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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Jan Andres, Alexa Geisthövel, Matthias Schwengelbeck
Monarchische Herrschaftsrepräsentationen
zwischen Konsens und Konflikt: Zum Wandel des
Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells
im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Matthias Schwengelbeck
»An eine Macht, die zwar vorhanden ist, aber nicht sichtbar im Auftreten
des Machthabers selbst in Erscheinung tritt, glaubt das Volk nicht. Es muß
sehen, um zu glauben.«1 Man mag einwenden, dass Norbert Elias, als er
diese Zeilen verfasste, den absolutistischen Herrschaftsstil Ludwigs XIV.
vor Augen hatte. In den aufgeklärten Gegenwartsgesellschaften dagegen,
könnte man argumentieren, muss Macht nicht mehr sinnlich sein, um ihre
Wirkung entfalten zu können. Schließlich bedeutet Macht nach Max Weber
ohnehin die spezifische Chance, »seinen eigenen Willen auch gegen Wider-
streben durchzusetzen«.2 Warum sollte der Machthaber seine Macht dann
aber darstellen müssen? Bedarf er nicht vielmehr lediglich der geeigneten
Mittel des physischen Zwangs, um seine Ziele durchzusetzen?
Richtet man seinen Blick auf parlamentarische Demokratien der Ge-
genwart, wird eine solche, vermeintlich nüchtern-realistische Betrach-
tungsweise schnell unhaltbar. Ein besonders anschauliches Beispiel für die
Bedeutung von Darstellungskompetenz in modernen demokratischen
Gemeinwesen liefert der Wahlkampf. Verstanden als »Kommunikations-
und Interaktionsprozeß«, der in einem Dreieck von Parteien, Medien und
den Wählern verläuft, stellt er eine »rituelle Inszenierung des demokrati-
schen Mythos« dar: Der Wahlkampf vermittelt symbolisch den Grundge-
danken der parlamentarischen Demokratie, dass nämlich die souveräne
Entscheidung des Wählers über die Ordnung und Verteilung der politi-
schen Macht entscheidet.3 »Das was man heutzutage in repräsentativ-
demokratisch organisierten Gemeinwesen noch ›politische Macht‹ nennen
——————
1 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des König-
tums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983, S. 179.
2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5.
Aufl., Tübingen 1972, S. 28.
3 Andreas Dörner, Wahlkämpfe – eine rituelle Inszenierung des »demokratischen My-
thos«, in: ders./Ludgera Vogt (Hg.), Wahl-Kämpfe. Betrachtungen über ein demokrati-
sches Ritual, Frankfurt/M. 2002, S. 16-42, hier S. 21 u. 28.
8 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK
könnte«, so der Soziologe Ronald Hitzler, »entsteht [...] vor allem durch
Darstellungskompetenz.«4
Elias’ Einschätzung ist also nach wie vor aktuell, sie trifft ebenso die
vormodernen Gesellschaften der Frühen Neuzeit wie sie für die europäi-
schen Staaten des 20. und 21. Jahrhunderts gültig bleibt. Anders als ein ab-
solutistischer Herrscher wie Ludwig XIV., der seine Macht darstellen
musste, um diese zu haben und zu sichern, müssen sich Politiker in mo-
dernen Demokratien dagegen darstellen, um politische Macht überhaupt
erlangen zu können. Diese muss dann aber auch jenseits des Wahlkampfes
dargestellt werden, um wirksam zu werden und zu bleiben. Auch wenn
man im Anschluss an Max Weber analytisch zwischen Macht und Herr-
schaft differenzieren könnte, eignet der Zwang zur Darstellung doch bei-
den Phänomenen.
Der vorliegende Band versucht diese Thematik von der Sinnlichkeit der
Macht dadurch zu erschließen, dass er weniger die viel diskutierte Diffe-
renzierung von Macht und Herrschaft fokussiert als vielmehr den Aspekt
der Darstellung, der Repräsentation im Sinn von Sinnlichkeit, ins Zentrum
rückt. Unter dem noch näher zu erläuternden Begriff der Herrschaftsreprä-
sentation werden Erscheinungs- und Darstellungsweisen des Politischen
von den Autoren des Bandes untersucht.
Die versammelten Aufsätze schließen dabei an die jüngsten Bestrebun-
gen an, eine neue Politikgeschichte zu entwerfen, die sich gegen die traditi-
onelle Vorliebe der Forschung für die Rekonstruktion großer Staatsaktio-
nen positioniert. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen nicht mehr
die vermeintlich rationalen Entscheidungswege »großer Männer«. Vielmehr
wird nach den Konstruktionsprinzipien des Politischen selbst gefragt. Da-
bei geht es den neueren, kulturgeschichtlichen Forschungsansätzen jedoch
auch nicht um die von der politischen Sozialgeschichte privilegierte Entlar-
vung sozioökonomischer Interessenlagen, die sich hinter den Entschei-
dungsprozessen verbergen. Vielmehr beginnt sich der Begriffapparat nicht
nur der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Soziologie und ansatz-
weise der Politikwissenschaft auf ein kulturwissenschaftlich informiertes
Verständnis politischer Strukturen und Prozesse hin auszurichten. Danach
wird Politik als figuratives Ensemble symbolischer Praktiken verstanden,
——————
4 Ronald Hitzler, Inszenierung und Repräsentation. Bemerkungen zur Politikdarstellung
in der Gegenwart, in: Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur
Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, S. 35-49, hier
S. 37.
EINLEITUNG 9
wird ein kulturgeschichtlicher Blick auf die Politik eingefordert, werden die
symbolischen Dimensionen politischer Verfahren erkundet oder das Politi-
sche als semiotisch strukturierter Kommunikationsraum begriffen.5
Diesem letzten Ansatz ist auch der Bielefelder Sonderforschungsbe-
reich 584 der Deutschen Forschungsgemeinschaft »Das Politische als
Kommunikationsraum in der Geschichte« verpflichtet, aus dessen Arbeit
der vorliegende Band hervorgegangen ist. Der Sonderforschungsbereich
untersucht das Politische als kommunikativ hergestellten Raum, der durch
den Gebrauch von Symbolen und Signifikanten von Semantiken struktu-
riert wird.6 Der Raum des Politischen wird weder als klar abgrenzbarer
Sachbereich vorgestellt noch über die Entscheidungsgewalt im Ausnahme-
zustand definiert. Vielmehr liegt seine Spezifik in der Breitenwirkung, der
Nachhaltigkeit und der Verbindlichkeit – zumindest dem Streben danach –
der ihn konstituierenden symbolischen und diskursiven kommunikativen
Praktiken. Politische Kommunikationsprozesse zielen stets auch auf die
Konstitution, Aufrechterhaltung und Infragestellung von Herrschaftsver-
hältnissen. Sie beschreiben im Sinne Pierre Bourdieus einen »symbolischen
Kampf um die Bewahrung oder Veränderung der sozialen Welt durch die
Bewahrung oder Veränderung der Sicht- und Teilungsprinzipien«.7
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes konzentrieren sich auf die
Analyse unterschiedlicher Repräsentationsformen von Herrschaft zwischen
dem 18. und 20. Jahrhundert. Damit schließen sie an die oben erwähnten
Diskussionen um die symbolische Konstitution des Politischen an und
vermitteln über den Begriff der Repräsentation Einblicke in die Funktions-
und Darstellungsweisen von Herrschaft. Mit der Herausbildung frühneu-
zeitlicher Territorialstaaten konstituierten sich Herrschaftsverhältnisse zu-
nehmend nicht mehr in den unmittelbaren sozialen Erfahrungsräumen
historischer Akteure, sondern bezogen sich immer mehr auf ein jeweils
——————
5 Vgl. etwa Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz
der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002; Thomas Mergel, Überlegungen
zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-
606; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001;
Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.), Kom-
pass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152-177.
6 Ute Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Mediali-
tät in der Geschichte, Göttingen 2004; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue
Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt/M./New
York 2005.
7 Pierre Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik
der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 81.
10 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK
vorgestelltes staatliches Ganzes, das als Einheit selbst nicht mehr erfahrbar
war. Daher bedürfen moderne Herrschaftsverhältnisse in besonderer
Weise der Repräsentation, der sinnlich-sinnhaften Vergegenwärtigung. Be-
wusst setzt der Band zeitlich an der Nahtstelle zwischen Vormoderne und
Moderne an, um die Veränderungen und Kontinuitäten von Herrschafts-
repräsentationen über konventionelle Epochenschwellen hinaus zu disku-
tieren.
Dabei bietet wieder Max Weber einen guten Anknüpfungspunkt für
eine theoretische Reflexion des Themas. Seine viel zitierte Definition von
Herrschaft als »Chance für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angeb-
baren Personen Gehorsam zu finden«, lässt Herrschaftsverhältnisse als
grundsätzlich reziproke Beziehungen erscheinen.8 Dem Befehl des Herr-
schenden muss stets ein Minimum an Bereitschaft zum Gehorsam ent-
sprechen. Diese Bereitschaft beruht nach Weber auf bestimmten »Moti-
ven der Fügsamkeit«. Neben Interessenlage, Gewöhnung und affektueller
Neigung, die lediglich eine relativ labile Grundlage für Herrschaftsver-
hältnisse schaffen, gewinnt Herrschaft innere Stabilität erst durch die
»Gründe ihrer Legitimität«, beziehungsweise genauer: den spezifischen
Glauben der Gehorchenden an die Legitimität der Herrschaftsbezie-
hung.9 Bekanntlich hat sich Weber weniger für das Zustandekommen
dieses Legitimitätsglaubens interessiert, sondern lediglich eine typologi-
sche Unterscheidung von rationalen, traditionalen und charismatischen
Legitimationsgründen vorgenommen. Jedoch wird Herrschaft nicht per se
in jeweils verschiedener Weise als legitim oder illegitim anerkannt. Legi-
timität, das ist schon vor einiger Zeit von Peter Graf Kielmannsegg be-
merkt und jüngst von Andreas Gestrich am Beispiel absolutistischer
Herrschaft empirisch gestützt vorgeführt worden, ist kein statisches Phä-
nomen. Legitimation ist vielmehr immer ein Prozess.10 Legitimität von
Herrschaft, verstanden als »Geltungserfahrung« (Kielmannsegg) einer
konkreten Herrschaftsbeziehung, realisiert sich erst in der kommunikati-
——————
8 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 2], S. 28; vgl. dazu auch Stefan Breuer,
Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1991; Dirk Kaesler, Max Weber. Eine
Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M./New York 1995, S. 207ff.
9 Vgl. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 475-488, Zitate S. 475.
10 Vgl. Peter Graf Kielmannsegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: Politische
Vierteljahresschrift 12 (1971), S. 367-401; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffent-
lichkeit, Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts,
Göttingen 1994.
EINLEITUNG 11
ven Praxis und kann darüber auch infrage gestellt werden. »Eine Herr-
schaftsordnung ist nicht legitim, sie wird es ständig.«11 Oder, so ist dem
hinzuzufügen, sie wird es eben möglicherweise nicht. Erst in der kom-
munikativen Praxis politischer Prozesse jedenfalls kann ein Legitimitäts-
glaube an die Rechtmäßigkeit von Herrschaftsbeziehungen hergestellt
oder erschüttert werden. Hans-Georg Soeffner und Dirk Tänzler haben
jüngst darauf hingewiesen, dass dieser Legitimitätsglaube zu wesentlichen
Teilen durch spezifische Darstellungsleistungen als »Versinnbildlichung
der Politik« hervorgebracht wird.12 Man kann sogar noch radikaler sagen:
Politik wird erst politisch, wenn sie sinnlich ist, zur Erscheinung kommt,
repräsentiert ist. Herrschaft muss sich darstellen, um als legitim aner-
kannt werden zu können.
Daher ist Herrschaft grundsätzlich auf Repräsentation angewiesen.
Der in dem Sammelband fokussierte Begriff der Herrschaftsrepräsenta-
tion zielt dabei auf die spezifische »fabrication« (Peter Burke), die sym-
bolische Gestaltung, Hervorbringung oder Infragestellung der Legitimität
von Herrschaftsverhältnissen. In den Präsentationen von Herrschaft äu-
ßern sich bestimmte Legitimitätsansprüche, die sich als Legitimitäts-
glaube in die »kollektiven Vorstellungen« der Akteure einschreiben kön-
nen – oder verworfen werden.13 Bezug nehmend auf Ernst Cassirers
erkenntnistheoretisches Repräsentationsverständnis zielt der Begriff der
Herrschaftsrepräsentation in diesem Sinn auf den Umstand, dass sich
Herrschaftspraxis überhaupt erst in ihren vielschichtigen diskursiven und
nicht-diskursiven symbolischen Repräsentationen realisiert.14 Herrschafts-
praxis und Herrschaftsrepräsentation sind mithin grundsätzlich zu-
sammen zu denken.
Dabei grenzt sich der Band von Carl Schmitts Verständnis der Reprä-
sentation als einer Urbild-Abbild-Dialektik ab, die sich einem neuplatoni-
schen Modell verdankt. Nach Schmitt manifestiert sich in der Repräsenta-
——————
11 Kielmannsegg, Legitimität [wie Anm. 10], S. 373.
12 Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler, Einleitung, in: dies. (Hg.), Figurative Politik [wie
Anm. 5], S. 7.
13 Vgl. Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt/M. 1995;
Lynn Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkeley 1984; Emile
Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, S. 577ff.
14 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache,
Gesammelte Werke Bd.11, Darmstadt 2001, S. 39ff.; zu diskursiven und nicht-diskursi-
ven Logiken der symbolischen Formen Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem
Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. 1965.
12 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK
——————
22 Vgl. dazu aus historischer Perspektive auch Gestrich, Absolutismus [wie Anm. 10];
Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen
Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u.a. 2000.
23 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 2], S. 29.
EINLEITUNG 15
piz versteht. Dieses entfaltet sich jedoch erst im sinnlichen Vorgang der
Bildbetrachtung. Die visuelle Repräsentation erfüllt ihre zentrale Aufgabe,
Widersprüche in der Argumentation zu überbrücken, indem das Bild den
Betrachter in einen reziproken Blickwechsel mit dem dargestellten Herr-
scher hineinzieht.
Das rezipierende Subjekt leitet auch in Jan Andres’ Analyse einer Ode
Friedrich Hölderlins an die Fürstin Amalie von Anhalt-Dessau eine per-
formanztheoretische Formulierung »des Repräsentativen« an. Entlastet
man die Repräsentation von der Zumutung, ein nur vermeintlich authenti-
sches Ab-Bild von etwas liefern zu sollen, eröffnet sich ihr Potenzial als
eine Instanz, die ein Abstraktum wie die Macht, die es losgelöst von ihren
konkreten Erscheinungsformen nicht gibt, in einer sinnlich erfahrbaren
Form bereithält. Aktiviert wird die latente Bedeutung des Präsentierten erst
in der Verstehensleistung des Zuhörers oder Lesers – in der Doppelungs-
struktur der Re-Präsentation.
Dass der Leviathan als mediales Konstrukt Herrschaft nicht nur sichtbar
macht, sondern damit gleichzeitig die Künstlichkeit der herrschaftlichen
Stellvertretung offenlegt, verweist laut Dirk Tänzler bereits auf die mo-
derne Problematisierung des Repräsentativen. Die Darstellung von Stell-
vertretung verändert sich um 1800 strukturell, wie Barbara Stollberg-Rilinger
und Matthias Schwengelbeck herausarbeiten. Die Landtage des Kurfürsten-
tums Köln handelten im 18. Jahrhundert, so Barbara Stollberg-Rilinger,
noch für ein »Ganzes« (das Land), das jenseits dieses gemeinsamen Han-
delns der anwesenden Ständevertreter nicht existierte. Die politische Be-
deutung des Stellvertretungsorgans lag daher weniger in seinen ebenso
vorhersehbaren wie folgenlosen Beschwerden an den Landesherrn als
darin, zwischen- und innerständischen Konsens zum Ausdruck zu bringen,
die »Ungleichheitsstrukturen des Gemeinwesens« symbolisch zu bestätigen.
1790 brachen die Vertreter der Städte mit diesem Prozedere und machten
das Konsensforum erstmals zu einem Schauplatz moderner politischer In-
teressenvertretung, die Differenzen statt Identität darstellte. Ähnlich hatten
die Königs-Huldigungen, das zeigt Matthias Schwengelbeck, gegen Ende
des 18. Jahrhunderts den rechtsverbindlichen Charakter einer Verfassung
in actu schon weitgehend verloren. Während Jan Andres das Widmungsge-
dicht Hölderlins als ästhetisches Produkt mit eingeschriebener sozialer Lo-
gik analysiert, wird an den Huldigungs- und Krönungsritualen im 19. Jahr-
hundert deutlich, wie die neue symbolische Offenheit dieser Handlungen
zu Deutungskämpfen führte, die vor allem in den weltanschaulich ausdiffe-
16 JAN ANDRES, ALEXA GEISTHÖVEL, MATTHIAS SCHWENGELBECK
Thema von Paula Diehl und Gisela Diewald-Kerkmann. Paula Diehl behandelt
den ambivalenten Effekt, den die Auftritte der SS in der Darstellung natio-
nalsozialistischer Herrschaft hatten. Aus dem Zeichenarsenal von Stärke,
Kampf und Tod schöpfend, verkörperten die SS-Formationen bei Paraden
oder Staatsfeiern die Drohgebärde willkürlicher Gewalt, die sie in Aktionen
gegen Minderheiten auch realisierten. Zugleich barg diese an alle Be-
herrschten gerichtete Botschaft potenzieller Willkür ein Sicherheitsverspre-
chen. Die auf eine starke Präsenz der SS-Männer abgestimmten Herr-
schaftsinszenierungen unterbreiteten dem Publikum ein Angebot, sich
positiv mit der dargestellten Staatsmacht zu identifizieren. Im Beitrag von
Gisela Diewald-Kerkmann sind es dagegen staatsferne Gruppierungen, die
in einem Eskalationsprozess das staatliche Gewaltmonopol herauszufor-
dern beginnen, um »die« Gesellschaft tatkräftig zu verändern. Seit in den
1960er Jahren Studenten und andere außerparlamentarische Oppositionelle
eine ubiquitäre »strukturelle Gewalt« (Johann Galtung) im Staat diagnosti-
zierten und das System der Bundesrepublik unter Faschismusverdacht
stellten, begann eine Debatte um die Legitimität gewaltsamer Aktionen zu-
erst gegen dingliche Symbole und Zeichen, dann auch gegen Institutionen
und Funktionsträger des Staates. Adressat solcher (zunächst noch nur po-
tenziellen) Handlungen war die Gesamtheit der Staatsbürger, denen die
Gewalttätigkeit staatlicher Überreaktion vor Augen geführt werden sollte.
Selbst die terroristischen Gruppen der 1970er Jahre beharrten noch darauf,
»Widerstand« und »Notwehr« zu leisten und befanden sich damit in einem
traditionsreichen Diskurs über die Legitimität staatlicher Herrschaft.
Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Rah-
men des Bielefelder Sonderforschungsbereiches 584 am 14. und 15. No-
vember 2003 im Internationalen Begegnungszentrum (IBZ) der Universität
Bielefeld stattgefunden hat. Wir danken der Herausgeberin und den Her-
ausgebern der Reihe »Historische Politikforschung« für die Gelegenheit,
diesen Band in der Reihe zu publizieren.
Repräsentation als Performanz:
Die symbolisch-rituellen Ursprünge
des Politischen im Leviathan des
Thomas Hobbes
Dirk Tänzler
——————
1 Vgl. Clifford Geertz, Negara. The Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton
1980.
2 Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Werk, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971.
3 Hannah Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley/Los Angeles 1967.
4 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München
1969.
5 Pitkin, Representation [wie Anmerkung 3], S. 24f.
20 DIRK TÄNZLER
Begriff der persona kurz und überträgt so das »Als-ob« des Theaters auf die
Staatsaktionen des Souveräns.6 Bleibt man allerdings dem dramatischen
Theatermodell des 18. Jahrhunderts verhaftet, führt das, wie der Disput
zwischen Runciman und Skinner zeigt,7 zu exegetischen Problemen, denen
man entgehen kann, wenn man, wie die moderne Theaterwissenschaft, ei-
nen erweiterten Begriff der Theatralität zugrunde legt.8 Erst dann er-
schließt sich ein für das Verstehen des Personenbegriffs und der Reprä-
sentationstheorie im Leviathan relevanter Horizont. Der Begriff des
Horizonts9 verweist auf eine für die hier vorgestellte Analyse relevante
Sinnschicht im Denken des Thomas Hobbes’: das Sehen.10 Das Optische
liefert die Grundlage für den aus performanztheoretischer Perspektive
»erweiterten« Begriff der Theatralität im Sinne des öffentlichen Schauhan-
delns.11 Theatralität ist dann im Sinne Helmuth Plessners der conditio hu-
mana zuzurechnen.12 Von Natur wesenlos, ist der Mensch gezwungen, sich
»performativ« eine kulturelle Identität zu schaffen. Da die Identität gegen
konkurrierende Entwürfe durchgesetzt werden muss, ist die menschliche
Existenz unmittelbar politisch und auf Gemeinschaftlichkeit bezogen. Ar-
chetypus der Vergemeinschaftung ist das Ritual – ein Gedanke, der für die
folgende Deutung des Leviathan und den darin entwickelten Begriff der
——————
6 Joseph Vogel zitiert in: Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer
organischen Gemeinschaft in der »Politischen Romantik«, Freiburg 1999, S. 78.
7 David Runciman, Pluralism and the Personality of the State, Cambridge 1997; Quentin
Skinner, Visions of Politics. Volume III: Hobbes and Civil Science, Cambridge 2002.
8 Erika Fischer-Lichte u.a., Theatralität, 7 Bde. Tübingen/Basel 2000ff.; Andreas Kotte,
Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater, in: Theaterwissenschaftliche
Beiträge, Beilage zu: Theater der Zeit, S. 2-9.
9 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8,
Hamburg 1992; Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1975, S. 286.
10 Vasco Ronchi, Preface à Thomas Hobbes ›De Homine‹. Traité de L’Homme, traduction
et commentaire par Paul-Marie Maurin, Paris 1974, S. 5-26; Horst Bredekamp, Thomas
Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651-
2001, Berlin 2003.
11 Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren Jahrmärkte und Handelsmessen die Orte,
auf denen die Handwerker, Ärzte und Spielleute ihr Können zur Schau stellten (vgl.
Katrin Kröll, Körperbegabung versus Verkörperung. Das Verhältnis von Geist und
Körper im frühneuzeitlichen Jahrmarktspektakel, in: Erika Fischer-Lichte/Christian
Horn/Matthias Warstat (Hg.): Verkörperung, Theatralität Bd. 2, Tübingen/Basel 2001,
S. 29-52). Erst zu Hobbes’ Zeiten wurde das Theater als privilegierter Ort professioneller
Darstellung «wiederentdeckt«.
12 Helmuth Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, in: Gesammelte Schriften VII,
Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 1982, S. 399-418.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 21
——————
13 Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München
1959.
14 Gaston Bachelard, Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen
wissenschaftlichen Geistes, Wiesbaden 1978.
15 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 2003.
16 Jakob A.O. Larsen, Representative Government in Greek and Roman History, Berke-
ley/Los Angeles 1966; Raban von Haeling, Repräsentation antiker Staaten. Persepolis
und Athen, in: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992,
S. 37-61.
17 Dolf Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, Stuttgart 1971.
22 DIRK TÄNZLER
matisch geworden. Sie diente in seinen Augen sowohl zur Legitimation der
im vierten Teil des Leviathan als Reich der Finsternis apostrophierten Herr-
schaft der katholischen Kirche als auch der gnostischen Gegenbewegun-
gen, die er beide für die Zerstörung der paganen Einheit von Religion und
Politik verantwortlich macht.18 Mit den Ideen der Repräsentation und der
Souveränität intendiert Hobbes die Restitution dieser Ordnungsvorstellung
auf neuer, moderner, konstruktivistischer Grundlage.
Die antike Vorstellung von einer natürlichen Ordnung, in der das
ƦƾƯƭ ưƯƫƩƴƩƪƼƭ seine Bestimmung findet, muss – darauf hat Eric Voe-
gelin hingewiesen – jede Evidenz einbüßen, wenn zum Beispiel, um den
mystischen Charakter des Glaubens wieder in den Vordergrund zu rücken,
Wilhelm von Ockham das christliche Dogma als unbeweisbar und die
Metaphysik sowie die rationale Theologie als unsinnig erklärt. Damit wer-
den die Grundlagen der aristotelisch-scholastischen Lehre vom rationalen
Staat erschüttert und das Einsickern der gnostischen Idee der Glaubens-
gemeinschaft setzt die kirchlichen und weltlichen Hierarchien der perma-
nenten Gefahr der Entlegitimierung durch mehr oder weniger demokrati-
sche charismatische Bewegungen aus.19 Die Wurzeln dieses Konflikts
liegen in innerkirchlichen Auseinandersetzungen, wie sie sich auf den Kon-
zilien in Konstanz und Basel manifestieren, wo um die Frage gestritten
wird, ob der Papst oder die Versammlung die Stellvertretung Gottes auf
Erden beanspruchen dürfe. Die Ordnungsvorstellungen der societas und der
universitas, die hier aufeinanderstoßen, gründen auf der für die moderne po-
litische Theorie folgenreichen Unterscheidung zwischen einer Vertretungs-
repräsentation und einer Identitätsrepräsentation.
Nach römischer Rechtsauffassung ist die societas eine vertragliche
Zweckgemeinschaft (engl. partnership), die universitas dagegen die Idee einer
Korporation, einer dauerhaften Glaubens- und Lebensgemeinschaft analog
der Familie.20 Archetypus der societas und – daraus abgeleitet – des moder-
——————
18 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehl-
schlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938.
19 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959.
20 Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der
Antike bis ins 19.Jahrhundert, Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 22, Berlin 1998;
Oakeshott nach Runciman, Pluralism [wie Anm. 7], S.13ff. Schon die Römer werteten
gegenüber den Griechen die Familie auf, hielten aber an der Unterscheidung zwischen
ƯƟƪƯƲ und ưƼƫƩƲ fest. Erst die Christen rissen mit ihrer »Umwertung aller Werte» die
Grenze ein und »familiarisierten« die entpolitisierte Gemeinschaft (vgl. Hannah Arendt,
Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002).
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 23
nen europäischen Staates ist die katholische Amtskirche. Diese ist als realer
hierarchischer Herrschaftsverband ein dem Papst gehorsamspflichtiger cor-
pus fictum, das heißt ein Abbild oder eine Repräsentation der Herrschaft
Christi. In Gestalt der universitas tritt der paternalistisch-vormundschaftli-
chen Stellvertretungsrepräsentation durch das Verbandsoberhaupt (»guter
Hirte«) die Identitätsrepräsentation eines Vertretungskörpers gegenüber,
dessen Haupt (caput) nicht der Papst, sondern Christus selbst ist. Dieser
zweite Typus von Repräsentation beruht auf einem transzendenten Iden-
titätsprinzip: der Identität von Repräsentant und Repräsentiertem, gestiftet
durch den Geist, der über die Gläubigen gekommen ist und in ihnen – und
nicht nur im Priester – anwesend ist. Der Priester ist zwar weiterhin Organ
des Körpers Kirche, aber nur Verkörperung (persona repraesentativa) einer in
der Versammlung/Kirche (collectio repraesentativa) lebendigen, doch unsicht-
baren Wirklichkeit. Die Identitätsrepräsentation setzt eine jenseitige, irratio-
nal-hierokratische Legitimation durch Gott an die Stelle der diesseitigen,
formalrational-hierarchischen Legitimation und untergräbt damit prinzipiell
die Herrschaft der katholischen Kirche unter Führung des Papstes.
Nikolaus von Kues versucht diese Spannung in der später von ihm re-
vidierten Idee der Vermittlungsrepräsentation aufzuheben, die er jenseits
von Gemeinde und Papst dem Konzil zuschreibt. Der consensus communis,
manifest in der electio oder Bischofswahl, konstituiert Organschaft und wird
damit zur Bedingung von Vertretung und Zurechnung. Die Organschaft
ist nicht als demokratische Bündelung individueller Willensmacht konzi-
piert, denn repräsentiert werden nicht Individuen, sondern was sie vereint.
Noch ist die Vermittlungsrepräsentation ständische »Ratsrepräsentation«
durch das Konzil (nicht die Kirchengemeinde) und vormodern auch da-
durch, dass die Vermittlung nur möglich ist, weil Konsens und Hierarchie
auf die Wirkung von Gottes Gegenwart zurückgehen und im Zeichen des
Vertrauens auf die christliche Seelengemeinschaft stehen – eine Bedingung,
die dann bei Hobbes nicht mehr gegeben ist. Trotzdem ist damit die für
Hobbes und die Moderne folgenreiche und revolutionäre Vorstellung for-
muliert, dass nur ein durch Gesellschaftsvertrag freier Menschen legiti-
mierter Herrschaftsvertrag Geltung beanspruchen kann.21 Die katholische
Kirche drängte die mystischen oder, mit Eric Voegelin zu sprechen, gnos-
tischen Ideen der universitas und der Identitätsrepräsentation, die im inner-
kirchlichen Streit zwischen Papst und Konzil, aber auch in häretischen
——————
21 Dazu Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20].
24 DIRK TÄNZLER
——————
26 Hans Maier nennt zwei Gründe für diese Abkehr vom Prinzip der Willensfreiheit.
»Theologisch ist es der Nominalismus in der Linie Duns Scotus, Ockham und der engli-
schen philosophischen Tradition, durch den die Gottesmacht ins Absolute gesteigert
und der Mensch zum Spielball des göttlichen Willens gemacht wird. Naturwissenschaft-
liche Quelle ist ein Determinismus, der aus dem Verständnis eines in sich zusammen-
hängenden, konsistenten, nicht zufälligen Universums fließt, das individuelle Willensre-
gungen aus systematischen Gründen ausschließt.« (Hans Maier, Hobbes, in: Hans
Maier/Heinz Rausch/Horst Denzer (Hg.), Klassiker des Politischen Denkens, Bd. 1,
München 1968, S. 351-375, hier S. 360f.).
27 Tönnies hebt den Unterschied zwischen mittelalterlicher Vertragstheorie, die den Staat
als »Rechtsstaat« begründet, und Hobbes’ Vertragstheorie hervor, die den Staat zum
menschlich-sozialen Konstrukt macht (vgl. Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 103f;
Arendt, Vita activa [wie Anm. 20].
28 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der Verstehenden Soziologie,
Tübingen 1976.
29 Repräsentation und nicht Souveränität führt zur Unterscheidung zwischen dem gesell-
schaftlichen Naturzustand und der Zivilgesellschaft. Auch Eric Voegelins »Neue Wis-
senschaft der Politik« behandelt den Begriff der Repräsentation als »das Zentralproblem
einer Theorie der Politik« (Voegelin, Neue Wissenschaft [wie Anm. 19], S. 17). »Die
neue Repräsentationstheorie, die Hobbes in seinem Leviathan entwickelte, erkaufte zwar
ihre eindrucksvolle Geschlossenheit um den Preis einer Simplifizierung, die selbst in die
Klasse der gnostischen Missetaten gehört. [...] [doch sie] trifft ins Herz des Übels« (ebd.,
S. 211f.), der Auflösung politischer Rationalität in Theorie und Praxis. Der moderne Ra-
tionalisierungsprozess hat für Voegelin einen zutiefst irrationalen Kern.
26 DIRK TÄNZLER
——————
30 Iring Fetscher, Einleitung, in: Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt
eines kirchlichen Staates, übersetzt von Walter Euchner, hg. von Iring Fetscher, Frank-
furt/M. 2002, S. IX-LXVI.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 27
nur dadurch, »daß in jenem auf einen einzelnen oder auf einige konzen-
triert und gehäuft ist, was in diesem alle hatten.«33 Eine mit unbeschränkter
Souveränität ausgestattete Staatsgewalt sei reine Willkür, unsittlich, rohe
Naturgewalt. Insofern sei der Unterschied zwischen Staat und Naturzu-
stand wieder aufgehoben.
Diesen merkwürdig changierenden Übergang zwischen Natur- und
Gesellschaftszustand beschreibt Hobbes dann nicht zufällig in Theaterbe-
griffen. Zunächst führt er in dem zentralen 16. Kapitel den Begriff der
Repräsentation im Sinne der Präsentation oder Darstellung ein. Der Reprä-
sentant ist ein Rollenspieler. Wie auf dem Theater präsentiert ein Akteur
(Schauspieler) die von einem Autor (Dichter) geschaffenen Rollen. Als-
dann zählt Hobbes eine Reihe von Repräsentationsverhältnissen auf. Als
terminus comparationis fungiert dabei der Begriff der Autorisierung, mit des-
sen Hilfe sich Stellvertretungen mit und ohne Vertretungsmacht wie zum
Beispiel Mandat und Vormundschaft unterscheiden lassen. Die verschlun-
gene Argumentation zielt auf das Problem der Personifikation einer Men-
schenmenge und die Herleitung eines Gemeinwillens aus einzelvertrag-
lichen Bindungen der Individualwillen:34
»A Multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one
Person, Represented; so that it be done with the consent of every one of that Mul-
titude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Rep-
resented, that maketh the Person One. And it is the Representer that beareth the
Person, and but one Person: And Unity, cannot otherwise be understood in Multi-
tude.«35
Die Sprache der Textpassage ist wie die damit beschriebene Sache von Un-
eindeutigkeit geprägt. Mehr noch: Hobbes macht sich hier die Äquivokati-
onen zu nutze, die im Begriff der Repräsentation liegen, so dass diese
Textpassage weniger durch Argumentation als Suggestion geprägt ist. Un-
ter der Hand wandelt sich dabei der Sinn der Ausdrücke »Vertretung« und
»Repräsentation«:
»Denn wenn der Souverän, autorisiert durch die Einzelnen, eben nicht nur diese,
sondern vor allem das Commonwealth oder die Civitas vertritt (civitatis personam
gerit), welche er zugleich erst durch seine Souveränität konstituiert, so bedeutet das,
daß die ursprüngliche Einheit von Vollmacht, Zuschreibung der Handlung und
——————
33 Ebd., S. 125.
34 Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 20], S. 390.
35 Thomas Hobbes, Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth
Ecclesiasticall and Civill, reprinted from the edition of 1651, Oxford 1909.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 29
Hobbes Theorie der Repräsentation, wie sie hier skizziert ist, enthält im
Kern Elemente, die mit seiner These von der Einheit von Gesellschafts-
und Herrschaftsvertrag sowie mit seiner Theorie der unumschränkten
Souveränität nicht ohne weiteres vereinbar sind.
Die im Bild festgehaltene Szene der den corpus des Staates bildenden und zum Sou-
verän als caput aufschauenden Menschen deutet Bredekamp als pseudosakralen
Akt der Erschaffung des sterblichen Gottes durch die Versammelten.
»Keineswegs nur Symbol eines Nicht-Darstellbaren, schließt das zum mentalen
Bild gewordene Frontispiz die Lücke zwischen Repräsentant und Repräsentiertem,
um damit die symbolische Achillesferse des Leviathan zu heilen, als Gesamtkörper
nicht körperlich erfahrbar zu sein.«43
——————
42 Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10], S. 130f.
43 Ebd., S. 72.
32 DIRK TÄNZLER
Zwar mache das Bildnis des Leviathan, so Ethel Matala de Mazza, Rep-
räsentation als Darstellung eines Sichtbaren und Stellvertretung eines Un-
sichtbaren ansichtig; alle, König, Volk, Hobbes und Gott als universeller
Beobachter seien im Bild vorhanden, aber:
»Dafür gibt es in dem Feld der Repräsentation nun keine für sich seienden Reprä-
sentierten mehr. [...] Das Leben, dem der Leviathan Schutz gibt, ist erkauft in ei-
nem symbolischen Tausch des eigenen Gesichts gegen die Maske der politischen
Person. [...] Der symbolische Tausch vollstreckt mit Zeichen, was der Machtan-
spruch des Despoten [...] von den Körpern fernhält: den Tod – besiegelt nun in
der Auslöschung des Individuums als handelndes Subjekt.«44
Die Verleugnung der Identität wird hier als ideologisch motivierter Kon-
struktionsfehler dechiffriert. Die Verleugnung der Identität ist aber der
Kern aller zivilisatorischen Rationalität und ein der Subjektivität inhärentes
strukturelles Moment, genetisch ihre erste Erscheinungsform, wie Sigmund
Freud am Beispiel der Ich-Spaltung angesichts der Kastrationsdrohung
und am Fetischismus,45 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an den
Abenteuern des Odysseus zeigen, dessen Name sowohl Held als auch
Niemand (ƯƵƤƟƲ) bedeuten kann.46 Identität wird aus Abwehr geboren, ist
keine an sich seiende Entität. Unter dem Fluch der Naturabhängigkeit ist
Autonomie nur durch selbst verleugnende List und Mimikry ans Hetero-
nome zu erschleichen.
Die ideologiekritische Deutung der Huldigung als Auslöschung the-
matisiert den Gesellschaftsvertrag nur aus der Perspektive der societas, der
geltenden Ordnung und der Stellvertretung. Diese bei Hobbes – im
wahrsten Sinne des Wortes – im Vordergrund stehende und im Frontis-
piz dargestellte »technische Repräsentation« erklärt den Vorgang noch
nicht hinreichend. Tatsächlich finden sich in dem Frontispiz, Brede-
kamps Deutung zeigt das deutlich, auch Spuren der Identitätsrepräsenta-
tion und der Idee der universitas. Das Moderne an Hobbes Konstruktion
ist ja, dass er den Herrschaftsvertrag, also die paternalistische societas, an
den modernen Gesellschaftsvertrag und an die Identitätsrepräsentation
rückbindet. Indem er beide Verträge verknüpft, lässt er die universitas in
——————
44 Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6], S. 82-85.
45 Freud, Totem und Tabu [wie Anm. 39], S.371-394; siehe unter dem Stichwort »Verleug-
nung« in: Jean Laplanche/J. B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2,
Frankfurt/M. 1977, S. 595-598.
46 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-
mente, Amsterdam 1968.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 33
nicht die Autonomie des Subjekts – diese ist mit jener identisch –, sondern
Ohnmacht, Auslöschung, Rückfall in den Naturzustand.
Im Frontispiz des Leviathan sehen Matala de Mazza und Bredekamp
nicht bloß eine adäquate Versinnbildlichung der Repräsentationstheorie,
sondern eine sinnhafte Einheit von Wort und Bild.50 Diese Deutungen be-
ziehen sich vornehmlich auf Form und Inhalt des Bildes und untersuchen
die Wechselwirkung mit dem Text. Erweitert man die Analyse der Bild-
wahrnehmung und des Bildverstehens jedoch um die rezeptionsästhetische
Rekonstruktion des Bildes als Protokoll einer sozialen Handlung, dann er-
öffnen sich Anschlüsse für eine medien- und ritualsoziologische Deutung
der »Repräsentation der Repräsentation« im Bildnis des Leviathan. Aus
dieser Perspektive rückt dann an die Position des in aller Regel mit Gott
identifizierten Betrachters der reale beziehungsweise idealtypische Be-
trachter (generalized other) vor dem Bild und an die Stelle der großen, jeder
Erfahrung sich entziehenden Transzendenz die mittlere, durch face-to-face-
Interaktionen überbrückbare Transzendenz zwischen zwei Akteuren.51 Im
Akt der Bildwahrnehmung wird der Betrachter aus der Alltagswirklichkeit
herausgerissen und in die Bildwirklichkeit hineingezogen, im Akt des Bild-
verstehens aber auch wieder von dieser Bildwirklichkeit auf die Hand-
lungswirklichkeit des Akteurs verwiesen, weil ein Verstehen nur mit Rekurs
auf einen gesellschaftlichen Wissensvorrat möglich ist. Die Intention des
Bildes erfüllt sich schließlich nicht in der Beschaulichkeit des interesselosen
Wohlgefallens an dem Bildinhalt, der Prosopopöie des Politischen, oder an
der Form des Bildaufbaus, die sich als Allegorie der Repräsentation lesen
lässt,52 sondern erst, mit Hegel gesprochen, in der Reflexion auf die durch
das Sehen inaugurierte Erfahrung des Bewusstseins.
räns.53 Der Blickkontakt auf gleicher Augenhöhe stellt Nähe her, ein Ein-
druck, den die geöffneten Arme des Souveräns – sowohl Einladungs- als
auch Schutzgeste – unterstreichen. Der Betrachter wird aufgefordert, sich
unter die schützenden Arme des mit den Insignien der geistigen (Bischofs-
stab) und der weltlichen Macht (Schwert) bewehrten Souveräns zu begeben
und sich in die den Körper des Souveräns bildende Menschenmenge einzu-
reihen. Der wechselseitige Anerkennung signalisierende und face-to-face-Inter-
aktion eröffnende Blickwechsel auf gleicher Augenhöhe scheint sich »mi-
krologisch« und en detail im zentralen Bildinhalt zu wiederholen, so als ver-
körpere die Figur nach dem caput-corpus-Schema die Repräsentationsbe-
ziehung, die der Betrachter als »inneres Bild« im Kopf entwirft: Auf den aus-
gestreckten Armen der Figur sieht man Menschen in Richtung der den
Oberkörper der Figur bildenden Menge strömen. Alle den Körper der Figur
bildenden Menschen blicken auf den Kopf derselben, einige sogar in knieen-
der Pose. Aber der Blick der Menge findet keine Erwiderung. Die Einladung
zur Annäherung schlägt um in eine Distanzmarkierung und in einen Akt der
Huldigung zwischen Ungleichen. Der Beobachter versetzt sich, ästhetisch
verführt durch die Inszenierung des »guten Hirten«, in die unter dem – durch
die Insignien der Macht symbolisierten – Baldachin im Körper des Souve-
räns vereinte und zu seinem Kopf aufschauende Menschenmenge. Unmerk-
lich hat sich eine asymmetrische und schließlich hierarchische Machtbezie-
hung hergestellt, die den Betrachter mit einbezieht, aber »ungreifbar« bleibt,
weil sie das im Bild Dargestellte übersteigt.
Differenz und Distanz des Souveräns zu dem seinen Körper bildenden
Landvolk wird durch das metaphorische Symbol (»eins fürs andere«) des
den Wassern entsteigenden Meeresungeheuers Leviathan dargestellt.
Zugleich tritt der künstliche politische Körper aber auch als Ganzer in
Distanz zur alltäglichen Lebenswelt, die unterhalb der Figur sichtbar wird,
wie die Festtagskleidung der am Huldigungsritual Teilnehmenden unter-
streicht. Gemeinsam bilden caput und corpus – jetzt als Manifestation einer
metonymischen Beziehung (»pars pro toto«) – das Inselreich des Common-
wealth. Ein Commonwealth ist mehr und anderes als eine Ansammlung von
——————
53 Eingehendere Beschreibungen und Deutungen des Titelbildes finden sich bei Margery
Corbett/Ronald Lightbown, The Comely Frontispiece. The emblematic Title-Page in
England 1550-1660, London/Henley/Boston 1979; Brandt, Titelblatt [wie Anm. 38];
Matala de Mazza, Verfaßte Körper [wie Anm. 6]; Bredekamp, Thomas Hobbes [wie
Anm. 10] u.a. Die folgende Analyse beschränkt sich auf die für das vorgetragene Argu-
ment wesentlichen Bildelemente.
36 DIRK TÄNZLER
Menschen und hat sein Vorbild im Himmelreich Christi im Sinne der uni-
versitas-Idee. Der künstliche Gott des Leviathan ist also nicht nur ein Eben-
bild des fürchterlichen und unberechenbaren deus absconditus Calvinscher
Prägung.54 Zu diesem Eindruck passt die Miene des Souveräns auf dem
Frontispiz nicht, der alles andere als grimmig und Angst einflößend schaut,
sondern wie ein gütiger Vater, ja freundlich und barmherzig wie Jesus
Christus, den Menschen nah und ähnlich – ein Nähe suggerierendes, daher
für die Identitätsrepräsentation prädestiniertes Objekt. Die Beziehung zwi-
schen Souverän und Volk ist also durchaus ambivalent.55
Tatsächlich schauen die den Körper des Leviathan bildenden Men-
schen nicht nur gebannt auf den Souverän, sondern repräsentieren sich
und kommunizieren auch unterein-
ander; in anderen Versionen des Fron-
tispizes (vgl. Abb. 2) wenden sie sich
gemeinsam mit dem Souverän sogar
dem Betrachter zu allerdings ver-
schwindet hier die im Original von
1671 gezeigte »Repräsentationsoptik«.
Beide Formen der Repräsentation –
die zur Verleugnung zwingende Stell-
vertretung (Repräsentation) und die
reziproke Darstellung der bürgerli-
chen Identitäten (Präsentation = Per-
formanz) – stehen aber nicht unver-
mittelt oder gar unvereinbar neben-,
beziehungsweise gegeneinander, son-
dern im Wechselverhältnis. Erniedri-
gung und Erhöhung werden im
Hegelschen Sinne rituell aufgehoben
und bilden eine neue, mystische
Abbildung 2: Abraham Bosse, Leviathan,
Frontispiz von Thomas Hobbes, Qualität. Die absolute Macht des
Le Corps Politique 1652. Souveräns zwingt zur Vortäuschung
——————
54 »Der hervorragende englische Kenner dieser Epoche religiöser Kämpfe und Begriffsbil-
dungen, John Neville Figgis, sagt sogar, der Gott des Calvinismus sei der Leviathan des
Hobbes, mit einer weder durch Recht, noch Gerechtigkeit, noch Gewissen einge-
schränkten Allmacht.« (Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 49f.).
55 Auch darauf hat schon Carl Schmitt hingewiesen. Gerade in seiner Kontrastierung zum
Behemoth erscheint der Leviathan als »Symbol schützender und gütiger Gottheiten«
(Schmitt, Leviathan [wie Anm. 18], S. 19).
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 37
universitas durch, die den Souverän zum Stellvertreter Gottes und damit
schließlich zu einem von Menschen geschaffenen künstlichen Abbild des
wahren Herren macht. Gott als der absolute Referent erscheint aber nur
in der durch den Betrachter gestifteten Repräsentationsbeziehung, und
die Repräsentation wiederum existiert nur in der Imagination aller Bild-
betrachter. So gesehen würde das Auslöschen der Identität des Betrach-
ters – die, kantisch gesprochen, alle meine performativen Akte, zu denen
ich als soziales Wesen fähig bin, muss begleiten können – auch Gott und
den Souverän zum Verschwinden bringen.
Die Repräsentation ist nicht Täuschung oder Verfälschung, sondern Kon-
stitution einer symbolischen Wirklichkeit, einer anderen, künstlichen Welt, in
der sich eine höhere Wahrheit offenbart als sie sich in Worte fassen ließe. In
ihr allein, nur in diesem über das Medium Bild hergestellten Schwellen- und
Schwebezustand, in den sich der Betrachter versetzt, wenn er sich aus seiner
Wirklichkeit vor dem Bild in die Bildwirklichkeit begibt, existiert die communitas,
wie Victor Turner die Identitätsrepräsentation bezeichnet.58 Das Bild ist das
Medium einer rituellen Vergemeinschaftung und diese die imaginäre Repro-
duktion der politischen Urszene. Die universitas, die im nur von der societas han-
delnden Text als rätselhafter Grund der rationalen Ordnungskonstruktion, als
das »Nichtkontraktuelle des Kontraktes«, ausgespart bleibt, stellt sich zwar
auch nicht im Bild dar, aber in der Bildbetrachtung her. Analog den transfor-
mierenden, in andere Zustände versetzenden Handlungen eines Rituals führen
die im Bild wie durch ein Kaleidoskop oder Perspektivglas59 gebrochenen
Blickwechsel in die imaginäre Sphäre der Repräsentation. Die rezeptive Ver-
senkung ins Bild ist die Bildung der die universitas stiftenden Identitätsreprä-
sentation oder außeralltägliche Erfahrung der communitas.
——————
58 Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M. 2000.
59 Bredekamp, Thomas Hobbes [wie Anm. 10], S. 83ff. u. 95ff.
60 Ein Vergleich von Hobbes’ Leviathan mit Geertz’ Negara wäre reizvoll. Der Hinweis
muss genügen, dass trotz aller Unterschiede – auf Bali gilt die Theorie der zwei Körper
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 39
lich, dass allein die Idee der »gemischten Verfassung« der Realität moder-
ner politischer Systeme gerecht wird. Die repräsentative Demokratie stellt
eine Synthese aus Demokratieprinzip und Amtsprinzip dar, wobei unter
der Prämisse der Identitätsrepräsentation das Stellvertretungs- oder
Amtsprinzip als die Befugnis angesehen wird, für andere verbindlich zu
entscheiden.67
Wie Carl Schmitt hat auch Eric Voegelin das »technische« Prinzip der
Stellvertretung – er spricht in seiner Kritik an der positivistischen Politik-
wissenschaft von deskriptiver Repräsentation – als »begrifflosen Begriff«
zurückgewiesen und demgegenüber zwischen expressiver und transzen-
denter Repräsentation unterschieden. Expressive und transzendente Rep-
räsentation stehen bei Voegelin nicht nur wie die entsprechenden Begriffe
der Repräsentation und Identität bei Schmitt in einem unauflöslichen
Wechselverhältnis, sondern sind auch hierarchisch geordnet. Als expressive
Repräsentation fasst Voegelin den Vorgang der Artikulation der politischen
Gesellschaft in einem Repräsentanten, die das Politische wirklich werden
lässt. Das so symbolisch konstituierte Politische verweist als universitas auf
eine transzendente Repräsentation: die Autorisierung der politischen Wirk-
lichkeit durch eine höhere, eben transzendente Ordnung und einer darauf
gegründeten Selbstauslegung des Seinsverständnisses. Die rationale Kon-
struktion der societas ist – das zeigt schon die Rekonstruktion des Leviathan –
immer auch eine verkappte universitas. Voegelin versucht auf diese Weise
den in der Moderne verlorengegangenen Zusammenhang zwischen der
politischen Theorie und der – insbesondere religiösen – Erfahrung des
Menschen und seines darauf gegründeten Seinsverstehens wieder herzu-
stellen. Einem solchen, der abendländischen Metaphysik verpflichteten
Ansinnen konträr ist die Proklamation einer Krise der Repräsentation. Die
Autorisierung, das Zentrum der Hobbesschen Repräsentationstheorie, hat
in den postmodernen Theorien zugunsten der Artikulation abgedankt. Wer
spricht? – mit dieser einfachen Frage verabschiedet Foucault den Autor
und überlässt dem Diskurs als eigentlichem Akteur die Bühne.68 Dem
Souverän wird der Kopf abgeschlagen, personifizierte Herrschaft weicht
anonymen Mächten. Auch auf dem Theater (und in den Theaterwissen-
schaften) wird der Text und der Autor zunehmend durch die Inszenierung
——————
67 Eckehard Jesse, Typologie Politischer Systeme der Gegenwart, in: Bundeszentrale für
politische Bildung (Hg.), Grundwissen Politik, Schriftenreihe Bd. 302, o. O. 1993,
S. 165-227.
68 Foucault, Ordnung des Diskurses [wie Anm. 62].
42 DIRK TÄNZLER
——————
69 Georg Simmel, Das Problem des Stils, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 8, Aufsätze und
Abhandlungen 1901-1908 (II), Frankfurt/M. 1993, S. 374-384; Plessner, Anthropologie
[wie Anm. 12]; Goffman, Theater [wie Anm. 4].
70 Jean Baudrillard, Selected Writings, hg. von Mark Poster, Stanford 2001.
REPRÄSENTATION ALS PERFORMANZ 43
Identität scheinbar desavouiert hatte. Nach dem Krieg tat sich die Bundes-
republik schwer, eine neue Identitätsrepräsentation zu formulieren. Dolf
Sternberger prägte die dann von Jürgen Habermas popularisierte Vorstel-
lung vom Verfassungspatriotismus als einer rationalen Zivilreligion, die
Identitätsrepräsentation auf den nüchternen Charme von Verfahren redu-
zieren sollte.
Der Mangel an politischer Ästhetik,71 die hier offenbar wird, aber weni-
ger ein Ergebnis der Modernisierung als vielmehr des Rückfalls in die Bar-
barei geschuldet zu sein scheint, ist es wohl, der Historiker motiviert, sich
der Tradition politischer Repräsentation zu vergewissern, um neue Deu-
tungshorizonte für die ungelöste Frage zu öffnen. Die deutschen Reichs-
tage der Frühneuzeit waren, so Barbara Stollberg-Rilinger, nicht so sehr
Beschlusskörperschaften, die wie unsere modernen Parlamente kollektiv
bindende Entscheidungen generierten, sondern symbolisch-rituelle Insze-
nierungen eines wohlgeordneten und hierarchisch gegliederten Ganzen,
das in dieser Realpräsenz allererst in Erscheinung trat.72 Umgekehrt gilt
aber auch, dass die modernen Parlamente und Politiker diese urpolitische
Ritual- und Priesterfunktion der Repräsentation erfüllen müssen. Es besteht
in der Mediendemokratie sogar die Gefahr, dass diese Seite der Repräsen-
tation allzu sehr in den Vordergrund rückt und den Eindruck von bloßem
Politiktheater entstehen lässt. Mit ihrer fast vollständigen Verlagerung auf
die Schaubühne des Fernsehens wandelt sich die Identitätsrepräsentation
von der rituellen Selbstaffirmation des Volkes als politischer Souverän (die
auf Wahlbeteiligung reduziert zu werden droht) zur Imagekonstruktion des
politischen Personals. Die symbolische Politik der höfischen Repräsenta-
tion hatte ihren Ort im Parlament; die schleichende Reduktion des »Ar-
beitsparlaments« auf reine Interessenstellvertretung dürfte dagegen, weil als
symbolische Politik im eigentlichen Sinne nicht mehr erkennbar, langfristig
dessen Legitimität in den Augen der Wähler aushöhlen.
Gegenüber dem sich auf das Parlament beziehenden Verfassungspatri-
otismus stellt sich die »wahre« Identitätsrepräsentation heute also über die
mediale Performanz der Politiker her. Nicht in der Fiktion vom herr-
schaftsfreien Diskurs findet das Volk seine imaginäre Selbstaffirmation,
——————
71 Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik, in: Merkur Sonderheft 9/10 (1986), S. 719-724.
72 Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und
Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch
(Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Zeitschrift für historische
Forschung Beiheft 19, Berlin 1997, S. 91-132.
44 DIRK TÄNZLER
——————
73 Cornelia Koppetsch, Die Verkörperung des schönen Selbst. Attraktivität als Image-
pflege, in: Herbert Wilhelms (Hg.), Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte.
Produktion und Rezeption. Entwicklungen und Perspektiven, Wiesbaden 2002, S. 359-
382; Dirk Tänzler, Politisches Charisma in der entzauberten Welt, in: Peter-Ulrich Merz-
Benz und Gerhard Wagner (Hg.), Politische Grundbegriffe, Weilerswist 2006 (in Vor-
bereitung).
Literarische Repräsentation – Über-
legungen zur Doppelungsstruktur des
Repräsentativen: Hölderlins Gedicht
An eine Fürstin von Dessau
Jan Andres
I. Einleitung
Der Begriff der »Repräsentation« ist zentral in der Politik- und Rechtswissen-
schaft, in der Philosophie und der Geschichtswissenschaft und nicht zuletzt
auch in der Psychologie. Hier aber sollen im Folgenden Ansätze zu einem
Modell von Repräsentation als Präsentation und Performanz entwickelt werden, die
ihren Ursprung – und auch ihr primäres Erkenntnisinteresse – in der Litera-
turwissenschaft haben. Für diese Überlegungen werde ich mich in weiten Tei-
len an Wolfgang Isers Aufsatz über die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven
orientieren.1 Im zweiten Teil des Aufsatzes werde ich mich aber vorher einem
recht wenig interpretierten Hölderlin-Gedicht zuwenden; im dritten Teil erste
Überlegungen zu einer Repräsentationstheorie des Literarisch-Repräsentativen
vorstellen; ein Ausblick beschließt den Aufsatz.
——————
Wolfgang Braungart, Lothar van Laak und Matthias Schwengelbeck danke ich für Kritik
und Anregungen. Eingebunden in einen größeren Zusammenhang von Ästhetik und
Literatur des Politischen finden sich diese Überlegungen jetzt in meiner Studie: »Auf
Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik
im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2005.
1 Wolfgang Iser, Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, in: Dieter Henrich/
Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik X),
S. 497-510.
46 JAN ANDRES
folgende Gedicht geschrieben, das je nach Ausgabe als Aus stillem Hauße
senden2 oder An eine Fürstin von Dessau3 betitelt ist:
——————
2 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Michael Knaupp, 3 Bde., Mün-
chen 1992, S. 255f.
3 So etwa in Friedrich Hölderlin, Gedichte. Hg. v. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit
Wolfgang Braungart. Nachwort von Bernhard Böschenstein, Stuttgart 2000, S. 196.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 47
——————
8 Zur Geschichte der Ode und ihrer Funktionen vgl. immer noch den klassischen Über-
blick von Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923, S. 173. Einfüh-
rend in die neuere Forschung Dieter Burdorf, Artikel Ode, in: Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin/New York 2000, S. 735-739;
für den englischen Sprachraum John D. Jump, The Ode. Fakenham 1974; zur Odenthe-
orie: Hans-Henrik Krummacher, Poetik und Enzyklopädie. Die Oden- und Lyriktheorie
als Beispiel, in: Franz M. Eybl u.a. (Hg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu
ihrer Erforschung, Tübingen 1995, S. 255-285; auch Wolfgang Braungart, Hymne, Ode,
Elegie. Oder: Von den Schwierigkeiten mit antiken Formen der Lyrik (Mörike, George,
George-Kreis), in: Achim Aurnhammer/Thomas Pittroff (Hg.), »Mehr Dionysos als
Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt/M. 2002, S. 245-271;
schließlich Ulrich Schödlbauer, Odenform und freier Vers. Antike Formmotive in
moderner Dichtung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 23
(1982), S. 191-206.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 49
können, wenngleich nur für kurze Zeit und nie auf Dauer, dem Menschen
den Arkan-Bereich des Heiligen und Göttlichen anschaulich machen. Die
Lieblinge sind das »edle Bild«, das an das »Herz« der Sterblichen reichen
und es »erfreuen« kann. So entsteht die Erinnerung als Form des Wissens
und der Gewissheit im Menschen, dass es die Götter gibt und sie ihnen
wohlgesonnen sind.
Diese stille und bescheiden auftretende Einleitungsstrophe enthält gera-
dezu anthropologische und basale theologische Einsichten. Denn Hölderlin
behauptet hier doch nichts anderes, als dass sich das Heilige und damit die
Religionen darstellen müssen, um Dauer und Sicherheit gewinnen zu kön-
nen. Er beteiligt sich so auch an den um 1800 stattfindenden Diskussionen
um die Rolle und die Funktion des Mythos.9 Mythos und Poesie, der Mythos
in der Poesie werden als Möglichkeiten sinnlicher Erkenntnis verstanden.
Der Mythos könne Natur und Kunst vermitteln, er sei weltbildend, erkennt-
nisleitend. So die Hoffnung um 1800; und das scheint auch die implizite Ar-
gumentation dieser Strophe zu sein. Religionen ohne Bildsysteme im wei-
testen Sinn sind zum Scheitern verurteilt. Von Zeit zu Zeit und wenn auch
nur für »kurze Zeit« muss sich das Heilige und Göttliche im »edlen Bilde«
dem Sterblichen präsentieren und ihn so affizieren.10
Religion als Praxis des Heiligen ist damit auch strukturell kongruent mit
Herrschaft als Praxis der Macht. Beide bedürfen existenziell der Darstel-
lung als Bedingung der Möglichkeit ihrer Wirkmacht. Für den Menschen
heißt das, dass er als Sinnenwesen seine je individuell gültige Lebens- und
Umwelt konstruktiv durch Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen
erstellt. Er braucht diese Erfahrungen, zu denen die großen Epiphanien
zumindest gehören können, um Sicherheit und manchmal auch Freude
empfinden zu können. Der Gefühlshaushalt, die Psyche, von Menschen
wird nicht unwesentlich durch »edle Bilder«, durch sinnliche Eindrücke,
durch ästhetische Erfahrungen reguliert.
——————
9 Aus der umfangreichen Forschung vgl. hier nur Manfred Frank, Der kommende Gott.
Frankfurt/M. 1982; ders., Gott im Exil, Frankfurt/M. 1988; Christoph Jamme, Einfüh-
rung in die Philosophie des Mythos. 2. Bde, Darmstadt 1991 u. 1996; Gerhart von
Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987.
10 In religionstheoretischer Hinsicht ist deshalb natürlich das alttestamentliche und jüdi-
sche Bilderverbot mindestens problematisch und erklärungsbedürftig. Das Verbot, sich
ein Bildnis Gottes machen zu dürfen, rührt an die Grundlagen von Religion überhaupt.
Religionen brauchen notwendig Ausdruckssysteme. Die christliche Religion hat das Bil-
derverbot umgangen, indem es sich den, vor allem katholischen, Ritus geschaffen hat.
Der katholische Gottesdienst ist eine Form, sich ein »Bild« im weiteren Sinn der Reli-
gion zu machen. Er ist allerdings kein Bild Gottes im engeren Sinn.
50 JAN ANDRES
Hain ist geheiligter Bezirk. Luisium ist wie der Götter-Garten ein locus
amoenus.
Die Anrede an das »Du« setzt die folgende Strophe fort und treibt da-
bei die Erhöhung der Angesprochenen weiter fort. Die Adressatin, die
Fürstin, wird als Priesterin beschrieben. Damit wird sie erstens direkt auf
das Heilige bezogen.12 Als Priesterin ist sie Sachwalterin der Götter. Zwei-
tens wird die Vermittlerrolle der Priesterin klarer. Sie hat ihres »Tempels
Freuden« verlassen, um zu »uns« zu kommen. Eine Hierarchisierung, die
dem Gedicht zugrunde liegt, wird deutlich. Das Personal des Gedichts ge-
hört drei Gruppen an: Erstens den Göttern oder zweitens den Sterblichen
– die Gruppe des »Wir« –, oder es ist drittens von der Priesterin die Rede.
In dem Moment, da Ungemach droht und die Sterblichen sich den Zorn
der Götter zugezogen haben, tritt die Priesterin auf. Sie ist den beiden
Sphären gleichermaßen zugeordnet. Sie kann Leid und Gefahr abwenden.
Sie ist die Mittlerin.
Dabei handelt sie selbstlos. Schon im Sakralbereich ihres Tempels war
sie den Menschen »teuer«. In Anspielung auf den Vesta-Kult war sie Hüte-
rin des Feuers und hätte ihre Aufgabe auch auf den Tempel beschränken
können.13 Aber sie wendet sich auch den Sterblichen zu. Die vierte Strophe
ist deshalb in sich zweiteilig. Wiederum gibt es den Ort des Überzeitlichen,
den Tempel. Er ist, wie das Haus der Götter, ein Ort der Stille. Er ist auch
der eigentliche Ort der Priesterin. »Da du dort« warst – die Assonanzen
unterstützen diese Verweisung schon rein lautlich. Aber sie wendet sich
dem Zeitlichen zu und wird den Sterblichen dadurch »teurer heute«. Denn
jetzt gilt nicht mehr nur: »da du dort« behütetest, sondern: »da du Zeiten der
Zeitlichen seegnest«. Es hat eine Verschiebung stattgefunden. Die Assonan-
zen nehmen auf, wie sich die Priesterin über ihren Tempel hinaus den
Menschen zuwendet. Weil sie so handelt, kann es in der Sphäre des Sozia-
len und Zeitlichen zur segnenden Feier, zum praktizierten Gottesdienst
kommen. Jetzt hat die Priesterin ihre eigentliche Bestimmung erfüllt. Ihr
»edles Bild« erinnert die Sterblichen an die Götter. In diesem Sinne ist die
——————
12 Vgl. bspw. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen,
Reinbek b. Hamburg 1957. Mit anderen Implikationen, aber ebenfalls ein Standardwerk
zum Thema: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen
und sein Verhältnis zum Rationalen, 13. Aufl., Gotha 1925.
13 Schmidt weist im Kommentar seiner Ausgabe darauf hin, dass das »göttliche Feuer«
auch für die Sphäre eines offenen und humanistischen Geistes stehen kann. Für diese
Atmosphäre war der Dessauer Hof berühmt. Vgl. Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie
Anm.5], S. 650.
52 JAN ANDRES
Fürstin aus Hölderlins Ode eine charismatische Priesterin: sie ist gnaden-
begabt. Der Begriff des »Charisma« meint genau das: eine Begabung, die
durch die Gnade einer höheren, heiligen Instanz vergeben und legitimiert
ist. Aus diesem theologischen Kontext ist der Begriff von Max Weber und
anderen in soziologische und politische Zusammenhänge überführt wor-
den. Allerdings blendet Weber meines Erachtens mindestens eine Konse-
quenz dieses Transfers aus. Wenn der Charismatiker politischer Führer ist
und diese Führung nur seiner Gnadenbegabung entspringt, ist die Gefolg-
schaft in letzter Konsequenz von allen Verantwortungen für ihr Handeln
entbunden. Denn dem Gnadenbegabten kann man sich letztlich nicht wi-
dersetzen. Seine Legitimation ist nicht anzuzweifeln, denn sie entspringt
dem Heiligen. Wendet man diesen Begriff auf politische Verhältnisse und
Handlungen an, ist er ethisch ausgesprochen problematisch, weil er jede
individuelle Verantwortung schlussendlich negiert.
Soweit reichen Hölderlins Verse allerdings nicht. Wie die erwähnte Er-
innerung geschieht, führt die fünfte Strophe vor. Hier findet man jenen
Ton, der einem so typisch für Hölderlin erscheinen will. Ein Thema wird
ganz allgemein, fast gnomisch aufgenommen. Die Strophe gleicht insge-
samt einer lyrisch formulierten Lebensweisheit. Solche Formen spruch-
hafter Dichtung kommen bei Hölderlin immer wieder und oftmals überra-
schend vor. In den komplexesten Zusammenhängen fallen die einfachsten
und grundlegendsten Sätze. Deshalb sind sie oft so anrührend. Die Ge-
dichte Das Gasthaus. An Landauer und Stutgard. An Siegfried Schmidt, zwei
weitere Widmungsgedichte aus dem Foliobuch und der Zeit um 1800, ent-
halten ebenfalls solche Sentenzen.14 Im Gasthaus heißt es zum Schluss der
zweiten Strophe: »Möge der Zimmermann vom Gipfel des Daches den
Spruch thun,/Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.«15 Da bleibt
dem Leser nicht viel zu sagen. Man kann nach jedem getanem Werk nur
hoffen, dieser Einsicht zustimmen zu können. Die Elegie Stutgard beginnt
sogar mit einer solchen, fast lakonischen Feststellung: »Wieder ein Glück
ist erlebt.«16 Diese melancholische Ausgangshaltung formuliert und variiert
——————
14 Vgl. zu den Gedichten Wolfgang Braungart, »Komm! Ins Offene, Freund!« Zum
Verhältnis von Ritual und Literatur, lebensweltlicher Verbindlichkeit und textueller Of-
fenheit. Am Beispiel von Hölderlins Elegie »Der Gang aufs Land. An Landauer«, in: Iris
Denneler (Hg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu
Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 96-114. »Der Gang aufs
Land« ist ein anderer Titel für »Das Gasthaus«.
15 Hölderlin, Werke, Ed. Knaupp [wie Anm. 2], S. 309.
16 Ebd., S. 310.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 53
immer die Gefahr, dass die Sterblichen bloß »dämmernde Gestalten« blei-
ben. Es obliegt der Fürstin, zur Priesterin zu werden, den Tempel zu ver-
lassen und den Segen zu spenden.
Die beiden abschließenden Strophen müssen schließlich zusammen
gelesen werden. Sie bilden inhaltlich und gedanklich eine Einheit, die auch
der Verssprung zwischen den Strophen formal ausdrückt. Die ganze
sechste Strophe bereitet einen Vergleich vor, den die siebte dann vollzieht.
Die Versanfänge »Und wie« (sechste Strophe) sowie »So ist« (siebte Stro-
phe) spiegeln grammatisch die Verwiesenheit der Strophen aufeinander
wider. Das Leben der Priesterin/Fürstin wird mit einem Regenbogen, dem
alten Symbol von Frieden und Harmonie, verglichen.19 Er erscheint »auf
dunkler Wolke«, also angesichts drohenden Unwetters. Aber er selbst
»blühet« und weist sowohl zurück in die Vergangenheit wie voraus in die
Zukunft, er verbindet Rückschau, Gegenwart und Ausblick. So wie der
Regenbogen ist auch die Fürstin als Mittlerin zwischen Menschen und
Göttern. Wie der Bogen Himmel und Erde zu verbinden scheint, »so ist
auch dein Leben, heilige Fremdlingin!« Die Verse sind wohl auch ein Ver-
weis auf die Bibel. Im ersten Buch Mose, Vers 13f. ist der Regenbogen
Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen.20 Auch die Fürstin
kann in ihrem Tempel, nämlich in Luisium, die Vergangenheit betrachten.
Sie kann die Ruinenarchitektur ihrer Gärten täglich besuchen. Aber sie
sieht in den Parks auch immer »neues Grünen«, zyklisches Blühen der
Natur, den stets wiederkehrenden Frühling als Zeichen von Zukunft und
Aufbruch. So wie die Fürstin als Priesterin Menschen und Götter zu verei-
nen vermag, ist sie zugleich lebende Einheit der Zeit. Damit ist sie der Zeit
aber zugleich enthoben. Raum und Zeit als Einheiten der Differenz und
des Abstands werden in ihrer Person aufgehoben. Deshalb ist sie die »hei-
lige Fremdlingin«. Letztmalig wird die Fürstin attributiv auf die Götter und
das Heilige verwiesen. In seinem berühmten Gedicht Brot und Wein. An
Heinze beschreibt Hölderlin mit »Fremdlingin unter den Menschen« die
aufkommende Nacht.21 Auch in diesem Gedicht benutzt er den Begriff,
um etwas zu beschreiben, das Staunen macht, das dem Menschen fern und
——————
19 Vgl. dazu etwa auch Klopstocks Gedicht »Frühlingsfeier«, in dem der Regenbogen eben-
falls der »Bogen des Friedens« ist.
20 Vgl. auch Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm. 5], S. 652.
21 Vgl. Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in: Hölderlin, Werke, Ed. Schmidt [wie Anm.
5], S. 285ff.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 55
doch zugleich eigen ist. So wird auch hier die Fürstin von Dessau in ihrer
Position des Sowohl-als-auch bestimmt.
Ob die Ode Fragment ist, wie der Kommentar der Münchner Ausgabe
vermutet, ist für die Interpretation nicht mehr entscheidend. Denn die
grundlegende Konstellation ist auch so ausreichend bestimmt. Die Fürstin,
die durch das Gedicht gepriesen wird, wird durchgängig zwei Sphären zu-
gewiesen. Zwischen diesen Bereichen hat sie die Aufgabe der Mittlerin.
Wenn sie ihre Aufgabe gut erfüllt, können sich die Menschen an ihr er-
freuen.
Reduziert man die Ode auf diese Kernaussage, ist es legitim, das reprä-
sentierende Herrscherlob zugleich als Fürstinnenspiegel zu lesen. Denn das
Lob beinhaltet eine Aufgabe und ist insofern auch Aufforderung. Auch die
Fürstin ist zwei sozialen Bereichen zugeordnet. So wie die Priesterin zwi-
schen Göttern und Menschen vermittelt, ist die Fürstin als Landesherrin
die Verbindung von Hof und Volk. Eine Herrschaft, die noch durch das
Gottesgnadentum begründet und unhintergehbar ist, kann so ethisch ver-
pflichtend verstanden werden. Sie ist nicht nur ein Recht. Denn weil das
Recht von Gott stammt, ist es ein ganz besonderes. Aus ihm leiten sich
andere, umfassendere Pflichten ab, als es vordergründig scheint. Weil sich
aber die beiden Modelle von Religion und Macht strukturell gleichen, ist
Hölderlins Ode implizit eine Aufforderung zu guter Herrschaft. Zumindest
kann das Gedicht auch so gelesen werden. Religiöse Praxis und herrschaft-
liche Praxis werden enggeführt. Die repräsentierende Panegyrik ist zugleich
ethisch-soziales Programm.
——————
22 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Gedicht und Gespräch. Überlegungen zu einer Textprobe
Ernst Meisters, in: ders., Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt/M. 1990, S. 165-182.
Der Band versammelt einige Essays Gadamers zur Dichtung und zu Dichtern wie
George, Hölderlin oder Celan, die ihn zeitlebens immer wieder beschäftigt haben.
56 JAN ANDRES
Textes als Text, gleichsam seiner Oberfläche, kann man weitere Funktio-
nen und Aussagen des Gedichts ausmachen. Eine Eigenart, die dem Text
gleichsam vor- oder übergeordnet ist, liegt im Charakter der Ode, ein
Widmungsgedicht zu sein. Die Fürstin von Dessau wird direkt und per-
sönlich durch den Text von seinem Autor angesprochen. Zwar gilt auch
hier die obligatorische Trennung von Autorsubjekt und lyrischem Ich.23
Das Gedicht selbst macht aber spätestens in der zweiten Strophe deutlich,
dass hier auch der historische Autor Hölderlin etwas sagen will. Die be-
rüchtigte Frage: Was will uns der Autor damit sagen?, hat in einem solchen
Fall dann doch einmal ihre Berechtigung. Denn Widmungsgedichte sind in
besonderer Weise symbolische Handlungen.24 Durch die Widmung, die
hier im – wenngleich nachträglichen – Titel, vor allem aber der zweiten
Strophe steckt, gewinnt das Gedicht eine neue Qualität. Es wird über den
Kunstwerk-Status hinaus eine Form sozialer Gabe. Überspitzt gesagt, be-
schenkt Hölderlin die Fürstin mit dem, was er am besten kann und was er
selbst am höchsten schätzt – seiner Dichtkunst. Weil das Gedicht so kon-
kret in einen sozialen Zusammenhang eingelassen ist, seinen identifizierba-
ren »Sitz im Leben« hat, muss man es sogar in dieser Hinsicht autobiogra-
phisch lesen, um den sozio-symbolischen Dimensionen auf die Spur zu
kommen.
Abstrakter gesprochen lässt sich Hölderlins Gedicht als Ansprache an
eine adelige Standesperson der größeren Gruppe des Herrscherlobes zu-
rechnen. Es ist vermutlich anlässlich eines Besuches, zumindest aber als
Reflex auf diesen, entstanden. Es ist insofern ein preisendes Gelegenheits-
gedicht, das als Medium und Ort der Erinnerung zwischen den beiden be-
teiligten Personen steht. Trotzdem, und das gilt generell für jede Gelegen-
heitsliteratur, lässt es sich auch als Kunstwerk lesen und verstehen. Diese
beiden Eigentümlichkeiten schließen sich nicht aus.
Kasualgedichte sind in der literaturwissenschaftlichen und vor allem
rhetorischen Forschung immer wieder als Beispiele für das Thema litera-
risch-ästhetische Repräsentation herangezogen worden: Bei ihnen handele
es sich um rhetorische Repräsentationen, Herrscherpanegyrik als »Feier-
tagsrhetorik« solle repräsentieren und den Besungenen im Sinne der Epi-
——————
23 Vgl. Dieter Burdorf, Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart 1995; Dieter Lamping,
Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen
1989.
24 Zum Begriff vgl. Kenneth Burke, Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der
Literatur, Frankfurt/M. 1966.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 57
——————
Fragen der Repräsentation. Vgl. aus soziologischer Sicht bes. den Aufsatz Hans-Georg
Soeffner, Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur gesellschaftli-
chen Darstellung des Wahrzunehmenden, in: Ebd., S. 43-64. Wichtig ebenfalls: Pierre
Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (1991),
S. 489-515.
30 Eckart Scheerer, Art. Repräsentation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.
v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 8, Darmstadt 1992, Sp. 790-797, hier Sp. 790.
31 Vgl. beispielsweise den DFG-Band zur Krise der Repräsentation: Erika Fischer-Lichte
(Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart u.a. 2001. Die wichtigen
Arbeiten, die den Weg in dieser theoretischen Hinsicht bereitet haben, sind: Michel
Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frank-
furt/M. 1971 und Jaques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1972. In
ihrer Nachfolge ist die These vom »Ende der Repräsentation« immer wieder und unter-
schiedlich überzeugend wiederholt worden.
32 Vgl. Scheerer, Art. Repräsentation [wie Anm. 30].
33 Ebd., Sp. 790.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 59
——————
34 Vgl. Martin Fuchs, Kampf um Differenz. Repräsentation, Subjektivität und soziale
Bewegungen: das Beispiel Indien, Frankfurt/M. 1999, bes. Kap. 5.5: Politik der Reprä-
sentation, hier S. 393. Fuchs plädiert für einen weiten, sozialwissenschaftlichen Reprä-
sentationsbegriff, der in der Lage ist, soziale Verhältnisse situationsabhängig und trotz-
dem ausreichend allgemein beschreiben zu können.
35 Horst Wenzel, Art. Repräsentation 2, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissen-
schaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 268-271, hier S. 268.
36 Zum Begriff vgl. Jutta Schlich, Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tü-
bingen 2002.
37 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthro-
pologie, Frankfurt/M. 1993, S. 481.
38 Diese These gilt meines Erachtens auch über die verschiedenen Verwendungen des Beg-
riffs hinweg. Vermutlich könnten sich alle Wissenschaften mit etwas Wohlwollen auf
diese Basis einlassen. Die Ableitungen, die dann gezogen werden müssen, fallen aller-
dings sicher ganz unterschiedlich aus.
60 JAN ANDRES
——————
50 So formuliert Iser mit Blick auf den Status des Fiktiven im Roman: Iser, Doppelungs-
struktur [wie Anm. 1], S. 502.
51 Ebd., S. 502.
52 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 485.
53 Ebd., S. 481.
54 Mit Bezug auf Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 484, der allerdings von Ver-
gegenständlichung des Nachgeahmten spricht. Er hat auch nicht primär Repräsentation
im Blick, wenn er diese Begriffe wählt. Sie sind in diesem Kontext problematisch, weil
natürlich nicht jede Versinnlichung, die die Repräsentation leisten kann, notwendig eine
Vergegenständlichung ist, obwohl sie sich als solche realisieren kann. Besonders aber
ahmt die Repräsentation nichts nach. Sie ist gleichwohl mimetisch, wenn man den
Begriff poietisch denkt. Wenn Mimesis weniger Nachahmung als Hervorbringung ist –
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 63
——————
was vermutlich näher an den aristotelischen Intentionen ist –, so ist allerdings jede Rep-
räsentation zugleich Mimesis.
55 Zum Begriff der Setzung vgl. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 503.
56 Vgl. vor allem die Forschungen von Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins.
Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt/M. 1992; ders./Rüdiger
Ontrup/Christian Schicha (Hg.), Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von
Mediendiskursen, Wiesbaden 2000; ders., Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik
durch das Mediensystem, Frankfurt/M. 2001; ders., Die Transformation des Politischen,
Frankfurt/M.1994. Vgl. jetzt auch Ute Frevert, Politische Kommunikation und ihre Me-
dien, in: dies./Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Media-
lität in der Geschichte, Göttingen 2004. Die Beiträge des Bandes, der aus einer Tagung
des Bielefelder SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«
hervorgegangen ist, widmen sich politischer Kommunikation allerdings wertfrei.
57 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 503f.
58 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 505.
64 JAN ANDRES
gehen, weil sie ja sonst selbst das Vorausliegende wäre.59 Aus der Differenz
resultiert die Inszenierung »als Form der Doppelung schlechthin, nicht zu-
letzt, weil in ihr die Bewusstheit herrscht, dass diese Doppelung [aus der
Differenz heraus] unaufhebbar ist.«60 Inszenierungen und Repräsentatio-
nen schaffen »Simulacra des [sonst] Unverfügbaren.«61
Konkret gesprochen: Die literarischen Repräsentationen in Form von
Panegyrik, Herrscherlob und der Kasuallyrik allgemein werden in der Regel
als Druck überreicht. Bereits mit der Übergabe und der Materialität des
Mediums beginnt die Inszenierung der Repräsentation. Ein Prunkdruck ist
rein äußerlich so deutlich von einer Handschrift unterschieden, dass er als
»besonders« ausgezeichnet ist. Zudem werden die Texte vorgetragen, auch
dann, wenn sie nicht als materiale, sondern symbolische Gabe dienen. Sie
haben, etwa bei nahezu allen Inthronisationen des 18. und 19. Jahrhun-
derts, ihren eigenen Ort im Herrschafts-Zeremoniell.
Nicht zuletzt haben Widmungen, wie bei Hölderlin, markierende
Funktion. Gerard Genette hat in seiner Untersuchung der Paratexte im
Kapitel zu den Widmungen diese noch von der Zueignung unterschie-
den. Beides seien differierende Handlungen: Die Zueignung sei die Wid-
mung eines einzelnen Werks, die Widmung beziehe sich auf ein Exemp-
lar eines Werkes, also auf die stoffliche Wirklichkeit eines einzelnen
Textes.62 Danach schließt er allerdings gerade solche Texte aus seiner
Überlegung aus, die hier interessieren. Er redet nicht mehr über Werke,
»die vollständig an einen besonderen Adressaten gerichtet sind wie [ …]
manche Oden, manche Hymnen [...].«63 Warum er das tut, wird nicht
richtig klar. Wichtig ist aber, dass der Unterschied von Zueignung und
Widmung bei Gelegenheitslyrik in der Regel gar nicht zum Tragen
kommt. Manchmal sind Werk und Exemplar identisch. Immer aber ist
die Gelegenheitslyrik sowohl stoffliche Wirklichkeit wie symbolische
Handlung. Der Adressat lebt zum Zeitpunkt des Verfassens, und die
Widmung ist »nicht nur ein symbolischer, sondern ein tatsächlicher
Akt«64 mit einer bestimmten Funktion. Der repräsentierende Akt zeigt
sich als solcher an. Schon die Darbringungsform – also der Handlungs-
——————
59 Ebd., S. 511.
60 Ebd., S. 511.
61 Ebd., S. 508.
62 Vgl. Gerard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M.
2001, S. 115.
63 Ebd., S. 115.
64 Ebd., S. 137.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 65
——————
65 Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 504.
66 Vgl. hier auch Hofmann, Repräsentation [wie Anm. 29], S. 65ff.
67 Vgl. hier mit einem soziologischen Schwerpunkt auch Hans-Georg Soeffner, Emble-
matische und symbolische Formen der Orientierung, in: ders., Auslegung des Alltags –
Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissen-
schaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989; bes. S. 162.
68 Es ist natürlich ein Unterschied in der Inszenierung, ob ein Text beispielsweise einem
Monarchen bei seiner Krönung unter einer Ehrenpforte übergeben wird, oder ob sich
der Text zum gleichen Anlass in der Tagespresse zwischen oder vor den Kleinanzeigen
66 JAN ANDRES
——————
72 Vgl. Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider, in: Thomas Frank u.a. (Hg.),
Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder,
Lektüren, Frankfurt/M. 2002, S. 15-21; der Band versammelt im zweiten Teil wissen-
schaftliche Lesarten zu verschiedenen Primärtexten.
73 Vgl. Iser, Doppelungsstruktur [wie Anm. 1], S. 506; allerdings mit Bezug auf den ästheti-
schen Schein.
68 JAN ANDRES
IV. Ausblick
Ich habe Literatur ausgehend von Hölderlins Gedicht als Gestaltung und
Vollzug von Macht und Herrschaft zu beschreiben versucht. Der präsen-
tative Zug von Panegyrik disponiert sie dazu, teilzuhaben an der Konstitu-
ierung des Politischen, indem die Kernbegriffe Macht und Herrschaft hier
——————
79 Iser, Das Fiktive [wie Anm. 37], S. 509.
80 Gneisenau in einem Brief an den König. Siehe Gneisenau Ein Leben in Briefen. Hg. v.
Karl Griewank, Leipzig 1939, S. 175.
70 JAN ANDRES
manifest werden. Insofern ist Literatur eine der Bedingungen der Möglich-
keit des Erscheinens des Politischen. Insofern ist literarische Repräsenta-
tion figurative Politik nach dem Ansatz von Dirk Tänzler und Hans-Georg
Soeffner.81 Ich hatte kurz angedeutet, dass Repräsentation und Symbolizi-
tät von Literatur zusammenhängen. Repräsentative Akte in der Literatur
sind fast immer auch symbolische Handlungen. Sie zeichnen etwas aus und
sie geben zugleich im kantischen Sinn wenn schon nicht immer viel, so
doch etwas zu denken. Das ist ihr Sinn und ihre Bedeutung. Der Sinn ist
Repräsentation, die Bedeutung ist Macht, die sich durch die Performanz
ergibt.82
Deswegen ist ein Verlust des Symbolischen und Ästhetischen immer
auch ein Verlust an gestalterischen Möglichkeiten. Deswegen kann man
Klage führen angesichts eines immer wieder konstatierten Verlustes politi-
scher Ästhetik in diesen Tagen. Je weniger Ästhetik, desto weniger Mög-
lichkeit zur Gestaltung des Politischen.83 Deswegen kann man Walter
Benjamins warnender These von einer Ästhetisierung des Politischen im
Faschismus und Nationalsozialismus die Überlegung vom Verschwinden
des Politischen ohne seine Ästhetisierung entgegensetzen. Benjamins
These war, dass der Faschismus die Massen im Führerkult vergewaltige.84
Die Masse werde gelenkt und verführt, indem man ihr die Möglichkeit
zum Ausdruck, nicht aber ihr Recht zukommen lasse. Diese Strategie der
Nationalsozialisten, eine solche Ästhetisierung des politischen Lebens,
münde unweigerlich im Krieg. Historisch hat Benjamin Recht behalten.
Systematisch darf man sein Argument, dass letztlich nicht begründet wird,
bezweifeln. Zumindest für die nicht-totalitären politischen Systeme des
achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, egal ob monar-
chisch oder demokratisch, kann man sehr wohl der Ansicht sein, dass das
Politische immer seiner Ästhetisierung im gestalterischen und versinnli-
chenden Verständnis bedurfte. Denn nur so war und ist es möglich, soziale
——————
81 Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht
in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002.
82 Locker angelehnt an Freges berühmte Unterscheidung von Sinn und Bedeutung; vgl.
Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: Zeitschrift für philosophische Kritik N.F.
100 (1892), S. 25-50; auch in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Hg. v. Gunther Pat-
zig, 5. Aufl. 1980, S. 40-66.
83 Vgl. auch Karl-Heinz Bohrer, Ästhetik und Politik sowie einige damit zusammenhän-
gende Fragen, in: Merkur 40 (1986), S. 719-724.
84 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar-
keit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei
Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/M. 1977, S. 7-44.
LITERARISCHE REPRÄSENTATION 71
I.
»Repräsentation von Herrschaft« hat auf den ersten Blick zwei unter-
schiedliche Bedeutungsdimensionen, eine instrumentelle und eine symbo-
lische. Zum einen die technisch-instrumentelle Bedeutung: Repräsentation ist
danach ein formales Zurechnungsprinzip, eine Fiktion, die der Herstellung
politischer Handlungseinheit dient.1 »A repräsentiert B« heißt danach ganz
allgemein: »Was A tut, gilt so, als hätte B es getan«, das heißt das Handeln
——————
1 Einen Teil der folgenden Überlegungen habe ich entwickelt in: Barbara Stollberg-Rilin-
ger, Was heißt landständische Repräsentation? Überlegungen zur argumentativen Ver-
wendung eines politischen Begriffs, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4
(2000), S. 120-135. – Zum Folgenden grundlegend Hasso Hofmann, Repräsentation.
Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Ber-
lin 1974, 3. Aufl. Berlin 1998; ders., Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Reprä-
sentation in Reich und Kirche, in: Hedda Ragotzky/Horst Wenzel (Hg.), Höfische Re-
präsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, 17-42; ferner Adalbert
Podlech, Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner/
Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 509-547; Heinz Rausch
(Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung
(Wege der Forschung, Bd. 184), Darmstadt 1968; anregende Überlegungen zur
politischen Repräsentation ferner bei Dolf Sternberger, Zur Kritik der dogmatischen
Theorie der Repräsentation, in: ders., Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Studien über Repräsentation, Vorschlag und Wahl, Stuttgart 1971, S. 9-39; Edmund
S. Morgan, Government by Fiction. The Idea of Representation, in: The Yale Review
72 (1983), S. 321-339; Hannah F. Pitkin, The Concept of Representation, Berkeley
1967; zum Verhältnis von politischer und symbolischer Repräsentation: Gerhard
Göhler u.a. (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen
stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997 (besonders die Beiträge von Göhler,
Speth und Berthold); Pierre Bourdieu, Politisches Feld und symbolische Macht, in:
Berliner Journal für Soziologie 1 (1991), S. 489-515; ders., Politische Repräsentation,
in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001,
S. 67-114.
74 BARBARA STOLLBERG-RILINGER
von A wird B zugerechnet. Dabei können sowohl A als auch B für einen
Einzelnen oder für eine Gruppe stehen. Wie die Zurechnung zustande
kommt und worauf sie beruht, kann hier dahingestellt bleiben; die zu-
grunde liegenden Herrschafts-, Abhängigkeits- oder Auftragsverhältnisse
können historisch jedenfalls ganz verschieden sein.2
Wozu dient diese Repräsentationsfiktion? Handeln können streng ge-
nommen immer nur Einzelne. Eine Personenmehrheit, ein Gemeinwesen
kann als solches im eigentlichen Sinne nicht handeln. Schon bei elementa-
rer politischer Integration wird es aber nötig, dass einzelne für größere
Einheiten handeln. Jede, auch die einfachste politische Organisation muss
das Problem lösen, wie gewährleistet werden kann, dass das Handeln
Einzelner als Handeln aller gilt, das heißt dass das Handeln Einzelner (oder
eines Gremiums) allen zugerechnet wird – und das bedeutet vor allem: dass
es auch alle verpflichtet. Das bewirkt die Repräsentationsfiktion: Unter be-
stimmten Voraussetzungen gilt das Handeln Einzelner oder einer Gruppe
als Handeln des Ganzen und wird als solches von den Mitgliedern des
Ganzen wie auch von Dritten als legitim anerkannt – und zwar auch und
gerade dann, wenn es nicht dem Willen der Einzelnen entspricht. Der
springende Punkt ist: Erst durch eine solche Fiktion wird das politische
Ganze überhaupt zu einem Ganzen, wird es handlungsfähig nach innen
und außen und fällt nicht in lauter unzurechenbare Einzelhandlungen aus-
einander. Diese Problematik ist schon seit dem Mittelalter theoretisch re-
flektiert worden, und zwar mit Hilfe der Metaphorik des politischen Kör-
pers als einer künstlichen Person, einer persona ficta – zuerst mit Bezug auf
die Kirche und die Stadtgemeinde, erst in zweiter Linie auch für Fürsten-
tümer und Königreiche: Das Gemeinwesen wurde als künstlich kon-
struierte, fiktive Person verstanden, der man einen Willen zuschreiben
kann, so als ob es sich um eine natürliche Person handelte.
Hervorgebracht wird diese fiktive Willenseinheit durch bestimmte for-
male Verfahren der Autorisierung, die bewirken, dass das, was Einzelne
beschließen, der Gesamtheit zugerechnet wird. Wesentliche Unterschiede
bestehen darin, aufgrund welcher formaler Voraussetzungen und welcher
normativen Grundlagen das Handeln welcher Akteure als Handeln der Ge-
samtheit gilt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich vormoderne und mo-
derne politische Ordnungen fundamental. Die fiktive Willenseinheit kann
auf ganz verschiedene Arten gewährleistet werden: Zum Beispiel auch
——————
2 Um von Repräsentation sprechen zu können, ist es beispielsweise keineswegs erforder-
lich, dass ein Auftragsverhältnis zwischen A und B besteht.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 75
II.
In der Forschung zur Vormoderne werden allerdings beide Varianten des
Begriffs Repräsentation selten in Zusammenhang gebracht. Sie stammen
aus unterschiedlichen Theorietraditionen, und sie betreffen separate For-
schungsfelder, die kaum Berührungspunkte aufweisen. Unter dem Etikett
»symbolische Repräsentation von Herrschaft« beschäftigen sich Historiker,
aber vor allem auch Kunst- und Literaturwissenschaftler mit Phänomenen
wie Herrschaftsinsignien und Investiturritualen, Chroniken und Monu-
menten, Zeremonien und Feiern. Wer hingegen über »politische Reprä-
sentation« arbeitet, der befasst sich in der Regel mit Ständeversammlungen
und Parlamenten als instrumentellen Organen der politischen Partizipation
und Beschlussfassung.
Beide Dimensionen des Repräsentationsbegriffs werden entweder gar
nicht miteinander in Zusammenhang gebracht oder sogar einander explizit
als Oppositionspaar gegenübergestellt.7 Danach scheint symbolische Repräsen-
tation von Herrschaft etwas tendenziell Vormodernes zu sein, politische
Repräsentation als instrumentelles Verfahren etwas tendenziell Modernes.
Auch die Habermas’sche Gegenüberstellung von vormoderner repräsenta-
——————
6 Vgl. etwa den Repräsentationsbegriff bei Roger Chartier, Die Welt als Repräsentation,
in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die
Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994, S. 320-347; statt vieler sei
hier nur zitiert: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüs-
selworte, Frankfurt/M. 2001; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte
der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-607; Thomas Mer-
gel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge
zur Theoriedebatte, München 1997; vgl. auch Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was
heißt Kulturgeschichte des Politischen? (=ZHF, Beih. 35), Berlin 2005.
7 Explizit zum Beispiel bei Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München
1928, der Integration durch Personen, durch Verfahren und durch Symbole unterschie-
den, aber immerhin als einer der ersten bereits symbolisches Handeln als politischen
Integrationsfaktor ernst genommen hat.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 77
III.
Konkretisieren möchte ich das bisher Gesagte jetzt anhand einer exemplari-
schen frühneuzeitlichen Ständeversammlung, nämlich am Beispiel der
Landtage des Kurfürstentums Köln im 18. Jahrhundert. Dabei soll die spe-
zifisch vormoderne Eigenart des Symbolcharakters politischer Repräsenta-
tion herausgearbeitet und abschließend gefragt werden, inwiefern er sich
von dem der Moderne grundsätzlich unterscheidet.
Die landständische Verfassung des Erzstifts Köln war in vieler Hinsicht
typisch für die landständischen Verfassungen im Reich im Allgemeinen
und die der geistlichen Reichsterritorien im Besonderen.15 Wie anderswo,
——————
14 In diesem Sinne ist das viel zitierte Diktum von Otto Brunner, »Die Stände sind das
Land«, zu präzisieren (Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territoria-
len Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien, 5. Aufl. 1965 [ND Darm-
stadt 1984], S. 413f.). Vgl. auch André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen.
Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stuttgart 1991, der den sehr hilfrei-
chen Begriff der »Verfassung in actu« geprägt hat.
15 Karsten Ruppert, Die Landstände des Erzstifts Köln in der frühen Neuzeit. Verfassung
und Geschichte, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 174 (1972),
S. 47-111; Aloys Winterling, Der Hof der Kurfürsten von Köln 1688-1794. Eine Fall-
studie zur Bedeutung »absolutistischer« Hofhaltung, Bonn 1986; Ulf Brüning, Wege
landständischer Entscheidungsfindung. Das Verfahren auf den Landtagen des rheini-
schen Erzstifts zur Zeit Clemens Augusts, in: Frank Günter Zehnder (Hg.), Im Wech-
selspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jhs. in Kurköln (= Der Riß
im Himmel. Kurfürst Clemens Augustund seine Epoche, Bd.11), Köln 1999, S. 160-184;
André Krischer, Symbolisches Handeln als politische Praxis des Kurfürsten Clemens
August von Köln, ungedr. Staatsexamensarbeit Köln 2001, S. 22ff.; vgl. auch die alte
landesgeschichtliche Forschung: Ferdinand Walter, Das alte Erzstift und die Reichsstadt
Cöln. Entwicklung ihrer Verfassung vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu ihrem Unter-
gang, Bonn 1866; Günther Tücking, Der Streit zwischen dem Kurfürsten Josef Clemens
von Köln und seinen Landständen in den Jahren 1688-1701, Würzburg 1934; Dietrich
Dehnen, Kurfürst Josef Clemens von Köln und die Landstände des Erzstifts in den Jah-
ren 1715-1723, Diss. Bonn 1952; Anton Schulte, Die kurkölnischen Landstände unter
80 BARBARA STOLLBERG-RILINGER
die Landtage vier Deputierte entsandte. Es war das mit Abstand mäch-
tigste Kollegium, das aufgrund seines Wahlrechts in der Lage war, jeden
neu zu wählenden Landesherrn auf eine Wahlkapitulation zu verpflich-
ten. Das Domkapitel verstand sich selbst als eigentlichen Inhaber der
Hoheitsrechte des Landes, nicht als ständisches Kollegium im strengen
Sinne.16
Zweitens (und das war eine Kölner Besonderheit) die Grafen, das heißt
Mitglieder eigentlich reichsunmittelbarer hochadeliger Geschlechter, die
zugleich ein Rittergut im Erzstift besaßen, die allerdings nur selten in Per-
son auf dem Landtag erschienen.
Drittens die Ritterschaft, das heißt sämtliche niederadelige männliche
Besitzer eines oder mehrerer im Land gelegener Herrschaftssitze. Ein Ritter
konnte sich auf dem Landtag nicht vertreten lassen, sondern musste ent-
weder in Person erscheinen oder fernbleiben.
Schließlich viertens die landsässigen Städte, vertreten in der Regel durch
ihre Bürgermeister oder andere hohe Magistrate.
Der Clerus secundarius, das heißt die Klöster und Stifte, die in anderen
geistlichen Territorien meist eine eigene Kurie auf Landtagen bildeten,
wurden in Kurköln nicht zum Landtag geladen. Ob der Klerus sich die
Landtagsbeschlüsse trotzdem zurechnen lassen müsse oder nicht, war des-
halb immer umstritten. Die anderen Stände beanspruchten stets, in ihrer
gemeinsam beschlossenen Bewilligungssumme sei das quotum cleri mit ent-
halten, und überließen es dem Landesherrn, es beim Klerus einzutreiben
oder auch nicht. Der Klerus hingegen bestritt das Recht des Landtags, für
ihn mitzusprechen, und leistete stattdessen dem Landesherrn in unregel-
mäßigen Abständen ein separates donum charitativum, ein vorgeblich völlig
freiwillig und unabhängig vom Landtagsbeschluss gewährtes »Geschenk«.17
Betrachtet man nur die letztlich gezahlte Geldsumme, so scheint das auf
dasselbe hinauszulaufen. Im Hinblick auf die wechselseitig erhobenen
Geltungsansprüche der Beteiligten war der Unterschied allerdings erheb-
lich: Indem er die Fiktion einer freiwilligen und unabhängigen Zahlung
aufrecht erhielt, bestritt der Klerus demonstrativ-symbolisch den umfas-
——————
16 Vgl. die neuere Literatur zu geistlichen Territorien und der Rolle der Domkapitel bei
Barbara Stollberg-Rilinger, Die Wahlkapitulation als Landesgrundgesetz? Zur Umdeu-
tung altständischer Verfassungsstrukturen in Kurmainz am Vorabend der Revolution,
in: Helmut Neuhaus u.a. (Hg.), Menschen und Strukturen Alteuropas. Festschrift für
Johannes Kunisch zum 65. Geburtstag (Historische Forschungen 73), Berlin 2002,
S. 379-404.
17 Ruppert, Landstände [wie Anm. 15], S. 89.
82 BARBARA STOLLBERG-RILINGER
——————
20 Also keine »bloß« symbolische Politik im Sinne der politikwissenschaftlichen Forschung
etwa von Murray J. Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher
Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt/M. u.a. 1976; Ulrich Sarcinelli,
Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommu-
84 BARBARA STOLLBERG-RILINGER
——————
nikation der Bundesrepublik (= Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 72), Opladen 1987;
Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symboli-
scher Politik, Frankfurt/M. 1992.
21 Zum Verfahren in Kurköln ausführlich Brüning, Wege [wie Anm. 15]; vgl. etwa die Dar-
stellung des kurfürstlichen Hoffouriers Schiller in: Das Hofreisejournal des Kurfürsten
Clemens August von Köln 1719-1745, hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, bearb. von
André Krischer (= Ortstermine, Bd. 12), Siegburg 2000, S. 125, 179f., 196f. Zum
Landtagsverfahren allgemein Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 13,
Frankfurt/Leipzig 1769, ND Osnabrück 1967; danach Kersten Krüger, Landständische
Verfassung (= EdG, Bd. 67), S. 13-17; zu einzelnen Beispielen vgl. Barbara Stollberg-Ri-
linger (Hg.), Politische Kultur und symbolische Praxis der landständischen Verfassungen
im westfälischen Raum (= Westfälische Forschungen, Bd. 53), Münster 2003 (dort ins-
bes. der Beitrag von Johannes Arndt, Der lippische Landtag – Politisch-soziale Praxis
und symbolische Kultur im 18. Jahrhundert, S. 159-182); Esther-Beate Körber, Öffent-
lichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen
öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (= Beiträge zur
Kommunikationsgeschichte, Bd. 7), Berlin, New York 1998; Andreas Denk, Josef Mat-
zerath, Die drei Dresdner Parlamente. Die sächsischen Landtage und ihre Bauten: Indi-
katoren für die Entwicklung von der ständischen zur pluralisierten Gesellschaft, Wolf-
ratshausen 2000, S. 32-51.
22 Zahlreiche Beispiele dafür bei Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 173ff. – Die ältere For-
schung hat das stets als »Kleinigkeitskrämerei« missverstanden (vgl. etwa Tücking, Streit
[wie Anm. 15], 19), so etwa, als während des Konflikts mit dem Kurfürsten Josef Cle-
mens der ständische Syndikus sich über mangelnden zeremoniellen Aufwand beim
Empfang in Bonn beschwerte, weil die Bürgerwache nicht das Gewehr präsentiert hatte.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 85
——————
26 Vgl. Alois Hahn, Geheim, in: Gisela Engel u.a. (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der
europäischen Moderne (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 6), Frank-
furt/M. 2002, S. 21-42.
27 Zumindest in der Städtekurie scheint ein späteres Votieren als Zeichen höheren Rangs
aufgefasst worden zu sein, anders als bei ständischen Umfragen sonst üblich; vgl. Brü-
ning, Wege [wie Anm.15], S. 170f. Zum symbolischen Charakter des Umfrageverfah-
rens allgemein Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rang-
ordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Jo-
hannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin
1997 (= ZHF, Beih. 19), S. 91-132.
28 In diesem Fall war umstritten, wie zu verfahren sei: Ob die disparia vota in getrennten
Resolutionen oder in einer einzigen vorzutragen seien. Vgl. Brüning, Wege [wie
Anm.15], S. 176.
29 Vgl. ausführlich zur zeitgenössischen Theorie Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm.11],
S. 92-103.
30 Zum Konflikt von 1790 Essers, Kurkölnische Landtage [wie Anm.15], S. 46; vgl. auch
das Fernbleiben der Deputierten des Domkapitels vom Landtag des Herzogtums
Westfalen 1698, was die Gültigkeit der dortigen Beschlüsse strittig erscheinen ließ; vgl.
Tücking, Streit [wie Anm.15], S. 66.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 87
——————
31 Um diesen Punkt gab es 1729 langwierige Auseinandersetzungen zwischen Ritter- und
Grafenkurie; vgl. ausführlich Brüning, Wege [wie Anm.15], S. 171ff.
32 Ebd., S. 178f.
33 Vgl. unten bei Anm. 41.
88 BARBARA STOLLBERG-RILINGER
nur die Spitze eines ganzen Herrschaftsgeflechts, das sie ihrerseits erst als
Ganzes symbolisch zur Erscheinung brachten. Das scheint mir ein wesent-
licher Punkt: Anders als moderne parlamentarische Entscheidungsverfah-
ren besaßen die Landtage keine strukturelle Autonomie gegenüber ihrer
herrschaftsständischen Umwelt. Das heißt: die Rollen, die die Akteure im
Verfahren spielten, waren nicht vom Verfahrenszweck her definiert und
folgten nicht einer verfahrenseigenen Logik, sondern sie wurden von au-
ßen, von der ständischen Herrschafts- und Sozialordnung immer schon
vorgegeben und im Verfahren symbolisch verkörpert.37
Umgekehrt hing die Aufrechterhaltung des politisch-sozialen Status der
Mitglieder des Landes (mit entsprechenden Rechten und Pflichten) aber
auch in gewisser Weise von der Landtagsteilnahme ab.38 Das galt insbeson-
dere für die Ritterschaft. Der Landtag war für jeden einzelnen Ritter näm-
lich der Ort der feierlichen Aufschwörung: Wer zum ersten Mal auf einem
Landtag erschien, weil er einen Rittersitz durch Erbschaft, Heirat oder
auch Kauf erworben hatte, musste in der ersten Sitzung der Ritterkurie
seinen Stammbaum auf adelige Reinheit in väterlicher und mütterlicher Li-
nie, das heißt auf 16 adelige Ahnen prüfen lassen. In einer feierlichen Zere-
monie beschworen und unterzeichneten zwei Zeugen die Ahnentafel des
Bewerbers, was die ganze Korporation überprüfte und bestätigte. Der
Initiand selbst leistete ebenfalls einen Eid und wurde schließlich unter
Gratulation der Standesgenossen in die Ritterkurie aufgenommen. Es han-
delte sich also um ein zentrales ständisches Initiationsritual. Mit diesem
Ritual wurden die Ritter von anderen Besitzern landtagsfähiger Rittergüter
geschieden – nämlich von Bürgern und von Frauen. Zum Landtag aufge-
schworen zu sein war das Konstitutivum für die persönliche Zugehörigkeit
eines Ritters zum Land mit allen daran hängenden symbolischen und mate-
riellen Chancen, die bürgerlichen und weiblichen Rittergutsbesitzern eben
——————
37 Man könnte das auch systemtheoretisch beschreiben und sagen, die Landtage waren
nicht als politische Systeme gegenüber ihrer Umwelt ausdifferenziert, sie waren nicht
operativ geschlossen, wurden nicht über systemeigene rekursive Operationen als System
stabilisiert; vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000; zum
Begriff der Verfahrensautonomie vgl. Stollberg-Rilinger, Vormoderne Verfahren [wie
Anm. 10], S. 15ff.; in Anlehnung an Luhmann, Legitimation durch Verfahren [wie Anm.
10].
38 Vgl. die Definition bei Moser, Neues Teutsches Staatsrecht [wie Anm. 21], Bd.13, 322ff.:
Bei der Bestimmung der Landstandschaft komme es »einig und allein auf das Sitz- und
Stimm-Recht auf Land-Tägen an [...]. Wer dieses hat, ist ein Land-Stand; und wer es
nicht hat, ist keiner.« Vgl. Stollberg-Rilinger, Vormünder [wie Anm.11], S. 77f.
90 BARBARA STOLLBERG-RILINGER
nicht zukamen.39 Die Teilnahme am Landtag diente also dazu, den poli-
tisch-sozialen Status aufrecht zu erhalten: als im Land angesessene Herr-
schaftsträger, als privilegierte Stände mit einer Fülle von Rechten und Frei-
heiten, als Anwärter auf exklusive Pfründen und Ämter, nicht zuletzt als
Mitglieder eines exklusiven Heiratskreises. Den Landtagsteilnehmern lag
um so mehr am symbolischen Mehrwert des Landtags, als ihnen am Hof
des Kurfürsten von ausländischem Adel zunehmend Konkurrenz gemacht
wurde.40
IV.
Das Kurkölner Beispiel zeigt in pointierter Weise, was auch für andere
Ständeversammlungen dieser Zeit gilt: Sie waren nicht nur ein Verfahren
zur politischen Entscheidungsfindung, Mittel zur Herstellung des »Landes«
als handlungsfähige Einheit, indem sie rechtsverbindliche Beschlüsse für
das Ganze herbeiführten, sondern auch (und im späten 18. Jahrhundert in
diesem Fall sogar in erster Linie) symbolische Verkörperungen des »Lan-
des« in seiner hierarchisch-herrschaftsständischen Verfasstheit. Das Land
wurde hier, in der solennen, das heißt rechtsförmlichen, feierlichen Praxis
konkret und sinnlich erfahrbar. Landtage dienten dazu, die politisch-sozia-
len Ordnungskategorien des Landes in die Praxis zu überführen und dau-
erhaft aufrecht zu erhalten, die einzelnen Mitglieder als solche jeweils neu zu
instituieren, Harmonie zwischen Herrn und Ständen zu demonstrieren und
auf diese Weise die Herrschaft nicht nur des Landesherrn gegenüber den
Ständen, sondern auch jedes einzelnen Standes gegenüber seinen eigenen
Untertanen zu legitimieren. Den verschiedenen ständischen Akteuren
musste in dem Maße an dieser symbolischen Repräsentation gelegen sein,
wie sie von ihrem jeweiligen Ort in der ständischen Hierarchie profitierten.
Erst im Jahr 1790 wurde die kollektive Handlungsfähigkeit des Kurköl-
ner Landtags auf die Probe und sein herkömmliches Procedere in Frage
gestellt – auch hierin ist das Beispiel verallgemeinerbar. Die Städte waren
nicht mehr bereit, die ungleiche Besteuerung der Güter länger hinzuneh-
men. Durch das französische Vorbild ermutigt, scherten sie sich nicht län-
——————
39 In den Hofkalendern wurden die Ritter (und zwar erst nach dem gesamten Hofpersonal)
mit dem Datum und nach der Reihenfolge ihrer Aufschwörung aufgeführt.
40 Vgl. Winterling, Hof [wie Anm. 15], S. 107ff.
HERSTELLUNG UND DARSTELLUNG POLITISCHER EINHEIT 91
——————
43 Vgl. etwa Werner J. Patzelt, Symbolizität und Stabilität. Vier Repräsentationsinstitutio-
nen im Vergleich, in: Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung [wie Anm. 4],
S. 603-638; Heinrich Oberreuter, Institution und Inszenierung. Parlamente im Symbol-
gebrauch der Mediengesellschaft, in: ebd., S. 65-70.
Monarchische Repräsentation in der
entstehenden Mediengesellschaft: Das
deutsche und das englische Beispiel
Martin Kohlrausch
»Die heutigen Souveräne haben, auch wenn sie mit ihrer Persönlichkeit tagtäg-
lich ins grelle Rampenlicht der Presse treten, immer etwas Unpersönliches. Was
sie immer tun mögen, es wirkt als Repräsentation, wie persönlich auch die Ge-
bärde sein mag. Ein heutiger Fürst ist immer offiziell, er kann sich nicht die
Nase schneuzen, ohne daß es in alle Welt hinaustelegraphiert wird; – und wenn
einer es darauf anlegt, nicht offiziell zu scheinen (denn es bleibt immer bloß
Schein), so ärgert sich das Publikum und zischt (man sagt jetzt Publikum statt
Volk – alles Öffentliche hat etwas Theaterhaftes bekommen)«.1
Der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow stellte 1893 fest, gegen Ende
des 19. Jahrhunderts habe eine »Zeit schrankenloser Publizität« eingesetzt,
die sowohl für wie gegen den Bestand der Monarchie arbeiten könne.2 Bü-
low sprach in scharfsinniger Weise ein Phänomen an, das der Soziologe John
B. Thompson als »Transformation of Visibility« charakterisiert hat. Thomp-
son bezeichnet hiermit einen Prozess der Entstehung einer nicht mehr orts-
gebundenen Öffentlichkeit, die eine einschneidend erhöhte Sichtbarkeit he-
rausgehobener Politiker bewirkte.3 Diese Transformation bedingte, dass die
ohnehin bereits fragile Darstellung des Monarchen noch schwerer als bisher
zu kontrollieren war. Allerdings – hierauf verweist Bülow – eröffneten sie
der Monarchie auch erhebliche Chancen, indem der Monarch ein bisher un-
erreichbares Publikum mit seiner Persönlichkeit und seiner Programmatik
konfrontieren konnte. Damit veränderten sich auch die Bedingungen mo-
narchischer Repräsentation radikal.
——————
1 Diese hellsichtige Analyse legte Otto Bierbaum seiner Romanfigur Hermann Honrader
in den Mund: Otto Bierbaum, Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllen-
fahrt eines Wollüstlings, München 1907, S. 590.
2 Zit. nach: John C.G. Röhl, Hof und Hofgesellschaft unter Kaiser Wilhelm II., in: ders.
(Hg.), Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 41995,
S. 78- 1 16, hier S. 113.
3 John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge
2000, S. 33.
94 MARTIN KOHLRAUSCH
——————
4 Vgl. Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in:
Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-33; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Mas-
senmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte
und Gesellschaft 27 (2001), S. 177-206; Andreas Schulz, Der Aufstieg der »vierten Ge-
walt«. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, in:
Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 65-97; Bernd Weisbrod, Medien als symbolische
Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20.
Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 270–283. Zu den Medien des 20.
Jahrhunderts vgl. Karl Christian Führer, Neue Literatur zur Geschichte der modernen
Massenmedien Film, Hörfunk und Fernsehen, in: Neue Politische Literatur 46 (2001),
S. 216-243. Zur Entwicklung der Massenmedien in Großbritannien: Aled Jones, Powers
of the Press. Power and the Public in Nineteenth-century England, London 1996. Zur
Entwicklung im 19. Jahrhundert: Bernd Sösemann (Hg.), Kommunikation und Medien
in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002.
5 Regina Schulte, Der Aufstieg der konstitutionellen Monarchie und das Gedächtnis der
Königin, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 76-104; Martin Kirsch, Monarch
und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäi-
scher Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; Jost Rebentisch, Die
vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur,
Berlin 2000; Lothar Reinermann, Der Kaiser in England. Wilhelm II. und die britische
Öffentlichkeit, London 2000; John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der persönlichen
Monarchie, München 2001; Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesell-
schaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993; William M. Kuhn,
Democratic Royalism. The Transformation of the British Monarchy. 1861-1914, Lon-
don 1996; Richard Williams, The Contentious Crown. Public Discussion of the British
Monarchy in the Reign of Queen Victoria, Adlershot 1997; Antony Taylor, »Down with
the Crown«: British anti-monarchism and debates about royalty since 1790, London
1999; Martin Kohlrausch, Die höfische Gesellschaft und ihre Feinde. Monarchie und
Massenöffentlichkeit in England und Deutschland um 1900, in: Neue Politische Litera-
tur 47 (2002), S. 450-466.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 95
schriften und Pamphleten aller Formen und politischen Richtungen eine sol-
che Präsenz hatte wie die Monarchie bzw. die Träger der Krone.11 Im
»alphabet of culture« (Aled Jones), den geteilten Geschichten und kulturellen
Referenzpunkten, die das Konzept von Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts
überhaupt erst ermöglichten, nahm sowohl in der deutschen als auch der
englischen Gesellschaft die Monarchie einen herausragenden Platz ein. Die
mediale Repräsentation der Monarchie wies allerdings erhebliche Unter-
schiede auf, die, so soll hier argumentiert werden, direkt und indirekt aus der
unterschiedlichen politischen Funktion der Monarchie und ihrer Interpreta-
tion durch den Herrscher folgten.12 Zunächst soll das deutsche Beispiel in
den Blick genommen werden. Hier wird bereits eine erste Klärung einiger
genereller Charakteristika des Verhältnisses von Monarchie und Medien er-
folgen, die anschließend mit den englischen Spezifika abzugleichen sind.
Anschließend sollen, wiederum für beide Beispiele, Skandale als Fehlfunkti-
onen und Störung monarchischer medialer Repräsentation analysiert werden.
——————
14 Zum Begriff spin-doctor: Jenny Simon, Und ewig lockt der Spin Doctor… Zur Genealogie
eines neuen Berufszweigs, in: vorgänge 41 (2002), S. 48-54.
15 Vgl. Kaspar Maase, Des Kanzlers Scorpions sind des Kaisers weiße Rößl, in: Merkur 55
(2001), S. 1138-1143. Einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion der Wechsel-
wirkung zwischen Politik und Medien vermittelt das Heft der vorgänge. Zeitschrift für
Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 158 (2002) zum Thema »Politische Kommunika-
tion in der Mediengesellschaft« und der sowi 3 (2002) zum Thema »Mediendemokratie –
Mediokratie«.
16 Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenbe-
rufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995;
Ders., Öffentlichkeit [wie Anm. 4] und insbesondere Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4].
17 Weisbrod, Medien [wie Anm. 4], S. 271; Habbo Knoch/Daniel Morat, Medienwandel
und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedi-
alen Sattelzeit, in: dies. (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und
Gesellschaftsbilder 1880-1960, München 2003, S. 9-33; Schildt, Jahrhundert [wie Anm.
4], S. 195; Schulz, Aufstieg [wie Anm. 4], Titel und S. 69. Vgl. auch die zeitlich
deckungsgleiche Periodisierung der Durchsetzung der Populärkultur bei Kaspar Maase,
Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900, in: ders./Wolfgang
Kaschuba (Hg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln u.a. 2001, S. 9-
28, hier S. 28.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 99
——————
18 Schildt, Jahrhundert [wie Anm. 4], S. 189; Requate, Öffentlichkeit [wie Anm. 4], S. 16.
19 Hierzu: Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/Mass. 1996, S. 51ff.; Burkhard
Asmuss, Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in
der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923, Berlin/New York 1994, S. 33 und
jetzt: Frank Bösch, Zeitungsgespräche im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwir-
kung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49 (2004), S. 319-336.
100 MARTIN KOHLRAUSCH
ser Überschätzung der Möglichkeiten des Monarchen ist, dass Kritiker wie
Apologeten den Inhalt der Kaiserreden nahezu immer verabsolutierten,
das heißt als Programm begriffen.25 Unbestritten waren die Reden das
schillernde Markenzeichen Wilhelms II. Hierfür aber nur seine persönli-
chen Vorlieben als Grund zu veranschlagen, hieße ein strukturelles Be-
dürfnis zu verkennen. In nachgerade idealer Weise entsprachen die
kaiserlichen Meinungsäußerungen den Bedürfnissen moderner Massenme-
dien nach komprimiert-bündiger, radikaler, schlagwortartiger Formulierung
politischer Probleme. Sie füllten eine Leerstelle im politischen Kommuni-
kationsprozess des Kaiserreichs. Die Reichstagsreden der einzelnen Partei-
politiker wurden zwar in der Presse oft abgedruckt, waren aber als Angel-
punkte für öffentliche Diskussionen zu komplex und nicht ausreichend
gegenüber konkurrierenden Verlautbarungen hervorgehoben. Die Kaiser-
reden hingegen, fast immer ohne Manuskript gehalten und daher durch
den Reichskanzler kaum kontrollierbar, entsprachen zunächst den beson-
deren Bedingungen von Versammlungen, die eine »fiery language« forder-
ten. Gerade dieses Charakteristikum verlieh ihnen, neben der Prominenz
des Sprechers, mediale Relevanz.26 Eine intime, farbige Sprache traf nicht
nur die Bedürfnisse der jeweiligen Versammlung, sondern gerade der Mas-
senpresse, die mit ausführlich redigierten Thronreden weit weniger anzu-
fangen wusste als mit kräftigen Politbildern – wie schief diese auch immer
sein mochten.27
——————
25 Beispielhaft für Verabsolutierung der Kaiserreden: Conrad Valentin, Der Kaiser hat ge-
sprochen; wie haben wir Konservativen uns jetzt zu verhalten, Berlin 1889. Zur Ver-
bindlichkeit der Kaiserreden für die protestantische Kirche: Bastiaan Schot, Wilhelm II.,
die Evangelische Kirche und die Polenpolitik, in: Stefan Samerski (Hg.), Wilhelm II. und
die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds, Berlin 2001, S. 133-170,
hier S. 166.
26 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 40.
27 Für die Deutung der Kaiserreden als eines nicht notwendigen, strukturell aber nahe-
liegenden Phänomens spricht zudem, dass ähnliche Erscheinungen international auf-
traten. William Gladstone war der erste Politiker, der in den 1880er Jahren, also kurz vor
der Thronbesteigung Wilhelms II., erfolgreich die neuen medialen Möglichkeiten zur
Multiplizierung politischer Willensäußerungen ausnutzte. Gladstone verband universale
und spezifische Aussagen in seinen Reden dergestalt, dass er ein lokales Auditorium er-
reichte und die jeweilige Rede als Ereignis wiederum den Aufhänger bot, um eine Aussage
medial zu verbreiten. Vgl. Joseph S. Meisel, Public Speech and the Culture of Public Life in
the Age of Gladstone, New York 2001, S. 223ff. Der zeitgleich mit Wilhelm II. am-
tierende amerikanische Präsident Theodore Roosevelt machte sich dieses Phänomen
dann ebenso zunutze wie der deutsche Kaiser. Ragnhild Fiebig-von Hase, The uses of
»friendship«. The »personal regime« of Wilhelm II and Theodore Roosevelt, 1901–1909,
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dings beharrte der Kommentator des Tageblatts darauf, dass Skepsis und
Misstrauen die in der Politik angebrachten Geisteshaltungen seien.31
Derartige Bedenken fehlten vollständig im enormen Presseecho auf die
Münsteraner Rede.32 In der Mitte der Rede, nachdem er darauf hingewie-
sen hatte, dass vor allem durch die Religion die »Einigung aller unserer
Mitbürger« möglich sei, erklärte Wilhelm II.: »Ich habe in Meiner langen
Regierungszeit – es ist jetzt das zwanzigste Jahr, das ich angetreten habe –
mit vielen Menschen zu tun gehabt und habe vieles von ihnen erdulden
müssen, oft unbewußt und leider auch bewußt haben sie Mir bitter weh
getan.«33 Diese Äußerung, an deren »tiefgehende[r] Wirkung«34 und Signifi-
kanz für alle Kommentatoren kein Zweifel bestand, galten als Einladung,
die Persönlichkeit des Kaisers, der schließlich »seinen monarchischen Be-
ruf ganz persönlich« interpretiere, ohne Zurückhaltung zu diskutieren.35
Nach den Enthüllungen des Eulenburg-Skandals über die kaiserliche Um-
gebung drei Monate zuvor konnte die Münsteraner Beichte als Einges-
tändnis eines überforderten Monarchen gelesen werden. Dieser suchte
nun, so die idealisierte Version, den Kontakt zu seinem Volk, von dem er
nicht nur bisher durch unbefugte Kräfte getrennt gewesen war, sondern
dessen Hilfe es ihm erst ermöglicht hatte, den Charakter dieser Kräfte zu
durchschauen.
Offensichtlich war es gerade dieses Thema, das dem emotionalen
Ausbruch des Monarchen Bedeutung zukommen ließ. Man habe »zum
ersten Male den Eindruck gewinnen dürfen, daß der Kaiser, der unter
dem freimütigen, früher undenkbaren Eingeständnis begangener Fehler
jetzt nur noch eine unbefangenere, gerechtere Beurteilung fordert, sich
auf der eisigen Höhe des Thrones einsam fühlte, daß er aus dem schwü-
len Dunstkreise höfischer Schmeichler eine Art Flucht in die Öffentlich-
keit unternahm, um sich dem Herzen der Nation wieder zu nähern, und
daß er jetzt auch den Wert loyalen Widerstandes, die Berechtigung einer
unabhängigen öffentlichen Meinung erkennt und um ihre Anerkennung
wirbt.« Seitdem sei die öffentliche Meinung langsam zugunsten des Kai-
——————
31 Paul Michaelis, Politische Wochenschau, Berliner Tageblatt, 25. November 1906, (Nr.
599).
32 Die Ausschnittssammlung des Reichslandbundes enthält mehr als 100 Artikel zum
Thema. BAL R 8034 II (RLB-Archiv), Bd. 4009, Blatt 98ff.
33 Johann, Reden [wie Anm. 24], S. 120ff.
34 Die Kaiserrede in Westfalen, in: Deutsches Adelsblatt 25 (1907), S. 465-466.
35 Die Kaiserrede in Münster, in: Die Grenzboten 66 (1907), S. 541-544.
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Die Beobachtungen aus den Jahren 1906 und 1907 reflektieren den Er-
fahrungsprozess mit einem neuen Phänomen, das spätestens zu diesem
Zeitpunkt als krisenhaft empfunden wird. Es ist nicht ohne Relevanz, dass
sensible Beobachter wie Thomas Mann, Rudolf Borchardt und Otto Julius
Bierbaum in ihren mehr oder weniger verschlüsselten Auseinandersetzungen
mit der wilhelminischen Monarchie zu diesem Zeitpunkt das »Volk« bewusst
durch ein »Publikum« ersetzten.41 Dem Publikum, das sich als solches be-
greift, steht hier der Repräsentant gegenüber.42 Das »reale« Publikum wusste
sehr genau um die Regeln der Darbietung, die der Monarch bot, und die
Zwänge, unter denen er handelte. Die Massenmedien brachten eine riesige
Zahl informierter Kaiserdiskutanten hervor, die über ein gemeinsames, oft
intimes Wissen verfügten und mit einem geteilten Set von Kriterien und
Maßstäben urteilten. Es existierten genaue Vorstellungen über das, was vom
Monarchen erwartet werden konnte.43 Der Monarch wiederum stand diesen
strukturellen Veränderungen nahezu machtlos gegenüber. Seine Positionie-
rung in der Öffentlichkeit steuerte zwischen der Scylla einer nicht mehr län-
ger akzeptierten Zurückgezogenheit und der Charybdis einer Trivialisierung
der »öffentlichen Monarchie«.44 Die Spielregeln des medialen Massenmarktes
forderten eine sichtbare und vernehmbare politische Führungsfigur, die dann
wiederum bevorzugtes Objekt der Kritik wurde.45 Im Phänomen des Rede-
kaisers zeigt sich anschaulich diese Ambivalenz.
——————
41 Vgl. Bierbaum, Kuckuck [wie Anm. 1], S. 590 und 595 und die auffallend ähnliche Sicht
in Thomas Mann, Königliche Hoheit, Berlin 1909, S. 258 sowie die Verwendung des
Begriffs »Publikum« bei Rudolf Borchardt, Der Kaiser, in: Süddeutsche Monatshefte 5
(1908), S. 237-250, hier S. 240, 247.
42 Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur frühneuzeitlichen Monarchie. Vgl. Engels, Kö-
nigsbilder [wie Anm. 7], S. 258.
43 Dieses Problem klingt im Konzept der Theatralität an, scheint hierin in seiner politischen
Relevanz aber nur ungenügend erfasst. Auf den Zusammenhang zwischen dem Aufkom-
men der Massenmedien und der Theatralisierung der Monarchie ist zuletzt immer wieder
verwiesen worden. Zum Konzept der Theatralität: David Blackbourn, Populists and Pat-
ricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 249ff. Zum Zusammenhang
von Theatralität und Benutzung von Symbolen durch Wilhelm II. Thomas A. Kohut,
Wilhelm II and the Germans: A Study in Leadership, New York/Oxford 1991, S. 143.
Zum Begriff des Publikums jetzt Paulmann, Pomp [wie Anm. 12], S. 21, 379.
44 Carl Techet urteilte: »Zerstört haben den Glauben die Fürsten selbst, denn er bedürfe
der Distanz, und diese ist trotz aller Unnahbarkeit, womit sich ein Fürstenhof umgibt,
verloren gegangen [...]. Das Mysterium ist zerstört worden durch die illustrierten Blätter
und den Kinematographen.« Carl Techet, Völker, Vaterländer und Fürsten. Ein Beitrag
zur Entwicklung Europas, München 1913, S. 413ff.
45 Noch 1913, nach unzähligen desillusionierenden Vorstößen Wilhelms II. in die Öffent-
lichkeit, kritisierte der Anthropologe Eugen Fischer diejenigen, die glauben, man müsse
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»And so, as the real power of the monarchy waned, the way was open for it to be-
come the centre of grand ceremonial ritual once more. In other countries, such as
Germany, Austria and Russia, ritualistic aggrandizement was employed as of old, to
exalt royal influence. In Britain, by contrast, similar ritual was made possible be-
cause of growing royal weakness.«47
——————
47 David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British Mo-
narchy and the »Invention of Tradition«, c. 1820-1977, in: Eric Hobsbawm/Terence
Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 101-164, hier S. 121.
48 Kuhn, Royalism [wie Anm. 5], S 1-9.
49 Cannadine, Context [wie Anm. 47], S. 111.
50 Williams, Royalism [wie Anm. 5], S. 146.
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identity wurde Victoria gleichzeitig als vorbildliche Mutter und Witwe, aber
auch problematische Königin präsentiert, die ihren Pflichten nicht nach-
kam und ein Verhältnis mit ihrem Kammerdiener John Brown unterhielt.53
Die Geburt neuer Kinder wurde sentimental begrüßt, zu viele Nachkom-
men boten aber Anlass für heftige Kritik der Kosten der königlichen Fa-
milie. Besonders der Fall des Kronprinzen, des notorisch skandalträchtigen
Edward, zeigt, dass Kritik sehr fein abwägen und differenzieren konnte.
Die im Rückblick – und im Vergleich mit Wilhelm II. – so auffällige milde
Bewertung Victorias in der veröffentlichten Meinung hat schließlich ihre
Ursache auch in einer frühen und erfolgreichen Feminisierung der Monar-
chie, die die Zurückdrängung der Monarchin aus dem politischen Raum
unterstütze.54
Hier zeigt sich, dass keineswegs die englische Monarchie kongenial auf
die Massenmedien reagierte, sondern auch in England, freilich anders als in
Deutschland geartete, Defizite registriert wurden. Walter Bagehots theore-
tischer Entwurf einer zurückgezogenen Monarchie bot erst im Rückblick
eine konsensuale Blaupause für die praktische Politik. Als Prominentester –
keineswegs als Einziger – forderte Benjamin Disraeli einen persönlicheren
Charakter der Monarchie. Der Premier schwärmte von einer direkten Ver-
bindung zwischen öffentlicher Meinung und Monarchie und behauptete:
»The proper leader of the people is the individual who sits upon the
throne.«55 Ganz ähnlich wie selbst liberale Kommentatoren im wilhelmini-
schen Deutschland sah Disraeli in einer direkten Kommunikation von Me-
dien, die die Anliegen der bisher nicht repräsentierten Gruppen übernah-
men, und der Monarchie eine gegenüber hergebrachten Repräsentations-
mechanismen fortschrittlichere und überlegene Variante. Dass in diesem
Schema die Monarchie keine zurückgezogene bleiben konnte, verstand sich
von selbst. Die Pläne und Visionen Disraelis, die so gut in eine neue Welt
der Massenmedien zu passen schienen, blieben allerdings im Ansatz ste-
cken. Die Advokaten einer begrenzten Monarchie schafften es, die Pläne
als etwas genuin Unenglisches und gegen die englische politische Tradition
Verstoßendes zu entlarven. Konfrontiert mit leicht abrufbaren Ressenti-
——————
53 Taylor, Crown [wie Anm. 5], S. 46f.
54 Dorothy Thompson, Queen Victoria: Gender and Power, London 1990; Bernd Weis-
brod, Die theatralische Monarchie. Victoria als Family Queen, in: Regina Schulte (Hg.),
Der Körper der Königin, Frankfurt/M. 2002, S. 236-253.
55 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 125. Vgl. jetzt auch: Andreas Rödder, Die radikale
Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländli-
cher Tradition und industrieller Moderne (1846-1868), München 2002.
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ments gegen die deutsche Dynastie auf dem Thron verfing sich Disraeli in
einer massenmedialen Logik, die er eigentlich für seine Zwecke nutzen
wollte. Selbst Bagehot musste feststellen: »To be invisible is to be forgot-
ten. [...] To be a symbol, and an effective symbol, you must be vividly and
often seen.«56
Die merkwürdige Affäre war in der Tat von Anfang bis Ende ein reines
Medienereignis, das allerdings ohne den Monarchen im Hintergrund un-
denkbar war. Der Skandal entstand ohne konkreten Anlass in der Presse
und entfaltete seine eigentümliche, neuartige Wirkung gerade aus der The-
matisierung dieser Tatsache. Es gehört zu den generellen Eigenarten des
Medienskandals, dass dieser einen hohen Grad an Homogenität in der Be-
handlung des fraglichen Themas bewirkt. Was eine Zeitung brachte, nah-
men andere Blätter umgehend auf. Durch die Wiedergabe in der Presse er-
höhte sich wiederum die Bedeutung des Falls und dieser erschien in noch
höherem Maße berichtens- und kommentierenswert. Dieser Spiegelungsef-
fekt hob den Caligula nicht nur erst ins öffentliche Bewusstsein und machte
ihn zum Ereignis; er garantierte auch die qualitative Veränderung der
Kommentierung. Dies galt insofern, als sich die einschlägige Diskussion
für kurze Zeit extrem verdichtete und intensivierte und hierdurch erst ge-
meinsam geteilte Referenzpunkte schuf.
Die bisher eher als kuriose Marginalie behandelte Caligula-Affäre führte
zum ersten Mal die Dynamik des monarchischen Medienskandals bezie-
hungsweise medialen Monarchieskandals vor. Innerhalb kürzester Zeit er-
schienen mindestens 15 Pamphlete. In der Affäre wurde offensichtlich die
Diskrepanz zwischen Wissen um die offensichtliche Überforderung des
Monarchen und deren gleichzeitiger Akzeptanz zum ersten Mal öffentlich
verhandelt – also im Kern ein Versagen des Monarchen als Repräsenta-
tionsinstanz. Sprachregelungen, die auf die Individualität und charakterliche
Eigenart des Monarchen abstellten, indizierten das Problem einer gewuss-
ten Kalamität eher als dass sie es verdeckten. Sie verwiesen zudem auf ein
gesteigertes Interesse am Individuum Monarch. Sehr deutlich demonst-
rierte bereits die Caligula-Affäre die Ambivalenz von Skandalen für die
Monarchie. Zwar bestätigte auch die entgrenzte Diskussion die grundle-
genden Konventionen des Sprechens über den Monarchen. Allerdings
zeigt der Skandal auch, dass diese zwar noch beachtet wurden, aber zu-
nehmend der Monarch selbst in den Mittelpunkt rückte. Die Institution
Monarchie selbst blieb allerdings außerhalb der Kritik.
Noch schärfer offenbart sich dieser Zusammenhang im Eulenburg-
Skandal von 1907/08, zumal wenn man diesen als Teil eines Doppelskan-
dals unter Einschluss der Daily-Telegraph-Affäre betrachtet. Auch dieser
——————
Rezeption des Caligula bieten jetzt: Karl Holl/Hans Kloft/Gerd Fesser (Hg.), Caligula –
Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am
Beispiel des »Caligula« von Ludwig Quidde, Bremen 2001.
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texten in die Nachrichten. Bezeichnend ist die Rolle der Royals in den »West-
end scandals« des Jahres 1889. Den eigentlichen Skandal konstituierte weni-
ger die Aufdeckung eines Homosexuellenbordells im Londoner Westend als
die Tatsache, dass prominente Kunden der Anklage entgehen konnten. Dies
hatte, so die Anklage der North London Press, seine Ursache darin, dass auch
Albert Victor in dem fraglichen Etablissement in der Cleveland Street ver-
kehrt habe und daher Ermittlungen unterbunden wurden.60 Zudem stand
mit Lord Arthur Somerset der Inhaber eines Hofamtes des Kronprinzen im
Zentrum der Verdächtigungen. Hier zeigte sich allerdings, dass die Kombi-
nation aus strengen gesetzlichen Vorkehrungen gegen Beleidigungen und der
Druck einflussreicher Personen die Presse dazu brachte, die Angelegenheit
fallen zu lassen, bevor eine Eskalation wie im Eulenburg-Skandal eintrat.61
Dies gilt auch für das Zusammenspiel von Krone und hohen Regierungsbe-
amten im »Mordaunt-Case«, jenem Scheidungsprozess, der den Kronprinzen
in den Zeugenstand führte.62 Wie Michael Foldy jüngst gezeigt hat, muss
auch der Jahrhundertskandal um Oscar Wilde als ein Beispiel für geschickte
Lenkungsstrategien der Krone und ihrer Berater gelten.63
Weniger dramatisch als die seines Sohnes, dafür aber bis in Gerichts-
protokolle hinein aktenkundig, waren die vielfältigen unstandesgemäßen
Aktivitäten des Vaters von Albert Victor. Der spätere Edward VII. sorgte
durch eine Reihe von Affären, daraus resultierenden Auftritten in Schei-
dungsprozessen, eine stark ausgeprägte Spielleidenschaft und notorische
Geldsorgen für kontinuierliche Aufmerksamkeit.64 Besonders delikat war
die Tranby-Croft-Affäre, auch bekannt als Baccarat-Scandal.65 In dem
——————
60 Thompson, Scandal [wie Anm. 3], S. 55f.; Stanley Weintraub, The Importance of Being
Edward. King in Waiting 1841-1901, London 2000, S. 314f. Generell: H. Montgomery
Hyde, The Cleveland Street Scandal, New York 1976. Bereits ein Jahr zuvor war der als
psychisch labil geltende Prinz gerüchteweise als einer der möglichen Täter im Jack-the-
Ripper-Fall im Gespräch.
61 Diese Interpretation wird bestätigt durch die Tatsache, dass die Presse in den USA
wesentlich offener und polemischer auf die Affären einging. Vgl. Weintraub, Edward
[wie Anm. 60], S. 315.
62 Zum Mordaunt-Fall und dem sensationellen Auftritt des zukünftigen Edward VII. vor
Gericht vgl. H. Montgomery Hyde, A Tangled Web. Sex Scandals in British Politics and
Society, London 1986, S. 97f.
63 Michael S. Foldy, The Trials of Oscar Wilde. Deviance, Morality, and Late-Victorian
Society, New Haven/London 1997, S. 21ff.
64 Vgl. Hyde, Web [wie Anm. 52], 97f. Generell: Raymond Lamont-Brown, Edward VII’s
Last Loves: Alice Keppel and Agnes Keyser, Phoenix Mill 2001.
65 Die wichtigste Darstellung zum Tranby-Croft-Skandal ist: Michael Havers/Edward
Grayson/Peter Shankland, The Royal Baccarat Scandal, London 1977.
116 MARTIN KOHLRAUSCH
——————
66 Weintraub, Edward [wie Anm. 60], S. 322f.
67 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 83ff.
68 Zur Lady-Flora-Affäre vgl. Elizabeth Longford, Victoria R.I, London 1983, S. 117-131
u. S. 150ff.
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sche Diskussion angesichts der immer neuen Bewilligungen für die un-
zähligen Nachkommen der Queen im Rahmen der Zivilliste. Victorias
Unsichtbarkeit wurde zum Politikum. Allerdings gingen diese Attacken
gegen eine Lücke buchstäblich ins Leere und eigneten sich keineswegs
für eine Skandalisierung.71 Im Kontext eines antiverschwenderischen
publizistischen Dauerfeuers konnten sich selbst anhaltende Gerüchte
über die intime Beziehung der Königin zu ihrem Kammerdiener John
Brown nie zu einem öffentlichen Skandal entfalten. Die teilweise durch-
aus scharfen Angriffe auf »Mrs. Brown« blieben im Wesentlichen auf das
offen republikanische Spektrum der Presse beschränkt. Eine personali-
sierte, zugespitzte Debatte nach deutschem Muster, die ein genuines
Produkt der Massenmedien gewesen wäre, war dies nicht. In dieser Hin-
sicht entsprach die mediale Repräsentation der englischen Monarchie
eher den Standards des 18. denn denen des 19. Jahrhunderts.
IV. Zusammenfassung
Für die deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts ebenso wie für die
herrschende Meinung unter den Historikern galt und gilt die Monarchie
viktorianischer Ausprägung gewissermaßen als benchmark, an der sich die
Konkurrenz auf dem Kontinent messen lassen muss. Im Fall der wilhel-
minischen Monarchie scheint ausgemacht, dass das Ziel verfehlt wurde.
Blickt man allerdings, wie hier geschehen, auf die mediale Repräsentation
der Monarchie und die Funktion derselben, dann zeigt sich, dass Fort-
und Rückschrittlichkeit keineswegs so eindeutig zuzuweisen sind, wie dies
für die verfassungstheoretische Einordnung der beiden Monarchiemo-
delle der Fall ist.
Will man ein Fazit aus der Betrachtung des äußerst komplexen Ver-
hältnisses von Monarchie und Massenmedien unter deutschem und engli-
schem Blickwinkel ziehen, ist zunächst generell festzustellen, dass die
Monarchie durch die Massenmedien keineswegs an Bedeutung verlor. Im
Gegenteil ließe sich von einer Renaissance der Monarchie unter massen-
medialen Bedingungen sprechen. Zumal in Deutschland war die Diskus-
——————
71 Williams, Crown [wie Anm. 5], S. 32. Zur Schwierigkeit für die republikanische Bewe-
gung, die abwesende Königin politisch zu instrumentalisieren, vgl. Taylor, Crown [wie
Anm. 5], 82f.
M O N A R C H I S C H E R E P R Ä S E N T A TI O N I N D E R M E D I E N G E S E L L S C H A F T 119
——————
76 Es passt in dieses Bild einer gut funktionierenden informellen Pressesteuerung in Eng-
land, dass, während Wilhelm II. Großbritannien besuchte, er grundsätzlich nicht negativ
karikiert wurde. Vgl. Reinermann, Kaiser [wie Anm. 5], S. 384ff.; Rebentisch, Gesichter
[wie Anm. 5], S. 234. Ebenso passt in dieses Bild, dass die wirklich aggressiven Karikatu-
ren zum Baccarat-Skandal erst in den 1920er Jahren publiziert wurden. Weintraub, Ed-
ward [wie Anm. 60], S. 325.
Monarchische Herrschaftsrepräsentationen
zwischen Konsens und Konflikt: Zum
Wandel des Huldigungs- und Inthronisations-
zeremoniells im 19. Jahrhundert
Matthias Schwengelbeck
Untersuchungen zur Rolle der Monarchie in der Moderne haben seit eini-
ger Zeit wieder Konjunktur. War die Monarchie für die klassische Sozial-
geschichte höchstens als retardierendes Moment des Modernisierungspro-
zesses von Belang, wird sie nun als Bestandteil der Moderne selbst be-
trachtet.1 Methodisch ist das Interesse vor allem auf den gewachsenen Ein-
fluss sozial- und kulturanthropologischer Ansätze zurückzuführen. Im
Zentrum der meisten Studien stehen die Fürsten nicht mehr als souveräne
Staatenlenker, sondern als Akteure umfangreicher Rituale und Zeremonien.
Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei weniger auf die Monarchen selbst,
sondern auf die sie umgebenden Gesellschaften. Während sich die verschie-
denen Arbeiten in den Interpretationen und genauen Periodisierungen unter-
scheiden, eint sie der Befund einer Wiederbelebung monarchischer Reprä-
sentationen im 19. Jahrhundert: Die gekrönten Häupter Europas griffen
zunehmend wieder auf prunkendes höfisches Zeremoniell zurück, um sich
und ihre Herrschaft zu repräsentieren. In einem gewandelten gesellschaftli-
chen und politischen Umfeld richteten sich diese Inszenierungen an eine
jenseits des höfischen Verkehrs liegende Öffentlichkeit.2
——————
1 Vgl. Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und
England von 1640–1848, Göttingen 1993; Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der
Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen
1997; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwi-
schen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.
2 Vgl. David Cannadine, The Context, Performance and Meaning of Ritual: The British
Monarchy and the »Invention of Tradition«, c. 1820–1977, in: Eric Hobsbawm/
Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 101-164; kritisch
zu Cannadines Konzentration auf das ausgehende 19. Jahrhundert dagegen Linda
Colley, The Apotheosis of George III: Loyalty, Royalty and the British Nation 1760-
1820, in: Past and Present 102 (1984), S. 94-129; David E. Barclay, Anarchie und guter
Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995; Richard
Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Volume II:
124 MATTHIAS SCHWENGELBECK
liche Mittel, wie die Entfaltung eines besonderen Pomps bei Krönungen und
Huldigungen ist, von Neuem zu befestigen.«12
Neben der Krönung der englischen Königin Victoria aus dem Jahr 1837
dürften vor allem die 1840 abgehaltenen preußischen Huldigungsfeiern für
Friedrich Wilhelm IV. als Erfahrungshintergrund für diese Einschätzung
gedient haben. Diese hatten weit über Preußen hinaus ein vielstimmiges
Echo provoziert.13 Es ließen sich aber auch andere Beispiele nennen, die
von den Huldigungen für den sächsischen König Anton aus dem Jahre
1827, über die Huldigungs- und Einzugsfeierlichkeiten für den badischen
Großherzog Leopold im Jahre 1830 bis zu den 1837 abgehaltenen Ein-
zugsfeierlichkeiten für Ernst August von Hannover reichen. In allen Fällen
wurden traditionelle zeremonielle Formen verwendet, um den Regierungs-
antritt des neuen Monarchen in Szene zu setzen. Und selbst im revolutio-
nären Sommer 1848 schöpften die Parlamentarier der Paulskirche aus dem
zeremoniellen Fundus der Monarchie, um den Reichsverweser in sein neues
Amt einzuführen. Immer mehr verloren diese traditionellen Formen je-
doch ihren Wert als rechtskonstitutive Zeremonielle. Besonders deutlich
zeigte sich das im Fall der Thronbesteigung des preußischen Königs Wil-
helms I. im Jahr 1861. Während Wilhelm auf eine Huldigung drängte, ließ
die verfassungsrechtliche Struktur des konstitutionellen Preußens keine
solche Feier mehr zu. Auf Intervention seiner Minister und durch den
Druck einer politisierten Öffentlichkeit ließ sich der Nachfolger Friedrich
Wilhelms IV. schließlich darauf ein, mit einer feierlichen Krönung ein ze-
remonielles Äquivalent durchführen zu lassen, das allerdings keinerlei
rechtsgültige Qualität mehr besaß.
Um den damit angedeuteten politischen Funktions- uns Bedeutungs-
wandel des Huldigungs- und Inthronisationszeremoniells herauszuarbei-
ten, soll zunächst knapp die Bedeutung und die Veränderungen der Hul-
digung bis zum beginnenden 19. Jahrhundert skizziert werden (II). Dann
sollen die Besonderheiten und Entwicklungen des Huldigungs- und In-
thronisationszeremoniells im 19. Jahrhundert anhand zweier Beispiele
——————
12 Wilhelm Schulz, Huldigung, in: Carl Rotteck/Carl Welcker (Hg.), Das Staats-Lexikon.
Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, Bd. 7, Altona 1847,
S. 265-272.
13 Als einer der ersten Historiker hat bereits Heinrich von Treitschke auf die unterschiedli-
che Aufnahme der Huldigungsfeierlichkeiten hingewiesen. Vgl. Heinrich von Treitschke,
Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Fünfter Teil: Bis zur Märzrevolu-
tion, Leipzig 1894, S. 51ff.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 127
aufgezeigt werden. Während sich bei der Huldigung für Friedrich Wil-
helm IV. noch Überlagerungen von herrschaftskonstitutiven und herr-
schaftslegitimierenden Momenten offenbarten (III), lässt die Krönung
Wilhelms I. den neuen Stellenwert des Inthronisationszeremoniells im
Verfassungsstaat hervortreten (IV). Abschließend werden die Überlegun-
gen kurz zusammengefasst (V).
——————
14 Vgl. André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herr-
schaftsordnung (800-1800), Stuttgart/New York 1991.
15 Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und
Fehde, Darmstadt 1997; Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest. Überlegungen
zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen, in: Hans-Jürgen
Becker (Hg.), Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Tagung der Vereini-
gung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 22.3.-24.3.1999, Berlin 2003, S. 7-
49; dies., Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalisti-
sche Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte, in: Matthias Schnettger (Hg.), Impe-
rium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das alte Reich im Ver-
ständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233-246.
128 MATTHIAS SCHWENGELBECK
Noch in den 1790er Jahren war die traditionelle Einnahme der Erbhuldi-
gung ein weit verbreitetes Phänomen. Friedrich Wilhelm III. von Preußen
etwa ließ anlässlich seines Regierungsantritts 1798 zentrale Huldigungen in
Königsberg und Berlin durchführen. Der Huldigungseid war hier durch die
Ständevertreter sowie durch eigens gewählte Deputierte aus den Provinzen zu
leisten. Von der Tradition eines frühneuzeitlichen wechselseitigen Verpflich-
tungsaktes zwischen Herrschaft und Untertanen, der stets vor Ort aktualisiert
werden musste, hatten sich diese zentralisierten Huldigungsfeiern bereits weit
entfernt. Die durch Aufklärung und Französische Revolution an Attraktivität
gewinnende Nutzung des monarchischen Zeremoniells für patriotisch-natio-
nale Zwecke schlug sich bereits ansatzweise in den Huldigungsfeiern nieder.
Auf der Ebene der Herrscherwahrnehmung zeigten sich zudem Bewegungen
hin zu einem verbürgerlichten Nationalsymbol.19 Trotzdem war der rechtlich-
politische Charakter des Ereignisses nicht gänzlich verschwunden. Darauf
lassen etwa die Verhandlungen der Stände auf dem Huldigungslandtag schlie-
ßen, die auch durch den Ansturm des absolutistischen Zentralisierungsan-
spruchs nicht gänzlich hinweggefegt worden waren.20 Noch klarer treten
solche Kontinuitäten in Staaten mit starken ständischen Traditionen hervor.
So waren in Württemberg die Zusicherungen der Rechte und Privilegien an
die Stände bis zum Endes des Alten Reiches die Grundbedingung für das
Gelingen der Huldigung. Und auch in Kleinstaaten, wie zum Beispiel Lippe,
verliefen die Huldigungen noch traditionell.21
Obsolet wurde die herkömmliche Huldigung in vielen Staaten erst mit
der Entstehung des modernen Konstitutionalismus. Denn die Einführung
geschriebener Verfassungen stellte die Herrschaftsverhältnisse zwischen
Monarch und Untertanen auf eine neue Basis. An die Stelle der »Verfassung
in actu« rückte ein herrschaftsbegründendes, umfassend wirkendes und mit
universalem Anspruch auftretendes Regelungswerk.22 Als Symbol repräsen-
tierte die geschriebene Verfassung nun das »für die politische Kultur konsti-
tutive symbolische Ensemble«.23 Auch wenn sich konstitutionelle Reformen
——————
19 Vgl. Wienfort, Monarchie [wie Anm. 1], S. 131ff.
20 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von
den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart 1992.
21 Vgl. STA Detmold, L77 B, Fach 4 Nr. 6.
22 Vgl. zur epochalen Bedeutung moderner Verfassungen Dieter Grimm, Deutsche Verfas-
sungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt/M. 1988.
23 Jürgen Gebhardt, Verfassung und Symbolizität, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität
und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und
Gegenwart, Köln u.a. 2001, S. 585-602, hier 588.
130 MATTHIAS SCHWENGELBECK
zunächst nur in wenigen Staaten des deutschen Bundes durchsetzten, war die
Verfassungsfrage spätestens seit dem Wiener Kongress nachdrücklich auf die
Agenda politischen Handelns getreten; selbst dort, wo sich der monarchische
Staat mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Die eingeführten, in Aussicht
gestellten oder erwünschten Verfassungen transportierten neue politische
Ordnungsvorstellungen. Mit diesen war die vormoderne Praxis der symboli-
schen Konstitution von Herrschaftsverhältnissen im Huldigungsritual nicht
mehr zu vereinbaren. Zwar wurde die Huldigung in einigen Staaten aus-
drücklich in der Verfassungsurkunde erwähnt und an einen vorhergehenden
Verfassungsschwur des Monarchen gekoppelt. In fast allen Fällen wurde sie
dann jedoch nicht mehr durchgeführt.24
Neben dem konstitutionellen Argument lässt sich noch ein weiterer
Grund für das Ausbleiben der Huldigungen in der Zeit nach 1815 ausma-
chen. Bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dann verstärkt in
der nachnapoleonischen Zeit waren die meisten Dynastien bestrebt, sich in
ihrer Selbstdarstellung von der opulenten Praxis des barocken Prunks ab-
zusetzen. Der Verzicht auf ein ausgefeiltes Huldigungszeremoniell ist da-
her im Kontext insgesamt verringerter Aufwendungen für monarchische
Repräsentationen zu sehen.25 Die aufklärerische Projektion eines schlich-
ten, familienorientierten »Bürgerkönigs« schien gewissermaßen in der ze-
remoniellen Zurückhaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Bestäti-
gung gefunden zu haben.26
——————
24 In Württemberg etwa regelte das zweite Kapitel der 1819 erlassenen Verfassungsur-
kunde: »Der Huldigungs-Eid wird dem Thronfolger erst dann abgelegt, wann Er in einer
den Ständen des Königreichs auszustellenden feierlichen Urkunde die unverbrüchliche
Festhaltung der Landes-Verfassung bei Seinem Königlichen Worte zugesichert hat.«
(Die Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819,
hrsg. v. C. B. Fricker, Tübingen 1865, S. 508). Trotz des Verlangens der Stuttgarter Bür-
gerschaft verzichtete König Wilhelm im gleichen Jahr auf die Einnahme der Huldigung.
Seinem Innenminister von Otto folgend, dass es sich bei der Huldigung nur um eine
»res merae facultatis« handele, entschied sich Wilhelm gegen eine Huldigung, da sie zum
einen nicht notwendig und zum anderen mit Umständen und erheblichen Kosten ver-
bunden wäre. (HSTA Stuttgart, E 31, 5, Vortrag des Ministers des Innern, 19.11.1819;
vgl. ebd. Wilhelm an den Minister des Innern, 19.11.1819.)
25 Vgl. Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. Jahr-
hunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie, Tübingen
1993; Paulmann, Pomp [wie Anm. 1], S. 249ff.
26 Vgl. zum Konzept des Bürgerkönigtums Heinz Dollinger, Das Leitbild des Bürgerkönig-
tums in der europäischen Monarchie des 19. Jahrhunderts, in: Werner (Hg.), Hof,
S. 325-364; kritisch dazu Thomas Stamm-Kuhlmann, War Friedrich Wilhelm III. von
Preußen ein Bürgerkönig? In: Zeitschrift für historische Forschung 16 (1989), S. 441-
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 131
——————
460; zum argumentativen Vorgriff des Konzepts Wienfort, Monarchie [wie Anm. 1],
S. 205ff.
27 Vgl. die Beschreibungen bei Karl Streckfuß, Der Preußen Huldigungsfest, Berlin 1840.
132 MATTHIAS SCHWENGELBECK
——————
28 Vgl. August Witt, Die feierliche Erbhuldigung der Stände des Königreiches Preußen und
des Großherzogthumes Posen am 10. September 1840, der Huldigungs-Landtag des
Königreiches Preußen, und die aus Veranlassung der Anwesenheit Ihrer Majestäten in
Königsberg stattgefundenen Festlichkeiten, Königsberg 1840, S. 90-112.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 133
Nachdem der König seine Ansprache beendet hatte, brach ein allgemeiner
Jubel unter den Anwesenden aus.
Die Rede war dabei weniger wegen ihres Inhalts von Interesse, son-
dern als neuartige symbolische Handlung. »Die Kraft der Stimme, der
Schwung der Worte, die Poesie der Bilder, vor allem Das Neue und Un-
gewöhnliche der Kundgebung«, erinnerte sich der seinerzeit in Königs-
berg als Student eingeschriebene Liberale Ferdinand Falkson, »machten
in diesem Momente einen gewaltigen Eindruck, der noch lange nach-
wirkte.«30 Bemerkenswert war die Ansprache Friedrich Wilhelms vor al-
lem, weil sie den traditionellen Sinn der Huldigung gleichsam umkehrte.
Denn während die traditionelle wechselseitige Verpflichtung zugleich
eine Hierarchie geschaffen und bestätigt hatte, weil die Untertanen einen
feierlichen, religiös gebundenen Eid zu leisten hatten, dem lediglich eine
Privilegienbestätigung durch den Fürsten gegenübergestellt war, hatte der
preußische König die Eidesleistung nun praktisch mit einem Gegen-
schwur beantwortet. Damit hatte er sich symbolisch auf die gleiche Stufe
wie die Deputierten gestellt. Auch wenn das keineswegs der Intention
Friedrich Wilhelms entsprach, wurde es doch so interpretiert. »Was war
es denn«, fragte Robert Prutz in seinem Bericht, »was die Menge in diese
Trunkenheit versetzte?« Es sei weniger der Inhalt der Rede gewesen,
sondern »es war der unerhörte Anblick eines Königs, der in Person vor
sein Volk trat, und, unaufgefordert, unverpflichtet, den Eid der Treue,
den er empfangen, mit einem gleichen Eide erwiederte; (...) Dazu kam die
Erinnerung an die Worte des Landtagsabschieds. Nicht wenige von den
Zuhörern gestanden hinterdrein, sie hätten, als der König zu reden an-
——————
29 Ebd., S. 113f.
30 Ferdinand Falkson, Die liberale Bewegung in Königberg (1840-1848), Breslau 1888,
S. 39.
134 MATTHIAS SCHWENGELBECK
hub, nichts Geringeres erwartet, als es werde nun sofort die Verfassung
verkündet werden.«31
Prutz bezog sich hier auf die Verhandlungen des zuvor abgehaltenen
Huldigungslandtags. Die ständischen Deputierten hatten diesen traditio-
nellen Rahmen genutzt, um vorsichtig auf die Gründung einer »verfas-
sungsmäßigen Vertretung des Landes« zu drängen.32 Der königliche
Landtagsabschied vom 9. September hatte darauf nicht eindeutig geant-
wortet. Friedrich Wilhelm IV. hatte hier lediglich verkünden lassen, dass
er den Ständen »in einer in hergebrachter Form auszufertigenden Asse-
kurationsurkunde, die feste und unverbrüchliche Aufrechterhaltung der
bestehenden ständischen Verfassung der Provinz, wie sie durch die erlas-
senen Gesetze begründet ist, bei Unserem Königlichen Wort zusichern
wollen«. Hinsichtlich der Bitte des Landtags um die Erweiterung der
ständischen Verfassung mit »Bezugnahme auf die Verordnung vom
22. Mai 1815« wolle er jedoch »den naturgemäßen auf geschichtlicher
Entwickelung beruhenden und der Deutschen Volksthümlichkeit ent-
sprechenden Weg« seines Vaters weitergehen, dessen Ergebnis die bereits
»verliehene provinzial- und kreisständische Verfassung« sei.33 Daraus
sprach zunächst eine klare Ablehnung konstitutioneller Reformen. Die
Annahme einer Übereinstimmung der ständischen Propositionen mit den
Vorstellungen des Königs wurde jedoch dadurch genährt, dass der
Landtagsabschied in das zeremonielle Geschehen der Huldigung einge-
bunden war. Hier waren es weniger die inhaltlichen Einzelheiten der
Verhandlungen, die im Vordergrund standen, sondern der Eindruck des
Ereignisses in seiner Gesamtgestalt.
Die Rede des Königs bei der Huldigung wurde dabei von vielen Sei-
ten als Beleg gewertet, dass der Erlass einer Verfassung nun unmittelbar
bevorstehen würde. »Aufgeregt, voll Vertrauen, voll Erwartung und voll
Hoffnung«, berichtet Fanny Lewald, wären die Menschen nach dem Hul-
digungsakt zu gemeinsamen Tafeln zusammengekommen. »Man wollte
——————
31 Robert Prutz, Zehn Jahre. Geschichte der neuesten Zeit. 1840-1850, Erster Band, Leip-
zig 1850, S. 244; von einem »Gegenschwur« des Königs sprechen viele Aufzeichnungen,
die auf die Königsberger Huldigung Bezug nehmen. Vgl. etwa Karl August Varnhagen
von Ense, Tagebücher, Erster Band, Leipzig 1861, S. 216; Ferdinand Raabe, Königs-
bergs Jubeltage während der Huldigungsfeier Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm
IV. Eine Erinnerungsgabe, Königsberg 1840, S. 78.
32 Denkschrift der Stände, in: Alfred von Auerswald, Der Preußische Huldigungs-Landtag
im Jahre 1840, Königsberg 1843, S. 48f.
33 Landtagsabschied, in: Auerswald, Huldigungs-Landtag [wie Anm. 32], S. 57f.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 135
von den Andern hören, daß man dies Alles wirklich erlebt, daß ein König
von Preußen aus freiem Antrieb also zu seinem Volke geredet habe, man
wollte sich aussprechen.« Dabei hätten sich viele Stimmen darin geeinigt, »die
Rede des Königs als ein Versprechen, als die Zusage anzunehmen, mit wel-
cher er die Verfassung zur Ausführung zu bringen verhieß, welche sein Vater
dem Lande noch schuldig geblieben war.« Es sei in dem »Eidschwur« des
Königs davon nicht direkt die Rede gewesen, »aber man hatte mit vor-
eingenommener Seele zugehört, und das Orakel auf seine Weise gedeutet.«34
In seiner kurzen Skizze der Königsberger Ereignisse hat Heinrich von
Treitschke dabei ein »verhängnisvolles wechselseitiges Mißverständnis«
zwischen Monarch und Ständen ausgemacht. Während Friedrich Wilhelm
die ständischen Verhältnisse habe bewahren wollen, hätten die Deputierten
des Huldigungslandtags an »mindestens eine halbe Gewährung« ihrer Kon-
stitutionsforderung geglaubt. Der Grund für dieses »Mißverständnis« lag
jedoch weniger in einer naiven Leichgläubigkeit der huldigenden Stände,
wie es Treitschke darstellte. Niemand habe »nüchtern« gefragt, so die Kri-
tik des Nestors der borussischen Geschichtsschreibung, ob denn die
»schwungvollen Beteuerungen« des Königs »irgendeinen greifbaren politi-
schen Inhalt« gehabt hätten.35 Vielmehr lässt sich ein unterschiedliches
Verständnis der Huldigung diagnostizieren, das den Grund für die diver-
gierenden Interpretationen legte. Diejenigen, die meinten, dass hier eine
Verfassung in Aussicht gestellt oder sogar schon bewilligt worden war,
gingen paradoxerweise von einem traditionellen Verständnis der Huldi-
gung aus. Danach besaß die symbolische Praxis eine herrschaftskonstitu-
tive Qualität und konnte der Auftritt des Monarchen als Ausdruck dafür
gewertet werden, dass die Verfassung schon verbindlich gewährt worden
war. Demgegenüber zielte Friedrich Wilhelm IV. auf eine Revitalisierung
ständischer Strukturen, nutzte das Ereignis der Huldigung aber in einem
modernen Sinn. Es ging ihm darum, so David Barclays gelungene Formu-
lierung, »mittels ideologischer Appelle an Verstand und Emotion das mo-
narchische Empfinden zu festigen«. Damit, so Barclay weiter, habe sich der
preußische König zum »Neugestalter der Tradition« aufgeschwungen, der
vormoderne zeremonielle Versatzstücke wie die Eidesleistung in einen
modernen, ideologischen Kontext transformierte.36
——————
34 Fanny Lewald, Meine Lebensgeschichte, Zweite Abtheilung: Leidensjahre, Zweiter
Theil, Berlin 1862, S. 249.
35 Treitschke, Geschichte [wie Anm. 13], S. 46.
36 Barclay, Anarchie [wie Anm. 2], S. 94, 161.
136 MATTHIAS SCHWENGELBECK
——————
37 Mit dem Bundespressegesetz von 1819 waren die zuvor heterogenen Zensurbestimmun-
gen in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes vereinheitlicht worden. Der Kern des
Gesetzes bestand in einer Bestimmung, die alle Schriften mit weniger als 20 Bögen der
Zensur unterwarf. Jenseits der normativen Ebene war die Rechtspraxis jedoch stark von
der Handhabung in den verschiedenen Staaten einerseits und dort vom Verhalten des
jeweiligen Zensors andererseits abhängig. Vgl. Wolfram Siemann, Ideenschmuggel.
Probleme der Meinungskontrolle und das Los deutscher Zensoren im 19. Jahrhundert,
in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 71-106; Jörg Requate, Journalismus als Beruf.
Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert, Göttingen
1995, S. 244ff.; zur Rolle der Zeitung als Leitmedium politischer Kommunikation im 19.
Jahrhundert Jörg Requate, Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation, in: Ute
Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in
der Geschichte, Göttingen 2004, S. 139-167.
38 Königlich Preußische Staats- Kriegs- und Friedens-Zeitung, Nr. 215, 14.9.1840.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 137
darauf mit einem Artikel reagierte, der dieser Lesart widersprach, spiegelte
deren Selbstverständnis. Trotz der rigiden preußischen Pressezensur ge-
noss die Königsberger Zeitung den Ruf eines freisinnigen, liberalen Blattes, in
dem vor allem außerredaktionelle Mitarbeiter mit mutigeren Beiträgen
auftraten.43
Der Konflikt um den Artikel in der Königsberger Zeitung verweist aller-
dings auch darauf, wie schwer es war, die preußischen Zensurhürden zu
umgehen. In größerem Umfang wurde daher der Weg über Staaten ge-
wählt, die über eine liberalere Pressegesetzgebung verfügten. Im Falle der
Königsberger Huldigung waren es vor allem die Leipziger Allgemeine Zeitung
und die Augsburger Allgemeine Zeitung, die als Sprachrohr der konstitutionel-
len Kräfte dienten. In einem Brief an seinen Bruder berichtete Theodor
von Rochow, dass die »Redaktion in Augsburg« mit Aufsätzen »überflutet«
werde, die sich so »heftig und einseitig« mit den Königsberger Ereignissen
beschäftigten, dass man sie zurückweise, andere würden aus »Rücksicht«
auf die empfehlenden Personen leider gedruckt.44 Zu letzterer Kategorie
gehörte auch eine am 23. September erscheinende Beschreibung der Kö-
nigsberger Huldigung. Die Eidesleistung der Stände begründete deren Ver-
fasser damit, dass ein Jeder Ursache gehabt habe, »einem König aufrichtige
Treue und Liebe zu schwören, der, wie es am Huldigungstage als allgemein
bekannt freudig von Munde zu Munde ging, die Petition seiner preußi-
schen Landstände, das Gesetz vom 22. Mai 1815 in Kraft treten zu lassen,
nicht nur freundlich aufgenommen, sondern auch geäußert haben sollte,
daß er sich’s zur Ehre schätze, ein Werk, an dessen Entwerfung er mitge-
arbeitet, bald ganz in Leben treten zu lassen«. Die Stimmung sei dann noch
dadurch gesteigert worden, dass Friedrich Wilhelm IV. »gegen den Treue-
schwur seiner Unterthanen freiwillig sein eigenes königliches Wort ver-
pfändete!« Der großartige Eindruck der ganzen Huldigung habe dabei aus
dem »königlichen Wort« resultiert, welches »von Tausenden gehört eine
That geworden« sei und von dem nun »eine neue Epoche der Geschichte
Preußens und Deutschlands« datiere.45 Diesen und verschiedene in der
Leipziger Allgemeinen erschiene Artikel, die auch von einer Bewilligung der
ständischen Anträge auf eine Verfassung sprachen, hervorhebend verwies
von Rochow in dem schon angesprochenen Brief an Friedrich Wilhelm IV.
——————
43 Vgl. Requate, Journalismus [wie Anm. 37], S. 247.
44 GStAPK, VI. HA., Nl. von Rochow B 25, Theodor von Rochow an seinen Bruder Gus-
tav, 2.10.1840.
45 Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 267, 23.9.1840.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 139
Dass der preußische König jedoch ein gänzlich anderes Verständnis von
Staat und Gesellschaft besaß, offenbarte sich in der Gestaltung der Berliner
Huldigung. Ähnlich wie in Königsberg nutzten jedoch auch hier zunächst
die städtischen Behörden und Gewerke den Einzug am 21. September
1840, um das eigene Gewicht im monarchischen Staat in Szene zu setzen.
Dessen Organisation und Vorbereitung hatte die Berliner Stadtverordne-
tenversammlung in die Hand genommen und ein umfangreiches Pro-
gramm entworfen. Darin war genau festgelegt, welche baulichen Einrich-
tungen in welcher Weise ausgeführt werden sollten, wo sich die Repräsen-
tanten der städtischen Behörden und die Gewerke aufzustellen hatten so-
wie welche Gebäude seitens der Stadt am Abend zu illuminieren waren.48
Anders als im Königsberger Fall waren die Inszenierungen eher ein Ergeb-
nis zentraler Planungen als ein Produkt allgemeiner Beteiligung. Dennoch
besaß auch der Berliner Einzug durchaus einen »rein bürgerlichen und
städtischen Charakter«, wie die Kölnische Zeitung am 26. September erfreut
——————
46 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 98, Nr. 36A, Rochow an Friedrich Wilhelm IV.,
28.9.1840.
47 Vgl. Neugebauer, Politischer Wandel [wie Anm. 20], S. 449ff.
48 Programm der Empfangs-Feierlichkeiten, welche bei Gelegenheit der beglückenden
Rückkehr Sr. Majestät des Königs und Ihrer Majestät der Königin in die Haupt- und Re-
sidenzstadt Berlin am 21. September 1840 stattfinden, in: Streckfuß, Huldigung [wie
Anm. 27], Beilagen S. 20-34.
140 MATTHIAS SCHWENGELBECK
gelesen werden kann. Dabei sind vor allem zwei Charakteristika von Be-
deutung: die ständische Ordnung und Hierarchisierung des huldigenden Volkes
einerseits und die Selbstinszenierung Friedrich Wilhelms IV. andererseits.52
Nach Ständen geordnet zogen die städtischen und landgemeindlichen
Deputierten sowie Ritterschaft und Standesherren am Morgen des Huldi-
gungstages zunächst zum evangelischen Gottesdienst und zum katholi-
schen Hochamt. Danach begaben sich die Deputierten der Städte und
Landgemeinde zur Berliner Bürgerschaft in die im Lustgarten aufgestellten
Schranken. Standesherren, Ritterschaft und die Geistlichkeit folgten hinge-
gen dem Zug des Königs in das Schloss, wo im Rittersaal die Standesher-
ren und die Geistlichkeit und im Weißen Saal die Ritterschaft huldigen
sollten. Besonders auffällig an dieser Aufteilung war die Privilegierung der
Ritterschaft, wie sie schon von den Städtedeputierten bemängelt worden
war. In der räumlichen Anordnung wurde diese Privilegierung nun für alle
Beteiligten erfahrbar. Nachdem die Ritterschaft im Weißen Saal gehuldigt
hatte, stellte sie sich gemeinsam mit den Standesherren und der Geistlich-
keit auf die Tribünen, die seitlich an den Huldigungsbalkon vor dem
Schloss errichtet worden waren. Darauf begab sich auch Friedrich Wilhelm
IV. auf den für ihn auf dem Huldigungsbalkon angebrachten Thron, und
die »Haupthandlung« des Tages wurde eröffnet. Auf die Ansprache des
Innenministers von Rochow antwortete der Berliner Oberbürgermeister
Krausnick für die Deputierten der Städte und Landgemeinden sowie die
Berliner Bürgerschaft. Jenseits des Inhalts der Reden fiel hier vor allem die
Ordnung des symbolischen Raums auf. Während sich die Ritterschaft auf
den Tribünen befand, musste Krausnick seine Rede von den unteren Stu-
fen einer langen Treppe aus halten, die vom Huldigungsbalkon hinunter
zum Lustgarten führte. Der von einer dem Huldigungsbalkon gegenüber-
liegenden Tribüne aus zusehende Schriftsteller Varnhagen von Ense kom-
mentierte die Situation so: »Einfallender Regen störte weniger, als daß man
den Bürgermeister von Berlin ganz unten auf den Stufen der ungeheuern
Treppe entblößten Hauptes seine Rede halten sah; die Ritterschaft hatte
oben gehuldigt, er durfte nicht hinauf; ich dachte an den tiers état in
Frankreich, der seine Anträge dem Könige kniend vorbringen mußte.«53
Die Botschaft des Zeremoniells war eindeutig. Im Gegensatz zum Ein-
zug, der noch als Fest mit einem »rein bürgerlichen und städtischen Cha-
——————
52 Vgl. zum Folgenden die detaillierten Schilderung bei Streckfuß, Huldigung [wie Anm.
27], S. 84ff.; Vossische Zeitung, Nr. 243, 16.10.1840; Spenersche Zeitung, Nr. 243,
16.10.1840.
53 Varnhagen, Tagebücher [wie Anm. 31], S. 228f.
142 MATTHIAS SCHWENGELBECK
rakter« gefeiert worden war, trat hier ein monarchischer Staat auf, der auf
einer ständischen Hierarchie gründete. Der Monarch präsentierte sich nicht
als »Bürger« unter »Bürgern«, wie es den Königsbergern bei ihrem Einzug
noch erschienen war, sondern als abgehobener Herrschaftsträger, dem die
Angehörigen des »dritten Standes« nur als treue Untertanen entgegentreten
durften. Bei der Huldigung der Ritterschaft im Weißen Saal hatte Friedrich
Wilhelm IV. in einigen Worten bereits sein Selbstverständnis als König
von Gottes Gnaden zum Ausdruck gebracht. Nach dem Ende der Anspra-
che Krausnicks und vor der nun im Programm vorgesehenen Eidesleistung
erhob sich der König jedoch erneut wie in Königsberg und richtete eine
Ansprache an die im Lustgarten versammelten Menschen. Er gelobe sein
Regiment in der »Furcht Gottes und in der Liebe der Menschen zu führen«
und richte nun an die Anwesenden »in dieser ernsten Stunde eine ernste
Frage! Können Sie, wie ich hoffe, so antworten Sie mir, im eigenen Na-
men, im Namen derer, die Sie entsendet haben! Ritter! Bürger! Landleute!
Und von denen hier unzählig Geschaarten Alle! Die meine Stimme ver-
nehmen können – Ich frage Sie: wollen Sie mit Herz und Geist, mit Wort
und That und ganzem Streben, in der heiligen Treue der Teutschen, in der
heiligeren Liebe der Christen mir helfen und beistehen, Preußen zu erhal-
ten, wie es ist, wie ich es so eben, der Wahrheit entsprechend, bezeichnete,
wie es bleiben muß, wenn es nicht untergehen soll? Wollen Sie in diesem
Streben Mich nicht lassen noch versäumen, sondern treu mit mir ausharren
durch gute wie durch böse Tage – O! dann antworten Sie Mir mit dem kla-
ren, schönsten Laute der Muttersprache, antworten Sie Mir ein ehrenfestes
Ja!«54 Es erscholl ein lautes »Ja« unter den Anwesenden, woraufhin die Ei-
desleistung vollzogen und die Feier abgeschlossen wurde.
Aus Sicht Friedrich Wilhelms IV. war dies der Beweis für ein inniges
Verhältnis zwischen ihm und seinen Untertanen, das sowohl den frühneu-
zeitlichen wechselseitig verpflichtenden Charakter der Huldigung übertraf,
als auch den disziplinierenden Anspruch der absolutistischen Zeremonial-
wissenschaft hinter sich ließ. Aufgrund des sprachlichen Pathos ist die Rede
als »weltliche Hochzeitspredigt« bezeichnet worden, die »über den her-
kömmlichen Ritus hinaus, das Sakrament der Ehe zwischen Fürst und Volk«
stiften haben wolle.55 Ihr politischer Sinn bestand dabei darin, dass sie auf
——————
54 Zwei Reden des Königs Friedrich Wilhelm IV. Vom Throne aus gesprochen am
15. October 1840 bei der Huldigung in Berlin, Berlin 1840, S. 12f.
55 So die Charakterisierung von Ernst Lewalter. Friedrich Wilhelms Ansprache sei keine
politische Rede gewesen, sondern den religiösen Empfindungen des emotional überwäl-
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 143
——————
tigten Monarchen entsprungen. Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. Das Schicksal ei-
nes Geistes, Berlin 1938, S. 358.
56 Brünneck an seinen Sohn Siegfried, in: Paul Herre, Von Preußens Befreiungs- und
Verfassungskampf. Aus den Papieren des Oberburggrafen Magnus von Brünneck, Ber-
lin 1914, S. 346.
57 Dirk Blasius, Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte,
Göttingen 1992, S. 103.
58 Ebd., S. 101.
59 Barclay, Anarchie [wie Anm. 2], S. 94.
60 Lewalter, Friedrich Wilhelm IV. [wie Anm. 55], S. 360.
144 MATTHIAS SCHWENGELBECK
dann 1861 nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. in der Diskussion um die
»Huldigungsfrage« einnahm. Denn nur widerwillig und unter inneradminist-
rativem sowie öffentlichem Druck beugte er sich hier den veränderten staats-
rechtlichen Verhältnissen und gab die Huldigungspläne zugunsten einer fei-
erlichen Krönung auf. An der Krönung selbst lässt sich besonders
anschaulich die Bedeutungs- und Funktionsverschiebung des monarchischen
Zeremoniells im 19. Jahrhundert aufzeigen. An die Stelle der rechtlichen
Verbindlichkeit der Huldigung rückte eine juristisch folgenlose Inszenierung,
die gleichwohl ein großes staatspolitisches Gewicht besaß. Ganz wesentlich
als Mittel zur Gewinnung politischer Mehrheiten für den monarchischen
Herrschaftsanspruch eingesetzt, konnten die politischen Kommunikations-
prozesse jedoch zugleich von außen beeinflusst werden. Was in diesem Zu-
sammenhang besonders ins Auge fällt, ist die gewachsene Deutungsmacht
der Presse. Jenseits der zeremoniellen Handlungen wurde hier über die poli-
tische Bedeutung der Krönung und die Legitimität des daran gekoppelten
Ordnungsmodells gestritten. Auf diese Zusammenhänge wird nun näher
einzugehen sein.
1. Die »Huldigungsfrage«
Bereits vier Tage nachdem Friedrich Wilhelm IV. am 2. Januar 1861 ge-
storben war, legte der preußische Innenminister Schwerin ein umfangrei-
ches Votum vor, in dem er sich zu der »durch den jetzt eingetretenen
Thronwechsel in den Vordergrund gerückten Frage« äußerte, »ob es nach
Emanation der Verfassungs-Urkunde der Erbhuldigung noch bedarf und
ob sie nach deren Bestimmungen und der späteren Gesetzgebung über-
haupt noch geläufig ist«.62 Als liberale Stütze des Ministeriums der
»Neuen Ära«, das Wilhelm I. nach der krankheitsbedingten Niederlegung
der Regierungsgeschäfte durch Friedrich Wilhelm IV. schon im Novem-
ber 1858 berufen hatte, nahm Schwerin einen dezidiert konstitutionellen
Standpunkt ein.63
——————
62 GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Votum des Ministers des Innern v. 6. Januar 1861
betreffend die allgemeine Landeshuldigung mit Rücksicht auf die Bestimmungen der
Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850.
63 Vgl. allgemein zum Ministerium der »Neuen Ära« Leo Haupts, Die liberale Regierung in
Preußen in der Zeit der »Neuen Ära«. Zur Geschichte des preußischen Konstitutiona-
lismus, in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 45-85.
146 MATTHIAS SCHWENGELBECK
——————
67 Vgl. etwa Kreuzzeitung, Nr. 133, 11.6.1861; Magdeburgische Zeitung, Nr. 133,
11.6.1861; Preußische Zeitung, Nr. 134, 12.6.1861.
68 Kreuzzeitung, Nr. 148, 28.6.1861.
69 Spenersche Zeitung, Nr. 135, 13.6.1861.
148 MATTHIAS SCHWENGELBECK
——————
75 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90, Nr. 1969, Wilhelm an den Minister des Innern, 6.7.1861.
76 Vgl. GStAPK, BPH, Rep. 113, Nr. 1603, Programm zur Feier der Krönung Sr. Majestät
des Königs Wilhelm; das Programm ist sofort in den Zeitungen abgedruckt und auch
von den offiziellen Beschreibungen der Krönung reproduziert worden.
152 MATTHIAS SCHWENGELBECK
rück auf die Throntribüne vor das Schloss, um dort die Ansprachen der
Vertreter der beiden Häuser des Landtags sowie der provinzialständischen
Krönungszeugen entgegenzunehmen.
Anders als im Jahr 1701 wurde mit diesem Auftritt vor einem großen,
heterogenen Publikum ein zweiter Hauptakt kreiert, der das kirchliche Ze-
remoniell der Krönung geradezu überstrahlte. Zwar bildete die Krönung in
der Schlosskirche im Programm nach wie vor das Zentrum des Zeremo-
niells. Gemessen an dessen veränderten funktionalen Stellenwert kam es aber
vor allem auf die »feierliche Ceremonie auf dem Krönungsbalkon im Ange-
sicht des Volkes« an.82 Der Berichterstatter der Augsburger Allgemeinen Zeitung
sah hierin sogar den »rein politische[n] (...) Theil« des Zeremoniells.83 Da die
Krönung keinen statuskonstitutiven Charakter mehr besaß, ging es wesent-
lich darum, mit dem »äußeren Glanze«, wie es Schleinitz formuliert hatte, auf
die Öffentlichkeit zu wirken. Durch den zeremoniellen Auftritt sollte in
größeren Bevölkerungskreisen Zustimmung zur Monarchie gewonnen wer-
den. In der zeremoniellen Sequenz auf der Throntribüne wurde so das Sze-
nario des monarchischen Herrschaftsentwurfs präsentiert, zugleich zeigten
sich aber auch dessen Grenzen. An zwei Aspekte soll das näher erläutert
werden: zum einen an der symbolischen Ordnung des Raumes, zum anderen
an den Sprechhandlungen des Zeremoniells.
Die räumliche Ordnung vermittelte das Bild traditioneller Hierarchien.
In der Mitte der Throntribüne und auf dem höchsten Punkt, der durch
den herabhängenden Thronhimmel noch zusätzlich hervorgehoben
wurde, stand der Monarch im vollen Krönungsornat. In seiner direkten
Umgebung hatten sich der Kronprinz und die Prinzen des königlichen
Hauses positioniert. Reichsinsignien und Reichspanier wurden von ihren
Trägern präsentiert. Neben dem Thron auf der linken Seitentribüne grup-
pierten sich die Staatsminister und die Krönungsbotschafter, während sich
die Hofstaaten und die Generalität auf der rechten Seitentribüne aufge-
stellt hatten. In unmittelbarer Nähe zum König, besonders abgehoben
durch die prachtvollen Tribünenaufbauten und durch eine lange Frei-
treppe von dem übrigen Publikum getrennt, präsentierte sich hier die hö-
fisch-militärische Elite. Demgegenüber war für die Abgeordneten des
Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses nur ein Platz unterhalb der
Tribüne rechts dem Thron gegenüber eingerichtet, den sie mit den Krö-
nungszeugen aus den Provinzen teilen mussten. Auch dieser Platz war
——————
82 Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 245, 19.10.1861.
83 Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 296, 23.10.1861.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 155
wiederum mit Schranken separiert und erst dann öffnete sich der Raum
für das allgemeine Publikum.
Diese Anordnung brachte das Herrschaftsverständnis Wilhelms I. klar
zum Ausdruck. Er verstand sich weiterhin als König von Gottes Gnaden,
dessen Position sich nicht aus einer in der Verfassung umschriebenen
Stellung bestimmte und der von einer höfisch-militärischen Elite umgeben
war, die ihren Führungsanspruch im Staat behaupten wollte. Allerdings
mussten sowohl die Verfassung als auch die konstitutionell vorgeschriebe-
nen Organe berücksichtigt werden. Auch wenn Wilhelm I. ausdrücklich
darauf bestanden hatte, Krönungszeugen zu benennen, die an die ehemali-
gen provinzialständischen Huldigungsdeputierten erinnern sollten, waren
die Mitglieder der Landtage als die verfassungsmäßigen Repräsentations-
körperschaften im Zeremoniell nicht zu umgehen.
Die Widersprüche zwischen Wilhelms Souveränitätsanspruch und der
Verfassungsgebundenheit des Königsamtes, die nur noch in der staats-
rechtlichen Theorie des monarchischen Prinzips problemlos harmonierten,
fanden ihren Ausdruck in den Ansprachen, die nun gehalten wurden. Da
auch die Krönung in der Tradition vormoderner Konsensrituale stand,
wurden die Konflikte zwar nicht offen ausgetragen, lassen sich aber aus
den fein ziselierten Nuancen der Ansprachen herauslesen. Auf das Podest
der Freitreppe und vor den Thron tretend legte zunächst Prinz zu Hohen-
lohe-Ingelfingen »zu der so eben vollzogenen Krönung die ehrfurchtsvol-
len Wünsche« der Mitglieder des Herrenhauses nieder. Die kurz gehaltene
Ansprache an den König hob die »Liebe und Treue der Preußen für ihren
angestammten Herrscher« hervor und wies in einer traditionellen Form auf
den »Glanz der Krone« hin, der seit 160 Jahren zugenommen habe und
sich auch in Zukunft »immer strahlender« gestalten würde.84 Darauf sprach
von gleicher Stelle der dem Lager der altliberalen »Fraktion Vincke« zuzu-
schlagende Präsident des Abgeordnetenhauses, Eduard Simson, zum Kö-
nig. In dem Akt der Krönung trete die »unmittelbare, die persönliche Be-
ziehung des Herrschers zu seinem treuen und freien Volke« in ihrer »un-
zerstörlichen Bedeutung« hervor. Diese sei durch »die Veränderung der
Verfassung nicht nur nicht beeinträchtigt, vielmehr in Reinheit und Ener-
gie gesteigert« worden. Diese persönliche Beziehung mache das »Königs-
haus zu einem Vaterhause«. Möge daher »Eure Majestät den Zuruf treuer
Liebe und bewußter hingebender Verehrung, wie er Allerhöchstdenselben
——————
84 Stillfried, Krönung [wie Anm. 77], S. 116.
156 MATTHIAS SCHWENGELBECK
nächsten Satz. Hier hob er die »Liebe und Anhänglichkeit« hervor, die ihm
seit seinem Regierungsantritt entgegengebracht worden sei. Im »Vertrauen
darauf«, überging der König souverän die eigentlichen Gründe für das Zu-
standekommen der Krönung, »habe Ich den althergebrachten Erbhuldi-
gungs- und Unterthanen-Eid Meinem treuen Volke erlassen können«.87 Nur
widerwillig fand sich Wilhelm mit den »zeitgemäße[n] Einrichtungen« ab, die
den Thron nun umgaben. Grundsätzlich verstand er sich noch als unum-
schränkter König von Gottes Gnaden. Allerdings hatte sich in der zeremo-
niellen Präsenz der Vertreter des Abgeordnetenhauses und in der Rede ihres
Präsidenten Simson gezeigt, dass die verfassungsmäßigen Einrichtungen
nicht mehr übergangen werden konnten.
cher bisher jeder Preußische König bekannt, sie von Gott allein zu Lehn
zu tragen«. Dementsprechend offenbare sich im Königsberger Zeremoniell
die »symbolische Darstellung des Altpreußischen Staatsrechts und der In-
vestitur von Gottes Gnaden« sowie der »unzweideutigste und vernich-
tendste Protest« gegen alle jene, die »das Preußische Königthum in ein Af-
terlehn des allgemeinen Stimmrechts zu verwandeln und das unveräußerli-
che Anrecht auf die Krone aus dem Bewußtsein des Preußischen Volkes
zu escamotieren gedachten.« Mit der Krönung, bei der »das gesammte
Preußische Volk« als Zeuge auftrete, hätte man »den unschätzbaren Beweis
geführt, daß in Preußen das Königthum von Gottes Gnaden noch in dem
Glauben eines ganzen Volkes festgewurzelt ist.«89
In den liberalen Zeitungen sah man das freilich anders. Ebenfalls am
18. Oktober veröffentlichte die Magdeburgische Zeitung auf der ersten Seite
einen großen Artikel über die Krönung. Darin erinnerte der Autor zu-
nächst an den Umstand, dass die Krönung »kein Act des geschriebenen
Staatsrechts« sei und »gegen das Herkommen im Preußischen Königs-
hause« stattfinde. Trotzdem könne sie aber als »etwas sehr Positives« gefei-
ert werden. Mit dem heutigen Tage, an dem es »zum erste Male der unum-
schränkte Willen eines constitutionellen Königs ist, mit seinem Volke ein
monarchisches Fest zu begehen«, werden nämlich gezeigt, dass »der mo-
narchische Sinn im Volke die tiefsten Wurzeln« habe. Daher auch könne
sich die »liberale Partei« dieses Tages »besonders freuen«, sehe sie doch
»nach langen Drangsalen« nun endlich »die Richtigkeit ihrer Grundsätze
auf dem Throne wieder anerkannt« und sich zugleich einer Regierung ge-
genüber, mit der zusammen sie »vertrauensvoll an dem Wohle des Landes«
arbeiten könne.90 Auch die Kölnische Zeitung unterstrich nachdrücklich, dass
die Krönung ihre »mittelalterliche« Bedeutung als eines Beweises für die
»Rechtmäßigkeit des Köngthums« längst abgelegt habe. Da sie aber »immer
ein ehrwürdiges Symbol des echten Königthums« bleibe, ergreife »das
preußische Volk gern die Gelegenheit, zu zeigen, wie tiefverwurzelt seine
Anhänglichkeit an das Königthum ist und wie sehr unser König durch sein
verfassungsmäßiges Regiment, durch die weisen und gerechten Grundsätze
seiner Regierung sich die Liebe und das Vertrauen seiner Unterthanen er-
worben hat«. Man dürfe aber vor allem nicht vergessen, dass die Krönung
diesmal noch eine besondere Bedeutung habe; nämlich zu beweisen, »daß
dieses alte Königthum durch die Verfassung nichts von seinem Glanz
——————
89 Kreuzzeitung, Nr. 244, 18.10.1861.
90 Magdeburgische Zeitung, Nr. 214, 18.10.1861.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 159
verloren habe«. Und damit könnten »wir, die Freunde des verfassungsmä-
ßigen Königthums«, ganz besonders einverstanden sein. Das »Junkerthum«
dagegen täusche sich gewaltig, wenn es aus »dem mittelalterlichen Prunke
der Krönung, aus den Herolden, Erb- und Erzämtern, den Standeserhö-
hungen u.s.w. u.s.w.« den Schluss ziehe, dass damit auch »mittelalterliche
Ideen wieder hochkommen.« Preußens Könige seien »zu aufgeklärt, um
nicht einzusehen, daß das Königthum nicht in den toten Formen einer
längst überlebten Vergangenheit gedeihen kann«. Dieses könne sich dage-
gen nur »jung und frisch« erhalten, wenn es sich mit den »Ideen und Be-
dürfnissen der Zeit in Übereinstimmung« befinde.91 Dass die Krönung als
symbolischer Ausdruck des konstitutionellen Zeitalters zu werten sei, darin
waren sich die liberalen Zeitungen durchweg einig.
Da die Bedeutung des symbolischen Handelns in einer Presselandschaft
verhandelt wurde, die nicht mehr über zensorische Maßnahmen zu kon-
trollieren war, musste sich der monarchische Staat auf eine aktive Presse-
politik besinnen, um auf die vielschichtigen, politisch motivierten Inter-
pretationen zu reagieren. Hierzu ließ das Staatsministerium am Tage der
Krönung einen Artikel in der Sternzeitung veröffentlichen, der zunächst den
historischen Ursprung der Krönung in Erinnerung rief. Die Krönung sei
jedoch nicht zu einer »bei jedem Regierungsantritt wiederkehrenden Ge-
wohnheit« geworden. Ihre erstmalige Wiederholung entspringe der Ein-
sicht Wilhelms I., dass »der Staat auf seinen äußeren und inneren Bahnen,
daß das erhabene Königshaus und sein treues Volk neuen Geschicken ent-
gegenreisen, zu denen beide sich würdig vorbereiten wenn sie in hoher,
ernster Feier das unvergleichliche Band, welches sie verknüpft, und die ei-
genthümlichen Grundlagen welche diesem Staate seine wunderbare Ge-
schichte geben, und die daraus stammenden Pflichten sich dem Herzen
und dem Willen tief einprägen.« In der »Epoche der politischen Freiheit«
sei der preußische Staat »die lebendige, sich täglich vollziehende That des
preußischen Volks und seines Herrscherhauses.« Vor diesem Hintergrund
nehme Wilhelm I. nun am heutigen Tage »die Königskrone vom Tische
des Herrn«, und zwar »zum Zeichen daß er mit königlichen Gedanken, mit
der Kraft eines eigenen hohen Willens die Geschicke eines freien Volkes in
einer Zeit tiefer Bewegungen und neuer Gestaltungen, zur herrlichen Meh-
rung des unvergleichlichen Ruhms seiner Ahnen, einer glücklichen und
glanzvollen Zukunft entgegenführen will«.92
——————
91 Kölnische Zeitung, Nr. 289, 18.10.1861.
92 Allgemeine Preußische Zeitung, Nr. 244, 18.10.1861.
160 MATTHIAS SCHWENGELBECK
In der politischen Bewertung der Krönung blieb der Artikel eher vage.
Einerseits wurden die Neuerungen der »Epoche der politischen Freiheit«
anerkannt, wurde auf die »neuen Geschicke« eines »freien Volks« und das
notwendige Zusammenwirken von Monarch und Volk als Grundlage des
preußischen Staates verwiesen. Anderseits wurde zugleich unmissverständ-
lich zum Ausdruck gebracht, dass der König die Krone aus eigenem Recht
»vom Tische des Herrn« nehme und es seine Tatkraft sei, die »zur herrli-
chen Mehrung des unvergleichlichen Ruhm seiner Ahnen« den preußi-
schen Staat in die Zukunft führe. Grundlage dafür sollte schließlich das
nicht näher erläuterte »unvergleichliche Band« sein, das Monarch und Volk
verbinde. Eine solche offene Darstellung entsprach der gesamten Strategie
des Staatsministeriums in der Frage der printmedialen Popularisierung der
Krönung. Man versuchte durch politisch unverfängliche, aber eindrucks-
volle Berichte ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Da die Stern-
zeitung aber nur einen vergleichsweise kleinen Leserkreis erreichen konnte,
kam es vor allem darauf an, dass die Artikel auch in anderen Zeitungen ab-
gedruckt wurden. Das konnte man jedoch nur erreichen, wenn man poli-
tisch moderat blieb. Dass diese Strategie durchaus verfing, kann man an
der Publikation des oben angeführten und anderer Artikel zur Krönung
ablesen, die in verschiedenen großen Zeitungen abgedruckt wurden.93 Aus
Sicht des Staatsministerium musste es das Ziel der aktiven Pressepolitik
sein, den Glanz des Krönungszeremoniells möglichst weit zu verbreiteten.
Jedoch zeigten die unterschiedlichen politischen Interpretationen in den
übrigen Zeitungen, dass eine effektive Deutungskontrolle in einer ausdiffe-
renzierten Presselandschaft nicht mehr zu leisten war.
V. Zusammenfassung
Das Huldigungs- und Inthronisationszeremoniell blieb als Phänomen der
longue durée über das 18. Jahrhundert hinaus erhalten. Zwar ging der rechtli-
che Gehalt der Huldigung, ihr Charakter als »Verfassung in actu« allmäh-
lich seit der Aufklärung und dann vor allem mit dem Aufkommen des
Konstitutionalismus verloren. Darüber hinaus wurde zu Beginn des 19. Jahr-
——————
93 Vgl. zu dem angesprochenen Artikel Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 293,
22.10.1861; Magdeburgische Zeitung, Nr. 245, 19.10.1861; sowie viele unterschiedliche
Meldungen über die Krönung auch in der Spenerschen Zeitung.
H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATIONEN ZWISCHEN K ONSENS UND K ONFLIKT 161
Wilhelm IV., dann aber vor allem die Krönung für seinen Nachfolger auf
dem preußischen Thron, dass ein solcher Konsens über die politische
Ordnung nicht mehr bestand. An die Stelle der Aufführung eines Kon-
senses trat immer stärker die Abbildung eines Konflikts, auch wenn das
gerade nicht im Interesse des monarchischen Staats lag. Diente das Ze-
remoniell einerseits der Legitimation monarchischer Herrschaft, entwi-
ckelte sich andererseits ein komplexer Kommunikationsprozess, in dem
die Inszenierungshoheit des monarchischen Staates unterlaufen werden
konnte. Symbolgeschichtlich lag der Grund dafür in einer langfristigen
Verschiebung von den traditionellen Realsymboliken, die unmittelbar
bewirken, was sie symbolisieren, zu einem seit der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts einsetzenden deutungsoffenen Symbolgebrauch.94 Peter
Burke hat darauf hingewiesen, dass sich mit dem Aufstieg des »buch-
stabengetreuen Denkens« ein Übergang zur »modernen Weltanschauung«
diagnostizieren ließe, in der »die Einstellung gegenüber Symbolen viel
zwiespältiger« geworden sei.95 Für die hier untersuchten Formen des Huldi-
gungs- und Inthronisationszeremoniells ist dieser Einschätzung ausdrück-
lich zu folgen. Denn die prinzipielle Deutbarkeit symbolischen Handelns
ermöglichte nun die politisch-reflexive Vereinnahmung des zeremoniellen
Geschehens. Nach dem Verlust ihrer rechtskonstitutiven Verbindlichkeit
wurden Herrschaftsrepräsentationen – verstanden als Darstellungen von
Herrschaftsverhältnissen – zu einem politisch umkämpften Terrain.
——————
94 Vgl. Hans-Georg Soeffner, Emblematische und symbolische Formen der Orientierung,
in: ders. (Hg.), Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziolo-
gischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt/M. 1989,
S. 158-184.
95 Peter Burke, Historiker, Anthropologen und Symbole, in: Rebekka Habermas/Niels
Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthro-
pologie, Berlin 1992, S. 21-41, hier 30f.
Wilhelm I. am »historischen Eckfenster«:
Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Alexa Geisthövel
——————
3 Berlin, Potsdam und Umgebungen. Separat-Abdruck aus Bædeker’s Nord-Deutschland,
Leipzig 1878, S. 19.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 165
——————
4 Vgl. etwa Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunika-
tion in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994.
5 Dorothy Thompson, Queen Victoria. Gender and Power, London 1990; Adrienne Mu-
nich, Queen Victoria’s Secrets, New York 1996; Margaret Homans, Royal Representa-
tions. Queen Victoria and British Culture (1837-1876), Chicago 1998; Juliane Vogel,
Elisabeth von Österreich. Momente aus dem Leben einer Kunstfigur, Frankfurt/M.
1998; John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 4.
Aufl. München 1995; Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte,
Berlin 1996; Katharina Sykora (Hg.), »Ein Bild von einem Mann« – Ludwig II. von Bay-
ern. Konstruktion und Rezeption eines Mythos, Frankfurt/M. 2004.
6 Vgl. neben dem Beitrag von Matthias Schwengelbeck in diesem Band Jakob Vogel,
Nationen im Gleichschritt: der Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frank-
reich, 1871-1914, Göttingen 1997; Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchen-
begegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn
2000.
166 ALEXA GEISTHÖVEL
privat deklarierten, wie etwa die Sexualität. Auch als mit dem preußischen
König Friedrich Wilhelm III. und seine Frau Luise Herrscher auftraten, die
nicht in das Narrativ des ausschweifenden Hoflebens passten, sondern
modellhaft bürgerliche Lebensführung auf dem Thron verkörperten,
wurde gerade die Intimität ihres Familienlebens ein publizistisches Thema.
Zugleich stand der vervielfältigten medialen Verfügbarkeit der Monar-
chen die Erwartung zur Seite, dass sie auch leibhaftig präsent sein sollten.
Königin Victoria von England, Kaiserin Elisabeth von Österreich und
König Ludwig II. von Bayern sind nur die prominentesten Beispiele, bei
denen schon in den 1860er und 1870er Jahren dauerhafte Abwesenheit
von der Hauptstadt, die Weigerung sich zu zeigen, als Verstoß gegen ihre
monarchischen Pflichten kritisiert wurden.15 Gelegenheit, sich bei alltägli-
chen Anlässen höchstpersönlich vor einem kopräsenten Publikum von Be-
herrschten sehen zu lassen und dabei mit diesem zu interagieren, boten
beispielsweise militärische Inspektionen, Besuche in karitativen Einrich-
tungen, das Erscheinen in der königlichen Theaterloge und auf dem Bal-
kon des Schlosses oder die Spazierfahrt im offenen Wagen. Solche Auf-
tritte und Begegnungen waren wiederum ein bevorzugtes Sujet der Be-
richterstattung. Die im Folgenden herangezogenen Quellen, in erster Linie
Texte und Abbildungen aus illustrierten Familienzeitschriften,16 sollen in
diesem Sinne vor allem daraufhin untersucht werden, wie sie die wechsel-
seitige Wahrnehmung von Monarch und Publikum sowie daraus folgende
Interaktionen thematisieren. Die Kommunikationen am Eckfenster detail-
liert zu untersuchen, läuft daher nicht auf eine »dichte Beschreibung« hinaus,
die sich an ihrer Anschaulichkeit erfreut. Vielmehr wird versucht, durch Abs-
——————
15 Thompson, Queen Victoria [wie Anm. 5], S. 55-57; Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin
wider Willen, Wien 1983, passim.; Christof Botzenhart, »Ein Schattenkönig ohne Macht
will ich nicht sein«. Die Regierungstätigkeit König Ludwigs II. von Bayern, München
2004, S. 24-25.
16 Zu dieser besonderen Quellengattung vgl. Dieter Barth, Zeitschrift für alle. Das
Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in
Deutschland, Münster 1974; Hartwig Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland
am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung,
in: Buchhandelsgeschichte 2 (1983), Nr. 48, S. B41-B65; Bernd Weise, Pressefotografie.
II. Fortschritte der Fotografie- und Drucktechnik und Veränderungen des Pressemark-
tes im Deutschen Kaiserreich, in: Fotogeschichte 9 (1989), S. 27-62; Joachim Schöberl,
»Verzierende und erklärende Abbildungen«. Wort und Bild in der illustrierten Familien-
zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der Gartenlaube, in: Harro Sege-
berg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens: zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Li-
teratur und Kunst, München 1996, S. 207-234.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 169
gusta in den Räumen darüber im ersten Stock. Rückwärtig schloss sich die
damalige königliche Bibliothek an, rechts Unter den Linden das niederlän-
dische Palais. Bei Umbauten in den 1830er Jahren waren an der rechten
Rückseite weitläufige Räumlichkeiten entstanden, die über den ganzen
Block bis zur Behrenstraße reichten; dort lag die Zufahrt für die Wagen, es
folgten Remisen und Wirtschaftsräume, im ersten Stock befanden sich
Tanzsaal, Wintergarten und Speisezimmer.18
Vor der Reichsgründung waren die Linden eine Mischung aus repräsen-
tativer Prachtstraße und vornehmer Flaniermeile, bis sich in den Gründer-
jahren ihr westlicher Teil in die »führende Geschäftsstraße« Berlins verwan-
delte, in der auch das kommerzielle Amüsement seinen Platz hatte.19 Dass
das Publikum der Linden zur »Straße« wurde und sie für eine politische »ple-
bejische Öffentlichkeit« beanspruchte, war nur 1848 der Fall, als Prinz Wil-
helm im März aus Berlin fliehen musste und Revolutionäre sein Palais be-
setzten.20 Mit der Wandlung des »Kartätschenprinzen« zum »Heldengreis«
wurde auch sein Haus zum Schauplatz von Ovationen und Triumphen. Als
ein Element der Herrschaftsarchitektur waren seine Öffnungen in den Raum
des potenziellen Publikums hineinmodelliert: Die Rampen beiderseits des
Hauptportals führten unmittelbar vor dem Eingang zu einer leicht erhöhten
Bühne, die dem Straßenterrain zugewandt war; noch ausgeprägter ver-
schränkte der Altan des Palais als Zeige- und Verlautbarungsplattform Innen
und Außen des Gebäudes. Anders als Portal und Altan war das äußerste
linke Eckfenster im Hochparterre zwar eine Öffnung, aber keine architekto-
nisch privilegierte, bewusst gestaltete Schnittstelle mit dem Straßenraum. Das
Fenster mit seinen besonderen Ein- und Ausblicken muss man sich als opti-
schen Trampelpfad vorstellen, den gewohnheitsmäßige Benutzung bahnte.
Ein Fenster hat die materielle Eigenschaft, eine Wand durchlässig, und
zwar in erster Linie durchsichtig, zu machen. Bildet es eine Schleuse zwi-
schen Haus und Straße, verbindet es einzelne, die sich dauerhaft im Inneren
aufhalten, und eine fluktuierende, potenziell unbegrenzt Vielzahl auf der
——————
18 Vgl. Grundriss in Eduard Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim. Darstellungen aus dem Palais
Weiland Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm I. und Ihrer Majestät der Kai-
serin und Königin Augusta, Berlin 1890, Tafel 46.
19 Werner Knopp, Kulisse der Macht im Kaiserreich, in: Helmut Engel / Wolfgang Ribbe
(Hg.), Via triumphalis. Geschichtslandschaft »Unter den Linden« zwischen Friedrich-
Denkmal und Schlossbrücke, Berlin 1997, S. 47-60; Winfried Löschburg, Unter den
Linden. Geschichten einer berühmten Straße, Berlin 1991, S. 178-188.
20 Die Linden. Vom kurfürstlichen Reitweg zur hauptstädtischen Allee (Ausstellungskata-
log), Berlin 1997, S. 70-71.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 171
Straßenseite. Die Personen auf beiden Seiten können Sender und Empfänger
von Blicken sein, die sich im Sonderfall treffen und in Gesten und Zurufe
münden, also die Möglichkeit der Reziprozität beinhalten. Die vom Fenster
organisierten Wahrnehmungsverhältnisse sind jedoch asymmetrisch: Von
innen gesehen liegt draußen ein unfokussiertes, weites Blickfeld, von innen
werden die Sichtbedingungen reguliert, wird das Fenster geöffnet und ge-
schlossen, verdeckt, erleuchtet und verdunkelt. Umgekehrt konzentriert sich
der Blick nach innen auf einen kleinen, informationsreichen Ausschnitt, den
unterschiedlich gestaltete Barrieren weiter einschränken können.
Das Eckfenster zog Interesse auf sich, weil dahinter das Arbeitszimmer
des Herrschers lag. Die hier geleistete Schreibtischarbeit wurde spätestens
nach der Thronbesteigung bedeutsam, und die Möglichkeit des Einblicks
floss schon wenige Jahre später in die Berichterstattung ein. Ein Artikel in
der Zeitschrift Daheim gab 1865 den Hinweis, im Winter könne man ab sechs
Uhr morgens »den hohen Herrn in bequemer Uniform an dem Fenster jenes
Eckzimmers des Palais unter den Linden am Pulte stehen und arbeiten se-
hen. Besagtes Eckzimmer ist das königliche Arbeits- und Vortragszimmer;
von da aus wird Preußen regiert.«21 In dieser Passage fungiert das Fenster als
Guckloch in das dahinter liegende Zimmer, die Betrachtung ist einseitig. Die
Information: »Von da aus wird Preußen regiert«, lokalisiert das überschau-
bare Ensemble des Königs am Schreibpult als handelndes Zentrum des
Staates. Abgerundet wird diese Sichtbarkeit und vermeintliche Transparenz
von Herrschaft durch den Hinweis, dass jeder beliebige Anwesende sich mit
einem Blick durch das Fenster selbst vom Tätigsein des Monarchen über-
zeugen kann.22
Den Herrscher als fleißigen Frühaufsteher darzustellen, war kein Novum
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Motiv des arbeitsamen Monar-
chen gehörte einem repräsentativen Gestus an, der seit dem späten 18. Jahr-
hundert aus vielen Schriften, aber auch aus zahlreichen Herrscherporträts von
hochoffiziellen Gemälden bekannt ist.23 Auf diesen bot sich der Fürst meist an
den Schreibtisch gelehnt oder von der Arbeit aufsehend dem Betrachter dar,
so auch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen auf dem bekannten Gemälde
Franz Krügers.24 Die im Bild Dargestellten konzentrieren sich momentan
——————
21 Der Preußische Hof, Daheim, Nr. 45, August 1865, S. 658.
22 Ähnlich EK, Kaiser Wilhelm’s Umgebung, Illustrirte Zeitung, Nr. 1801, 5. Januar 1878,
S. 7; Zu Kaisers Geburtstag Daheim, Nr. 24, 18. März 1882, S. 375.
23 Rainer Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975,
S. 105-107.
24 Ebd., Abb. 110-113.
172 ALEXA GEISTHÖVEL
nicht auf die Arbeit, sondern auf den Blickkontakt mit dem Betrachter, sie
scheinen mit dem Betrachter zu kommunizieren und die Situation somit zu
kontrollieren. Anders sind die durch das Eckfenster gesehenen Schreibtisch-
szenen angelegt: Hier wird jemand in Augenschein genommen, der in seine
Arbeit vertieft ist und nichts davon weiß oder sich nicht darum kümmert, dass
er gerade beobachtet wird. Frei vom Gegenblick des Betrachteten kann der
potenzielle Passant, den ein längerer Artikel von 1868 über das »Arbeits-
cabinet« des preußischen Königs evoziert, zu einer Ansicht kommen, die sich
nicht den Einschränkungen einer (fingierten) Interaktion zu unterwerfen hat:
»Das Urtheil der Geschichte steht über König Wilhelm noch aus; wir, die Zeitge-
nossen, vermögen über ihn nur nach dem Augenschein und nach unserm persönli-
chen Empfinden zu urtheilen. Jeder, welcher Gelegenheit gehabt hat, den Monar-
chen einmal in der Nähe, und seis auch nur hinter den Scheiben seines Arbeits-
zimmers, zu beobachten, wird den Eindruck dieser hohen und gebietenden und
dabei doch so ernstlich freundlichen Erscheinung empfunden haben. Dieser halb
unbewußte Eindruck aber kann durch den Einblick in sein Zimmer und auf seine
tägliche unmittelbare Umgebung nur noch gesteigert werden«.25
——————
25 König Wilhelm’s Arbeitscabinet, Illustrirte Zeitung, Nr. 1286, 22. Februar 1868, S. 132.
26 Abgebildet in: de Bruyn, Unter den Linden [wie Anm. 1], S. 101.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 173
am Eckfenster, vor dem der Monarch allein sinnierend durch das Fenster
blickt oder einem Mitarbeiter im Gespräch zugewandt ist. Diese Visionen
verdoppeln nicht den realen Blick von draußen, den die korrespon-
dierenden Texte thematisieren sondern ergänzen ihn um eine fiktive omni-
potente Perspektive von innen. Der Betrachter scheint nun auf eine Weise im
——————
27 Berlin, Potsdam und Umgebungen. Illustrirter Wegweiser für 1871, 23. Aufl. vollständig
umgearbeitet und ergänzt von C. Jacob, Berlin 1871, S. 91-93.
28 Georg Horn, Des Kaisers Tusculum, Gartenlaube, Nr. 15, 1872, S. 247.
29 Verschiedenes, Badeblatt, Nr. 47, 20. Juni 1884, S. 286.
30 Horn, Des Kaisers Tusculum [wie Anm. 28], S. 246.
31 Schoch, Herrscherbild [wie Anm. 23], S. 108.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 175
——————
32 Elise Polko, Aus den Einzugstagen. II., Ueber Land und Meer, Nr. 44, 26 (1870/71),
S. 17-18.
33 Vgl. auch Giloi Bremner zum Hohenzollern-Museum, Ich kaufe [wie Anm. 7], S. 91.
34 Kirsten Belgum, Popularizing the nation. Audience, representation, and the production
of identity in Die Gartenlaube, 1853-1900, Lincoln u. a. 1998, S. 200, Anm. 57.
35 Georg Horn, Ein Tag des Kaisers, Gartenlaube, Nr. 30, 1872, S. 492.
176 ALEXA GEISTHÖVEL
formation, der Kaiser kleide sich nach dem Aufstehen unverzüglich an,
wird jedoch nicht so dargeboten, als beruhe sie auf eigener Anschauung.
Anders als Horn kann Polko herausstreichen, dass sie unter nicht näher
erläuterten Umständen Zugang zu den Räumen des Kaisers erhielt, als er
zwar nicht zur Stelle, aber in Berlin anwesend war und das Palais bewohnte.
Die privilegierte Augenzeugin schildert, wie erwartungsvolle Gedankenbilder
mit wirklich Gesehenem konfrontiert werden: »Wie oft hatte ich mir schon
dieses ›home‹ des Kaisers ausgemalt und wie anders fand ich es doch nun!«
Um ihre Darstellung zu beglaubigen, beruft sie sich sowohl auf moderne
Bildtechnik wie auf emotionale Wahrhaftigkeit: Mit »fast photographischer
Treue haben meine Augen jeden Gegenstand daselbst aufgenommen und
dem Herzen überliefert.« Ihren größten Trumpf spielt sie aus, wenn sie fort-
fährt: »Eine kleine Mappe war etwas zur Seite geschoben nach dem Fenster
zu, und neben ihr lag die blaue Stahlbrille des Kaisers, [...] ein Kästchen mit
Zündhölzern war wohl auch eben gebraucht worden«.36 Der Kaiser ist bei-
nahe anwesend, denn Gegenstände seines Arbeitsalltags und Spuren ihres
leibhaftigen Gebrauchs zeugen von seiner Nähe.
——————
36 Polko, Einzugstage [wie Anm. 32], S. 17, 18.
37 Ebd.; Horn, Tag [wie Anm. 35], S. 489.
38 Max Ring, Berliner Straßenbilder, Gartenlaube, Nr. 41, 1873, S. 664.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 177
——————
39 Das Kaiser-Bilderbuch. Zweite verbesserte Auflage mit Reimversen von Dr. Hermann
Hoffmeister, Leipzig 1877, S. 52.
40 Jules Laforgue, Berlin. Der Hof und die Stadt, 1887, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1981, S. 29.
41 Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende von Karl Bædeker, 5 Aufl. Leipzig
1887, S. 45.
178 ALEXA GEISTHÖVEL
Abbildung 4: Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin. Nach einer Moment-
Photographie von M. Ziesler in Berlin, Gartenlaube, Nr. 6, 1886, S. 97
ein schönes Bild, hier zeigt sich so recht die Liebe und Verehrung, die dem Hel-
denkaiser aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen getragen wird. Nicht
genug, daß Erwachsene die Freude haben sollen, den allverehrten Herrscher von
Angesicht zu Angesicht zu schauen, nein, Väter und Mütter heben ihre Kinder
hoch empor, damit auch sie des Kaisers Antlitz sehen und in die Händchen klat-
schen können.«44
Den Kaiser zu sehen, als Teil einer Menge seine Aufmerksamkeit zu er-
langen, erscheint als Erlebnis für Jung und Alt. Nicht umsonst verweist die
Bildunterschrift der Illustration darauf, dass sie nach einer »Moment-
Photographie« angefertigt wurde, also nicht nur hochgradig realitätshaltig
ist, sondern sich auch dem besonderen Augenblick verdankt. Entspre-
chend entfalten andere Darstellungen des Jubelrituals eine Rhetorik der ge-
spannten Erwartung, die in einem beglückenden Moment erfüllt wird. In
seinem Buch vom Kaiser etwa schilderte Friedrich Adami 1884, dass sich re-
gelmäßig ab 11 Uhr der »Platz um das Denkmal Friedrichs des Großen zu
füllen [beginnt].«
»Da ertönt plötzlich Militärmusik – die neue Wache naht! Das ist der Augen-
blick, auf den alles gewartet hat. [...] Hinter den Spiegelscheiben des Eckfensters
seines Arbeitszimmers erscheint das ehrwürdige Antlitz des Kaisers – mit prü-
fendem Auge blickt er nach jedem Gliede der Sektions-Kolonne, bis das letzte
am Palais vorübermarschirt ist. Solange wartet die Menge stumm – dann aber
bricht plötzlich ein dreifach donnerndes Hoch aus hunderten Kehlen, und im-
mer wieder, wenn der Kaiser mit freundlichem Gruß [...] das Haupt neigt, wie-
derholt sich der Hurraruf.«45
——————
44 H[ermann] Heiberg, Das Abbringen der Fahnen zum kaiserlichen Palais in Berlin,
Gartenlaube, Nr. 6, 1886, S. 112.
45 Das Buch vom Kaiser Wilhelm (1884), zit. nach Herre, Kaiser Wilhelm I. [wie Anm. 42],
S. 487.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 181
sen auf jeden, der einmal Zeuge derselben gewesen, einen unauslösch-
lichen Eindruck« machte.46
Das Eckfenster des kaiserlichen Palais verselbständigte sich nach der
Reichsgründung gleichsam zu einem Interaktionsapparat, der die unspezifi-
sche Funktion des Fensters zugunsten einer beiderseits hochselektiven Nut-
zung verengte. In den 1880er Jahren stellte es ein Arrangement dar, in dem
auf Seiten des Publikums Erwartbares und Ungewissheit zusammengingen.
Zeit und Verlauf des kaiserlichen Auftritts hatten sich mit den Jahren einge-
spielt, als Ausdruck seines Pflichtbewusstseins wurde ihm der Ausspruch in
den Mund gelegt, er müsse sich pünktlich am Fenster präsentieren, weil es so
im Baedeker stehe.47 Eine unsichere Variable war dagegen die gesundheitli-
che Verfassung des betagten Monarchen, die dem Publikum jederzeit ein
Nichterscheinen bescheren konnten. Das oft wiederholte Geschehen verlor
seinen Ereignischarakter daher nicht, denn ein leeres Fenster konnte Un-
pässlichkeit, Krankheit oder sogar Tod bedeuten: »Wer jemals unter seinem
Fenster weilte, wenn die Wachparade vorüberzog, dem ist die Erinnerung
unvergeßlich. Wie bangte da jedes Herz, ob er auch nur erscheinen würde!
Und wenn endlich das milde Greisenantlitz im historischen Eckfenster
sichtbar wurde, wie jubelte man ihm dann aus voller Seele zu!«48
Ob mit diesen wohl häufig ausgeschmückten und beschönigten, aber
nicht gehaltlosen Schilderungen die »Popularität« des Monarchen bewiesen
ist, steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion. Festzuhalten bleibt: Über
den Auftritt des Kaisers am Eckfenster zu berichteten bedeutete in der Re-
gel, auch über sein Publikum zu schreiben und es abzubilden, zu themati-
sieren, was anwesende Zuschauer erwarteten, was sie von der Darbietung
wahrnehmen konnten und wie sie reagierten. Die Berichterstatter boten
Lesern und Betrachtern Perspektiven an, die das Großartige und das Sub-
jektive kombinierten, die es nahe legten, sich sowohl in der privilegierten
Position eines überlegenen Beobachters als auch in der Menge vor Ort
wiederzufinden.49
——————
46 Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I., Gartenlaube, Nr. 16, 1888, S. 268.
47 Oncken, Unser Heldenkaiser [wie Anm. 43], S. 256; F[riederike] Bornhak, Das Palais
Kaiser Wilhelms I. Unter den Linden in Berlin. Aufzeichnungen zum Gedächtnis des
Hauses, Berlin [1900], S. 21; ähnlich Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim [wie Anm. 18], S. 5.
48 Kaiser Wilhelm. Gedächtnisnummer des Daheim. 24. März 1888, S. 400; vgl. auch
H[ermann] H[eiberg], Der Kaiser »Unter den Linden«, Gartenlaube, Nr. 12, 1886,
S. 215.
49 Zu dieser generellen Berichterstattungstechnik der Familienpresse vgl. Belgum, Populari-
zing [wie Anm. 34], S. 100.
182 ALEXA GEISTHÖVEL
——————
50 Vgl. beispielsweise: Ems, 5. Juli. ʈ, Lahnbote, Nr. 155, 6. Juli 1887; ʈ Ems, 21. Juni,
Rheinischer Kurier, 1876, in: Sammlung Wilhelm Eberling, Stadtarchiv Bad Ems, Bü
10189 1/206, 35; Die Kaiser-Zusammenkunft in Gastein, Salzburger Volksblatt, Nr.
180, 10. August 1886.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 183
——————
51 Karl Möckl, Hof und Hofgesellschaft in Bayern während der Prinzregentenzeit, in: Wer-
ner (Hg.), Hof, Kultur und Politik, S. 183-233, hier S. 208-209.
52 Vgl. dagegen die vermutlich unintendierte Bloßstellung Wilhelms I. auf einer Aufnahme
der Hoffotografen Reichard & Lindner von 1884, die ihn untätig am Schreibtisch sit-
zend von schräg hinten festhielt, abgebildet in: Kaiser Friedrich III. (1831-1888) (Aus-
stellungskatalog), Berlin 1988, S. 129, Erläuterung S. 131.
184 ALEXA GEISTHÖVEL
der Arbeit zu sehen war, machte die Regierung nicht transparent. Wenn es
trotzdem ein dankbares Publikum für genau diese Suggestion gab – immer
wieder wurde die Möglichkeit angesprochen, vor dem Fenster dem Ent-
scheidungszentrum nahe zu sein –, legt das die Vermutung nahe, der Be-
darf nach Sinnlichkeit der Herrschaft sei umso größer geworden, je abs-
trakter sich Regierung mit dem wachsenden Eigengewicht von exekutiver
und legislativer Bürokratie gestaltete.
Nach dem Tod der Kaiserin-Witwe Augusta 1890 wurde das Palais
vollends musealisiert. Im selben Jahr erschien ein monumentaler Pracht-
band mit Fotografien, die im Auftrag der Kaisertochter Großherzogin
Luise von Baden aufgenommen worden waren und alle vom verstorbenen
Kaiserpaar bewohnten Räume in Originaleinrichtung zeigten.53 Wilhelm II.
wies das Palais seinem Bruder Heinrich und dessen Frau zu, allerdings wei-
gerte sich seine Tante Luise, die Möbel auszuräumen und auf ihr Wohn-
recht zu verzichten.54 Das Palais blieb daher unbewohnt und wurde – ähn-
lich wie bereits zwischen 1840 und 1856 das Palais Friedrich Wilhelms III.
– zu einer Sehenswürdigkeit, die beispielsweise im Jahr 1899 mehr als
30 000 Besucher anzog.55
Der neue Kaiser lebte wieder im Schloss. Um 1890 brach das Zeitalter
schneller, rücksichtloser, immer nahsichtigerer Dauerbeobachtung des po-
litischen Führungspersonals an. In dieser Zeit entstanden die rechtlichen,
technischen und diskursiven Voraussetzungen, die es ermöglichten, die
monarchische »Persönlichkeit« in fotografisch bebilderten homestories einzu-
fangen, sie offen zu kritisieren und zum Gegenstand von Medienskandalen
zu machen.56 Die Bedingungen der politischen Massenkommunikation und
damit auch die Öffentlichkeit der Monarchie veränderten sich nach 1890
qualitativ stark – Wilhelm II. war auf radikal andere Weise als sein Groß-
vater dazu gezwungen und daran interessiert, ein Medienkaiser zu sein. In-
sofern ist es auch monarchiehistorisch berechtigt, an der Schwelle zur me-
——————
53 Mertens (Hg.), Ein Kaiserheim [wie Anm. 18], Vorwort.
54 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, Mün-
chen 2001, S. 703.
55 Börsch-Supan, Wohnungen [wie Anm. 17], S. 111; Bornhak, Das Palais [wie Anm. 47],
S. 1, Anm.
56 Vgl. dazu den Beitrag von Martin Kohlrausch in diesem Band, ferner ders., Der
unmännliche Kaiser. Wilhelm II. und die Zerbrechlichkeit des königlichen Individuums,
in: Regina Schulte (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der hö-
fischen Welt, Frankfurt/M. 2002, S. 254-275; Frank Bösch, Das Private wird politisch:
Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts,
in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 781-801.
WILHELM I. AM »HISTORISCHEN ECKFENSTER« 185
——————
57 Belgum, Popularizing [wie Anm. 34], passim.
Das ambivalente Angebot der Macht:
Der Einsatz der SS-Männer in der
NS-Herrschaftsinszenierung
Paula Diehl
und das selbst dann, wenn sich die Anerkennung nur auf die Stärke der
Macht beschränkt. Inszenierung, Ästhetisierung und Symbolisierung sind
somit grundlegende Verfahren der politischen Repräsentation. Sie dienen
der Vergegenwärtigung von politischen Institutionen und politischer Auto-
rität und verschaffen ihnen Legitimität.3
Politische Inszenierungen sind nicht immer eindeutig. Als Elemente einer
Machtstrategie können sie verwendet werden, um Machtansprüche zu mar-
kieren, die politische Ordnung zu verändern oder politische Intentionen und
auch Institutionen zu modifizieren. Sie können auch für etwas anderes ste-
hen als für die politischen Institutionen, die sie zu repräsentieren vorgeben,
und dadurch eine symbolische Verschiebung der politischen Repräsentation
bewirken. Vor allem unter dem letzten Aspekt ist die NS-Herrschaftsinsze-
nierung zu lesen. Symbolische Politik hat hier einen strategischen Wert und
verkündet Macht und Machtansprüche der Nationalsozialisten, die beson-
ders in den ersten Jahren nach der so genannten »Machtergreifung« der sym-
bolischen Umdeutung der politischen Ordnung dienten.
Machtinszenierungen sind an sich ambivalent. Um die Ordnung zu
markieren, stützen sie sich einerseits auf die Zurschaustellung von Gewalt
und Drohung, anderseits auf eine positive Identifikation mit der Macht.4
Die Macht, selbst wenn sie nicht auf Gewalt rekurriert, darf keinen Zweifel
daran lassen, dass sie auf Gewalt zurückgreifen könnte, um die Ordnung
zu bewahren. Gleichzeitig muss die Inszenierung einen Zugang zur Macht
ermöglichen, der den Rezipienten unter anderem verspricht, vor Gewalt
geschützt zu werden und an ihrer Stärke teilnehmen zu können. Diese
Doppelbindung an die Macht produziert Ambivalenzen, die im Fall des
Nationalsozialismus besonders deutlich hervortreten. Gerade weil die NS-
Machtansprüche nicht von politischer Legitimität gestützt waren, rekur-
rierten die Nationalsozialisten verstärkt auf Symbole der Gewalt und Ge-
waltästhetisierung in ihrer Herrschaftsinszenierung.
——————
3 Gerhard Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in:
ders. (Hg.): Institution – Macht – Repräsentation, Baden-Baden 1997, S. 11-62, hier
S. 13.
4 Der vorliegende Beitrag verzichtet auf eine Definition von Gewalt als anthropologisches
Phänomen und betrachtet stattdessen ihre kulturellen Manifestationen, die in der
Machtinszenierung des Nationalsozialismus erscheinen. Für die Auseinandersetzung mit
dem Begriff der Gewalt hier stellvertretend: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, Mün-
chen/Zürich 1994; Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner, Gewalt, Frankfurt/M.
2004; Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1999; Trutz von Trotha (Hg.),
Soziologie der Gewalt (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonder-
heft 37), Opladen/Wiesbaden 1997.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 189
Die Jahre 1933 und 1934 waren von Expansion und Verfestigung des
nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs einerseits und von politi-
schem Taktieren und Labilität andererseits gekennzeichnet. Das Verhält-
nis zur Staatsordnung war ambivalent. Hitler kam zwar legal an die
Macht, doch die Nationalsozialisten verkündeten eine Revolution und
demonstrierten damit ihren Bruch mit bestehenden Regeln. Im politi-
schen Alltagsgeschäft nutzte die NS-Regierung die Lücken der Weimarer
Gesetze aus, um ihre Macht zu erweitern und brach Stück für Stück mit
dem alten politischen System. Auch aus der Perspektive der symboli-
schen Politik konkurrierte die NS-Ordnung mit der politischen Struktur
des Weimarer Staates in der Auslegung von zwei verschiedenen Model-
len, die unterschiedliche Legitimierungslinien verfolgten: Für den Staat
galten die Verfassung und die politischen Institutionen, für die National-
sozialisten der »Führer« und die NS-Ideologie als oberste Instanz.
Dieses mehrdeutige Verhältnis der Nationalsozialisten zur Staatsord-
nung kam auch im Einsatz der SS-Männer zum Ausdruck, deren Status in
Bezug auf den Staat in der neuen Machtsituation noch ungeklärt war. Bis
1934 begleiteten die SS-Männer die SA in ihren Propaganda- und Terror-
Aktionen, sie prägten, wenn auch hintergründig, das Bild des Nationalsozi-
alismus nach außen.6 In den Jahren 1933 und 1934 kann beobachtet wer-
den, wie die SS verschiedene polizeilich-staatliche Funktionen und Reprä-
sentationsaufgaben übernahm und somit immer mehr das Bild des
Nationalsozialismus zu prägen begann. In der kurzen Zeit der Jahre 1933
und 1934 wurden die SS-Männer zusammen mit Mitgliedern der SA und
des Stahlhelm sogar als Hilfspolizei eingesetzt.7
——————
6 Die SS war bis zur so genannten »Röhm-Affäre« der SA unterstellt. Vgl. Peter Longe-
rich, Nationalsozialistische Propaganda, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/
Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur national-
sozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 291-314.
7 1933 und 1934 wurde die so genannten »politischen Bereitschaften« der SS bewaff-
net. Sie waren als Hilfspolizei im Einsatz und markierten damit den öffentlichen
Raum mit der Präsenz der SS. Vgl. Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die
Waffen-SS 1933-1945, Paderborn u.a. 1982, S. 82. Dies war nur möglich, weil die
neue Regierung verschiedene Posten von Polizeichefs in ganz Deutschland mit Nati-
onalsozialisten besetzt hatte, die SA und SS hilfspolizeiliche Befugnisse einräumten.
Wichtig für die Verschmelzung von SS- und staatlichen Strukturen war die zuneh-
mende Kontrolle der Polizei durch Heinrich Himmler, der die Posten des Reichsfüh-
rer-SS und Polizeichefs in verschiedenen Regionen Deutschlands akkumulierte. Dazu
Martin Broszat, Anatomie des SS-Staates, Olten/Freiburg/Br. 1965, Bd. II, S. 16.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 191
——————
8 Vgl. Andrew Mollo, Uniforms of the SS, London 1991, Bd. 3, S. 8
9 Das SS-Leitwort entstand im April 1931, als die Berliner SS den Putsch-Versuch der SA,
die so genannte »Stennes-Revolte«, unterdrückte.
10 Vgl. Wegner, Hitlers politische Soldaten [wie Anm. 7], S. 82.
192 PAULA DIEHL
gressionen an. Daneben kann Gewalt die Identifikation mit dem Starken
motivieren.15
Die Anwendung von Gewalt und von Gewaltsymbolen in der Machtin-
szenierung ist performativ. Gewalt etabliert in der Machtinszenierung ei-
nen Machtdiskurs – um mit Louis Marin zu sprechen: »Le discours de la force,
discours d’auto-institution et d’auto-légitimation, discours qui est pouvoir«.16 Ein per-
formativer Diskurs, der selbst Macht ist. Wie konstituiert sich der Macht-
diskurs? Und wie artikuliert er sich mit der Symbolisierung von Gewalt?
Für Herfried Münkler ist politische Macht immer auf sichtbare und
unsichtbare Vorgänge angewiesen, die die Macht repräsentieren. Münkler
unterscheidet dabei zwei Typen der Visibilität: Der eine tritt in Demokra-
tien, der andere in autoritären Herrschaftssystemen auf. Demokratische
Systeme legen Wert darauf, Entscheidungsprozesse sichtbar zu machen
und gehen mit Machtdarstellung sparsam um. Im Falle der autoritären
Herrschaft dagegen liegt die Unsichtbarkeit der Macht in der Instanz des
Entscheidungsprozesses, während die demonstrative Visualisierung der
Macht als Darstellung politischer Ordnung fungiert.17 Auf der Ebene der
Entscheidungsfindung, so Münkler, optiere der autoritäre Machtgebrauch
für Invisibilität, auf der Ebene der Ordnungsstiftung hingegen zum Zwe-
cke einer freiwillig-unfreiwilligen Akzeptanz der Ordnung für Visibilität
der Macht.18 Die Unsichtbarkeit der politischen Entscheidung hat quasi
den Zwang zur Sichtbarkeit der Macht als Ordnung zur Folge, denn sie
zieht den »Zwang zu Visualisierungsstrategien auf der Ebene der Ord-
nungsstiftung nach sich.«19 Dies erfolgt mit Pomp als Visualisierung von
Potenz und in der symbolischen Erwähnung von Gewalt, oder – wenn es
——————
15 Paul Hugger, Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt, in: Paul Hugger/Ulrich
Stadler (Hg.), Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1995,
S. 17-27, hier S. 25.
16 Louis Marin, Le portrait du roi, Paris 1981, S. 30.
17 Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung,
in: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-
Baden 1995, S. 213-230, hier S. 215.
18 Die bürgerlichen Demokratien dagegen folgen, so Münkler, der umgekehrten Tendenz,
das heißt Sichtbarkeit der Entscheidungsprozesse und Unsichtbarkeit der Repressions-
mittel. Da es in der Praxis jedoch keine pure Demokratie und keinen absoluten Totalita-
rismus geben kann, treten beide Formen der Macht-Visualisierung meistens gemeinsam
auf, denn »die Unterscheidung zwischen instrumenteller und symbolisch-expressiver Vi-
sualisierung von Macht ist eine begrifflich-analytische Unterscheidung, die in dieser ide-
altypischen Form in der politisch-sozialen Wirklichkeit kaum angetroffen werden
dürfte«. Ebd., S. 218.
19 Ebd.
194 PAULA DIEHL
nötig ist – in der Anwendung von physischer Gewalt als Realisierung der
Macht.
Die Beschreibung dieses dualen Mechanismus gilt auch für die Visualisie-
rung der politischen Macht in den Bildern und im Auftritt der SS-Männer.
Hier diente Inszenierung der politischen Strategie: Ziel war die Durchset-
zung einer nationalsozialistischen Ordnung, die sich im Bereich des Symboli-
schen artikulierte und als performativer Machtdiskurs etablieren sollte. Dafür
war die symbolische Vergegenwärtigung von Gewalt durch die SS-Männer
von zentraler Bedeutung. Denn die Körper und die Körperbilder der SS-
Männer gehörten zu einer politischen Ästhetik, die stark auf Gewalt rekur-
rierte und die die totalitäre Macht permanent aktualisierte. Die NS-Herr-
schaft musste, da sie die eigentlichen Entscheidungsprozesse verschleierte,
ihre Macht mit Pomp und Gewaltzeichen immer wieder darstellen und po-
testas mit violentia verschmelzen. In diesem Zusammenhang sind die Körper
der SS-Männer als performative Einheiten zu verstehen, die nicht nur physi-
sche Gewalt ausübten, sondern selbst Gewalt und Macht repräsentierten.
a) Tod und Erneuerung: Die NS-Ideologie und vor allem Himmlers pseudo-
religiöse Konzeption eines SS-Ordens waren vom Todeskult und von apo-
kalyptischen Vorstellungen geprägt.23 Dort nahm die schwarze Farbe eine
zentrale Stelle ein. Berücksichtigt man die Bedeutung von Schwarz in der
abendländischen und vor allem in der alttestamentlichen Kultur, wird die
Anknüpfung der SS-Uniform an den traditionellen Symbolgehalt deutlich.
In der Bibel erscheint Schwarz als Vorzustand der Welterschaffung,24 als
Symbol des Nichts, des Chaos und des Todes, »il [Schwarz] est associé aux
ténèbres primordiales«, ist aber auch mit der Apokalypse, Verurteilung und
——————
22 Vgl. Jochen Schimmang, Schwarz, in: Du 14 (1998), S. 32-33.
23 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München
1998; Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Natio-
nalsozialismus, Weinheim 1995; Rolf Peter Sieferle, Die konservative Revolution und
das »Dritte Reich«, in: Dietrich Harth/Jan Assmann (Hg.), Revolution und Mythos,
Frankfurt/M. 1992, S. 178-206.
24 Das erste Buch Mose: Genesis, in: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testa-
ments, Stuttgart 1980 (Lutherische Übersetzung), Vers 1.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 197
Erneuerung assoziiert.25 Auf der Ebene der Alltagspraxis ist die schwarze
Farbe seit der Antike Beerdigungsfarbe, sie symbolisiert Zurückhaltung,
Trauer, das Versinken im Dunkeln und die Finsternis. In den SS-Unifor-
men wurde die Assoziation mit Tod und Erneuerung vor allem durch die
Kombination der schwarzen Farbe mit dem Totenkopf erzeugt.
c) Das klerikale Schwarz: Schwarz eignet sich auch für die Darstellung von
religiöser Transzendenz und ist oft die Farbe des Habits von christlichen
Priestern und Mönchen. Als matte Farbe versinnbildlicht Schwarz Zurück-
nahme und Einfachheit. Schwarz gekleidet sollen Priester und Mönche Be-
scheidenheit verkörpern und die Negation von irdischer Eitelkeit und
Prunk demonstrieren.28 Der Ursprung dieser im klerikalen Schwarz
symbolisierten Haltung gehörte ebenfalls zum Symbolkomplex der SS-
Uniformen. Doch während in der christlichen Deutung der Farbe Schwarz
eher die Distanzierung von irdischen Bedürfnissen im Vordergrund steht,
verlagert die SS ihren symbolischen Gehalt und ihren asketischen Inhalt
auf die Lebensverachtung. Diese symbolische Verschiebung ist vor allem
——————
25 In der Genesis steht die schwarze Farbe für Verurteilung. Adam und Eva kleideten sich
in Schwarz, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden, ebd.; Jean Chevalier/Alain
Gheerbrant, Dictionnaire des Symboles, Paris 1982, S. 671.
26 Vgl. Hans Biedermann, Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989, S. 393-394.
27 Vgl. Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbole, Stuttgart 1985, S. 608.
28 Vgl. Biedermann, Knaurs Lexikon [wie Anm. 26], S. 393-394.
198 PAULA DIEHL
deshalb möglich, weil das Zeichen Schwarz nicht allein stand, sondern in
Kombination mit anderen Gewalt- oder Machtsymbolen wie der militäri-
schen Ausrüstung samt Lederstiefeln und vor allem mit dem Totenkopf
kombiniert wurde.
Der Totenkopf war die visuelle Erwähnung, eine Evokation des Todes
schlechthin, die traditionell als Warnzeichen für Bedrohung und Todesge-
fahr verwendet wurde. Schon in der christlichen Kunst gehörte der Toten-
kopf zu den Symbolen des Todes – allerdings mit dem Verweis auf die
Buße und auf die Vergänglichkeit alles Irdischen.29 Auch dieser Aspekt des
Totenkopfes erlebte eine Bedeutungsverschiebung in der SS-Symbolik. Die
Mahnung gegen die Überbewertung des Irdischen angesichts des Todes
wurde zum Todeskult und von der Ästhetisierung und von der Sehnsucht
nach dem schicksalhaften Tod verdrängt. Der Tod erhielt sowohl auf der
verbalen als auch auf den bildlichen Ebenen des SS-Diskurses eine kulti-
sche Bedeutung.30
Die Zeichenkomposition und die diskursive Darstellung der SS-Uni-
form ist ein typisches Beispiel von Symbolrecycling, das die Selbstinsze-
nierung der SS und die Inszenierung der NS-Macht mitgestaltet. Berück-
sichtigt man die bewusste Anlehnung der SS an die preußischen Husaren,
ihre Anknüpfung an die kriegerische Symbolik sowie deren Kombination
mit der schwarzen Farbe und mit den Lederstiefeln der SS-Uniformen,
entfaltet sich die Todessymbolik in der NS-Machtinszenierung als Dar-
stellung von Gewalt beziehungsweise ihrer Androhung. Bereits die Husa-
renuniform setzte die Todessymbolik so explizit ein, dass die Husaren im
Volksmund »der Tod« genannt wurden.31 Bei der Übernahme dieser
Symbolik durch die SS ist eine Verschiebung zu beobachten: Die Toten-
——————
29 Vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen
Kunst, Berlin 1971, S. 292.
30 Hier ist vor allem der Totenkopfring hervorzuheben. Noch vor 1937 ließ Himmler vom
SS-Brigadenführer Karl Maria Wiligut (Rasse- und Siedlungshauptamt) einen Totenkopf-
ring entwerfen, den ausgewählte SS-Männer als Symbol der SS-Orden tragen sollten. Die
Symbolisierung des Todes gewann im Totenkopfring einen religiösen Akzent: Die Ringe
der gefallenen SS-Angehörigen sollten zur Wewelsburg zurückkommen und am Ort ih-
rer Einweihung gelagert werden. Vgl. Nicholas Goodrick-Clarke, The occult roots of
Nazism, New York 1992, S. 187; Karl Hüser (Hg.), Wewelsburg 1933 bis 1945, Kult und
Terrorstätte der SS: eine Dokumentation, Paderborn 1987, S. 70.
31 Vgl. Richard Knötel/Herbert Sieg, Farbiges Handbuch der Uniformkunde, Augsburg
1996, Bd. I, S. 33.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 199
kopf-Uniform fungierte hier nicht nur als Symbol des Todes, sondern ihr
Träger verkörperte den Tod. Er war fähig, den Tod selbst zu bringen.
Die Bedeutung des Todes in der SS-Symbolik bekam durch das Auf-
treten als paramilitärische Truppe – in der Weimarer Republik sowie in den
ersten Jahren nach 1933 – und durch die prominente Rolle der SS im NS-
Terror eine Pointierung in Bezug auf die Gewalt, die bedrohlich erscheinen
konnte. Eine Episode aus den Erinnerungen von Christoph Graf von
Schwerin veranschaulicht diese Deutung: »Meine Mutter erzählt eine an-
dere Geschichte von einer Zugfahrt mit mir zwischen Berlin und Prenzlau.
Wir hätten in einem Abteil gesessen, das nur einen Ausgang nach draußen
hatte. Uns gegenüber habe ein SS-Mann gesessen, dessen Mütze mit einem
Totenkopf geziert war. Zum Entsetzen aller im Abteil hätte ich den SS-
Mann gefragt, was der Totenkopf denn bedeute, und der habe geantwortet:
›Mein Junge, das bedeutet, daß wir unserem Führer treu sein wollen bis in
den Tod.‹ Meine Mutter habe darauf zusammen mit mir das Abteil verlas-
sen, um einer Fortsetzung dieses unangenehmen Gesprächs zu entgehen.
Ich kann mich an diesen Vorgang aus dem August 1939 nicht erinnern.
Das allgemeine Entsetzen zeigt jedoch, daß alle Abteilinsassen dem Toten-
kopf eine andere Deutung gaben als die, die der SS-Mann genannt hatte«.32
Das von Graf Schwerin beschriebene Unbehagen angesichts des Toten-
kopfes entstand aus der Mischung einer symbolischen Tradition und der
aktuellen Bedeutung der SS-Männer für die Gewaltausübung im National-
sozialismus. Hier konvergierten und potenzierten sich die verschiedenen
symbolischen Gehalte des Totenkopfs in eine Todessymbolik, die mit Ge-
waltandrohung konnotiert wurde.
Wie Inszenierungen im Allgemeinen sind politische Inszenierungen
nicht bloß die Summe der semiotischen Bedeutungen ihrer Symbole. Ihre
Entstehung und Wirkung sind vor allem das Ergebnis des Zusammenspiels
zwischen semiotischer Bedeutung einerseits und performativ-ästhetischer
Wirkung andererseits. Für die Analyse der Rolle der SS-Männer in der NS-
Machtinszenierung muss daher auch die ästhetische Wirkung der schwar-
zen Farbe in der Uniform mitberücksichtigt werden. »In seiner Kompakt-
heit und seiner Zurücknahme der Person eignet sich Schwarz hervorragend
als Farbe für Uniformierungen [...]. Ohnehin ist schwarze Kleidung, in
welchem Material und welchem Schnitt sie auch erscheint, immer eine In-
szenierung, die den Körper schützt, weil sie ihn zurücknimmt und tenden-
——————
32 Christoph Graf von Schwerin, Als sei nichts gewesen. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 11.
200 PAULA DIEHL
ziell verbirgt.«33 Die schwarze Farbe vermittelt den optischen Eindruck des
Schweren. »Le Noir donne une impression d’opacité, d’épaissement, de lourdeur. C’est
ainsi qu’un fardeau peint un noir paraîtra plus lourd qu’un fardeau peint en blanc.«34
Mit der schwarzen Uniform wird dem Körper ein optischer Schutz-Effekt
verliehen, der Intensität und Geschlossenheit suggeriert.
Bis 1934 bestanden die fast vollständig schwarzen SS-Uniformen aus
einem Dienstrock mit Schulterriemen, Tellermütze mit Sturmriemen und
silbernem Totenkopf, braunem Hemd und Lederknöpfen und Binden.
Dazu trugen die SS-Männer Stiefelhosen und Marschstiefel.35 Durch die
Hakenkreuzbinde und die braune Farbe des SS-Hemdes wurde die visuelle
Verbindung zur NSDAP hergestellt. Der Schnitt betonte die als männlich
kodierten Körperproportionen – breite Schultern, enge Taille und große
Statur. Er diente einer optischen Veränderung des Körpers; die SS-Uni-
form ließ die SS-Männer größer erscheinen und akzentuierte ihre ästheti-
sche Wirkung und den performativen Einsatz bei den Aufzügen und Ze-
remoniellen – auch hier ist das Aufeinanderwirken von Performanz und
Semiotik zu beobachten. Der schwer aussehende schwarze Stoff und der
Uniformschnitt verwandelten den Körper in eine »gepanzerte« Einheit.
Anders als schwarz gewandete Priester oder Mönche verloren die schwarz
uniformierten SS-Männer keineswegs an Präsenz. Der Uniformschnitt, das
Tragen von Waffen und Fahnen und der paramilitärische Auftritt der SS-
Männer unterstrichen ihre körperliche Materialität.
In dieser körperlichen Präsenz fehlte jedes Zeichen von Individualität.
Uniformen entpersonalisieren den Körper ihrer Träger und binden ihn in
den Status der Gruppe ein. Die einzelnen Körper wurden einander optisch
angeglichen und fügten sich in einen geschlossenen Block. Die marschie-
renden SS-Männer waren anonymisiert und ihre Körper vom symbolischen
Schutz der Uniform bedeckt. In ihrem Auftritt erschienen sie als Abstrak-
tion, die die Machtinszenierung unterstrich. Dazu kamen die schwarzen
Lederstiefel und die Waffen als eindeutige Zeichen von Macht und Gewalt
sowie NS-Symbole, Fahnen und Standarten, die sowohl von den SS-Män-
nern getragen wurden als auch den Raum schmückten.
——————
33 Auch bei zivilen Festlichkeiten hat schwarze Kleidung die Eigenschaft, zu imponieren
und zu inszenieren. Vgl. Erika Thiel, Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode
von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1997, S. 409.
34 Chevalier/Gheerbrant, Dictionnaire [wie Anm. 25], S. 671-674.
35 Ab 1938 wurden einige SS-Truppen mit grauen Uniformen ausgestattet. Für die Re-
präsentationstruppen und für die »Allgemeine SS« blieb jedoch die schwarze Uniform
bestehend.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 201
Lederstiefel stehen durch die kulturelle Tradierung und durch eine sozi-
ale Praxis in einer engen Verbindung mit Macht, Gewalt und sozialer Hie-
rarchie. Aufgrund ihrer Schutzfunktion etablierten sich die Lederstiefel als
Fußbekleidung bei der Jagd, beim Reiten und beim Militär; ab dem 19.
Jahrhundert bekamen sie zunehmend eine militärische Konnotation. Die
schwarzen Stiefel sind in zweierlei Hinsicht Elemente der NS-Machtin-
szenierung: Sie sind semiotisch aufgrund ihrer tradierten symbolischen
Bedeutung, und sie sind performativ aufgrund ihres Einflusses auf die
Körpersprache der Stiefelträger. Stiefelträger haben mehr Bewegungsauto-
nomie als Träger losen Schuhwerks. Der physische Schutz der Stiefel er-
möglicht es, entschlossener zu marschieren und beeinflusst damit nicht nur
den Gang, sondern auch sämtliche Körperbewegungen sowie das gesamte
Erscheinungsbild des Körpers. Die SS-Männer und vor allem die paradie-
renden Truppen der »Leibstandarte Adolf Hitler« übten beim Marschexer-
zieren zackige und kräftige Schritte. Das Tempo der Marschparade wurde
vom Takt reglementiert und band die Bewegungen der Einzelnen an die
kollektive Bewegung der Gruppe. Marschierende Truppen verhalten sich
als Einheit, sie absorbieren die einzelnen Schritte in einem Gesamtbild so-
wie im Takt und verdeutlichen dadurch die summierten Kräfte der
Gruppe. Dies ist einer der Gründe, warum die Stiefeltritte in Marschpara-
den sich als wirksames Element der Machtdarstellung eignen. Ihre akusti-
schen Signale kündigen die Ankunft der marschierenden Truppe an, die,
wie eine einzige »Körper-Maschine«, die Macht sinnlich vermittelt und
verdeutlicht, dass ihre Mitglieder jederzeit Gewalt ausüben können.
Die SS-Übungsvorschrift vom ersten Juli 1933 betonte die Bedeutung der
Präzision der synchronen Körperbewegungen beim Paradieren. Sie zählte
drei unterschiedliche Marschschritte: Erstens »ohne Tritt«, zweitens »im
Gleichschritt« und drittens der Paradenmarsch »fester Tritt«. Führte die
Dienstvorschrift für die SA der NSDAP von 1932 nur die beiden ersten
Schritte auf,36 wurden in der SS-Übungsvorschrift die genaue Bewegungen
beschrieben, die zum Parademarsch notwendig seien: »Das linke Bein wird
leicht gekrümmt, der Unterschenkel mit heruntergedrückter, etwas aus-
wärts zeigender Fußspitze leicht durchgezogen und vorgestreckt, dass er
mit dem Oberschenkel eine gerade Linie bildet. Gleichzeitig verschiebt sich
das Körpergewicht nach vorne, der Fuß wird flach und leicht, mit der
Fußspitze zuerst, in der Entfernung von etwa 80 cm vom rechten Fuß auf
——————
36 Vgl.: Dienstvorschrift für die SA der NSDAP, Diessen vor München 1932, S. 293-295;
Dokument in: Bundesarchiv-Berlin, NSD40/27- 1932/4.
202 PAULA DIEHL
dem Boden gesetzt.« Die Übung zum »festen Schritt wurde besonders
kräftig und langsam vorgenommen, während der normale Schritttempo
(»Gleichschritt«) 114 Schritte in der Minute ausmachte, war der langsame
Schritt mit 25 Schritt in der Minute präzis aufzuführen.37 Der »feste Schritt«
der SS-Paradenmärsche sollte besonders akribisch choreographiert werden,
er gehörte nur bei Parademärschen und galt als besonders anstrengend.
Die Wirkung der synchron marschierenden SS-Körper wurde besonders
durch das gleichzeitig Drehen der Köpfe beim Salutieren hervorgehoben.
Durch die Reglementierung ihrer Bewegungen wirkten die SS-Männer wie
anonyme Teile einer Maschine, die akustisch den Takt und den Rhythmus
der Inszenierung prägte.
Ähnlich verhält es sich mit der visuellen Wahrnehmung der Stahlhelme.
Der SS-Stahlhelm wurde 1934 eingeführt und gehörte bis auf die späteren
SS-Militäreinheiten ausschließlich zu den Repräsentationsuniformen.38 Der
Stahlhelm eignet sich besonders für die Kodierung von Macht durch den
Körper in Herrschaftsinszenierungen. Seit der Antike fungiert der Helm als
Potenzzeichen, das in Verbindung mit Kampf und Krieg steht. Wie die
Lederstiefel schützt er seinen Träger vor Angriffen und – was für die
Machtinszenierung von Bedeutung ist – vor den Blicken der Betrachter.
Der Stahlhelm entpersonalisiert das Gesicht, indem er es optisch in zwei
Partien teilt: Die Unterkieferknochen erscheinen hervorgehoben, während
die Augen für den Betrachter kaum erkennbar sind. Damit unterstützte der
SS-Stahlhelm die homogenisierende Wirkung der Uniformen, die mit der
eingeübten militärischen Mimik und Gestik verbunden war und beim Pa-
radieren oder beim Spalier zum Vorschein kam. Ins Blickfeld rückte die
visuelle Reduktion des Gesichts auf schematische Züge, die zum abstrakten
Herrschaftszeichen wurden. Dieser homogenisierende Effekt unterstützte
zusammen mit der symbolischen Tradierung des Helms als Kriegsausrüstung
die Visualisierung von Anonymität, Macht und Gewalt.
In der Visualisierung von Schutz und Potenz des eigenen Körpers
durch das Tragen von Helm, Stiefeln und schwarzer Uniform, in der An-
kündigung der drohenden Gewalt durch die lauten Marschschritte der Le-
derstiefel, in der Darstellung von Disziplin durch die eingeübten synchro-
nen Bewegungen und uniformierten Körper sowie in den diversen symbo-
lischen Assoziationen der schwarzen Farbe und des Totenkopfs mit
——————
37 SS-Übungsvorschrift, Wiebach 1933, S. 24-26; Dokument in: Militärarchiv-Freiburg: M
1301/A13.
38 Vgl. Mollo, Uniforms [wie Anm. 8], Bd. 1, S. 15.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 203
Askese, Tod, Erneuerung, Gewalt und dem Bösen trugen die marschieren-
den SS-Männer die NS-Macht zu Schau. Als szenisches Element wirkten
die SS-Männer ambivalent: negativ und einschüchternd als Verkörperung
des Todes und potenzielle Quelle von Gewalt, aber zugleich positiv und
vielleicht sogar anziehend als Darstellung von militärischen Tugend,
Selbstkontrolle und Macht.
Bis hier her wurden die Symbole und die ästhetischen Elemente dargestellt,
die das emblematische Bild der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung
prägten. Diese Symbole waren mehrdeutig und implizierten ein ambiva-
lentes Verhältnis des Betrachters zu den Uniformierten und zur Macht, die
sie verkörperten. Damit verbunden war der performative Einsatz der SS-
Männer nicht nur in NS-Veranstaltungen, sondern auch in ihrer massen-
medialen Verbreitung in Film und Foto. Zu klären bleibt, wie der Auftritt
der SS-Männer in der NS-Machtinszenierung eingebunden war und auf
welche Bindungsstrukturen beziehungsweise Angebote an das Publikum
sie rekurrierte, um die Macht symbolisch zu fixieren.
Ausgehend von Herfried Münklers These zur Visibilität der Macht er-
scheint die Verlagerung auf die Darstellung von Macht und Gewalt im Na-
tionalsozialismus als Kompensation für die mangelnde Transparenz der
Entscheidungsprozesse, für die Unmöglichkeit der Teil- oder Einfluss-
nahme der Unterworfenen in und auf die politischen Entscheidungspro-
zesse. Machtvisualisierung funktioniert somit als Ersatz für ein nicht mehr
mögliches Handeln der Beherrschten und ist zugleich eine Drohung für
den Fall, dass sich die Beherrschten an die oktroyierte Ordnung nicht hal-
ten und eigenes Handeln für sich beanspruchen. In diesem Sinne ist Macht
auf den Doppelmechanismus der Produktion von Furcht und Sicherheit,
von Unterwerfung und Stärkegefühl angewiesen. Um diesen Mechanismen
näher zu kommen, ist es erforderlich, die Produktion von Ambivalenzen in
den Vordergrund der Betrachtung treten zu lassen.
Die Ambivalenzen, die aus den Paarungen Wille zur Macht/Unterwer-
fung, Machtteilnahme/Angst vor der Macht und Anziehung/Abschre-
204 PAULA DIEHL
Eines der wichtigsten Instrumente der Macht ist die Drohung. Drohung
setzt Glaubwürdigkeit voraus und basiert auf der Vorstellungskraft derer,
die ihr ausgesetzt sind. Für Heinrich Popitz ist »die Wirkungskraft der
Drohung [...] eine Bedingung der Möglichkeit aller dauerhaften Machtver-
hältnisse«.39 Dabei müssen Drohungen nicht unbedingt direkt ausgespro-
chen werden. Es reicht, dass sie angedeutet oder durch Symbole, Gesten
oder Mimik erwähnt werden. Sie können auch »mit Pomp und Pathos in-
szeniert werden«. Als Instrumente der Macht steuern die Drohungen das
Verhalten der Bedrohten. Und das tun sie, »weil sie Furcht, Versprechun-
gen, weil sie Hoffnung erzeugen«.40 Ziel ist, dass der Adressat der Drohung
zwischen Angst und Sicherheitsgefühl schwanke. In diesem Sinne wirkt die
erfolgreiche Drohung als Erzeuger von Ambivalenzen.
In den nationalsozialistischen Marschparaden und Massenveranstaltun-
gen sowie in vielen der propagandistischen Bilder und Filmaufnahmen
gehörte die implizite und explizite Drohung zur Ästhetik der Machtinsze-
nierung. Die Gestaltung des Raumes durch die NS-Regie wie die Okkupie-
rung von Straßen, Plätzen und Hallen durch die Dekoration, die strikte
physische Trennung zwischen Zuschauern und Machtdarstellern fixierte
die Hierarchie zwischen Machtinhabern und Unterworfenen und gab den
Rahmen vor, in dem die SS-Männer auftraten. In Filmen, auf Plakaten und
in Zeitungsillustrationen war die Perspektive von unten nach oben ein
weiteres Inszenierungsmittel, das die Hierarchie der Macht visuell mar-
kierte. Die Drohung wurde von Macht-, Gewalt- und Todessymbolen und
——————
39 Vgl. Popitz, Phänomene [wie Anm. 4], S. 79.
40 Vgl. ebd., S. 88.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 205
——————
41 Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1996, S. 33.
206 PAULA DIEHL
Macht zu sehen. Doch diese Botschaft war höchst ambivalent, denn neben
der Anziehungskraft des marschierenden Blocks und der symbolischen
Einladung zur Machtteilnahme wurde auch Gefahr signalisiert. Der Preis,
den das Publikum für die Integration in die Macht zahlen sollte, war die
Unterwerfung. Dies galt sowohl in seiner physischen wie in seiner symboli-
schen Dimension.
Die Zeichen von Gewalt und die damit verbundene Drohung beim
Einsatz der SS-Männer in der Herrschaftsinszenierung bekommen eine tief
greifende Dimension, wenn man bedenkt, dass die SS-Männer nicht nur als
performative Einheiten in den Marschparaden oder in den Repräsentati-
onsaufgaben fungierten, sondern eine wichtige Rolle in der Verbreitung
des Terrors übernahmen, wenn sie Gewalt ausübten. Das bedeutet, dass
die Zeichen der Gewalt als Kodierung von Macht im Einsatz der SS-Män-
ner in der NS-Herrschaftsinszenierung immer einen Rückgriff auf die Rolle
der SS in ihrer gewalttätigen Alltagspraxis beinhalteten. Die Relevanz dieser
Gewaltzeichen für die Herrschaftsrepräsentation kann ohne die Bedeutung
des Terrors für die Produktion von kollektiven Phantasien und Vorstellun-
gen nicht vollständig entschlüsselt werden. Sowohl der Auftritt der SS-
Männer auf Marschparaden und Massenveranstaltungen als auch ihre Kör-
perbilder fungierten als Erinnerung an eine Drohungsstruktur, die die
Maße, die Popitz anbietet, deutlich übersteigt und zu Terror wird.
Der Gewalt, die die SS-Männer ausübten, haftete ein Element der Will-
kür an, das die Labilität der Ordnung brisant machte. Als Hilfspolizei er-
hielt die SS gemeinsam mit der SA zwar 1933 die formale Aufgabe die
staatliche Ordnung zu garantieren, doch in der Praxis wurden ihre »polizei-
lichen« Aktionen zu einem Faktor der Unruhe und Angst innerhalb der
Bevölkerung. Vor allem nach dem »Ermächtigungsgesetz« vom 24. März
1933, das die Grundrechte der Bürger suspendierte, konnten SS- und SA-
Männer ohne Befehl Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verhöre
durchführen. Sie misshandelten Oppositionelle und Juden in der Öffent-
lichkeit und prägten damit die Vorstellungen von Terror und Gewalt. Mit
dem Ausbau des Sicherheitsdienstes durch Heinrich Himmler und mit der
zunehmenden Kontrolle der Polizei durch die SS gewannen Terror und
Willkür einen institutionellen Charakter. Dieser politische Kontext ver-
schärfte die Ambivalenzen der Macht. Das Schwanken zwischen Drohung
und Sicherheitsversprechen, zwischen Angst und Sicherheitsgefühl bekam
angesichts der SS- und SA-Gewaltpraktiken, der NS-Gewaltpropaganda
und des Ausbaus des Polizeiapparates eine neue Qualität.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 207
Politik sowohl die Lücken der Weimarer Verfassung zu nutzen, als auch
durch Terror, Gewalt und Propaganda ihre Macht zu erweitern. Die NS-
Herrschaftsinszenierung knüpfte einerseits an die republikanische Symbo-
lik an – Hitler selbst erschien am 30. Januar 1933 im Frack und nicht in
Parteiuniform –, andererseits markierte sie die Machtansprüche gegenüber
der Weimarer Republik – hierfür ist der Fackelzug aus SS, SA und Stahl-
helm am selben Abend das beste Beispiel.
Der Einsatz der SS-Männer war an diese beiden Strategien gekoppelt:
Auf einer Seite war der paramilitärische und der gewalttätige Einsatz der
SS-Männer im Alltag als Chaoselement zu verstehen und wendete sich ge-
gen die republikanische Ordnung.47 Auf der anderen Seite traten die SS-
Männer immer häufiger auf der Seite der staatlichen Institutionen auf und
repräsentierten zunehmend die Staatsordnung. Sie wurden immer mehr an
die Staatssymbolik gekoppelt und in die Staatsrepräsentation eingegliedert
wie bei Staatsbegräbnissen, Wachen, Leibgarde des Kanzlers oder militäri-
schen Marschparaden. Mit der Institutionalisierung der NSDAP als Staats-
partei, der sukzessiven Unterstellung der Polizei unter Himmler ab Juli
1933 und spätestens mit der Bekämpfung der SA in der so genannten
»Röhm-Affäre« avancierten die SS-Männer zu Hauptrepräsentanten des
internen Gewaltmonopols.
Das Oszillieren zwischen Ordnung und Chaos markierte in den beiden
ersten Jahren nach der »Machtergreifung« das Verhältnis der SS in der
symbolischen Politik des Nationalsozialismus gegenüber dem Staat. »Un-
ordentliche« Gewaltausbrüche und »ordentliches« Paradieren oder Wachen
bildeten einen komplementären Zusammenhang, der die Ambivalenzen
der Macht verstärkte.
Macht unterdrückt nicht nur, sondern übt auch Anziehungskraft auf den
Unterworfenen aus. Denn wer Macht besitzt und ausübt, prägt seine Um-
welt und steuert das Verhalten der Unterworfenen, wie Popitz schreibt.
Die Machtinszenierung drückt dieses ambivalente Verhältnis aus, sie ist
Markierung der Machtunterwerfung einerseits und Versprechung der
——————
47 Zu Gewaltausbrüchen als Machtdarstellung der SA vgl. Sven Reichardt, Faschistische
Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deut-
schen SA, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 103ff., 125ff.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 209
——————
48 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd.
XIII, Frankfurt/M. 1999, S.71-161, hier S. 116.
49 Ebd., S. 128.
50 Nach wie vor lieferte Hitler die Hauptfigur für eine Identifikation mit dem National-
sozialismus. Die SS-Männer sind in dem Kontext als anonymisierte Elemente der Macht,
als Abstraktionsfiguren und als Darstellung des »Ariers« zu verstehen.
210 PAULA DIEHL
»mitreißen« lässt. Fischer-Lichte arbeitet mit der Kategorie der Präsenz und
versteht darunter eine »performative Qualität«, die in der Lage ist, eine in-
tensive »Gegenwartserfahrung« zu vermitteln. Der Zuschauer »spürt die
Kraft, die vom Darsteller ausgeht und ihn zwingt, seine Aufmerksamkeit
ganz und gar auf ihn zu fokussieren«, er erlebt den Darsteller »auf eine un-
gewöhnlich intensive Weise gegenwärtig«, »die ihm das Vermögen verleiht,
sich selbst auf besonders intensive Weise gegenwärtig zu fühlen«.51 Dieser
sinnliche Prozess ist eine ästhetische Erfahrung, die in der Theaterwissen-
schaft, aber auch bei Freud mit der Metapher der »Ansteckung« beschrie-
ben wird. Für Fischer-Lichte ist dieses Phänomen vor allem ein leibliches.
Der Körper fungiert als primärer Ort, in dem die affektiven Veränderun-
gen stattfinden, die eine Verbindung zwischen Zuschauer und Darsteller
ermöglichen. Für die Machtinszenierung bedeutet das, dass Macht vom
Publikum körperlich erfahren werden kann und zwar nicht nur als physi-
sche Gewalt, sondern als ästhetische Erfahrung.
Fischer-Lichte zeigt, dass es Techniken gibt, mit denen der Darsteller
arbeiten kann, um Präsenz hervorzubringen: Die Lenkung der Aufmerk-
samkeit der Zuschauer auf den Körper des Schauspielers durch bestimm-
ten Bewegungsabläufe; die Erzeugung von Rhythmus, der ebenso den
Körper des Zuschauers affiziert; die Gestaltung des Raumes, die eine Ord-
nung der Körper stiftet, und das Zusammenspiel zwischen den Dekorati-
onselementen, Körperbewegungen und Raumverteilung wirken auf die
Körper der Zuschauer sowohl in der körperlichen Ko-Präsenz als auch in
der medialen Inszenierung.52
Diese Techniken lassen sich beim Auftritt der SS-Männer exemplarisch
beobachten. Ihre synchronisierten Bewegungen, der Rhythmus marschie-
render Stiefel, die Gestaltung des Raums mit nationalsozialistischer Deko-
ration sowie Fahnen und Standarten, die die Uniformierten hielten, trugen
zum Gesamteffekt der Inszenierung bei. Sie zielte darauf, die Aufmerk-
samkeit des Publikums zu lenken sowie Raum und Zeit zu besetzen, um
die ästhetischen Erfahrungen von Präsenz zu bewirken. Und gerade diese
Erfahrung von Präsenz war in der NS-Machtinszenierung von Bedeutung,
weil sie sich den Zuschauern als Erfahrung von Machtteilnahme und
Machtunterwerfung anbot. Sie stützte sich auf den Einsatz der SS-Männer
und trug zur Identifikation mit der Macht bei.
——————
51 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004, S. 166.
52 Ebd., S. 174-175.
DAS AMBIVALENTE ANGEBOT DER MACHT 211
——————
53 Zur identifikatorischen Rolle der SS-Männer in der NS-Propaganda siehe: Paula Diehl,
Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin 2005.
Gewalt als Grenzphänomen von
Herrschaftsrepräsentation – exemplarisch
dargestellt an Gewalthandlungen der
1960er und 1970er Jahre1
Gisela Diewald-Kerkmann
nopol mit Rechtsstaat und Demokratie verzahnt werden und »durch das
Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit vor willkürlicher Inanspruchnahme
gesichert«16 werden. Die Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols
durch die Verfassung und durch die Freiheitsrechte der Staatsbürger ist
unabdingbar; die staatliche Gewalt muss an das Recht gebunden sein.
Offensichtlich ist die Einschränkung beziehungsweise »Einhegung«17 des
staatlichen Gewaltmonopols erforderlich, erst recht, wenn man das histori-
sche, oft ambivalente Verhältnis zwischen friedsamer Gesellschaft und staat-
lichem Gewaltmonopol betrachtet. Einerseits hatte die Einrichtung des
staatlichen Monopols eine Begrenzung von staatlicher und privater Gewalt
und einen Zuwachs an Sicherheit für die Bevölkerung zur Folge, andererseits
gingen damit ein Ausbau der Strafverfolgungsinstanzen und eine Zunahme
des staatlichen Repressionspotenzials einher. Überzeugend weisen Jürgen
Kocka und Ralph Jessen auf das Problem der Legitimität von Gewalt hin:
Auch »wenn man das hohe Gut des rechtlich eingehegten staatlichen Ge-
waltmonopols vernünftigerweise nicht in Frage stellen wird, bleibt doch die
historische Erfahrung [...], in [der] Gewaltanwendung zwar illegal war, aber
doch von vielen als legitim angesehen wurde [...], während eine legale, aber
ihre Legitimitätsgrenze eindeutig überschreitende Staatsmacht Verbitterung,
Widerstand oder Aufruhr provozierte.«18
Dass die Frage nach den Legitimationsgrundlagen staatlicher Gewalt
»ein[en] Streit um ein hoch aufgeladenes Symbol«19 darstellt, wird sichtbar,
wenn man den Rechtfertigungszwang staatlicher Gewalt für die Aufrecht-
erhaltung von Herrschaftsverhältnissen berücksichtigt. Die physische Ge-
waltanwendung durch staatliche Institutionen ist in einem hohen Maße le-
gitimationsbedürftig. Nach Trutz von Trotha könne vielleicht ein Volk
ohne Rechtfertigungsglauben überfallen, aber nicht auf Dauer regiert wer-
den.20 Die Rechtfertigungen für Gewalt stabilisieren Herrschaftsverhält-
——————
16 Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 49f.
17 Jörg Calließ, Das zivilisatorische Hexagon. Die Ursachen der Gewalt und die Bedingun-
gen von Frieden, in: Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft, hg. von
der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Hannover
2001, S. 26-33, hier S. 29.
18 Kocka/Jessen, Gewaltsamkeit [wie Anm. 12], S. 35.
19 Stefan Reinecke, Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister, Hamburg 2003,
S. 231.
20 Vgl. Trutz von Trotha, »Streng, aber gerecht« – »hart, aber tüchtig«. Über Formen von
Basislegitimität und ihre Ausprägungen am Beginn staatlicher Herrschaft, in: Wilhelm
J.G. Möhlig/Trutz von Trotha (Hg.), Legitimation von Herrschaft und Recht, Köln
1994, S. 69-90, hier S. 70.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 217
nisse, wobei – wie später zu zeigen sein wird – der Glaube an die Legiti-
mität einer Herrschaft erschüttert werden kann. Aber angesichts des »Mo-
nopolcharakters der staatlichen Gewaltherrschaft«21 und der damit ein-
hergehenden Zurückdrängung privater Gewalt müssen Gewalttätigkeiten
verbannt und tabuisiert werden. Peter Alexis Albrecht und Otto Backes
konstatieren, dass die gesellschaftliche und staatliche Grundierung der
Gewalt ausgeblendet und tabuisiert werde.22 Vor allem in gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen taucht die Frage nach den staatlichen Gewaltpoten-
zialen auf, wobei gewaltsame Handlungen durch staatliche Institutionen
vielfach nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern prinzipiell als legitim
angesehen werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum diese
Form von Gewalt oft verdeckt bleibt.
——————
24 Neidhardt/Rucht, Protestgeschichte [wie Anm. 4], S. 29.
25 Heinz Steinert, Erinnerung an den »linken Terrorismus«, in: Henner Hess u.a. (Hg.),
Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus, Frankfurt/M.
1988, Bd. I, S. 15-54, hier S. 20.
26 Willy Brandt, Erinnerungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989, S. 274.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 219
——————
27 Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 77.
28 André Gorz, Revolutionäre Lehren aus dem Mai, in: André Glucksmann, Revolution
Frankreich 1968: Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M. 1969, S. 106f.
29 Klaus Hartung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu
bringen, in: Kursbuch 48. Zehn Jahre danach, Juni 1977, S. 14-43, hier 21. Vgl. grund-
sätzlich hierzu Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der
Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; dies., Die 68er Bewegung. Deutschland –
Westeuropa – USA, München 2001.
30 Hartung, Versuch [wie Anm. 29], S. 20.
220 GISELA DIEWALD-KERKMANN
denten Gewalt als legitimes politisches Mittel der Gegengewalt und Notwehr
an. Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht weisen darauf hin, dass diese
Auseinandersetzungen einen Einschnitt in die Normalität der bundesrepub-
likanischen Nachkriegsgeschichte markieren und der Protestgipfel in der
Geschichte der Bundesrepublik in den Jahren 1968 und 1969 gelegen habe.31
In der Tat ging es um das Verhältnis der Akteure zum Staat und zu seinem
Gewaltmonopol, wobei in den sechziger Jahren noch zwischen Gewalt
gegen Sachen und Gewalt gegen Personen unterschieden wurde. In diesem
Kontext ist zu berücksichtigen, dass ähnliche Debatten über die Legitimie-
rung der Gewalt beziehungsweise Delegitimierung der staatlichen Gewalt
auch in anderen westlichen Industriestaaten stattfanden. Bevor im nächsten
Schritt Gewalt als Ergebnis von Interaktionsprozessen32 entwickelt werden
soll, um zu verdeutlichen, dass gewaltsame Konfrontationen keine zwangs-
läufigen Prozesse sind, sondern Ergebnisse eines komplizierten Wechselver-
hältnisses zwischen Akteuren und Staatsmacht, muss der Gewaltbegriff defi-
niert werden.
——————
36 Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die
Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 16. Vgl. ferner Helmut Janssen,
Sind »die Terroristen« politisch motivierte Straftäter oder Terroristen? Probleme mit der
Begriffsdefinition, in: Kriminalistik 1 (84), S. 17-19.
37 Vgl. Ingeborg Villinger, »Stelle sich jemand vor, wir hätten gesiegt«. Das Symbolische
der 68er Bewegung und die Folgen, in: Gilcher-Holtey (Hg.), 1968 [wie Anm. 29],
S. 239-255, hier S. 239.
222 GISELA DIEWALD-KERKMANN
——————
47 Fritz Sack, Die Eskalation von Gewalt: Die Transformation politischer in gewaltbesetzte
Konflikte, in: Albrecht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm.12], S. 111-137, hier
S. 131.
48 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 134.
49 Otto Schily im Juni 1967 nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg, zit. nach
Reinecke, Otto Schily [wie Anm. 19] S. 77.
50 Es stellte sich heraus, dass Fritz Teufel den fraglichen Stein nicht geworfen hatte. Er
wurde am 22. Dezember 1967 von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigespro-
chen, vgl. Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg
2003, S. 87.
51 Nicht nur in Berlin, Paris oder in den USA kam es zu schweren Zusammenstößen zwi-
schen der Polizei und der Protestbewegung, sondern auch in Spanien, in Belgien, in den
Niederlanden, in Österreich, in der Schweiz, in Jugoslawien, in Polen, in der Türkei, in
Griechenland, in Mexiko und in Japan.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 225
——————
55 Aber zu Recht weist Dirk Schumann darauf hin, dass »hier nicht eine Art von
Automatismus am Werk« war; Schumann, Gewalt [wie Anm. 2], S. 378.
56 Vgl. Schwind (Hg.), Ursachen [wie Anm. 13], S. 106.
57 Vgl. Analysen zum Terrorismus [wie Anm. 38], S. 318.
58 Michael Horn, Sozialpsychologie des Terrorismus, Frankfurt/M. 1982, S. 78.
GEWALT ALS GRENZPHÄNOMEN 227
Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und sei-
ner Unverletzbarkeit zu zerstören.«59
Mit dieser Intention griffen die RAF und die Bewegung 2. Juni Symbole
staatlicher Herrschaft an, etwa 1972 in der »Mai-Offensive« militärische
Einrichtungen der US-Armee oder Justiz- und Polizeiorgane als Instanzen
des staatlichen Gewaltmonopols. Sie ermordeten Repräsentanten des Sys-
tems, so 1974 den Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von
Drenckmann, 1977 den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Ban-
kier Jürgen Ponto und den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer
oder entführten Repräsentanten des Staates, etwa 1975 den Berliner Lan-
desvorsitzenden der CDU Peter Lorenz. Betrachtet man den Eskalations-
prozess der sechziger und siebziger Jahre, bestätigt sich die These von Pe-
ter Waldmann, wonach terroristische Gruppen »in aller Regel nicht isoliert
auf[treten], sondern im Kontext breiterer Protestbewegungen, von denen
sich nicht mehr behaupten lässt, sie seien isolierte, gewissermaßen zufalls-
bedingte sozio-politische Phänomene.«60
Nach dem Auseinanderbrechen der Studentenbewegung hatten sich
viele Akteure SPD-Nachwuchsorganisationen und anderen linken Grup-
pen und Parteien angeschlossen oder sich ganz aus der Politik zurückge-
zogen, während einige wenige in den Untergrund gingen.61 Insoweit lässt
sich die partiell anzutreffende Auffassung nicht aufrechterhalten, der
Terrorismus der siebziger Jahre sei eine zwangsläufige Konsequenz der
studentischen Protestbewegung gewesen. Vielmehr war es der Weg einer
kleinen Minderheit in die Illegalität, um den bewaffneten Kampf aufzu-
nehmen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass der Kern
der RAF vielfach nicht mehr als 25 bis 35 Personen umfasste, ist die Reak-
tion des Staates zu bewerten. Die staatlichen Gewaltmittel wurden »prä-
ventiv ausgestreckt und in ihrer Legaldefinition entgrenzt«,62 der Sicher-
——————
59 Das Konzept Stadtguerilla, in: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Ge-
schichte der RAF, hg. von ID-Verlag Berlin 1997, S. 27-48, hier S. 41f.
60 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 120. So weist Waldmann auf die Verbindung
zwischen der civil-rights-Bewegung in den USA der sechziger Jahre und dem anschlie-
ßenden Auftreten der militanten Organisation »The Weathermen« hin. Auch die meisten
palästinensischen Gewaltorganisationen, vor allem die Hamas, haben ihren Ursprung in
der Intifada, vgl. ebd., S. 121.
61 Ebd., S. 132.
62 Narr, Staatsgewalt [wie Anm. 15], S. 63.
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heitsapparat der Polizei von 149 782 Beamten im Jahre 1960 auf über
220 000 im Jahre 1980 ausgebaut, die Zahl der Mitarbeiter des Bundes-
kriminalamtes in der Zeit von 1969 bis 1980 von 933 auf über 2 600
erhöht63 und der Etat des BKA von 20 Millionen (1970) auf 920 Millionen
DM (1977)64 gesteigert. Darüber hinaus wurden relevante Strafrechtsände-
rungen, etwa die Etablierung der so genannten Antiterrorismusgesetze,
vorgenommen.
Die Terrorismus-Debatte führte zu polarisierten Kontroversen über
den Zustand der Bundesrepublik und über den Bestand der freiheitlich-
demokratischen Grundordnung. Folglich ging es in der Terrorismusbe-
kämpfung um »das Ganze«, um die staatliche Ordnung beziehungsweise
um Chaos und Anarchie. Der damalige Regierungssprecher Klaus Bölling
formulierte es folgendermaßen: »Wir hatten uns so lange mit dem Auf-
bau eines demokratischen Rechtsstaats abgerackert, das wir niemandem
erlauben wollten, diesen Staat kaputtzumachen.«65 Über die Massenme-
dien wurde ein Szenario der terroristischen Bedrohung vermittelt, so dass
der Verfolgungsdruck der Ermittlungsbehörden berechtigt, die Verstär-
kung polizeilicher Präsenz und der größte Einsatz der Fahndungsappa-
rate in der Geschichte der Bundesrepublik notwendig erschienen. In der
Tat wird – wie Jürgen Habermas im Jahre 1990 schrieb – »der staatliche
Handlungsbedarf dramatisch beschworen«, ohne zu berücksichtigen, dass
sich »im Lichte internationaler Vergleiche [...] die objektive Sicherheits-
lage erst recht nicht bedrohlich [aus]nimmt«. Politisch motivierte Ge-
walttaten seien quantitativ als »Randphänomen« einzustufen.66
Die Inszenierung der politischen Gewalt als Bedrohung der gegebenen
Gesellschaftsordnung legitimierte die Gewaltanwendung durch staatliche
Instanzen und sollte nicht zuletzt den Konsens in der Gesellschaft sicher-
stellen beziehungsweise die Loyalität der Bevölkerung einfordern. Aber ge-
rade der Ausbau des staatlichen Repressionspotenzials kam der Überzeu-
gung der RAF nahe, dass der Staat durch gezielte Provokationen »seine
heuchlerische rechtsstaatlich-demokratische Fassade« abstreife und »sein
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63 Vgl. Scheerer, Deutschland [wie Anm. 40], S. 395.
64 Vgl. Horn, Sozialpsychologie [wie Anm. 58], S. 80.
65 Zit. nach Dorothea Hauser, Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes, Frank-
furt/M. 1998, S. 205.
66 Jürgen Habermas, Gewaltmonopol, Rechtsbewusstsein und demokratischer Prozeß.
Erste Eindrücke bei der Lektüre des »Endgutachtens« der Gewaltkommission, in: Alb-
recht/Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt [wie Anm. 12], S. 180-188, hier S. 181.
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V. Schlussbemerkungen
In Umbruchsituationen und Legitimationskrisen staatlicher Macht – hier
exemplarisch dargestellt für die sechziger und siebziger Jahre – gewinnt die
Gewaltfrage eine signifikante Bedeutung. Unter solchen Konstellationen
wird die Legitimität physischen Zwangs durch staatliche Instanzen hinter-
fragt und in einem komplexen Prozess ausgehandelt, der für die symboli-
sche Inszenierung von Herrschaftsverhältnissen entscheidend ist. Zweifel-
los setzten die Rote Armee Fraktion und die Bewegung 2. Juni mit ihrem
Anspruch legitimer Gegengewalt und der damit zusammenhängende
»symbolische Belagerungszustand«69 die Staatsgewalt unter Handlungs-
druck.
Dass die Reaktion eines Staates kontraproduktiv sein kann, ist vor dem
Hintergrund der Eskalation physischer Gewalt in den sechziger und siebzi-
ger Jahren zu prüfen; sie kann »nicht nur über die staatlichen Stränge
schlagen«, sondern auch »dazu beitragen, dass das, was bekämpft wird,
staatlich nicht legitimierte private Gewalt und Abweichung von den Nor-
men, erst richtig erzeugt wird.«70 In der Tat braucht politisches Handeln
die Bestimmung von Grenzen, um berechenbar zu sein. Staatliche Gewalt
muss eingeschränkt werden, wenn der Legitimationsglaube an ihre Recht-
mäßigkeit respektive die Aufrechterhaltung von Herrschaft nicht erschüt-
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67 Waldmann, Terrorismus [wie Anm. 27], S. 78. Auch Richard Blath und Konrad Hobe
machen deutlich, dass terroristische Aktionen darauf zielen, »den Staat zu Überschrei-
tungen oder sogar zur Aufgabe der geltenden rechtlichen Prinzipien zu veranlassen und
damit größere Teile der Bevölkerung für einen Umsturz zu mobilisieren«; dies., Strafver-
fahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer, hg. vom Bundesminis-
terium der Justiz, Bonn 1982, S. 2.
68 Rede von Ulrike Meinhof zu der Befreiung von Andreas Baader, in: texte: der RAF,
Malmö 1977, S. 62-74, hier S. 72.
69 Scheerer, Deutschland [wie Anm. 40], S. 397.
70 Narr, Staatsgewalt [wie Anm. 15], S. 62.
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71 Popitz, Macht [wie Anm. 14], S. 48ff.