Sie sind auf Seite 1von 18

Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 499

Unsere passive Handelsbilanz1.


(1914.)
Die Handelsbilanz der österreichisch‐ungarischen Monarchie ist
bekanntlich seit dem Jahre 1907 stark und zunehmend passiv
geworden. Vorher war sie durch mehr als dreißig Jahre, nämlich von
1875 bis 1906 ununterbrochen aktiv gewesen, mit einziger Ausnahme
des Jahres 1898, das ein ganz kleines Passivum auswies.
Noch früher hatten in rascherem Wechsel die Jahre 1859‐1869
aktive, die Jahre 1870‐1874 passive Handelsbilanz gezeigt. Nach der
langen aktiven Periode von 1875 bis 1906 setzte sodann die Passivität
im Jahre 1907 zunächst mit der kleinen Ziffer von 44∙7 Mill. Kronen
neuerlich ein, um über die Jahresziffern von 142∙8, 427∙4, 434∙3, 787∙4
rapid auf die für unsere Verhältnisse überaus bedeutende Höhe von
822.9 Millionen im Jahre 1912 emporzuschnellen. Auch die Bilanz
des laufenden Jahres 1913 dürfte mit einem sehr erheblichen
Passivum abschließen. Warum ist unsere Handelsbilanz wieder passiv
geworden? Darüber gehen die Meinungen ziemlich stark auseinander.
Oder noch richtiger gesagt, wir stehen hier einer Erscheinung
gegenüber, die sowohl in der öffentlichen Meinung wie auch in
Fachkreisen sehr viel Aufsehen, sehr viel Beunruhigung hervorgerufen,
aber bisher noch keine vollkommen zufriedenstellende Aufklärung
gefunden hat. Sie kam wie eine rätselhafte Überraschung über uns.
Anfangs glaubte man, sie rein mechanisch durch die Nötigung
zu verstärkten Importen von Nahrungsmitteln und Rohstoffen
und durch die aus bekannten Ursachen hervorgegangene empfindliche
Behinderung unseres Exportes, zumal nach dem Orient, erklären
zu können. Als aber die Passivität sich wachsend und zumal
dauernd einnistete, erwies sich diese mechanische Erklärung – wir
werden später sehen, warum – als unzureichend, und unsere

1
Aus der „Neuen Freien Presse“ vom 6., 8. und 9. Jänner 1914.
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 500

Fachleute begannen nach anderen, tieferen Erklärungsgründen für die


ebenso befremdliche als beunruhigende Erscheinung zu suchen. Ein
wesentlicher Teil der sich entspinnenden interessanten Diskussion
spielte sich in den Spalten der „Neuen Freien Presse“ ab2 und darum ist
es mir hoch willkommen, einige Gedanken, die die Betrachtung des
merkwürdigen Problems in mir hervorrief, ebenfalls an dieser, hiefür
hervorragend geeigneten Stelle vor die Öffentlichkeit bringen zu
können.
Ich bin weit mehr Theoretiker als Praktiker und stehe daher in der
Beherrschung der konkreten praktischen Details, in der intimen Kennt‐
nis der einzelnen wirtschaftlichen Tatsachen, die in den verschiedenen
Import‐ und Exportzweigen während der kritischen Periode zutage tra‐
ten, sicherlich hinter den ausgezeichneten Fachmännern weit zurück,
die vor mir in dieser Frage das Wort ergriffen haben. Auf der anderen
Seite glaube ich aber, daß gerade in dieser Frage volle Aufhellung nicht
ohne Beihilfe der Theorie gefunden werden kann; daß in diesem Falle
fast noch wichtiger als die Kenntnis der konkreten Tatsachen die Ausle‐
gung ist, die diesen konkreten Tatsachen auf dem Hintergrund gewisser
grundlegender theoretischer Einsichten gegeben werden muß; und da‐
rum glaube ich es wagen zu dürfen, sozusagen mein theoretisches
Schärflein zur Lösung unseres großen Wirtschaftsrätsels beizutragen.
Vorerst ein paar Worte über die bisherigen Erklärungsversuche.
Von der rein mechanischen Erklärung durch notgedrungene
Erhöhung der Importe an Rohprodukten und durch Verminderung
des Exportes infolge behindernder Kriegswirren und einer vielleicht
noch mehr behindernden Richtung unserer Handelspolitik habe
ich schon gesprochen. Gewiß läßt sich mit diesen mechanischen
Gründen etwas, aber ebenso gewiß nicht alles und jedenfalls auf die
Dauer nicht die Hauptsache erklären. Mehrfach und in verschie‐

2
Siehe die Nummern der „Neuen Freien Presse“ vom 28. Juni, 22. und 23. Dezem‐
ber 1911 und vom 24. Jänner 1913 mit den ebenso geist‐ als gehaltvollen Äuße‐
rungen eines anonymen „hervorragenden Handelspolitikers“ sowie der Geheimen
Räte v. Matlekovits und v. Jankovich.
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 501

denen Meinungsvarianten wurde sodann die Passivität unserer


Handelsbilanz mit der „Industrialisierung“ unseres Vaterlandes in
Zusammenhang gebracht. Einer der geistvollsten Vertreter dieser
Meinung glaubte sie in Verbindung mit der Prophezeiung vertreten zu
dürfen, daß wegen eben dieses Ursprungs die Passivität dauernd
verbleiben und nicht mehr verschwinden werde. Ich möchte umgekehrt
glauben, daß gerade diese beigefügte Prophezeiung zeigt, daß etwas in
der vorgetragenen Erklärung nicht stimmt. Zwischen Industrialisierung
und Passivität der Handelsbilanz besteht nämlich kein unmittelbarer
Zusammenhang. Der Zusammenhang wird erst durch Zwischenglieder
vermittelt. Und diese Zwischenglieder können, so paradox dies klingen
mag, von geradezu entgegengesetzter Natur sein. Volkswirtschaften
können durch Entwicklung ihrer industriellen Produktion reich werden,
so reich, daß sie von ihren aufgesammelten Reichtümern und Kapitalien
auch an andere, ärmere Nationen abzugeben imstande sind, in der
Form von Darlehen oder anderen Arten verzinslicher oder
ertragbringender Kapitalanlagen im ärmeren Ausland. Dann fließen die
Zinsen und sonstigen Erträge dieser auswärtigen Kapitalanlagen, und
zwar, wie wir später noch sehen werden, nicht in Gestalt von Geld,
sondern in Gestalt von importierten Produkten, die um den Belauf der
geschuldeten Zinsen und dergleichen angekauft werden können, in das
reiche Industrieland herein und bilden einen Extrazuwachs zum
Warenimport, welcher Extrazuwachs, weil er schon im vorausdurch die
geschuldeten Zinsen bezahlt ist, nicht mehr wie sonst im
internationalen Warenhandel durch exportierte Produkte bezahlt zu
werden braucht und der daher ein Plus des Warenimportes über den
Warenexport, mit anderen Worten eine passive Gestalt der
Handelsbilanz begründet. Und weil die Zinsenempfänge von ins
Ausland verliehenen oder sonst investierten Kapitalien so dauernd
sind als diese Kapitalanlagen selbst, kann und muß eine aus solcher
Ursache entspringende Passivität der Handelsbilanz allerdings
auch eine dauernde, eine permanente sein. Das ist bekanntlich
der Fall bei den reich gewordenen Industriestaaten wie
England, Deutschland, Frankreich, Belgien. Am auffälligsten bei
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 502

England, dessen Handelsbilanz seit vielen Jahrzehnten ständig und z. B.


im Jahre 1912 mit der kolossalen Ziffer von fast 146 Mill. Pfund Sterling
= zirka 3500 Mill. Kronen passiv war. Aber auf unseren Fall paßt das Pa‐
radigma der durch Industrieentwicklung reich gewordenen Gläubiger‐
staaten leider noch gar nicht. Unsere Gesamtmonarchie als Ganzes ge‐
nommen, gehört leider zweifellos noch zu den überwiegend an das Aus‐
land verpflichteten Schuldnerstaaten, und es kann daher gar keine Rede
davon sein, daß wir schon jetzt jene erwünschte Spielart dauernder Pas‐
sivität errungen hätten, welche auf dem permanenten Zuströmen ge‐
schuldeter Warentribute aus auswärtigen Schuldnerstaaten beruht.
Nun gibt es aber auch noch eine zweite, gerade entgegengesetzte
Zwischenursache, welche Industrialisierung mit Passivität, allerding nur
mit vorübergehender, temporärer Passivität verknüpfen kann. Wenn
ein armes, wenig kapitalkräftiges Land sich vom Ackerbau der Industrie
zuzuwenden beginnt, kann es sein, daß es die großen kostspieligen
Investitionen, die die Begründung und Ausstattung der industriellen
Produktionsstätten samt den notwendigen Hilfsanstalten eines
ausgebildeten Transport‐ und Verkehrswesens erfordert, nicht aus
eigener Kapitalkraft aufbringen kann, sondern sich für ihre Beschaffung
beim Auslande verschulden muß. Es borgt sich vom Ausland das nötige
Kapital – wiederum in letzter Linie nicht in Gestalt von Geld, sondern
direkt oder indirekt in Gestalt von irgendwelchen Produkten oder
Produktionsmitteln, durch die der unzureichende Gütervorrat der
einheimischen Volkswirtschaft in denjenigen Richtungen ergänzt wird,
welche die Vornahme der beabsichtigten technischen Investitionen
erfordern. Es ergießt sich wegen und aus Anlaß dieser Schuldkontrakte
ein Güterstrom in das Inland, welchen dieses nicht wie seinen sonstigen
gewöhnlichen Handelsimport durch einen gleichwiegenden Export
seiner eigenen Produkte bezahlen muß, sondern der wegen der statt‐
gefundenen Borgung vorläufig unbezahlt bleiben kann und welcher
daher geradeso wie in dem früher betrachteten entgegengesetzten
Falle der zinsenbeziehenden Gläubigerstaaten ein Plus des Waren‐
importes über den Warenexport oder eine passive Handelsbilanz be‐
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 503

gründet. Natürlich kann aber eine aus dieser Zwischenursache entsprin‐


gende Passivität keine dauernde oder gar immerwährende sein. Denn
man kann sich nicht immerfort und ins Grenzenlose verschulden; man
muß die gemachten Schulden früher oder später auch wieder abzahlen
und man muß jedenfalls alsbald beginnen, die Zinsen für die kontrahier‐
ten Schulden ins Ausland zu senden; und beide Arten von Hinauszahlun‐
gen, müssen früher oder später, aber jedenfalls in absehbarer Zeit einen
rückläufigen Güterstrom, einen Export von Produkten ins Ausland her‐
vorrufen, der die Passivität der Handelsbilanz erst mindert, dann aus‐
gleicht und endlich sogar in das Gegenteil, in eine aktive Handelsbilanz,
verkehrt; sich verschuldende Staaten haben demgemäß passive, sich
von ihren Schulden durch Rückzahlung befreiende oder auch nur ihre
Schuldzinsen ohne weitere Verschuldung pünktlich abstattende Staaten
aktive Handelsbilanzen.
Ist nun dies vielleicht das Paradigma, das auf unseren Fall paßt?
Gewiß viel eher als das Paradigma der dauernd „passiven“ Gläubiger‐
staaten. Und wenn eine andere Meinungsvariante unsere Passivität als
eine mit der (zumal in Ungarn jetzt stärker einsetzenden!) Industrialisie‐
rung zusammenhängende „Übergangs“‐Erscheinung erklären will, so
kommt sie der Wahrheit sicherlich näher. Aber alles und insbesondere
den so auffallenden Wandel der Gestalt unserer Handelsbilanz seit 1907
kann man damit doch nicht erklären. Denn die Industrialisierung mit ih‐
rem Kapitalbedarf hat, zumal in den westlichen Ländern der Gesamt‐
monarchie, schon weit früher begonnen und war trotzdem durch viele
Jahre von einer aktiven Handelsbilanz begleitet gewesen. Es liegt daher
der Schluß nahe, daß der ebenso plötzliche als heftige Umschwung, der
uns als erklärungsbedürftiges Problem vorliegt, nicht restlos durch eine
Ursache erklärt werden kann, welche, wenn auch vielleicht in etwas ge‐
ringerem Grade, doch auch schon zur Zeit der aktiven Handelsbilanzen
wirksam gewesen war.
Wieder ein anderer Erklärungsversuch will das
Hauptgewicht auf die heimgesendeten Verdienste unserer
Auswanderer legen. Nicht durch Verschuldung erwerben wir
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 504

nach dieser Auffassung das durch unsere fortschreitende Industrialisie‐


rung nötig gewordene aus dem Ausland bezogene Warenkapital, son‐
dern wir erkaufen es mit den Hereinverdiensten unserer Auswanderer.
Unsere Passivität bedeutet, ähnlich wie die Passivität der reichen Gläu‐
bigerstaaten, wenn auch vermöge einer anderen Zwischenursache,
keine Verschuldung, sondern im Gegenteil eine Vermögensvermehrung
unserer Monarchie, die wir der Bienenarbeit und Sparsamkeit von Hun‐
derttausenden unserer ausgewanderten Arbeiter verdanken. Wiede‐
rum ein Körnchen von Wahrheit, aber ebenso gewiß wieder nicht die
Erklärung der Hauptsache. Würden die Hereinverdienste unserer Aus‐
wanderer fehlen, so würde allerdings höchstwahrscheinlich die Passivi‐
tät unserer Handelsbilanz etwas geringer sein, als sie es tatsächlich ist.
Aber die Differenz, um die es sich bei dem Umschwung von recht an‐
sehnlicher Aktivität zu enormer Passivität handelt, ist viel zu groß, um
sich aus dieser Ursache erklären zu lassen. Wir hatten in den 25 Jahren
von 1879 bis 1903 eine durchschnittliche Aktivität von 225 Mill. K, im
Jahre 1912 eine Passivität von fast 823 Millionen; das gibt eine zu erklä‐
rende Differenz von 10481 Millionen. Nun beträgt die in diesem Erklä‐
rungsversuche in Rechnung gestellte Jahresziffer der Hereinverdienste
der Auswanderer im ganzen überhaupt nicht mehr als 460 Millionen.
(Andere schlagen die Ziffer noch viel niedriger an.) Bedenkt man über‐
dies, daß die Auswanderer doch auch ein nicht unbeträchtliches Kapital
in die Fremde hinausführen müssen, dann, daß die Auswanderung,
wenn sie auch im letzten Jahrzehnt wieder zugenommen hat, doch auch
schon vor 1903 in demselben Sinne wirksam war und daher auch da‐
mals schon jährlich gewiß einige hundert Millionen an Hereinverdienst
lieferte, so ergibt sich, daß durch die seither eingetretene Erhöhung der
Hereinverdienste auch im günstigsten Falle nur ein sehr bescheidener
Bruchteil der Differenz in der Handelsbilanz seine Erklärung finden
kann. Die Hauptsache der Änderung muß also anders erklärt werden.
Ich fürchte, daß die richtige Erklärung weit weniger
optimistisch wird ausfallen müssen. Ich glaube, wir sind in den
letzten Lustreni in unserer Handelsbilanz einfach deshalb
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 505

wieder stark passiv geworden, weil wir in denselben Lustren von neuem
begonnen haben, uns gegenüber dem Auslande stark zu verschulden.
Wir hatten vorher eine lange Reihe aktiver Handelsbilanzen gehabt,
weil es uns damals gelungen war, die Verschuldung an das Ausland zum
Stillstand zu bringen, die für alle Schulden fälligen Zinsen durch expor‐
tierte Warenströme glatt abzustatten und sogar einen erheblichen Teil
unserer alten Schuldtitel durch ebensolche ins Ausland gesendete Wa‐
renströme wieder zurückzulösen. Und wir sind nunmehr wieder passiv
geworden, weil wir abermals begonnen haben, uns beim Ausland noch
tiefer zu verschulden; und dies aus Gründen, die zwar zu einem gewis‐
sen Teile mit der so oft hiefür berufenen Industrialisierung unseres Va‐
terlandes zusammenhängen mögen, die aber, wie ich glaube, zu einem
anderen und weitaus stärkeren Teile auf allerlei andere, keineswegs
durchaus erfreuliche Erscheinungen zurückzuführen sind, die noch viel
tiefer in unserem privaten und zu mal öffentlichen Wirtschaftsleben
wurzeln.
Alles tiefere Verständnis der Erscheinungen der internationalen Han‐
delsbilanzen muß von der Tatsache ausgehen, daß Güterströme, die ein
Land dem anderen sendet, im internationalen Verkehr endgültig und
auf die Dauer wieder nur durch Güterströme ausgeglichen werden kön‐
nen und müssen – nicht durch Geld. Unter Fachleuten ist diese Tatsache
so allgemein bekannt und anerkannt, daß ich einen förmlichen Beweis
dafür, der ja auch allzu weit ausholen müßte, hier wohl nicht anzutreten
brauche; um so weniger, als ja auch die vorausgehenden Äußerungen
anderer Fachmänner von derselben unbestrittenen Tatsache ausgehen3
Ich möchte sie für weitere Kreise nur durch das drastische Exempel il‐
lustrieren, daß Englands konstant überwiegende Mehreinfuhr im Jahre
1912 fast 146 Mill. Pfund Sterling betrug. Müßte diese Differenz durch
Geld beglichen werden – sei es, daß England diese Mehreinfuhr alljähr‐
lich durch Geld bezahlte, oder sei es, daß es umgekehrt seine durch äl‐
tere Darlehen erworbenen Forderungen auf Sendungen dieses Wertes
sich nicht durch Wareneinfuhr, sondern durch effektive Geld‐

3
Besonders ausdrücklich der Artikel in der ,,Neuen Freien Presse“ vom 24. Jänner
1913.
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 506

sendungen abstatten ließe – so müßten diese Geldsendungen im Laufe


von ungefähr fünfzehn Jahren den ganzen Bargeldvorrat der Welt – der
jetzt auf ungefähr 45.000 Mill. M. geschätzt wird – absorbieren; mit an‐
deren Worten, nach Ablauf von fünfzehn Jahren müßte entweder alles
existierende Geld in England aufgespeichert und alle anderen Länder
von Geld völlig entblößt sein oder umgekehrt. Natürlich ist dies nicht
möglich, weil schon lange, ehe die Verschiebungen im Geldbesitz eine
solche Stärke erlangen können, sie auf den Wert und die Kaufkraft des
Geldes zu wirken beginnen müßten in dem Sinne, daß in den mit Geld
sich überfüllenden Volkswirtschaften die Kaufkraft des Geldes empfind‐
lich zu sinken und demgemäß alle in Geld ausgedrückten Warenpreise
verhältnismäßig zu steigen, in den vom Gelde sich entblößenden Volks‐
wirtschaften dagegen umgekehrt die Kaufkraft des spärlich geworde‐
nen Geldes zu steigen und alle Warenpreise zu sinken beginnen müß‐
ten; und dies würde wieder in bekannter, schon seit den Tagen der klas‐
sischen „Quantitätstheorie“ genau dargelegter Weise einen Impuls zu
einer überwiegenden Warenbewegung aus den Ländern mit niedrigen
Warenpreisen auf die ausländischen Märkte mit hohen Warenpreisen
geben, durch welche Warenbewegung das verlorene Geld wieder her‐
eingeholt und damit der endgültige Ausgleich vom Geld wieder auf die
Warenströme überwälzt würde. Nebenbei bemerkt, die heutzutage
vielfach bekrittelte „Quantitätstheorie“ des Geldes hat, obwohl in ihr
viel durch unvorsichtige Formulierungen gesündigt worden sein mag,
einen unverwüstlichen Kern. Daß es heutzutage zu so drastischen Geld‐
und Geldwertbewegungen nicht mehr kommt, wie sie die „Quantitäts‐
theorie“ voraussetzt, darf nicht irremachen. Diese drastischen Mittel
brauchen heutzutage meist nur deshalb nicht in Bewegung gesetzt zu
werden, weil in unserer empfindlichen und fein organisierten Geldtech‐
nik dieselben Wirkungen gewissermaßen schon durch vorausgesendete
leichte Vortruppen, nämlich durch die Bewegungen
der Devisenkurse und der Bankraten, in schwächerem, aber meist
doch schon ausreichendem Grade erzielt zu werden pflegen. Würden
diese feinen und leichten Mittel nicht wirken, so würden
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 507

unfehlbar die von der Quantitätstheorie vorausgesetzten derben Bewe‐


gungen des Geldes und Geldwertes automatisch in Vollzug gesetzt und
würden dann ebenso automatisch eine Richtung des Warenhandels, ge‐
wissermaßen eine Warenarbitrage auslösen, welche der Handelsbilanz
die notwendig gewordene Richtung aufzwingt. Nur wenn und weil
schon die schwächeren Impulse, die von den Devisenkursen und Bank‐
raten in derselben Richtung geübt werden, zur automatischen Auslö‐
sung der Warenarbitrage ausreichen, braucht nicht mehr an das im Hin‐
tergrunde stehende Machtmittel der effektiven Geldbewegungen ap‐
pelliert zu werden: die drohenden Geldbewegungen bewirken zu‐
meist schon das, was im Falle ihrer Unwirksamkeit die wirklichen
Geldbewegungen hervorrufen müßten. Dies nebenher. Für unsere
Frage fällt aus diesen Erwägungen zunächst die Einsicht ab, warum eine
mechanische Erklärung aus konkreten Details des Export‐ und Import‐
handels für Dauererscheinungen in der Handelsbilanz nicht ausreichen
kann. Mag sein, daß ein paar ungünstige Ernten eine Erhöhung des Im‐
ports an Rohprodukten und ein paar ungeschickte oder unglückliche
Maßregeln der auswärtigen Handelspolitik eine Herabminderung des
Exports in einigen wichtigen Industriezweigen bewirken, und daß dies
wirklich ganz mechanisch für eine oder zwei Saisons die Handelsbilanz
passiv macht: aber wenn die Handelsbilanz durch eine längere Reihe
von Jahren passiv bleiben soll, kann dies nur geschehen, wenn auch
noch irgendwelche Ursachen anderer, generellerer Art hinzutreten,
welche die sonst unvermeidliche Auslösung einer automatischen, die
Passivität wieder redressierenden Warenarbitrage hindern; welche hin‐
dern, daß infolge jener anfänglichen Verschiebungen in der Handelsbe‐
wegung sich auch die Devisenkurse, die Bankraten und nötigenfalls die
Kaufkraft des Geldes selbst so verschieben, daß eine die Passivität wie‐
der ausgleichende Handelsbewegung in den übrigen Warengattungen,
ein Minderimport in einigen, ein Mehrexport in anderen Produktzwei‐
gen hervorgerufen wird. Die Sache steht nicht so, daß von vornherein
feststünde, welche Mengen von jeder einzelnen Warengattung aus
Gründen der Handelskonvenienz aus dem Ausland gekauft und in das
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 508

Ausland verkauft werden müssen, und daß dieses Mosaik der Details
das Gesamtbild der Handelsbilanz festlegen würde, sondern gerade um‐
gekehrt sind es andersartige, allgemeinere, aus der sogenannten Zah‐
lungsbilanz hervorgehende Tatsachen, welche die Handelskonvenienz
für den internationalen Einkauf und Verkauf der einzelnen Warengat‐
tungen ursächlich beeinflussen und bewirken, daß die Export‐ und Im‐
portdaten der einzelnen Warengattungen sich schließlich zu denjenigen
Summen und Differenzen zusammenfügen müssen, welche die gebiete‐
rischen Daten der Zahlungsbilanzii erfordern. Die Zahlungsbilanz be‐
fiehlt, die Handelsbilanz gehorcht, nicht umgekehrt.
Güterströme müssen also immer durch Güterströme ausge‐
glichen werden. Aber diese Ausgleichung kann entweder fortlaufend,
Zug um Zug, innerhalb einer und derselben Wirtschaftsperiode erfol‐
gen, indem man innerhalb eines Jahres nicht mehr und nicht weniger
an fremden Waren kauft, als man mit dem Erlös der in demselben Jahre
an das Ausland verkauften Waren bezahlen kann: dann gibt es
glatte, annähernd im Gleichgewicht befindliche Handelsbilanzen. Oder
aber es wird der vergütende Güterstrom von einer Seite gestundet:
dann gibt es in denjenigen Jahren, in welchen die Stundung in Anspruch
genommen wird, für das empfangende Land eine passive, und in jenen
früher oder später folgenden Jahren, in welchen es die gestundeten
Güterströme oder wenigstens die dafür geschuldeten Zinsen neben
seinem laufenden internationalen Warenhandel abstattet, aktive
Handelsbilanzen. Immerfort mehr ausländische Waren kaufen, als man
mit dem Erlöse der gleichzeitig ins Ausland verkauften Waren – also mit
einem gleichwertigen Export – bezahlen kann, ist nicht möglich, außer
wenn man entweder schon im voraus bezahlt hat durch ältere in
vergangenen Jahren hinausgesendete Güterströme – der Fall Englands,
der augenscheinlich unser Fall nicht ist; oder, wenn und so lange man
für den Mehrbezug stundungsbereite ausländische Gläubiger findet –
und das scheint mir klar und bündig unser Fall zu sein. Wir hätten nicht
innerhalb der letzten sechs Jahre annähernd um 2600 Millionen
mehr Waren aus dem Ausland beziehen als an dasselbe ab‐
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 509

geben können, wenn wir nicht für diese 2600 Millionen oder wenigstens
für einen Großteil derselben stundungsbereite Gläubiger im Ausland ge‐
funden hätten. Denn der Überschuß der Hereinverdienste unserer Aus‐
wanderer zusamt der Nettobilanz unseres internationalen Reisever‐
kehrs wird, wenn nicht ganz, so doch zum bedeutendsten Teile schon
durch die Begleichung der Hinauszahlungen absorbiert, die wir aus dem
Titel der Verzinsung unserer alten Auslandsschulden jährlich an das Aus‐
land zu entrichten haben. Hätten wir neue stundungsbereite Gläubiger
nicht gefunden, dann hätten eben schon die ersten, nur schwach passi‐
ven Bilanzen so empfindlich auf unsere Geld‐ und Preisverhältnisse drü‐
cken müssen, daß in vielen Warengattungen die Ein‐ und Verkaufskon‐
venienz verschoben und auf diesem Wege das Gleichgewicht in der
Handelsbilanz wieder hergestellt worden wäre.
Und leider sind in unserer Volkswirtschaft auch sonst genug
Beobachtungen zu machen, welche noch von einer anderen Seite her es
bestätigen und plausibel machen, daß wir in diesen letzten Zeitläuften
wieder bei dem Ausland als kapitalbedürftige Kreditwerber anpochen
mußten. Wir Österreicher sind überhaupt keine sonderlich sparsame
und energisch kapitalbildende Nation; anders als etwa die Holländer,
Franzosen oder auch Norddeutschen. Wir gelten bekanntlich schon seit
den Kongreßzeiten und in den Augen unseres Grillparzers für eine
eher genußfreudige als entsagungslustige Menschenart. Unser
nationales Jahresersparnis wurde von der „Neuen Freien Presse“ in
ihrer Nummer vom 25. Mai 1913 auf etwa eine Milliarde Kronen
angeschlagen, eine keineswegs übergroße Summe. Mit dieser
Milliarde – ich weiß nicht, wie viel noch von seiten Ungarns dazu
kommen mag – sollten und müßten wir normalerweise für den
Kapitalbedarf unserer Volkswirtschaft aufkommen können; nämlich
aufkommen können für den jährlichen Kapitalzuwachs, den schon bei
gleicher Intensität der Kapitalausrüstung unser jährlicher
Bevölkerungszuwachs erfordert; dann für allgemeine Verbesserungen
unserer produktiven Kapitalausrüstung, entsprechend den allgemeinen
Fortschritten der Technik; dann speziell für die zunehmende In‐
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 510

dustrialisierung unserer Volkswirtschaft; weiter für eine gesunde Ent‐


wicklung unserer Kommunikationsanstalten, Eisenbahnen, Telephon,
Schiffahrt u. dgl.; und endlich für gewisse kapitalkonsumierende Zwi‐
schenfälle, wie militärische Rüstungsauslagen oder Dreadnoughtbau‐
teniii. Durch viele Dezennien konnten wir auch alle diese Posten aus un‐
serer jährlichen Kapitalbildung bestreiten und dabei noch manche statt‐
liche Kapitalinvestition nach der ungarischen Hälfte des Zollgebietes
entsenden und überdies, wie schon oben erwähnt, manchen Teil unse‐
rer alten Auslandschuld zurücklösen. In der jüngsten Zeit ist dies aber
anders geworden. Zum kleinsten Teile, wie ich glaube, wegen des aller‐
dings ebenfalls noch etwas verstärkten Bedarfes für unsere „Industria‐
lisierung“; zum weitaus größeren Teile aber deshalb, weil andere, kei‐
neswegs erwünschte, dafür aber um so anspruchsvollere Mitzehrer an
unseren bescheidenen Jahresersparnissen erstanden sind in fast allen
Wirtschaften unserer öffentlichen Körperschaften; voran des Staates,
dann vieler Länder und ungezählter großer und kleiner Gemeinden.
Man sagt, und es wird wohl richtig sein, daß bei uns sehr viele
Private über ihre Verhältnisse leben. Aber gewiß ist, daß seit einiger Zeit
sehr viele unserer öffentlichen Körperschaften über ihre Verhältnisse
Ieben. Einmal der Staat selbst. Es ist schwerlich ein blinder Zufall, daß
die Dezennien, in denen wir konstant aktive Handelsbilanz hatten, un‐
gefähr mit derjenigen Epoche zusammentreffen, in welcher in unserer
Staatswirtschaft eine strenge, zu ihrer Zeit natürlich viel gescholtene
Sparsamkeit waltete; Sparsamkeit ist ja nie populär.
Die Wendung in unserer Handelsbilanz trifft aber – es kommt hier nicht
auf eine bestimmte Jahreszahl an – beiläufig mit einer Wendung im
Geiste zusammen, in dem unsere Staatswirtschaft geführt wird.
Wir sind unstreitig large und locker in unserer Ausgabewirtschaft ge‐
worden. Den berühmten großen Überschuß zu ertragen, der vor
etlichen Jahren ein so freudiges Aufsehen machte, dazu hatten
wir allesamt, Regierung, Parlament und Bevölkerung, nicht die nötige
moralische Kraft. Wir glitten auf Rechnung der Überschüsse in ein
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 511

leichtherziges, williges Ausgeben hinein und wir glitten darin auch dann
noch weiter, als wir keine Überschüsse mehr hatten. Statt in den fetten
Jahren einer ungetrübten Aufschwungsperiode direkt und indirekt Re‐
serven zu sammeln für die nie ausbleibenden Anforderungen einer we‐
niger günstigen Zukunft, setzten wir mitten im Glück schon alles bis auf
den letzten Rest zu, alles, was sich aus der Anspannung der Steuerkraft
und aus dem Emporpräliminiereniv der Einnahmsquellen bis an die
obere Grenze der Wahrscheinlichkeit nur noch zusammenraffen ließ.
Und der erste ungünstige Zwischenfall mußte dann, da ihm mit den bis
zur äußersten Elastizitätsgrenze angespannten laufenden Mitteln nicht
begegnet werden konnte, sofort am Volkskapital, am Volksvermögen
zehren. Während Italien seinen großen erythräischen Kriegv aus laufen‐
den Überschüssen bezahlen konnte, versenkten uns minder weitrei‐
chende, unblutige, nur durch Vorsicht diktierte militärische Vorkehrun‐
gen sofort in eine tiefe, neue Schuldenlast.
Warum das so kam? Darüber ließe sich ein ganzes Buch
schreiben, das die innere Geschichte des letzten Dezenniums und zumal
die innere poIitische Geschichte desselben zum Gegenstand haben
müßte; denn die Finanzen waren bei uns der Prügelknabe der Politik. In
zahllosen Spielarten haben wir das vergebliche Vexierspiel gesehen,
politische Zufriedenheit durch materielle Konzessionen erzeugen zu
wollen. Waren ehedem die Parlamente die Wächter der Sparsamkeit
gewesen, so sind sie heute weit eher ihre geschwornen Feinde
geworden. Heutzutage pflegen die politischen und nationalen Parteien
– vielleicht nicht nur bei uns, aber jedenfalls ganz vorzugsweise auch
bei uns – eine förmlich für pflichtmäßig gehaltene Begehrlichkeit nach
allerlei Vorteilen für ihre Konnationalen oder Wählerkreise auf Kosten
der Öffentlichkeit zu entwickeln, und wenn die politische Situation
entsprechend günstig, das will sagen, wenn sie für die Regierung
entsprechend ungünstig ist, erhält man auch durch politischen Druck
das Gewünschte. Da aber zwischen den einzelnen Parteien sorgsam
rechnende Rivalität und Eifersucht besteht, muß oft genug das einer
Partei Konzedierte sofort kompensationsweise auch nach
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 512

anderen Seiten ausgeteilt werden: aus einer einzelnen kostspieligen


Konzession wird sofort ein ganzes Bündel kostspieliger Konzessionen.
Wenn es gut geht, mit dem Erfolg einer politischen Eintagszufrieden‐
heit. Am nächsten Tage geht aber das Wünschen und Fordern wieder
weiter, als ob das gestern Gewährte im Schwimmsand versunken wäre.
Das Erlangen reizt nur ein weiteres Wünschen. Es gibt keinen Dank und
keine Saturierung.
Aber von der leidigen Politik will ich so wenig als möglich reden.
Leider hat sie bei ihren Attacken auf die Finanzen stets auch gewisse
unpolitische Bundesgenossen im Publikum, die, wenn und wo ja einmal
die Regierung dem Drängen der Politiker standhalten will, sich ebenfalls
gegen sie und gegen die Finanzen wenden. Diese Bundesgenossen sind
das gute, leichte Herz unserer Bevölkerung und dann ein Zug, den ich
vielleicht am besten als ökonomische Großmannssucht bezeichnen
könnte. Das gute, leichte Herz steht, was zunächst ganz löblich ist, stets
auf der Seite derer, welche den Leuten, und zumal den kleinen Leuten,
etwas zukommen lassen wollen; aber, und das ist bedenklicher, es
pflegt blindlings auf dieser Seite zu stehen, ohne die Grenzen der inne‐
ren Berechtigung und der äußeren Möglichkeit kritisch zu untersuchen;
wozu dann wohl noch kommt, daß die große Binsenwahrheit jeder öf‐
fentlichen Wirtschaft, daß aus der großen Regimentstasche nichts her‐
ausgenommen werden kann, was nicht vom Volke auf der anderen Seite
in sie hineingelegt wird, weiten Kreisen unserer Bevölkerung noch im‐
mer nicht in Fleisch und Blut übergegangen zu sein scheint. Man sieht
den „Fiskus“ noch immer so gern als etwas Fremdes oder gar Feindli‐
ches an.
Und dann ist das, was ich die ökonomische Großmannssucht in
unserer Bevölkerung genannt habe. Es ist wiederum ganz schön und
löblich, wenn wir fleißig unsere Augen nach allen Richtungen auftun und
zumal zu lernen suchen, was man etwa im Ausland besser,
zweckmäßiger und vollkommener macht als bei uns. Aber man
übersieht dabei leicht und gerne eines: jene Auslandstaaten, in denen
viele Dinge besser eingerichtet sind als bei uns, sind meist nicht
nur die vorgeschritteneren, sondern auch die reicheren. Es macht
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 513

aber einen großen Unterschied, ob unser Nachbar deshalb etwas besser


hat, weil er es geschickter macht als wir – das können und sollen wir
ihm selbstverständlich sofort abzulernen und nachzumachen suchen –
oder ob er es deshalb besser hat und haben kann, weil er zugleich der
Reichere ist. Das übersehen die vielen Leute, die bei uns immer sofort
mit dem Schlagwort der „Rückständigkeit“ bei der Hand sind – ich bin
überzeugt, ich selbst werde wegen dieser Äußerung ebenfalls sofort als
„Rückständiger“ verschrien werden – wenn wir irgendwo in einem
Belange um eine Linie hinter unseren reicheren Nachbarn
zurückbleiben; wenn unser Eisenbahnnetz weniger dicht, unser Zugs‐
verkehr weniger frequent, unsere Straßen weniger gut, unser Telephon‐
wesen weniger entwickelt ist, wenn für diese oder jene Sache in einem
Auslandsbudget eine höhere Post ausgeworfen ist als bei uns, oder
wenn gar diese oder jene wünschenswerte Einrichtung bei uns noch
ganz fehlt usw. Wenn wir uns aber auf öffentliche Kosten reicher gebär‐
den als wir sind, so ist das eine geradeso falsche, unökonomische und
auch schädliche Pseudonoblesse, als wenn wir es in unseren Privathaus‐
halten tun. Und das gilt auch von Investitionen aus öffentlichen Mitteln.
Man täuscht sich zwar gerade bei diesen gern mit dem ebenso populä‐
ren als gefährlichen Schlagwort von der „indirekten Produktivität“ der
öffentlichen Ausgaben, vermöge deren auch an sich unrentable, passive
Staatsbetriebe der Volkswirtschaft durch indirekte Vorteile immer noch
mehr nützen sollen, als was die öffentlichen Kosten an dem passiven
Betrieb daraufzahlen. Das kann sein, aber das muß durchaus nicht
notwendig und immer so sein. Es kann unter Umständen auch
gerade verkehrt liegen. Am Zustandekommen einer privaten
Maschinenfabrik, die unsere Landwirtschaft oder unsere Industrie
mit vervollkommneten Produktionsinstrumenten ausstattet, kann z. B.
eine viel größere indirekte Produktivität hängen, als an irgendeiner
nicht recht lebensfähigen, im Verhältnis zu ihrem spärlichen
Verkehrsnutzen viel zu teuren Lokalbahn. Und was die blinden
Lobredner einer leichtherzigen Investitionspolitik – daß es daneben
auch durchaus notwendige und absolut nicht zu unterlassende Investi‐
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 514

tionen gibt, soll natürlich nicht im mindesten in Abrede gestellt werden


– nicht im voraus sehen, das müssen sie dann zuzeiten nachträglich
fühIen, wenn, wie in unseren Tagen, unsere schwache Kapitalkraft
durch die vieljährige übermäßige Inanspruchnahme unserer öffentli‐
chen Haushalte ausgepumpt und für die nützlichsten und lebenswich‐
tigsten privaten Unternehmungen an allen Ecken und Enden nicht ge‐
nug Kapital mehr übrig ist, wenn vieles ins Stocken gerät, vieles ganz
unterbleiben muß und alles durch den Druck des überteuerten Zinsfu‐
ßes empfindlich leidet. Müßte man jener viel gepriesenen indirekten
Produktivität nicht auch diese indirekte Produktionshinderung gegen‐
überstellen?
Und wie der Staat, so die Länder und so die Gemeinden. Ich kann
und will hier keine genaue Einzelstatistik treiben. Wir wissen genugsam
aus allerlei fatalen Ziffern, die bald hier und bald da ans Licht der
Öffentlichkeit dringen, wie sehr sich viele unserer Länder und zahllose
unserer Gemeinden finanziell übernommen haben. Aus ähnlichen
Ursachen und mit ähnlichen Wirkungen wie in der Wirtschaft des
Staates. Zum guten Teile auch unmittelbar wegen des vom Staate gege‐
benen Beispiels. Large Bezugsaufbesserungen z. B., die der Staat seinen
Bediensteten gewährte, mußten von den autonomen Körperschaften
aus naheliegenden Gründen alsbald nachgeahmt werden; die
Lokalbahnpolitik des Staates drängt Länder und Gemeinden ebenfalls
zu Beitragsleistungen und vice versa; und vieles, vieles andere derart.
Die Folge von alledem sind aber die laufenden Defizite, die trotz hoher
und höchster Umlageprozente in vielen unserer Länder nicht
schwinden, ja nicht einmal am weiteren Wachsen sich hindern lassen
wollen, und ein riesiges Anwachsen der Investitionsschulden der
Mehrzahl unserer großen und selbst vieler unserer kleinen Gemeinden.
Und alles das zehrt zusamt dem Jahr für Jahr wiederkehrenden
Kapitalbedarf unserer Staatswirtschaft an unserer leider allzu knappen
Kapitalkraft. Sie kann nach dieser gewaltigen, von unseren öffentlichen
Faktoren erzwungenen Anzapfung der Volkswirtschaft nicht mehr
genug geben für das, was diese braucht zur zeitgemäßen
Kapitalausrüstung für unsere wachsende und sich entwickelnde
Eugen von Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) 515

Bevölkerung, für unsere und Ungarns zunehmende Industrialisierung.


Und daher die Notwendigkeit, von neuem ausländisches Kapital herein‐
zurufen, und daher die neuerdings hereingebrochene Passivität unserer
Handelsbilanz.
Ich weiß ganz wohl, daß die offizielle Statistik unserer ausländi‐
schen Verschuldung bis jetzt keine so große Zunahmsziffer für die kriti‐
sche Periode auszuweisen vermag, als sie dem von mir vorgetragenen
Gedankengang entsprechen würde. Dies kann mich aber in meiner Mei‐
nung nicht irremachen. Denn ich weiß ebensogut, daß gerade dieser
Zweig der Statistik mit sehr unsicheren, weder Lückenlosigkeit verbür‐
genden, noch gegen starke Fehlerquellen gesicherten Indizien und Me‐
thoden arbeiten muß. Auch dürfte ein nicht ganz unbeträchtlicher Teil
des an der Passivität der Handelsbilanz beteiligten Kapitalimports in ei‐
ner Form sich vollzogen haben, die den Maschen der Verschuldungssta‐
tistik entschlüpft: nämlich in der Form privater Industriegründungen
von Ausländern im lnland.
Jedenfalls möchte ich aber neben den optimistischen Versionen
der Erklärung unserer passiven Handelsbilanz auch diesen meinen we‐
niger rosigen Erklärungsversuch zur Prüfung und Diskussion stellen: ich
fürchte, daß er in den Tatsachen eine stärkere Stütze findet, als mir
selbst lieb sein kann. Und wenn ich, ein von anderer Seite gegebenes
Beispiel nachahmend, auch meinerseits eine Prophezeiung ausspre‐
chen soll, so möchte ich sie in folgende Worte kleiden: Mögen bei uns
Bevölkerung, Parlamente und Regierungen dafür sorgen, daß unsere lo‐
cker gewordenen öffentlichen Haushalte sich wieder konsolidieren,
dann braucht uns nicht darum bange zu werden, daß auch die Passivität
unserer Handelsbilanz wieder schwinden wird!
Böhm‐Bawerk: Unsere passive Handelsbilanz (1914) Endnoten des Herausgebers

Endnoten des Herausgebers


Der Text entspricht mit seiner Paginierung, nicht aber dem Zeilenum‐
bruch, dem „IV. Hauptabschnitt. Unsere passive Handelsbilanz“ aus Eu‐
gen von Böhm‐Bawerk: Gesammelte Schriften, 1924. Rechtschreibung
und Zeichensetzung wurden nicht verändert.
i
Lustren: Plural von Lustrum, Zeitraum von fünf Jahren
ii
Zahlungsbilanz: Der vom Autor verwendete Begriff ist nicht identisch
mit der heutigen Verwendung des Wortes „Zahlungsbilanz“. Er ent‐
spricht dem, was heute Kapitalbilanz genannt wird.
iii
Dreadnought: bezeichnete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
einen neuen Typ von Kriegsschiff, der ab 1906 die bis dahin vorherr‐
schenden Linienschiffe in jeder Hinsicht übertraf. (aus: Wikipedia)
iv
Emporpräliminieren: optimistische Schätzung der Steuereinnahmen
v
erythräischer Krieg: Der Erythräisch‐Abessinische Krieg 1895/96 Itali‐
ens. Vgl. Harald Potempa: Die Perzeption des Kleinen Krieges im Spie‐
gel der deutschen Militärpublizistik (1871 bis 1945), am Beispiel des
Militär‐Wochenblattes, 2008, http://www.mgfa.de/html/einsatzunter‐
stuetzung/downloads/doeperzeption.pdf

Das könnte Ihnen auch gefallen