlichkeit tagtäg-
lich ins grelle Rampenlicht der Presse treten, immer etwas Unpersönliches. Was
sie immer tun mögen, es wirkt als Repräsentation, wie persönlich auch die Ge-
bärde sein mag. Ein heutiger Fürst ist immer offiziell, er kann sich nicht die
Nase schneuzen, ohne daß es in alle Welt hinaustelegraphiert wird; – und wenn
einer es darauf anlegt, nicht offiziell zu scheinen (denn es bleibt immer bloß
Schein), so ärgert sich das Publikum und zischt (man sagt jetzt Publikum statt
Volk – alles Öffentliche hat etwas Theaterhaftes bekommen)«.1

Der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow stellte 1893 fest, gegen Ende
des 19. Jahrhunderts habe eine »Zeit schrankenloser Publizität« eingesetzt,
die sowohl für wie gegen den Bestand der Monarchie arbeiten könne.2 Bü-
low sprach in scharfsinniger Weise ein Phänomen an, das der Soziologe John
B. Thompson als »Transformation of Visibility« charakterisiert hat. Thomp-
son bezeichnet hiermit einen Prozess der Entstehung einer nicht mehr orts-
gebundenen Öffentlichkeit, die eine einschneidend erhöhte Sichtbarkeit he-
rausgehobener Politiker bewirkte.3 Diese Transformation bedingte, dass die
ohnehin bereits fragile Darstellung des Monarchen noch schwerer als bisher
zu kontrollieren war. Allerdings – hierauf verweist Bülow – eröffneten sie
der Monarchie auch erhebliche Chancen, indem der Monarch ein bisher un-
erreichbares Publikum mit seiner Persönlichkeit und seiner Programmatik
konfrontieren konnte. Damit veränderten sich auch die Bedingungen mo-
narchischer Repräsentation radikal.
——————
1 Diese hellsichtige Analyse legte Otto Bierbaum seiner Romanfigur Hermann Honrader
in den Mund: Otto Bierbaum, Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllen-
fahrt eines Wollüstlings, München 1907, S. 590.
2 Zit. nach: John C.G. Röhl, Hof und Hofgesellschaft unter Kaiser Wilhelm II., in: ders.
(Hg.), Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 41995,
S. 78- 1 16, hier S. 113.
3 John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge
2000, S. 33.
94 MARTIN KOHLRAUSCH

Der hier skizzierte Zusammenhang ist offenbar so selbstverständlich,


dass seine systematische Untersuchung bisher ausblieb. Zwar hat das histo-
rische Interesse an den Massenmedien, zumal in deren formativer Phase
um 1900,4 merklich zugenommen und auch die Institution Monarchie
führt keineswegs mehr ein Schattendasein in der Forschung.5 Eine Zusam-
menschau von Medien und Monarchie, deren Bedeutung füreinander heute
– man blicke nach England, Spanien, Holland oder Norwegen – so offen-
kundig ist, erfolgte allerdings selten. Dabei erscheint diese Zusammenschau
sowohl aus der Perspektive der Medien wie auch der Monarchie erkennt-
nisreich. Dies hängt insbesondere mit zwei Grundtatsachen zusammen, auf
die noch näher einzugehen sein wird. Zum einen ist dies die so genannte
»Medienrevolution« im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, zum anderen
die – im Gegensatz zur heutigen Situation in Europa – anhaltende hohe

——————
4 Vgl. Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in:
Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-33; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Mas-
senmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte
und Gesellschaft 27 (2001), S. 177-206; Andreas Schulz, Der Aufstieg der »vierten Ge-
walt«. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in:
Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65-97; Bernd Weisbrod, Medien als symbolische
Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20.
Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270–283. Zu den Medien des 20.
Jahrhunderts vgl. Karl Christian Führer, Neue Literatur zur Geschichte der modernen
Massenmedien Film, Hörfunk und Fernsehen, in: Neue Politische Literatur 46 (2001),
S. 216-243. Zur Entwicklung der Massenmedien in Großbritannien: Aled Jones, Powers
of the Press. Power and the Public in Nineteenth-century England, London 1996. Zur
Entwicklung im 19. Jahrhundert: Bernd Sösemann (Hg.), Kommunikation und Medien
in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002.
5 Regina Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der
Königin, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 76-104; Martin Kirsch, Monarch
und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäi-
scher Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; Jost Rebentisch, Die
vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur,
Berlin 2000; Lothar Reinermann, Der Kaiser in England. Wilhelm II. und die britische
Öffentlichkeit, London 2000; John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen
Monarchie, München 2001; Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesell-
schaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993; William M. Kuhn,
Democratic Royalism. The Transformation of the British Monarchy. 1861-1914, Lon-
don 1996; Richard Williams, The Contentious Crown. Public Discussion of the British
Monarchy in the Reign of Queen Victoria, Adlershot 1997; Antony Taylor, »Down with
the Crown«: British anti-monarchism and debates about royalty since 1790, London
1999; Martin Kohlrausch, Die höfische Gesellschaft und ihre Feinde. Monarchie und
Massenöffentlichkeit in England und Deutschland um 1900, in: Neue Politische Litera-
tur 47 (2002), S. 450-466.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 95

Bedeutung der Monarchie als Institution im Regierungsgefüge der weit


überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten.6
Für die Frage, was monarchische Herrschaftsrepräsentation im Zeital-
ter der Massenmedien noch – oder gerade erst – leisten konnte, ist die
skizzierte Zusammenschau sogar unabdingbar. Das neue Interesse an poli-
tischer Repräsentation hat sich immer auch auf die Institution Monarchie
gerichtet. In den Blick geriet so ein relativ überschaubarer Kommunikati-
onsraum, der besonders gut in Versammlungsöffentlichkeiten anlässlich
von Huldigungen und verwandten Anlässen und dem damit einhergehen-
den Schrifttum fassbar war.7 Im Prozess der massenmedialen Mobilisie-
rung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts wurde der Monarchie –
wenn sie überhaupt als nennenswerter Faktor betrachtet wurde – der Part
des passiven Verlierers zugeschrieben.8
Ein nicht unwesentlicher Grund für die mangelnde Aufmerksamkeit
für die Medienmonarchie mag schließlich im ephemeren Charakter ihrer
Erscheinungsformen liegen. Der schwer greifbare Zusammenhang soll hier
in einer mehrfach begrenzten Perspektive beleuchtet werden. Das Haupt-
augenmerk gilt der Zeitphase, in der sich die Massenmedien auch in
Deutschland durchsetzten, das heißt ab den 1880er Jahren, die aber noch
durch starke Monarchien geprägt ist, das heißt bis zum Ersten Weltkrieg.
Darüber hinaus werden aus einer Vielzahl möglicher Fälle zwei Beispiele,
nämlich das deutsche und englische, gewählt. Um die mediale Repräsenta-
tion in beiden Ländern in ihren Spezifika sichtbar zu machen und somit
——————
6 Vgl. Mark Hewitson, The Kaiserreich in Question: Constitutional Crisis in Germany
before the First World War, in: The Journal of Modern History 73 (2001), S. 725-780;
Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer
Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918), Frankfurt/M.
1997; Marcus Kreuzer, Parliamentarization and the Question of German Exceptiona-
lism: 1867-1918, in: Central European History 36 (2003), S. 327-357.
7 Vgl. Jens Ivo Engels, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den König in
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bonn 2000; Monika Wienfort, Zurschaustellung
der Monarchie. Huldigungen und Thronjubiläen in Preußen-Deutschland und Großbri-
tannien im 19. Jahrhundert, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und insze-
nierte Staatlichkeit. Verfassungskultur als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn
2005 (im Druck).
8 In der immer noch maßgeblichen Studie zur öffentlichen Wahrnehmung Wilhelms II.,
Elisabeth Fehrenbachs Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (1871-1918), Mün-
chen/Wien 1969, kommen die Medien als Untersuchungskategorie nicht vor. Eine Un-
tersuchung wie die von Andreas Schulz, die sich dem Verhältnis von Politik und Medien
um 1900 widmet, geht wiederum auf die Monarchie nicht ein. Vgl. Schulz, Aufstieg [wie
Anm. 4].
96 MARTIN KOHLRAUSCH

miteinander kontrastieren zu können, soll besonders auf die mediale Aus-


nahmesituation des Skandals geblickt werden.
Der Auswahl zweier Beispiele aus einer großen Zahl potenzieller Fälle
haftet immer etwas Willkürliches an. Für die Konzentration auf Deutschland
und England sprechen allerdings gute Gründe. Die Durchsetzung der Mas-
senmedien erfolgte in jeweils hervorstechender Weise. Während sich in
Großbritannien die Massenmedien früher und in stärker differenzierter
Form als in allen anderen Industriestaaten etablierten und hier die wesent-
lichen medialen Innovationen des 19. Jahrhunderts stattfanden, setzte die
Entwicklung in Deutschland zwar später ein, entfaltete dann aber eine Dy-
namik, die selbst das Vorbild Großbritannien übertraf. Der Nexus zwischen
technischen Neuerungen und deren Widerspiegelung in Veränderungen der
Medienlandschaft war in Deutschland zudem besonders intensiv.
Typen hoher Eigenart waren auch die monarchischen Systeme beider
Länder. Der Begriff konstitutionelle Monarchie führt, da außerordentlich un-
scharf gebraucht, nur bedingt weiter.9 Auch die Rede von der parlamenta-
rischen Monarchie für England beschreibt die Verfassungswirklichkeit nur
ungenügend. Davon abgesehen kann die viktorianische Ausgestaltung der
Monarchie gewissermaßen als Idealtypus und oft kopiertes Vorbild von der
Hofhaltung bis zur Einordnung in das politische Kräftespiel gelten. Die Mo-
narchie wilhelminischer Ausprägung – wiewohl keine Autokratie russischen
Musters – trug hingegen deutlich cäsaristische Züge, die auf einem keineswegs
gänzlich fiktiven persönlichen Regiment fußten.10 Neben den bedeutsamen
Prärogativen in der Ernennung der leitenden Regierungsbeamten war es vor
allem die oberste Kommandogewalt, die den deutschen Kaiser vom engli-
schen Monarchen unterschied. Hinzu kam, dass Wilhelm II., wie auch immer
seine politische Rolle gewertet wird, zweifelsohne ein Monarch war, der gewillt
war, seine politischen Spielräume auszunutzen. Bis 1918 existierte der monar-
chische Selbstherrscher keineswegs nur als Phantom, ein Faktor, der in seiner
Konsequenz für die Medien bisher kaum Berücksichtigung gefunden hat.
Trotz dieser Unterschiede gilt für England wie für Deutschland, dass
kein anderes politisches Thema über 30 Jahre hinweg in Zeitungen, Zeit-
——————
9 Vgl. Kirsch, Monarch [wie Anm. 5], S. 69ff. Vgl. etwa die in Großbritannien gebräuchli-
che Rede von Edward VII. als erstem konstitutionellem Monarchen und die gänzlich
andere zeitgenössische Verwendung des Begriffs bei Otto Hintze, Das Verfassungsleben
der heutigen Kulturstaaten, in: ders., Staat und Verfassung, Göttingen 1962, S. 390-423.
10 Vgl. Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, in: Michael Stür-
mer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, Berlin
1970, S. 119-142.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 97

schriften und Pamphleten aller Formen und politischen Richtungen eine sol-
che Präsenz hatte wie die Monarchie bzw. die Träger der Krone.11 Im
»alphabet of culture« (Aled Jones), den geteilten Geschichten und kulturellen
Referenzpunkten, die das Konzept von Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts
überhaupt erst ermöglichten, nahm sowohl in der deutschen als auch der
englischen Gesellschaft die Monarchie einen herausragenden Platz ein. Die
mediale Repräsentation der Monarchie wies allerdings erhebliche Unter-
schiede auf, die, so soll hier argumentiert werden, direkt und indirekt aus der
unterschiedlichen politischen Funktion der Monarchie und ihrer Interpreta-
tion durch den Herrscher folgten.12 Zunächst soll das deutsche Beispiel in
den Blick genommen werden. Hier wird bereits eine erste Klärung einiger
genereller Charakteristika des Verhältnisses von Monarchie und Medien er-
folgen, die anschließend mit den englischen Spezifika abzugleichen sind.
Anschließend sollen, wiederum für beide Beispiele, Skandale als Fehlfunkti-
onen und Störung monarchischer medialer Repräsentation analysiert werden.

I. Die mediale Repräsentation der wilhelminischen Monarchie


Die Herausbildung von Massenmedien, vor allem die Frage einer Medien-
revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beschäftigen die Ge-
schichtswissenschaft derzeit intensiv.13 Die Faszination mit den alten
——————
11 Die ungeheure Präsenz des Monarchen in den Zeitungen weit jenseits bloßer
Hofberichterstattung oder Illustriertenbilder scheint bisher nicht adäquat bewertet wor-
den zu sein. Noch anschaulicher wird das Phänomen mit Blick auf die Zeitschriften.
Intellektuelle, teils avantgardistische Neugründungen wie die Süddeutschen Monatshefte
(1904), März (1907) und die Tat (1909) brachten in ihren frühen Nummern an promi-
nenter Stelle das Kaiserthema. Die Tat begann ihr zweites Heft mit einer auf dem Titel
platzierten Serie zum Thema »Der Kaiser und die Nation«. Im Jubiläumsjahr 1913 füllte
eine Kaiserumfrage ein ganzes Heft. Naumanns Hilfe widmete sich regelmäßig dem
Thema, Hardens Zukunft lebte davon. Selbst Hans Ostwalds Zeitschrift Das Kulturparla-
ment widmete ihr erstes Heft (März 1909) unter der Überschrift »Die deutsche Verfas-
sungskrise« ausschließlich der Monarchie als politisches Problem.
12 Das heißt, der »popular monarchism« wird weitgehend ausgeblendet. Vgl. hierzu: Alexa
Geisthövel, Den Monarchen im Blick. Wilhelm I. in der illustrierten Familienpresse, in:
Habbo Knoch/Daniel Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel
und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 59-80 und generell: Johannes
Paulmann, Pomp und Politik: Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien
Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.
13 Vgl. Anm. 4.
98 MARTIN KOHLRAUSCH

neuen Medien spiegelt die generelle Erfahrung eines beschleunigten Wan-


dels der Medien, bzw. Befürchtungen einer Manipulation der Medien
durch die spin-doctors der Politik und einem Bedeutungsverlust politischer
gegenüber medialen Foren.14 Konsequenterweise interessieren sich neuere
Publikationen weniger für die bloße Beschreibung einer entstehenden Mas-
senpresse um 1900 als vielmehr für die Deutung dieses Prozesses.15 Dieser
Trend, beeinflusst durch die kulturalistische Wende, hat in letzter Zeit ver-
schiedene Arbeiten zum Dreiecksverhältnis Politik – Medien – Öffentlich-
keit für den Zeitraum des Kaiserreichs angeregt.16 Bei unterschiedlicher
Schwerpunktsetzung ist all diesen Arbeiten gemeinsam, dass sie eine ein-
schneidende qualitative Veränderung der Medien im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts konstatieren. Diese Veränderung, deren signifikanteste Aus-
prägung das Aufkommen der Massenmedien darstellt, wird als »zweiter
Strukturwandel der Öffentlichkeit«, »massenmediale Sattelzeit«, »erste Stufe
des massenmedialen Ensembles«, »Aufstieg der vierten Gewalt« und »Me-
dienrevolution« charakterisiert.17
Der Begriff Massenmedien ist allerdings schillernd, verfügt über wenig
Trennschärfe und trägt die Gefahr anachronistischer Sichtweisen in sich.
Hier soll der Begriff deshalb verwendet werden, weil er immerhin recht
klar das Ergebnis einer Veränderung der Medien – das heißt in diesem
Kontext vor allem Zeitungen, aber auch eine neue Form von Massenbro-

——————
14 Zum Begriff spin-doctor: Jenny Simon, Und ewig lockt der Spin Doctor… Zur Genealogie
eines neuen Berufszweigs, in: vorgänge 41 (2002), S. 48-54.
15 Vgl. Kaspar Maase, Des Kanzlers Scorpions sind des Kaisers weiße Rößl, in: Merkur 55
(2001), S. 1138-1143. Einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion der Wechsel-
wirkung zwischen Politik und Medien vermittelt das Heft der vorgänge. Zeitschrift für
Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 158 (2002) zum Thema »Politische Kommunika-
tion in der Mediengesellschaft« und der sowi 3 (2002) zum Thema »Mediendemokratie –
Mediokratie«.
16 Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenbe-
rufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995;
Ders., Öffentlichkeit [wie Anm. 4] und insbesondere Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4].
17 Weisbrod, Medien [wie Anm. 4], S. 271; Habbo Knoch/Daniel Morat, Medienwandel
und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedi-
alen Sattelzeit, in: dies. (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und
Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 9-33; Schildt, Jahrhundert [wie Anm.
4], S. 195; Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4], Titel und S. 69. Vgl. auch die zeitlich
deckungsgleiche Periodisierung der Durchsetzung der Populärkultur bei Kaspar Maase,
Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900, in: ders./Wolfgang
Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u.a. 2001, S. 9-
28, hier S. 28.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 99

schüren beziehungsweise Pamphleten – bezeichnet, die sich – in England


früher, in Deutschland später – im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog. In
Deutschland, wo der Prozess besonders gut greifbar ist, äußerte er sich in
einer Verdreifachung der Zahl der Zeitungen in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts bei massiver Steigerung der Gesamtauflage. Technische In-
novationen wie die Rotationspresse und die Falzmaschine erlaubten es ab
etwa 1870, immer größere Auflagen immer kostengünstiger immer schneller
zu produzieren. Hinzu trat ein stark verbesserter Vertrieb und hierdurch
bedingt schärfere Konkurrenz.
Was die Veränderung der Medienlandschaft hin zu massenmedialen
Strukturen so bemerkenswert macht, ist eine regionale, soziale und politi-
sche Entgrenzung, die durch den Bedeutungsverlust der Pressezensur
noch unterstrichen wird. Dieser Prozess wiederum bedingte, dass sogar
Presseerzeugnisse, die kaum den Massenmedien zugerechnet werden
können, durch deren Konkurrenz der massenmedialen Logik unterwor-
fen waren. Hinzu kam, dass die Presse ein spezifisch großstädtisches Be-
dürfnis nach Orientierung und Verbindung der lokalen Lebenswelt mit
universalen Entwicklungen befriedigte.18 Durch ihre Präsenz im öffentli-
chen Raum bestimmten Zeitungen nun auch weit stärker als zuvor Ge-
sprächsthemen.19
Zwei Trends betrafen die Kommentierung der Monarchie besonders:
Die Verschärfung und Ausweitung kritischer Kommentierung und die Dif-
ferenzierung bei parallelem Bedeutungsverlust parteipolitischer Festlegun-
gen der Zeitungen. Veränderungen in der Berichterstattung resultierten aus
einer auf den ersten Blick widersprüchlichen Entwicklung. Die Zeitungs-
landschaft wurde gleichzeitig immer differenzierter – mit zahlreichen
neuen Formaten – und uniformer. Die Marktorientierung der Zeitungen
führte dazu, dass die traditionell vorhandene Affinität vieler Blätter zu ei-
ner Partei an Bedeutung verlor. In einer Marktsituation konnte es sich
keine Zeitung leisten, die Informationsinteressen ihrer Leser zu negieren.
Die Zeitungen waren darüber hinaus auf Parteimittel nicht mehr im frühe-
ren Maße angewiesen, konnten es sich aber nicht leisten, manifeste Stim-

——————
18 Schildt, Jahrhundert [wie Anm. 4], S. 189; Requate, Öffentlichkeit [wie Anm. 4], S. 16.
19 Hierzu: Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass. 1996, S. 51ff.; Burkhard
Asmuss, Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in
der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923, Berlin/New York 1994, S. 33 und
jetzt: Frank Bösch, Zeitungsgespräche im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwir-
kung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49 (2004), S. 319-336.
100 MARTIN KOHLRAUSCH

mungen in ihren Kommentaren zu negieren, nur weil dies die Parteilinie


forderte.20 Dieser Trend galt nicht nur für die Massenpresse im engeren
Sinne, sondern für alle Zeitungen, was seinen Grund nicht zuletzt in deren
hoher Interaktivität hatte. Veröffentlichte eine Zeitung einen besonders
originellen Artikel, fanden sich sofort andere Zeitungen, die diesen repro-
duzierten. In den großen Pressedebatten mit der Monarchie im Zentrum
brachten Zeitungen zum Teil mehrere Seiten mit den Stimmen der jeweils
anderen Blätter. Die Tatsache, dass ein bestimmter Artikel zum Kaiser in
einem bestimmten Blatt erschien, war die Neuigkeit – nicht mehr primär
die Kaiserrede, auf die dieser sich bezog. Gleichzeitig verfolgten Kom-
mentare wachsam die politischen Urteile der Konkurrenz. Dieses Verfah-
ren erhöhte einerseits die Intensität politischer Debatten und sicherte an-
dererseits vielen Zeitungen, insbesondere denen, die als repräsentativ
galten – wie zum Beispiel der Kreuzzeitung – eine Bedeutung, die weit über
ihren Leserkreis hinausging. In diesem Prozess kam der Monarchie zu-
nächst nur eine reaktive Rolle zu. Walther Rathenaus auf den wilhelmini-
schen Regierungsstil gemünztes Diktum vom »elektro-journalistischen Cä-
saropapismus« verweist aber bildhaft auch auf eine Monarchie, die sich
unter dem Druck neuer massenmedialer Herausforderungen umzuformen
begann.21 Mit der Medienexpansion ist das Thema der Personalisierung des
Monarchiediskurses eng venüpft. Als »Signalperson« konnte Wilhelm II.
zur willkommenen Antwort auf die viel kritisierte Massengesellschaft stili-
siert werden.22 Der Kaiser veröffentlichte in einem bisher ungekannten
Ausmaß seine Person. Er wurde – ein neues Phänomen – in der Karikatur
personifiziert, tauchte als erste lebende Person in Deutschland auf einer
Bildpostkarte auf, sein Geschmack, sein Aussehen, seine Meinung wurden
zum Thema, seine Interpretation des Kaisertums ebenso wie sein einpräg-
sames Äußeres gewissermaßen zum Markenprodukt.23
——————
20 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 80.
21 Walther Rathenau, Der Kaiser. Eine Betrachtung, Berlin 1919, S. 30.
22 Friedrich Naumann, Das Königtum, in: Die Hilfe 4 (1909), S. 48-50, hier S. 46.
23 Ein Berliner Photogeschäft warb beispielsweise mit 267 heroischen Posen des Kaisers
und »Alle verschieden«. Robert G. L. Waite, Leadership Pathologies: The Kaiser and the
Führer and the Decisions of War in 1914 and 1939, in: Betty Glad (Hg.), Psychological
Dimensions of war, London 1990, S. 143-168, hier S. 145. Zur Darstellung des Monar-
chen auf Postkarten vgl. Otto May, Deutsch sein heißt treu sein. Ansichtskarten als
Spiegel von Mentalität und Untertanenerziehung in der wilhelminischen Ära (1888-
1918), Hildesheim 1998, S. 119ff.; Karin Walter, Die Ansichtskarte als visuelles Mas-
senmedium, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba, Schund und Schönheit. Populäre
Kultur um 1900, Köln u.a. 2001, S. 46-61, hier S. 54ff. Zum Kaiser im Film: Klaus-D.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 101

Mit der notwendigen Umformung der Monarchie, ihrer Repräsenta-


tion und Darstellung durch die Massenmedien ist allerdings nur eine Seite
der Medaille bezeichnet. Sowohl als Projektionsfläche existierender wie
als »Anreger« entstehender Diskurse konnte der Monarch, zumindest in
Deutschland, eine eminente Rolle spielen. Insofern wurden auch die
Massenmedien durch die Existenz monarchischer Herrschaft beeinflusst.
Monarchieberichterstattung ging wesentlich über die sentimentale Wie-
dergabe kaiserlicher Kutschfahrten oder die kritische Reportage eines
Lapsus des Monarchen hinaus. Das Schreiben über den Herrscher war
vielmehr ein entscheidendes Verständigungsmittel über politische Prob-
leme.
Die Kanalisierung des politischen Diskurses konnte nur ein herausra-
gendes und übergreifend als bedeutsam akzeptiertes Thema wie die Mo-
narchie garantieren. Der hervorgehobene Monarch im Stil Wilhelms II. er-
füllte für die Medien zwei wesentliche Funktionen: Erstens erlaubte die
herausgehobene, extraparteiische Figur des Monarchen der Presse, eine die
Parteigrenzen überwindende Einheit in der Kommentierung herzustellen.
Zweitens bot der Monarch einen dauerhaften und kontroversen Referenz-
punkt. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich anhand der so ge-
nannten »Kaiserreden«. Diese Reden, die heute nurmehr als Beispiele kuri-
oser Auffassungen Wilhelms II. bekannt sind, dienten der Presse des
Kaiserreichs als willkommener Aufhänger für eine hier verdichtete politi-
sche Diskussion. Paradoxerweise entsprach damit gerade die traditionelle
Institution Monarchie den Erfordernissen der modernen Medien nach grif-
figen Klischees.24
Mindestens ebenso überzeugend lässt sich die stetige Ernüchterung
über die imperialen Formulierungsversuche der Reichsbefindlichkeit als
Enttäuschung einer hohen Erwartung lesen. Ein deutliches Symptom die-
——————
Pohl, Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders./Hans
Wilderotter, (Hg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh/München 1991,
S. 9-18; Martin Loiperdinger, Kaiser Wilhelm II.: Der erste deutsche Filmstar, in: Tho-
mas Koebner (Hg.), Idole des deutschen Films, München 1997, S. 41ff.
24 Die Literatur zu den Kaiserreden ist nach wie vor unbefriedigend. Vgl. Sonja Reinhardt,
»Wie ihr’s euch träumt, wird Deutschland nicht erwachen.« Formen der Herrschaftslegi-
timation in ausgewählten Reden von Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler, phil. diss.,
Hannover 1994; Ernst Johann (Hg.), Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und
Trinksprüche Wilhelms II., München 1966 und als Fallbeispiel: Bernd Sösemann, Die
sog. Hunnenrede Wilhelms II. Textkritische und interpretatorische Bemerkungen zur
Ansprache des Kaisers vom 27. Juli 1900 in Bremerhaven, in: Historische Zeitschrift
222 (1976), S. 342-358.
102 MARTIN KOHLRAUSCH

ser Überschätzung der Möglichkeiten des Monarchen ist, dass Kritiker wie
Apologeten den Inhalt der Kaiserreden nahezu immer verabsolutierten,
das heißt als Programm begriffen.25 Unbestritten waren die Reden das
schillernde Markenzeichen Wilhelms II. Hierfür aber nur seine persönli-
chen Vorlieben als Grund zu veranschlagen, hieße ein strukturelles Be-
dürfnis zu verkennen. In nachgerade idealer Weise entsprachen die
kaiserlichen Meinungsäußerungen den Bedürfnissen moderner Massenme-
dien nach komprimiert-bündiger, radikaler, schlagwortartiger Formulierung
politischer Probleme. Sie füllten eine Leerstelle im politischen Kommuni-
kationsprozess des Kaiserreichs. Die Reichstagsreden der einzelnen Partei-
politiker wurden zwar in der Presse oft abgedruckt, waren aber als Angel-
punkte für öffentliche Diskussionen zu komplex und nicht ausreichend
gegenüber konkurrierenden Verlautbarungen hervorgehoben. Die Kaiser-
reden hingegen, fast immer ohne Manuskript gehalten und daher durch
den Reichskanzler kaum kontrollierbar, entsprachen zunächst den beson-
deren Bedingungen von Versammlungen, die eine »fiery language« forder-
ten. Gerade dieses Charakteristikum verlieh ihnen, neben der Prominenz
des Sprechers, mediale Relevanz.26 Eine intime, farbige Sprache traf nicht
nur die Bedürfnisse der jeweiligen Versammlung, sondern gerade der Mas-
senpresse, die mit ausführlich redigierten Thronreden weit weniger anzu-
fangen wusste als mit kräftigen Politbildern – wie schief diese auch immer
sein mochten.27

——————
25 Beispielhaft für Verabsolutierung der Kaiserreden: Conrad Valentin, Der Kaiser hat ge-
sprochen; wie haben wir Konservativen uns jetzt zu verhalten, Berlin 1889. Zur Ver-
bindlichkeit der Kaiserreden für die protestantische Kirche: Bastiaan Schot, Wilhelm II.,
die Evangelische Kirche und die Polenpolitik, in: Stefan Samerski (Hg.), Wilhelm II. und
die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds, Berlin 2001, S. 133-170,
hier S. 166.
26 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 40.
27 Für die Deutung der Kaiserreden als eines nicht notwendigen, strukturell aber nahe-
liegenden Phänomens spricht zudem, dass ähnliche Erscheinungen international auf-
traten. William Gladstone war der erste Politiker, der in den 1880er Jahren, also kurz vor
der Thronbesteigung Wilhelms II., erfolgreich die neuen medialen Möglichkeiten zur
Multiplizierung politischer Willensäußerungen ausnutzte. Gladstone verband universale
und spezifische Aussagen in seinen Reden dergestalt, dass er ein lokales Auditorium er-
reichte und die jeweilige Rede als Ereignis wiederum den Aufhänger bot, um eine Aussage
medial zu verbreiten. Vgl. Joseph S. Meisel, Public Speech and the Culture of Public Life in
the Age of Gladstone, New York 2001, S. 223ff. Der zeitgleich mit Wilhelm II. am-
tierende amerikanische Präsident Theodore Roosevelt machte sich dieses Phänomen
dann ebenso zunutze wie der deutsche Kaiser. Ragnhild Fiebig-von Hase, The uses of
»friendship«. The »personal regime« of Wilhelm II and Theodore Roosevelt, 1901–1909,
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 103

Für die massenmedial vermittelte monarchische Repräsentation waren


die Reden insofern besonders bedeutsam, als sie Hoffnungen auf eine di-
rekte Kommunikation weckten. Dies illustrieren die Reaktionen auf zwei
Kaiserreden und ein veröffentlichtes Gespräch aus den Jahren 1906 und
1907. Angefangen mit der bald so genannten »Schwarzseherrede« vom
8. September 1906 in Breslau, bilden alle drei kaiserlichen Wortmeldun-
gen Beispiele einer eigentümlichen Mischung aus der Einforderung einer
positiven Haltung gegenüber der Reichsentwicklung und einer selbst für
wilhelminische Verhältnisse ungewöhnlichen Herausstellung monarchi-
scher Subjektivität.28 Während in der »Schwarzseherrede« das erste Mo-
tiv bestimmend und die Reaktionen überwiegend ablehnend waren,
zeigte sich im Gespräch Wilhelms II. mit dem Schriftsteller Ludwig Gang-
hofer im November 1906 und in der Münsteraner Rede vom August
1907 ein Herrscher, der öffentlich und mit viel Zustimmung über sein
Innenleben reflektierte und dabei Ansätze einer selbstkritischen Haltung
erkennen ließ.29
Im Gespräch mit Ganghofer erklärte Wilhelm II., man müsse »immer
wieder mit neuem Vertrauen an die Menschheit und an das Leben heran-
treten«, und wandte sich gegen die »Reichsverdrossenheit.« Anschließend
fuhr der Kaiser fort, im Stile einer Homestory die »Art und Weise, wie er
täglich arbeite«, zu schildern, zu erläutern, »wie ihn oft die Fülle und
Schwere der Pflichten und Arbeiten, die auf ihn herabstürmten, schwer
ermüden«, sowie Details aus seinem Familienleben wiederzugeben.30 Selbst
gegenüber dem Monarchen distanzierte Zeitungen wie das Berliner Tageblatt
hoben den individuellen Charakter des Gesprächs lobend hervor. Aller-
——————
in: Annika Mombauer/Wilhelm Deist (Hg.), The Kaiser. New Research on Wilhelm II’s
Role in Imperial Germany, Cambridge 2003, S. 143-175.
28 Anlässlich eines Festmahls für die Provinz Schlesien erklärte Wilhelm II.: »Den Leben-
den gehört die Welt, und der Lebende hat recht. Schwarzseher dulde ich nicht, und wer
sich zur Arbeit nicht eignet, der scheide aus, und wenn er will, suche er sich ein besseres
Land.« Vgl. Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 113ff. Zum Echo der Rede: ebd., S. 148f.
und Friedrich Zipfel, Kritik der Öffentlichkeit an der Person und an der Monarchie
Wilhelms II. bis zum Ausbruch des Weltkrieges, Masch. Diss., Berlin 1952, S. 114. Vgl.
zu den Topoi der Rede auch schon die Rede »Das deutsche Volk in Waffen« (26. Okto-
ber 1905), Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 113.
29 Eine Erläuterung des Ganghofer-Gespräches findet sich bei Johann, Reden [wie Anm.
24], S. 117ff. Das Gespräch wurde zunächst durch die Münchener Neuesten Nachrichten, an-
schließend durch fast alle großen Zeitungen zumindest in Ausschnitten reproduziert.
Die Münsteraner Rede hielt Wilhelm II. anlässlich eines Festmahls für die Provinz West-
falen.
30 Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 116ff.
104 MARTIN KOHLRAUSCH

dings beharrte der Kommentator des Tageblatts darauf, dass Skepsis und
Misstrauen die in der Politik angebrachten Geisteshaltungen seien.31
Derartige Bedenken fehlten vollständig im enormen Presseecho auf die
Münsteraner Rede.32 In der Mitte der Rede, nachdem er darauf hingewie-
sen hatte, dass vor allem durch die Religion die »Einigung aller unserer
Mitbürger« möglich sei, erklärte Wilhelm II.: »Ich habe in Meiner langen
Regierungszeit – es ist jetzt das zwanzigste Jahr, das ich angetreten habe –
mit vielen Menschen zu tun gehabt und habe vieles von ihnen erdulden
müssen, oft unbewußt und leider auch bewußt haben sie Mir bitter weh
getan.«33 Diese Äußerung, an deren »tiefgehende[r] Wirkung«34 und Signifi-
kanz für alle Kommentatoren kein Zweifel bestand, galten als Einladung,
die Persönlichkeit des Kaisers, der schließlich »seinen monarchischen Be-
ruf ganz persönlich« interpretiere, ohne Zurückhaltung zu diskutieren.35
Nach den Enthüllungen des Eulenburg-Skandals über die kaiserliche Um-
gebung drei Monate zuvor konnte die Münsteraner Beichte als Einges-
tändnis eines überforderten Monarchen gelesen werden. Dieser suchte
nun, so die idealisierte Version, den Kontakt zu seinem Volk, von dem er
nicht nur bisher durch unbefugte Kräfte getrennt gewesen war, sondern
dessen Hilfe es ihm erst ermöglicht hatte, den Charakter dieser Kräfte zu
durchschauen.
Offensichtlich war es gerade dieses Thema, das dem emotionalen
Ausbruch des Monarchen Bedeutung zukommen ließ. Man habe »zum
ersten Male den Eindruck gewinnen dürfen, daß der Kaiser, der unter
dem freimütigen, früher undenkbaren Eingeständnis begangener Fehler
jetzt nur noch eine unbefangenere, gerechtere Beurteilung fordert, sich
auf der eisigen Höhe des Thrones einsam fühlte, daß er aus dem schwü-
len Dunstkreise höfischer Schmeichler eine Art Flucht in die Öffentlich-
keit unternahm, um sich dem Herzen der Nation wieder zu nähern, und
daß er jetzt auch den Wert loyalen Widerstandes, die Berechtigung einer
unabhängigen öffentlichen Meinung erkennt und um ihre Anerkennung
wirbt.« Seitdem sei die öffentliche Meinung langsam zugunsten des Kai-

——————
31 Paul Michaelis, Politische Wochenschau, Berliner Tageblatt, 25. November 1906, (Nr.
599).
32 Die Ausschnittssammlung des Reichslandbundes enthält mehr als 100 Artikel zum
Thema. BAL R 8034 II (RLB-Archiv), Bd. 4009, Blatt 98ff.
33 Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 120ff.
34 Die Kaiserrede in Westfalen, in: Deutsches Adelsblatt 25 (1907), S. 465-466.
35 Die Kaiserrede in Münster, in: Die Grenzboten 66 (1907), S. 541-544.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 105

sers umgeschwenkt, hieß es in der Deutung, die die Tägliche Rundschau


ihren Lesern anbot.36
Über die neue Qualität der kaiserlichen Äußerungen waren sich alle
Zeitungen einig. Neu sei ein »Selbstbekenntnis, welches den auf höchster
Warte stehenden Monarchen uns menschlich so nahe bringt, [ …] daß wir
alle uns über solche ergreifende Offenheit nicht genug freuen können«,
hieß es im Tag.37 Dieses Bekenntnis sei »ergreifend, [...] weil es gerade hier
in so eigenartigem Gegensatz steht zu der Auffassung, die sonst wohl aus
den Kaiserreden zu uns drang«.38 Die Bedeutung der Rede liege vor allem
darin, dass »Kaiser Wilhelm in ihr ein fesselndes Bekenntnis ablegt über die
Art wie er seinen Herrscherberuf auffaßt«. Man könne sich des »Eindrucks
nicht erwehren, als sei im Wesen unseres Kaisers eine tiefgründige Wand-
lung« vor sich gegangen. So habe er noch nie zu seinem Volke gesprochen:
»Er bittet förmlich, daß man ihm und seinem ehrlichen Wollen Vertrauen
entgegenbringe, daß man seiner rastlosen Mitarbeit am Wohle des Vater-
landes keine Hindernisse in den Weg lege.«
Durch die überschwänglich positive Deutung eines Einzelfalls wurde
auf ein generell empfundenes Problem aufmerksam gemacht. Das Diskus-
sionsfeld verengte sich immer mehr auf die Person des Monarchen. Gang-
hofer-Gespräch und Münsteraner Rede bieten markante Beispiele für die
Personalisierung und Individualisierung des Monarchiediskurses.39 Die
Reaktionen auf diese monarchischen Wortmeldungen belegen zudem die
zentrale Vorstellung, der Monarch müsse sich der öffentlichen Meinung
unterordnen. Dies geschah in der Reduktion des Monarchen auf das Indi-
viduelle und die damit verbundenen Verstehensmöglichkeiten, aber auch in
regelrechten Demutsgesten, wie sie vom Monarchen etwa nach der Daily-
Telegraph-Affäre erfolgreich eingefordert, in der Münsteraner Rede aber be-
reits vorweggenommen wurden.40
——————
36 F. St. V., Der Kaiser nach zwanzigjähriger Regierung, Tägliche Rundschau, Berlin, 14.
Juni 1908, (Nr. 275). Ebendies behauptete auch der Artikel Zu Kaisers Geburtstag,
Deutsche Tageszeitung, 26. Januar 1908, (Nr. 43).
37 Militäroberpfarrer R. Falke, Der religiöse Standpunkt unseres Kaisers, Der Tag, 6. Sep-
tember 1907.
38 Spectator, Alle sind Menschen wie Du, Der Tag, 31. September 1907.
39 Vgl. Martin Kohlrausch, Der unmännliche Kaiser. Wilhelm II. und die Zerbrechlichkeit
des königlichen Individuums, in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin, Frank-
furt/M. 2002, S. 254-275.
40 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Dirk Tänzler, Zur Geschmacksdiktatur in der Me-
diendemokratie. Ein Traktat über politische Ästhetik, in: Merkur 57 (2003), H. 655,
S. 1025-1033.
106 MARTIN KOHLRAUSCH

Die Beobachtungen aus den Jahren 1906 und 1907 reflektieren den Er-
fahrungsprozess mit einem neuen Phänomen, das spätestens zu diesem
Zeitpunkt als krisenhaft empfunden wird. Es ist nicht ohne Relevanz, dass
sensible Beobachter wie Thomas Mann, Rudolf Borchardt und Otto Julius
Bierbaum in ihren mehr oder weniger verschlüsselten Auseinandersetzungen
mit der wilhelminischen Monarchie zu diesem Zeitpunkt das »Volk« bewusst
durch ein »Publikum« ersetzten.41 Dem Publikum, das sich als solches be-
greift, steht hier der Repräsentant gegenüber.42 Das »reale« Publikum wusste
sehr genau um die Regeln der Darbietung, die der Monarch bot, und die
Zwänge, unter denen er handelte. Die Massenmedien brachten eine riesige
Zahl informierter Kaiserdiskutanten hervor, die über ein gemeinsames, oft
intimes Wissen verfügten und mit einem geteilten Set von Kriterien und
Maßstäben urteilten. Es existierten genaue Vorstellungen über das, was vom
Monarchen erwartet werden konnte.43 Der Monarch wiederum stand diesen
strukturellen Veränderungen nahezu machtlos gegenüber. Seine Positionie-
rung in der Öffentlichkeit steuerte zwischen der Scylla einer nicht mehr län-
ger akzeptierten Zurückgezogenheit und der Charybdis einer Trivialisierung
der »öffentlichen Monarchie«.44 Die Spielregeln des medialen Massenmarktes
forderten eine sichtbare und vernehmbare politische Führungsfigur, die dann
wiederum bevorzugtes Objekt der Kritik wurde.45 Im Phänomen des Rede-
kaisers zeigt sich anschaulich diese Ambivalenz.
——————
41 Vgl. Bierbaum, Kuckuck [wie Anm. 1], S. 590 und 595 und die auffallend ähnliche Sicht
in Thomas Mann, Königliche Hoheit, Berlin 1909, S. 258 sowie die Verwendung des
Begriffs »Publikum« bei Rudolf Borchardt, Der Kaiser, in: Süddeutsche Monatshefte 5
(1908), S. 237-250, hier S. 240, 247.
42 Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur frühneuzeitlichen Monarchie. Vgl. Engels, Kö-
nigsbilder [wie Anm. 7], S. 258.
43 Dieses Problem klingt im Konzept der Theatralität an, scheint hierin in seiner politischen
Relevanz aber nur ungenügend erfasst. Auf den Zusammenhang zwischen dem Aufkom-
men der Massenmedien und der Theatralisierung der Monarchie ist zuletzt immer wieder
verwiesen worden. Zum Konzept der Theatralität: David Blackbourn, Populists and Pat-
ricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 249ff. Zum Zusammenhang
von Theatralität und Benutzung von Symbolen durch Wilhelm II. Thomas A. Kohut,
Wilhelm II and the Germans: A Study in Leadership, New York/Oxford 1991, S. 143.
Zum Begriff des Publikums jetzt Paulmann, Pomp [wie Anm. 12], S. 21, 379.
44 Carl Techet urteilte: »Zerstört haben den Glauben die Fürsten selbst, denn er bedürfe
der Distanz, und diese ist trotz aller Unnahbarkeit, womit sich ein Fürstenhof umgibt,
verloren gegangen [...]. Das Mysterium ist zerstört worden durch die illustrierten Blätter
und den Kinematographen.« Carl Techet, Völker, Vaterländer und Fürsten. Ein Beitrag
zur Entwicklung Europas, München 1913, S. 413ff.
45 Noch 1913, nach unzähligen desillusionierenden Vorstößen Wilhelms II. in die Öffent-
lichkeit, kritisierte der Anthropologe Eugen Fischer diejenigen, die glauben, man müsse
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 107

Die einschlägige Forschung hat immer wieder hervorgehoben, dass die


offensive Selbstdarstellung im Naturell Wilhelms II. lag oder sogar zu sei-
nem Programm einer »persönlichen Monarchie« gehörte. Es liegt aber
nahe, die strukturellen Gründe hierfür zu betonen. Öffentlich formulierte
Erwartungen an den Kaiser als Angelpunkt des politischen Diskurses und
das Ideal eines Monarchen, der den politischen Konsens und politische
Ziele formulierte, drängten nach einer aktiveren Interpretation der Monar-
chie. Das deutsche Beispiel des Zusammenspiels von Monarchie und Me-
dien zeigt also, dass nicht nur die veränderten Medien auf die Monarchie
einwirkten, sondern dass die spezifisch wilhelminische Ausprägung einer
politisch relevanten und durch die Person des Monarchen geprägten Mo-
narchie bedeutsam für ihre Repräsentation in den Medien war. Überspitzt
formuliert ließe sich vom Versuch einer »aktiven Repräsentation« sprechen.
Am Beispiel der gänzlich anders verfassten englischen Monarchie soll die-
ser Befund überprüft werden.

II. Das englische Beispiel


Bekanntlich war monarchische Macht seit 1688 in England faktisch nicht
ausgeschaltet, aber doch außerordentlich wirksam beschränkt. Zwar ver-
deckt die Rede von der parlamentarischen Monarchie, dass auch in Eng-
land Machtresiduen des Monarchen überdauerten und die persönliche In-
terpretation des Herrscheramts durch den Träger der Krone relevant blieb.
Dies ändert aber zunächst nichts am grundlegenden Unterschied zum nicht
nur herrschenden, sondern eben potenziell auch regierenden deutschen
Monarchen.46
David Cannadines mittlerweile klassische Studie zu den erfundenen
Traditionen der englischen Monarchie hat aus dieser Tatsache auf die Spe-
zifizität der Repräsentation der englischen Monarchie geschlossen:
——————
die Macht des Kaisers beschränken, um sie zu erhalten. Solche Ideen entsprächen nicht
den Anforderungen an moderne Herrschaft. Des Kaisers Aussagen über seine Ver-
achtung der öffentlichen Meinung seien daher tatsächlich »ein Appell an die öffentliche
Meinung«. Erst die Popularität der Monarchie sei deren Rechtfertigung: Eugen Fischer,
Des Kaisers Glaube an seinen göttlichen Beruf, in: Die Tat 5 (1913), S. 574.
46 Zum Zusammenhang zwischen Vorhandensein einer Monarchie und dem typisch
englischen evolutionären Wandel: Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitu-
tion, Oxford 1995, S. 2.
108 MARTIN KOHLRAUSCH

»And so, as the real power of the monarchy waned, the way was open for it to be-
come the centre of grand ceremonial ritual once more. In other countries, such as
Germany, Austria and Russia, ritualistic aggrandizement was employed as of old, to
exalt royal influence. In Britain, by contrast, similar ritual was made possible be-
cause of growing royal weakness.«47

Cannadines suggestive Deutung hat in der Zwischenzeit viele weitere Stu-


dien zu monarchischen Ritualen angeregt, aber auch Kritik auf sich gezo-
gen. Dies galt insbesondere für den manipulativen Charakter, den Canna-
dine den neuen oder nicht so neuen monarchischen Ritualen unterstellte.48
Für die hier interessierende Frage nach der medialen Bedingtheit von
Herrschaftsrepräsentation stellt sich jedoch ein weiteres Problem. Nach
Cannadines Deutung ging die Monarchie sukzessive im Ritual auf, in einer
bloßen einseitigen Verkörperung von Tradition und Empire. Eine Funk-
tion als Diskursanker, wie oben für die wilhelminische Monarchie skizziert,
bliebe damit ausgeschlossen. Cannadine berichtet zwar, dass die Monarchie
lange Zeit das beliebteste Objekt von Zeitungskritik war.49 Außerdem be-
stand bis weit in die 1870er Jahre keineswegs ein Konsens darüber, dass
der Einfluss der Monarchie abnahm.50 Dies sind für ihn aber Phänomene
vor der Einhegung der Monarchie im Ritual, die sich während der Herr-
schaft Victorias in den 1870er Jahren endgültig vollzog.
Gemäß Cannadines Interpretation verschwand die Monarchin als kon-
troverses Thema aus den Medien. Die Königin hingegen sei zu einem
neutralisierten Staatsoberhaupt jenseits auch der medialen politischen
Bühne geworden. Für diesen säkularen Trend sieht Cannadine eine zweite
Bedingung als konstitutiv an, nämlich die bereits skizzierte Medienrevolu-
tion. Mit dem Aufkommen der Boulevardpresse seien Nachrichten zu-
nehmend sensationell aufbereitet worden, während die überkommene,
vernunftgeleitete, intellektuelle liberale und regionale Presse von den gro-
ßen nationalen Tageszeitungen überflügelt worden sei. Diese Zeitungen
waren in der Tendenz konservativ, vulgär und auf die Arbeiterklasse ausge-
richtet. Zumindest in der Mainstream-Presse wurde die Monarchie nun
sakrosankt. Kritik an der Institution und der Trägerin der Krone findet

——————
47 David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British Mo-
narchy and the »Invention of Tradition«, c. 1820-1977, in: Eric Hobsbawm/Terence
Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 101-164, hier S. 121.
48 Kuhn, Royalism [wie Anm. 5], S 1-9.
49 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 111.
50 Williams, Royalism [wie Anm. 5], S. 146.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 109

sich fast ausschließlich in der ausländischen Presse.51 Diese Zangenbewe-


gung aus veränderter Verfassungswirklichkeit und einer der Monarchie
günstigen Neuformierung der Medienlandschaft bewirkte, dass die Aus-
prägungen eines auch in Deutschland vorhandenen popular monarchism weit-
aus seltener durch politische Diskussionen über Handlungen der Monar-
chin überlagert wurden. Vielmehr wurden Fragen der Ausgestaltung von
Jubiläen selbst zu in der Presse reflektierten Problemen. Allenfalls Organi-
sations- und Kostenaspekte der Festveranstaltungen erregten noch Kritik.
Hier kommt nun ein Phänomen ins Spiel, das sich so in Deutschland nicht
feststellen lässt. William Kuhn konnte nachweisen, wie »democratic roya-
lists«, das heißt der Monarchie ebenso wie dem Parlament verpflichtete
Männer wie Walter Bagehot oder Lord Esher, konsequent die Monarchie
den Erfordernissen einer Mediengesellschaft anpassten. In England exis-
tierte eine als Berater nur unzureichend gekennzeichnete Gruppe, die so-
wohl die Person des Monarchen als auch die Institution Monarchie strate-
gisch umzuformen wusste und mit ihren Vorschlägen durchdrang.52
Dies gewann für die Darstellung der Monarchie in den Massenmedien
entscheidende Bedeutung. Handlungen der Monarchin beeinflussten selten
die Tagespolitik. Entsprechend weniger auffällig war daher in England die
Personalisierung politischer Fragen in der Herrscherperson. Allerdings
lässt sich hier eine umfangreiche und tief greifende Diskussion der Institu-
tion Monarchie feststellen. Erst die jüngere Forschung hat die Stärke der
republikanischen Bewegung in England hervorgehoben. Die umfangreiche
Publizistik dieser politischen Strömung kritisierte unter dem Stichwort
»Old Corruption« vor allem die Kosten der Monarchie. Es erwies sich, dass
im Parlament diskutierte und in der Presse breit kommentierte Mitgiften
und Anweisungen für zweitrangige Royals medial Gewinn bringend ver-
wertbar waren. Die in der Zivilliste illustrierten Kosten der Monarchie lie-
ßen sich anschaulich deren Leistungen gegenüberstellen und in Kritik an
Privilegien der Geburt – unter dem Stichwort »lottery« – sowie Forderun-
gen nach einer vollständig meritokratischen Gesellschaft einbinden. Insbe-
sondere der Rückzug der Queen aus dem öffentlichen Leben nach dem
Tod Alberts führte zur Behauptung, sie erfülle keine der Pflichten, für die
sie »bezahlt« werde.
Das Beispiel Victorias zeigt, wie bestimmte Bilder der Herrscherperson
als twin representations nebeneinander existieren konnten. In einer Art dual
——————
51 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 122f.
52 Kuhn, Royalism [wie Anm. 5], S. 142.
110 MARTIN KOHLRAUSCH

identity wurde Victoria gleichzeitig als vorbildliche Mutter und Witwe, aber
auch problematische Königin präsentiert, die ihren Pflichten nicht nach-
kam und ein Verhältnis mit ihrem Kammerdiener John Brown unterhielt.53
Die Geburt neuer Kinder wurde sentimental begrüßt, zu viele Nachkom-
men boten aber Anlass für heftige Kritik der Kosten der königlichen Fa-
milie. Besonders der Fall des Kronprinzen, des notorisch skandalträchtigen
Edward, zeigt, dass Kritik sehr fein abwägen und differenzieren konnte.
Die im Rückblick – und im Vergleich mit Wilhelm II. – so auffällige milde
Bewertung Victorias in der veröffentlichten Meinung hat schließlich ihre
Ursache auch in einer frühen und erfolgreichen Feminisierung der Monar-
chie, die die Zurückdrängung der Monarchin aus dem politischen Raum
unterstütze.54
Hier zeigt sich, dass keineswegs die englische Monarchie kongenial auf
die Massenmedien reagierte, sondern auch in England, freilich anders als in
Deutschland geartete, Defizite registriert wurden. Walter Bagehots theore-
tischer Entwurf einer zurückgezogenen Monarchie bot erst im Rückblick
eine konsensuale Blaupause für die praktische Politik. Als Prominentester –
keineswegs als Einziger – forderte Benjamin Disraeli einen persönlicheren
Charakter der Monarchie. Der Premier schwärmte von einer direkten Ver-
bindung zwischen öffentlicher Meinung und Monarchie und behauptete:
»The proper leader of the people is the individual who sits upon the
throne.«55 Ganz ähnlich wie selbst liberale Kommentatoren im wilhelmini-
schen Deutschland sah Disraeli in einer direkten Kommunikation von Me-
dien, die die Anliegen der bisher nicht repräsentierten Gruppen übernah-
men, und der Monarchie eine gegenüber hergebrachten Repräsentations-
mechanismen fortschrittlichere und überlegene Variante. Dass in diesem
Schema die Monarchie keine zurückgezogene bleiben konnte, verstand sich
von selbst. Die Pläne und Visionen Disraelis, die so gut in eine neue Welt
der Massenmedien zu passen schienen, blieben allerdings im Ansatz ste-
cken. Die Advokaten einer begrenzten Monarchie schafften es, die Pläne
als etwas genuin Unenglisches und gegen die englische politische Tradition
Verstoßendes zu entlarven. Konfrontiert mit leicht abrufbaren Ressenti-
——————
53 Taylor, Crown [wie Anm. 5], S. 46f.
54 Dorothy Thompson, Queen Victoria: Gender and Power, London 1990; Bernd Weis-
brod, Die theatralische Monarchie. Victoria als Family Queen, in: Regina Schulte (Hg.),
Der Körper der Königin, Frankfurt/M. 2002, S. 236-253.
55 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 125. Vgl. jetzt auch: Andreas Rödder, Die radikale
Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländli-
cher Tradition und industrieller Moderne (1846-1868), München 2002.
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ments gegen die deutsche Dynastie auf dem Thron verfing sich Disraeli in
einer massenmedialen Logik, die er eigentlich für seine Zwecke nutzen
wollte. Selbst Bagehot musste feststellen: »To be invisible is to be forgot-
ten. [...] To be a symbol, and an effective symbol, you must be vividly and
often seen.«56

III. Medienskandale – Monarchieskandale


Nach dem bisher Gesagten überwiegt der Eindruck einer Erfolgsge-
schichte der zwei Wege zur Medienmonarchie. Während sich in Deutsch-
land der politische Monarch offenbar erfolgreich als Diskursanker und
Projektionsfläche etablieren konnte, gelang es der englischen Monarchie
durch Selbstaufgabe, zum Hauptlieferanten der Sentimentalitäten fordern-
den Massenmedien aufzusteigen. Durch den Blick auf Medienskandale,
also Skandale, die Anlass und Verlauf medialer Logik verdanken und nicht
per se existieren und die wiederum auf den Monarchen fokussierten, soll
nun der Blick auf die andere Seite der Medaille monarchischer Repräsenta-
tion im Medienzeitalter gelenkt werden, auf die Risiken und auch Aporien
der Medienmonarchie. Skandale sollen hier als Störung gelingender Reprä-
sentation verstanden werden.
Als erster reiner Medienskandal der wilhelminischen Monarchie – und
der Monarchie in Deutschland überhaupt – kann die so genannte »Caligula-
Affäre« gelten. Hierbei handelt es sich um den Skandal, den eine Broschüre
des Historikers Ludwig Quidde, formal über den römischen Kaiser, tatsäch-
lich und leicht identifizierbar allerdings über Wilhelm II., verursachte. Das
Pamphlet verkaufte sich in einer Auflage von 200 000 so gut wie keine an-
dere politische Schrift des Kaiserreichs, charakteristischerweise allerdings
erst, als es die konservative Kreuzzeitung übernommen hatte, durch eine nur
vordergründig gehässige Besprechung auf die Schrift aufmerksam zu machen
und en passant die diskreditierenden Stellen des Inhalts zu referieren.57
——————
56 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 119.
57 Zur Affäre vgl. die Einleitung von Hans-Ulrich Wehler in: ders. (Hg.), Ludwig Quidde,
Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, Frankfurt/M. 1977, S. 7-18; Gisela
Brude-Firnau, Die literarische Deutung Kaiser Wilhelms II. zwischen 1889 und 1989,
Heidelberg 1997, S. 32ff. sowie die Schilderungen zum »Tathergang« in Utz-Friedbert
Taube, Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in
Deutschland, München 1963, S. 3ff. Weiterführende Informationen zu Hintergrund und
112 MARTIN KOHLRAUSCH

Die merkwürdige Affäre war in der Tat von Anfang bis Ende ein reines
Medienereignis, das allerdings ohne den Monarchen im Hintergrund un-
denkbar war. Der Skandal entstand ohne konkreten Anlass in der Presse
und entfaltete seine eigentümliche, neuartige Wirkung gerade aus der The-
matisierung dieser Tatsache. Es gehört zu den generellen Eigenarten des
Medienskandals, dass dieser einen hohen Grad an Homogenität in der Be-
handlung des fraglichen Themas bewirkt. Was eine Zeitung brachte, nah-
men andere Blätter umgehend auf. Durch die Wiedergabe in der Presse er-
höhte sich wiederum die Bedeutung des Falls und dieser erschien in noch
höherem Maße berichtens- und kommentierenswert. Dieser Spiegelungsef-
fekt hob den Caligula nicht nur erst ins öffentliche Bewusstsein und machte
ihn zum Ereignis; er garantierte auch die qualitative Veränderung der
Kommentierung. Dies galt insofern, als sich die einschlägige Diskussion
für kurze Zeit extrem verdichtete und intensivierte und hierdurch erst ge-
meinsam geteilte Referenzpunkte schuf.
Die bisher eher als kuriose Marginalie behandelte Caligula-Affäre führte
zum ersten Mal die Dynamik des monarchischen Medienskandals bezie-
hungsweise medialen Monarchieskandals vor. Innerhalb kürzester Zeit er-
schienen mindestens 15 Pamphlete. In der Affäre wurde offensichtlich die
Diskrepanz zwischen Wissen um die offensichtliche Überforderung des
Monarchen und deren gleichzeitiger Akzeptanz zum ersten Mal öffentlich
verhandelt – also im Kern ein Versagen des Monarchen als Repräsenta-
tionsinstanz. Sprachregelungen, die auf die Individualität und charakterliche
Eigenart des Monarchen abstellten, indizierten das Problem einer gewuss-
ten Kalamität eher als dass sie es verdeckten. Sie verwiesen zudem auf ein
gesteigertes Interesse am Individuum Monarch. Sehr deutlich demonst-
rierte bereits die Caligula-Affäre die Ambivalenz von Skandalen für die
Monarchie. Zwar bestätigte auch die entgrenzte Diskussion die grundle-
genden Konventionen des Sprechens über den Monarchen. Allerdings
zeigt der Skandal auch, dass diese zwar noch beachtet wurden, aber zu-
nehmend der Monarch selbst in den Mittelpunkt rückte. Die Institution
Monarchie selbst blieb allerdings außerhalb der Kritik.
Noch schärfer offenbart sich dieser Zusammenhang im Eulenburg-
Skandal von 1907/08, zumal wenn man diesen als Teil eines Doppelskan-
dals unter Einschluss der Daily-Telegraph-Affäre betrachtet. Auch dieser
——————
Rezeption des Caligula bieten jetzt: Karl Holl/Hans Kloft/Gerd Fesser (Hg.), Caligula –
Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am
Beispiel des »Caligula« von Ludwig Quidde, Bremen 2001.
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Skandal um den vermeintlich homosexuellen Freund und Berater Will-


helms II. Philipp Eulenburg und den ebenfalls vermeintlichen Aufklärer
Maximilian Harden folgte ausschließlich der Logik der Medien. Begünstigt
durch 1907 stark gelockerte, darüber hinaus in der praktischen Anwendung
obsolet werdende Majestätsbeleidigungsgesetze boten die einschlägigen
Gerichtsprozesse um Verleumdung und Meineid Rahmen und Aufhänger
für eine dauerhafte, begrifflich konsistente, immer radikalere und fokus-
sierte Diskussion des Monarchen. Allein das Berliner Tageblatt brachte min-
destens 150 kommentierende Artikel, die sich mit dem Skandal befassten.
Selbst wenn man den sensationellen Aspekt in Rechnung stellt, bleibt als
ausschlaggebendes, Interesse sicherndes und Kommentatoren unterschied-
licher Formate und unterschiedlicher politischer Richtungen verbindendes
Element der politische Gehalt des monarchischen Skandals.58
Eine mediale Öffentlichkeit, die sich gegenüber dem Monarchen kon-
stituierte, gehörte zu den wesentlichen Erfahrungen der Presse aus den
Medienskandalen mit dem Monarchen im Zentrum. Bei Fortdauer »na-
turgegebener« Unterschiede, bedingt durch die politische Position, lässt
sich insbesondere in den Kategorien der Argumentation eine inhaltliche
Angleichung des Sprechens über den Monarchen konstatieren. Wenn es
1894 die Kreuzzeitung übernahm, den Caligula-Skandal vom Zaun zu bre-
chen, und ein Jahr später Heinrich Pudor, einer der Aktivisten der Nu-
distenbewegung, für den Kaiser in die Bresche zu springen, wird dieses
Phänomen offensichtlich. Während in der Caligula-Affäre die parteipoli-
tische Verortung, trotz offensichtlicher Erosionserscheinungen, die
Kommentare noch bestimmte, gilt dies für die Eulenburg-Affäre bereits
nicht mehr. Die Daily-Telegraph-Affäre brachte einen weiteren Anglei-
chungsschub. Diese Transformation war nur durch ein verbindendes po-
litisches Top-Thema möglich, das in der politischen Landschaft des Kai-
serreichs nur der Monarch sein konnte. In der Verdichtung des Mo-
narchiediskurses im Skandal, in der sich die Presse und die Pamphletisten
als einheitlich handelnde Gruppe erfuhren, bildete sich das oben skiz-
zierte Publikum heraus.59
——————
58 Die solideste und ausführlichste Darstellung des Skandals liefert: Karsten Hecht, Die
Harden-Prozesse – Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich, Jur. Diss.,
München 1997, die überzeugendste Interpretation: Isabel V. Hull, The Entourage of
Kaiser Wilhelm II 1888-1918, Cambridge 1982, S. 109ff.
59 Vgl. die Studien zum Thema von Terence F. Cole, The Daily-Telegraph affair, in: John
C. G. Röhl/Nicolaus Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. New Interpretations, Lon-
don/New York 1982, S. 249-268 und jetzt vor allem: Peter Winzen, Das Kaiserreich am
114 MARTIN KOHLRAUSCH

Die Skandale bezeugen aber auch den angesprochenen, massenmedial


bedingten Trend hin zu immer größerer Intimität in der Darstellung von
Politikern. Politiker wurden zunehmend aufgrund persönlicher Qualitäten
anstelle politischer Leistungen beurteilt. Ein Kennzeichen dieser Verschie-
bung war die Präsentation politischer Führer als Menschen, die Aspekte
ihres Charakters bewusst in die Öffentlichkeit stellten. Bezeichnenderweise
lassen sich Belege hierfür in den indirekten Reaktionen Wilhelms II. auf
den Eulenburg-Skandal deutlich ausmachen. In den außerordentlich wohl-
wollenden Reaktionen auf die Münsteraner Rede, die das integre Indivi-
duum anstelle des schweigend übergangenen politischen Versagers hervor-
hoben, findet diese Beobachtung eine Bestätigung. Die Vermenschlichung,
die »mediated intimacy« (Thompson) des Monarchen bot erhebliche Chan-
cen und Risiken für Letzteren. Auf der Habenseite stand die Möglichkeit,
das Volk direkt anzusprechen und als ein Individuum zu erscheinen, das
Empathie oder Sympathie hervorrufen konnte. Auf der Sollseite stand hin-
gegen das, was in den Skandalen thematisiert wurde – die persönlichen
Qualitäten Wilhelms II. Wie ein Negativ veranschaulichen die Skandale das
Scheitern der extremen Erwartungen in den Monarchen. Dies gilt weniger,
wie immer wieder zu lesen, für die Einsicht in die politische Inkompetenz
des Herrschers als vielmehr für das Scheitern des Modells der aktiven Rep-
räsentation. Die Skandale der Regierung Wilhelms II. können als unmittel-
bare Folge der nicht erbrachten Kommunikationsleistungen des Monar-
chen gesehen werden. Ein Skandal wie der um Eulenburg, in dem es im
Kern um die Information des Monarchen ging, unterstreicht dies deutlich.
Während die Beispiele skandalöser Ereignisse für die wilhelminische
Monarchie leicht fortgeschrieben werden könnten – man denke an die
Kladderadatsch-Affäre, die Kotze-Affäre oder an die unzähligen öffentli-
chen Ärgernisse, die durch allzu markante Reden Wilhelms II. ausgelöst
wurden, stellt sich dies für die englische Monarchie ungleich schwieriger
dar – zumindest für die viktorianische Zeit. Noch im ersten Drittel des
19. Jahrhunderts, zumal während der hartnäckigen Queen-Caroline-Affäre,
war die englische Monarchie außerordentlich skandalanfällig. Allerdings
handelte es sich hier nicht um Medienskandale des beschriebenen Typs.
In der viktorianischen Epoche sorgten einzelne Royals immer wieder für
skandalöses Aufsehen. Insbesondere Prinz Albert Victor, der Sohn des
Kronprinzen, brachte die Herrscherfamilie diverse Male in delikaten Kon-
——————
Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung
und Dokumentation, Stuttgart 2002.
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texten in die Nachrichten. Bezeichnend ist die Rolle der Royals in den »West-
end scandals« des Jahres 1889. Den eigentlichen Skandal konstituierte weni-
ger die Aufdeckung eines Homosexuellenbordells im Londoner Westend als
die Tatsache, dass prominente Kunden der Anklage entgehen konnten. Dies
hatte, so die Anklage der North London Press, seine Ursache darin, dass auch
Albert Victor in dem fraglichen Etablissement in der Cleveland Street ver-
kehrt habe und daher Ermittlungen unterbunden wurden.60 Zudem stand
mit Lord Arthur Somerset der Inhaber eines Hofamtes des Kronprinzen im
Zentrum der Verdächtigungen. Hier zeigte sich allerdings, dass die Kombi-
nation aus strengen gesetzlichen Vorkehrungen gegen Beleidigungen und der
Druck einflussreicher Personen die Presse dazu brachte, die Angelegenheit
fallen zu lassen, bevor eine Eskalation wie im Eulenburg-Skandal eintrat.61
Dies gilt auch für das Zusammenspiel von Krone und hohen Regierungsbe-
amten im »Mordaunt-Case«, jenem Scheidungsprozess, der den Kronprinzen
in den Zeugenstand führte.62 Wie Michael Foldy jüngst gezeigt hat, muss
auch der Jahrhundertskandal um Oscar Wilde als ein Beispiel für geschickte
Lenkungsstrategien der Krone und ihrer Berater gelten.63
Weniger dramatisch als die seines Sohnes, dafür aber bis in Gerichts-
protokolle hinein aktenkundig, waren die vielfältigen unstandesgemäßen
Aktivitäten des Vaters von Albert Victor. Der spätere Edward VII. sorgte
durch eine Reihe von Affären, daraus resultierenden Auftritten in Schei-
dungsprozessen, eine stark ausgeprägte Spielleidenschaft und notorische
Geldsorgen für kontinuierliche Aufmerksamkeit.64 Besonders delikat war
die Tranby-Croft-Affäre, auch bekannt als Baccarat-Scandal.65 In dem
——————
60 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 55f.; Stanley Weintraub, The Importance of Being
Edward. King in Waiting 1841-1901, London 2000, S. 314f. Generell: H. Montgomery
Hyde, The Cleveland Street Scandal, New York 1976. Bereits ein Jahr zuvor war der als
psychisch labil geltende Prinz gerüchteweise als einer der möglichen Täter im Jack-the-
Ripper-Fall im Gespräch.
61 Diese Interpretation wird bestätigt durch die Tatsache, dass die Presse in den USA
wesentlich offener und polemischer auf die Affären einging. Vgl. Weintraub, Edward
[wie Anm. 60], S. 315.
62 Zum Mordaunt-Fall und dem sensationellen Auftritt des zukünftigen Edward VII. vor
Gericht vgl. H. Montgomery Hyde, A Tangled Web. Sex Scandals in British Politics and
Society, London 1986, S. 97f.
63 Michael S. Foldy, The Trials of Oscar Wilde. Deviance, Morality, and Late-Victorian
Society, New Haven/London 1997, S. 21ff.
64 Vgl. Hyde, Web [wie Anm. 52], 97f. Generell: Raymond Lamont-Brown, Edward VII’s
Last Loves: Alice Keppel and Agnes Keyser, Phoenix Mill 2001.
65 Die wichtigste Darstellung zum Tranby-Croft-Skandal ist: Michael Havers/Edward
Grayson/Peter Shankland, The Royal Baccarat Scandal, London 1977.
116 MARTIN KOHLRAUSCH

nordenglischen Ort hatte sich der Thronfolger erneut an dem verbotenen


Kartenspiel beteiligt. Als die Spielabende aus anderen Gründen gerichts-
notorisch wurden, konnte sich auch der Kronprinz nicht entziehen. Im
Zuge der öffentlich viel beachteten Verhandlungen wurde sogar der Ver-
zicht Edwards auf die Thronfolge gefordert.66
Zwar trugen derartige Eskapaden deutlich skandalöse Züge, die nicht
zuletzt daraus resultierten, dass ein wichtiges Mitglied der Royals involviert
war. In deutlichem Kontrast zum deutschen Beispiel fand hier allerdings
kaum eine politische Aufladung statt. Dies lag nicht nur im per se unpoliti-
schen Charakter von Spiel- und Sexaffären begründet, sondern auch in der
allseits bekannten Tatsache, dass der Kronprinz von den Regierungsge-
schäften weitgehend ferngehalten wurde. Aber auch die Queen war seit
den 1870er Jahren für die Öffentlichkeit kein im engeren Sinne politischer
Faktor mehr. Allenfalls an die in England nahezu dauerpräsente Debatte
um die Kosten der Monarchie ließ sich die Erregung um die Fehltritte der
hochgestellten »Drohnen« anschließen.
Als politischer Skandal mit direkter Beteiligung der Monarchie kann im
fraglichen Zeitraum lediglich ein Ereignis gleich zu Beginn der Herrschaft
Victorias gelten. Seit ihrer Thronbesteigung verschärften sich die Auseinan-
dersetzungen um die Gunst der Krone zwischen Tories und Whigs deutlich.
Die Irritationen resultierten vor allem aus der Tatsache, dass die neue Königin
ganz offensichtlich zunächst Letztere bevorzugte und so die angestammten
Lordsiegelbewahrer der Monarchie, die Tories, in argumentative Schwierig-
keiten brachte. Die »Bedchamber-crisis« brachte 1839 den schwelenden
Konflikt, der nicht nur die Interessen der beiden Parteiströmungen, sondern
das Selbstverständnis der Monarchie generell betraf, zum Ausbruch.67
Während es vordergründig nur um die politische Bestätigung des po-
tenziellen neuen Premierministers Robert Peel ging, der zur Stärkung sei-
ner Position eine konservative Umbesetzung des Haushalts der Königin
anstrebte, deutet das enorme Presseecho auf eine grundsätzliche Proble-
matik. Auch in England stellte sich die Frage, wer die Krone beeinflusste
und informierte angesichts einer medial mobilisierten Öffentlichkeit ver-
schärft, als gleichzeitig eine der Hofdamen, Lady Flora Hastings, wegen
einer vermeintlichen Schwangerschaft zum Skandalopfer wurde.68 Dass

——————
66 Weintraub, Edward [wie Anm. 60], S. 322f.
67 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 83ff.
68 Zur Lady-Flora-Affäre vgl. Elizabeth Longford, Victoria R.I, London 1983, S. 117-131
u. S. 150ff.
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derartige höfische Alltagsgeschichten ins Blickfeld einer breiten Öffent-


lichkeit gerieten, zeigt, dass hier mehr verhandelt wurde als die privaten
Fährnisse der Frauen um die Königin. Der Skandal berührte die Krone in-
sofern direkt, als die Queen sich als äußerst hartherzig und letztendlich un-
gerecht präsentierte. Wichtiger aber war, dass die Tory-Presse den Skandal
zum Anlass nahm, den Whig-Einfluss auf die Umgebung der Königin zu
kritisieren. In Unterstützung Peels insistierten die konservativen Zeitungen,
dass die Umgebung einer regierenden Königin anders als bei einer »queen
consort« durchaus eine öffentliche und staatliche Institution und keinesfalls
eine private darstelle. Die konservative Presse evozierte das Schreckge-
spenst einer »petticoat camarilla«69 und verwies damit nicht nur auf notori-
sche Präzedenzfälle in Spanien und Portugal, sondern vor allem auf die
politische Sprengkraft, die die Institution Monarchie auch in Großbritan-
nien noch besaß.
Bedchamber-crisis und Lady-Flora-Skandal veranschaulichen, dass drei
Kernaspekte der öffentlichen Bewertung der Monarchie in England gene-
rell so sehr ein Thema waren wie in Deutschland: Erstens: Das Dogma des
unparteiischen Monarchen blieb zumindest als rhetorische Figur immer
intakt. Zweitens: Die den Hofdamen zugeschriebene Bedeutung unter-
streicht zudem die Wichtigkeit, die auch in England der Information der
Königin zugeschrieben wurde. Drittens: Insofern als im Hintergrund des
Skandals die Verhinderung der Machtübernahme einer konservativen Re-
gierung stand, ging es auch um die Frage, ob Parlament oder Monarchin
über die entscheidende Machtposition verfügten.
Dieser Befund relativiert die – zweifellos gegebene – Bedeutung ver-
fassungsrechtlicher Unterschiede für die monarchische Repräsentation.
Als ausschlaggebend erscheint vielmehr die spezifisch persönliche Inter-
pretation der Monarchie. Hier ist sicherlich zu berücksichtigen, dass Wil-
helm II. einen wesentlich größeren Spielraum für persönliche Akzentset-
zungen besaß. Ein Blick auf den formal nicht minder mächtigen, als
Angelpunkt von Mediendiskussionen aber kaum präsenten Wilhelm I.
unterstreicht diese Annahme.70 Im Fall Victorias hingegen fällt auf, dass
die Queen nach ihrem Rückzug in Folge des frühen Todes Alberts als
öffentlich reflektierter politischer Faktor nahezu keine Rolle mehr spielte.
Die Diskussion verlagerte sich von der persönlichen Ebene auf die in-
stitutionelle. Die Monarchie geriet nun zunehmend in eine fiskalpoliti-
——————
69 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 86.
70 Geisthövel, Monarchen [wie Anm. 12], S. 59-80.
118 MARTIN KOHLRAUSCH

sche Diskussion angesichts der immer neuen Bewilligungen für die un-
zähligen Nachkommen der Queen im Rahmen der Zivilliste. Victorias
Unsichtbarkeit wurde zum Politikum. Allerdings gingen diese Attacken
gegen eine Lücke buchstäblich ins Leere und eigneten sich keineswegs
für eine Skandalisierung.71 Im Kontext eines antiverschwenderischen
publizistischen Dauerfeuers konnten sich selbst anhaltende Gerüchte
über die intime Beziehung der Königin zu ihrem Kammerdiener John
Brown nie zu einem öffentlichen Skandal entfalten. Die teilweise durch-
aus scharfen Angriffe auf »Mrs. Brown« blieben im Wesentlichen auf das
offen republikanische Spektrum der Presse beschränkt. Eine personali-
sierte, zugespitzte Debatte nach deutschem Muster, die ein genuines
Produkt der Massenmedien gewesen wäre, war dies nicht. In dieser Hin-
sicht entsprach die mediale Repräsentation der englischen Monarchie
eher den Standards des 18. denn denen des 19. Jahrhunderts.

IV. Zusammenfassung
Für die deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts ebenso wie für die
herrschende Meinung unter den Historikern galt und gilt die Monarchie
viktorianischer Ausprägung gewissermaßen als benchmark, an der sich die
Konkurrenz auf dem Kontinent messen lassen muss. Im Fall der wilhel-
minischen Monarchie scheint ausgemacht, dass das Ziel verfehlt wurde.
Blickt man allerdings, wie hier geschehen, auf die mediale Repräsentation
der Monarchie und die Funktion derselben, dann zeigt sich, dass Fort-
und Rückschrittlichkeit keineswegs so eindeutig zuzuweisen sind, wie dies
für die verfassungstheoretische Einordnung der beiden Monarchiemo-
delle der Fall ist.
Will man ein Fazit aus der Betrachtung des äußerst komplexen Ver-
hältnisses von Monarchie und Massenmedien unter deutschem und engli-
schem Blickwinkel ziehen, ist zunächst generell festzustellen, dass die
Monarchie durch die Massenmedien keineswegs an Bedeutung verlor. Im
Gegenteil ließe sich von einer Renaissance der Monarchie unter massen-
medialen Bedingungen sprechen. Zumal in Deutschland war die Diskus-
——————
71 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 32. Zur Schwierigkeit für die republikanische Bewe-
gung, die abwesende Königin politisch zu instrumentalisieren, vgl. Taylor, Crown [wie
Anm. 5], 82f.
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sion des Monarchen umfangreicher, dichter und variantenreicher, als zu-


nächst vermutet werden könnte. Weit besser als dies für die unübersicht-
lichen demokratischen Institutionen der Fall war, entsprach der Monarch
als »konkrete Abstraktion« (Siegfried Kaehler) den originären Bedürfnis-
sen der Massenmedien nach personalisierter und klischeehafter Darstel-
lung komplexer politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Eine
medial mobilisierte Gesellschaft suchte eine komplexitätsreduzierende
Projektionsfläche und fand diese im Monarchen. Sogar für das linke
Pressespektrum besaß das Thema eine hohe Verbindlichkeit. Die Faszi-
nation personaler Integration verband sich unmittelbar mit medial be-
dingten Plakativitätsanforderungen. Dieser Wirkungszusammenhang er-
möglichte ein mediales Comeback der Monarchie, das allerdings weder
die strukturelle Ausformung politischer Berichterstattung in den Mas-
senmedien unberührt ließ noch die Institution Monarchie selbst. Eine ef-
fizientere Diskussion, ausgelöst durch Stichworte, die der Monarch in
den medialen Raum warf, darf jedoch nicht mit einer rationaleren Dis-
kussion verwechselt werden. Wilhelm II. war nicht nur deshalb für die
Medien ein äußerst interessantes Phänomen, weil er ein vermeintlicher
Medienkaiser war, sondern gerade weil er, ganz anders als sein englisches
Pendant, als politischer Monarch auftrat. Seine provozierenden politi-
schen Verlautbarungen, farbig und zugespitzt präsentiert, entsprachen
den massenmedialen Anforderungen.
Dagegen traf die traditionell stärkere Betonung des verfassungsrechtli-
chen Platzes des Monarchen gegenüber dessen Charakter in England we-
niger gut massenmediale Bedürfnisse. Die Reduktion der Angriffsfläche,
die ihre Ursachen in den Verfassungskämpfen des 17. und der Regierungs-
praxis des 18. Jahrhunderts hatte, zahlte sich zwar langfristig auch im 19.
Jahrhundert aus. Eine Personalisierung politischer Fragen existierte in
England lediglich in schwach ausgeprägten Ansätzen. Aber auch für Groß-
britannien gilt, dass die Bedeutung der persönlichen Qualifikationen des
Kronenträgers eher zu- als abnahm. Mit ihrem breiten Spektrum von An-
knüpfungspunkten für ähnliche, aber immer wieder modifizierte human inte-
rest stories kam die traditionelle Institution dem modernen massenmedialen
Bedürfnis nach Emotionalisierung und Personalisierung von politischen
Themen entgegen. Einem popular monarchism genügte die Tatsache, dass die
Königin eine solche war, als Grundlage einer umfangreichen und regelmä-
ßigen Darstellung. Dieser Sentimentalmonarchismus scheint in England
weitaus professioneller als in Deutschland funktioniert zu haben.
120 MARTIN KOHLRAUSCH

Die Asymmetrien im Verhältnis von Monarchie und Massenmedien


spiegeln sich in monarchischen Skandalen. In England dominierten Bei-
spiele für Skandale und Affären, die direkt die Person des Monarchen be-
trafen und ausschließlich in den Bereich des Persönlichen gehörten. Ver-
gleichbares lässt sich in dieser Form in Deutschland, zumindest in
Preußen, nicht feststellen. Hier finden sich hingegen zahlreiche im engeren
Sinne politische Skandale. Diese Tatsache reflektiert nicht nur den promi-
nenteren Platz der Monarchie im Verfassungsgefüge, sondern auch und
gerade die Spezifika der Herrschaftsauffassung Wilhelms II. Ein Grund-
trend, den die Skandale aufnahmen, auf dem sie gewissermaßen beruhten
und den sie gleichzeitig verstärkten, war die Personalisierung politischer
Fragen in der Person des Monarchen.72 In Deutschland wurde Kritik eher
an der Person, weniger an der Institution geübt, in England war es umge-
kehrt. Skandale ließen aber auch das offensichtlich faszinierende Modell
eines direkten Austausches zwischen Monarch und Öffentlichkeit als ge-
nuin modernes Kommunikationsmodell durchsetzbar erscheinen bzw.
thematisierten Defizite in diesem Bereich.73
Die deutsche monarchische Repräsentation wurde durch die zuneh-
mend mediale Verfasstheit des Kommunikationsraums einschneidender
verändert als ihr englisches Pendant. Die herausragenden Monarchie-
skandale in Deutschland lassen sich auch als ein erfolgreicher kommuni-
kativer Austausch über die monarchische Repräsentation lesen. Hierfür
stehen die Versöhnungsgesten des Monarchen im Anschluss an die Affä-
ren um Eulenburg und um das Daily-Telegraph-Interview ebenso wie die
kontinuierliche Forderung nach einer vertieften Kommunikation zwi-
schen der medial verfassten öffentlichen Meinung und dem Monarchen.
Die Skandale thematisieren und belegen die extreme Wichtigkeit der
——————
72 Dies deckt sich mit dem generellen Befund von Hall: »A feature of the general develop-
ment of the German press in the 1890s was its central importance in the making and
breaking of the reputations of public men. Very often it was a newspaper article which
brought to public consciousness details of a personal failing, and a general technique
employed by socialist and non-socialist journals alike was the sustained campaign of at-
tack on an individual and on the organisation or set of principles with which he was
publicly identified.« Alex Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press
and Wilhelmine Germany 1890-1914, Cambridge 1977, S. 144. Vgl. auch generell: Frank
Bösch, Das Private wird politisch: Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien
des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004),
S. 781-801.
73 Zur Prägekraft des politischen Systems für die Ausformung der Medienlandschaft vgl.
Requate, Öffentlichkeit [wie Anm. 4], S. 16.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 121

kommunikativen Offenheit der Monarchie. Dies reflektiert eine spezifisch


deutsche Funktionalisierung monarchischer Repräsentation im Sinne eines
Kommunikationsankers.
Es würde allerdings in die Irre führen, für diese Tradition Gründe le-
diglich in der besonderen Verfassungsposition des deutschen Monarchen
zu suchen.74 Die öffentlich als stark und politisch präsentierte Monarchie
war auch das Produkt einer Wechselbeziehung mit den Medien. In Eng-
land waren die Foren politischer Meinungsbildung seit langem jenseits der
Monarchie etabliert.75 Forderungen nach vertiefter Kommunikation zwi-
schen Monarch und Volk scheinen in England keine wichtige Rolle ge-
spielt zu haben. Ebenso wurde die Beraterfrage nur in Ausnahmefällen
diskutiert. Wohl am deutlichsten scheinen Unterschiede in der medialen
monarchischen Repräsentation in der Verschiedenheit monarchischer Öf-
fentlichkeitsarbeit auf. Deren Etablierung glückte wie die verfassungspoliti-
sche Integration des Monarchen auf der Insel besser. Drei Faktoren kam
dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Massenmedien etablierten sich in
England weniger abrupt als in Deutschland, Victoria war, da passiv, ein
wesentlich einfacher zu handhabendes Objekt monarchischer Öffentlich-
keitsarbeit als Wilhelm II. und schließlich existierte eine einflussreiche und
kompetente Gruppe praxisorientierter Vordenker, die in der Lage waren,
notwendige Transformationsleistungen zu konzipieren und durchzusetzen.
Während das erste Phänomen in seinem Einfluss schwer zu gewichten
und das zweite weitgehend zufällig ist, verdient der dritte Aspekt auch un-
ter strukturellen Gesichtspunkten Aufmerksamkeit. Trotz der herausra-
genden Bedeutung des monarchischen Faktors in Deutschland etablierte
sich hier keine Gruppe analog zu Männern wie Bagehot oder Lord Esher
in England, die zwischen der Monarchie und den neuen medialen Anfor-
derungen zu vermitteln in der Lage waren. Effektive und professionelle
Pressepolitik wurde für den Reichskanzler und das Auswärtige Amt und
vor allem für das Reichsmarineamt gemacht, niemals direkt für den Mo-
narchen. Akademische Vordenker und Analytiker der Monarchie wilhelmi-
nischen Stils wie Paul Laband oder Otto Hintze hatten nahezu keinen Zu-
gang zu Hofkreisen. Für die einflussreichen Akteure aus der unmittelbaren
Umgebung des Monarchen hingegen scheint die Monarchie so selbstver-
ständlich gewesen zu sein, dass deren Zukunftsfähigkeit nicht überdacht
——————
74 Zur verfassungsrechtlichen Stellung des deutschen Kaisers im europäischen Vergleich
vgl. Kirsch, Monarch [wie Anm. 5], S. 386f.
75 Vgl. Wienfort, Monarchie [wie Anm. 5], S. 207f.
122 MARTIN KOHLRAUSCH

werden musste. Monarchische Repräsentation unter massenmedialen Be-


dingungen stand für beide Gruppen nicht im Zentrum ihrer Überlegungen.
Das faktische Ausbleiben einer skandalösen Thematisierung der Monarchie
in England lässt sich insofern auch als Ausdruck einer höheren Sensibilität
der britischen Eliten und eines offenbar vorhandenen Konsens über deren
Repräsentationsaufgaben lesen, der so in Deutschland fehlte.76 Versuche,
diesen über die Skandale herzustellen, erwiesen sich als zum Scheitern ver-
urteilt.

——————
76 Es passt in dieses Bild einer gut funktionierenden informellen Pressesteuerung in Eng-
land, dass, während Wilhelm II. Großbritannien besuchte, er grundsätzlich nicht negativ
karikiert wurde. Vgl. Reinermann, Kaiser [wie Anm. 5], S. 384ff.; Rebentisch, Gesichter
[wie Anm. 5], S. 234. Ebenso passt in dieses Bild, dass die wirklich aggressiven Karikatu-
ren zum Baccarat-Skandal erst in den 1920er Jahren publiziert wurden. Weintraub, Ed-
ward [wie Anm. 60], S. 325.
Monarchische Herrschaftsrepräsentationen
zwischen Konsens und Konflikt: Zum
Wandel des Huldigungs- und Inthronisations-
zeremoniells im 19. Jahrhundert
Matthias Schwengelbeck

Untersuchungen zur Rolle der Monarchie in der Moderne haben seit eini-
ger Zeit wieder Konjunktur. War die Monarchie für die klassische Sozial-
geschichte höchstens als retardierendes Moment des Modernisierungspro-
zesses von Belang, wird sie nun als Bestandteil der Moderne selbst be-
trachtet.1 Methodisch ist das Interesse vor allem auf den gewachsenen Ein-
fluss sozial- und kulturanthropologischer Ansätze zurückzuführen. Im
Zentrum der meisten Studien stehen die Fürsten nicht mehr als souveräne
Staatenlenker, sondern als Akteure umfangreicher Rituale und Zeremonien.
Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei weniger auf die Monarchen selbst,
sondern auf die sie umgebenden Gesellschaften. Während sich die verschie-
denen Arbeiten in den Interpretationen und genauen Periodisierungen unter-
scheiden, eint sie der Befund einer Wiederbelebung monarchischer Reprä-
sentationen im 19. Jahrhundert: Die gekrönten Häupter Europas griffen
zunehmend wieder auf prunkendes höfisches Zeremoniell zurück, um sich
und ihre Herrschaft zu repräsentieren. In einem gewandelten gesellschaftli-
chen und politischen Umfeld richteten sich diese Inszenierungen an eine
jenseits des höfischen Verkehrs liegende Öffentlichkeit.2
——————
1 Vgl. Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und
England von 1640–1848, Göttingen 1993; Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der
Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen
1997; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwi-
schen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.
2 Vgl. David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British
Monarchy and the »Invention of Tradition«, c. 1820–1977, in: Eric Hobsbawm/
Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 101-164; kritisch
zu Cannadines Konzentration auf das ausgehende 19. Jahrhundert dagegen Linda
Colley, The Apotheosis of George III: Loyalty, Royalty and the British Nation 1760-
1820, in: Past and Present 102 (1984), S. 94-129; David E. Barclay, Anarchie und guter
Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995; Richard
Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Volume II:
124 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Monarchische Herrschaft, so viel dürfte unstrittig sein, blieb auch im


19. Jahrhundert auf Repräsentation angewiesen. Herrschaftslegitimation be-
stand hier wesentlich in einer spezifischen Darstellungsleistung. Auch die
konservative Lehre vom »monarchischen Prinzip«, die an die Stelle des alten
Gottesgnadentums getreten war, bedurfte der sinnlichen Konkretion, um
über den Status eines theoretischen Konstrukts hinauszugelangen.3 Berück-
sichtigt man neuere Studien zum symbolischen Gehalt des Politischen, so
kann diese Erkenntnis kaum überraschen. Aus unterschiedlichen dis-
ziplinären Perspektiven wird in jüngster Zeit betont, dass Politik grundsätz-
lich auf Repräsentation angewiesen ist. Politik und politische Akteure müs-
sen sich darstellen, um den gesellschaftlichen Regelungsanspruch politischen
Handelns durchsetzen zu können und zu legitimieren.4 Als eine »nicht-
alltägliche (Sub)Sinnwelt«, so Hans-Georg Soeffner und Dirk Tänzler, bedarf
das Politische grundsätzlich, »um faßbar werden zu können, der Überset-
zung, Vergegenwärtigung und Repräsentation«.5 Repräsentation signalisiert
danach nicht nur eine Beziehung zwischen Repräsentant und Repräsentier-
tem, sondern verweist auch auf das diese Beziehung legitimierende Weltbild.
Der politische Repräsentant eines Kollektivs muss sich nicht nur in Relation
zu den Repräsentierten setzen, sondern diese Relation zugleich mit Bezug
auf den legitimierenden politischen Ordnungsentwurf darstellen.6 Die
darstellende Komponente der Repräsentation bildet die Grundlage dafür,
dass der Akt des repräsentativen Handelns als dem gesamten Verband zuge-
rechnetes Tun im Sinne Max Webers von den Repräsentierten »gegen sich
als legitim geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und
tatsächlich wird«.7
——————
From Alexander II. to the Abdication of Nicholas II., Princeton 2000; Paulmann, Pomp
[wie Anm. 1].
3 Vgl. Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der
europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter, in: ders., Neue Wege der Verfas-
sungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 160-186.
4 Vgl. Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.),
Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152-164;
Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und
Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Hans-Georg Soeffner / Dirk Tänzler, Figurative
Politik. Prolegomena zu einer Kultursoziologie politischen Handelns, in: dies. (Hg.),
Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in modernen Gesellschaften, Opladen
2002, S. 17-33.
5 Soeffner/Tänzler, Politik, [wie Anm. 4], S. 21.
6 Ebd., S. 22.
7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev.
Aufl., Tübingen 1972, S. 171.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 125

Repräsentationen im Raum des Politischen leisten so einen Beitrag zum


Prozess der Selbstvergewisserung über die Legitimität politischer Ord-
nung.8 Grundlegend dafür ist, dass sie von einem Publikum wahrgenom-
men werden. Repräsentation ist daher auf Öffentlichkeit angewiesen. An-
gesprochen ist damit jedoch kein kommunikationsloser Bereich, wie ihn
Jürgen Habermas mit dem Begriff der »repräsentativen Öffentlichkeit«
konzipiert hat.9 Legt man einen weiten Kommunikationsbegriff zugrunde,
der nicht nur den historisch ohnehin kaum auffindbaren Fall herrschafts-
freier Diskurse berücksichtigt, offenbart sich dabei gerade das Zeremoniell
als eine eminente Sphäre politischer Kommunikation.10 Verstanden als Son-
derfall des politischen Rituals richtet sich das Zeremoniell mit seiner
theatralen, darstellenden Qualität stets an eine Öffentlichkeit.11
Sowohl politische Repräsentationsformen im Allgemeinen als auch po-
litische Zeremonielle im Besonderen unterliegen jedoch historischem
Wandel. Am Beispiel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells soll
hier der Funktions- und Bedeutungswandel monarchischer Repräsentatio-
nen im 19. Jahrhundert fokussiert werden. Während die vormoderne
Funktion der Huldigung als eines rechtskonstitutiven Aktes verloren ging,
erlebte das Zeremoniell in diesem Zeitraum eine Renaissance, die als Ant-
wort auf den Legitimationsdruck der Monarchie in der Moderne gelesen
werden kann. Eine solche Wiedergeburt wurde auch von Rotteck und
Welckers Staats-Lexikon registriert. 1847 schrieb Wilhelm Schulz dort zum
Stichwort »Huldigung«:
»In der neueren Zeit haben sich zwar die Grundsätze des Erbrechts der Fürsten
bestimmter ausgebildet; allein die französische Revolution und die Ansichten, die
sie in Umlauf setzte, haben in einem allgemeinen Sinne die herkömmlichen aner-
kannten Machtbefugnisse in Frage gestellt und hier und da die Fürstenkrone zur
unwillkürlich errungenen Märtyrerkrone gemacht. Diesen Geist der Zeit erwä-
gend scheint man in den letzten Jahren um so mehr darauf bedacht zu sein, den
wankenden Glauben der Völker an das wankende Alte auch durch solche äußer-
——————
8 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Erzwungene Ästhetik. Repräsentation, Zeremoniell und Ri-
tual in der Politik, in: ders., Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ord-
nungskonstruktionen, Weilerswist 2000, S. 288ff.
9 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer
Kategorie der bürgerliche Gesellschaft, Neuauflage Frankfurt/M. 1990, S. 58ff.
10 Vgl. hierzu vor allem Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische
Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994.
11 Vgl. Georg Braungart, Die höfische Rede im zeremoniellen Ablauf: Fremdkörper oder
Kern? in: Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hg.), Zeremoniell und Ästhetik in Spät-
mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995, S. 198-208.
126 MATTHIAS SCHWENGELBECK

liche Mittel, wie die Entfaltung eines besonderen Pomps bei Krönungen und
Huldigungen ist, von Neuem zu befestigen.«12

Neben der Krönung der englischen Königin Victoria aus dem Jahr 1837
dürften vor allem die 1840 abgehaltenen preußischen Huldigungsfeiern für
Friedrich Wilhelm IV. als Erfahrungshintergrund für diese Einschätzung
gedient haben. Diese hatten weit über Preußen hinaus ein vielstimmiges
Echo provoziert.13 Es ließen sich aber auch andere Beispiele nennen, die
von den Huldigungen für den sächsischen König Anton aus dem Jahre
1827, über die Huldigungs- und Einzugsfeierlichkeiten für den badischen
Großherzog Leopold im Jahre 1830 bis zu den 1837 abgehaltenen Ein-
zugsfeierlichkeiten für Ernst August von Hannover reichen. In allen Fällen
wurden traditionelle zeremonielle Formen verwendet, um den Regierungs-
antritt des neuen Monarchen in Szene zu setzen. Und selbst im revolutio-
nären Sommer 1848 schöpften die Parlamentarier der Paulskirche aus dem
zeremoniellen Fundus der Monarchie, um den Reichsverweser in sein neues
Amt einzuführen. Immer mehr verloren diese traditionellen Formen je-
doch ihren Wert als rechtskonstitutive Zeremonielle. Besonders deutlich
zeigte sich das im Fall der Thronbesteigung des preußischen Königs Wil-
helms I. im Jahr 1861. Während Wilhelm auf eine Huldigung drängte, ließ
die verfassungsrechtliche Struktur des konstitutionellen Preußens keine
solche Feier mehr zu. Auf Intervention seiner Minister und durch den
Druck einer politisierten Öffentlichkeit ließ sich der Nachfolger Friedrich
Wilhelms IV. schließlich darauf ein, mit einer feierlichen Krönung ein ze-
remonielles Äquivalent durchführen zu lassen, das allerdings keinerlei
rechtsgültige Qualität mehr besaß.
Um den damit angedeuteten politischen Funktions- uns Bedeutungs-
wandel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells herauszuarbei-
ten, soll zunächst knapp die Bedeutung und die Veränderungen der Hul-
digung bis zum beginnenden 19. Jahrhundert skizziert werden (II). Dann
sollen die Besonderheiten und Entwicklungen des Huldigungs- und In-
thronisationszeremoniells im 19. Jahrhundert anhand zweier Beispiele

——————
12 Wilhelm Schulz, Huldigung, in: Carl Rotteck/Carl Welcker (Hg.), Das Staats-Lexikon.
Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 7, Altona 1847,
S. 265-272.
13 Als einer der ersten Historiker hat bereits Heinrich von Treitschke auf die unterschiedli-
che Aufnahme der Huldigungsfeierlichkeiten hingewiesen. Vgl. Heinrich von Treitschke,
Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Fünfter Teil: Bis zur Märzrevolu-
tion, Leipzig 1894, S. 51ff.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 127

aufgezeigt werden. Während sich bei der Huldigung für Friedrich Wil-
helm IV. noch Überlagerungen von herrschaftskonstitutiven und herr-
schaftslegitimierenden Momenten offenbarten (III), lässt die Krönung
Wilhelms I. den neuen Stellenwert des Inthronisationszeremoniells im
Verfassungsstaat hervortreten (IV). Abschließend werden die Überlegun-
gen kurz zusammengefasst (V).

II. Die longue durée der Huldigung: Kontinuitäten


und Entwicklungen

Monarchie und Inthronisation sind zwei Seiten einer Medaille. Mo-


narchische Regentschaftswechsel bedürfen und bedurften stets ritueller
Formen, um die Legitimität des neuen Fürsten sicherzustellen. In den
Territorien des Alten Reiches wurden Regentschaftswechsel mit und
durch das Ritual der Huldigung vollzogen. Dessen Kern bestand in ei-
nem wechselseitigen Verpflichtungsakt zwischen Fürst und Untertanen.
Während die Untertanen ihrem Landesherrn eidlich versicherten, treu,
hold und gewärtig zu sein, musste jener ihnen im Gegenzug die her-
kömmlichen Rechte und Privilegien zusichern. Es handelte sich bei der
Huldigung mithin um eine Art vormodernes Verfassungsäquivalent, um
eine »Verfassung in actu«.14 Der Stellenwert des Rituals resultierte dar-
aus, dass sich rechtlich-politische Ordnung in der vorkonstitutionellen
Zeit überhaupt erst im symbolischen Handlungsvollzug konstituierte;
rechtlich-politisches und symbolisches Handeln waren identisch.15
Repräsentation monarchischer Herrschaft war hier mithin kein bloßes

——————
14 Vgl. André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herr-
schaftsordnung (800-1800), Stuttgart/New York 1991.
15 Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und
Fehde, Darmstadt 1997; Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest. Überlegungen
zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen, in: Hans-Jürgen
Becker (Hg.), Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Tagung der Vereini-
gung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 22.3.-24.3.1999, Berlin 2003, S. 7-
49; dies., Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalisti-
sche Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte, in: Matthias Schnettger (Hg.), Impe-
rium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das alte Reich im Ver-
ständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233-246.
128 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Akzidens, sondern brachte Herrschaftsverhältnisse im symbolischen Voll-


zug hervor.16
Trotz der strukturellen Stabilität der rituellen Formen blieb der recht-
lich-politische Gehalt der Huldigung zwischen Mittelalter und Früher
Neuzeit nicht unverändert. So hat André Holenstein argumentiert, dass der
wechselseitige Verpflichtungscharakter der Huldigung im Absolutismus
zugunsten der fürstlichen potestas legislatoria zurückgetreten sei. Dem habe
eine Umformung der Huldigung von einem Rechtsakt in ein entpolitisier-
tes barockes Fest entsprochen.17 In Abgrenzung zu Holenstein hat An-
dreas Gestrich hingegen eine andere Sichtweise profiliert. Auch der barocke
Prunk des absolutistischen Huldigungszeremoniells, so Gestrichs These,
habe den verfassungsrechtlichen Gehalt des wechselseitigen Verpflich-
tungsaktes nicht gänzlich zuzudecken vermochte, auch die Huldigung im
absolutistischen Fürstenstaat sei noch als »reziproker kommunikativer Akt«
zu verstehen.18 Gestrichs Argumentation scheint zunächst aus zwei Grün-
den plausibel. Erstens fügt sie sich gut in neuere Forschungen zum Abso-
lutismusparadigma ein, die die These eines Siegeszuges des absolutistischen
Modells im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend widerlegt haben. Zweitens
betont Gestrich stärker als Holenstein die kommunikative Funktion sym-
bolischer Handlungen. Damit wird er der Vielschichtigkeit des Phänomens
in größerem Maße gerecht. Auch empirisch zeigt sich, dass die Huldigung
ihre herrschaftskonstitutive Funktion trotz vieler Veränderungen bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts nicht gänzlich verloren hatte.
——————
16 Aus diesem Grund ist die Huldigung auch nicht lediglich als Rechtshandlung, sondern
als umfangreiches Ritual zu charakterisieren, das sich aus festgelegten symbolischen
Handlungsketten zusammensetzte. Legt man das von Victor Turner in Anlehnung an
Arnold van Gennep entwickelte dreiphasige Schema der Übergangsriten zugrunde, stellt
sich das folgendermaßen dar: In der Trennungsphase wurde mit dem Umritt des Fürs-
ten, seiner Einholung und seinem Einzug der rituelle vom alltäglichen Kontext in räum-
licher und zeitlicher Hinsicht separiert. Zur liminalen Phase gehörten dann Gottesdienst,
Austausch von Reden, die Eidesleistung sowie dessen religiöse Bekräftigung durch das
Absingen des Te Deums. Schließlich wurden in der Angliederungsphase Geschenke
ausgetauscht, ein gemeinsames Mahl vollzogen und in neuerer Zeit auch Feuerwerk und
Illuminationen veranstaltet. Vgl. Victor Turner, Das Liminale und das Liminoide in
Spiel, »Fluß« und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie, in: ders., Vom Ritual
zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M./New York 1989, S. 28-
94; eine übersichtliche Zusammenstellung der einzelnen Bestandteile der Huldigung
findet sich bei André Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter
des Absolutismus und der Aufklärung, in: Aufklärung 6 (1991), S. 24-29.
17 Vgl. Holenstein, Huldigung [wie Anm. 14], S. 434ff.
18 Gestrich, Absolutismus [wie Anm. 10], S. 120.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 129

Noch in den 1790er Jahren war die traditionelle Einnahme der Erbhuldi-
gung ein weit verbreitetes Phänomen. Friedrich Wilhelm III. von Preußen
etwa ließ anlässlich seines Regierungsantritts 1798 zentrale Huldigungen in
Königsberg und Berlin durchführen. Der Huldigungseid war hier durch die
Ständevertreter sowie durch eigens gewählte Deputierte aus den Provinzen zu
leisten. Von der Tradition eines frühneuzeitlichen wechselseitigen Verpflich-
tungsaktes zwischen Herrschaft und Untertanen, der stets vor Ort aktualisiert
werden musste, hatten sich diese zentralisierten Huldigungsfeiern bereits weit
entfernt. Die durch Aufklärung und Französische Revolution an Attraktivität
gewinnende Nutzung des monarchischen Zeremoniells für patriotisch-natio-
nale Zwecke schlug sich bereits ansatzweise in den Huldigungsfeiern nieder.
Auf der Ebene der Herrscherwahrnehmung zeigten sich zudem Bewegungen
hin zu einem verbürgerlichten Nationalsymbol.19 Trotzdem war der rechtlich-
politische Charakter des Ereignisses nicht gänzlich verschwunden. Darauf
lassen etwa die Verhandlungen der Stände auf dem Huldigungslandtag schlie-
ßen, die auch durch den Ansturm des absolutistischen Zentralisierungsan-
spruchs nicht gänzlich hinweggefegt worden waren.20 Noch klarer treten
solche Kontinuitäten in Staaten mit starken ständischen Traditionen hervor.
So waren in Württemberg die Zusicherungen der Rechte und Privilegien an
die Stände bis zum Endes des Alten Reiches die Grundbedingung für das
Gelingen der Huldigung. Und auch in Kleinstaaten, wie zum Beispiel Lippe,
verliefen die Huldigungen noch traditionell.21
Obsolet wurde die herkömmliche Huldigung in vielen Staaten erst mit
der Entstehung des modernen Konstitutionalismus. Denn die Einführung
geschriebener Verfassungen stellte die Herrschaftsverhältnisse zwischen
Monarch und Untertanen auf eine neue Basis. An die Stelle der »Verfassung
in actu« rückte ein herrschaftsbegründendes, umfassend wirkendes und mit
universalem Anspruch auftretendes Regelungswerk.22 Als Symbol repräsen-
tierte die geschriebene Verfassung nun das »für die politische Kultur konsti-
tutive symbolische Ensemble«.23 Auch wenn sich konstitutionelle Reformen

——————
19 Vgl. Wienfort, Monarchie [wie Anm. 1], S. 131ff.
20 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von
den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart 1992.
21 Vgl. STA Detmold, L77 B, Fach 4 Nr. 6.
22 Vgl. zur epochalen Bedeutung moderner Verfassungen Dieter Grimm, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt/M. 1988.
23 Jürgen Gebhardt, Verfassung und Symbolizität, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität
und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und
Gegenwart, Köln u.a. 2001, S. 585-602, hier 588.
130 MATTHIAS SCHWENGELBECK

zunächst nur in wenigen Staaten des deutschen Bundes durchsetzten, war die
Verfassungsfrage spätestens seit dem Wiener Kongress nachdrücklich auf die
Agenda politischen Handelns getreten; selbst dort, wo sich der monarchische
Staat mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Die eingeführten, in Aussicht
gestellten oder erwünschten Verfassungen transportierten neue politische
Ordnungsvorstellungen. Mit diesen war die vormoderne Praxis der symboli-
schen Konstitution von Herrschaftsverhältnissen im Huldigungsritual nicht
mehr zu vereinbaren. Zwar wurde die Huldigung in einigen Staaten aus-
drücklich in der Verfassungsurkunde erwähnt und an einen vorhergehenden
Verfassungsschwur des Monarchen gekoppelt. In fast allen Fällen wurde sie
dann jedoch nicht mehr durchgeführt.24
Neben dem konstitutionellen Argument lässt sich noch ein weiterer
Grund für das Ausbleiben der Huldigungen in der Zeit nach 1815 ausma-
chen. Bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dann verstärkt in
der nachnapoleonischen Zeit waren die meisten Dynastien bestrebt, sich in
ihrer Selbstdarstellung von der opulenten Praxis des barocken Prunks ab-
zusetzen. Der Verzicht auf ein ausgefeiltes Huldigungszeremoniell ist da-
her im Kontext insgesamt verringerter Aufwendungen für monarchische
Repräsentationen zu sehen.25 Die aufklärerische Projektion eines schlich-
ten, familienorientierten »Bürgerkönigs« schien gewissermaßen in der ze-
remoniellen Zurückhaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Bestäti-
gung gefunden zu haben.26

——————
24 In Württemberg etwa regelte das zweite Kapitel der 1819 erlassenen Verfassungsur-
kunde: »Der Huldigungs-Eid wird dem Thronfolger erst dann abgelegt, wann Er in einer
den Ständen des Königreichs auszustellenden feierlichen Urkunde die unverbrüchliche
Festhaltung der Landes-Verfassung bei Seinem Königlichen Worte zugesichert hat.«
(Die Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819,
hrsg. v. C. B. Fricker, Tübingen 1865, S. 508). Trotz des Verlangens der Stuttgarter Bür-
gerschaft verzichtete König Wilhelm im gleichen Jahr auf die Einnahme der Huldigung.
Seinem Innenminister von Otto folgend, dass es sich bei der Huldigung nur um eine
»res merae facultatis« handele, entschied sich Wilhelm gegen eine Huldigung, da sie zum
einen nicht notwendig und zum anderen mit Umständen und erheblichen Kosten ver-
bunden wäre. (HSTA Stuttgart, E 31, 5, Vortrag des Ministers des Innern, 19.11.1819;
vgl. ebd. Wilhelm an den Minister des Innern, 19.11.1819.)
25 Vgl. Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. Jahr-
hunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie, Tübingen
1993; Paulmann, Pomp [wie Anm. 1], S. 249ff.
26 Vgl. zum Konzept des Bürgerkönigtums Heinz Dollinger, Das Leitbild des Bürgerkönig-
tums in der europäischen Monarchie des 19. Jahrhunderts, in: Werner (Hg.), Hof,
S. 325-364; kritisch dazu Thomas Stamm-Kuhlmann, War Friedrich Wilhelm III. von
Preußen ein Bürgerkönig? In: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), S. 441-
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 131

Allerdings hielt weder der Verzicht auf dynastische Prachtentfaltung an,


noch verschwand das Huldigungszeremoniell gänzlich aus dem Hand-
lungsrepertoire der Akteure. Zwar wurde die Huldigung als rechtskonstitu-
tiver Akt tatsächlich dysfunktional. An deren Stelle traten im jedoch neue,
heterogenere Formen des Zeremoniells, die gerade in kultur- und medien-
geschichtlicher Perspektive an die Huldigung anknüpften. Auf der Basis
ihres grundsätzlich akzessorischen Charakters, das heißt ihrer tendenziellen
Verfügbarkeit, gewannen sie eine neue politische Bedeutung, die sie bis
zum Ende der Monarchie behielten.

III. Die Huldigungsfeiern für


Friedrich Wilhelm IV. zwischen Herrschaftskonstitution
und Herrschaftslegitimation
Die Huldigungen anlässlich des Regierungsantritts Friedrich Wilhelms
IV. im Jahr 1840 standen noch im Spannungsfeld zwischen traditioneller
herrschaftskonstitutiver und der neuen herrschaftslegitimierenden Funk-
tion des Zeremoniells. Kurz nachdem Friedrich Wilhelm IV. 1840 auf
den preußischen Thron gelangt war, hatte er zentrale Huldigungsfeiern in
Königsberg und Berlin angeordnet. Formal orientierten sie sich an dem
Modell, das bereits 1798 zur Anwendung gekommen war. Der neue Kö-
nig zog am 29. August 1840 feierlich in Königsberg ein und ließ dort
zwischen dem 5. und 11. September den herkömmlichen Huldigungs-
landtag abhalten. Deren Teilnehmer leisteten am 10. September zusam-
men mit ständischen Deputierten und der Königsberger Bürgerschaft
den Huldigungseid vor dem Königsberger Schloss. Darauf reiste Fried-
rich Wilhelm IV. zurück nach Berlin, hielt dort am 21. September seinen
Einzug und nahm am 15. Oktober die Huldigung der Berliner Bürger-
schaft und der Vertreter der sechs westlichen preußischen Provinzen
ein.27

——————
460; zum argumentativen Vorgriff des Konzepts Wienfort, Monarchie [wie Anm. 1],
S. 205ff.
27 Vgl. die Beschreibungen bei Karl Streckfuß, Der Preußen Huldigungsfest, Berlin 1840.
132 MATTHIAS SCHWENGELBECK

1. Der Königsberger »Gegenschwur« – ein Verfassungsversprechen?


Symbolische Praxis und öffentliche Deutung

Hier soll zunächst die Königsberger Eidesleistung näher betrachtet wer-


den, weil sich dort in signifikanter Weise die Spannungen zwischen der
rechtskonstitutiven Tradition der Huldigung und ihrem neuen Stellen-
wert als herrschaftslegitimierendem Fest niederschlugen. Am Huldi-
gungstag begann bereits morgens um 7 Uhr der Einlass in den Schloss-
hof für die Zuschauer, die zuvor in den Besitz von Einlasskarten ge-
kommen waren. Auf dem Schlosshof hatte man zuvor reich verzierte
Tribünen aufgestellt, und unmittelbar vor dem Schloss war ein kunstvol-
ler Huldigungsbalkon errichtet worden. Nachdem die Glocken von allen
Kirchtürmen der Stadt zum Gottesdienst geläutet hatten, versammelten
sich die Huldigungsdeputieren nach ihrer Konfession geschieden in der
Schlosskirche und der katholischen Kirche, wo um 9 Uhr der Gottes-
dienst beziehungsweise das Hochamt abgehalten wurde. Während darauf
die Vertreter der Geistlichkeit und der Universitäten gesondert im
Thronzimmer empfangen wurden, nahmen die Huldigungsdeputierten im
Schlosshof in ihren Schranken nach Ständen geordnet Aufstellung.
Nachdem alle Anwesenden ihren Platz eingenommen hatten, betrat
Friedrich Wilhelm unter Begleitung seiner höfischen Entourage und ho-
her Minister den Balkon und nahm auf dem Thron Platz. Nacheinander
richtete der Kanzler des Königreichs von Wegnern eine Anrede an die
Stände, die für die Stände des Königreichs Preußen durch den Huldi-
gungs-Hauptmarschall von Brandt und für die Stände des Großherzog-
tums Posen durch den Huldigungs-Hauptmarschall von Posinski beant-
wortet wurde. Darauf las der Regierungsrat Zander die Eidesvorhaltung
und den Huldigungseid vor, der von den Deputierten wörtlich und mit
gehobenen Fingern nachgesprochen wurde.28
Bis dorthin bewegte sich die Huldigung in den bekannten Bahnen. Nun
aber folgte eine Innovation des Zeremoniells, die den herkömmlichen Sinn
der Huldigung transformierte. Nachdem der Eid geleistet worden war, er-
hob sich Friedrich Wilhelm vom Thron, trat vor die Deputierten und
richtete, das offizielle Zeremoniellprogramm durchbrechend, seinerseits

——————
28 Vgl. August Witt, Die feierliche Erbhuldigung der Stände des Königreiches Preußen und
des Großherzogthumes Posen am 10. September 1840, der Huldigungs-Landtag des
Königreiches Preußen, und die aus Veranlassung der Anwesenheit Ihrer Majestäten in
Königsberg stattgefundenen Festlichkeiten, Königsberg 1840, S. 90-112.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 133

eine Ansprache an die versammelten Deputierten. Mit gehobener rechter


Hand versprach der König:
»Und Ich gelobe hier vor Gottes Angesicht und vor diesen lieben Zeugen Allen,
daß Ich ein gerechter Richter, ein treuer, sorgfältiger, barmherziger Fürst, ein
christlicher König sein will, wie Mein unvergessener Vater einer war! (...) Bei uns
ist Einheit an Haupt und Gliedern, an Fürst und Volk, im Großen und ganzen
herrlicher Einheit des Strebens aller Stände nach einem schönen Ziele – nach
dem allgemeinen Wohle in heiliger Treue und wahrer Ehre.«29

Nachdem der König seine Ansprache beendet hatte, brach ein allgemeiner
Jubel unter den Anwesenden aus.
Die Rede war dabei weniger wegen ihres Inhalts von Interesse, son-
dern als neuartige symbolische Handlung. »Die Kraft der Stimme, der
Schwung der Worte, die Poesie der Bilder, vor allem Das Neue und Un-
gewöhnliche der Kundgebung«, erinnerte sich der seinerzeit in Königs-
berg als Student eingeschriebene Liberale Ferdinand Falkson, »machten
in diesem Momente einen gewaltigen Eindruck, der noch lange nach-
wirkte.«30 Bemerkenswert war die Ansprache Friedrich Wilhelms vor al-
lem, weil sie den traditionellen Sinn der Huldigung gleichsam umkehrte.
Denn während die traditionelle wechselseitige Verpflichtung zugleich
eine Hierarchie geschaffen und bestätigt hatte, weil die Untertanen einen
feierlichen, religiös gebundenen Eid zu leisten hatten, dem lediglich eine
Privilegienbestätigung durch den Fürsten gegenübergestellt war, hatte der
preußische König die Eidesleistung nun praktisch mit einem Gegen-
schwur beantwortet. Damit hatte er sich symbolisch auf die gleiche Stufe
wie die Deputierten gestellt. Auch wenn das keineswegs der Intention
Friedrich Wilhelms entsprach, wurde es doch so interpretiert. »Was war
es denn«, fragte Robert Prutz in seinem Bericht, »was die Menge in diese
Trunkenheit versetzte?« Es sei weniger der Inhalt der Rede gewesen,
sondern »es war der unerhörte Anblick eines Königs, der in Person vor
sein Volk trat, und, unaufgefordert, unverpflichtet, den Eid der Treue,
den er empfangen, mit einem gleichen Eide erwiederte; (...) Dazu kam die
Erinnerung an die Worte des Landtagsabschieds. Nicht wenige von den
Zuhörern gestanden hinterdrein, sie hätten, als der König zu reden an-

——————
29 Ebd., S. 113f.
30 Ferdinand Falkson, Die liberale Bewegung in Königberg (1840-1848), Breslau 1888,
S. 39.
134 MATTHIAS SCHWENGELBECK

hub, nichts Geringeres erwartet, als es werde nun sofort die Verfassung
verkündet werden.«31
Prutz bezog sich hier auf die Verhandlungen des zuvor abgehaltenen
Huldigungslandtags. Die ständischen Deputierten hatten diesen traditio-
nellen Rahmen genutzt, um vorsichtig auf die Gründung einer »verfas-
sungsmäßigen Vertretung des Landes« zu drängen.32 Der königliche
Landtagsabschied vom 9. September hatte darauf nicht eindeutig geant-
wortet. Friedrich Wilhelm IV. hatte hier lediglich verkünden lassen, dass
er den Ständen »in einer in hergebrachter Form auszufertigenden Asse-
kurationsurkunde, die feste und unverbrüchliche Aufrechterhaltung der
bestehenden ständischen Verfassung der Provinz, wie sie durch die erlas-
senen Gesetze begründet ist, bei Unserem Königlichen Wort zusichern
wollen«. Hinsichtlich der Bitte des Landtags um die Erweiterung der
ständischen Verfassung mit »Bezugnahme auf die Verordnung vom
22. Mai 1815« wolle er jedoch »den naturgemäßen auf geschichtlicher
Entwickelung beruhenden und der Deutschen Volksthümlichkeit ent-
sprechenden Weg« seines Vaters weitergehen, dessen Ergebnis die bereits
»verliehene provinzial- und kreisständische Verfassung« sei.33 Daraus
sprach zunächst eine klare Ablehnung konstitutioneller Reformen. Die
Annahme einer Übereinstimmung der ständischen Propositionen mit den
Vorstellungen des Königs wurde jedoch dadurch genährt, dass der
Landtagsabschied in das zeremonielle Geschehen der Huldigung einge-
bunden war. Hier waren es weniger die inhaltlichen Einzelheiten der
Verhandlungen, die im Vordergrund standen, sondern der Eindruck des
Ereignisses in seiner Gesamtgestalt.
Die Rede des Königs bei der Huldigung wurde dabei von vielen Sei-
ten als Beleg gewertet, dass der Erlass einer Verfassung nun unmittelbar
bevorstehen würde. »Aufgeregt, voll Vertrauen, voll Erwartung und voll
Hoffnung«, berichtet Fanny Lewald, wären die Menschen nach dem Hul-
digungsakt zu gemeinsamen Tafeln zusammengekommen. »Man wollte

——————
31 Robert Prutz, Zehn Jahre. Geschichte der neuesten Zeit. 1840-1850, Erster Band, Leip-
zig 1850, S. 244; von einem »Gegenschwur« des Königs sprechen viele Aufzeichnungen,
die auf die Königsberger Huldigung Bezug nehmen. Vgl. etwa Karl August Varnhagen
von Ense, Tagebücher, Erster Band, Leipzig 1861, S. 216; Ferdinand Raabe, Königs-
bergs Jubeltage während der Huldigungsfeier Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm
IV. Eine Erinnerungsgabe, Königsberg 1840, S. 78.
32 Denkschrift der Stände, in: Alfred von Auerswald, Der Preußische Huldigungs-Landtag
im Jahre 1840, Königsberg 1843, S. 48f.
33 Landtagsabschied, in: Auerswald, Huldigungs-Landtag [wie Anm. 32], S. 57f.
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von den Andern hören, daß man dies Alles wirklich erlebt, daß ein König
von Preußen aus freiem Antrieb also zu seinem Volke geredet habe, man
wollte sich aussprechen.« Dabei hätten sich viele Stimmen darin geeinigt, »die
Rede des Königs als ein Versprechen, als die Zusage anzunehmen, mit wel-
cher er die Verfassung zur Ausführung zu bringen verhieß, welche sein Vater
dem Lande noch schuldig geblieben war.« Es sei in dem »Eidschwur« des
Königs davon nicht direkt die Rede gewesen, »aber man hatte mit vor-
eingenommener Seele zugehört, und das Orakel auf seine Weise gedeutet.«34
In seiner kurzen Skizze der Königsberger Ereignisse hat Heinrich von
Treitschke dabei ein »verhängnisvolles wechselseitiges Mißverständnis«
zwischen Monarch und Ständen ausgemacht. Während Friedrich Wilhelm
die ständischen Verhältnisse habe bewahren wollen, hätten die Deputierten
des Huldigungslandtags an »mindestens eine halbe Gewährung« ihrer Kon-
stitutionsforderung geglaubt. Der Grund für dieses »Mißverständnis« lag
jedoch weniger in einer naiven Leichgläubigkeit der huldigenden Stände,
wie es Treitschke darstellte. Niemand habe »nüchtern« gefragt, so die Kri-
tik des Nestors der borussischen Geschichtsschreibung, ob denn die
»schwungvollen Beteuerungen« des Königs »irgendeinen greifbaren politi-
schen Inhalt« gehabt hätten.35 Vielmehr lässt sich ein unterschiedliches
Verständnis der Huldigung diagnostizieren, das den Grund für die diver-
gierenden Interpretationen legte. Diejenigen, die meinten, dass hier eine
Verfassung in Aussicht gestellt oder sogar schon bewilligt worden war,
gingen paradoxerweise von einem traditionellen Verständnis der Huldi-
gung aus. Danach besaß die symbolische Praxis eine herrschaftskonstitu-
tive Qualität und konnte der Auftritt des Monarchen als Ausdruck dafür
gewertet werden, dass die Verfassung schon verbindlich gewährt worden
war. Demgegenüber zielte Friedrich Wilhelm IV. auf eine Revitalisierung
ständischer Strukturen, nutzte das Ereignis der Huldigung aber in einem
modernen Sinn. Es ging ihm darum, so David Barclays gelungene Formu-
lierung, »mittels ideologischer Appelle an Verstand und Emotion das mo-
narchische Empfinden zu festigen«. Damit, so Barclay weiter, habe sich der
preußische König zum »Neugestalter der Tradition« aufgeschwungen, der
vormoderne zeremonielle Versatzstücke wie die Eidesleistung in einen
modernen, ideologischen Kontext transformierte.36

——————
34 Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, Zweite Abtheilung: Leidensjahre, Zweiter
Theil, Berlin 1862, S. 249.
35 Treitschke, Geschichte [wie Anm. 13], S. 46.
36 Barclay, Anarchie [wie Anm. 2], S. 94, 161.
136 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Die Diskussionen darum, ob mit der Huldigung eine Verfassung ge-


währt worden war oder nicht, blieben nicht auf Königsberg beschränkt.
Dadurch, dass die Frage in den großen preußischen und außerpreußischen
Zeitungen aufgegriffen wurde, erzielte sie einen beträchtlichen Multiplika-
toreneffekt. Welches Gewicht dieser sich immer mehr zum Leitmedium
politischer Kommunikation aufschwingenden Verbreitungsform zukam,
lässt sich daran ablesen, wie intensiv sich gerade der preußische Staat um
eine effektive Zensur bemühte.37
Das zeigte sich auch im Falle der Königsberger Ereignisse. Am 14.
September 1840, fünf Tage nach dem Landtagsabschied, erschien in der
Königsberger Zeitung ein Artikel, der sich mit dem königlichen Landtagsab-
schied beschäftigte. Aus den königlichen Worten, hieß es dort, könne die
»vollkommene und beglückende Übereinstimmung der ehrerbietigst vor-
getragenen Wünsche der Stände mit der Willensmeinung unseres erhabe-
nen Monarchen« abgelesen werden.38 Innenminister von Rochow reagierte
auf diese Zeitungsmeldung mit Schärfe. In einem Brief an den zuständigen
Zensor, den Königsberger Polizeipräsidenten Abegg, gab er diesem seine
»Überraschung« darüber zu verstehen, dass der Artikel das Imprimatur er-
halten habe. Es sei absolut unzweifelhaft, dass eine »vollkommene Über-
einstimmung jener Petition mit der im Landtags-Abschied ausgedrückten
Königs Willensmeinung« keineswegs bestehe. Vielmehr enthalte der Ab-
schied eine klare Ablehnung der ständischen Wünsche. Es sei dem Polizei-
präsidenten auch durchaus bekannt, dass sich eine Reihe von Landtagsmit-
gliedern in einem »Separat-Veto« gegen die ständische Petition gewendet
hätte und jene sich durch den Zeitungsartikel vielleicht zu einer Entgeg-
nung herausgefordert fühlen könnten. Dadurch aber würde »diese zur Be-

——————
37 Mit dem Bundespressegesetz von 1819 waren die zuvor heterogenen Zensurbestimmun-
gen in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes vereinheitlicht worden. Der Kern des
Gesetzes bestand in einer Bestimmung, die alle Schriften mit weniger als 20 Bögen der
Zensur unterwarf. Jenseits der normativen Ebene war die Rechtspraxis jedoch stark von
der Handhabung in den verschiedenen Staaten einerseits und dort vom Verhalten des
jeweiligen Zensors andererseits abhängig. Vgl. Wolfram Siemann, Ideenschmuggel.
Probleme der Meinungskontrolle und das Los deutscher Zensoren im 19. Jahrhundert,
in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 71-106; Jörg Requate, Journalismus als Beruf.
Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert, Göttingen
1995, S. 244ff.; zur Rolle der Zeitung als Leitmedium politischer Kommunikation im 19.
Jahrhundert Jörg Requate, Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation, in: Ute
Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in
der Geschichte, Göttingen 2004, S. 139-167.
38 Königlich Preußische Staats- Kriegs- und Friedens-Zeitung, Nr. 215, 14.9.1840.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 137

sprechung in Zeitungen ganz ungeeignete Sache auf eine ungesunde und


ärgerliche Weise zur öffentlichen Discussion gezogen werden.«39 Nachdem
Abegg in einem Bericht zu der Sache Stellung genommen und darin darauf
hingewiesen hatte, dass die von ihm zunächst durchaus monierte Passage
des Artikels durch die Intervention des Oberpräsidenten von Schön doch
noch in den Druck gelangt sei, wandte sich der konservative von Rochow
an seinen liberalen Intimfeind von Schön. Seines Wissens, dozierte Ro-
chow in einem Schreiben, gestatte das Zensurgesetz nirgends, dass »durch
Zeitungs-Artikel der Sinn- und Wortlaut Allerhöchster Entscheidungen
entstellt« würde. Er könne den Polizeipräsidenten Abegg daher vom »Vor-
wurf eines Fehlgriffs nicht freisprechen« und Schön möge ihn deshalb
nachdrücklich rügen. Er glaube des Weiteren nicht verhehlen zu dürfen,
dass es wünschenswert gewesen wäre, wenn Schön »durch eine bestimm-
tere Entscheidung dieser Tactlosigkeit des Abegg zuvorgekommen wäre.«
Schön habe es nämlich nicht entgehen können, dass der fragliche Artikel
eine »Entstellung der Allerhöchsten Willensmeinung« enthalte. Diese
»Tendenz« gehe klar aus der Beschwerde der Königsberger Zeitung hervor, die
diese nach der anfänglichen Intervention des Zensors bei ihm, Schön, ein-
gereicht habe. Denn dort sei ausdrücklich erwähnt, dass man mit dem Ar-
tikel den »Eindruck des Artikel[s] vom 10ten September, welcher ›nach der
Meinung vieler Wohlunterrichteten‹ eine falsche Ansicht enthalte, zu ver-
wischen« versucht habe.40
Der Druck des erwähnten Artikels vom 10. September war von Ro-
chow selbst veranlasst worden. Er wollte damit, wie er sich in einem Brief
an Friedrich Wilhelm IV. äußerte, der sich in Königsberg schnell verbrei-
tenden Interpretation entgegentreten, dass der Landtagsabschied eine Bes-
tätigung der ständischen Wünsche nach einer »verfassungsmäßigen Ver-
tretung des Landes« enthalte.41 Daher war in dem Artikel ausdrücklich auf
den »Enthusiasmus« der Landtagsmitglieder hingewiesen worden, der
durch den Landtagsabschied des Königs ausgebrochen sei, obwohl dieser
die Anträge des Landtags abgelehnt habe.42 Dass die Königsberger Zeitung
——————
39 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36 A, Rochow an Abegg, 15.9.1840.
40 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Schön, 24.9.1840.
41 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV.,
28.9.1840.
42 Vgl. Königlich Preußische Staats- Kriegs und Friedens-Zeitung, Nr. 214, 12.10.1840;
dazu auch die Bemerkungen von Rochows gegenüber Friedrich Wilhelm IV. in:
GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV.,
28.9.1840.
138 MATTHIAS SCHWENGELBECK

darauf mit einem Artikel reagierte, der dieser Lesart widersprach, spiegelte
deren Selbstverständnis. Trotz der rigiden preußischen Pressezensur ge-
noss die Königsberger Zeitung den Ruf eines freisinnigen, liberalen Blattes, in
dem vor allem außerredaktionelle Mitarbeiter mit mutigeren Beiträgen
auftraten.43
Der Konflikt um den Artikel in der Königsberger Zeitung verweist aller-
dings auch darauf, wie schwer es war, die preußischen Zensurhürden zu
umgehen. In größerem Umfang wurde daher der Weg über Staaten ge-
wählt, die über eine liberalere Pressegesetzgebung verfügten. Im Falle der
Königsberger Huldigung waren es vor allem die Leipziger Allgemeine Zeitung
und die Augsburger Allgemeine Zeitung, die als Sprachrohr der konstitutionel-
len Kräfte dienten. In einem Brief an seinen Bruder berichtete Theodor
von Rochow, dass die »Redaktion in Augsburg« mit Aufsätzen »überflutet«
werde, die sich so »heftig und einseitig« mit den Königsberger Ereignissen
beschäftigten, dass man sie zurückweise, andere würden aus »Rücksicht«
auf die empfehlenden Personen leider gedruckt.44 Zu letzterer Kategorie
gehörte auch eine am 23. September erscheinende Beschreibung der Kö-
nigsberger Huldigung. Die Eidesleistung der Stände begründete deren Ver-
fasser damit, dass ein Jeder Ursache gehabt habe, »einem König aufrichtige
Treue und Liebe zu schwören, der, wie es am Huldigungstage als allgemein
bekannt freudig von Munde zu Munde ging, die Petition seiner preußi-
schen Landstände, das Gesetz vom 22. Mai 1815 in Kraft treten zu lassen,
nicht nur freundlich aufgenommen, sondern auch geäußert haben sollte,
daß er sich’s zur Ehre schätze, ein Werk, an dessen Entwerfung er mitge-
arbeitet, bald ganz in Leben treten zu lassen«. Die Stimmung sei dann noch
dadurch gesteigert worden, dass Friedrich Wilhelm IV. »gegen den Treue-
schwur seiner Unterthanen freiwillig sein eigenes königliches Wort ver-
pfändete!« Der großartige Eindruck der ganzen Huldigung habe dabei aus
dem »königlichen Wort« resultiert, welches »von Tausenden gehört eine
That geworden« sei und von dem nun »eine neue Epoche der Geschichte
Preußens und Deutschlands« datiere.45 Diesen und verschiedene in der
Leipziger Allgemeinen erschiene Artikel, die auch von einer Bewilligung der
ständischen Anträge auf eine Verfassung sprachen, hervorhebend verwies
von Rochow in dem schon angesprochenen Brief an Friedrich Wilhelm IV.

——————
43 Vgl. Requate, Journalismus [wie Anm. 37], S. 247.
44 GStAPK, VI. HA., Nl. von Rochow B 25, Theodor von Rochow an seinen Bruder Gus-
tav, 2.10.1840.
45 Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 267, 23.9.1840.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 139

auf die nun eingetretenen Schwierigkeiten. Der »Hauptzwist«, der in den


Zeitungen ausgetragen würde, sei leider »nicht ohne Wirkung« geblieben.
Die »Meinung über die Bedeutung des Landtagsabschiedes« werde trotz
dessen eigentlicher Klarheit verdreht und man beginne, »was eine Ableh-
nung ist, im Sinne einer Zusage zu betrachten.«46
Die öffentlichen Debatten um die Verfassungsfrage verstummten auch
in der Folgezeit nicht. Mit dem Pressekampf um die Bedeutung des Land-
tagsabschiedes war die Verfassungsfrage nachdrücklich auf die öffentliche
Agenda getreten und entfaltete hier eine »mobilisierende Langzeitwir-
kung«.47 Dabei war es nicht mehr entscheidend, ob die versammelten
Stände tatsächlich auf eine Verfassung in einem modernen Sinn gedrängt
hatten; es genügte, dass es so interpretiert werden konnte.

2. Das Berliner Zeremoniell als Ausdruck des »monarchischen Projektes«


Friedrich Wilhelms IV.

Dass der preußische König jedoch ein gänzlich anderes Verständnis von
Staat und Gesellschaft besaß, offenbarte sich in der Gestaltung der Berliner
Huldigung. Ähnlich wie in Königsberg nutzten jedoch auch hier zunächst
die städtischen Behörden und Gewerke den Einzug am 21. September
1840, um das eigene Gewicht im monarchischen Staat in Szene zu setzen.
Dessen Organisation und Vorbereitung hatte die Berliner Stadtverordne-
tenversammlung in die Hand genommen und ein umfangreiches Pro-
gramm entworfen. Darin war genau festgelegt, welche baulichen Einrich-
tungen in welcher Weise ausgeführt werden sollten, wo sich die Repräsen-
tanten der städtischen Behörden und die Gewerke aufzustellen hatten so-
wie welche Gebäude seitens der Stadt am Abend zu illuminieren waren.48
Anders als im Königsberger Fall waren die Inszenierungen eher ein Ergeb-
nis zentraler Planungen als ein Produkt allgemeiner Beteiligung. Dennoch
besaß auch der Berliner Einzug durchaus einen »rein bürgerlichen und
städtischen Charakter«, wie die Kölnische Zeitung am 26. September erfreut
——————
46 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV.,
28.9.1840.
47 Vgl. Neugebauer, Politischer Wandel [wie Anm. 20], S. 449ff.
48 Programm der Empfangs-Feierlichkeiten, welche bei Gelegenheit der beglückenden
Rückkehr Sr. Majestät des Königs und Ihrer Majestät der Königin in die Haupt- und Re-
sidenzstadt Berlin am 21. September 1840 stattfinden, in: Streckfuß, Huldigung [wie
Anm. 27], Beilagen S. 20-34.
140 MATTHIAS SCHWENGELBECK

zu melden wusste.49 Von Kanonenschüssen angekündigt war Friedrich


Wilhelm IV. am Frankfurter Tor vom Oberbürgermeister Krausnick und
Repräsentanten des Magistrats und der Stadtverordneten begrüßt worden.
In der Antwort auf eine Ansprache Krausnicks hatte Friedrich Wilhelm IV.
dort erklärt, dass er anders als sein Vater das Recht auf Bescheidenheit
noch nicht erworben habe und er daher der Stadt einen Festtag nicht ver-
weigert haben könne. Er wolle aber das Abkommen mit den Berliner Ein-
wohnern schließen, dass, wenn er einmal viel für das Land getan haben
werde, er dann ganz still in die Mauern der Stadt einziehen könne. »In un-
seren Herzen«, lautete darauf die Antwort Krausnicks, »werden Ew. Kö-
nigliche Majestät stets mit lautem Jubel einziehen und immer darin wei-
len!«50 Die Begebenheit unterstreicht den städtischen Charakter des
Einzugs. Der zeremonielle Empfang des Königs war ein Privileg der Stadt,
dem sich der Monarch nicht entziehen konnte. Erst nach einer verdienst-
vollen Regentschaft schien es dem König möglich, dieses Privileg nicht
mehr zu gewähren. Auch der weitere Verlauf des Einzugs besaß einen
bürgerlichen, städtischen Charakter. Auf dem Weg über den Alexander-
platz bis zum Berliner Schloss hatten sich die Gewerke entsprechend der
festgelegten Ordnung aufgestellt, waren Ehrenpforten und Tribünen für
geladene Zuschauer errichtet worden. Das Monarchenpaar wurde an den
Ehrenpforten durch Ehrenjungfrauen begrüßt und zog dann weiter am
Spalier der Gewerke entlang bis zum Schloss. »Alle kamen und wollten sich
ihrem Fürsten zeigen«, hieß es in einem Bericht, »und Alle trennten sich
glücklich in dem Gefühl, von ihm gesehen und bemerkt zu sein.«51
Im Huldigungsakt selbst verschob sich die Inszenierungshoheit jedoch
zugunsten des monarchischen Staates. Das Zeremoniell wurde hier durch ein
vom Oberhofmarschallamt entworfenes und vom Innenminister von Ro-
chow unterzeichnetes Programm strukturiert. In insgesamt 40 Paragraphen
regelte dieses den zeremoniellen Ablauf vom Aufmarsch der Bürgerschaft
über die Ordnung des Gottesdienstes bis hin zu den Eidesleistungen, Standes-
erhöhungen und Festtafeln. Im Ergebnis stand ein Zeremoniell, das als sym-
bolischer Ausdruck des »monarchischen Projektes« Friedrich Wilhelms IV.
——————
49 Kölnische Zeitung, Nr. 271, 26.9.1840.
50 Vgl. A.T. Hachtmann/J. Scheu (Hg.), Chronik von Berlin’s denkwürdigsten Tagen, oder
Beschreibung aller in Berlin am 21. September und 15. October 1840 bei dem Einzuge
und der Huldigung stattgehabten Aufzüge und Feierlichkeiten, nebst vollständigem Na-
mensverzeichniß aller Zunft- und Gewerks-Genossen, die daran Theil genommen, Ber-
lin 1841, S. 9f., Zitat S. 10.
51 Ebd., S. 70.
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gelesen werden kann. Dabei sind vor allem zwei Charakteristika von Be-
deutung: die ständische Ordnung und Hierarchisierung des huldigenden Volkes
einerseits und die Selbstinszenierung Friedrich Wilhelms IV. andererseits.52
Nach Ständen geordnet zogen die städtischen und landgemeindlichen
Deputierten sowie Ritterschaft und Standesherren am Morgen des Huldi-
gungstages zunächst zum evangelischen Gottesdienst und zum katholi-
schen Hochamt. Danach begaben sich die Deputierten der Städte und
Landgemeinde zur Berliner Bürgerschaft in die im Lustgarten aufgestellten
Schranken. Standesherren, Ritterschaft und die Geistlichkeit folgten hinge-
gen dem Zug des Königs in das Schloss, wo im Rittersaal die Standesher-
ren und die Geistlichkeit und im Weißen Saal die Ritterschaft huldigen
sollten. Besonders auffällig an dieser Aufteilung war die Privilegierung der
Ritterschaft, wie sie schon von den Städtedeputierten bemängelt worden
war. In der räumlichen Anordnung wurde diese Privilegierung nun für alle
Beteiligten erfahrbar. Nachdem die Ritterschaft im Weißen Saal gehuldigt
hatte, stellte sie sich gemeinsam mit den Standesherren und der Geistlich-
keit auf die Tribünen, die seitlich an den Huldigungsbalkon vor dem
Schloss errichtet worden waren. Darauf begab sich auch Friedrich Wilhelm
IV. auf den für ihn auf dem Huldigungsbalkon angebrachten Thron, und
die »Haupthandlung« des Tages wurde eröffnet. Auf die Ansprache des
Innenministers von Rochow antwortete der Berliner Oberbürgermeister
Krausnick für die Deputierten der Städte und Landgemeinden sowie die
Berliner Bürgerschaft. Jenseits des Inhalts der Reden fiel hier vor allem die
Ordnung des symbolischen Raums auf. Während sich die Ritterschaft auf
den Tribünen befand, musste Krausnick seine Rede von den unteren Stu-
fen einer langen Treppe aus halten, die vom Huldigungsbalkon hinunter
zum Lustgarten führte. Der von einer dem Huldigungsbalkon gegenüber-
liegenden Tribüne aus zusehende Schriftsteller Varnhagen von Ense kom-
mentierte die Situation so: »Einfallender Regen störte weniger, als daß man
den Bürgermeister von Berlin ganz unten auf den Stufen der ungeheuern
Treppe entblößten Hauptes seine Rede halten sah; die Ritterschaft hatte
oben gehuldigt, er durfte nicht hinauf; ich dachte an den tiers état in
Frankreich, der seine Anträge dem Könige kniend vorbringen mußte.«53
Die Botschaft des Zeremoniells war eindeutig. Im Gegensatz zum Ein-
zug, der noch als Fest mit einem »rein bürgerlichen und städtischen Cha-
——————
52 Vgl. zum Folgenden die detaillierten Schilderung bei Streckfuß, Huldigung [wie Anm.
27], S. 84ff.; Vossische Zeitung, Nr. 243, 16.10.1840; Spenersche Zeitung, Nr. 243,
16.10.1840.
53 Varnhagen, Tagebücher [wie Anm. 31], S. 228f.
142 MATTHIAS SCHWENGELBECK

rakter« gefeiert worden war, trat hier ein monarchischer Staat auf, der auf
einer ständischen Hierarchie gründete. Der Monarch präsentierte sich nicht
als »Bürger« unter »Bürgern«, wie es den Königsbergern bei ihrem Einzug
noch erschienen war, sondern als abgehobener Herrschaftsträger, dem die
Angehörigen des »dritten Standes« nur als treue Untertanen entgegentreten
durften. Bei der Huldigung der Ritterschaft im Weißen Saal hatte Friedrich
Wilhelm IV. in einigen Worten bereits sein Selbstverständnis als König
von Gottes Gnaden zum Ausdruck gebracht. Nach dem Ende der Anspra-
che Krausnicks und vor der nun im Programm vorgesehenen Eidesleistung
erhob sich der König jedoch erneut wie in Königsberg und richtete eine
Ansprache an die im Lustgarten versammelten Menschen. Er gelobe sein
Regiment in der »Furcht Gottes und in der Liebe der Menschen zu führen«
und richte nun an die Anwesenden »in dieser ernsten Stunde eine ernste
Frage! Können Sie, wie ich hoffe, so antworten Sie mir, im eigenen Na-
men, im Namen derer, die Sie entsendet haben! Ritter! Bürger! Landleute!
Und von denen hier unzählig Geschaarten Alle! Die meine Stimme ver-
nehmen können – Ich frage Sie: wollen Sie mit Herz und Geist, mit Wort
und That und ganzem Streben, in der heiligen Treue der Teutschen, in der
heiligeren Liebe der Christen mir helfen und beistehen, Preußen zu erhal-
ten, wie es ist, wie ich es so eben, der Wahrheit entsprechend, bezeichnete,
wie es bleiben muß, wenn es nicht untergehen soll? Wollen Sie in diesem
Streben Mich nicht lassen noch versäumen, sondern treu mit mir ausharren
durch gute wie durch böse Tage – O! dann antworten Sie Mir mit dem kla-
ren, schönsten Laute der Muttersprache, antworten Sie Mir ein ehrenfestes
Ja!«54 Es erscholl ein lautes »Ja« unter den Anwesenden, woraufhin die Ei-
desleistung vollzogen und die Feier abgeschlossen wurde.
Aus Sicht Friedrich Wilhelms IV. war dies der Beweis für ein inniges
Verhältnis zwischen ihm und seinen Untertanen, das sowohl den frühneu-
zeitlichen wechselseitig verpflichtenden Charakter der Huldigung übertraf,
als auch den disziplinierenden Anspruch der absolutistischen Zeremonial-
wissenschaft hinter sich ließ. Aufgrund des sprachlichen Pathos ist die Rede
als »weltliche Hochzeitspredigt« bezeichnet worden, die »über den her-
kömmlichen Ritus hinaus, das Sakrament der Ehe zwischen Fürst und Volk«
stiften haben wolle.55 Ihr politischer Sinn bestand dabei darin, dass sie auf

——————
54 Zwei Reden des Königs Friedrich Wilhelm IV. Vom Throne aus gesprochen am
15. October 1840 bei der Huldigung in Berlin, Berlin 1840, S. 12f.
55 So die Charakterisierung von Ernst Lewalter. Friedrich Wilhelms Ansprache sei keine
politische Rede gewesen, sondern den religiösen Empfindungen des emotional überwäl-
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 143

die Herausforderung des Verfassungsstaates mit der Erfindung einer fiktiven


Vergangenheit reagierte, die als dem Konstitutionalismus überlegenes Modell
präsentiert wurde. Darin offenbarte sich die Neigung des Königs, sich sein
eigenes »kleines Mittelalter zu bilden«.56 Dirk Blasius hat Friedrich Wilhelm
IV. in einem biographischen Psychogramm treffend als »selbstunsicheren
Gewissensmenschen« charakterisiert, dessen psychopathisches Seelenleben
in der Berliner Huldigungsrede zum Vorschein gekommen sei.57 Die Unsicher-
heit des Monarchen äußerte sich hier im Lavieren zwischen den politischen
Polen und stabilisierte sich in dem vermeintlich persönlichen Bund, den er mit
seinen Untertanen geschlossen zu haben glaubte. Mit seiner Ansprache an
das Volk, die in die Form eines monarchischen Gelöbnisses gegossen war, so
Blasius weiter, habe Friedrich Wilhelms IV. eine Modifikation des Huldi-
gungsrituals vorgenommen, die »die monarchische Autorität plebiszitär ver-
fremdete«.58 Ähnlich wie im Fall der Königsberger Rede war auch dieser Auf-
tritt darauf gerichtet, »mittels ideologischer Appelle an Verstand und Emotion
das monarchische Empfinden zu festigen«.59 Mit der Huldigungsrede, resü-
mierte ein früherer Biograph Friedrich Wilhelms IV., habe der »Romantiker
auf dem Thron« ein »Element der Revolution in den preußischen Staat einge-
führt«, einer defensiven Revolution, wie man hinzufügen kann, die auf eine
emotionale Wiederbelebung einer fiktiven Vergangenheit gerichtet war.60

IV. Inthronisationszeremoniell im Verfassungsstaat:


Die Krönung Wilhelms I. im Jahr 1861
Nach der Revolution von 1848/49 war es auch der preußischen Monarchie
nicht mehr möglich gewesen, sich gegen einen konstitutionellen Umbau
des Staates zu sperren. Im Januar 1850 hatte Friedrich Wilhelm IV. eine

——————
tigten Monarchen entsprungen. Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. Das Schicksal ei-
nes Geistes, Berlin 1938, S. 358.
56 Brünneck an seinen Sohn Siegfried, in: Paul Herre, Von Preußens Befreiungs- und
Verfassungskampf. Aus den Papieren des Oberburggrafen Magnus von Brünneck, Ber-
lin 1914, S. 346.
57 Dirk Blasius, Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte,
Göttingen 1992, S. 103.
58 Ebd., S. 101.
59 Barclay, Anarchie [wie Anm. 2], S. 94.
60 Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. [wie Anm. 55], S. 360.
144 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Verfassung oktroyiert, die zwar das Modell monarchischer Herrschaft ze-


mentierte, nun aber zumindest den Vertretungsanspruch des Volkes durch
die Gewährung einer Repräsentativkörperschaft anerkannte. Die in den
Schlussbestimmungen des ersten Verfassungsentwurfs angekündigte Revi-
sion fiel hinsichtlich liberaler Auspizien jedoch eher ungünstig aus. Die am
31. Januar 1851 in Kraft tretende Verfassung legte die Souveränität in die
Hand eines Königs »von Gottes Gnaden«. Ferner wurden die drei Pfeiler
des preußischen Staates – Heer, Bürokratie und Außenpolitik – dem Ein-
fluss des Parlaments entzogen, die Regierung lediglich vom königlichen
Vertrauen abhängig gemacht, die ständische Zusammensetzung des Her-
renhauses restauriert und die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses
über ein Dreiklassenwahlrecht reguliert. Jedoch enthielt die Verfassung
durchaus auch progressive Elemente. Dem Prinzip monarchischer All-
zuständigkeit entgegengesetzt wurden die Rechte des Königs sorgfältig
niedergelegt und diesen mit den »Rechten der Preußen« vormals verwei-
gerte Freiheits- und Gleichheitsrechte gegenübergestellt. Das ständische
Repräsentationsprinzip wurde für das neu gegründete Abgeordnetenhaus
zugunsten einer auf Wahl beruhenden Repräsentation abgeschafft. Der
Landtag erhielt das Recht der Gesetzesinitiative sowie der Etatbewilligung,
und schließlich wurde die Rechtsprechung grundlegend reformiert. Mit ih-
ren weitreichenden königlichen Prärogativen orientierte sich die Verfas-
sung zwar noch an den Traditionen des monarchischen Prinzips, ergänzte
diese aber um moderne liberale und rechtstaatliche Elemente.61
Dass man sich trotz der in den 1850er Jahren obwaltenden reaktionären
Grundstimmung des politischen Alltags staatsrechtlich in einer neuen Epo-
che befand, offenbarte sich bei der Thronbesteigung Wilhelms I. Der bereits
1858 für seinen geisteskranken Bruder in die Regierungsverantwortung ein-
getretene Thronfolger hatte zunächst allgemeine Hoffnungen auf liberale Re-
formen ausgelöst. Obwohl er von Friedrich Wilhelm IV. ausdrücklich zur
Eidesverweigerung aufgerufen worden war, hatte Wilhelm anlässlich seines
Regierungsantritts den konstitutionell vorgeschriebenen Schwur auf die Ver-
fassung geleistet und schon bald die konservative Regierung seines Bruders
gegen ein mehrheitlich liberales Ministerium ausgetauscht. Dass der neue
preußische Regent jedoch keineswegs ein überzeugter Verfechter des libera-
len Konstitutionalismus war, zeigte sich spätestens in der Position, die er
——————
61 Vgl. Grimm, Verfassungsgeschichte [wie Anm. 22], S. 208-211 u. 214-217; Hans Boldt,
Die preußische Verfassung vom 31.1.1850, in: Hans Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler
(Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 224-246.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 145

dann 1861 nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. in der Diskussion um die
»Huldigungsfrage« einnahm. Denn nur widerwillig und unter inneradminist-
rativem sowie öffentlichem Druck beugte er sich hier den veränderten staats-
rechtlichen Verhältnissen und gab die Huldigungspläne zugunsten einer fei-
erlichen Krönung auf. An der Krönung selbst lässt sich besonders
anschaulich die Bedeutungs- und Funktionsverschiebung des monarchischen
Zeremoniells im 19. Jahrhundert aufzeigen. An die Stelle der rechtlichen
Verbindlichkeit der Huldigung rückte eine juristisch folgenlose Inszenierung,
die gleichwohl ein großes staatspolitisches Gewicht besaß. Ganz wesentlich
als Mittel zur Gewinnung politischer Mehrheiten für den monarchischen
Herrschaftsanspruch eingesetzt, konnten die politischen Kommunikations-
prozesse jedoch zugleich von außen beeinflusst werden. Was in diesem Zu-
sammenhang besonders ins Auge fällt, ist die gewachsene Deutungsmacht
der Presse. Jenseits der zeremoniellen Handlungen wurde hier über die poli-
tische Bedeutung der Krönung und die Legitimität des daran gekoppelten
Ordnungsmodells gestritten. Auf diese Zusammenhänge wird nun näher
einzugehen sein.

1. Die »Huldigungsfrage«

Bereits vier Tage nachdem Friedrich Wilhelm IV. am 2. Januar 1861 ge-
storben war, legte der preußische Innenminister Schwerin ein umfangrei-
ches Votum vor, in dem er sich zu der »durch den jetzt eingetretenen
Thronwechsel in den Vordergrund gerückten Frage« äußerte, »ob es nach
Emanation der Verfassungs-Urkunde der Erbhuldigung noch bedarf und
ob sie nach deren Bestimmungen und der späteren Gesetzgebung über-
haupt noch geläufig ist«.62 Als liberale Stütze des Ministeriums der
»Neuen Ära«, das Wilhelm I. nach der krankheitsbedingten Niederlegung
der Regierungsgeschäfte durch Friedrich Wilhelm IV. schon im Novem-
ber 1858 berufen hatte, nahm Schwerin einen dezidiert konstitutionellen
Standpunkt ein.63

——————
62 GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Votum des Ministers des Innern v. 6. Januar 1861
betreffend die allgemeine Landeshuldigung mit Rücksicht auf die Bestimmungen der
Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850.
63 Vgl. allgemein zum Ministerium der »Neuen Ära« Leo Haupts, Die liberale Regierung in
Preußen in der Zeit der »Neuen Ära«. Zur Geschichte des preußischen Konstitutiona-
lismus, in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 45-85.
146 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Drei Argumentationsstränge lassen sich aus Schwerins Votum heraus-


filtern, die gegen eine Huldigung sprachen. Zum einen verwies der Innen-
minister auf die Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Institutionen
und Verfahren, welche an die Stelle der Huldigung getreten waren. Zwei-
tens rekurrierte er auf die zu erwartenden Schwierigkeiten, die sich aus den
unterschiedlichen Repräsentationsmodi des Landtags und der Huldigungs-
deputierten ergeben würden. Drittens wies Schwerin darauf hin, dass die
Huldigung als herrschaftslegitimierendes und integrierendes Fest durch die
zu befürchtenden politischen Differenzen entwertet werden könnte. Der
Minister betonte damit zum einen den Funktionsverlust der Huldigung als
eines herrschaftskonstitutiven Ereignisses und strich zugleich heraus, dass
eine formale Beibehaltung des Huldigungszeremoniells dessen Bedeutung
als herrschaftslegitimierendem Fest untergraben könnte. Es schien ihm
notwendig, eine neue zeremonielle Form zu entwickeln, die man etwa in
der Reise des Monarchen durch die Provinzen und damit in der Renais-
sance vormoderner peripatetischer Herrschaftspraktiken finden könnte.64
Trotz dieser Einwände hielt Wilhelm I. jedoch zunächst an seinen Hul-
digungsplänen fest. Während der Innenminister und mit ihm die Mehrheit
des Staatsministeriums auf die Widersprüche zwischen dem herkömmli-
chen Huldigungseid und der Verfassung hinwies und damit einen dezidiert
konstitutionellen Standpunkt einnahm, begriff der preußische König die
Huldigung als Institution, die jenseits der konstitutionellen Grundlagen des
Staates lag.65 Wilhelm I. konnte sich mit seinen Forderungen jedoch nicht
durchsetzen und das vornehmlich aus zwei Gründen. Zum einen wollten
die Minister dem Monarchen in seinem Kurs nicht folgen. In letzter Kon-
sequenz stellten sie den König vor die Alternative, entweder im Sinne der
Mehrheit des Staatsministeriums von einer traditionellen Huldigung mit
Eidesleistung Abstand zu nehmen oder das Ministerium unmittelbar und
noch vor den im Herbst anstehenden Landtagswahlen auszutauschen.66
Zum anderen griff auch die Presse das Thema auf. Bereits einige Tage,
nachdem Wilhelm I. dem Staatsministerium angekündigt hatte, an der
——————
64 Zar Alexander II. praktizierte diese Form moderner Reiseherrschaft zur gleichen Zeit
mit großem Erfolg in Russland. Vgl. Wortman, Scenarios [ wie Anm. 2].
65 Vgl. dazu GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 78, Wilhelm an Staatsministerium,
5.6.1861.
66 In einem Schreiben an den König vom 13. Juni bot das Staatsministerium dem König
den sofortigen »Ministerwechsel« an, falls er sich für eine Huldigung und damit gegen
die Mehrheitsmeinung des Staatsministeriums entscheiden wolle. Vgl. GStAPK, I. HA,
Rep. 90, Nr. 1969, Staatsministerium an den König, 17.6.1861.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 147

Huldigung festhalten zu wollen, berichteten die großen Zeitungen des


Landes über Gerüchte um die Huldigungsfrage. Bereits am 11. Juni wiesen
verschiedene Blätter darauf hin, dass schon bald eine Huldigungsfeier zu
erwarten sei.67 In der Folgezeit entfaltete sich eine ausführliche Kontro-
verse um die Frage, was eine solche Huldigung zu bedeuten habe und in
welchem Verhältnis diese zur konstitutionellen Grundlage des preußischen
Staates stehe.
Unterstützung für seine Huldigungspläne bekam Wilhelm I. nur von
der Kreuzzeitung. Für das erzkonservative Blatt stand es außer Zweifel, dass
dem Monarchen das Recht zukomme, sich huldigen zu lassen. Die Huldi-
gung habe »für das Preußische Königthum selbst die Bedeutung, seinen
eigentlichen Charakter in das rechte Licht zu stellen, und in symbolischer
Form zu erhärten, daß das Preußische Königthum trotz Verfassungs-Ur-
kunde in seinem innersten Wesen und seiner tiefsten Begründung dasselbe
geblieben«.68 Das vermeintliche Recht der Krone wurde hier an die erste
Stelle gesetzt, während der Verfassung nur ein nachgeordneter Rang zuge-
sprochen wurde.
Mit dieser Sichtweise stand die Kreuzzeitung hingegen alleine. Die liberal,
konstitutionell oder demokratisch gesonnene Presse problematisierte ge-
rade diese mit der Huldigung verbundene Hierarchisierung von Königtum
und Verfassung. Die liberale Spenersche Zeitung fand den Aufhänger in der
von der offiziösen Preußischen Allgemeinen (Stern)Zeitung gewählten Formulie-
rung von »Huldigungsfeierlichkeiten«. Man wisse zwar nicht, ob der Begriff
in einem traditionellen Sinne verwendet worden sei. Zweifellos habe der
»Akt der Huldigung in jenem eminenten Sinne« jedoch bereits bei dem Re-
gierungsantritt Wilhelms I. stattgefunden, »als er den Landtag das erste Mal
um sich versammelt sah.« Dennoch wolle man eine mögliche Feierlichkeit
in Königsberg keineswegs zum Gegenstand eines »Partei- oder Wortstrei-
tes« machen. Sicherlich würden dem König dort alle Stände »mit gleicher
Liebe und Begeisterung« zujubeln. Die »monarchischen Traditionen« hät-
ten schließlich »durch die constitutionellen Einrichtungen jedenfalls keine
Abschwächung erfahren, wenn sie sich auch jetzt in deren gesetzlichen
Formen bewegen.«69

——————
67 Vgl. etwa Kreuzzeitung, Nr. 133, 11.6.1861; Magdeburgische Zeitung, Nr. 133,
11.6.1861; Preußische Zeitung, Nr. 134, 12.6.1861.
68 Kreuzzeitung, Nr. 148, 28.6.1861.
69 Spenersche Zeitung, Nr. 135, 13.6.1861.
148 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Entschiedener in ihrem Urteil über zu erwartende »Huldigungsfeier-


lichkeiten« präsentierte sich dagegen die demokratische Volks-Zeitung.
Sämtliche Staatsrechtslehrer stimmten darin überein, dass »eine ›Huldigung‹
als Staatsakt nach der Verfassung nicht mehr stattfindet, sondern an deren
Stelle der Eid der Volksvertretung und der Staatsbeamten tritt, der ›dem
Könige Treue und gehorsam und der Verfassung gewissenhafte Beobach-
tung‹ gelobt.« Alle Feiern und Festlichkeiten anlässlich des monarchischen
Regierungsantritts könnten nur »ein freiwilliger Akt der städtischen Behör-
den und der sich hierbei beteiligenden Staatsbürger« sein. In dieser Freiwil-
ligkeit und im »allgemeinen Charakter der Beteiligung« liege deren spezifi-
scher Wert. Wenn die Preußische Zeitung kein solches »Organ der Waschlap-
pigkeit« wäre, hätte sie das Drängen der Kreuzzeitung auf eine »befohlenen
Huldigung« entschieden zurückgewiesen. An die Stelle einer nur »befohle-
nen Zeremonie«, die »in ihrem Wesen unkonstitutionell« wäre, könne sinn-
vollerweise nur eine »freiwillige Festlichkeit« im »volksthümlichen Sinne«
treten, die eben durch die freiwillige Beteiligung einen »wahren vaterländi-
schen Charakter« bekommen hätte.70
Ein in der Magdeburgischen Zeitung erschienener Artikel setzte sich aus-
drücklich mit der Frage nach dem Verhältnis von Verfassungseid und Hul-
digung auseinander. Nach den Artikeln 54 und 108 der Verfassung, hieß es
dort, würden die »Eide des Königs und der Landesvertreter dem ganzen
Volke« gelten. Daher wäre es »mindestens überflüssig, dasselbe feierlich
und öffentlich noch einmal schwören zu lassen, und daß die Stände etwas
andres oder gar gegen die Verfassung schwören sollen, ist ein gar nicht zu
statuirender Gedanke.« Ideen, wie sie die Kreuzzeitung hinsichtlich einer
Huldigung hege, könnten dagegen »nur in Köpfen entstehen, denen das
monarchische Prinzip so weit abhanden gekommen ist, daß sie nur noch
ein demonstratives Königthum kennen, in Köpfen, die nicht mehr im
Stande sind einen König anders als im Purpur mit Scepter und Krone zu
begreifen.« Es müsse sich aber jener »gesunde Sinn des Volkes« gegen eine
solche »Verrückung des Königthums« wenden, »dem der König deshalb
nicht weniger König ist, weil er nicht den Beirath der Stände hört, sondern
die Gesetze in Gemeinschaft mit Volksvertretern macht.«71
Unter dem Eindruck der Skepsis des Staatsministeriums und der öf-
fentlichen Kritik an einer Huldigung lenkte Wilhelm I. schließlich ein. In
einer für den 3. Juli 1861 zusammen berufenen Beratung mit dem Staats-
——————
70 Volks-Zeitung, Nr. 136, 14.6.1861.
71 Magdeburgische Zeitung, Nr. 137, 15.6.1861.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 149

ministerium trug Wilhelm I. seinen Ministern vor, dass er in der betreffen-


den Frage zwar auf seiner Position bestehen müsse. Da die Verfassung
keine Bestimmung hinsichtlich der Huldigung enthalte, sei der König nach
wie vor berechtigt, eine »Versammlung von Vertretern des Volks« einzube-
rufen, die den schuldigen Huldigungseid zu leisten hätten. Jedoch habe
sich das Staatsministerium gegen einen Huldigung und für eine Krönung
als des wichtigeren und bedeutungsvolleren Aktes ausgesprochen. Es lasse
sich rechtfertigen, führte Wilhelm I. weiter aus, die Krönung zu erneuern,
da das Königtum in Form der Verfassung mit neuen Institutionen umge-
ben worden und damit in eine »neue Phase« eingetreten sei. Dennoch
müsse seinen Nachfolgern ausdrücklich freigestellt bleiben, ob sie sich für
eine Huldigung oder eine Krönung entscheiden wollten.72 Noch am glei-
chen Tag kamen König und Staatsministerium hinsichtlich einer zu veröf-
fentlichende Proklamation überein, die in den folgenden Tagen in den
Zeitungen veröffentlicht wurde. Darin reklamierte der König für sich und
seine Nachfolger das grundsätzliche Recht auf die Erbhuldigung. In An-
betracht der Veränderungen aber, »welche in der Verfassung der Monar-
chie unter der reich gesegneten Regierung Unseres vielgeliebten Bruders
Königs Friedrich Wilhelms IV. Majestät hochseligen Eingedenks eingetre-
ten sind«, habe er beschlossen, »statt der Erbhuldigung die feierliche Krö-
nung zu erneuern, durch welche von Unserem erhabenen Ahnherrn König
Friedrich dem Ersten die erbliche Königswürde in Unserem Hause be-
gründet worden«.73
Mit der Proklamation war die Huldigungsfrage entschieden. Wilhelm I.
hatte sich den konstitutionellen Rahmenbedingungen beugen müssen, de-
ren verbindliche Geltung in der öffentlichen Diskussion nachdrücklich
betont worden war. Dass diese Diskussion mit solcher Intensität geführt
worden war, resultierte keineswegs aus der Übertreibung einer eigentlich
vernachlässigenswerten Nebensächlichkeit. Vielmehr stand hinter dem
Streit um die Huldigungsfeier ein »Verfassungsproblem von erheblichem
Rang« (Ernst-Rudolf Huber). Denn wäre die Erbhuldigung in der her-
kömmlichen Form durchgeführt worden, so hätte sich der Monarch in ei-
nem möglichen Verfassungskonflikt mit den Kammern leicht auf das sich
in der Erbhuldigung aktualisierende provinzialständische Verfassungsrecht
berufen können. Das dahinter stehende ständische Ordnungsmodell war
aber durch die 1850 erlassene Verfassung ersetzt worden. Es war diese
——————
72 GStAPK, I.HA, Rep. 77, Tit. 859, Nr. 37a, Kronratsprotokoll, 3.7.1861.
73 Spenersche Zeitung, Nr. 155, 6.7.1861.
150 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Konstellation, die der Huldigungsfrage ihre Brisanz verlieh. Während die


Krönung als ein »Staatsakt praeter legem« wegen ihrer Traditionslosigkeit
mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen war, wäre die Erbhul-
digung ein »Staatsakt contra legem« und daher verfassungsrechtlich unzu-
lässig gewesen.74
Auch wenn sich die Kommentare nach den parteipolitischen Stand-
punkten unterschieden, goutierte die Presse die Proklamation mit Ausnahme
der Kreuzzeitung als richtige, weil verfassungsgemäße Entscheidung. Es be-
stand Konsens, dass die traditionelle Form der Erbhuldigung nicht mehr mit
den Prinzipien des Verfassungsstaates in Einklang zu bringen war. Auch
Wilhelm I. konnte sich nicht mehr gegen diesen öffentlichen Druck ent-
scheiden. Insofern markiert sein Regierungsantritt den Endpunkt der langen
Geschichte des Huldigungseides. Jenseits des Funktionsverlustes des Eides
ist hingegen zugleich eine Renaissance des Zeremoniells zu beobachten. Vor
dem Hintergrund eines sich medial verändernden öffentlichen Raums ge-
wannen die zeremoniellen Handlungsformen eine neue Bedeutung, die dar-
aus resultierte, dass die monarchische Staatsform politische Mehrheiten für
sich gewinnen musste, um dem eigenen Herrschaftsanspruch aufrechtzuer-
halten. Aus diesem Grund wurde die Huldigung nicht ersatzlos gestrichen,
sondern mit der Krönung durch eine Form des Zeremoniells ersetzt, die
nicht mit den Prinzipien des Verfassungsstaats konfligierte.

2. Das Krönungszeremoniell zwischen Tradition und Innovation

Einige Tage nachdem Wilhelm I. sich in der Kronratssitzung vom 3. Juli


1861 für eine Krönung entschieden und deren Durchführung auf den 18.
Oktober in Königsberg festgesetzt hatte, ließ er unter Führung des Innen-
ministers Schwerin eine Immediat-Kommission zusammenkommen, die
sich mit allen relevanten Planungsfragen auseinandersetzten sollte. Als
Kern dieser Kommission sollten Oberzeremonienmeister von Stillfried-Al-
cántara und Oberhofmarschall von Pückler für ein gelungenes zeremo-
nielles Gesamtarrangement Sorge tragen, Domprediger Snethlage die geist-
lichen Belange vertreten und der Oberbaurat Stüler die erforderlichen
Baumaßnahmen ins Auge fassen. Als Grundlage für die Arbeit der Kom-
mission diente ein von Stillfried zuvor entworfenes Programm, mit dessen
——————
74 Vgl. Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III: Bismarck
und sein Reich, Stuttgart 1971, S. 288-290, Zitate S. 289, 290.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 151

Überarbeitung der preußische König die Kommission betraute.75 Im


Ergebnis stand ein umfangreiches Programm, das von der Hinfahrt des
Königs nach Königsberg über den dortigen Aufenthalt mit seinen zeremo-
niellen Kern- und Rahmenhandlungen bis zur Rückkehr nach Berlin alle
beachtenswerten Punkte berücksichtigte.76
Am 14. Oktober 1861 zog Wilhelm I. feierlich in Königsberg ein und
vier Tage später brach der Krönungstag an. Der Ablauf des Zeremoniells
orientierte sich an dem veröffentlichten Programm. Um 7 Uhr morgens
markierte Glockengeläut den Beginn des Krönungstages. Zu diesem Zeit-
punkt herrschte schon ein reger Betrieb in den Straßen. Das Militär war
bereits auf dem Schlosshof angetreten und hatte sich zum Spalier für den
Krönungszug formiert. In Zügen geordnet trafen in der Folgezeit auch die
Delegationen der Zünfte ein. Als sich dann der Krönungszug um 10 Uhr
vom Schloss aus in Richtung Kirche in Bewegung setzte, war der Schloss-
hof vollständig gefüllt und die Plätze in der Kirche dicht besetzt. Der Krö-
nungszug wurde durch allgemeines Glockengeläut eröffnet und bewegte
sich unter musikalischer Begleitung vom Schloss zur Kirche. Unter der
Regie des Zeremonienmeisters Stillfried wurden die einzelnen Gruppen –
neben dem König und der Königin sowie den Prinzen und Prinzessinnen
befanden sich Teile der höfischen Entourage, die Leiter der Zivilbehörden,
die Inhaber der Erbämter, hochrangige Militärs sowie die Minister in dem
Krönungszug – durch Marschälle angeführt. Nachdem der Zug in der Kir-
che angelangt war, begann der eigentliche Akt der Krönung. Auf die Litur-
gie und das Krönungsgebet folgend ließ sich Wilhelm den Krönungsman-
tel anlegen, schritt zum Altar und setzte sich dort die Krone selbst aufs
Haupt. Danach ergriff er Reichsapfel, Reichsschwert und Zepter, um
schließlich auch Königin Augusta zu krönen. Hofprediger Snethlage sprach
das Weihegebet. Das nun einsetzende Glockengeläut und die abgefeuerten
Kanonenschüssen zeigten dem auf dem Schlosshof befindlichen Publikum
an, dass der Akt der Krönung vollzogen worden war. Als der kirchliche
Teil der Zeremonie beendet war, bewegte sich der Krönungszug unter
Jubelrufen und dem Absingen des »Heil dir im Siegerkranz« zurück zur
Throntribüne. Äußerlich schlug sich der kirchliche Krönungsakt darin
nieder, dass König und Königin nun mit Krönungsmantel und den Herr-

——————
75 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Wilhelm an den Minister des Innern, 6.7.1861.
76 Vgl. GStAPK, BPH, Rep. 113, Nr. 1603, Programm zur Feier der Krönung Sr. Majestät
des Königs Wilhelm; das Programm ist sofort in den Zeitungen abgedruckt und auch
von den offiziellen Beschreibungen der Krönung reproduziert worden.
152 MATTHIAS SCHWENGELBECK

schaftsinsignien ausgestattet waren. Oben auf der Throntribüne stehend


neigte der König sein Zepter dreimal gegen das anwesende Publikum, um
sich dann mit den hohen Würdenträgern, seinem Staatsministerium und
der Generalität in den Thronsaal des Schlosses zu begeben. Dort fand ein
Empfang für die Krönungsbotschafter, die katholische Geistlichkeit und
die ehemaligen Reichsstände statt. Zuvor hatten sich König und Königin
jedoch noch einmal von einem Fenster aus im Krönungsornat dem auf
dem Schlossplatz wartenden Volk gezeigt.77
Nach dem vormodernen Verständnis der Krönung wäre damit der
Vollzug der wesentlichen symbolischen Handlungen abgeschlossen gewe-
sen. 1701 hatte Friedrich I. im Schlafgemach den Krönungsornat angelegt,
sich im Audienzsaal vor dem anwesenden Hofstaat selbst die Krone aufge-
setzt und dann seine Frau gekrönt. Darauf hatte er mit ihr auf dem königli-
chen Thron Platz genommen und die Huldigung der höheren Stände ent-
gegengenommen. Erst dann war Friedrich I. im Krönungszug in die
Schlosskirche geschritten, wo die Salbung stattfand. Nachdem der Zug in
das Schloss zurückgekehrt war, wurde das rote Samttuch zerschnitten und
unter das Volk verteilt, fanden im Schlossinneren die höfischen Tafeln
statt, während das Volk mit einem gebratenen Ochsen und Wein verköstigt
wurde.78 Mit der zeremoniellen Anordnung hatte der preußische König
seinem absolutistischen Herrschaftsverständnis Ausdruck verliehen, das
sich auch über die Stellung der Kirche erhob. Dabei hatte die zeremonielle
Gestaltung ihre Bedeutung darin besessen, dass hervorgebracht worden
war, was man symbolisch dargestellt hatte. Der Rang eines absolutistischen
Königs hatte sich im symbolischen Vollzug der Krönung vor einer euro-
päischen Hochadelsgesellschaft realisiert. Auch wenn sich durchaus noch
andere bedeutsamen Momente herausarbeiten ließen, hatte hier doch die
Kernbotschaft des Zeremoniells gelegen.79
——————
77 Vgl. den ausführlichen Bericht bei Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara, Die Krönung zu
Königsberg am 18. October 1861, Berlin 1873, S. 67-115.
78 Vgl. Jörg Meiner, »Diese so ungemein als rühmliche Weise König zu werden«. Ein
Diarium der Krönungsfeierlichkeiten in Königsberg, in: Deutsches Historisches Mu-
seum (Hg.), Preußen 1701, Eine europäische Geschichte, Bd. II: Essays, Berlin 2001,
S. 191-204.
79 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbst-
darstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in:
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 7 (1997), S. 145-176;
Dies., Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Jo-
hannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdo-
kumentation, Berlin 2002, S. 1-26; Heinz Duchhardt, Die preußische Königskrönung
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 153

Wilhelm I. dagegen musste weder die Königswürde im zeremoniellen


Handeln vor einer europäischen Hochadelsgesellschaft erst erlangen, noch
seine Position gegen die Kirche behaupten. Letzterer Umstand fand seinen
Ausdruck darin, dass der Akt der Krönung anders als 1701 in der Schloss-
kirche stattfand. Der König nahm hier die Krone vom Altar, um sie sich
dann allerdings wiederum selbst aufzusetzen. Der Hofprediger Snethlage
hatte nur die eher dekorative Aufgabe, das Weihegebet zu sprechen. Neben
der Selbstkrönung verdient es der Beachtung, dass auf eine Salbung als der
wichtigsten religiösen Handlungssequenz des traditionellen Krönungsze-
remoniells gänzlich verzichtet wurde.80 Die Kirche war hier zwar noch der
würdevolle Ort des zeremoniellen Geschehens, aber nicht mehr der zent-
rale Legitimationsspender monarchischer Herrschaft. Auch wenn sich Wil-
helm I. noch in der Tradition des Gottesgnadentums sah, zeigte sich in
dessen protestantischer Ausprägung ein sehr viel stärker säkularisiertes
Herrschaftsverständnis als etwas im katholischen Österreich oder im or-
thodoxen Russland.81 Darüber hinaus fand in der Königsberger Schlosskir-
che keine Statusveränderung mehr statt. Wilhelm I. war bereits König mit
allen verfassungsrechtlich festgeschriebenen Rechten und Pflichten. Das
Glockengeläut und die Kanonenschüsse, die 160 Jahre zuvor noch eine
Transformation symbolisch in Szene gesetzt hatten, dienten nur noch als
Signal dafür, dass sich der Krönungszug bald wieder aus der Kirche heraus,
vor dem auf dem Schlosshof versammelte Publikum entlang, die Frei-
treppe hinauf und in das Schloss hinein entfalten würde.
Woraus der monarchische Herrschaftsanspruch nun aber seine wesent-
liche Legitimation zog, wird an einem anderen Programmpunkt deutlich,
der im Vergleich zum Zeremoniell von 1701 neu war. Nachdem katholi-
sche Geistlichkeit, Krönungsbotschafter und ehemalige Reichsstände im
Inneren des Schlosses empfangen worden waren, begab sich der König zu-
——————
von 1701. Ein europäisches Modell? in: ders. (Hg.), Herrscherweihe und Königskrönung
im Frühneuzeitlichen Europa, Wiesbaden 1983, 82-95; Peter Baumgart, Die preußische
Königskrönung von 1701. Das Reich und die europäische Politik, in: Otto Hauser (Hg.),
Preußen, Europa und das Reich, Köln, Wien 1987, S. 65-86.
80 Vgl. zu vormodernen Krönungsritualen die Beispiele in Marion Steinicke (Hg.), Investi-
tur und Krönungsrituale: Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln 2004.
81 Vgl. Jürgen Kocka/Jakob Vogel, Bürgertum und Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Ma-
rio Kramp (Hg.), Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, Mainz 2000,
S. 785-794, hier 788ff.; zu den russischen Krönungen des 19. Jahrhunderts Wortman,
Scenarios [wie Anm. 2], S. 29ff.; zum österreichischen Zeremoniell unter Kaiser Franz
Joseph Daniel Unowsky, Creating Patriotism. Imperial Celebrations in the Cult of Franz
Joseph, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998), S. 280-293.
154 MATTHIAS SCHWENGELBECK

rück auf die Throntribüne vor das Schloss, um dort die Ansprachen der
Vertreter der beiden Häuser des Landtags sowie der provinzialständischen
Krönungszeugen entgegenzunehmen.
Anders als im Jahr 1701 wurde mit diesem Auftritt vor einem großen,
heterogenen Publikum ein zweiter Hauptakt kreiert, der das kirchliche Ze-
remoniell der Krönung geradezu überstrahlte. Zwar bildete die Krönung in
der Schlosskirche im Programm nach wie vor das Zentrum des Zeremo-
niells. Gemessen an dessen veränderten funktionalen Stellenwert kam es aber
vor allem auf die »feierliche Ceremonie auf dem Krönungsbalkon im Ange-
sicht des Volkes« an.82 Der Berichterstatter der Augsburger Allgemeinen Zeitung
sah hierin sogar den »rein politische[n] (...) Theil« des Zeremoniells.83 Da die
Krönung keinen statuskonstitutiven Charakter mehr besaß, ging es wesent-
lich darum, mit dem »äußeren Glanze«, wie es Schleinitz formuliert hatte, auf
die Öffentlichkeit zu wirken. Durch den zeremoniellen Auftritt sollte in
größeren Bevölkerungskreisen Zustimmung zur Monarchie gewonnen wer-
den. In der zeremoniellen Sequenz auf der Throntribüne wurde so das Sze-
nario des monarchischen Herrschaftsentwurfs präsentiert, zugleich zeigten
sich aber auch dessen Grenzen. An zwei Aspekte soll das näher erläutert
werden: zum einen an der symbolischen Ordnung des Raumes, zum anderen
an den Sprechhandlungen des Zeremoniells.
Die räumliche Ordnung vermittelte das Bild traditioneller Hierarchien.
In der Mitte der Throntribüne und auf dem höchsten Punkt, der durch
den herabhängenden Thronhimmel noch zusätzlich hervorgehoben
wurde, stand der Monarch im vollen Krönungsornat. In seiner direkten
Umgebung hatten sich der Kronprinz und die Prinzen des königlichen
Hauses positioniert. Reichsinsignien und Reichspanier wurden von ihren
Trägern präsentiert. Neben dem Thron auf der linken Seitentribüne grup-
pierten sich die Staatsminister und die Krönungsbotschafter, während sich
die Hofstaaten und die Generalität auf der rechten Seitentribüne aufge-
stellt hatten. In unmittelbarer Nähe zum König, besonders abgehoben
durch die prachtvollen Tribünenaufbauten und durch eine lange Frei-
treppe von dem übrigen Publikum getrennt, präsentierte sich hier die hö-
fisch-militärische Elite. Demgegenüber war für die Abgeordneten des
Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses nur ein Platz unterhalb der
Tribüne rechts dem Thron gegenüber eingerichtet, den sie mit den Krö-
nungszeugen aus den Provinzen teilen mussten. Auch dieser Platz war
——————
82 Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 245, 19.10.1861.
83 Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 296, 23.10.1861.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 155

wiederum mit Schranken separiert und erst dann öffnete sich der Raum
für das allgemeine Publikum.
Diese Anordnung brachte das Herrschaftsverständnis Wilhelms I. klar
zum Ausdruck. Er verstand sich weiterhin als König von Gottes Gnaden,
dessen Position sich nicht aus einer in der Verfassung umschriebenen
Stellung bestimmte und der von einer höfisch-militärischen Elite umgeben
war, die ihren Führungsanspruch im Staat behaupten wollte. Allerdings
mussten sowohl die Verfassung als auch die konstitutionell vorgeschriebe-
nen Organe berücksichtigt werden. Auch wenn Wilhelm I. ausdrücklich
darauf bestanden hatte, Krönungszeugen zu benennen, die an die ehemali-
gen provinzialständischen Huldigungsdeputierten erinnern sollten, waren
die Mitglieder der Landtage als die verfassungsmäßigen Repräsentations-
körperschaften im Zeremoniell nicht zu umgehen.
Die Widersprüche zwischen Wilhelms Souveränitätsanspruch und der
Verfassungsgebundenheit des Königsamtes, die nur noch in der staats-
rechtlichen Theorie des monarchischen Prinzips problemlos harmonierten,
fanden ihren Ausdruck in den Ansprachen, die nun gehalten wurden. Da
auch die Krönung in der Tradition vormoderner Konsensrituale stand,
wurden die Konflikte zwar nicht offen ausgetragen, lassen sich aber aus
den fein ziselierten Nuancen der Ansprachen herauslesen. Auf das Podest
der Freitreppe und vor den Thron tretend legte zunächst Prinz zu Hohen-
lohe-Ingelfingen »zu der so eben vollzogenen Krönung die ehrfurchtsvol-
len Wünsche« der Mitglieder des Herrenhauses nieder. Die kurz gehaltene
Ansprache an den König hob die »Liebe und Treue der Preußen für ihren
angestammten Herrscher« hervor und wies in einer traditionellen Form auf
den »Glanz der Krone« hin, der seit 160 Jahren zugenommen habe und
sich auch in Zukunft »immer strahlender« gestalten würde.84 Darauf sprach
von gleicher Stelle der dem Lager der altliberalen »Fraktion Vincke« zuzu-
schlagende Präsident des Abgeordnetenhauses, Eduard Simson, zum Kö-
nig. In dem Akt der Krönung trete die »unmittelbare, die persönliche Be-
ziehung des Herrschers zu seinem treuen und freien Volke« in ihrer »un-
zerstörlichen Bedeutung« hervor. Diese sei durch »die Veränderung der
Verfassung nicht nur nicht beeinträchtigt, vielmehr in Reinheit und Ener-
gie gesteigert« worden. Diese persönliche Beziehung mache das »Königs-
haus zu einem Vaterhause«. Möge daher »Eure Majestät den Zuruf treuer
Liebe und bewußter hingebender Verehrung, wie er Allerhöchstdenselben

——————
84 Stillfried, Krönung [wie Anm. 77], S. 116.
156 MATTHIAS SCHWENGELBECK

in diesen festlichen Tagen tausendstimmig mit unwiderstehlicher Gewalt


entgegengedrungen ist, auch von uns mit gewohnter Huld annehmen.« Nie
sei man gewisser gewesen, schloss Simson, »damit dem tiefsten Sinne des
Preußischen Volkes Ausdruck zu verleihen«, worauf er, Wilhelm, zählen
könne »in guten wie in bösen Tagen«. Simson betonte hier eine »persönli-
che Beziehung« des Monarchen mit einem »freien Volke«, die sich gerade
in der Verfassung nochmals gesteigert habe. Die konstitutionelle Ordnung
des Staates präsentierte er als Garant der Übereinstimmung zwischen Kö-
nig und Volk. Auf dieser Grundlage hob Simson den Wert »bewußter hin-
gebender Verehrung« hervor, die man dem König eben nicht aus Zwang,
sondern aus freiwilliger Anerkennung entgegenbringe.85 Demgegenüber
nahm Graf zu Dohna-Lauck als Vertreter der provinzialständischen Krö-
nungszeugen einen dezidiert konservativen und auf die ständische Vergan-
genheit gerichteten Standpunkt ein. In seiner Ansprache unterstrich er,
dass man im Anschluss an den »erhabenen Akte der Krönung« nicht nur
die »ehrfurchtsvollsten Glück- und Segenswünsche« übermittle, sondern
zugleich noch die »allerunterthänigste Huldigung« unter Versicherung der
»unverbrüchlichen Unterthanentreue« gegen einen »Könige von Gottes
Gnaden« darbringe. Ganz entgegen der Ansprache Simsons rekurrierte
Dohna-Lauck auf die Traditionen ständischer Untertanentreue und stellte
die Krönung als Beweis für die Höherwertigkeit einer göttlich abgesicher-
ten monarchischen Tradition gegenüber »menschliche[n] Gesetze[n] und
Ordnungen« dar.86
Auf diese Ansprachen, in denen die unterschiedlichen Sichtweisen der
Krönung als eines Sieges des Verfassungsstaates oder als eines Beweises für
den Vorrang monarchischer Souveränität zum Ausdruck kamen, antwortete
der König vor dem Thron stehend. Von »Gottes Gnaden« trügen Preußens
König die Krone nun seit 160 Jahren. Er selbst besteige als erster Monarch
den Thron, »nachdem durch zeitgemäße Einrichtungen der Thron umgeben«
sei. Soweit lag in den Worten des Königs durchaus eine Anerkennung der
konstitutionellen Reformen. »Aber eingedenk«, fuhr er fort, »daß die Krone
nur von Gott kommt, habe Ich durch die Krönung an geheiligter Stätte be-
kundet, daß Ich sie in Demuth aus seinen Händen empfangen habe.« In
letzter Konsequenz war es danach eben nicht die Verfassung, welche die Po-
sition des Königs bestimmte, sondern die Tradition des Gottesgnadentums.
Ein weiterer Beleg für Wilhelms Geringschätzung der Verfassung folgte im
——————
85 Ebd., S. 116f.
86 Ebd., S. 118.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 157

nächsten Satz. Hier hob er die »Liebe und Anhänglichkeit« hervor, die ihm
seit seinem Regierungsantritt entgegengebracht worden sei. Im »Vertrauen
darauf«, überging der König souverän die eigentlichen Gründe für das Zu-
standekommen der Krönung, »habe Ich den althergebrachten Erbhuldi-
gungs- und Unterthanen-Eid Meinem treuen Volke erlassen können«.87 Nur
widerwillig fand sich Wilhelm mit den »zeitgemäße[n] Einrichtungen« ab, die
den Thron nun umgaben. Grundsätzlich verstand er sich noch als unum-
schränkter König von Gottes Gnaden. Allerdings hatte sich in der zeremo-
niellen Präsenz der Vertreter des Abgeordnetenhauses und in der Rede ihres
Präsidenten Simson gezeigt, dass die verfassungsmäßigen Einrichtungen
nicht mehr übergangen werden konnten.

3. Printmedialer Deutungskampf: Demonstration des Gottesgnadentums


oder Sieg der konstitutionellen Monarchie?
Jenseits des Zeremoniells, das stark durch die staatliche Inszenierungsho-
heit geprägt war, entwickelte sich jedoch ein printmedialer Deutungskampf
um den politischen Sinn der Krönung, der aus Sicht des monarchischen
Staates nicht mehr zu kontrollieren war. Da symbolisches Handeln grund-
sätzlich deutungsbedürftig ist, insofern Ereignisse oder Gegenstände erst
durch ihre spezifische Deutung einen symbolischen Charakter annehmen,
wurde in der Presse letztlich um die Deutungshoheit über das Krönungs-
zeremoniell gestritten.88 Dabei wurden die Krönungsfeierlichkeiten vor al-
lem in Relation zur Verfassungsfrage gesetzt. Hatte die Krönung den histo-
rischen Sieg des Konstitutionalismus symbolisch bewiesen oder hatte sich
das Gottesgnadentum in seiner alten Stärke zurückgemeldet?
Bereits am Krönungstag wurden die ersten Interpretationen des Kö-
nigsberger Zeremoniells publiziert. Hatte die Kreuzzeitung einige Monate
zuvor noch vehement für eine Huldigung Partei ergriffen, konnte sich das
konservative Blatt mittlerweile auch mit der Krönung abfinden. Diese,
fand man nun, sei »weit davon entfernt eine leere Ceremonie zu sein«.
Wenngleich »räumlich fern«, spielte der Artikel einleitend auf die Rezepti-
onssituation einer Öffentlichkeit der Abwesenden an, stehe man doch »im
Geiste mit vor dem Altar, von welchem heute Se. Majestät unser König die
Preußische Königskrone nimmt«. Und diese Krone sei dieselbe, »von wel-
——————
87 Ebd., S. 118f.
88 Vgl. zum Symbolbegriff Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 4. Aufl., Göttingen
1997, S. 80ff.
158 MATTHIAS SCHWENGELBECK

cher bisher jeder Preußische König bekannt, sie von Gott allein zu Lehn
zu tragen«. Dementsprechend offenbare sich im Königsberger Zeremoniell
die »symbolische Darstellung des Altpreußischen Staatsrechts und der In-
vestitur von Gottes Gnaden« sowie der »unzweideutigste und vernich-
tendste Protest« gegen alle jene, die »das Preußische Königthum in ein Af-
terlehn des allgemeinen Stimmrechts zu verwandeln und das unveräußerli-
che Anrecht auf die Krone aus dem Bewußtsein des Preußischen Volkes
zu escamotieren gedachten.« Mit der Krönung, bei der »das gesammte
Preußische Volk« als Zeuge auftrete, hätte man »den unschätzbaren Beweis
geführt, daß in Preußen das Königthum von Gottes Gnaden noch in dem
Glauben eines ganzen Volkes festgewurzelt ist.«89
In den liberalen Zeitungen sah man das freilich anders. Ebenfalls am
18. Oktober veröffentlichte die Magdeburgische Zeitung auf der ersten Seite
einen großen Artikel über die Krönung. Darin erinnerte der Autor zu-
nächst an den Umstand, dass die Krönung »kein Act des geschriebenen
Staatsrechts« sei und »gegen das Herkommen im Preußischen Königs-
hause« stattfinde. Trotzdem könne sie aber als »etwas sehr Positives« gefei-
ert werden. Mit dem heutigen Tage, an dem es »zum erste Male der unum-
schränkte Willen eines constitutionellen Königs ist, mit seinem Volke ein
monarchisches Fest zu begehen«, werden nämlich gezeigt, dass »der mo-
narchische Sinn im Volke die tiefsten Wurzeln« habe. Daher auch könne
sich die »liberale Partei« dieses Tages »besonders freuen«, sehe sie doch
»nach langen Drangsalen« nun endlich »die Richtigkeit ihrer Grundsätze
auf dem Throne wieder anerkannt« und sich zugleich einer Regierung ge-
genüber, mit der zusammen sie »vertrauensvoll an dem Wohle des Landes«
arbeiten könne.90 Auch die Kölnische Zeitung unterstrich nachdrücklich, dass
die Krönung ihre »mittelalterliche« Bedeutung als eines Beweises für die
»Rechtmäßigkeit des Köngthums« längst abgelegt habe. Da sie aber »immer
ein ehrwürdiges Symbol des echten Königthums« bleibe, ergreife »das
preußische Volk gern die Gelegenheit, zu zeigen, wie tiefverwurzelt seine
Anhänglichkeit an das Königthum ist und wie sehr unser König durch sein
verfassungsmäßiges Regiment, durch die weisen und gerechten Grundsätze
seiner Regierung sich die Liebe und das Vertrauen seiner Unterthanen er-
worben hat«. Man dürfe aber vor allem nicht vergessen, dass die Krönung
diesmal noch eine besondere Bedeutung habe; nämlich zu beweisen, »daß
dieses alte Königthum durch die Verfassung nichts von seinem Glanz
——————
89 Kreuzzeitung, Nr. 244, 18.10.1861.
90 Magdeburgische Zeitung, Nr. 214, 18.10.1861.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 159

verloren habe«. Und damit könnten »wir, die Freunde des verfassungsmä-
ßigen Königthums«, ganz besonders einverstanden sein. Das »Junkerthum«
dagegen täusche sich gewaltig, wenn es aus »dem mittelalterlichen Prunke
der Krönung, aus den Herolden, Erb- und Erzämtern, den Standeserhö-
hungen u.s.w. u.s.w.« den Schluss ziehe, dass damit auch »mittelalterliche
Ideen wieder hochkommen.« Preußens Könige seien »zu aufgeklärt, um
nicht einzusehen, daß das Königthum nicht in den toten Formen einer
längst überlebten Vergangenheit gedeihen kann«. Dieses könne sich dage-
gen nur »jung und frisch« erhalten, wenn es sich mit den »Ideen und Be-
dürfnissen der Zeit in Übereinstimmung« befinde.91 Dass die Krönung als
symbolischer Ausdruck des konstitutionellen Zeitalters zu werten sei, darin
waren sich die liberalen Zeitungen durchweg einig.
Da die Bedeutung des symbolischen Handelns in einer Presselandschaft
verhandelt wurde, die nicht mehr über zensorische Maßnahmen zu kon-
trollieren war, musste sich der monarchische Staat auf eine aktive Presse-
politik besinnen, um auf die vielschichtigen, politisch motivierten Inter-
pretationen zu reagieren. Hierzu ließ das Staatsministerium am Tage der
Krönung einen Artikel in der Sternzeitung veröffentlichen, der zunächst den
historischen Ursprung der Krönung in Erinnerung rief. Die Krönung sei
jedoch nicht zu einer »bei jedem Regierungsantritt wiederkehrenden Ge-
wohnheit« geworden. Ihre erstmalige Wiederholung entspringe der Ein-
sicht Wilhelms I., dass »der Staat auf seinen äußeren und inneren Bahnen,
daß das erhabene Königshaus und sein treues Volk neuen Geschicken ent-
gegenreisen, zu denen beide sich würdig vorbereiten wenn sie in hoher,
ernster Feier das unvergleichliche Band, welches sie verknüpft, und die ei-
genthümlichen Grundlagen welche diesem Staate seine wunderbare Ge-
schichte geben, und die daraus stammenden Pflichten sich dem Herzen
und dem Willen tief einprägen.« In der »Epoche der politischen Freiheit«
sei der preußische Staat »die lebendige, sich täglich vollziehende That des
preußischen Volks und seines Herrscherhauses.« Vor diesem Hintergrund
nehme Wilhelm I. nun am heutigen Tage »die Königskrone vom Tische
des Herrn«, und zwar »zum Zeichen daß er mit königlichen Gedanken, mit
der Kraft eines eigenen hohen Willens die Geschicke eines freien Volkes in
einer Zeit tiefer Bewegungen und neuer Gestaltungen, zur herrlichen Meh-
rung des unvergleichlichen Ruhms seiner Ahnen, einer glücklichen und
glanzvollen Zukunft entgegenführen will«.92
——————
91 Kölnische Zeitung, Nr. 289, 18.10.1861.
92 Allgemeine Preußische Zeitung, Nr. 244, 18.10.1861.
160 MATTHIAS SCHWENGELBECK

In der politischen Bewertung der Krönung blieb der Artikel eher vage.
Einerseits wurden die Neuerungen der »Epoche der politischen Freiheit«
anerkannt, wurde auf die »neuen Geschicke« eines »freien Volks« und das
notwendige Zusammenwirken von Monarch und Volk als Grundlage des
preußischen Staates verwiesen. Anderseits wurde zugleich unmissverständ-
lich zum Ausdruck gebracht, dass der König die Krone aus eigenem Recht
»vom Tische des Herrn« nehme und es seine Tatkraft sei, die »zur herrli-
chen Mehrung des unvergleichlichen Ruhm seiner Ahnen« den preußi-
schen Staat in die Zukunft führe. Grundlage dafür sollte schließlich das
nicht näher erläuterte »unvergleichliche Band« sein, das Monarch und Volk
verbinde. Eine solche offene Darstellung entsprach der gesamten Strategie
des Staatsministeriums in der Frage der printmedialen Popularisierung der
Krönung. Man versuchte durch politisch unverfängliche, aber eindrucks-
volle Berichte ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Da die Stern-
zeitung aber nur einen vergleichsweise kleinen Leserkreis erreichen konnte,
kam es vor allem darauf an, dass die Artikel auch in anderen Zeitungen ab-
gedruckt wurden. Das konnte man jedoch nur erreichen, wenn man poli-
tisch moderat blieb. Dass diese Strategie durchaus verfing, kann man an
der Publikation des oben angeführten und anderer Artikel zur Krönung
ablesen, die in verschiedenen großen Zeitungen abgedruckt wurden.93 Aus
Sicht des Staatsministerium musste es das Ziel der aktiven Pressepolitik
sein, den Glanz des Krönungszeremoniells möglichst weit zu verbreiteten.
Jedoch zeigten die unterschiedlichen politischen Interpretationen in den
übrigen Zeitungen, dass eine effektive Deutungskontrolle in einer ausdiffe-
renzierten Presselandschaft nicht mehr zu leisten war.

V. Zusammenfassung
Das Huldigungs- und Inthronisationszeremoniell blieb als Phänomen der
longue durée über das 18. Jahrhundert hinaus erhalten. Zwar ging der rechtli-
che Gehalt der Huldigung, ihr Charakter als »Verfassung in actu« allmäh-
lich seit der Aufklärung und dann vor allem mit dem Aufkommen des
Konstitutionalismus verloren. Darüber hinaus wurde zu Beginn des 19. Jahr-
——————
93 Vgl. zu dem angesprochenen Artikel Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 293,
22.10.1861; Magdeburgische Zeitung, Nr. 245, 19.10.1861; sowie viele unterschiedliche
Meldungen über die Krönung auch in der Spenerschen Zeitung.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 161

hunderts an vielen Höfen auf dynastische Prachtentfaltung verzichtet. Jedoch


kamen ausführliche monarchische Repräsentationen seit den 1830er und
1840er Jahren wieder in Mode. Auch die Regierungsantritte der Monar-
chen wurden wieder expliziter gefeiert.
Die Huldigungsfeiern, die im Jahr 1840 anlässlich der Thronbe-
steigung Friedrich Wilhelms IV. gefeiert wurden, zeigten noch eine Über-
lagerung von traditionellen Bedeutungsebenen der Huldigung als eines
herrschaftskonstitutiven Aktes und dem neuen Stellenwert der Zeremo-
niells als herrschaftslegitimierendem Ereignis. Dabei ist hier argumentiert
worden, dass der von Heinrich von Treitschke als Missverständnis ge-
deutete Widerspruch zwischen den Verfassungshoffnungen, die sowohl
in Königsberg als auch in der preußischen Öffentlichkeit geäußert wur-
den, und dem konservativen »monarchischen Projekt« Friedrich Wil-
helms IV. auf eine entgegen gesetzten, paradoxen Lesart der Huldigung
zurückzuführen ist, die ihren Grund in der Überlagerung dieser beiden
Ebenen hatte: Diejenigen, die sich eine Verfassung erhofften, interpre-
tierten die Huldigung traditionell, während der konservative König die
Huldigung in einem modernen Sinne verstand. In den Königsberger und
Berliner Ereignissen des Jahres 1840 bewegten sich die Herrschaftsreprä-
sentationen in einem sich öffnenden Spannungsfeld zwischen Herr-
schaftskonstitution und Herrschaftslegitimation, was in den unterschied-
lichen Auffassungen der Akteure einen beredten Ausdruck fand. Bei der
Krönung im konstitutionellen Preußen des Jahres 1861 war diese Ambi-
valenz verschwunden. In der Diskussion der »Huldigungsfrage« zeigte
sich, dass die rechtverbindliche Herkunft des Huldigungsaktes ein sol-
ches Zeremoniell im Verfassungsstaat nicht mehr zuließ. In der Krönung
offenbarte sich dann eine Form der Herrschaftsrepräsentation, die juris-
tisch folgenlos war, aber eine eminente staatspolitische Funktion zur
Legitimation des monarchischen Herrschaftsanspruchs besaß. Vor dem
Hintergrund einer politisch ausdifferenzierten Presselandschaft war je-
doch nicht mehr sichergestellt, dass die gewünschte Wirkung auch durch
das Zeremoniell erzielt wurde. Die Deutungskontrolle des symbolischen
Handelns war hier aufgrund der medialen Struktur des öffentlichen Raums
zum Scheitern verurteilt.
In der Vormoderne hatte die Huldigung ein typisches Konsensritual
dargestellt. In der Aufführung der Huldigung war symbolisch die prinzi-
pielle Einigkeit über die Struktur der Herrschaft zum Ausdruck gebracht
worden. In dieser Hinsicht zeigte bereits die Huldigung für Friedrich
162 MATTHIAS SCHWENGELBECK

Wilhelm IV., dann aber vor allem die Krönung für seinen Nachfolger auf
dem preußischen Thron, dass ein solcher Konsens über die politische
Ordnung nicht mehr bestand. An die Stelle der Aufführung eines Kon-
senses trat immer stärker die Abbildung eines Konflikts, auch wenn das
gerade nicht im Interesse des monarchischen Staats lag. Diente das Ze-
remoniell einerseits der Legitimation monarchischer Herrschaft, entwi-
ckelte sich andererseits ein komplexer Kommunikationsprozess, in dem
die Inszenierungshoheit des monarchischen Staates unterlaufen werden
konnte. Symbolgeschichtlich lag der Grund dafür in einer langfristigen
Verschiebung von den traditionellen Realsymboliken, die unmittelbar
bewirken, was sie symbolisieren, zu einem seit der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts einsetzenden deutungsoffenen Symbolgebrauch.94 Peter
Burke hat darauf hingewiesen, dass sich mit dem Aufstieg des »buch-
stabengetreuen Denkens« ein Übergang zur »modernen Weltanschauung«
diagnostizieren ließe, in der »die Einstellung gegenüber Symbolen viel
zwiespältiger« geworden sei.95 Für die hier untersuchten Formen des Huldi-
gungs- und Inthronisationszeremoniells ist dieser Einschätzung ausdrück-
lich zu folgen. Denn die prinzipielle Deutbarkeit symbolischen Handelns
ermöglichte nun die politisch-reflexive Vereinnahmung des zeremoniellen
Geschehens. Nach dem Verlust ihrer rechtskonstitutiven Verbindlichkeit
wurden Herrschaftsrepräsentationen – verstanden als Darstellungen von
Herrschaftsverhältnissen – zu einem politisch umkämpften Terrain.

——————
94 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Emblematische und symbolische Formen der Orientierung,
in: ders. (Hg.), Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziolo-
gischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989,
S. 158-184.
95 Peter Burke, Historiker, Anthropologen und Symbole, in: Rebekka Habermas/Niels
Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthro-
pologie, Berlin 1992, S. 21-41, hier 30f.
Wilhelm I. am »historischen Eckfenster«:
Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Alexa Geisthövel

»Aufrecht am Eckfenster« hat der Schriftsteller Günter de Bruyn ein Ka-


pitel seines 2002 erschienenen Buches Unter den Linden überschrieben, in
dem er die berühmte Berliner Straße entlang spaziert und historische Orte
mit historischen Persönlichkeiten belebt. Beim »Alten Palais« an der westli-
chen Seite des Opernplatzes, gegenüber der Reiterstatue Friedrichs II.,
schräg gegenüber von Humboldt-Universität und Staatsbibliothek, sind es
Kaiserin Augusta und Kaiser Wilhelm I., die ihm Stoff für Anekdotisches
liefern. Seitenweise kolportiert er die Prüderie der Kaiserin, bevor er auf
jene Szene zusteuert, nach der das Kapitel benannt ist: Das Arbeitszimmer
des Kaisers »war, des sogenannten Historischen Eckfensters wegen, allen
Berlinern und Berlin-Besuchern vertraut. Jeden Mittag um zwölf, wenn die
Marschmusik über die Linden schallte und die Garde zur Wachablösung
vorbeimarschierte, erhob sich der Kaiser von seinem Schreibtisch, knöpfte
den Uniformrock zu, rückte am Hals den Pour le mérite genau in die Mitte
und zeigte sich in strammer Haltung am Fenster, noch mit Neunzig kein
bißchen vom Alter gebeugt.«1
Dass sich die Berliner Republik mit ein wenig Kaiserfolklore verträgt,
verweist auf ein nach wie vor gültiges Ideal des menschlichen, zugäng-
lichen Herrschers,2 das mit dem »historischen Eckfenster« zu Lebzeiten
Wilhelms I. eine prägnante und in Versatzstücken offenbar langlebige Aus-
formung erfuhr. Schon damals wurde das Fenster als Gegenstand touristi-
scher Schaulust beschrieben. In einem Baedeker-Reiseführer von 1878
heißt es im Abschnitt »Unter den Linden« zum Eintrag »Palais des Kaisers
Wilhelm«: »Das Parterre-Zimmer nach dem Opernhause zu bewohnt der
——————
1 Günter de Bruyn, Unter den Linden, München 2002, S. 104. Der vorliegende Beitrag
geht hervor aus dem Projekt »Inszenierung der Macht vor wechselndem Publikum:
Hochadelige Selbstdarstellung in Kurorten als Form politischer Kommunikation«, das
Teil der ersten Förderungsphase des Bielefelder SFBs 584 »Das Politische als Kommu-
nikationsraum in der Geschichte« war.
2 Vgl. verschiedene Beiträge in: Kursbuch 150 »König und Königin«, Dezember 2002.
164 ALEXA GEISTHÖVEL

Kaiser; eine aufgezogene Fahne deutete seine Anwesenheit im Palais an;


von dem Eckfenster existirt eine bekannte Photographie.«3 Die drei lapida-
ren Sätze liefern eine Gebrauchsanleitung für die Besichtigung des Monar-
chen in der an Sehenswürdigkeiten reichen Hauptstadt. Die beiden ersten
Sätze grenzen den Aufenthalt des Kaisers räumlich und zeitlich ein; sie hel-
fen dem Betrachter vor Ort auf die Sprünge. Der dritte Satz erwähnt eine
»bekannte Photographie« eines Eckfensters, das noch so viel bekannter als
sein Abbild sein muss, dass dem Touristen seine Bedeutsamkeit nicht wei-
ter erläutert wird. Wichtig erscheint dagegen die Information, dass dieses
Detail der kaiserlichen Behausung auch in einem Medium verfügbar ist, das
massenhaft zirkuliert und es erlaubt, den Anblick des Fensters raumzeitlich
verschoben zu reproduzieren. Keiner der drei Hinweise bezieht sich auf
die leibhaftige Erscheinung des Kaisers, und doch kreisen sie um genau
dieses Desiderat seiner Gegenwart.
Die indirekte Annäherung an das politische Führungspersonal, so der
Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags, ist eine im Übergang zur
Hochmoderne typische Haltung. Herrschaftsrepräsentation bedient sich in
dieser Zeit der Figur des nahbaren Herrschers, dem das Publikum in zu-
traulicher Distanz begegnen kann. Im ersten Teil des Beitrags werden ei-
nige allgemeine Annahmen über die Öffentlichkeit der Monarchie im 19.
Jahrhundert vorgestellt. Im zweiten und dritten Teil wird am Beispiel des
»historischen Eckfensters« konkretisiert, wie sich die Annäherung an Wil-
helm I. von Preußen-Deutschland in seiner häuslichen Umgebung gestal-
tete und wie diese in Printmedien repräsentiert wurde. Abschließend soll
die Nahbarkeit des Monarchen in den 1860er bis 1880er Jahren in Bezie-
hung zur Medienmonarchie nach 1890 gesetzt werden.

I. Monarchische Zeigepflichten und öffentliche


Interaktionen im 19. Jahrhundert
Der Beitrag schließt an Diskussionen zum Verhältnis von Monarchie und
Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert an. Lange Zeit ist dieses Verhältnis als
Opposition verhandelt worden, als Machtverlust und Beharrungsvermögen

——————
3 Berlin, Potsdam und Umgebungen. Separat-Abdruck aus Bædeker’s Nord-Deutschland,
Leipzig 1878, S. 19.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 165

der europäischen Monarchien gegenüber der Kritik und den Partizipati-


onsbestrebungen bis dato herrschaftsferner Gruppen. Versteht man das
Politische als Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, so stellte
sich damit die Frage, wie »die Öffentlichkeit« als vorgestellter kollektiver
Akteur Entscheidungsfindungsprozesse beeinflusste oder welche »öffentli-
che Meinung« die Beherrschten hatten.
Eine andere Perspektive nehmen repräsentationshistorische Arbeiten
ein, die sich mit der Verbindlichkeitserzeugung für hergestellte oder herzu-
stellende Entscheidungen beschäftigen und die Darstellung von Herrschaft
daher als elementaren Bestandteil des Politischen verstehen. Hier meint
»Öffentlichkeit« eine Sphäre symbolischer Politik, in der Einzelne und
Gruppen von Akteuren als Organisatoren, Protagonisten und Publikum an
der Herrschaftsdarstellung mitwirken. Untersuchungen zur absolutisti-
schen Hofkultur interessieren sich schon seit längerem für nonverbale und
nichtdiskursive Kommunikationsformen, die Herrschaft für die von ihr
Betroffenen sinnlich und daraufhin sinnhaft erfahrbar machen.4 Die Ge-
schichtsschreibung zum 19. Jahrhundert hat sich solch entscheidungsfer-
nen Herrschaftsdarstellungen nicht zufällig von den Rändern her genähert
und sich auf die Figuren von Monarchinnen oder jener männlichen Fürs-
ten konzentriert, deren Repräsentationsgebaren Zeitgenossen und Nach-
welt als Ausdruck einer devianten »Persönlichkeit« erschien.5 Ein weiterer
Untersuchungsstrang geht nicht von monarchischen Individuen aus, son-
dern von Ereignissen expressiver Verdichtung, etwa militärischen Feiern,
Monarchenbegegnungen und Huldigungen.6 Die Forschung hat das Außer-
alltägliche bisher aus nahe liegenden Gründen bevorzugt, weil bei diesen

——————
4 Vgl. etwa Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunika-
tion in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994.
5 Dorothy Thompson, Queen Victoria. Gender and Power, London 1990; Adrienne Mu-
nich, Queen Victoria’s Secrets, New York 1996; Margaret Homans, Royal Representa-
tions. Queen Victoria and British Culture (1837-1876), Chicago 1998; Juliane Vogel,
Elisabeth von Österreich. Momente aus dem Leben einer Kunstfigur, Frankfurt/M.
1998; John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 4.
Aufl. München 1995; Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte,
Berlin 1996; Katharina Sykora (Hg.), »Ein Bild von einem Mann« – Ludwig II. von Bay-
ern. Konstruktion und Rezeption eines Mythos, Frankfurt/M. 2004.
6 Vgl. neben dem Beitrag von Matthias Schwengelbeck in diesem Band Jakob Vogel,
Nationen im Gleichschritt: der Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frank-
reich, 1871-1914, Göttingen 1997; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchen-
begegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn
2000.
166 ALEXA GEISTHÖVEL

Gelegenheiten dicht gesäte, bedeutungssatte Quellen entstanden sind, aus


denen die Verbindlichkeit einer monarchisch zentrierten »Nation«, eines
»Reiches« oder »Staates« gewissermaßen hervorspringt.
Demgegenüber nimmt sich das Eckfenster einer fürstlichen Behausung
informationsarm und banal aus. Jedoch erlaubt diese Marginalie zu zeigen,
wie sich das Profane und Alltägliche im 19. Jahrhundert in das Erschei-
nungsbild der Monarchie einfügte.7 Dazu gehören die hinlänglich bekann-
ten Attribute der Bürgerlichkeit, die bürgerliche Sprecher an Adel und
Fürsten herantrugen und in bestimmten Praktiken derselben wiederer-
kannten.8 Die »elitäre Askese« gerade des preußischen Adels beispielsweise
stimmte der Form nach mit bürgerlichen Maximen von Bescheidenheit
und Selbstbeherrschung überein, ohne dass deshalb von einem bürgerli-
chen Selbstbewusstsein der Betreffenden die Rede sein könnte.9 Neben
Zuschreibungen, die die Lebensführung betreffen, finden sich immer wie-
der auch Aussagen über »Herablassung« und »Leutseligkeit«, die Fürsten in
beiläufigen oder gesuchten Begegnungen mit Personen aus dem »Volk« an
den Tag legen.
Auch beim Eckfenster geht es um die Frage, wie der Monarch mit je-
nen Anwesenden interagierte, die zeitgenössische Beobachter als Reprä-
sentanten des »Volks«, der Beherrschten insgesamt, beschrieben. Von In-
teraktion ist die Rede, wenn mehrere Personen füreinander wahrnehmbar
werden und daraufhin zu kommunizieren beginnen.10 Diese einfache,
instabile Form angesichtiger Kommunikation mit ihren kurzen Reaktions-
zeiten steht in dem Ruf, eine »menschliche« Nähe zwischen den Beteiligten
herzustellen, die sich auf diese Weise wie »von selbst« verständigen. Wie
Ansätze aus unterschiedlichen soziologischen Schulen nahe legen, sind In-
teraktionen aber alles andere als voraussetzungslos und selbstläufig. Den
Effekt spontaner, unvermittelter Kommunikation können sie paradoxer-
——————
7 Dies ist auch das Argument der noch nicht publizierten Dissertation von Eva Giloi
Bremner zur kommerziellen Repräsentation der Hohenzollern-Monarchie im 19. Jahr-
hundert. Vgl. dies., »Ich kaufe mir den Kaiser!« Royal Relics and the Culture of Display
in Nineteenth-Century Prussia, in: GHI Bulletin Nr. 30 (Frühjahr 2002), S. 87-97.
8 Vgl. Ute Daniel, Hoftheater: zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19.
Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 123-125.
9 Diese Diagnose Stephan Malinowskis für die Zeit nach 1918 lässt sich auf das 19.
Jahrhundert übertragen, vgl. Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politi-
sche Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Frankfurt/
M. 2004, S. 94.
10 André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssys-
teme, Frankfurt/M. 1999, S. 15.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 167

weise gerade deshalb hervorrufen, weil sie auf wechselseitiger Beobachtung


beruhen, sich häufig an standardisierte und daher erwartbare Verhaltens-
muster halten, die der Situation angepasst sind und nicht etwa ein vermu-
tetes »invariantes Selbst« der jeweils Beteiligten zum Vorschein bringen.11
Dies wird historisch bedeutsam, wenn man davon ausgeht, dass sich im
19. Jahrhundert die Kommunikationsverhältnisse fundamental wandelten.
Als ein Signum dieser Epoche gilt der Bedeutungsverlust präsentischer ge-
genüber absentischen Kommunikationsformen. Während raumzeitlich
gedehnte, mediale Kommunikation unter Abwesenden immer weitere Le-
bensbereiche durchdrang, verlor die lebensweltlich eingebettete Interak-
tion, bei der die Kommunikanten füreinander sinnlich wahrnehmbar sind,
ihre Selbstverständlichkeit. Das heißt jedoch nicht, dass die eine Kommu-
nikationsform die andere einfach ersetzte.12 Unter den Bedingungen eines
medialen Regimes konnte unvermittelte Kommunikation, die auf unmittel-
barer sinnlicher Wahrnehmung der Beteiligten beruhte, vielmehr erst in
den Ruf gelangen, besonders für die Kommunikation zwischen Menschen
geeignet zu sein.13
Vor diesem Hintergrund waren auch die »monarchische[n] Zeige-
pflichten«14 in der zweiten Hälfte des kurzen 19. Jahrhunderts angesiedelt.
In der Tagespresse, in neuen Medien wie den illustrierten Familienzeit-
schriften, in Büchern und Fotografien zirkulierten Bilder und Texte, in de-
nen zunehmend professionelle Beobachter allerhöchste Personen einem
immer größeren Publikum von Abwesenden zunehmend kontinuierlich
vergegenwärtigten. Die mediale Berichterstattung machte sich dabei zum
Instrument einer der grundlegenden Paradoxien »bürgerlicher Öffentlich-
keit«, indem sie die konstitutive Unterscheidung von privat und öffentlich
ständig unterlief. So erörterten schon die Aufklärer gerade jene Lebensbe-
reiche von Fürsten und Hochadel in öffentlichen Foren, die sie selbst als
——————
11 Hans Peter Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft.
Eine Pathologie des Alltagslebens. 3., neu bearb. Aufl. Stuttgart 1980, S. 51; vgl. vor al-
lem Erving Goffman, Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behavior, New York
1967; Kieserling, Kommunikation [wie Anm. 10].
12 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1996, S. 30-31; Moritz
Föllmer, Interpersonale Kommunikation und Moderne in Deutschland, in: ders. (Hg.),
Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19.
Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 9-44.
13 In dieser Tradition steht noch Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit.
Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Aufl. Frankfurt/M.
1991.
14 Vogel, Elisabeth von Österreich [wie Anm. 5], S. 161.
168 ALEXA GEISTHÖVEL

privat deklarierten, wie etwa die Sexualität. Auch als mit dem preußischen
König Friedrich Wilhelm III. und seine Frau Luise Herrscher auftraten, die
nicht in das Narrativ des ausschweifenden Hoflebens passten, sondern
modellhaft bürgerliche Lebensführung auf dem Thron verkörperten,
wurde gerade die Intimität ihres Familienlebens ein publizistisches Thema.
Zugleich stand der vervielfältigten medialen Verfügbarkeit der Monar-
chen die Erwartung zur Seite, dass sie auch leibhaftig präsent sein sollten.
Königin Victoria von England, Kaiserin Elisabeth von Österreich und
König Ludwig II. von Bayern sind nur die prominentesten Beispiele, bei
denen schon in den 1860er und 1870er Jahren dauerhafte Abwesenheit
von der Hauptstadt, die Weigerung sich zu zeigen, als Verstoß gegen ihre
monarchischen Pflichten kritisiert wurden.15 Gelegenheit, sich bei alltägli-
chen Anlässen höchstpersönlich vor einem kopräsenten Publikum von Be-
herrschten sehen zu lassen und dabei mit diesem zu interagieren, boten
beispielsweise militärische Inspektionen, Besuche in karitativen Einrich-
tungen, das Erscheinen in der königlichen Theaterloge und auf dem Bal-
kon des Schlosses oder die Spazierfahrt im offenen Wagen. Solche Auf-
tritte und Begegnungen waren wiederum ein bevorzugtes Sujet der Be-
richterstattung. Die im Folgenden herangezogenen Quellen, in erster Linie
Texte und Abbildungen aus illustrierten Familienzeitschriften,16 sollen in
diesem Sinne vor allem daraufhin untersucht werden, wie sie die wechsel-
seitige Wahrnehmung von Monarch und Publikum sowie daraus folgende
Interaktionen thematisieren. Die Kommunikationen am Eckfenster detail-
liert zu untersuchen, läuft daher nicht auf eine »dichte Beschreibung« hinaus,
die sich an ihrer Anschaulichkeit erfreut. Vielmehr wird versucht, durch Abs-

——————
15 Thompson, Queen Victoria [wie Anm. 5], S. 55-57; Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin
wider Willen, Wien 1983, passim.; Christof Botzenhart, »Ein Schattenkönig ohne Macht
will ich nicht sein«. Die Regierungstätigkeit König Ludwigs II. von Bayern, München
2004, S. 24-25.
16 Zu dieser besonderen Quellengattung vgl. Dieter Barth, Zeitschrift für alle. Das
Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in
Deutschland, Münster 1974; Hartwig Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland
am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung,
in: Buchhandelsgeschichte 2 (1983), Nr. 48, S. B41-B65; Bernd Weise, Pressefotografie.
II. Fortschritte der Fotografie- und Drucktechnik und Veränderungen des Pressemark-
tes im Deutschen Kaiserreich, in: Fotogeschichte 9 (1989), S. 27-62; Joachim Schöberl,
»Verzierende und erklärende Abbildungen«. Wort und Bild in der illustrierten Familien-
zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der Gartenlaube, in: Harro Sege-
berg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens: zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Li-
teratur und Kunst, München 1996, S. 207-234.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 169

traktion und Distanznahme einem impliziten Kommunikationsideal der


Sinnlichkeit und der Nähe auf die Spur zu kommen, das für die Vor- und
Darstellung der Beziehung von Herrschern und Beherrschten im Übergang
zur Hochmoderne bedeutsam gewesen zu sein scheint.

II. Einblicke: Der Monarch in seiner Wohnung


Damit eine Interaktion stattfindet, müssen die Beteiligten zunächst fürein-
ander wahrnehmbar werden. Die »Sichtbarkeit« der Monarchie beginnt mit
konkreten Wahrnehmungsvorgängen, mit unterschiedlichen Formaten des
Sehens und Gesehen-Werdens. Dass deren Schauplatz das Wohnhaus Wil-
helms I. war, verlieh den Blicken des Publikums von vornherein etwas
Durch- und Eindringendes, ein Element der Grenzüberschreitung. Denn
die Behausung der öffentlichen Person Wilhelm I. enthielt zwar amtliche
und öffentliche Räume, zugleich galt sie aber als Behältnis seiner Privat-
sphäre.
Wilhelm I., 1797 als zweiter Sohn Friedrich Wilhelms III. geboren, be-
zog das Palais nach seiner Eheschließung 1829 zunächst als Dienstwoh-
nung und erwarb es einige Jahre später als Eigentum. Da die Ehe seines
Bruders Friedrich Wilhelm IV. kinderlos blieb, stand bald fest, dass Wil-
helm oder sein 1831 geborener Sohn irgendwann dessen Erbe antreten
würden. Es dauerte aber noch rund drei Jahrzehnte, bis er 1858 als Regent
für seinen regierungsunfähigen Bruder die Geschäfte übernahm und ihm
1861 auf dem Thron folgte. Der neue Herrscher zog nicht in das Schloss
um, sondern blieb zeitlebens in einem Gebäude wohnen, das nicht nur
weniger repräsentativ, sondern auch stärker in ein städtisches Umfeld hin-
eingebaut war.
Das Haus des Königspaares lag an der Straße Unter den Linden, die ge-
samte Gebäudefront grenzte unmittelbar an das Trottoir, die freistehende
linke Seite zum Opernplatz schirmte eine begrünte Pergola ab.17 Von Ja-
nuar bis Mai – Sommer und Herbst waren Kuren, Manövern, Jagden, Be-
suchen auswärtiger Höfe und anderen offiziellen Terminen vorbehalten –
lebte Wilhelm I. auf dieser linken Seite des Hochparterres, seine Frau Au-
——————
17 Vgl. Helmut Börsch-Supan, Wohnungen preußischer Könige im 19. Jahrhundert, in:
Karl Ferdinand Werner (Hg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1982,
S. 99-120, hier S. 110-113.
170 ALEXA GEISTHÖVEL

gusta in den Räumen darüber im ersten Stock. Rückwärtig schloss sich die
damalige königliche Bibliothek an, rechts Unter den Linden das niederlän-
dische Palais. Bei Umbauten in den 1830er Jahren waren an der rechten
Rückseite weitläufige Räumlichkeiten entstanden, die über den ganzen
Block bis zur Behrenstraße reichten; dort lag die Zufahrt für die Wagen, es
folgten Remisen und Wirtschaftsräume, im ersten Stock befanden sich
Tanzsaal, Wintergarten und Speisezimmer.18
Vor der Reichsgründung waren die Linden eine Mischung aus repräsen-
tativer Prachtstraße und vornehmer Flaniermeile, bis sich in den Gründer-
jahren ihr westlicher Teil in die »führende Geschäftsstraße« Berlins verwan-
delte, in der auch das kommerzielle Amüsement seinen Platz hatte.19 Dass
das Publikum der Linden zur »Straße« wurde und sie für eine politische »ple-
bejische Öffentlichkeit« beanspruchte, war nur 1848 der Fall, als Prinz Wil-
helm im März aus Berlin fliehen musste und Revolutionäre sein Palais be-
setzten.20 Mit der Wandlung des »Kartätschenprinzen« zum »Heldengreis«
wurde auch sein Haus zum Schauplatz von Ovationen und Triumphen. Als
ein Element der Herrschaftsarchitektur waren seine Öffnungen in den Raum
des potenziellen Publikums hineinmodelliert: Die Rampen beiderseits des
Hauptportals führten unmittelbar vor dem Eingang zu einer leicht erhöhten
Bühne, die dem Straßenterrain zugewandt war; noch ausgeprägter ver-
schränkte der Altan des Palais als Zeige- und Verlautbarungsplattform Innen
und Außen des Gebäudes. Anders als Portal und Altan war das äußerste
linke Eckfenster im Hochparterre zwar eine Öffnung, aber keine architekto-
nisch privilegierte, bewusst gestaltete Schnittstelle mit dem Straßenraum. Das
Fenster mit seinen besonderen Ein- und Ausblicken muss man sich als opti-
schen Trampelpfad vorstellen, den gewohnheitsmäßige Benutzung bahnte.
Ein Fenster hat die materielle Eigenschaft, eine Wand durchlässig, und
zwar in erster Linie durchsichtig, zu machen. Bildet es eine Schleuse zwi-
schen Haus und Straße, verbindet es einzelne, die sich dauerhaft im Inneren
aufhalten, und eine fluktuierende, potenziell unbegrenzt Vielzahl auf der

——————
18 Vgl. Grundriss in Eduard Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim. Darstellungen aus dem Palais
Weiland Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm I. und Ihrer Majestät der Kai-
serin und Königin Augusta, Berlin 1890, Tafel 46.
19 Werner Knopp, Kulisse der Macht im Kaiserreich, in: Helmut Engel / Wolfgang Ribbe
(Hg.), Via triumphalis. Geschichtslandschaft »Unter den Linden« zwischen Friedrich-
Denkmal und Schlossbrücke, Berlin 1997, S. 47-60; Winfried Löschburg, Unter den
Linden. Geschichten einer berühmten Straße, Berlin 1991, S. 178-188.
20 Die Linden. Vom kurfürstlichen Reitweg zur hauptstädtischen Allee (Ausstellungskata-
log), Berlin 1997, S. 70-71.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 171

Straßenseite. Die Personen auf beiden Seiten können Sender und Empfänger
von Blicken sein, die sich im Sonderfall treffen und in Gesten und Zurufe
münden, also die Möglichkeit der Reziprozität beinhalten. Die vom Fenster
organisierten Wahrnehmungsverhältnisse sind jedoch asymmetrisch: Von
innen gesehen liegt draußen ein unfokussiertes, weites Blickfeld, von innen
werden die Sichtbedingungen reguliert, wird das Fenster geöffnet und ge-
schlossen, verdeckt, erleuchtet und verdunkelt. Umgekehrt konzentriert sich
der Blick nach innen auf einen kleinen, informationsreichen Ausschnitt, den
unterschiedlich gestaltete Barrieren weiter einschränken können.
Das Eckfenster zog Interesse auf sich, weil dahinter das Arbeitszimmer
des Herrschers lag. Die hier geleistete Schreibtischarbeit wurde spätestens
nach der Thronbesteigung bedeutsam, und die Möglichkeit des Einblicks
floss schon wenige Jahre später in die Berichterstattung ein. Ein Artikel in
der Zeitschrift Daheim gab 1865 den Hinweis, im Winter könne man ab sechs
Uhr morgens »den hohen Herrn in bequemer Uniform an dem Fenster jenes
Eckzimmers des Palais unter den Linden am Pulte stehen und arbeiten se-
hen. Besagtes Eckzimmer ist das königliche Arbeits- und Vortragszimmer;
von da aus wird Preußen regiert.«21 In dieser Passage fungiert das Fenster als
Guckloch in das dahinter liegende Zimmer, die Betrachtung ist einseitig. Die
Information: »Von da aus wird Preußen regiert«, lokalisiert das überschau-
bare Ensemble des Königs am Schreibpult als handelndes Zentrum des
Staates. Abgerundet wird diese Sichtbarkeit und vermeintliche Transparenz
von Herrschaft durch den Hinweis, dass jeder beliebige Anwesende sich mit
einem Blick durch das Fenster selbst vom Tätigsein des Monarchen über-
zeugen kann.22
Den Herrscher als fleißigen Frühaufsteher darzustellen, war kein Novum
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Motiv des arbeitsamen Monar-
chen gehörte einem repräsentativen Gestus an, der seit dem späten 18. Jahr-
hundert aus vielen Schriften, aber auch aus zahlreichen Herrscherporträts von
hochoffiziellen Gemälden bekannt ist.23 Auf diesen bot sich der Fürst meist an
den Schreibtisch gelehnt oder von der Arbeit aufsehend dem Betrachter dar,
so auch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen auf dem bekannten Gemälde
Franz Krügers.24 Die im Bild Dargestellten konzentrieren sich momentan
——————
21 Der Preußische Hof, Daheim, Nr. 45, August 1865, S. 658.
22 Ähnlich EK, Kaiser Wilhelm’s Umgebung, Illustrirte Zeitung, Nr. 1801, 5. Januar 1878,
S. 7; Zu Kaisers Geburtstag Daheim, Nr. 24, 18. März 1882, S. 375.
23 Rainer Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975,
S. 105-107.
24 Ebd., Abb. 110-113.
172 ALEXA GEISTHÖVEL

nicht auf die Arbeit, sondern auf den Blickkontakt mit dem Betrachter, sie
scheinen mit dem Betrachter zu kommunizieren und die Situation somit zu
kontrollieren. Anders sind die durch das Eckfenster gesehenen Schreibtisch-
szenen angelegt: Hier wird jemand in Augenschein genommen, der in seine
Arbeit vertieft ist und nichts davon weiß oder sich nicht darum kümmert, dass
er gerade beobachtet wird. Frei vom Gegenblick des Betrachteten kann der
potenzielle Passant, den ein längerer Artikel von 1868 über das »Arbeits-
cabinet« des preußischen Königs evoziert, zu einer Ansicht kommen, die sich
nicht den Einschränkungen einer (fingierten) Interaktion zu unterwerfen hat:
»Das Urtheil der Geschichte steht über König Wilhelm noch aus; wir, die Zeitge-
nossen, vermögen über ihn nur nach dem Augenschein und nach unserm persönli-
chen Empfinden zu urtheilen. Jeder, welcher Gelegenheit gehabt hat, den Monar-
chen einmal in der Nähe, und seis auch nur hinter den Scheiben seines Arbeits-
zimmers, zu beobachten, wird den Eindruck dieser hohen und gebietenden und
dabei doch so ernstlich freundlichen Erscheinung empfunden haben. Dieser halb
unbewußte Eindruck aber kann durch den Einblick in sein Zimmer und auf seine
tägliche unmittelbare Umgebung nur noch gesteigert werden«.25

Die zugehörige Illustration (vgl.


Abbildung 1) begibt sich wie
das klassische Schreibtisch-Ge-
mälde in den Innenraum, doch
auch hier besteht die über-
legene Zuschauerposition darin,
ein unbemerkter Beobachter zu
sein. Das gezeigte Motiv ist seit
dem Ende der 1860er Jahre
nicht nur in anderen Massen-
bilder anzutreffen – wie der Illu-
stration in einem Kinderbuch
von 1877 (vgl. Abbildung 2) –,
Abbildung 1: »König Wilhelm I. von Preußen in seinem sondern wird 1885 auch zum
Arbeitscabinet. Originalzeichnung von H. Scherenberg«,
Illustrirte Zeitung, Nr. 1286, 22. Februar 1868, S. 132 Gegenstand eines repräsentati-
ven Ölgemäldes des Hofmalers
Carl Johann Arnold:26 Das Arbeitszimmer konzentriert sich in einem Aus-
schnitt auf den mit Bildern, Karten und Büchern überhäuften Schreibtisch

——————
25 König Wilhelm’s Arbeitscabinet, Illustrirte Zeitung, Nr. 1286, 22. Februar 1868, S. 132.
26 Abgebildet in: de Bruyn, Unter den Linden [wie Anm. 1], S. 101.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 173

am Eckfenster, vor dem der Monarch allein sinnierend durch das Fenster
blickt oder einem Mitarbeiter im Gespräch zugewandt ist. Diese Visionen
verdoppeln nicht den realen Blick von draußen, den die korrespon-
dierenden Texte thematisieren sondern ergänzen ihn um eine fiktive omni-
potente Perspektive von innen. Der Betrachter scheint nun auf eine Weise im

Abbildung 2: Das Kaiser-Bilderbuch. Zweite verbesserte Auflage mit Reimversen


von Dr. Hermann Hoffmeister [...]. Leipzig: ADVA 1877, S. 51
174 ALEXA GEISTHÖVEL

Arbeitszimmer anwesend zu sein, die den realen Verhältnissen im Palais


nicht entspricht, weil ein so großer Abstand zur Gruppe am Schreibtisch in
dem voll gestopften, an der Straßenseite relativ schmalen Zimmer nicht
möglich gewesen wäre. Im permissiven Raum der Abbildung bietet sich das
Ensemble hinter dem Eckfenster unverstellt, aber in gemessener Distanz wie
auf einer Bühne dar.
Einen Betrachter in die kaiserlichen Interieurs hineinzuversetzen, be-
wegte sich nicht gänzlich im Bereich der Fiktion, denn die Räumlichkei-
ten waren für Besucher durchaus zugänglich: Das Palais ebenso wie die
Wohnungen anderer Mitglieder der herrschenden Familie konnten in
deren Abwesenheit auf Anfrage beim jeweiligen Haushofmeister besich-
tigt werden.27 Dieses galt auch für die kaiserliche Sommerresidenz Ba-
belsberg, deren Park nach 10 Uhr morgens sogar geöffnet war, wenn
Willhelm I. sich im Schloss aufhielt. Von dieser Möglichkeit machten viele
Berliner mit den sonntäglichen Extrazügen nach Potsdam Gebrauch.28 In
den 1880er Jahren stand das Berliner Palais im Frühsommer dem Pub-
likum regulär für einige Tage offen, bevor nach der Abreise des Kaiser-
paars Reinigungs- und Renovierungsarbeiten begannen.29
Allzu viele Besucher dürften die hochherrschaftlichen Räume den-
noch nicht besichtigt haben. Stellvertretend für die anderen Untertanen
inspizierten vor allem in den Jahren nach der Reichsgründung Journalis-
ten die Arbeits-, Wohn- und Erholungsräume Wilhelms I., damit die
Zeitungsleser den Kriegsherrn nun auch als Lenker der Staatsgeschäfte
und als »Privatmann« kennen lernen sollten.30 Was gab es hier zu sehen?
Bereits die im frühen 19. Jahrhundert kursierenden Stiche von den Räum-
lichkeiten des Herrschers galten als indirekte Porträts ihrer Bewohner,
sofern Architektur, Einrichtung und Ausstattung deren Herrschafts-
auffassung widerspiegelten.31 Dass sich in der häuslichen Umgebung der
»Charakter« des Herrschers abbilde, nahmen auch noch die Reportagen
und Feuilletons der siebziger Jahre an. 1871 schilderte die Schriftstellerin
Elise Polko in der Familienzeitschrift Ueber Land und Meer ihren Rund-
gang durch das Interieur der kaiserlichen Wohnung folgendermaßen:

——————
27 Berlin, Potsdam und Umgebungen. Illustrirter Wegweiser für 1871, 23. Aufl. vollständig
umgearbeitet und ergänzt von C. Jacob, Berlin 1871, S. 91-93.
28 Georg Horn, Des Kaisers Tusculum, Gartenlaube, Nr. 15, 1872, S. 247.
29 Verschiedenes, Badeblatt, Nr. 47, 20. Juni 1884, S. 286.
30 Horn, Des Kaisers Tusculum [wie Anm. 28], S. 246.
31 Schoch, Herrscherbild [wie Anm. 23], S. 108.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 175

»Das eigentliche Arbeitszimmer des Kaisers mit dem mächtigen Schreibtisch,


nach dessen Anblick ich mich so gesehnt, ist zwar kaum weniger [als das Wohn-
zimmer] gefüllt mit Kostbarkeiten verschiedenster Art, aber man fühlt es doch
sofort der ganzen Anordnung an, daß hier, in seiner unmittelbaren Umgebung,
nur Gegenstände ihren Platz gefunden, die ihm ganz besonders werth, Anden-
ken aus der Welt seines Herzens und Hauses [...] ›Unser Fritz‹ in allen Gestalten
tauchte auf, ebenso die Großherzogin von Baden, die Kronprinzessin, [...] und
liebliche Kinderköpfchen begegneten den Augen des zärtlichen Großvaters bei
jedem Blick [...]. Vor dem Tische ein einfacher Sessel mit einem verblichenen
gestickten Kissen. Hier sitzt der Kaiser schon in frühster Morgenstunde wenn
halb Berlin noch schläft – von diesem Plätzchen aus zittert der Schein seiner
Lampe noch hinaus in die Nacht – er arbeitet mit seinem Volke und für sein
Volk.«32

Der kaiserliche Arbeitsplatz ist in dieser Schilderung in seiner eigentli-


chen Funktion erkennbar. Ebenso stark akzentuiert Polko jedoch andere
Aspekte: Als Interpretin der kaiserlichen Sachkultur präsentiert sie wie
die Stücke einer Ausstellung Familiäres und persönliche Erinnerungen.
Die Bilder von Sohn, Tochter, Schwiegertochter und Enkeln, Porträts
der Vorfahren und die zahlreichen Geschenke von Bekannten und aus
dem »Volk« verwandeln das, was hinter dem Eckfenster liegt, in eine Sphäre
des Menschlichen und Intimen.33 Ähnlich verfuhr der Hofberichterstatter
Georg Horn, als er 1872 in einem Artikel über den »Tag des Kaisers« die
Leser der Gartenlaube – sie hatte zu dieser Zeit eine Auflage von über
300 00034 – am Alltag des Herrschers teilhaben ließ. Genau schilderte er
Lage, Einrichtung und Funktion der einzelnen Räume, bis hin zu den
Details des abgenutzten Schlafzimmerteppichs, der eigenhändig be-
schrifteten Sammlung von Säbeln und Spazierstöcken und jener zahllo-
sen Geschenke und Erinnerungsstücke, mit denen das Arbeitszimmer
»fast ein kleines Museum bildet, in welchem sich die Lebensgeschichte«
des Kaisers verkörpere.35 Horn wechselt zwischen der Perspektive eines
aufmerksamen Augenzeugen und der Perspektive eines informierten,
distanzierten Erzählers. Er begleitet den Kaiser Stunde um Stunde durch
den Tag, lässt ihn Vorträge hören und Butterbrote verzehren. Die In-

——————
32 Elise Polko, Aus den Einzugstagen. II., Ueber Land und Meer, Nr. 44, 26 (1870/71),
S. 17-18.
33 Vgl. auch Giloi Bremner zum Hohenzollern-Museum, Ich kaufe [wie Anm. 7], S. 91.
34 Kirsten Belgum, Popularizing the nation. Audience, representation, and the production
of identity in Die Gartenlaube, 1853-1900, Lincoln u. a. 1998, S. 200, Anm. 57.
35 Georg Horn, Ein Tag des Kaisers, Gartenlaube, Nr. 30, 1872, S. 492.
176 ALEXA GEISTHÖVEL

formation, der Kaiser kleide sich nach dem Aufstehen unverzüglich an,
wird jedoch nicht so dargeboten, als beruhe sie auf eigener Anschauung.
Anders als Horn kann Polko herausstreichen, dass sie unter nicht näher
erläuterten Umständen Zugang zu den Räumen des Kaisers erhielt, als er
zwar nicht zur Stelle, aber in Berlin anwesend war und das Palais bewohnte.
Die privilegierte Augenzeugin schildert, wie erwartungsvolle Gedankenbilder
mit wirklich Gesehenem konfrontiert werden: »Wie oft hatte ich mir schon
dieses ›home‹ des Kaisers ausgemalt und wie anders fand ich es doch nun!«
Um ihre Darstellung zu beglaubigen, beruft sie sich sowohl auf moderne
Bildtechnik wie auf emotionale Wahrhaftigkeit: Mit »fast photographischer
Treue haben meine Augen jeden Gegenstand daselbst aufgenommen und
dem Herzen überliefert.« Ihren größten Trumpf spielt sie aus, wenn sie fort-
fährt: »Eine kleine Mappe war etwas zur Seite geschoben nach dem Fenster
zu, und neben ihr lag die blaue Stahlbrille des Kaisers, [...] ein Kästchen mit
Zündhölzern war wohl auch eben gebraucht worden«.36 Der Kaiser ist bei-
nahe anwesend, denn Gegenstände seines Arbeitsalltags und Spuren ihres
leibhaftigen Gebrauchs zeugen von seiner Nähe.

III. Ausblicke: Das Eckfenster als Interaktionsapparat


In den frühen 1870er Jahren scheint das »historische Eckfenster« als Inter-
aktionsapparat des deutschen Kaiserreichs noch unbekannt gewesen zu
sein. Polko besucht die »historischen Wohnzimmer« und das »liebe Ar-
beitszimmer, an dessen Fenstern das Volk seinen Kaiser so oft zu sehen
gewohnt ist«, Horn spricht in einem Nebensatz von der »bekannten Tisch-
ecke«, auf der sich die Arbeit stapelt.37 In dieser Zeit ist von Blicken hinein
und Blicken hinaus die Rede, aber diese treffen sich, zumindest in der Be-
richterstattung, vorerst nicht, wie in folgendem Artikel über das Straßenle-
ben in der neuen Reichshauptstadt: »Jenes schöne stattliche Haus mit den
hohen Spiegelscheiben, an dem kein Berliner so leicht vorübergeht, ohne
hineinzusehen, ist die Privatwohnung des Kaisers Wilhelm, der von seinem
Fenster auf das Denkmal des großen Friedrich blickt.«38

——————
36 Polko, Einzugstage [wie Anm. 32], S. 17, 18.
37 Ebd.; Horn, Tag [wie Anm. 35], S. 489.
38 Max Ring, Berliner Straßenbilder, Gartenlaube, Nr. 41, 1873, S. 664.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 177

Den kleinen Schritt von der wechselseitig möglichen Wahrnehmung


zum Beginn der Kommunikation schildert dagegen 1877 ein Reim für die
jüngsten Untertanen aus dem oben erwähnten Kinderbuch. Der Text zu
Abbildung 2 lautet: »Und solltest am Palais du einst/ Des Kaisers Wil-
helm stehen,/ Und am Eckfenster die Gestalt/ des greisen Helden se-
hen:/ Dann – wisse sicher – pflegt er Rath/ Und läßt sich Vortrag hal-
ten,/ Und grüßt die Leute auf dem Platz,/ die jungen, wie die alten.«39 Im
Unterschied zu den repräsentativen Schreibtischporträts seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts thematisiert diese Innenansicht die Außenwelt eines
potenziellen realen Publikums, das dem Monarchen beim Arbeiten zu-
schaut. Sie nutzt dazu unter anderem staatsmännische, majestätische
Gesten und Haltungen aus dem ikonographischen Repertoire der Herr-
scherdarstellungen – die aufgestützte Hand, der in die Ferne gerichtete
Weitblick –, die hier gleichzeitig das Eckfenster in der Bildkomposition
betonen.
Wilhelm I. war der neugierig-ehrfürchtigen Beobachtung durch ein Pu-
blikum vor dem Fenster ausgesetzt, zugleich nahm er die Beobachtung
als Erwartung einer Kontaktaufnahme an und kam seiner monarchischen
Zeigepflicht nach, indem er zu den Erwartungsvollen hinausschaute und
grüßte, mit ihnen interagierte. Er war bereit, die alltägliche Beobachtung
seiner Person kommunikativ zu wenden, allerdings schränkte er seine
Sichtbarkeit auch ein. Einem Bedürfnis nach Rückzug, nach 1878 aber
möglicherweise auch der Furcht vor Attentaten mag der Sichtschutz ge-
schuldet sein, der das untere Drittel des Fensters verdeckte. Bei Dunkelheit
blieb der Kaiser aber weiterhin als Silhouette am Schreibtisch sichtbar.40 Er
schützte sich nicht nur vor Einblicken, sondern steuerte sein Sichtbarwer-
den, indem er es an das militärische Ritual der Wachablösung koppelte.
Damit gab er ihm einen vorhersehbaren und täglich wiederkehrenden
Zeitpunkt. Wenn der ablösende Wachtrupp gegen 12.45 Uhr am Palais
vorbeizog, inspizierte der Kaiser von seinem Eckfenster aus die Soldaten
und zeigte sich bei dieser Gelegenheit zuverlässig dem Publikum, so die
Information des Baedeker von 1887.41 Diese Sequenz ist in zahlreichen
Memoiren enthalten, und noch die Kaiserliteratur der Gegenwart greift

——————
39 Das Kaiser-Bilderbuch. Zweite verbesserte Auflage mit Reimversen von Dr. Hermann
Hoffmeister, Leipzig 1877, S. 52.
40 Jules Laforgue, Berlin. Der Hof und die Stadt, 1887, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1981, S. 29.
41 Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende von Karl Bædeker, 5 Aufl. Leipzig
1887, S. 45.
178 ALEXA GEISTHÖVEL

mehr oder weniger variierend auf sie zurück.42 Zu besonderen Gelegenhei-


ten präsentierte er sich gemeinsam mit seinem Enkel, später mit seinem
ältesten Urenkel Prinz Wilhelm bei offenen Fenstern, manchmal auch an
den Fenstern des neben dem Arbeitszimmer gelegenen Wohnzimmers.43

Abbildung 3: Das historische Eckfenster. Originalzeichnung von H. Lüders,


Gartenlaube, Nr. 16, 1888, S. 268
——————
42 Franz Herre, Kaiser Wilhelm I. Der letzte Preuße, Köln 1980 , z. B. S. 487-488; Günter
Richter, Kaiser Wilhelm I., in: Wilhelm Treue (Hg.), Drei deutsche Kaiser. Wilhelm I.
– Friedrich III. – Wilhelm II. Ihr Leben und ihre Zeit 1858-1918, Würzburg 1987,
S. 14-75, hier S. 72-73.
43 Wilhelm Oncken, Unser Heldenkaiser. Festschrift zum hundertjährigen Geburtstage
Kaiser Wilhelms des Ersten, Berlin [1897], S. 256; Kaiser Wilhelm II., Aus meinem Le-
ben 1859-1888, 6. Aufl. Berlin/Leipzig 1927, S. 102; Der Tod des Kaisers Wilhelm,
Illustrirte Zeitung, Nr. 2333, 17. März 1888, S. 251.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 179

Dass der Hohenzollernfürst damit wieder einmal seiner überragenden


Wertschätzung des Militärs Ausdruck verlieh, ist offensichtlich. Zwischen
ihn und sein Publikum schob sich ein Trupp, denn der Bereich unmittelbar
vor dem Fenster war zu diesem Zweck abgesperrt. Die Berichterstattung
nutzte diese Gelegenheiten gleichwohl, um vor allem die Zuschauer des
Spektakels zu thematisieren.
Abbildung 3 aus der Nachrufnummer der Gartenlaube klammert 1888 das
Straßenpublikum scheinbar aus: Der Ausschnitt zeigt nur den Wachtrupp, der
am Fenster vorbeimarschiert. Die realistisch wiedergegebenen räumlichen Ver-
hältnisse erlauben dafür eine relativ nahsichtige Perspektive auf das Fenster.

Abbildung 4: Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin. Nach einer Moment-
Photographie von M. Ziesler in Berlin, Gartenlaube, Nr. 6, 1886, S. 97

Abbildung 4, die distanziert, nahezu aus Vogelperspektive das Abbringen


der Fahnen zeigt, stellt die Zuschauer dagegen nicht nur dar. Der beglei-
tende kurze Text in der vermischten Rubrik »Blätter und Blüthen« rückt
diese sogar in den Mittelpunkt, wogegen der eigentliche Anlass der Zere-
monie peripher bleibt:
»Der greise Monarch ist ans Fenster getreten. Freundlich lächelnd und huldvoll
grüßend erwidert er die enthusiastischen Zurufe der Menge. Hier entfaltet sich
180 ALEXA GEISTHÖVEL

ein schönes Bild, hier zeigt sich so recht die Liebe und Verehrung, die dem Hel-
denkaiser aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen getragen wird. Nicht
genug, daß Erwachsene die Freude haben sollen, den allverehrten Herrscher von
Angesicht zu Angesicht zu schauen, nein, Väter und Mütter heben ihre Kinder
hoch empor, damit auch sie des Kaisers Antlitz sehen und in die Händchen klat-
schen können.«44

Den Kaiser zu sehen, als Teil einer Menge seine Aufmerksamkeit zu er-
langen, erscheint als Erlebnis für Jung und Alt. Nicht umsonst verweist die
Bildunterschrift der Illustration darauf, dass sie nach einer »Moment-
Photographie« angefertigt wurde, also nicht nur hochgradig realitätshaltig
ist, sondern sich auch dem besonderen Augenblick verdankt. Entspre-
chend entfalten andere Darstellungen des Jubelrituals eine Rhetorik der ge-
spannten Erwartung, die in einem beglückenden Moment erfüllt wird. In
seinem Buch vom Kaiser etwa schilderte Friedrich Adami 1884, dass sich re-
gelmäßig ab 11 Uhr der »Platz um das Denkmal Friedrichs des Großen zu
füllen [beginnt].«
»Da ertönt plötzlich Militärmusik – die neue Wache naht! Das ist der Augen-
blick, auf den alles gewartet hat. [...] Hinter den Spiegelscheiben des Eckfensters
seines Arbeitszimmers erscheint das ehrwürdige Antlitz des Kaisers – mit prü-
fendem Auge blickt er nach jedem Gliede der Sektions-Kolonne, bis das letzte
am Palais vorübermarschirt ist. Solange wartet die Menge stumm – dann aber
bricht plötzlich ein dreifach donnerndes Hoch aus hunderten Kehlen, und im-
mer wieder, wenn der Kaiser mit freundlichem Gruß [...] das Haupt neigt, wie-
derholt sich der Hurraruf.«45

In dieser stimmungsvoll verdichteten, über mehrere Spannungsknoten


entwickelten Passage ist die fotografische Qualität des plötzlichen Sicht-
barwerdens präsent, eingebettet in eine überschaubare Genreszene. Kai-
sertreue artikuliert sich hier als Erlebnis des Publikums. Dessen Vorrecht
ist es, laut zu sein, die erwartungsfrohe Spannung in einem akustischen
Ausbruch zu entladen, sobald das Zeichen zum Einsatz kommt. Der Kai-
ser zeigt sich, grüßt, nickt, winkt, bleibt aber stumm, während die »stürmi-
schen Huldigungen der Volksliebe« für den Beobachter selbst zu einem
Ereignis wurden, das trotz »regelmäßiger Wiederkehr bei ähnlichen Anläs-

——————
44 H[ermann] Heiberg, Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin,
Gartenlaube, Nr. 6, 1886, S. 112.
45 Das Buch vom Kaiser Wilhelm (1884), zit. nach Herre, Kaiser Wilhelm I. [wie Anm. 42],
S. 487.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 181

sen auf jeden, der einmal Zeuge derselben gewesen, einen unauslösch-
lichen Eindruck« machte.46
Das Eckfenster des kaiserlichen Palais verselbständigte sich nach der
Reichsgründung gleichsam zu einem Interaktionsapparat, der die unspezifi-
sche Funktion des Fensters zugunsten einer beiderseits hochselektiven Nut-
zung verengte. In den 1880er Jahren stellte es ein Arrangement dar, in dem
auf Seiten des Publikums Erwartbares und Ungewissheit zusammengingen.
Zeit und Verlauf des kaiserlichen Auftritts hatten sich mit den Jahren einge-
spielt, als Ausdruck seines Pflichtbewusstseins wurde ihm der Ausspruch in
den Mund gelegt, er müsse sich pünktlich am Fenster präsentieren, weil es so
im Baedeker stehe.47 Eine unsichere Variable war dagegen die gesundheitli-
che Verfassung des betagten Monarchen, die dem Publikum jederzeit ein
Nichterscheinen bescheren konnten. Das oft wiederholte Geschehen verlor
seinen Ereignischarakter daher nicht, denn ein leeres Fenster konnte Un-
pässlichkeit, Krankheit oder sogar Tod bedeuten: »Wer jemals unter seinem
Fenster weilte, wenn die Wachparade vorüberzog, dem ist die Erinnerung
unvergeßlich. Wie bangte da jedes Herz, ob er auch nur erscheinen würde!
Und wenn endlich das milde Greisenantlitz im historischen Eckfenster
sichtbar wurde, wie jubelte man ihm dann aus voller Seele zu!«48
Ob mit diesen wohl häufig ausgeschmückten und beschönigten, aber
nicht gehaltlosen Schilderungen die »Popularität« des Monarchen bewiesen
ist, steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion. Festzuhalten bleibt: Über
den Auftritt des Kaisers am Eckfenster zu berichteten bedeutete in der Re-
gel, auch über sein Publikum zu schreiben und es abzubilden, zu themati-
sieren, was anwesende Zuschauer erwarteten, was sie von der Darbietung
wahrnehmen konnten und wie sie reagierten. Die Berichterstatter boten
Lesern und Betrachtern Perspektiven an, die das Großartige und das Sub-
jektive kombinierten, die es nahe legten, sich sowohl in der privilegierten
Position eines überlegenen Beobachters als auch in der Menge vor Ort
wiederzufinden.49

——————
46 Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I., Gartenlaube, Nr. 16, 1888, S. 268.
47 Oncken, Unser Heldenkaiser [wie Anm. 43], S. 256; F[riederike] Bornhak, Das Palais
Kaiser Wilhelms I. Unter den Linden in Berlin. Aufzeichnungen zum Gedächtnis des
Hauses, Berlin [1900], S. 21; ähnlich Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim [wie Anm. 18], S. 5.
48 Kaiser Wilhelm. Gedächtnisnummer des Daheim. 24. März 1888, S. 400; vgl. auch
H[ermann] H[eiberg], Der Kaiser »Unter den Linden«, Gartenlaube, Nr. 12, 1886,
S. 215.
49 Zu dieser generellen Berichterstattungstechnik der Familienpresse vgl. Belgum, Populari-
zing [wie Anm. 34], S. 100.
182 ALEXA GEISTHÖVEL

IV. Nahbarkeit auf dem Weg in die Medienmonarchie


Seit dem frühen Kaiserreich waren in der Presse zahlreiche Informationen
über höchstpersönliche Gewohnheiten, Vorlieben und Erlebnisse des
Herrschers im Umlauf. Zeitungs- und Zeitschriftenleser erfuhren, was
seine Lieblingsspeise war (Hummer), was er gewöhnlich frühstückte (But-
terbrot mit kaltem Fleisch), wie er seinen Sohn nannte (Fritz), kannten
schließlich seine Lieblingsblume (Kornblume), seine Lieblingsfarbe (Korn-
blumenblau), die Farbe seiner Bettdecke (grün) und die Geschichte seiner
unerfüllten Jugendliebe (zu Eliza Radziwill). Daneben zirkulierten Darstel-
lungen von Situationen, die in unterschiedlichen Formaten räumliche Nähe
zum Monarchen herstellten, wobei in der offerierten Annäherung ein
Rückhalt an auratischer Distanz immer erhalten blieb. Man besichtigte das
Arbeitszimmer im Palais, aber der Monarch war nicht da; er war da, aber
man stand nur vor dem Fenster; man befand sich mit ihm in einem Raum,
doch der war aus Papier.
Charakteristischerweise verschränkten sich am historischen Eckfenster
verschiedene Formen von medialer und Face-to-face-Kommunikation. In
Pressetexten und -bildern präsentierten Beobachter, die selbst vor Ort ge-
wesen waren und mit eigenen Augen gesehen hatten, die hinter dem Fens-
ter sichtbare Privatsphäre des Monarchen; die Tatsache, dass man den
Monarchen durch sein Arbeitszimmerfenster selbst beobachten konnte,
ging als bemerkenswertes Faktum in die Berichterstattung ein; die wieder-
holte Thematisierung des Fensters in der medialen Kommunikation ver-
stärkte den Andrang vor dem Fenster.
Das Eckfenster war ein Markenzeichen Wilhelms I., das er von seiner
Residenz auf die mit jährlicher Regelmäßigkeit besuchten Kurorte Ems
und Wildbad Gastein übertrug.50 Es fügte sich in ein Öffentlichkeitsgeba-
ren, das in hohem Maße seiner Person zugerechnet werden muss. Der Kai-
ser hatte offenbar ein Talent zur Leutseligkeit, er exponierte sich im Unter-
schied zu manch anderen Monarchen seiner Zeit bereitwillig und
absolvierte öffentliche Auftritte, die Interaktionen mit dem »Volk« bein-
halteten, souverän. Andererseits ist seine Politik des geöffneten Hauses
auch bei anderen fürstlichen Zeitgenossen zu beobachten. Der bayerische

——————
50 Vgl. beispielsweise: Ems, 5. Juli. ʈ, Lahnbote, Nr. 155, 6. Juli 1887; ʈ Ems, 21. Juni,
Rheinischer Kurier, 1876, in: Sammlung Wilhelm Eberling, Stadtarchiv Bad Ems, Bü
10189 1/206, 35; Die Kaiser-Zusammenkunft in Gastein, Salzburger Volksblatt, Nr.
180, 10. August 1886.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 183

Prinzregent Luitpold beispielsweise ließ sich beim Abendessen seiner Her-


renrunde auf der Terrasse der Münchner Residenz zuschauen.51 Häusliche
Nahbarkeit kann daher als eine Disziplin unter den monarchischen Zeige-
praktiken gelten, die in den baulichen Gegebenheiten des Kaiserpalais be-
sonders günstige Voraussetzungen fand.
Das Attribut »historisch« scheint sich dabei von den Wohnräumen auf
das Fenster übertragen zu haben. In der Zuspitzung zum »bekannten« und
dann »berühmten Eckfenster« steckte neben der Glorifizierung des Herr-
schers zugleich eine Aussage über sein Publikum. Sie zeugt von der mas-
semedialen Verselbständigung einer zuerst an Gegenwart gebundenen Pra-
xis: Das Eckfenster wurde unter Berlinern und Berlin-Besuchern bekannt,
weil die Art seines Gebrauchs bedeutsam erschien; irgendwann wurde es
auch oder sogar vorwiegend gebraucht, weil es aus der Presse als »bekannt«
bekannt war. Als celebrity geht Wilhelm I. deshalb nicht durch. Unter ande-
rem fehlte noch jene Beobachtungshaltung, die bei Prominenten nicht nur
das Vorteilhafte, sondern vor allem Fehltritte und Abgründe registriert.
Wilhelm I. wurde – zumindest in der hier untersuchten bürgerlichen Presse
– nie anders als respektvoll dargestellt, niemand trat dem Monarchen zu
nahe.52 Inwieweit auch sein Alter an dieser Schonung beteiligt war, ist bei
der derzeitigen Forschungslage unklar.
Deutlich ausgeprägt ist in dieser Zeit dagegen bereits eine auf das Per-
sönliche abhebende Berichterstattung. Die Presse gewöhnte sich daran, mit
zwei Mustern der thematischen Verdichtung zu arbeiten, dem sensationell
Unwahrscheinlichen und dem nachvollziehbar Menschlichen. Beides hatte
die Monarchie als personenzentriertes System zu bieten. An ihrer Spitze
standen unwahrscheinliche Menschen, denen Sichtbarkeit inkorporiert war.
Dem allgemeinen Thematisierungstrend entsprechend ging es am Eck-
fenster daher zunehmend um Menschliches. Zugleich fungierte es aber
auch als gleichsam offizielles Schlüsselloch zum Arbeitszimmer des Mo-
narchen. Wilhelm I. arbeitete noch als alter Mann viel und regelmäßig; ei-
genständige Entscheidungen traf er kaum, er wurde vor allem als Unter-
schreiber benötigt. Die Durchsichtigkeit der Glasscheibe, hinter der er bei

——————
51 Karl Möckl, Hof und Hofgesellschaft in Bayern während der Prinzregentenzeit, in: Wer-
ner (Hg.), Hof, Kultur und Politik, S. 183-233, hier S. 208-209.
52 Vgl. dagegen die vermutlich unintendierte Bloßstellung Wilhelms I. auf einer Aufnahme
der Hoffotografen Reichard & Lindner von 1884, die ihn untätig am Schreibtisch sit-
zend von schräg hinten festhielt, abgebildet in: Kaiser Friedrich III. (1831-1888) (Aus-
stellungskatalog), Berlin 1988, S. 129, Erläuterung S. 131.
184 ALEXA GEISTHÖVEL

der Arbeit zu sehen war, machte die Regierung nicht transparent. Wenn es
trotzdem ein dankbares Publikum für genau diese Suggestion gab – immer
wieder wurde die Möglichkeit angesprochen, vor dem Fenster dem Ent-
scheidungszentrum nahe zu sein –, legt das die Vermutung nahe, der Be-
darf nach Sinnlichkeit der Herrschaft sei umso größer geworden, je abs-
trakter sich Regierung mit dem wachsenden Eigengewicht von exekutiver
und legislativer Bürokratie gestaltete.
Nach dem Tod der Kaiserin-Witwe Augusta 1890 wurde das Palais
vollends musealisiert. Im selben Jahr erschien ein monumentaler Pracht-
band mit Fotografien, die im Auftrag der Kaisertochter Großherzogin
Luise von Baden aufgenommen worden waren und alle vom verstorbenen
Kaiserpaar bewohnten Räume in Originaleinrichtung zeigten.53 Wilhelm II.
wies das Palais seinem Bruder Heinrich und dessen Frau zu, allerdings wei-
gerte sich seine Tante Luise, die Möbel auszuräumen und auf ihr Wohn-
recht zu verzichten.54 Das Palais blieb daher unbewohnt und wurde – ähn-
lich wie bereits zwischen 1840 und 1856 das Palais Friedrich Wilhelms III.
– zu einer Sehenswürdigkeit, die beispielsweise im Jahr 1899 mehr als
30 000 Besucher anzog.55
Der neue Kaiser lebte wieder im Schloss. Um 1890 brach das Zeitalter
schneller, rücksichtloser, immer nahsichtigerer Dauerbeobachtung des po-
litischen Führungspersonals an. In dieser Zeit entstanden die rechtlichen,
technischen und diskursiven Voraussetzungen, die es ermöglichten, die
monarchische »Persönlichkeit« in fotografisch bebilderten homestories einzu-
fangen, sie offen zu kritisieren und zum Gegenstand von Medienskandalen
zu machen.56 Die Bedingungen der politischen Massenkommunikation und
damit auch die Öffentlichkeit der Monarchie veränderten sich nach 1890
qualitativ stark – Wilhelm II. war auf radikal andere Weise als sein Groß-
vater dazu gezwungen und daran interessiert, ein Medienkaiser zu sein. In-
sofern ist es auch monarchiehistorisch berechtigt, an der Schwelle zur me-
——————
53 Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim [wie Anm. 18], Vorwort.
54 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, Mün-
chen 2001, S. 703.
55 Börsch-Supan, Wohnungen [wie Anm. 17], S. 111; Bornhak, Das Palais [wie Anm. 47],
S. 1, Anm.
56 Vgl. dazu den Beitrag von Martin Kohlrausch in diesem Band, ferner ders., Der
unmännliche Kaiser. Wilhelm II. und die Zerbrechlichkeit des königlichen Individuums,
in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der hö-
fischen Welt, Frankfurt/M. 2002, S. 254-275; Frank Bösch, Das Private wird politisch:
Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts,
in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 781-801.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 185

dialen Modernität ein kurzes 19. Jahrhundert zu verabschieden. Dies wird


jedoch der Vorgeschichte dieser Symbiose nicht gerecht, deren starke
Kontinuitäten bisher zu wenig zur Kenntnis genommen wurden. Seit den
1850er Jahren entstanden mit den illustrierten Zeitschriften frühe Mas-
senmedien, die sich aus dem breiten Themenspektrum des Gegenwärtigen
bedienten und ein großes überregionales Publikum adressierten, das sie
ausdrücklich als zusammengehörige, gleichzeitige Leserschaft ansprachen.57
Aus der Kombination von Texten und Bildern ergaben sich neue Präsen-
tationsformen, mit denen sich Abwesendes nun regelmäßig auch visuell
vergegenwärtigen ließ. Hofberichterstatter versahen den Monarchen, der
zeitgemäß mit seinem neugierig-affirmativen Publikum interagierte, mit ei-
ner Aura des Persönlichen. Zu Zeiten des biederen Wilhelm I. entstanden
die Grundlagen für das kommende massenmediale Spektakel der Monar-
chie.

——————
57 Belgum, Popularizing [wie Anm. 34], passim.
Das ambivalente Angebot der Macht:
Der Einsatz der SS-Männer in der
NS-Herrschaftsinszenierung
Paula Diehl

I. Politische Repräsentation und Inszenierung


Politik ist auf Repräsentation angewiesen. Sie wird nicht nur von der
Durchsetzung von Macht, sondern auch von ihrer symbolischen Verge-
genwärtigung getragen. Die Politikwissenschaft unterscheidet zwei Haupt-
dimensionen der Repräsentation: Die erste betrifft die Vertretung, das
heißt der Politiker oder der Souverän handelt stellvertretend für die Bürger
beziehungsweise für das Volk, sie sprechen und treten auf im Namen von.
Die zweite Dimension der politischen Repräsentation beinhaltet die Ver-
fahren der Symbolisierung und Darstellung von Politik.1 Beide sind eng
miteinander verbunden. Der folgende Beitrag beschäftigt sich vor allem
mit der symbolischen Dimension der politischen Repräsentation und un-
tersucht die Rolle der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung des Nati-
onalsozialismus.
Um wirksam zu sein, muss die symbolische Repräsentation von Politik
ein »Anerkennungssystem« schaffen, das den Glauben an die Politik und
an die Macht aufrechterhält.2 Denn Macht beruht nicht nur auf dem Han-
deln von Machtinhabern und Machtunterworfenen, sondern zum größten
Teil auf den Vorstellungen über die Macht und auf ihrer kollektiven Akk-
reditierung. Machtbeziehungen sind auch Anerkennungsbeziehungen –
——————
1 Die Unterscheidung der politischen Repräsentation in Vertretung und symbolisches
Verfahren ist nur eine allgemeine und dient hier als Orientierung für die Analyse von
Gewalt in der Herrschaftsinszenierung. Allein das Kleine Lexikon der Politik von Dieter
Nohlen unterscheidet in einer Feintypologie sechs Definitionen der politischen Reprä-
sentation, die von der phänomenologischen Betrachtung über eine pragmatische kriti-
sche Vertretungstheorie bis hin zum Konzept der repräsentativen Demokratie gehen.
Vgl. Ulrich von Alemann, Repräsentation, in: Dieter Nohlen (Hg.), Kleines Lexikon der
Politik, München 2001, S. 437-440.
2 Albrecht Koschorke, Macht und Fiktion, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/
Susanne Lüdemann/Ethel Mathala da Mazza (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das
Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 73-84, hier S. 75.
188 PAULA DIEHL

und das selbst dann, wenn sich die Anerkennung nur auf die Stärke der
Macht beschränkt. Inszenierung, Ästhetisierung und Symbolisierung sind
somit grundlegende Verfahren der politischen Repräsentation. Sie dienen
der Vergegenwärtigung von politischen Institutionen und politischer Auto-
rität und verschaffen ihnen Legitimität.3
Politische Inszenierungen sind nicht immer eindeutig. Als Elemente einer
Machtstrategie können sie verwendet werden, um Machtansprüche zu mar-
kieren, die politische Ordnung zu verändern oder politische Intentionen und
auch Institutionen zu modifizieren. Sie können auch für etwas anderes ste-
hen als für die politischen Institutionen, die sie zu repräsentieren vorgeben,
und dadurch eine symbolische Verschiebung der politischen Repräsentation
bewirken. Vor allem unter dem letzten Aspekt ist die NS-Herrschaftsinsze-
nierung zu lesen. Symbolische Politik hat hier einen strategischen Wert und
verkündet Macht und Machtansprüche der Nationalsozialisten, die beson-
ders in den ersten Jahren nach der so genannten »Machtergreifung« der sym-
bolischen Umdeutung der politischen Ordnung dienten.
Machtinszenierungen sind an sich ambivalent. Um die Ordnung zu
markieren, stützen sie sich einerseits auf die Zurschaustellung von Gewalt
und Drohung, anderseits auf eine positive Identifikation mit der Macht.4
Die Macht, selbst wenn sie nicht auf Gewalt rekurriert, darf keinen Zweifel
daran lassen, dass sie auf Gewalt zurückgreifen könnte, um die Ordnung
zu bewahren. Gleichzeitig muss die Inszenierung einen Zugang zur Macht
ermöglichen, der den Rezipienten unter anderem verspricht, vor Gewalt
geschützt zu werden und an ihrer Stärke teilnehmen zu können. Diese
Doppelbindung an die Macht produziert Ambivalenzen, die im Fall des
Nationalsozialismus besonders deutlich hervortreten. Gerade weil die NS-
Machtansprüche nicht von politischer Legitimität gestützt waren, rekur-
rierten die Nationalsozialisten verstärkt auf Symbole der Gewalt und Ge-
waltästhetisierung in ihrer Herrschaftsinszenierung.
——————
3 Gerhard Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in:
ders. (Hg.): Institution – Macht – Repräsentation, Baden-Baden 1997, S. 11-62, hier
S. 13.
4 Der vorliegende Beitrag verzichtet auf eine Definition von Gewalt als anthropologisches
Phänomen und betrachtet stattdessen ihre kulturellen Manifestationen, die in der
Machtinszenierung des Nationalsozialismus erscheinen. Für die Auseinandersetzung mit
dem Begriff der Gewalt hier stellvertretend: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, Mün-
chen/Zürich 1994; Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner, Gewalt, Frankfurt/M.
2004; Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1999; Trutz von Trotha (Hg.),
Soziologie der Gewalt (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonder-
heft 37), Opladen/Wiesbaden 1997.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 189

Der vorliegende Beitrag reflektiert die Ambivalenzen der NS-Machtin-


szenierung und berücksichtigt ihren ästhetischen und symbolischen Ge-
brauch von Gewalt. In den Vordergrund der Analyse tritt nicht die Gewalt
selbst, sondern ihre symbolische Dimension und Vergegenwärtigung. Dabei
wird der Fokus auf ein besonderes Element der NS-Machtinszenierung ge-
richtet: die medial verbreiteten SS-Körperbilder und den performativen Ein-
satz der SS-Männer in NS-Veranstaltungen. Hierfür wird die Phase der
Machtetablierung berücksichtigt, vor allem die Jahre 1933 und 1934. Die
dabei produzierten Ambivalenzen sollen durch eine politisch-kulturwissen-
schaftliche Lektüre der ästhetischen Elemente, Zeichen und Symbole, die
mit der NS-Herrschaft verbunden waren, verdeutlicht werden.

II. Machtinszenierung und Gewalt: Die Suche nach Form


Die NS-Propaganda war in der Form flexibel, dennoch wurden in der Zeit
zwischen 1933 und 1936 grundlegende Maßstäbe gesetzt. Inszenierungsfor-
men wurden geprüft, weiterentwickelt und neu konzipiert. Mit staatlichen
Mitteln und mit dem privilegierten Zugang zu den Massenmedien ab 1933
ließen sich neue Inszenierungsformate entwickeln, ästhetische Verfahren und
technische Innovationen in den Dienst der Machtinszenierung stellen. Die
Suche nach den geeigneten Inszenierungsformen der Macht kann besonders
gut an den filmischen Arbeiten von Leni Riefenstahl beobachtet werden.
1933 suchte die Regisseurin noch nach den filmischen Möglichkeiten für die
Inszenierung der Nürnberger Parteitage. Ihrem ersten Parteitagsfilm Sieg des
Glaubens von 1933 gelang es noch nicht, eine Ästhetik der Überhöhung oder
gar eine mythische Kraft zu entfalten. Der Film- und Kulturwissenschaftli-
cher Martin Loiperdinger sieht diesen Film als »Vorstudie« für Triumph des
Willens,5 der ein Jahr später sowohl ästhetische Maßstäbe für NS-Propa-
gandafilme und damit eine Art Drehbuch für die Inszenierung der Reichs-
parteitage lieferte als auch das mythische Bild des »Dritten Reiches« ver-
festigte. In Triumph des Willens verwendete Riefenstahl die Bilder der unifor-
mierten SS-Männer für die Darstellung der NS-Macht und erreichte damit
eine symbolische Verdichtung der SS-Männerbilder in der NS-Herrschafts-
inszenierung, die in diesem Beitrag eingehender analysiert wird.
——————
5 Vgl. Martin Loiperdinger, Rituale der Mobilmachung. Der Parteitagsfilm »Triumph des
Willens« von Leni Riefenstahl, Opladen 1987, S. 44, Fußnote 3.
190 PAULA DIEHL

Die Jahre 1933 und 1934 waren von Expansion und Verfestigung des
nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs einerseits und von politi-
schem Taktieren und Labilität andererseits gekennzeichnet. Das Verhält-
nis zur Staatsordnung war ambivalent. Hitler kam zwar legal an die
Macht, doch die Nationalsozialisten verkündeten eine Revolution und
demonstrierten damit ihren Bruch mit bestehenden Regeln. Im politi-
schen Alltagsgeschäft nutzte die NS-Regierung die Lücken der Weimarer
Gesetze aus, um ihre Macht zu erweitern und brach Stück für Stück mit
dem alten politischen System. Auch aus der Perspektive der symboli-
schen Politik konkurrierte die NS-Ordnung mit der politischen Struktur
des Weimarer Staates in der Auslegung von zwei verschiedenen Model-
len, die unterschiedliche Legitimierungslinien verfolgten: Für den Staat
galten die Verfassung und die politischen Institutionen, für die National-
sozialisten der »Führer« und die NS-Ideologie als oberste Instanz.
Dieses mehrdeutige Verhältnis der Nationalsozialisten zur Staatsord-
nung kam auch im Einsatz der SS-Männer zum Ausdruck, deren Status in
Bezug auf den Staat in der neuen Machtsituation noch ungeklärt war. Bis
1934 begleiteten die SS-Männer die SA in ihren Propaganda- und Terror-
Aktionen, sie prägten, wenn auch hintergründig, das Bild des Nationalsozi-
alismus nach außen.6 In den Jahren 1933 und 1934 kann beobachtet wer-
den, wie die SS verschiedene polizeilich-staatliche Funktionen und Reprä-
sentationsaufgaben übernahm und somit immer mehr das Bild des
Nationalsozialismus zu prägen begann. In der kurzen Zeit der Jahre 1933
und 1934 wurden die SS-Männer zusammen mit Mitgliedern der SA und
des Stahlhelm sogar als Hilfspolizei eingesetzt.7

——————
6 Die SS war bis zur so genannten »Röhm-Affäre« der SA unterstellt. Vgl. Peter Longe-
rich, Nationalsozialistische Propaganda, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/
Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur national-
sozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 291-314.
7 1933 und 1934 wurde die so genannten »politischen Bereitschaften« der SS bewaff-
net. Sie waren als Hilfspolizei im Einsatz und markierten damit den öffentlichen
Raum mit der Präsenz der SS. Vgl. Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die
Waffen-SS 1933-1945, Paderborn u.a. 1982, S. 82. Dies war nur möglich, weil die
neue Regierung verschiedene Posten von Polizeichefs in ganz Deutschland mit Nati-
onalsozialisten besetzt hatte, die SA und SS hilfspolizeiliche Befugnisse einräumten.
Wichtig für die Verschmelzung von SS- und staatlichen Strukturen war die zuneh-
mende Kontrolle der Polizei durch Heinrich Himmler, der die Posten des Reichsfüh-
rer-SS und Polizeichefs in verschiedenen Regionen Deutschlands akkumulierte. Dazu
Martin Broszat, Anatomie des SS-Staates, Olten/Freiburg/Br. 1965, Bd. II, S. 16.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 191

Als paramilitärische Truppe war die SS keine staatliche, sondern aus-


schließlich eine nationalsozialistische Organisation. Ihre Vergangenheit als
gewalttätige paramilitärische Gruppe vor 1933 gehörte zur nationalsozialis-
tischen Strategie der Delegitimierung des Weimarer Staates und ging in das
Erscheinungsbild der SS-Männer nach der »Machtergreifung« ein. Da SS
und SA polizeiliche Aufgaben übernahmen, repräsentierten sie nun staatli-
che Ordnung, zugleich aber agierten sie weiterhin als Elemente der Unord-
nung, indem sie Terror-Aktionen vor allem gegen Juden und Oppositio-
nelle am Rande und außerhalb der Legalität betrieben und ihre Funktion
als Hilfspolizei für Akte der Willkür missbrauchten. Die gegensätzliche
Symbolik der Anwendung von Gewalt – als Staatsordnung einerseits und
als NS-Kraft gegen staatliche Institutionen und Prinzipien andererseits –
verschärfte die Ambivalenzen der Macht und floss in die NS-Herrschafts-
inszenierung ein. NS-Veranstaltungen und propagandistische Appelle wur-
den in den Jahren 1933 und 1934 als Inszenierungen staatlicher Ordnung
einerseits und als revolutionäre beziehungsweise Gegenordnung zum Staat
andererseits präsentiert.
In den repräsentativen Aufgaben des Staates, im Bereich der expliziten
Herrschaftsinszenierung, traten die SS-Männer immer mehr an die Stelle
des Militärs bei offiziellen Anlässen wie Paraden bei Staatsfeiern, Spalier-
bildung vor der Reichskanzlei und Repräsentationsgebäuden oder als
Sargträger bei staatlichen Beerdigungszeremonien.8 Damit überdeckte die
NS-Inszenierung die symbolische Repräsentation des Staates mit national-
sozialistischen Symbolen. Allerdings war die SS formell nicht dem Staat,
sondern nur Adolf Hitler zugeordnet. Der »Führer« galt als einzige gültige
Legitimationsquelle für die Existenz und für den Einsatz der SS-Männer.
Der Leitsatz: »SS-Mann, Deine Ehre heißt Treue«, war die symbolische
Markierung dieses privilegierten Verhältnisses.9 Die SS-Eliteeinheit »Leib-
standarte Adolf Hitler« (LSSAH) machte deutlich, wie die Überlagerung
funktionierte. Die Männer der LSSAH waren auf die Person Hitlers verei-
digt und bildeten seine persönliche Leibgarde.10 Nach der Kanzlerernen-
nung Hitlers wurde sie nicht von einer staatlichen Kanzler-Leibgarde er-
setzt. Die Leibgarde Hitlers existierte weiterhin als Organisation außerhalb
des Staates und seiner Institutionen. Dies markierte Hitlers Status als nati-

——————
8 Vgl. Andrew Mollo, Uniforms of the SS, London 1991, Bd. 3, S. 8
9 Das SS-Leitwort entstand im April 1931, als die Berliner SS den Putsch-Versuch der SA,
die so genannte »Stennes-Revolte«, unterdrückte.
10 Vgl. Wegner, Hitlers politische Soldaten [wie Anm. 7], S. 82.
192 PAULA DIEHL

onalsozialistischer »Führer« neben seiner politischen Funktion als Kanzler


im Staatsapparat.
Die These von Gewalt als Grenzfall von Herrschaft kann auch für die
Grenzen der Repräsentation Geltungsanspruch erheben, und zwar inso-
fern, als Gewalt ein symbolisches Verfahren benötigt, um Herrschafts-
macht zu repräsentieren. Wenn Gewalt für sich allein steht, hört sie auf,
Element der Repräsentation und vor allem der politischen Repräsentation
zu sein. Dies liegt sowohl am instrumentellen Charakter der Gewalt in Be-
zug auf die Macht (Hannah Arendt) als auch am Wesen der Repräsentation
selbst. Denn repräsentieren heißt, etwas darstellen oder gegenwärtig ma-
chen, was nicht da ist.11 Insofern kann die Macht auch durch die Ausübung
von physischer Gewalt dargestellt werden. Gewalt wird dann als Erniedri-
gung, Abschreckung beziehungsweise Bestrafung verwendet, um symboli-
sche Unterwerfungsakte und Machtdemonstrationen einer Herrschaft zu
bestätigen. In diesem Zusammenhang repräsentiert physische Gewalt
Macht oder Machtanspruch. Gewalt ist nicht mit der Macht identisch, son-
dern dient als ihr »Werkzeug«, wie Hannah Arendt bemerkt, und dies,
obwohl Arends Machtbegriff ein positiver ist.12 Als letzter Ausweg des
Handelns bleibt Gewalt immer latent vorhanden, auch wenn sie »nur« durch
Zeichen präsent gemacht wird. In der Machtinszenierung erscheint sie in
ihrer symbolischen Form und wird in der Verwendung von Zeichen und
Symbolen in performativen und ästhetischen Verfahren vergegenwärtigt.
In Marschparaden und politischen Massenveranstaltungen wird Ge-
walt nicht physisch ausgeübt, sondern symbolisiert und durch »ikonische
Zeichen«13 dargestellt. Jeder einzelne Marschierende ist eine kleine
mobilisierte Einheit von potenzieller physischer Gewalt und trägt diese
Potenzialität zur Schau. Die Marschierenden erinnern daran, dass Gewalt
die letzte Konsequenz sein kann, wenn Macht nicht akzeptiert wird. Wie
die Macht trägt auch die Gewalt Ambivalenzen in sich, denn »Gewalt ist,
unabhängig von ihrer Legitimität, sowohl Ordnung zerstörendes als auch
Ordnung begründendes Element sozialer und politischer Strukturie-
rung«.14 Sie kann Faszination hervorrufen und spricht verdrängte Ag-
——————
11 Hannah F. Pitkin, The Concept of the Representation, Berkeley 1967, hier S. 37.
12 Arendt, Macht und Gewalt [wie Anm. 4], München/Zürich 1994, S. 47.
13 Zum Begriff des ikonischen Zeichen vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik,
München 1997, S. 82 und 243.
14 Gunter Mai, Zeichen der Gewalt. Europa in der Zwischenkriegszeit 1919-1939, in: Mi-
chael Klein (Hg.), Gewalt – Interdisziplinär, Münster/Hamburg/London 2002, S. 7-31,
hier S. 9.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 193

gressionen an. Daneben kann Gewalt die Identifikation mit dem Starken
motivieren.15
Die Anwendung von Gewalt und von Gewaltsymbolen in der Machtin-
szenierung ist performativ. Gewalt etabliert in der Machtinszenierung ei-
nen Machtdiskurs – um mit Louis Marin zu sprechen: »Le discours de la force,
discours d’auto-institution et d’auto-légitimation, discours qui est pouvoir«.16 Ein per-
formativer Diskurs, der selbst Macht ist. Wie konstituiert sich der Macht-
diskurs? Und wie artikuliert er sich mit der Symbolisierung von Gewalt?
Für Herfried Münkler ist politische Macht immer auf sichtbare und
unsichtbare Vorgänge angewiesen, die die Macht repräsentieren. Münkler
unterscheidet dabei zwei Typen der Visibilität: Der eine tritt in Demokra-
tien, der andere in autoritären Herrschaftssystemen auf. Demokratische
Systeme legen Wert darauf, Entscheidungsprozesse sichtbar zu machen
und gehen mit Machtdarstellung sparsam um. Im Falle der autoritären
Herrschaft dagegen liegt die Unsichtbarkeit der Macht in der Instanz des
Entscheidungsprozesses, während die demonstrative Visualisierung der
Macht als Darstellung politischer Ordnung fungiert.17 Auf der Ebene der
Entscheidungsfindung, so Münkler, optiere der autoritäre Machtgebrauch
für Invisibilität, auf der Ebene der Ordnungsstiftung hingegen zum Zwe-
cke einer freiwillig-unfreiwilligen Akzeptanz der Ordnung für Visibilität
der Macht.18 Die Unsichtbarkeit der politischen Entscheidung hat quasi
den Zwang zur Sichtbarkeit der Macht als Ordnung zur Folge, denn sie
zieht den »Zwang zu Visualisierungsstrategien auf der Ebene der Ord-
nungsstiftung nach sich.«19 Dies erfolgt mit Pomp als Visualisierung von
Potenz und in der symbolischen Erwähnung von Gewalt, oder – wenn es
——————
15 Paul Hugger, Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt, in: Paul Hugger/Ulrich
Stadler (Hg.), Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1995,
S. 17-27, hier S. 25.
16 Louis Marin, Le portrait du roi, Paris 1981, S. 30.
17 Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung,
in: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-
Baden 1995, S. 213-230, hier S. 215.
18 Die bürgerlichen Demokratien dagegen folgen, so Münkler, der umgekehrten Tendenz,
das heißt Sichtbarkeit der Entscheidungsprozesse und Unsichtbarkeit der Repressions-
mittel. Da es in der Praxis jedoch keine pure Demokratie und keinen absoluten Totalita-
rismus geben kann, treten beide Formen der Macht-Visualisierung meistens gemeinsam
auf, denn »die Unterscheidung zwischen instrumenteller und symbolisch-expressiver Vi-
sualisierung von Macht ist eine begrifflich-analytische Unterscheidung, die in dieser ide-
altypischen Form in der politisch-sozialen Wirklichkeit kaum angetroffen werden
dürfte«. Ebd., S. 218.
19 Ebd.
194 PAULA DIEHL

nötig ist – in der Anwendung von physischer Gewalt als Realisierung der
Macht.
Die Beschreibung dieses dualen Mechanismus gilt auch für die Visualisie-
rung der politischen Macht in den Bildern und im Auftritt der SS-Männer.
Hier diente Inszenierung der politischen Strategie: Ziel war die Durchset-
zung einer nationalsozialistischen Ordnung, die sich im Bereich des Symboli-
schen artikulierte und als performativer Machtdiskurs etablieren sollte. Dafür
war die symbolische Vergegenwärtigung von Gewalt durch die SS-Männer
von zentraler Bedeutung. Denn die Körper und die Körperbilder der SS-
Männer gehörten zu einer politischen Ästhetik, die stark auf Gewalt rekur-
rierte und die die totalitäre Macht permanent aktualisierte. Die NS-Herr-
schaft musste, da sie die eigentlichen Entscheidungsprozesse verschleierte,
ihre Macht mit Pomp und Gewaltzeichen immer wieder darstellen und po-
testas mit violentia verschmelzen. In diesem Zusammenhang sind die Körper
der SS-Männer als performative Einheiten zu verstehen, die nicht nur physi-
sche Gewalt ausübten, sondern selbst Gewalt und Macht repräsentierten.

III. Die SS-Männer in politischen Inszenierungen


Die Visualisierung der Macht durch die SS-Männer geschah hauptsächlich
auf zwei Ebenen: durch das Tragen von nationalsozialistischen Gewalt-
und Machtsymbolen auf dem uniformierten Körper einerseits und durch
den performativen Einsatz der SS-Männer, ihre Bewegung und Verteilung
im Raum beziehungsweise ihre Darstellung im Bild andererseits. Der Ein-
satz der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung schloss Elemente ein,
die Gewalt und Macht signalisierten, wie Waffen, Uniformen, Stiefel,
Marschmusik, synchronisierte Körperbewegungen und militärische Kör-
perhaltung. Vor allem die Waffen stellten die Verbindung zur Gewalt ex-
plizit her. Dies folgte einer langen Tradition der Machtinszenierung in der
Politik, die schon vor dem Nationalsozialismus existierte, von ihm aber
aktualisiert und politisch kanalisiert wurde.
Die schwarzen Uniformen waren das Hauptkennzeichen der SS-Män-
ner, sie hatten einen emblematischen Charakter und symbolisierten nicht
nur die SS, sondern auch die in Gewalt verankerte NS-Macht.20 Die SS-
——————
20 Vgl.: Paula Diehl, Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin
2005, S. 181-199.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 195

Uniformen wurden mit Zeichen versehen, die im kollektiven Gedächtnis


eine Bedeutungstradition hatten, wie etwa der Totenkopf als Symbol für
den Tod. Außerdem hatten sie eine eigene ästhetische Qualität, die die
Inszenierung begünstigte: Die SS-Uniformen homogenisierten die indivi-
duellen Körper der SS-Männer und gaben ihnen eine abstrakte Bedeutung.
Es ist wichtig festzuhalten, dass die semiotischen und die performativen
Ebenen ineinander verwoben waren und aufeinander verwiesen. Sie ban-
den die Körper der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung zusammen
und dienten der Visualisierung der NS-Macht.
Die SS-Uniform weckte Assoziationen mit Macht und Gewalt, aber
auch mit Ordnung, asketischen Idealen und Elitebewusstsein. Diesen Ef-
fekt konnte die SS-Uniform ausüben, weil sie das sozio-kulturelle Zeichen-
repertoire ihrer Zeit ansprach. Symbole sind polysemische Zeichen, sie
wirken auf unterschiedlichen Deutungsebenen gleichzeitig und haben die
Eigenschaft, je nach Kontext unterschiedlich interpretiert werden zu kön-
nen, ohne dabei ihre schon tradierten Bedeutungsinhalte vollkommen zu
verlieren. Bei jeder Wiederverwendung werden sie neu inszeniert und müs-
sen neu gedeutet werden. Für die symbolische Politik ist dies eine wertvolle
Eigenschaft, denn dadurch wird es möglich, an bekannte Bedeutungen an-
zuknüpfen, um dabei neue Botschaften zu vermitteln. Die schwarze Farbe,
das Totenkopf-Abzeichen der Mützen, die schwarzen Lederstiefel und ab
1934 der Stahlhelm waren Zeichen, die unterschiedliche Bedeutungen aus
dem kollektiven sozialen Gedächtnis abrufen konnten. Die SS-Uniformen
waren ein Gesamtbild aus Stoff, verschiedenen Abzeichen, Schmuck,
Farbkomposition und Schnitt. Eine Analyse ihrer semiotischen Bedeutung
und ihrer performativen Wirkung in der NS-Herrschaftsinszenierung muss
diese Zeichenkombination berücksichtigen.
Zuerst gilt es, die symbolische Tradition zu berücksichtigen, auf die
sich die SS explizit bezog. Vorbild waren die preußischen Husaren aus dem
5. Regiment, die im Kaiserreich schwarz gekleidet waren und den Toten-
kopf auf der Mütze trugen. Am 2. Dezember 1937 brachte die SS-Zeitung
Das Schwarze Korps eine ganze Seite mit Bildvergleichen von Fotos unifor-
mierter SS-Männer und Zeichnungen von schwarz uniformierten preußi-
schen Husaren. Der Text machte den Vorbildcharakter fest: »Jedenfalls ist
der Zweck des Totenkopfs, auf die Feinde furchterregend einzuwirken und
dem eigenen Träger stets ein mahnendes Zeichen der Treue und des tod-
bereiten Opfers zu sein, wie die Geschichte beweist, erreicht worden.«21 Es
——————
21 Vgl.: Das Schwarze Korps vom 02. Dezember 1937.
196 PAULA DIEHL

wurde eine phänomenologische Begründung für die schwarze Farbe und


für den Totenkopf angeboten, die als Teil einer kriegerischen Symbolik
dargestellt wurde. Außerdem hatte die symbolische Anlehnung an die Hu-
saren den Effekt, dass »preußische Eigenschaften« wie Disziplin, Tapfer-
keit, Männlichkeit und Ehre als nationalsozialistische Opferbereitschaft
und Elitetugend der SS übersetzt werden konnten. Außer den preußischen
Husaren dienten auch die »Camicie nere« (schwarze Hemden) der italieni-
schen Faschisten als Vorbilder für die paramilitärischen Truppen im Nati-
onalsozialismus und für die schwarze SS-Uniform.
Neben den direkt angesprochenen Vorbildern waren die schwarze
Farbe und der Totenkopf der SS-Uniformen mit einem multiplen Assozia-
tionskomplex verbunden. Die Farbe schwarz ist ohnehin hoch polyse-
misch: Schwarz ist, »je nach dem, wie es eingesetzt wird, ein sehr reichhal-
tiger und mehrdeutiger Code, der Macht ausdrücken kann und Demut,
Zurücknahme der eigenen Person und prunkenden Auftritt, Individualität
und Uniform, Melancholie und Aggressivität, Unnahbarkeit und erotische
Offensive«.22 Für die Wirkung der SS-Uniform sind vor allem drei wichtige
Deutungskomplexe zu beachten: Die Verbindung der schwarzen Farbe mit
a) Tod und Erneuerung, b) einer Dunkel-Hell-Metaphorik und c) ihre Tra-
dition als klerikale Farbe. Außerdem muss die ästhetische Wirkung der
schwarzen Farbe berücksichtigt werden.

a) Tod und Erneuerung: Die NS-Ideologie und vor allem Himmlers pseudo-
religiöse Konzeption eines SS-Ordens waren vom Todeskult und von apo-
kalyptischen Vorstellungen geprägt.23 Dort nahm die schwarze Farbe eine
zentrale Stelle ein. Berücksichtigt man die Bedeutung von Schwarz in der
abendländischen und vor allem in der alttestamentlichen Kultur, wird die
Anknüpfung der SS-Uniform an den traditionellen Symbolgehalt deutlich.
In der Bibel erscheint Schwarz als Vorzustand der Welterschaffung,24 als
Symbol des Nichts, des Chaos und des Todes, »il [Schwarz] est associé aux
ténèbres primordiales«, ist aber auch mit der Apokalypse, Verurteilung und
——————
22 Vgl. Jochen Schimmang, Schwarz, in: Du 14 (1998), S. 32-33.
23 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München
1998; Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Natio-
nalsozialismus, Weinheim 1995; Rolf Peter Sieferle, Die konservative Revolution und
das »Dritte Reich«, in: Dietrich Harth/Jan Assmann (Hg.), Revolution und Mythos,
Frankfurt/M. 1992, S. 178-206.
24 Das erste Buch Mose: Genesis, in: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testa-
ments, Stuttgart 1980 (Lutherische Übersetzung), Vers 1.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 197

Erneuerung assoziiert.25 Auf der Ebene der Alltagspraxis ist die schwarze
Farbe seit der Antike Beerdigungsfarbe, sie symbolisiert Zurückhaltung,
Trauer, das Versinken im Dunkeln und die Finsternis. In den SS-Unifor-
men wurde die Assoziation mit Tod und Erneuerung vor allem durch die
Kombination der schwarzen Farbe mit dem Totenkopf erzeugt.

b) Dunkel-Hell-Metaphorik: Eine zweite symbolische Dimension der schwar-


zen Farbe liegt in der Verbindung zum Bösen, zur Finsternis und im
Kennzeichen des »Unterweltherrschers«. Im christlichen Volksglauben,26 in
den nordischen und germanischen Mythen, auf die sich die SS bezog, be-
kommt Schwarz eine negative Bedeutung, während Weiß positiv konno-
tiert wird.27 Die Dichotomie schwarz/weiß, die schon die germanische My-
thologie prägte, wurde im 19. Jahrhundert populär und oft als Metapher
für den Kampf zwischen Gut und Böse herangezogen. Interessant ist, dass
die Selbstinszenierung der SS nicht unbedingt das Böse für sich bean-
spruchte, sondern vielmehr mit der Dichotomie Schwarz/Weiß arbeitete,
um die asketischen Eigenschaften und die Nähe zum Tod als Erlösungs-
moment zu betonen. Dadurch gewannen die SS-Männer die schicksalhafte
Bedeutung einer Mission, die sich in Himmlers und Hitlers ideologischen
Schriften wieder fand.

c) Das klerikale Schwarz: Schwarz eignet sich auch für die Darstellung von
religiöser Transzendenz und ist oft die Farbe des Habits von christlichen
Priestern und Mönchen. Als matte Farbe versinnbildlicht Schwarz Zurück-
nahme und Einfachheit. Schwarz gekleidet sollen Priester und Mönche Be-
scheidenheit verkörpern und die Negation von irdischer Eitelkeit und
Prunk demonstrieren.28 Der Ursprung dieser im klerikalen Schwarz
symbolisierten Haltung gehörte ebenfalls zum Symbolkomplex der SS-
Uniformen. Doch während in der christlichen Deutung der Farbe Schwarz
eher die Distanzierung von irdischen Bedürfnissen im Vordergrund steht,
verlagert die SS ihren symbolischen Gehalt und ihren asketischen Inhalt
auf die Lebensverachtung. Diese symbolische Verschiebung ist vor allem

——————
25 In der Genesis steht die schwarze Farbe für Verurteilung. Adam und Eva kleideten sich
in Schwarz, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden, ebd.; Jean Chevalier/Alain
Gheerbrant, Dictionnaire des Symboles, Paris 1982, S. 671.
26 Vgl. Hans Biedermann, Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989, S. 393-394.
27 Vgl. Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbole, Stuttgart 1985, S. 608.
28 Vgl. Biedermann, Knaurs Lexikon [wie Anm. 26], S. 393-394.
198 PAULA DIEHL

deshalb möglich, weil das Zeichen Schwarz nicht allein stand, sondern in
Kombination mit anderen Gewalt- oder Machtsymbolen wie der militäri-
schen Ausrüstung samt Lederstiefeln und vor allem mit dem Totenkopf
kombiniert wurde.

Der Totenkopf war die visuelle Erwähnung, eine Evokation des Todes
schlechthin, die traditionell als Warnzeichen für Bedrohung und Todesge-
fahr verwendet wurde. Schon in der christlichen Kunst gehörte der Toten-
kopf zu den Symbolen des Todes – allerdings mit dem Verweis auf die
Buße und auf die Vergänglichkeit alles Irdischen.29 Auch dieser Aspekt des
Totenkopfes erlebte eine Bedeutungsverschiebung in der SS-Symbolik. Die
Mahnung gegen die Überbewertung des Irdischen angesichts des Todes
wurde zum Todeskult und von der Ästhetisierung und von der Sehnsucht
nach dem schicksalhaften Tod verdrängt. Der Tod erhielt sowohl auf der
verbalen als auch auf den bildlichen Ebenen des SS-Diskurses eine kulti-
sche Bedeutung.30
Die Zeichenkomposition und die diskursive Darstellung der SS-Uni-
form ist ein typisches Beispiel von Symbolrecycling, das die Selbstinsze-
nierung der SS und die Inszenierung der NS-Macht mitgestaltet. Berück-
sichtigt man die bewusste Anlehnung der SS an die preußischen Husaren,
ihre Anknüpfung an die kriegerische Symbolik sowie deren Kombination
mit der schwarzen Farbe und mit den Lederstiefeln der SS-Uniformen,
entfaltet sich die Todessymbolik in der NS-Machtinszenierung als Dar-
stellung von Gewalt beziehungsweise ihrer Androhung. Bereits die Husa-
renuniform setzte die Todessymbolik so explizit ein, dass die Husaren im
Volksmund »der Tod« genannt wurden.31 Bei der Übernahme dieser
Symbolik durch die SS ist eine Verschiebung zu beobachten: Die Toten-

——————
29 Vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen
Kunst, Berlin 1971, S. 292.
30 Hier ist vor allem der Totenkopfring hervorzuheben. Noch vor 1937 ließ Himmler vom
SS-Brigadenführer Karl Maria Wiligut (Rasse- und Siedlungshauptamt) einen Totenkopf-
ring entwerfen, den ausgewählte SS-Männer als Symbol der SS-Orden tragen sollten. Die
Symbolisierung des Todes gewann im Totenkopfring einen religiösen Akzent: Die Ringe
der gefallenen SS-Angehörigen sollten zur Wewelsburg zurückkommen und am Ort ih-
rer Einweihung gelagert werden. Vgl. Nicholas Goodrick-Clarke, The occult roots of
Nazism, New York 1992, S. 187; Karl Hüser (Hg.), Wewelsburg 1933 bis 1945, Kult und
Terrorstätte der SS: eine Dokumentation, Paderborn 1987, S. 70.
31 Vgl. Richard Knötel/Herbert Sieg, Farbiges Handbuch der Uniformkunde, Augsburg
1996, Bd. I, S. 33.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 199

kopf-Uniform fungierte hier nicht nur als Symbol des Todes, sondern ihr
Träger verkörperte den Tod. Er war fähig, den Tod selbst zu bringen.
Die Bedeutung des Todes in der SS-Symbolik bekam durch das Auf-
treten als paramilitärische Truppe – in der Weimarer Republik sowie in den
ersten Jahren nach 1933 – und durch die prominente Rolle der SS im NS-
Terror eine Pointierung in Bezug auf die Gewalt, die bedrohlich erscheinen
konnte. Eine Episode aus den Erinnerungen von Christoph Graf von
Schwerin veranschaulicht diese Deutung: »Meine Mutter erzählt eine an-
dere Geschichte von einer Zugfahrt mit mir zwischen Berlin und Prenzlau.
Wir hätten in einem Abteil gesessen, das nur einen Ausgang nach draußen
hatte. Uns gegenüber habe ein SS-Mann gesessen, dessen Mütze mit einem
Totenkopf geziert war. Zum Entsetzen aller im Abteil hätte ich den SS-
Mann gefragt, was der Totenkopf denn bedeute, und der habe geantwortet:
›Mein Junge, das bedeutet, daß wir unserem Führer treu sein wollen bis in
den Tod.‹ Meine Mutter habe darauf zusammen mit mir das Abteil verlas-
sen, um einer Fortsetzung dieses unangenehmen Gesprächs zu entgehen.
Ich kann mich an diesen Vorgang aus dem August 1939 nicht erinnern.
Das allgemeine Entsetzen zeigt jedoch, daß alle Abteilinsassen dem Toten-
kopf eine andere Deutung gaben als die, die der SS-Mann genannt hatte«.32
Das von Graf Schwerin beschriebene Unbehagen angesichts des Toten-
kopfes entstand aus der Mischung einer symbolischen Tradition und der
aktuellen Bedeutung der SS-Männer für die Gewaltausübung im National-
sozialismus. Hier konvergierten und potenzierten sich die verschiedenen
symbolischen Gehalte des Totenkopfs in eine Todessymbolik, die mit Ge-
waltandrohung konnotiert wurde.
Wie Inszenierungen im Allgemeinen sind politische Inszenierungen
nicht bloß die Summe der semiotischen Bedeutungen ihrer Symbole. Ihre
Entstehung und Wirkung sind vor allem das Ergebnis des Zusammenspiels
zwischen semiotischer Bedeutung einerseits und performativ-ästhetischer
Wirkung andererseits. Für die Analyse der Rolle der SS-Männer in der NS-
Machtinszenierung muss daher auch die ästhetische Wirkung der schwar-
zen Farbe in der Uniform mitberücksichtigt werden. »In seiner Kompakt-
heit und seiner Zurücknahme der Person eignet sich Schwarz hervorragend
als Farbe für Uniformierungen [...]. Ohnehin ist schwarze Kleidung, in
welchem Material und welchem Schnitt sie auch erscheint, immer eine In-
szenierung, die den Körper schützt, weil sie ihn zurücknimmt und tenden-

——————
32 Christoph Graf von Schwerin, Als sei nichts gewesen. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 11.
200 PAULA DIEHL

ziell verbirgt.«33 Die schwarze Farbe vermittelt den optischen Eindruck des
Schweren. »Le Noir donne une impression d’opacité, d’épaissement, de lourdeur. C’est
ainsi qu’un fardeau peint un noir paraîtra plus lourd qu’un fardeau peint en blanc.«34
Mit der schwarzen Uniform wird dem Körper ein optischer Schutz-Effekt
verliehen, der Intensität und Geschlossenheit suggeriert.
Bis 1934 bestanden die fast vollständig schwarzen SS-Uniformen aus
einem Dienstrock mit Schulterriemen, Tellermütze mit Sturmriemen und
silbernem Totenkopf, braunem Hemd und Lederknöpfen und Binden.
Dazu trugen die SS-Männer Stiefelhosen und Marschstiefel.35 Durch die
Hakenkreuzbinde und die braune Farbe des SS-Hemdes wurde die visuelle
Verbindung zur NSDAP hergestellt. Der Schnitt betonte die als männlich
kodierten Körperproportionen – breite Schultern, enge Taille und große
Statur. Er diente einer optischen Veränderung des Körpers; die SS-Uni-
form ließ die SS-Männer größer erscheinen und akzentuierte ihre ästheti-
sche Wirkung und den performativen Einsatz bei den Aufzügen und Ze-
remoniellen – auch hier ist das Aufeinanderwirken von Performanz und
Semiotik zu beobachten. Der schwer aussehende schwarze Stoff und der
Uniformschnitt verwandelten den Körper in eine »gepanzerte« Einheit.
Anders als schwarz gewandete Priester oder Mönche verloren die schwarz
uniformierten SS-Männer keineswegs an Präsenz. Der Uniformschnitt, das
Tragen von Waffen und Fahnen und der paramilitärische Auftritt der SS-
Männer unterstrichen ihre körperliche Materialität.
In dieser körperlichen Präsenz fehlte jedes Zeichen von Individualität.
Uniformen entpersonalisieren den Körper ihrer Träger und binden ihn in
den Status der Gruppe ein. Die einzelnen Körper wurden einander optisch
angeglichen und fügten sich in einen geschlossenen Block. Die marschie-
renden SS-Männer waren anonymisiert und ihre Körper vom symbolischen
Schutz der Uniform bedeckt. In ihrem Auftritt erschienen sie als Abstrak-
tion, die die Machtinszenierung unterstrich. Dazu kamen die schwarzen
Lederstiefel und die Waffen als eindeutige Zeichen von Macht und Gewalt
sowie NS-Symbole, Fahnen und Standarten, die sowohl von den SS-Män-
nern getragen wurden als auch den Raum schmückten.
——————
33 Auch bei zivilen Festlichkeiten hat schwarze Kleidung die Eigenschaft, zu imponieren
und zu inszenieren. Vgl. Erika Thiel, Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode
von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1997, S. 409.
34 Chevalier/Gheerbrant, Dictionnaire [wie Anm. 25], S. 671-674.
35 Ab 1938 wurden einige SS-Truppen mit grauen Uniformen ausgestattet. Für die Re-
präsentationstruppen und für die »Allgemeine SS« blieb jedoch die schwarze Uniform
bestehend.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 201

Lederstiefel stehen durch die kulturelle Tradierung und durch eine sozi-
ale Praxis in einer engen Verbindung mit Macht, Gewalt und sozialer Hie-
rarchie. Aufgrund ihrer Schutzfunktion etablierten sich die Lederstiefel als
Fußbekleidung bei der Jagd, beim Reiten und beim Militär; ab dem 19.
Jahrhundert bekamen sie zunehmend eine militärische Konnotation. Die
schwarzen Stiefel sind in zweierlei Hinsicht Elemente der NS-Machtin-
szenierung: Sie sind semiotisch aufgrund ihrer tradierten symbolischen
Bedeutung, und sie sind performativ aufgrund ihres Einflusses auf die
Körpersprache der Stiefelträger. Stiefelträger haben mehr Bewegungsauto-
nomie als Träger losen Schuhwerks. Der physische Schutz der Stiefel er-
möglicht es, entschlossener zu marschieren und beeinflusst damit nicht nur
den Gang, sondern auch sämtliche Körperbewegungen sowie das gesamte
Erscheinungsbild des Körpers. Die SS-Männer und vor allem die paradie-
renden Truppen der »Leibstandarte Adolf Hitler« übten beim Marschexer-
zieren zackige und kräftige Schritte. Das Tempo der Marschparade wurde
vom Takt reglementiert und band die Bewegungen der Einzelnen an die
kollektive Bewegung der Gruppe. Marschierende Truppen verhalten sich
als Einheit, sie absorbieren die einzelnen Schritte in einem Gesamtbild so-
wie im Takt und verdeutlichen dadurch die summierten Kräfte der
Gruppe. Dies ist einer der Gründe, warum die Stiefeltritte in Marschpara-
den sich als wirksames Element der Machtdarstellung eignen. Ihre akusti-
schen Signale kündigen die Ankunft der marschierenden Truppe an, die,
wie eine einzige »Körper-Maschine«, die Macht sinnlich vermittelt und
verdeutlicht, dass ihre Mitglieder jederzeit Gewalt ausüben können.
Die SS-Übungsvorschrift vom ersten Juli 1933 betonte die Bedeutung der
Präzision der synchronen Körperbewegungen beim Paradieren. Sie zählte
drei unterschiedliche Marschschritte: Erstens »ohne Tritt«, zweitens »im
Gleichschritt« und drittens der Paradenmarsch »fester Tritt«. Führte die
Dienstvorschrift für die SA der NSDAP von 1932 nur die beiden ersten
Schritte auf,36 wurden in der SS-Übungsvorschrift die genaue Bewegungen
beschrieben, die zum Parademarsch notwendig seien: »Das linke Bein wird
leicht gekrümmt, der Unterschenkel mit heruntergedrückter, etwas aus-
wärts zeigender Fußspitze leicht durchgezogen und vorgestreckt, dass er
mit dem Oberschenkel eine gerade Linie bildet. Gleichzeitig verschiebt sich
das Körpergewicht nach vorne, der Fuß wird flach und leicht, mit der
Fußspitze zuerst, in der Entfernung von etwa 80 cm vom rechten Fuß auf
——————
36 Vgl.: Dienstvorschrift für die SA der NSDAP, Diessen vor München 1932, S. 293-295;
Dokument in: Bundesarchiv-Berlin, NSD40/27- 1932/4.
202 PAULA DIEHL

dem Boden gesetzt.« Die Übung zum »festen Schritt wurde besonders
kräftig und langsam vorgenommen, während der normale Schritttempo
(»Gleichschritt«) 114 Schritte in der Minute ausmachte, war der langsame
Schritt mit 25 Schritt in der Minute präzis aufzuführen.37 Der »feste Schritt«
der SS-Paradenmärsche sollte besonders akribisch choreographiert werden,
er gehörte nur bei Parademärschen und galt als besonders anstrengend.
Die Wirkung der synchron marschierenden SS-Körper wurde besonders
durch das gleichzeitig Drehen der Köpfe beim Salutieren hervorgehoben.
Durch die Reglementierung ihrer Bewegungen wirkten die SS-Männer wie
anonyme Teile einer Maschine, die akustisch den Takt und den Rhythmus
der Inszenierung prägte.
Ähnlich verhält es sich mit der visuellen Wahrnehmung der Stahlhelme.
Der SS-Stahlhelm wurde 1934 eingeführt und gehörte bis auf die späteren
SS-Militäreinheiten ausschließlich zu den Repräsentationsuniformen.38 Der
Stahlhelm eignet sich besonders für die Kodierung von Macht durch den
Körper in Herrschaftsinszenierungen. Seit der Antike fungiert der Helm als
Potenzzeichen, das in Verbindung mit Kampf und Krieg steht. Wie die
Lederstiefel schützt er seinen Träger vor Angriffen und – was für die
Machtinszenierung von Bedeutung ist – vor den Blicken der Betrachter.
Der Stahlhelm entpersonalisiert das Gesicht, indem er es optisch in zwei
Partien teilt: Die Unterkieferknochen erscheinen hervorgehoben, während
die Augen für den Betrachter kaum erkennbar sind. Damit unterstützte der
SS-Stahlhelm die homogenisierende Wirkung der Uniformen, die mit der
eingeübten militärischen Mimik und Gestik verbunden war und beim Pa-
radieren oder beim Spalier zum Vorschein kam. Ins Blickfeld rückte die
visuelle Reduktion des Gesichts auf schematische Züge, die zum abstrakten
Herrschaftszeichen wurden. Dieser homogenisierende Effekt unterstützte
zusammen mit der symbolischen Tradierung des Helms als Kriegsausrüstung
die Visualisierung von Anonymität, Macht und Gewalt.
In der Visualisierung von Schutz und Potenz des eigenen Körpers
durch das Tragen von Helm, Stiefeln und schwarzer Uniform, in der An-
kündigung der drohenden Gewalt durch die lauten Marschschritte der Le-
derstiefel, in der Darstellung von Disziplin durch die eingeübten synchro-
nen Bewegungen und uniformierten Körper sowie in den diversen symbo-
lischen Assoziationen der schwarzen Farbe und des Totenkopfs mit
——————
37 SS-Übungsvorschrift, Wiebach 1933, S. 24-26; Dokument in: Militärarchiv-Freiburg: M
1301/A13.
38 Vgl. Mollo, Uniforms [wie Anm. 8], Bd. 1, S. 15.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 203

Askese, Tod, Erneuerung, Gewalt und dem Bösen trugen die marschieren-
den SS-Männer die NS-Macht zu Schau. Als szenisches Element wirkten
die SS-Männer ambivalent: negativ und einschüchternd als Verkörperung
des Todes und potenzielle Quelle von Gewalt, aber zugleich positiv und
vielleicht sogar anziehend als Darstellung von militärischen Tugend,
Selbstkontrolle und Macht.

IV. Der Auftritt der SS-Männer und die


Ambivalenzen der Macht

Bis hier her wurden die Symbole und die ästhetischen Elemente dargestellt,
die das emblematische Bild der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung
prägten. Diese Symbole waren mehrdeutig und implizierten ein ambiva-
lentes Verhältnis des Betrachters zu den Uniformierten und zur Macht, die
sie verkörperten. Damit verbunden war der performative Einsatz der SS-
Männer nicht nur in NS-Veranstaltungen, sondern auch in ihrer massen-
medialen Verbreitung in Film und Foto. Zu klären bleibt, wie der Auftritt
der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung eingebunden war und auf
welche Bindungsstrukturen beziehungsweise Angebote an das Publikum
sie rekurrierte, um die Macht symbolisch zu fixieren.
Ausgehend von Herfried Münklers These zur Visibilität der Macht er-
scheint die Verlagerung auf die Darstellung von Macht und Gewalt im Na-
tionalsozialismus als Kompensation für die mangelnde Transparenz der
Entscheidungsprozesse, für die Unmöglichkeit der Teil- oder Einfluss-
nahme der Unterworfenen in und auf die politischen Entscheidungspro-
zesse. Machtvisualisierung funktioniert somit als Ersatz für ein nicht mehr
mögliches Handeln der Beherrschten und ist zugleich eine Drohung für
den Fall, dass sich die Beherrschten an die oktroyierte Ordnung nicht hal-
ten und eigenes Handeln für sich beanspruchen. In diesem Sinne ist Macht
auf den Doppelmechanismus der Produktion von Furcht und Sicherheit,
von Unterwerfung und Stärkegefühl angewiesen. Um diesen Mechanismen
näher zu kommen, ist es erforderlich, die Produktion von Ambivalenzen in
den Vordergrund der Betrachtung treten zu lassen.
Die Ambivalenzen, die aus den Paarungen Wille zur Macht/Unterwer-
fung, Machtteilnahme/Angst vor der Macht und Anziehung/Abschre-
204 PAULA DIEHL

ckung entstehen, erscheinen in der nationalsozialistischen Herrschaftsin-


szenierung und insbesondere im Einsatz der SS-Männer verschärft und
bekommen angesichts der sozio-politischen Lage und des ideologischen
Hintergrunds im Nationalsozialismus zusätzliche Bedeutungen. Im Fol-
genden wird die Aufmerksamkeit auf drei Stufen von Ambivalenzen der
NS-Machtinszenierung gelenkt: Erstens das Schwanken zwischen Angst
und Sicherheitsversprechen; zweitens das Verhältnis zwischen Ordnung
und Unordnung und drittens das Angebot einer Identifikation mit der
Macht, die zwischen Machtunterwerfung und Machtteilnahme oszilliert.

1. Angst und Sicherheitsversprechen

Eines der wichtigsten Instrumente der Macht ist die Drohung. Drohung
setzt Glaubwürdigkeit voraus und basiert auf der Vorstellungskraft derer,
die ihr ausgesetzt sind. Für Heinrich Popitz ist »die Wirkungskraft der
Drohung [...] eine Bedingung der Möglichkeit aller dauerhaften Machtver-
hältnisse«.39 Dabei müssen Drohungen nicht unbedingt direkt ausgespro-
chen werden. Es reicht, dass sie angedeutet oder durch Symbole, Gesten
oder Mimik erwähnt werden. Sie können auch »mit Pomp und Pathos in-
szeniert werden«. Als Instrumente der Macht steuern die Drohungen das
Verhalten der Bedrohten. Und das tun sie, »weil sie Furcht, Versprechun-
gen, weil sie Hoffnung erzeugen«.40 Ziel ist, dass der Adressat der Drohung
zwischen Angst und Sicherheitsgefühl schwanke. In diesem Sinne wirkt die
erfolgreiche Drohung als Erzeuger von Ambivalenzen.
In den nationalsozialistischen Marschparaden und Massenveranstaltun-
gen sowie in vielen der propagandistischen Bilder und Filmaufnahmen
gehörte die implizite und explizite Drohung zur Ästhetik der Machtinsze-
nierung. Die Gestaltung des Raumes durch die NS-Regie wie die Okkupie-
rung von Straßen, Plätzen und Hallen durch die Dekoration, die strikte
physische Trennung zwischen Zuschauern und Machtdarstellern fixierte
die Hierarchie zwischen Machtinhabern und Unterworfenen und gab den
Rahmen vor, in dem die SS-Männer auftraten. In Filmen, auf Plakaten und
in Zeitungsillustrationen war die Perspektive von unten nach oben ein
weiteres Inszenierungsmittel, das die Hierarchie der Macht visuell mar-
kierte. Die Drohung wurde von Macht-, Gewalt- und Todessymbolen und
——————
39 Vgl. Popitz, Phänomene [wie Anm. 4], S. 79.
40 Vgl. ebd., S. 88.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 205

vom performativen Einsatz der SS-Männerkörper erfahrbar gemacht.


Diese ästhetischen, symbolischen und performativen Elemente der NS-
Machtinszenierung waren nicht Gewalt an sich, doch sie symbolisierten
und vergegenwärtigten physische Gewalt.
Im Film arbeitete die NS-Propaganda gezielt mit dem performativen Ef-
fekt der marschierenden SS-Männer. Die berühmte Treppen-Szene in Tri-
umph des Willens bildet eines der besten Beispiele für die filmische Inszenie-
rung der NS-Macht. Leni Riefenstahl betonte die Vertikale, indem sie die
schwarz uniformierten SS-Männer nicht nur von unten aufnahm, sondern sie
zudem eine Treppe heruntergehen ließ. Der Zuschauer sieht den schwarzen
Block der Marschierenden aus der Leinwand, aus der Tiefe des virtuellen
Raums auf sich zu kommen. Durch die Kameraperspektive richtet sich der
Blick des Kinozuschauers auf die schwarzen Lederstiefel. Hier entfaltet sich
die ästhetische Wirkung der uniformierten SS-Männer, die schon im Zu-
sammenhang mit den Marschparaden beschrieben wurde. Die synchronen
Bewegungen der Beine, die den optischen Eindruck einer koordinierten
Maschine erzeugen, werden vom Filmton unterstrichen, die Marschschritte
klingen entschlossen, werden zunehmend lauter und unterstützen so den
Eindruck des Zuschauers, dass die SS-Männer immer näher kommen.
Betrachtet man Triumph des Willens mit Heinrich Popitz’ These der
Drohung, gewinnt die ästhetische Dimension dieser Szene in Hinblick auf
die Gewaltsymbolisierung an politischer Relevanz. Riefenstahl nutzt die
filmischen Möglichkeiten, um die assoziative Wirkung der SS-Marschpara-
den zu betonen: In den Blockformationen signalisierten die koordinierten
Schritte, die Kopf- und Armsynchronisation der SS-Männer, dass sie nicht
mehr als einzelne Individuen agieren, sondern Teile einer »Maschine« ge-
worden sind; Teile der Machtmaschine also, die sich gegen jeden mögli-
chen Ungehorsam wenden kann und wird. Die SS-Männerkörper waren
von den Uniformen homogenisiert, symbolisch umhüllt und vor Blicken
des Publikums paradoxerweise geschützt. Sie erschienen als unverletzliche
Panzer, die im Takt und in der Präzision ihrer Schritte »nach mehr klin-
gen«, um Elias Canettis Formulierung aufzugreifen.41 Nach Canetti übt das
synchrone Marschieren einer Gruppe eine Anziehungskraft auf ihre Um-
gebung aus und wirkt für das Publikum wie eine Einladung zur Teilnahme.
Im Kontext des vorliegenden Beitrages ist der synchrone Marsch der SS-
Männer als Angebot einer symbolischen Teilnahme der Zuschauer an der

——————
41 Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1996, S. 33.
206 PAULA DIEHL

Macht zu sehen. Doch diese Botschaft war höchst ambivalent, denn neben
der Anziehungskraft des marschierenden Blocks und der symbolischen
Einladung zur Machtteilnahme wurde auch Gefahr signalisiert. Der Preis,
den das Publikum für die Integration in die Macht zahlen sollte, war die
Unterwerfung. Dies galt sowohl in seiner physischen wie in seiner symboli-
schen Dimension.
Die Zeichen von Gewalt und die damit verbundene Drohung beim
Einsatz der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung bekommen eine tief
greifende Dimension, wenn man bedenkt, dass die SS-Männer nicht nur als
performative Einheiten in den Marschparaden oder in den Repräsentati-
onsaufgaben fungierten, sondern eine wichtige Rolle in der Verbreitung
des Terrors übernahmen, wenn sie Gewalt ausübten. Das bedeutet, dass
die Zeichen der Gewalt als Kodierung von Macht im Einsatz der SS-Män-
ner in der NS-Herrschaftsinszenierung immer einen Rückgriff auf die Rolle
der SS in ihrer gewalttätigen Alltagspraxis beinhalteten. Die Relevanz dieser
Gewaltzeichen für die Herrschaftsrepräsentation kann ohne die Bedeutung
des Terrors für die Produktion von kollektiven Phantasien und Vorstellun-
gen nicht vollständig entschlüsselt werden. Sowohl der Auftritt der SS-
Männer auf Marschparaden und Massenveranstaltungen als auch ihre Kör-
perbilder fungierten als Erinnerung an eine Drohungsstruktur, die die
Maße, die Popitz anbietet, deutlich übersteigt und zu Terror wird.
Der Gewalt, die die SS-Männer ausübten, haftete ein Element der Will-
kür an, das die Labilität der Ordnung brisant machte. Als Hilfspolizei er-
hielt die SS gemeinsam mit der SA zwar 1933 die formale Aufgabe die
staatliche Ordnung zu garantieren, doch in der Praxis wurden ihre »polizei-
lichen« Aktionen zu einem Faktor der Unruhe und Angst innerhalb der
Bevölkerung. Vor allem nach dem »Ermächtigungsgesetz« vom 24. März
1933, das die Grundrechte der Bürger suspendierte, konnten SS- und SA-
Männer ohne Befehl Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verhöre
durchführen. Sie misshandelten Oppositionelle und Juden in der Öffent-
lichkeit und prägten damit die Vorstellungen von Terror und Gewalt. Mit
dem Ausbau des Sicherheitsdienstes durch Heinrich Himmler und mit der
zunehmenden Kontrolle der Polizei durch die SS gewannen Terror und
Willkür einen institutionellen Charakter. Dieser politische Kontext ver-
schärfte die Ambivalenzen der Macht. Das Schwanken zwischen Drohung
und Sicherheitsversprechen, zwischen Angst und Sicherheitsgefühl bekam
angesichts der SS- und SA-Gewaltpraktiken, der NS-Gewaltpropaganda
und des Ausbaus des Polizeiapparates eine neue Qualität.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 207

Der Terror ist unberechenbar und »richtet sich gegen jedermann«,


schreibt Hannah Arendt.42 Darin liegen Wirkung und Potenzialität der Am-
bivalenzen der NS-Macht. Der Terror produziert kollektive und individuelle
Träume, wie Reinhart Koselleck Charlotte Beradt zustimmend betont hat,
»sein Echo hallt aus allen Träumen wieder. Entscheidend ist aber, dass es
weniger der offene Terror war, der hier zur Sprache gebracht wird, als viel-
mehr der schleichende Terror, der zunächst über die Propaganda wirkte,
hinter deren Werbung sich die Drohung versteckte«.43 Die Träume gehörten
zur Strukturierung und zur Wirkung der Macht in der nationalsozialistischen
Herrschaft. »Terror wird nicht nur geträumt«, schreibt Koselleck, »sondern
die Träume sind selber Bestandteil des Terrors«.44 Sie bildeten ein bewusst-
unbewusstes Repertoire, auf das die NS-Machtinszenierung zurückgreifen
konnte und das den Einsatz der SS-Männer in der Darstellung von Macht
und Gewalt ansprach.

2. Ordnung und Chaos in der Politik

Die zweite Ambivalenz der NS-Machtinszenierung ist mit dem Schwanken


zwischen Ordnung und Chaos verbunden. Wie oben erläutert, erlebte die
symbolische Deutung der SS-Männer nach der »Machtergreifung« einen
Wandel, der insbesondere in der Übergangsphase ein ambivalentes Ver-
hältnis zur Staatsordnung kennzeichnete. Der Machtwechsel war legal ver-
laufen, er war also keine NS-Revolution, wie die NS-Propaganda behaup-
tete, und brach nicht mit den Staatsinstitutionen.45 Es handelte sich
außerdem um einen sehr begrenzten Machttransfer an den neuen Kanzler,
fast alle Regierungsposten waren mit Konservativen und nicht mit Natio-
nalsozialisten besetzt worden.46 In dieser Konstellation versuchte die NS-
——————
42 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus,
Imperialismus, totale Herrschaft, München 2003, S. 725.
43 Die hier zitierte Passage entstammt aus dem Nachwort Kosellecks zum Buch von Char-
lotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt/M. 1994, S. 115-132, hier S. 127;
vgl. auch: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frank-
furt/M. 1984, S. 278ff.
44 Vgl. Koselleck, Nachwort [wie Anm. 43], S. 127.
45 Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war gemäß der Weimarer Verfassung
(Art. 48) ein legaler Schritt im Einklang mit den gesetzlichen Möglichkeiten und alles
andere als eine Revolution. Es war die NS-Propaganda, die von »Machtergreifung«, »na-
tionaler Erhebung« und sogar »Revolution« sprach.
46 Vgl. Heinz Höhne, Machtergreifung, Hamburg 1983, S. 261f.
208 PAULA DIEHL

Politik sowohl die Lücken der Weimarer Verfassung zu nutzen, als auch
durch Terror, Gewalt und Propaganda ihre Macht zu erweitern. Die NS-
Herrschaftsinszenierung knüpfte einerseits an die republikanische Symbo-
lik an – Hitler selbst erschien am 30. Januar 1933 im Frack und nicht in
Parteiuniform –, andererseits markierte sie die Machtansprüche gegenüber
der Weimarer Republik – hierfür ist der Fackelzug aus SS, SA und Stahl-
helm am selben Abend das beste Beispiel.
Der Einsatz der SS-Männer war an diese beiden Strategien gekoppelt:
Auf einer Seite war der paramilitärische und der gewalttätige Einsatz der
SS-Männer im Alltag als Chaoselement zu verstehen und wendete sich ge-
gen die republikanische Ordnung.47 Auf der anderen Seite traten die SS-
Männer immer häufiger auf der Seite der staatlichen Institutionen auf und
repräsentierten zunehmend die Staatsordnung. Sie wurden immer mehr an
die Staatssymbolik gekoppelt und in die Staatsrepräsentation eingegliedert
wie bei Staatsbegräbnissen, Wachen, Leibgarde des Kanzlers oder militäri-
schen Marschparaden. Mit der Institutionalisierung der NSDAP als Staats-
partei, der sukzessiven Unterstellung der Polizei unter Himmler ab Juli
1933 und spätestens mit der Bekämpfung der SA in der so genannten
»Röhm-Affäre« avancierten die SS-Männer zu Hauptrepräsentanten des
internen Gewaltmonopols.
Das Oszillieren zwischen Ordnung und Chaos markierte in den beiden
ersten Jahren nach der »Machtergreifung« das Verhältnis der SS in der
symbolischen Politik des Nationalsozialismus gegenüber dem Staat. »Un-
ordentliche« Gewaltausbrüche und »ordentliches« Paradieren oder Wachen
bildeten einen komplementären Zusammenhang, der die Ambivalenzen
der Macht verstärkte.

3. Machtteilnahme und Machtunterwerfung: Identifikation und Präsenz

Macht unterdrückt nicht nur, sondern übt auch Anziehungskraft auf den
Unterworfenen aus. Denn wer Macht besitzt und ausübt, prägt seine Um-
welt und steuert das Verhalten der Unterworfenen, wie Popitz schreibt.
Die Machtinszenierung drückt dieses ambivalente Verhältnis aus, sie ist
Markierung der Machtunterwerfung einerseits und Versprechung der
——————
47 Zu Gewaltausbrüchen als Machtdarstellung der SA vgl. Sven Reichardt, Faschistische
Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deut-
schen SA, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 103ff., 125ff.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 209

Machtteilnahme andererseits. Sie fungiert als demonstrative Potenz des


Machtinhabers, aber sie bietet dem Publikum ästhetische Erfahrungen an,
durch die Macht zugänglich gemacht wird. Dieser Mechanismus findet
seine Entsprechung in Münklers These der Betonung von Machtvisualisie-
rung in autoritären und totalitären Herrschaftsformen, bei denen die Be-
herrschten wenig oder gar keinen Zugang zu Entscheidungsprozessen ha-
ben und dafür eine Kompensation durch Machtvisualisierung erhalten. Die
ästhetische Erfahrbarkeit von Machtteilnahme funktioniert als symbolische
Verteilung von Macht, die allerdings keine Entsprechung in den politischen
Entscheidungen finden muss. Inszenierung dient hier zur Identifikation
mit der Macht, die auf der symbolischen Ebene arbeitet.
In der Identifikation beziehungsweise der Identifizierung, so Freud,
ahmt der Mensch ein Ideal nach und wünscht sich, wie »Es« zu sein. Für
Freud ist die Identifizierung von Anfang an ambivalent. Sie »strebt danach,
das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere zum ›Vorbild‹ genom-
mene.«48 Dies kann sowohl zur Verehrung als auch zur Zerstörung des
Objekts führen, das als Vorbild dient, es kann zur Unterwerfung oder zur
Bekämpfung animieren. Die Identifikation ist eine Form der Gefühlsbin-
dung, und Freud entdeckt daran eine »libidinöse Konstitution«, die für den
Kontext der Machtinszenierung als wichtiges Bindungsmittel zur Macht
fungiert.49 Die Inszenierung vermittelt ein Identifikationsangebot mit der
Macht, das im Fall des Nationalsozialismus nach 1933 verstärkt durch den
Auftritt und durch die Bilder der SS-Männer verbreitet werden konnte.50
An dieser Stelle müssen die schon dargestellten semiotischen und die per-
formativen Dimensionen des Auftritts der SS-Männer mit der Frage nach
der Bindung zur Macht verknüpft werden. Wichtig dafür erscheint die Er-
zeugung von Präsenz, die der Macht sinnliche Erfahrbarkeit verleiht.
Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte hat in ihrem Buch
Ästhetik des Performativen einige Merkmale angegeben, die die sinnliche Er-
fahrung von Anwesenheit in Inszenierungen vermitteln. Sie werden in
Theateraufführungen durch technische Verfahren und Körpertechniken
erzeugt und sorgen dafür, dass der Zuschauer sich von der Aufführung

——————
48 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd.
XIII, Frankfurt/M. 1999, S.71-161, hier S. 116.
49 Ebd., S. 128.
50 Nach wie vor lieferte Hitler die Hauptfigur für eine Identifikation mit dem National-
sozialismus. Die SS-Männer sind in dem Kontext als anonymisierte Elemente der Macht,
als Abstraktionsfiguren und als Darstellung des »Ariers« zu verstehen.
210 PAULA DIEHL

»mitreißen« lässt. Fischer-Lichte arbeitet mit der Kategorie der Präsenz und
versteht darunter eine »performative Qualität«, die in der Lage ist, eine in-
tensive »Gegenwartserfahrung« zu vermitteln. Der Zuschauer »spürt die
Kraft, die vom Darsteller ausgeht und ihn zwingt, seine Aufmerksamkeit
ganz und gar auf ihn zu fokussieren«, er erlebt den Darsteller »auf eine un-
gewöhnlich intensive Weise gegenwärtig«, »die ihm das Vermögen verleiht,
sich selbst auf besonders intensive Weise gegenwärtig zu fühlen«.51 Dieser
sinnliche Prozess ist eine ästhetische Erfahrung, die in der Theaterwissen-
schaft, aber auch bei Freud mit der Metapher der »Ansteckung« beschrie-
ben wird. Für Fischer-Lichte ist dieses Phänomen vor allem ein leibliches.
Der Körper fungiert als primärer Ort, in dem die affektiven Veränderun-
gen stattfinden, die eine Verbindung zwischen Zuschauer und Darsteller
ermöglichen. Für die Machtinszenierung bedeutet das, dass Macht vom
Publikum körperlich erfahren werden kann und zwar nicht nur als physi-
sche Gewalt, sondern als ästhetische Erfahrung.
Fischer-Lichte zeigt, dass es Techniken gibt, mit denen der Darsteller
arbeiten kann, um Präsenz hervorzubringen: Die Lenkung der Aufmerk-
samkeit der Zuschauer auf den Körper des Schauspielers durch bestimm-
ten Bewegungsabläufe; die Erzeugung von Rhythmus, der ebenso den
Körper des Zuschauers affiziert; die Gestaltung des Raumes, die eine Ord-
nung der Körper stiftet, und das Zusammenspiel zwischen den Dekorati-
onselementen, Körperbewegungen und Raumverteilung wirken auf die
Körper der Zuschauer sowohl in der körperlichen Ko-Präsenz als auch in
der medialen Inszenierung.52
Diese Techniken lassen sich beim Auftritt der SS-Männer exemplarisch
beobachten. Ihre synchronisierten Bewegungen, der Rhythmus marschie-
render Stiefel, die Gestaltung des Raums mit nationalsozialistischer Deko-
ration sowie Fahnen und Standarten, die die Uniformierten hielten, trugen
zum Gesamteffekt der Inszenierung bei. Sie zielte darauf, die Aufmerk-
samkeit des Publikums zu lenken sowie Raum und Zeit zu besetzen, um
die ästhetischen Erfahrungen von Präsenz zu bewirken. Und gerade diese
Erfahrung von Präsenz war in der NS-Machtinszenierung von Bedeutung,
weil sie sich den Zuschauern als Erfahrung von Machtteilnahme und
Machtunterwerfung anbot. Sie stützte sich auf den Einsatz der SS-Männer
und trug zur Identifikation mit der Macht bei.

——————
51 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 166.
52 Ebd., S. 174-175.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 211

V. Machtinszenierung und Ambivalenzen: eine Bilanz


Die Erfahrungen von Machtteilnahme und Machtunterwerfung konnten
erst in der Einordnung in den politisch-kulturellen Kontext ideologisch
wirksam werden. Wie die semiotische Analyse gezeigt hat, ermöglichten die
SS-Symbole und der Auftritt der SS-Männer die Anknüpfung an verschie-
dene symbolische Traditionen. Die SS-Männer waren performative Ein-
heiten der Machtinszenierung und Gewaltdarstellung, sie verkörperten die
NS-Macht und hatten die Funktion, sie zu visualisieren. Es waren die Arti-
kulationen und Wechselwirkungen zwischen den Zeichen und Symbolen in
der Herrschaftsinszenierung, ihre Rückkoppelung an die NS-Propaganda
und Alltagspraxis und vor allem die Bindung an die Gewalterfahrung im
Terror, die die spezifische Einbindung von Gewalt in die NS-Machtinsze-
nierung kennzeichneten. Die ambivalente Präsenz der SS-Männer ließ die
Zuschauer zwischen Angst und Sicherheitsversprechen, Ordnung und
Chaos, Machtteilnahme und Machtunterwerfung schwanken.
Diese Verbindung mit Gewaltpraxis und Propaganda außerhalb der In-
szenierung und die Ästhetisierung von Gewaltzeichen machten die Beson-
derheit der SS-Männer in der politischen Repräsentation des Nationalsozi-
alismus aus. Gerade daran liegt die Radikalisierung der Machtambivalenzen.
Die SS-Männer stellten in der Herrschaftsinszenierung einerseits die Gewalt
der NS-Macht dar, eine Gewalt, die im totalitären Staat ubiquitär gedacht
wurde und die zerstörerisch und willkürlich ausbrechen konnte. Andererseits
konnten sie auf Grund des ideologischen Kontextes als Identifikationsele-
mente der Macht dienen.53 Das Beispiel der SS-Männer zeigt, wie Herr-
schaftsrepräsentationen mit der Wechselbeziehung zwischen positiver und
negativer Identifikation, zwischen Nähe und Distanz und nicht zuletzt zwi-
schen Wunsch und Angst aufgebaut werden können. Es waren ambivalente
Angebote der Macht, die auf ästhetischen und auf Gewalterfahrungen ba-
sierten und auf die Vorstellungsproduktion des Publikums angewiesen waren.

——————
53 Zur identifikatorischen Rolle der SS-Männer in der NS-Propaganda siehe: Paula Diehl,
Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin 2005.
Gewalt als Grenzphänomen von
Herrschaftsrepräsentation – exemplarisch
dargestellt an Gewalthandlungen der
1960er und 1970er Jahre1
Gisela Diewald-Kerkmann

Dass sich jegliche Form von Herrschaftsrepräsentation mit der spezifi-


schen Problematik der Gewalt2 konfrontiert sieht, belegen die gewaltsamen
Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre in der Bundesre-
publik Deutschland. Gerade diese Zeit dokumentiert, in welchem Maße
staatliche Gewalt mit der Repräsentation von Herrschaft in Widerspruch
treten beziehungsweise der Einsatz von Gewaltmitteln durch staatliche In-
stitutionen der intendierten Darstellung von Herrschaftsbeziehungen wi-
dersprechen kann.3 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Geschichte des
bundesrepublikanischen Staates der sechziger und siebziger Jahre ein »Pro-
visorium« war; determiniert durch die deutsche Teilung, den wirtschaftli-
chen Wiederaufbau und »eine anfangs implantierte, dann aber auch ange-
nommene und ausgebaute liberale Demokratie«.4 Umso stärker war der
junge Staat darauf angewiesen, eine »stabile Verankerung des demokrati-
schen Rechtsstaates nach innen«5 zu erreichen und sich als legitimes und
demokratisches Herrschaftsgefüge zu präsentieren. Das setzte nicht zuletzt
——————
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um Teilaspekte meines Forschungsprojektes »Ermitt-
lungs- und Strafverfahren gegen Frauen wegen politisch motivierter Straftaten 1970-
1990«. Primär handelt es sich um Frauen, die mit der »Roten Armee Fraktion« und der
»Bewegung 2. Juni« in Verbindung stehen.
2 Zu Recht weist Dirk Schumann darauf hin, in welchem Maße Gewaltgeschichte »wenn
auch nicht ausschließlich als Geschichte von Grenzüberschreitungen definiert« werden
kann, vgl. ders., Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der
Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366-
386, hier S. 373.
3 Auffallend ist, dass zu diesem Themenkomplex bislang umfassende Untersuchungen für
die sechziger und siebziger Jahre fehlen.
4 Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht, Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
1950-1994: Ereignisse, Themen, Akteure, in: Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundes-
republik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt/M. 2001, S. 27-70, hier S. 27.
5 Richard von Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 154.
214 GISELA DIEWALD-KERKMANN

eine Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols in der Bevölkerung und


eine breite Legitimationsgrundlage für die physische Gewaltanwendung
durch staatliche Instanzen voraus.
Das Gewaltmonopol6 bedeutet in einem Rechtsstaat, in dem die
Bevölkerung nicht selbst die staatliche Gewalt ausübt, dass die private
Gewalt als ein legitimes Mittel zur Lösung sozialer Konflikte ausgeschlos-
sen wird.7 Der Anspruch auf dieses Monopol ist eine zentrale Vorausset-
zung moderner Staatlichkeit. »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb hei-
ßen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol
legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in
Anspruch nimmt.«8 Aber nicht allein der staatliche Anspruch auf das Ge-
waltmonopol ist eine Voraussetzung der staatlichen Ordnung, sondern vor
allem die symbolische Vergegenwärtigung des Gewaltmonopols. Die Dro-
hung mit ihr soll demonstrieren, dass die Legitimation zur physischen Ge-
waltanwendung ausschließlich dem Staat und seinen Instanzen – zum Bei-
spiel Justiz und Polizei – und Funktionsträgern zusteht.
Das setzt Gewaltverzicht der Staatsbürger voraus, die auf die Inan-
spruchnahme staatlicher Instanzen verwiesen werden. Denn »statt dem ur-
sprünglichen Trieb zu folgen und sich sein Recht mit der Faust zu ver-
schaffen, soll man ›an sich halten‹ und sich der Entscheidung anderer
unterwerfen«.9 Rose Langer-Stein macht deutlich, dass die Forderung nach
Gewaltverzicht und die Einrichtung eines Gewaltmonopols konstituie-
rende Elemente der Genese eines Staates seien.10 In der Tat besteht die
Macht des Rechtsstaates nicht zuletzt in der Selbstverpflichtung der Bür-
ger, auf Gewalt zu verzichten. »Der ›schutzlose Zivilist‹ ist die Folge, aber
auch die mentale Voraussetzung des Leviathans. Angriffe auf ihn entwerten
das Sicherheitsversprechen und die Glaubwürdigkeit des staatlichen Ge-
waltmonopols.«11 Dass das Gewaltmonopol des Staates wesentlich älter ist
——————
6 Zum Aufstieg des staatlichen Gewaltmonopols im 19. Jahrhundert vgl. Albrecht Funk,
Polizei- und Rechtsstaat. Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen
1848-1918, Frankfurt/M. 1986. Aufschlussreich wäre eine Studie, die sich mit den Ver-
änderungen des staatlichen Gewaltmonopols im 20. Jahrhundert auseinandersetzt.
7 Vgl. hierzu Analysen zum Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Opla-
den 1983, Bd. 4/1: Ulrich Matz/Gerhard Schmidtchen, Gewalt und Legitimität.
8 Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 21966, S. 43.
9 Rose Langer-Stein, Legitimation und Interpretation der strafrechtlichen Verbote
krimineller und terroristischer Vereinigungen (§§ 129, 129a StGB), Berlin 1987, S. 106.
10 Ebd., S. 104.
11 Thomas Scheffler, Vom Königsmord zum Attentat. Zur Kulturmorphologie des politi-
schen Mordes, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37 (1997)
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 215

als die demokratische und rechtsstaatliche Verfassung des Staates, soll in


diesem Kontext nicht erörtert werden. Vielmehr gilt es, zwei Aspekte her-
auszustellen. So ist erstens zu berücksichtigen, dass mit der ausschließli-
chen Übertragung von Gewalt auf den Staat dieser auch die notwendigen
Einrichtungen und Rechtsinstanzen schaffen muss, um private Gewalt
entbehrlich zu machen. Die an den Staat delegierte Gewalt impliziert, dass
die Träger der Staatsgewalt in der Lage sind, den Rechtsfrieden zu garantie-
ren und den Einzelnen vor inneren und äußeren Gefahren zu schützen.12
Insoweit dürfen die friedensstiftende und friedenssichernde Funktion des
staatlichen Gewaltmonopols respektive die »Schutzpflichten des Rechts-
staates«13 nicht unterschätzt werden.
Der zweite Aspekt ist, dass trotz der Zurückdrängung der Gewalt mit-
tels des staatlichen Monopols gewaltsame Konflikte nicht verhindert wer-
den können. Zu Recht weist Heinrich Popitz auf diesen Punkt hin: Der
»Mensch muß nie, aber er kann immer gewaltsam handeln [...] in allen
Situationen [...] für alle denkbaren Zwecke«.14 Normbrüche und Regelver-
letzungen, gewalttätige Konflikte bis hin zur offenen Gewalt sind Bestand-
teile des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft. Tatsäch-
lich hat das staatliche Monopol die Gesellschaft nicht »von Gewalt be-
freit«.15 Aber genauso wenig bedeutet – wie die unabhängige Regierungs-
kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt im Jahre 1990
konstatiert – der durch das Gewaltmonopol des Staates garantierte Rechts-
frieden per se Freiheit und Gerechtigkeit. Vielmehr müsse das Gewaltmo-
——————
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen/Wiesbaden 1997,
S. 183-199, hier S. 197.
12 Jürgen Kocka und Ralph Jessen sprechen von dem »Verhältnis der Reziprozität [...]
zwischen Staat und Untertanen: der Pflicht zu Gehorsam und Unterordnung auf Seiten
des Volkes entsprach die Pflicht zur ›Guten Policey’, zur Erhaltung der allgemeinen
Wohlfahrt und zur aktiven Hilfe in Notlagen auf Seiten der Obrigkeit«, dies., Die ab-
nehmende Gewaltsamkeit sozialer Proteste vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Peter
Alexis Albrecht/Otto Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt. Plädoyers für eine »Innere Ab-
rüstung«, Frankfurt/M. 1990, S. 33-57, hier S. 40.
13 Hans-Dieter Schwind (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen
und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Be-
kämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I. Endgutachten und Zwischengut-
achten der Arbeitsgruppen, Berlin 1990, S. 410.
14 Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik, Tübin-
gen 1986, S. 76.
15 Wolf-Dieter Narr, Staatsgewalt und friedsame Gesellschaft. Einige Notizen zu ihrem
Verhältnis in der Bundesrepublik, in: Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie
Anm. 12], S. 58-73, hier S. 67f.
216 GISELA DIEWALD-KERKMANN

nopol mit Rechtsstaat und Demokratie verzahnt werden und »durch das
Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit vor willkürlicher Inanspruchnahme
gesichert«16 werden. Die Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols
durch die Verfassung und durch die Freiheitsrechte der Staatsbürger ist
unabdingbar; die staatliche Gewalt muss an das Recht gebunden sein.
Offensichtlich ist die Einschränkung beziehungsweise »Einhegung«17 des
staatlichen Gewaltmonopols erforderlich, erst recht, wenn man das histori-
sche, oft ambivalente Verhältnis zwischen friedsamer Gesellschaft und staat-
lichem Gewaltmonopol betrachtet. Einerseits hatte die Einrichtung des
staatlichen Monopols eine Begrenzung von staatlicher und privater Gewalt
und einen Zuwachs an Sicherheit für die Bevölkerung zur Folge, andererseits
gingen damit ein Ausbau der Strafverfolgungsinstanzen und eine Zunahme
des staatlichen Repressionspotenzials einher. Überzeugend weisen Jürgen
Kocka und Ralph Jessen auf das Problem der Legitimität von Gewalt hin:
Auch »wenn man das hohe Gut des rechtlich eingehegten staatlichen Ge-
waltmonopols vernünftigerweise nicht in Frage stellen wird, bleibt doch die
historische Erfahrung [...], in [der] Gewaltanwendung zwar illegal war, aber
doch von vielen als legitim angesehen wurde [...], während eine legale, aber
ihre Legitimitätsgrenze eindeutig überschreitende Staatsmacht Verbitterung,
Widerstand oder Aufruhr provozierte.«18
Dass die Frage nach den Legitimationsgrundlagen staatlicher Gewalt
»ein[en] Streit um ein hoch aufgeladenes Symbol«19 darstellt, wird sichtbar,
wenn man den Rechtfertigungszwang staatlicher Gewalt für die Aufrecht-
erhaltung von Herrschaftsverhältnissen berücksichtigt. Die physische Ge-
waltanwendung durch staatliche Institutionen ist in einem hohen Maße le-
gitimationsbedürftig. Nach Trutz von Trotha könne vielleicht ein Volk
ohne Rechtfertigungsglauben überfallen, aber nicht auf Dauer regiert wer-
den.20 Die Rechtfertigungen für Gewalt stabilisieren Herrschaftsverhält-
——————
16 Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 49f.
17 Jörg Calließ, Das zivilisatorische Hexagon. Die Ursachen der Gewalt und die Bedingun-
gen von Frieden, in: Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft, hg. von
der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Hannover
2001, S. 26-33, hier S. 29.
18 Kocka/Jessen, Gewaltsamkeit [wie Anm. 12], S. 35.
19 Stefan Reinecke, Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg 2003,
S. 231.
20 Vgl. Trutz von Trotha, »Streng, aber gerecht« – »hart, aber tüchtig«. Über Formen von
Basislegitimität und ihre Ausprägungen am Beginn staatlicher Herrschaft, in: Wilhelm
J.G. Möhlig/Trutz von Trotha (Hg.), Legitimation von Herrschaft und Recht, Köln
1994, S. 69-90, hier S. 70.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 217

nisse, wobei – wie später zu zeigen sein wird – der Glaube an die Legiti-
mität einer Herrschaft erschüttert werden kann. Aber angesichts des »Mo-
nopolcharakters der staatlichen Gewaltherrschaft«21 und der damit ein-
hergehenden Zurückdrängung privater Gewalt müssen Gewalttätigkeiten
verbannt und tabuisiert werden. Peter Alexis Albrecht und Otto Backes
konstatieren, dass die gesellschaftliche und staatliche Grundierung der
Gewalt ausgeblendet und tabuisiert werde.22 Vor allem in gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen taucht die Frage nach den staatlichen Gewaltpoten-
zialen auf, wobei gewaltsame Handlungen durch staatliche Institutionen
vielfach nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern prinzipiell als legitim
angesehen werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum diese
Form von Gewalt oft verdeckt bleibt.

Die Rechtmäßigkeit einer Staatsgewalt setzt voraus, dass in der Gesell-


schaft ein Konsens vorherrscht. Der demokratische Rechtsstaat und seine
Repräsentanten sind darauf angewiesen, eine Akzeptanz des von ihnen be-
anspruchten Gewaltmonopols in der Bevölkerung zu finden. Letztlich geht
es um die Sicherung von Loyalitäten gegenüber dem Staat, wobei die »Füg-
samkeit gegenüber der Oktroyierung von Ordnungen durch Einzelne oder
Mehrere [...] den Glauben an eine in irgendeinem Sinn legitime Herr-
schaftsgewalt«23 voraussetzt. Dass dieser Legitimationsglaube erschüttert
werden kann, vor allem wenn staatliche Gewalt Legitimitätsgrenzen über-
schreitet, soll im Folgenden dargelegt werden.

I. Infragestellung der staatlichen Legitimität


Die sechziger und siebziger Jahre dokumentieren, dass der politische
Konsens bei einem Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft – auch
wenn es sich um eine Minderheit handelte – nicht mehr gegeben war. Die
Auflehnung von Studenten gegen verkrustete Strukturen in der Hoch-
——————
21 Weber, Grundbegriffe [wie Anm. 8], S. 45.
22 Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm. 12], S. 12f. Auch Trutz von Trotha
spricht davon, dass »auf seiten der Inhaber staatlicher Machtpositionen ein vergleichs-
weise hoher Grad an Tabuisierung der öffentlichen Debatte über staatliche Gewalt« cha-
rakteristisch ist, vgl. ders., Distanz und Nähe. Über Politik, Recht und Gesellschaft zwi-
schen Selbsthilfe und Gewaltmonopol, Tübingen 1987, S. 30.
23 Weber, Grundbegriffe [wie Anm. 8], S. 30f.
218 GISELA DIEWALD-KERKMANN

schule und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Autoritäten,


verbunden mit Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, spiegelten
sich in einer abnehmenden Normakzeptanz wider. In der Tat sahen sich
viele Akteure »nicht angemessen repräsentiert und von ›den Herrschen-
den‹ nicht hinreichend berücksichtigt«.24 Der studentische Protest, der
mit hochschulpolitischen Forderungen nach demokratischen Strukturen
und kritischen Inhalten (»Unter den Talaren, der Muff von tausend Jah-
ren«) begonnen hatte, war »kein isoliertes Ereignis [...], sondern die
Fortsetzung und Kristallisation von vielerlei Veränderungen, Stimmun-
gen und Einsichten, die auch schon vorher, wenn auch auf anderen Ge-
bieten, wichtig gewesen waren«.25 In diesem Kontext sind exemplarisch
die Bereitschaft der Bundesregierung zu nennen (Erklärung vom 7. Ja-
nuar 1966), den Krieg der Vereinigten Staaten von Amerika in Vietnam
zu unterstützen und die Kampagne »Notstand der Demokratie« im Jahre
1966, die sich gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze richtete.
Weiter zählen dazu die Anfang der sechziger Jahre eskalierenden Kämpfe
der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, etwa im Kongo, Alge-
rien, Angola, Mocambique, Kenia, Nigeria beziehungsweise seit 1964
Vietnam und nicht zuletzt die Verkündung der Urteile des Auschwitz-
Prozesses in Frankfurt 1965, die wegen der milden Strafen zu Protesten
im In- und Ausland führten. Vor dem Hintergrund dieses Strafprozesses
erklärt sich, warum die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik
vielfach als Kontinuität staatlicher Macht- und Herrschaftsausübung inter-
pretiert wurde.
Die Konfrontation mit tradierten Wertvorstellungen und der wahrge-
nommenen Diskrepanz zwischen Gleichheitsversprechen und tatsächlicher
Ungleichheit in der eigenen Gesellschaft korrelierten mit einer neuen poli-
tischen Sensibilität für Unterdrückungsmechanismen in anderen Staaten.
Oder wie es Willy Brandt im November 1968 vor der Unesco in Paris be-
schrieb: »Gar so verwunderlich ist es wohl nicht, wenn junge Menschen
aufbegehren gegen das Missverhältnis zwischen veralteten Strukturen und
neuen Möglichkeiten. Wenn sie protestieren gegen den Widerspruch zwi-
schen Schein und Wirklichkeit«.26

——————
24 Neidhardt/Rucht, Protestgeschichte [wie Anm. 4], S. 29.
25 Heinz Steinert, Erinnerung an den »linken Terrorismus«, in: Henner Hess u.a. (Hg.),
Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, Frankfurt/M.
1988, Bd. I, S. 15-54, hier S. 20.
26 Willy Brandt, Erinnerungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 274.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 219

Zu Recht hebt Peter Waldmann hervor, dass die Studentenbewegung


der sechziger Jahre sich thematisch mehr und mehr ausgeweitet habe und
in den Ruf nach einer radikalen Umgestaltung der bestehenden Verhält-
nisse gemündet sei.27 Der Protest und die damit einhergehende Verschie-
bung des politischen Koordinatensystems hörten nicht bei der Infragestel-
lung von Autoritäten auf; das »Althergebrachte [...] bekommt einen eher
negativen als positiven Wert: es wird Symbol für das Überholte«.28 Viel-
mehr implizierte der antiautoritäre Inhalt der Bewegung, dass die beste-
henden Herrschaftsverhältnisse und die Legitimationsgrundlagen des
Staates hinterfragt wurden. Das Werfen von Farbeiern gegen Symbole der
USA, die Fahnenverbrennungen bei Anti-Vietnam-Demonstrationen, die
spontanen sit-ins und teach-ins in den Universitäten und die sorgfältig insze-
nierten Auftritte der »Kommune I« mit Rainer Langhans, Fritz Teufel und
Dieter Kunzelmann dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, »wie wi-
dersprüchlich, atemlos und verunsichernd ein unter diesen Konstellationen
verlaufender Politisierungsprozess tatsächlich war«.29

Ungeachtet dessen hatten die Konfrontationen zwischen Anhängern der


Protestbewegung und Repräsentanten und Institutionen des Staates zur
Folge, dass um die Legitimität von Gewaltanwendung gestritten wurde.
Dass es sich hierbei um einen komplexen, medial vermittelten Kommuni-
kationsprozess zwischen Teilen der Studentenbewegung und der Öffent-
lichkeit handelte, belegt auch die folgende Aussage: »Die Bild-Zeitung ins-
besondere legte uns auf die Revolution fest, als diese für uns noch ein his-
torischer Begriff war; sie stellte das Chaos dar, als wir noch das formelle
Recht auf Demonstration zu einem wirklichen machen wollten; sie be-
schwor den Umsturz der Verhältnisse, als wir in diesen Verhältnissen noch
nach einer Chance für politische Selbsttätigkeit suchten.«30
Die studentischen Aktionen wurden als Aufruf zur Gewalt und zur Zer-
störung der staatlichen Ordnung bewertet. Demgegenüber sahen etliche Stu-

——————
27 Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 77.
28 André Gorz, Revolutionäre Lehren aus dem Mai, in: André Glucksmann, Revolution
Frankreich 1968: Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M. 1969, S. 106f.
29 Klaus Hartung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu
bringen, in: Kursbuch 48. Zehn Jahre danach, Juni 1977, S. 14-43, hier 21. Vgl. grund-
sätzlich hierzu Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der
Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; dies., Die 68er Bewegung. Deutschland –
Westeuropa – USA, München 2001.
30 Hartung, Versuch [wie Anm. 29], S. 20.
220 GISELA DIEWALD-KERKMANN

denten Gewalt als legitimes politisches Mittel der Gegengewalt und Notwehr
an. Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht weisen darauf hin, dass diese
Auseinandersetzungen einen Einschnitt in die Normalität der bundesrepub-
likanischen Nachkriegsgeschichte markieren und der Protestgipfel in der
Geschichte der Bundesrepublik in den Jahren 1968 und 1969 gelegen habe.31
In der Tat ging es um das Verhältnis der Akteure zum Staat und zu seinem
Gewaltmonopol, wobei in den sechziger Jahren noch zwischen Gewalt
gegen Sachen und Gewalt gegen Personen unterschieden wurde. In diesem
Kontext ist zu berücksichtigen, dass ähnliche Debatten über die Legitimie-
rung der Gewalt beziehungsweise Delegitimierung der staatlichen Gewalt
auch in anderen westlichen Industriestaaten stattfanden. Bevor im nächsten
Schritt Gewalt als Ergebnis von Interaktionsprozessen32 entwickelt werden
soll, um zu verdeutlichen, dass gewaltsame Konfrontationen keine zwangs-
läufigen Prozesse sind, sondern Ergebnisse eines komplizierten Wechselver-
hältnisses zwischen Akteuren und Staatsmacht, muss der Gewaltbegriff defi-
niert werden.

II. Physische Gewalt als Kristallisationspunkt


Gewalt wurde in den sechziger und siebziger Jahren in Anlehnung an Johan
Galtung vielfach unter den Begriff der »strukturellen Gewalt« diskutiert und
als direkt erfahrbare, personale und indirekt wirksame Gewalt der sozialen
Ungerechtigkeit definiert.33 Die weite Ausdehnung des Gewaltbegriffs ist
problematisch, denn »wo überall Gewalt ist, geht der Gegenstand [...] verlo-
ren, Gewaltanalyse wird zu einer anderen Form allgemeiner Gesellschafts-
analyse«.34 Die teilweise kontrovers geführte Debatte um den Gewaltbegriff
kann in diesem Zusammenhang nicht dargestellt werden. Aber festzuhalten
ist, dass im vorliegenden Beitrag von einem engeren Gewaltbegriff ausge-
gangen wird. Heinrich Popitz interpretiert Gewalt als eine Machtaktion, die
die physische Integrität anderer verletzt und deren Intention darin besteht,
»dauerhafte Machtgefälle zu schaffen oder zu verstärken«.35
——————
31 Vgl. Neidhardt/Rucht, Protestgeschichte [wie Anm. 4], S. 35.
32 Vgl. hierzu Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 194ff.
33 Vgl. Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung,
Reinbek b. Hamburg 1975.
34 Schumann, Gewalt [wie Anm. 2], S. 374.
35 Popitz, Macht [wie Anm. 14], S. 46. Vgl. ferner Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.),
Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/M. 1995.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 221

Obwohl bereits Popitz den Machtaspekt betont, wird im Folgenden


die Begriffsbestimmung von Dirk Schumann zugrunde gelegt. Demnach
wird politische Gewalt verstanden »als Ausübung physischen Zwangs, die
prinzipiell kollektiv geschieht, sich sowohl auf Sachen wie auch auf
einzelne Menschen oder auf Gruppen richten kann und deren Akteure in
dem Objekt, auf das sie zielen, zugleich das politische System als ganzes
oder ein als gegnerisch verstandenes politisches Konzept zu treffen
versuchen.«36 Mit Hilfe dieser Definition können spontane oder geplante
Zusammenstöße etwa bei Demonstrationen ebenso erfasst werden wie
terroristische Anschläge auf symbolische Ziele oder Repräsentanten des
Herrschaftssystems.

III. Symbolische Protestformen versus gewaltsame


Konfrontationen
Bei den Inszenierungen des studentischen Protestes handelte es sich vor
allem bis 1968 um symbolische Aktionsformen und begrenzte Regelverlet-
zungen. Die vielfach phantasievollen sit-ins und go-ins, Happenings, Hea-
rings und Demonstrationen sollten auf Widersprüche aufmerksam machen
und Autoritäten provozieren. Nach Ingeborg Villinger sind durch diese
Störungen von öffentlichen Ritualen und Veranstaltungen gesellschaftlich
normierte Verhaltensregeln durchbrochen und provokativ Vorstellungen
zum Ausdruck gebracht worden, die denen der bestehenden sozialen Ord-
nung diametral widersprachen.37
Das Werfen von Tomaten – Wurfgeschosse, die sich auch symbolisch
verstehen ließen –, das »Abschießen« von Flugblättern auf das Gelände der
amerikanischen Soldaten, in denen diese aufgefordert wurden, sich nicht
nach Vietnam schicken zu lassen, sondern zu desertieren oder das Verbren-
nen von Weihnachtsbäumen als Zeichen für das »brennende Vietnam« wa-

——————
36 Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die
Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 16. Vgl. ferner Helmut Janssen,
Sind »die Terroristen« politisch motivierte Straftäter oder Terroristen? Probleme mit der
Begriffsdefinition, in: Kriminalistik 1 (84), S. 17-19.
37 Vgl. Ingeborg Villinger, »Stelle sich jemand vor, wir hätten gesiegt«. Das Symbolische
der 68er Bewegung und die Folgen, in: Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 [wie Anm. 29],
S. 239-255, hier S. 239.
222 GISELA DIEWALD-KERKMANN

ren Versuche, Gewalthandlungen öffentlich zu thematisieren. Ohne Zweifel


handelte es sich bei den Aktionen gegen Personen (zum Beispiel gegen den
Schah von Persien) um Handlungen gegen »Symbolfiguren von Imperialis-
mus und Kolonialismus« respektive bei der Beschädigung von Gebäuden
(beispielsweise des Springerhauses oder des Amerikahauses) und Gegenstän-
den um »symbolische Handlungen gegen Symbolgestalten von Herrschafts-
strukturen, welche als illegitim angesehen wurden«.38
Die symbolische Inszenierung des studentischen Protestes gegen den
Vietnamkrieg demonstriert das Puddingbombenattentat auf den amerikani-
schen Vizepräsidenten Hubert Humphrey im April 1967 durch die Kom-
mune I in Berlin. Elf Mitglieder der Kommune wurden am 5. April 1967
unter dem Verdacht festgenommen, einen Anschlag auf Humphrey geplant
zu haben, der am 6. April in Berlin erwartet wurde. Obwohl die Ermittlun-
gen ergaben, dass der »Sprengstoff« aus Pudding und Mehl bestand, wurde
in der Presse von einem versuchten Bombenattentat gesprochen. Die
Journalistin Ulrike Meinhof, die Jahre später die Rote Armee Fraktion mit-
gründen wird, formulierte: »Nicht Napalmbomben auf Frauen, Kinder und
Greise abzuwerfen, ist demnach kriminell, sondern dagegen zu protestieren
[...]. Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht
aber, Politiker zu empfangen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bom-
bardieren.«39 Angesichts der Reaktion des Staates auf die Studentenproteste
rückte die Gewaltfrage in den Mittelpunkt, »und zwar sowohl im Hinblick
auf die Legitimität staatlicher Gewalt als auch in Bezug auf defensive For-
men [...] von Gegengewalt«.40 Zweifellos war diese Diskussion für die
antiautoritäre Bewegung von zentraler Bedeutung.

Eine Zäsur und ein Schlüsselereignis in der Durchbrechung der Gewalt-


schwelle gegen Personen, die es bisher trotz der Eskalation noch gab, war
die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch
den Polizisten Karl-Heinz Kurras. Der Theologiestudent wurde zur Sym-
bolfigur in der Gewaltdebatte mit der Konsequenz, dass eine öffentliche
Diskussion um die Legitimation von Gewalt (»Für uns hatte [...] die
——————
38 Analysen zum Terrorismus, hg. vom Bundesministerium des Innern, Opladen 1982, Bd. 3:
Wanda von Baeyer-Katte/Dieter Claessens/Hubert Feger/Friedhelm Neidhardt, Gruppen-
prozesse, S. 336.
39 Konkret Nr. 5, 1967, in: Ulrike Meinhof, Die Würde des Menschen ist antastbar. Auf-
sätze und Polemiken, Berlin 1980, S. 93.
40 Sebastian Scheerer, Deutschland: Die ausgebürgerte Linke, in: Hess u.a. (Hg.), Angriff
[wie Anm. 25], S. 193-429, S. 302.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 223

Staatsgewalt geschossen«41) unabdingbar schien. Bei der Demonstration


gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Resa Pahlevi in Berlin war
es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Studenten und Polizei ge-
kommen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete, dass die Polizei nicht
im Affekt, sondern mit einer geplanten Brutalität gehandelt habe, und in
der Zeit wurde die Reaktion des Staates als »Härte aus Schwäche« bezeich-
net.42 In Berlin und in der Bundesrepublik fanden nach dem Tod von
Ohnesorg spontane Protestmärsche und teach-ins statt, die nicht selten
verboten wurden. Die Polizeieinsätze, oft verbunden mit Tränengas, sowie
das vielfach unangemessene Vorgehen einzelner Polizisten bei Demonst-
rationen und vor allem die unmittelbare Erfahrung mit den Repräsentanten
des staatlichen Gewaltmonopols führten zu einer Radikalisierung der Op-
position. So wollte beispielsweise Rudi Dutschke als Vorsitzender des So-
zialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) »mit den Studenten einen
kritischen Dialog über die Notwendigkeit der Durchbrechung der etab-
lierten Spielregeln der unvernünftigen Herrschaft« beginnen, denn »organi-
sierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz«.43
Hierbei darf nicht unterschätzt werden, dass die häufig unverhältnis-
mäßig hohe Polizeipräsenz und das Auftreten der Polizeikräfte in geschlos-
senen Einheiten als Machtdemonstration von Herrschaftsverhältnissen
wahrgenommen wurde. Dass Gewalt in Interaktionsprozessen entsteht
und »die Endphase eskalierender Konflikte und wachsender Kommunika-
tionsbarrieren«44 markiert, belegen die weiteren Konfrontationen zwischen
Protestbewegung und Instanzen der Staatsgewalt.45 Die Härte von Polizei-
kräften (»Repräsentanten des Gewaltträgers Staat«46) und die Übergriffe
von einzelnen Polizeibeamten ließen bei Demonstrationsteilnehmern
Zweifel aufkommen an der Rechtmäßigkeit der staatlichen Gewaltanwen-
dung. Angesichts dieser Entwicklung schienen für viele eigene Abwehr-
——————
41 So Fritz Teufel 30 Jahre später über den 2. Juni 1967; weiter führt er aus: »Wir haben das
falsch interpretiert. Heute glaube ich nicht, dass Kurras die Staatsgewalt repräsentiert
hat.« Zit. nach: Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19], S. 81.
42 Vgl. Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19], S. 79.
43 Rudi Dutschke, Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979, hg. von
Gretchen Dutschke, Köln 2003, S. 48 und S. 45.
44 Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 77.
45 Im Zusammenhang mit diesen Unruhen trat der Regierende Bürgermeister von Berlin
Heinrich Albertz am 26. September 1967 zurück.
46 Friedhelm Neidhardt, Aggressivität und Gewalt in der modernen Gesellschaft, in: ders.
u.a., Aggressivität und Gewalt in unserer Gesellschaft, 2. Aufl., München 1974, S. 15-37,
hier S. 33.
224 GISELA DIEWALD-KERKMANN

maßnahmen notwendig. In der Tat waren die gewalteskalierenden Erfah-


rungen und die – wie Fritz Sack formuliert – »amtlich dokumentierten und
bestätigten Rechtsverletzungen, Gewaltanwendungen staatlicher Institutio-
nen und Funktionsträger«47 entscheidend.
Gerade durch die Demonstration physischen Zwangs und Inszenierung
politischer Herrschaft sahen zahlreiche Akteure ihre Befürchtung bestätigt,
dass der Staat »seine demokratische Maske fallen lasse« und sich »in eine
reine Repressionsmaschinerie verwandele«48. Verstärkt wurde dieser Ein-
druck durch die Recherchen des AStA-Ermittlungsausschusses, der von
einzelnen Anwälten wie Otto Schily mit der Intention »Die Studenten
müssen nun den Rechtsstaat gegen die Polizei verteidigen«49 und Horst
Mahler unterstützt wurde. Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die
offizielle Notwehrversion der Polizei nicht zutraf, sondern laut Zeugenaus-
sagen Polizeibeamte auf Ohnesorg eingeschlagen hätten und dabei ein
Schuss gefallen sei. Während der Kriminalobermeister Kurras strafrecht-
lich nicht belangt wurde – das Berliner Landgericht sprach ihn am 21. No-
vember 1967 von der Anklage der fahrlässigen Tötung frei –, saß Fritz
Teufel mehrere Monate in Untersuchungshaft. Er sollte angeblich am 2.
Juni einen Stein geworfen haben.50
Die weiteren Ereignisse, so der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am
11. April 1968 durch Josef Bachmann, die folgenden Straßenschlachten
zwischen Protestbewegung und Staatsgewalt und die »Springer-Kam-
pagne«, mit der die Auslieferung der Springer-Presse (»BILD hat mitge-
schossen«) verhindert werden sollte, spiegeln den weiteren Eskalationspro-
zess wider.51 Darüber hinaus war entscheidend, dass trotz heftiger Proteste
in der Öffentlichkeit die Notstandsverfassung am 30. Juni 1968 durch den

——————
47 Fritz Sack, Die Eskalation von Gewalt: Die Transformation politischer in gewaltbesetzte
Konflikte, in: Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm.12], S. 111-137, hier
S. 131.
48 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 134.
49 Otto Schily im Juni 1967 nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg, zit. nach
Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19] S. 77.
50 Es stellte sich heraus, dass Fritz Teufel den fraglichen Stein nicht geworfen hatte. Er
wurde am 22. Dezember 1967 von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigespro-
chen, vgl. Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg
2003, S. 87.
51 Nicht nur in Berlin, Paris oder in den USA kam es zu schweren Zusammenstößen zwi-
schen der Polizei und der Protestbewegung, sondern auch in Spanien, in Belgien, in den
Niederlanden, in Österreich, in der Schweiz, in Jugoslawien, in Polen, in der Türkei, in
Griechenland, in Mexiko und in Japan.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 225

Bundestag verabschiedet wurde, mit der zeitweise bestimmte Artikel des


Grundgesetzes außer Kraft gesetzt werden können.
Dass sich die Grenzen zwischen symbolischen Formen des Protestes,
begrenzten Regelverletzungen und gewaltsamen Konfrontationen auflös-
ten, macht folgende Darstellung deutlich: »Die Grenze zwischen verbalem
Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den An-
schlag auf Rudi Dutschke in den Ostertagen erstmalig [...] tatsächlich, nicht
nur symbolisch überschritten worden«, wobei die Repräsentanten des
Staates bezeichnet wurden als »Repräsentanten der Gewalt des Systems,
das Springer hervorgebracht hat und den Vietnam-Krieg, ihnen fehlte bei-
des: die politische und moralische Legitimation, gegen den Widerstands-
willen der Studenten Einspruch zu erheben.«52
Bei der »Schlacht am Tegeler Weg« im November 1968, die sich gegen
das Ehrengerichtsverfahren gegen den SDS-Anwalt Horst Mahler richtete,
kam es zu blutigen Szenen zwischen Demonstranten und Polizisten. Diese
Ausschreitungen markieren aus studentischer Sicht eine Wende: »[W]ir wa-
ren dabei, uns aus einer radikalen Bewegung in eine militante Minderheit
zu verwandeln.«53 Zwar hatten die Anhänger der Protestbewegung »ge-
siegt«, aber faktisch ist diese Aktion – wie Ingrid Gilcher-Holtey hervor-
hebt – einem Rückzugsgefecht gleichgekommen.54
Die bisherige Aktionsstrategie, die auf symbolische Protestformen
und Provokationen setzte, wich physischen Konfrontationen zwischen
Akteuren und Instanzen des staatlichen Gewaltmonopols. Obwohl die
grundsätzlichen gewaltbegünstigenden Konstellationen wie Konflikte
über einen längeren Zeitraum oder Kommunikationsbarrieren nicht un-
terschätzt werden dürfen, waren die situativen Gewaltbedingungen rele-
vant. So zeigen die sechziger und siebziger Jahre, dass Gewalt in den
Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeikräften eine
Eigendynamik entwickelte, die vielfach weder beabsichtigt war noch
——————
52 Ulrike Meinhof, Vom Protest zum Widerstand, konkret 5 (1968), in: Meinhof, Würde
[wie Anm. 39], S. 138f.
53 Hartung, Versuch [wie Anm. 29], S. 36. Allein in West-Berlin kommt es vom 31.12.1967
bis 6.2.1971 zu ca. 70 Brand-, Sprengstoff- und Knallkörperanschlägen von kleinen mi-
litanten Gruppen (beispielsweise »Tupamaros West-Berlin«, »Haschrebellen«, »Schwarze
Ratten«, »Schwarze Front«) auf amerikanische Einrichtungen, um gegen den Vietnam-
krieg zu protestieren. Justizinstanzen, Banken, Rathäuser, Bezirksämter, Konsulate und
Presseeinrichtungen sind ebenfalls Ziele der Anschläge, vgl. Ralf Reinders/Ronald
Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung,
Knast, 3. Aufl., Berlin 1999, S. 165.
54 Vgl. Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung [wie Anm. 29], S. 107.
226 GISELA DIEWALD-KERKMANN

gesteuert werden konnte. Mehr und mehr kam es zu einer Entgrenzung


von Gewalt.55 Zu Recht hebt die Regierungskommission zur Verhinderung und
Bekämpfung von Gewalt hervor, dass dem Einsatz von Gewalt zum einen
rationale Kosten-Nutzen-Überlegungen der beteiligten Gruppen zu-
grunde liegen und zum anderen Gewalt sich kurzfristig und akut in Auf-
schaukelungsprozessen entwickele, in denen das Verhalten der Polizei
eine zentrale Rolle spiele.56

IV. Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates


Eine Eskalation der physischen Gewalt und des Angriffs auf die Legitima-
tionsgrundlage des Staates erlebte die Bundesrepublik Deutschland Anfang
der siebziger Jahre durch die Bildung der Roten Armee Fraktion und der
Bewegung 2. Juni. Jetzt ging es nicht mehr um symbolische Protestformen
gegen das staatliche Gewaltmonopol oder um die Infragestellung der Herr-
schaftsstruktur, sondern um die prinzipielle Negierung des Systems. Zu
Recht macht Friedhelm Neidhardt deutlich, dass der Anspruch der RAF
auf legitime Gegengewalt und die politische Symbolik ihrer Kriminalität
das eigentliche Faktum gewesen seien.57
Tatsächlich lag die Herausforderung der staatlichen Legitimität in der
unmittelbaren Anwendung gewaltsamer Mittel, wobei die RAF »ihre
Aktionen als eine über die strafrechtliche Kriminalität hinausgehende
Manifestation politischer Fundamentalopposition«58 verstand. Im April
1971 begründete Ulrike Meinhof den bewaffneten Kampf der RAF mit
den Worten: »Stadtguerilla ist [...] die Konsequenz aus der längst vollzo-
genen Negation der parlamentarischen Demokratie durch ihre Reprä-
sentanten selbst, die unvermeidliche Antwort auf Notstandsgesetze und
Handgranatengesetz, die Bereitschaft, mit den Mitteln zu kämpfen, die
das System für sich bereitgestellt hat, um seine Gegner auszuschalten«.
Und weiter schrieb sie: »Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herr-
schaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer

——————
55 Aber zu Recht weist Dirk Schumann darauf hin, dass »hier nicht eine Art von
Automatismus am Werk« war; Schumann, Gewalt [wie Anm. 2], S. 378.
56 Vgl. Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 106.
57 Vgl. Analysen zum Terrorismus [wie Anm. 38], S. 318.
58 Michael Horn, Sozialpsychologie des Terrorismus, Frankfurt/M. 1982, S. 78.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 227

Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und sei-
ner Unverletzbarkeit zu zerstören.«59

Mit dieser Intention griffen die RAF und die Bewegung 2. Juni Symbole
staatlicher Herrschaft an, etwa 1972 in der »Mai-Offensive« militärische
Einrichtungen der US-Armee oder Justiz- und Polizeiorgane als Instanzen
des staatlichen Gewaltmonopols. Sie ermordeten Repräsentanten des Sys-
tems, so 1974 den Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von
Drenckmann, 1977 den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Ban-
kier Jürgen Ponto und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer
oder entführten Repräsentanten des Staates, etwa 1975 den Berliner Lan-
desvorsitzenden der CDU Peter Lorenz. Betrachtet man den Eskalations-
prozess der sechziger und siebziger Jahre, bestätigt sich die These von Pe-
ter Waldmann, wonach terroristische Gruppen »in aller Regel nicht isoliert
auf[treten], sondern im Kontext breiterer Protestbewegungen, von denen
sich nicht mehr behaupten lässt, sie seien isolierte, gewissermaßen zufalls-
bedingte sozio-politische Phänomene.«60
Nach dem Auseinanderbrechen der Studentenbewegung hatten sich
viele Akteure SPD-Nachwuchsorganisationen und anderen linken Grup-
pen und Parteien angeschlossen oder sich ganz aus der Politik zurückge-
zogen, während einige wenige in den Untergrund gingen.61 Insoweit lässt
sich die partiell anzutreffende Auffassung nicht aufrechterhalten, der
Terrorismus der siebziger Jahre sei eine zwangsläufige Konsequenz der
studentischen Protestbewegung gewesen. Vielmehr war es der Weg einer
kleinen Minderheit in die Illegalität, um den bewaffneten Kampf aufzu-
nehmen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass der Kern
der RAF vielfach nicht mehr als 25 bis 35 Personen umfasste, ist die Reak-
tion des Staates zu bewerten. Die staatlichen Gewaltmittel wurden »prä-
ventiv ausgestreckt und in ihrer Legaldefinition entgrenzt«,62 der Sicher-

——————
59 Das Konzept Stadtguerilla, in: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Ge-
schichte der RAF, hg. von ID-Verlag Berlin 1997, S. 27-48, hier S. 41f.
60 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 120. So weist Waldmann auf die Verbindung
zwischen der civil-rights-Bewegung in den USA der sechziger Jahre und dem anschlie-
ßenden Auftreten der militanten Organisation »The Weathermen« hin. Auch die meisten
palästinensischen Gewaltorganisationen, vor allem die Hamas, haben ihren Ursprung in
der Intifada, vgl. ebd., S. 121.
61 Ebd., S. 132.
62 Narr, Staatsgewalt [wie Anm. 15], S. 63.
228 GISELA DIEWALD-KERKMANN

heitsapparat der Polizei von 149 782 Beamten im Jahre 1960 auf über
220 000 im Jahre 1980 ausgebaut, die Zahl der Mitarbeiter des Bundes-
kriminalamtes in der Zeit von 1969 bis 1980 von 933 auf über 2 600
erhöht63 und der Etat des BKA von 20 Millionen (1970) auf 920 Millionen
DM (1977)64 gesteigert. Darüber hinaus wurden relevante Strafrechtsände-
rungen, etwa die Etablierung der so genannten Antiterrorismusgesetze,
vorgenommen.
Die Terrorismus-Debatte führte zu polarisierten Kontroversen über
den Zustand der Bundesrepublik und über den Bestand der freiheitlich-
demokratischen Grundordnung. Folglich ging es in der Terrorismusbe-
kämpfung um »das Ganze«, um die staatliche Ordnung beziehungsweise
um Chaos und Anarchie. Der damalige Regierungssprecher Klaus Bölling
formulierte es folgendermaßen: »Wir hatten uns so lange mit dem Auf-
bau eines demokratischen Rechtsstaats abgerackert, das wir niemandem
erlauben wollten, diesen Staat kaputtzumachen.«65 Über die Massenme-
dien wurde ein Szenario der terroristischen Bedrohung vermittelt, so dass
der Verfolgungsdruck der Ermittlungsbehörden berechtigt, die Verstär-
kung polizeilicher Präsenz und der größte Einsatz der Fahndungsappa-
rate in der Geschichte der Bundesrepublik notwendig erschienen. In der
Tat wird – wie Jürgen Habermas im Jahre 1990 schrieb – »der staatliche
Handlungsbedarf dramatisch beschworen«, ohne zu berücksichtigen, dass
sich »im Lichte internationaler Vergleiche [...] die objektive Sicherheits-
lage erst recht nicht bedrohlich [aus]nimmt«. Politisch motivierte Ge-
walttaten seien quantitativ als »Randphänomen« einzustufen.66
Die Inszenierung der politischen Gewalt als Bedrohung der gegebenen
Gesellschaftsordnung legitimierte die Gewaltanwendung durch staatliche
Instanzen und sollte nicht zuletzt den Konsens in der Gesellschaft sicher-
stellen beziehungsweise die Loyalität der Bevölkerung einfordern. Aber ge-
rade der Ausbau des staatlichen Repressionspotenzials kam der Überzeu-
gung der RAF nahe, dass der Staat durch gezielte Provokationen »seine
heuchlerische rechtsstaatlich-demokratische Fassade« abstreife und »sein

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63 Vgl. Scheerer, Deutschland [wie Anm. 40], S. 395.
64 Vgl. Horn, Sozialpsychologie [wie Anm. 58], S. 80.
65 Zit. nach Dorothea Hauser, Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes, Frank-
furt/M. 1998, S. 205.
66 Jürgen Habermas, Gewaltmonopol, Rechtsbewusstsein und demokratischer Prozeß.
Erste Eindrücke bei der Lektüre des »Endgutachtens« der Gewaltkommission, in: Alb-
recht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm. 12], S. 180-188, hier S. 181.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 229

wahres faschistisch-repressives Gesicht« zeige.67 Bewusst sollte der Rechts-


staat zu Überreaktionen herausgefordert werden; durch seine Reaktion
sollte sich das Staatssystem »kenntlich« machen »und so, durch seinen ei-
genen Terror die Massen gegen sich aufbring[en], die Widersprüche ver-
schärf[en], den revolutionären Kampf zwingend«68 machen.

V. Schlussbemerkungen
In Umbruchsituationen und Legitimationskrisen staatlicher Macht – hier
exemplarisch dargestellt für die sechziger und siebziger Jahre – gewinnt die
Gewaltfrage eine signifikante Bedeutung. Unter solchen Konstellationen
wird die Legitimität physischen Zwangs durch staatliche Instanzen hinter-
fragt und in einem komplexen Prozess ausgehandelt, der für die symboli-
sche Inszenierung von Herrschaftsverhältnissen entscheidend ist. Zweifel-
los setzten die Rote Armee Fraktion und die Bewegung 2. Juni mit ihrem
Anspruch legitimer Gegengewalt und der damit zusammenhängende
»symbolische Belagerungszustand«69 die Staatsgewalt unter Handlungs-
druck.
Dass die Reaktion eines Staates kontraproduktiv sein kann, ist vor dem
Hintergrund der Eskalation physischer Gewalt in den sechziger und siebzi-
ger Jahren zu prüfen; sie kann »nicht nur über die staatlichen Stränge
schlagen«, sondern auch »dazu beitragen, dass das, was bekämpft wird,
staatlich nicht legitimierte private Gewalt und Abweichung von den Nor-
men, erst richtig erzeugt wird.«70 In der Tat braucht politisches Handeln
die Bestimmung von Grenzen, um berechenbar zu sein. Staatliche Gewalt
muss eingeschränkt werden, wenn der Legitimationsglaube an ihre Recht-
mäßigkeit respektive die Aufrechterhaltung von Herrschaft nicht erschüt-

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67 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 78. Auch Richard Blath und Konrad Hobe
machen deutlich, dass terroristische Aktionen darauf zielen, »den Staat zu Überschrei-
tungen oder sogar zur Aufgabe der geltenden rechtlichen Prinzipien zu veranlassen und
damit größere Teile der Bevölkerung für einen Umsturz zu mobilisieren«; dies., Strafver-
fahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer, hg. vom Bundesminis-
terium der Justiz, Bonn 1982, S. 2.
68 Rede von Ulrike Meinhof zu der Befreiung von Andreas Baader, in: texte: der RAF,
Malmö 1977, S. 62-74, hier S. 72.
69 Scheerer, Deutschland [wie Anm. 40], S. 397.
70 Narr, Staatsgewalt [wie Anm. 15], S. 62.
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tert werden sollen. Gerade die gewaltsamen Konfrontationen zwischen


Anhängern der Protestbewegung und Instanzen des staatlichen Gewalt-
monopols verweisen auf die Gefahr, dass die Begrenzungen von Gewalt
bedeutungslos beziehungsweise Gewaltakte zunehmend entgrenzt werden.
Vor diesem Hintergrund der »Entgrenzung menschlicher Verhältnisse«71
zeigt sich, in welchem Maße die Gewaltanwendung durch staatliche In-
stanzen zugleich die Grenze von Herrschaft markiert, wenn diese nicht in
Gewaltherrschaft münden soll.

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71 Popitz, Macht [wie Anm. 14], S. 48ff.

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