Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
1
Aus der „Neuen Freien Presse“ vom 6., 8. und 9. Jänner 1914.
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 500
2
Siehe die Nummern der „Neuen Freien Presse“ vom 28. Juni, 22. und 23. Dezem‐
ber 1911 und vom 24. Jänner 1913 mit den ebenso geist‐ als gehaltvollen Äuße‐
rungen eines anonymen „hervorragenden Handelspolitikers“ sowie der Geheimen
Räte v. Matlekovits und v. Jankovich.
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 501
wieder stark passiv geworden, weil wir in denselben Lustren von neuem
begonnen haben, uns gegenüber dem Auslande stark zu verschulden.
Wir hatten vorher eine lange Reihe aktiver Handelsbilanzen gehabt,
weil es uns damals gelungen war, die Verschuldung an das Ausland zum
Stillstand zu bringen, die für alle Schulden fälligen Zinsen durch expor‐
tierte Warenströme glatt abzustatten und sogar einen erheblichen Teil
unserer alten Schuldtitel durch ebensolche ins Ausland gesendete Wa‐
renströme wieder zurückzulösen. Und wir sind nunmehr wieder passiv
geworden, weil wir abermals begonnen haben, uns beim Ausland noch
tiefer zu verschulden; und dies aus Gründen, die zwar zu einem gewis‐
sen Teile mit der so oft hiefür berufenen Industrialisierung unseres Va‐
terlandes zusammenhängen mögen, die aber, wie ich glaube, zu einem
anderen und weitaus stärkeren Teile auf allerlei andere, keineswegs
durchaus erfreuliche Erscheinungen zurückzuführen sind, die noch viel
tiefer in unserem privaten und zu mal öffentlichen Wirtschaftsleben
wurzeln.
Alles tiefere Verständnis der Erscheinungen der internationalen Han‐
delsbilanzen muß von der Tatsache ausgehen, daß Güterströme, die ein
Land dem anderen sendet, im internationalen Verkehr endgültig und
auf die Dauer wieder nur durch Güterströme ausgeglichen werden kön‐
nen und müssen – nicht durch Geld. Unter Fachleuten ist diese Tatsache
so allgemein bekannt und anerkannt, daß ich einen förmlichen Beweis
dafür, der ja auch allzu weit ausholen müßte, hier wohl nicht anzutreten
brauche; um so weniger, als ja auch die vorausgehenden Äußerungen
anderer Fachmänner von derselben unbestrittenen Tatsache ausgehen3
Ich möchte sie für weitere Kreise nur durch das drastische Exempel il‐
lustrieren, daß Englands konstant überwiegende Mehreinfuhr im Jahre
1912 fast 146 Mill. Pfund Sterling betrug. Müßte diese Differenz durch
Geld beglichen werden – sei es, daß England diese Mehreinfuhr alljähr‐
lich durch Geld bezahlte, oder sei es, daß es umgekehrt seine durch äl‐
tere Darlehen erworbenen Forderungen auf Sendungen dieses Wertes
sich nicht durch Wareneinfuhr, sondern durch effektive Geld‐
3
Besonders ausdrücklich der Artikel in der ,,Neuen Freien Presse“ vom 24. Jänner
1913.
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 506
Ausland verkauft werden müssen, und daß dieses Mosaik der Details
das Gesamtbild der Handelsbilanz festlegen würde, sondern gerade um‐
gekehrt sind es andersartige, allgemeinere, aus der sogenannten Zah‐
lungsbilanz hervorgehende Tatsachen, welche die Handelskonvenienz
für den internationalen Einkauf und Verkauf der einzelnen Warengat‐
tungen ursächlich beeinflussen und bewirken, daß die Export‐ und Im‐
portdaten der einzelnen Warengattungen sich schließlich zu denjenigen
Summen und Differenzen zusammenfügen müssen, welche die gebiete‐
rischen Daten der Zahlungsbilanzii erfordern. Die Zahlungsbilanz be‐
fiehlt, die Handelsbilanz gehorcht, nicht umgekehrt.
Güterströme müssen also immer durch Güterströme ausge‐
glichen werden. Aber diese Ausgleichung kann entweder fortlaufend,
Zug um Zug, innerhalb einer und derselben Wirtschaftsperiode erfol‐
gen, indem man innerhalb eines Jahres nicht mehr und nicht weniger
an fremden Waren kauft, als man mit dem Erlös der in demselben Jahre
an das Ausland verkauften Waren bezahlen kann: dann gibt es
glatte, annähernd im Gleichgewicht befindliche Handelsbilanzen. Oder
aber es wird der vergütende Güterstrom von einer Seite gestundet:
dann gibt es in denjenigen Jahren, in welchen die Stundung in Anspruch
genommen wird, für das empfangende Land eine passive, und in jenen
früher oder später folgenden Jahren, in welchen es die gestundeten
Güterströme oder wenigstens die dafür geschuldeten Zinsen neben
seinem laufenden internationalen Warenhandel abstattet, aktive
Handelsbilanzen. Immerfort mehr ausländische Waren kaufen, als man
mit dem Erlöse der gleichzeitig ins Ausland verkauften Waren – also mit
einem gleichwertigen Export – bezahlen kann, ist nicht möglich, außer
wenn man entweder schon im voraus bezahlt hat durch ältere in
vergangenen Jahren hinausgesendete Güterströme – der Fall Englands,
der augenscheinlich unser Fall nicht ist; oder, wenn und so lange man
für den Mehrbezug stundungsbereite ausländische Gläubiger findet –
und das scheint mir klar und bündig unser Fall zu sein. Wir hätten nicht
innerhalb der letzten sechs Jahre annähernd um 2600 Millionen
mehr Waren aus dem Ausland beziehen als an dasselbe ab‐
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 509
geben können, wenn wir nicht für diese 2600 Millionen oder wenigstens
für einen Großteil derselben stundungsbereite Gläubiger im Ausland ge‐
funden hätten. Denn der Überschuß der Hereinverdienste unserer Aus‐
wanderer zusamt der Nettobilanz unseres internationalen Reisever‐
kehrs wird, wenn nicht ganz, so doch zum bedeutendsten Teile schon
durch die Begleichung der Hinauszahlungen absorbiert, die wir aus dem
Titel der Verzinsung unserer alten Auslandsschulden jährlich an das Aus‐
land zu entrichten haben. Hätten wir neue stundungsbereite Gläubiger
nicht gefunden, dann hätten eben schon die ersten, nur schwach passi‐
ven Bilanzen so empfindlich auf unsere Geld‐ und Preisverhältnisse drü‐
cken müssen, daß in vielen Warengattungen die Ein‐ und Verkaufskon‐
venienz verschoben und auf diesem Wege das Gleichgewicht in der
Handelsbilanz wieder hergestellt worden wäre.
Und leider sind in unserer Volkswirtschaft auch sonst genug
Beobachtungen zu machen, welche noch von einer anderen Seite her es
bestätigen und plausibel machen, daß wir in diesen letzten Zeitläuften
wieder bei dem Ausland als kapitalbedürftige Kreditwerber anpochen
mußten. Wir Österreicher sind überhaupt keine sonderlich sparsame
und energisch kapitalbildende Nation; anders als etwa die Holländer,
Franzosen oder auch Norddeutschen. Wir gelten bekanntlich schon seit
den Kongreßzeiten und in den Augen unseres Grillparzers für eine
eher genußfreudige als entsagungslustige Menschenart. Unser
nationales Jahresersparnis wurde von der „Neuen Freien Presse“ in
ihrer Nummer vom 25. Mai 1913 auf etwa eine Milliarde Kronen
angeschlagen, eine keineswegs übergroße Summe. Mit dieser
Milliarde – ich weiß nicht, wie viel noch von seiten Ungarns dazu
kommen mag – sollten und müßten wir normalerweise für den
Kapitalbedarf unserer Volkswirtschaft aufkommen können; nämlich
aufkommen können für den jährlichen Kapitalzuwachs, den schon bei
gleicher Intensität der Kapitalausrüstung unser jährlicher
Bevölkerungszuwachs erfordert; dann für allgemeine Verbesserungen
unserer produktiven Kapitalausrüstung, entsprechend den allgemeinen
Fortschritten der Technik; dann speziell für die zunehmende In‐
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 510
leichtherziges, williges Ausgeben hinein und wir glitten darin auch dann
noch weiter, als wir keine Überschüsse mehr hatten. Statt in den fetten
Jahren einer ungetrübten Aufschwungsperiode direkt und indirekt Re‐
serven zu sammeln für die nie ausbleibenden Anforderungen einer we‐
niger günstigen Zukunft, setzten wir mitten im Glück schon alles bis auf
den letzten Rest zu, alles, was sich aus der Anspannung der Steuerkraft
und aus dem Emporpräliminiereniv der Einnahmsquellen bis an die
obere Grenze der Wahrscheinlichkeit nur noch zusammenraffen ließ.
Und der erste ungünstige Zwischenfall mußte dann, da ihm mit den bis
zur äußersten Elastizitätsgrenze angespannten laufenden Mitteln nicht
begegnet werden konnte, sofort am Volkskapital, am Volksvermögen
zehren. Während Italien seinen großen erythräischen Kriegv aus laufen‐
den Überschüssen bezahlen konnte, versenkten uns minder weitrei‐
chende, unblutige, nur durch Vorsicht diktierte militärische Vorkehrun‐
gen sofort in eine tiefe, neue Schuldenlast.
Warum das so kam? Darüber ließe sich ein ganzes Buch
schreiben, das die innere Geschichte des letzten Dezenniums und zumal
die innere poIitische Geschichte desselben zum Gegenstand haben
müßte; denn die Finanzen waren bei uns der Prügelknabe der Politik. In
zahllosen Spielarten haben wir das vergebliche Vexierspiel gesehen,
politische Zufriedenheit durch materielle Konzessionen erzeugen zu
wollen. Waren ehedem die Parlamente die Wächter der Sparsamkeit
gewesen, so sind sie heute weit eher ihre geschwornen Feinde
geworden. Heutzutage pflegen die politischen und nationalen Parteien
– vielleicht nicht nur bei uns, aber jedenfalls ganz vorzugsweise auch
bei uns – eine förmlich für pflichtmäßig gehaltene Begehrlichkeit nach
allerlei Vorteilen für ihre Konnationalen oder Wählerkreise auf Kosten
der Öffentlichkeit zu entwickeln, und wenn die politische Situation
entsprechend günstig, das will sagen, wenn sie für die Regierung
entsprechend ungünstig ist, erhält man auch durch politischen Druck
das Gewünschte. Da aber zwischen den einzelnen Parteien sorgsam
rechnende Rivalität und Eifersucht besteht, muß oft genug das einer
Partei Konzedierte sofort kompensationsweise auch nach
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 512