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T. Vykypělová: Grundlagen der Slawistik, WS 2019 Kap.

3 B – Die slawischen Sprachen

3 B) Die Klassifikation der Sprachen und die slawischen Sprachen

Die slawischen Sprachen


Als mögliche Kriterien für die Klassifikation der slawischen Sprachen bieten sich jene an, die
oben im allgemeinen Teil erwähnt worden sind: genetische Verwandtschaft, geographische
Ausbreitung, Angehörigkeit zu verschiedenen Arealen, und ferner politischer Status, Bildung
des eigenen Staatsgebildes, Anzahl der Sprecher, Schrift, Religion, sprachtypologische Merk-
male usw.

Politischer Status und Anzahl der Sprecher (Weltsprache oder überregionale Verkehrspra-
che vs. Mikrosprache bzw. Mikrostandardsprachen):
Z. B. Russisch gilt als Weltsprache bzw. überregionale Verkehrsprache bei den Völkern
der ehemaligen Sowjetunion, während es slawische Mikrosprachen oder Mikrostandardspra-
chen gibt, deren Gebrauch stark beschränkt ist wie Russinisch, Westpolesisch, Obersorbisch,
Niedersorbisch, Kaschubisch, Burgenlandkroatisch, Banater Bulgarisch, Moliseslawisch, Re-
sianisch.
Die meisten slawischen Sprachen sind Staatssprachen mit größerer oder geringerer Anzahl
von Sprechern, deren Gebrauch jedoch im Grunde auf das Gebiet des jeweiligen Staates be-
schränkt ist (Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Bulgarisch, Ma-
kedonisch, Serbisch, Kroatisch, Slowenisch).

Schrift, Religion (Slavia Latina vs. Slavia orthodoxa bzw. Cyrillica):


Slavia Latina (lateinische Schrift): westslawische Sprachen (Tschechisch, Slowakisch,
Polnisch, Kaschubisch, Ober- und Niedersorbisch) und ein Teil der südslawischen Sprachen
(Slowenisch, Kroatisch bzw. Bosnisch)
Slavia orthodoxa (kyrillische Schrift): ostslawische Sprachen (Russisch, Weißrussisch, Uk-
rainisch) und ein Teil der südslawischen Sprachen (Bulgarisch, Makedonisch, Serbisch)

Typologische Merkmale
Z. B. klassifizierte A. Isačenko (Versuch einer Typologie der slavischen Sprachen, Lingu-
istica Slovaca 1/2, 1939–40, 21–33) die slawischen Sprachen nach ihrem phonologischen
System in vokalische Sprachen, konsonantische Sprachen und gemischte Sprachen.
Generell wird es auf die typologische Sonderstellung des Bulgarischen und Makedoni-
schen verwiesen, die Merkmale des isolierenden Typs aufweisen (Fehlen der Deklination,
analytische Komparation der Adjektive, Artikel).

Angehörigkeit zu Arealen bzw. Sprachbünden


Die Areale (bzw. Sprachbünde), zu denen die slawischen Sprachen gehören bzw. in die sie
eingegliedert werden können, wurden bereits oben erwähnt: Balkansprachbund, mitteleuropä-
ischer Sprachbund, Sprachbund im Baltikum, SAE-Bund.

Die geläufigste Klassifikation der slawischen Sprachen kombiniert das Kriterium der gene-
tischen Verwandtschaft mit der geographischen Ausbreitung und unterscheidet drei Gruppen:
die östliche, die westliche und die südliche:

1) Ostslawische Sprachen
Russisch (früher auch Großrussisch), Ukrainisch (früher auch Kleinrussisch), Weißrussisch
(auch Belorussisch) und die Mikrosprachen: Russinisch (Russinisch in der Vojvodina,
Karpato-Russinisch), Westpolesisch

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2) Westslawische Sprachen
tschechoslowakischer Zweig: Tschechisch, Slowakisch;
sorbischer Zweig: Obersorbisch und Niedersorbisch;
lechitischer (lechischer) Zweig (auch polnisch-kaschubischer Zweig genannt): Polnisch, Ka-
schubisch und heute schon ausgestorbenes Ostseeslawisch (Pomoranisch, Slowinzisch)
und Elbslawisch (Polabisch, ausgestorben in der 1. Hälfte des 18. Jh.).

3) Südslawische Sprachen
östlicher Zweig: Altkirchenslawisch, Bulgarisch, Makedonisch und die Mikrosprache Ba-
nater Bulgarisch (in Rumänien);
westlicher Zweig: Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Montenegrinisch, Slowenisch und die
Mikrosprachen Moliseslawisch (auch Molisekroatisch; Kroatisch in Italien bzw. in Aus-
wanderungsländern), Burgenlandkroatisch, Resianisch (Slowenisch in Italien).

Die angeführte trichotomische Klassifikation, die auf die Klassifikation von A. Ch.
Vostokov (1820 in Rassuždenie o slavjanskom jazyke, vgl. Filologičeskie nabljudenija A. Ch.
Vostokova, St. Petersburg 1865, S. 1–27) und Jacob Grimm (1823 in seiner Besprechung
von Dobrovskýs Grammatik des Kirchenslawischen, vgl. Grimm, J.: Kleinere Schriften. IV.
Berlin 1869, S. 186–196) zurückgeht, hat sich in der Slawistik seit Vatroslav Jagić (Istorija
slavjanskoj filologii, St. Petersburg 1910) eingebürgert und das ältere dichotomische Modell
(zum ersten Mal von Dobrovský vorgeschlagen und von Schleicher übernommen und ausge-
arbeitet) verdrängt.
Josef Dobrovský (Ausführliches Lehrgebäude der Böhmischen Sprache, Prag 1809 und
Lehrgebäude der Böhmischen Sprache, Prag 1819) unterschied nur zwei Gruppen, und zwar
im letztgenannten Werk aufgrund von neun folgenden sprachlichen Isoglossen: Präfix raz- vs.
roz-; Präfix iz- vs. vy-; ľ epentheticum vs. weiche Labiale ohne ľ epentheticum; Vereinfa-
chung der Verbindung dl, tl vs. Erhalt dl, tl; Wechsellaute für das ursl. *kt > č vs. *kt > c; die
2. Palatalisierung in der Gruppe gv > zv vs. Ausbleiben der Palatalisierung und Bewahrung
von gv; Demonstrativum t, toj vs. ten; Gen. Sg. Adj. -ago vs. -ego/-eho und Dat. Sg. -omu vs.
-emu; lexikalische Isoglosse ptica vs. ptak). Zur ersten Gruppe zählt Dobrovský das Russi-
sche, das „Altslavonische“, das Serbische (Illyrische), das Kroatische und das „Windische (in
Krain, Steyermark, Kärnten)“, d. h. die ost- und südslawischen Sprachen; die zweite Grup-
pe bilden bei Dobrovský die westslawischen Sprachen: das „Slowakische“, das „Böhmi-
sche“, das „Wendische in der Oberlausitz“, das „Wendische in der Niederlausitz“ und das
Polnische „mit der schlesischen Varietät“. Ähnlich, nur weiter gegliedert, klassifizierte die
slawischen Sprachen auch August Schleicher (Die Sprachen Europas in systematischer Dar-
stellung, Bonn 1850): Er unterschied zwischen der westlichen Gruppe (lechische Untergrup-
pe – Polnisch und Kaschubisch; tschechische Untergruppe – Tschechisch, Slowakisch; lausit-
zische Untergruppe – Obersorbisch, Niedersorbisch; Polabisch) und der südöstlichen Gruppe
(„russische Sprachen“ – Großrussisch, Weißrussisch, Kleinrussisch; Bulgarisch; „illyrische“
Sprachen – Serbisch, Kroatisch, Slowenisch).
Daneben gibt es auch noch mehr gegliederte Modelle, wie z. B. die Tetrachotomie von
August Leskien (Die Declination im Slawisch-Litauischen und Germanischen, Leipzig
1876), die vier Zweige unterscheidet: bulgarisch-makedonischen, serbokroatisch-sloweni-
schen, westslawischen und ostslawischen Zweig. Zur Tetrachotomie ist von seinem ur-
sprünglich dichotomischen Modell auch František Václav Mareš angelangt. Zuerst hat Ma-
reš auf Grund der historischen Lautlehre ein dichotomisches Modell vorgeschlagen, in dem er
den nördlichen und den südlichen Zweig unterschieden hat (nordslawische Sprachen: Rus-
sisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Polnisch, Kaschubisch, Polabisch, Obersorbisch, Niedersor-

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bisch, Tschechisch, Slowakisch; südslawische Sprachen: Slowenisch, Serbokroatisch, Make-


donisch, Bulgarisch). Später (F. V. Mareš: Die Tetrachotomie und doppelte Dichotomie der
slavischen Sprachen. Wiener Slavistisches Jahrbuch 26, 1980, 33–45) hat er noch eine zusätz-
liche Gliederung eingebaut, und sein Modell verwendet somit eine doppelte Dichotomie auf
zwei Achsen (Norden–Süden, Westen–Osten), wodurch in Ergebnis die Tetrachotomie ent-
steht:
südslawische Sprachen: a) südöstliche Untergruppe (Bulgarisch, Makedonisch), b) süd-
westliche Untergruppe (Serbokroatisch, Slowenisch);
nordslawische Sprachen: c) nordwestliche Untergruppe (Tschechisch, Slowakisch, Sor-
bisch, Polnisch, Kaschubisch); d) nordöstliche Untergruppe (Russisch, Weißrussisch,
Ukrainisch).
Das Modell von Mareš berücksichtigt nicht nur die historische Entwicklung der Lautlehre
und Morphologie, sondern zugleich auch den synchron-typologischen Zustand der slawischen
Sprachen. Die Untergruppen lassen sich folgendermaßen charakterisieren:
ad a) Analytische Deklination, Absenz der Kategorie der Belebtheit, Existenz der Katego-
rie der Bestimmtheit, reiches Verbalsystem, analytisches Futur gebildet mit einem auf das
jeweilige Verb für „wollen“ zurückgehenden Formativ;
ad b) freier musikalischer Akzent, Vokalquantität, Kategorie der Belebtheit (obwohl nur
begrenzt – im Singular Maskulinum), zusammengesetzte Flexion der Adjektive, 1. Person
Singular bei Verben lautet in -m aus;
ad c) fester Akzent, ausgebaute Kategorie der Belebtheit (nur im Maskulinum), ausgebaute
weiche und harte Deklination;
ad d) ausgebaute konsonantische Mouillierungskorrelation, Existenz der langen Konso-
nanten (Geminaten; z. B. im Russischen šš, žž), ausgebaute Kategorie der Belebtheit (im Ak-
kusativ Plural aller Genera), Absenz der enklitischen Formen der Personalpronomina, Absenz
der Personalendung -m in der 1. Person Singular der thematischen Verben, Absenz des Hilfs-
verbs im Aktiv.

Literatur
Zum politischen und faktischen Status der slawischen Sprachen:
Jazykové právo a slovanské jazyky. Hrsg. von H. Gladkova und K. Vačkova. Praha 2013.
Marti, R.: Rechtlicher und faktischer Status slavischer Standardsprachen und Sprachenkon-
flikte. In: Die slavischen Sprachen. Ein internationales Handbuch zu ihrer Struktur, ihrer
Geschichte und ihrer Erforschung. Bd. 2. Hrsg. von K. Gutschmidt et al. Berlin etc. 2014,
1972–1985.
Zu Slavia Orthodoxa und Latina:
Trunte, N. H.: Slavia Latina. Eine Einführung in die Geschichte der slavischen Sprachen und
Kulturen Ostmitteleuropas. München – Berlin 2012.
Zur Typologie der slawischen Sprachen:
Andersen, H.: Vocalic and consonantal languages. In: Studia linguistica Alexandro Vasilii
filio Issatschenko a collegis amicisque oblata. Hrsg. von H. Birnbaum et al. Lisse 1978, 1–
12.
Kempgen, S.: Isačenkos Typologie der slavischen Sprachen aus heutiger Sicht. In: Slavisti-
sche Linguistik 1990. Hrsg. von K. Hartenstein und H. Jachnow. München 1991, 146–163.
Weiss, D.: Zur typologischen Stellung des Polnischen (ein Vergleich mit dem Čechischen und
Russischen). In: Schweizerische Beiträge zum IX. Internationalen Slavistenkongress in
Kiev, September 1983. Hrsg. von P. Brang et al. Bern 1983, 219–245.

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T. Vykypělová: Grundlagen der Slawistik, WS 2019 Kap. 3 B – Die slawischen Sprachen

Gvozdanović, J.: Synthetismus und Analytismus im Slavischen. In: Die slavischen Sprachen.
Ein internationales Handbuch zu ihrer Struktur, ihrer Geschichte und ihrer Erforschung.
Bd. 1. Hrsg. S. Kempgen et al. Berlin – New York 2009, 129–142.
Zur Angehörigkeit der slawischen Sprachen zu Arealen:
Giger, M.: 55 let po Garvinovi: Čeština a standardní průměrná evropština. In: Čeština – uni-
verzália a specifika 5. Hrsg. von Z. Hladká und P. Karlík. Praha 2004, 58–66 [zugänglich
unter http://www.academia.edu/6178655/%C4%8C_E_%C5%A0_T_I_N_A_a_SAE].
Heine, B. – Kuteva, T.: Changing Languages of Europe. Oxford 2006.
Zur Klassifikation der slawischen Sprachen:
Novotná, P. – Blažek, V.: Klasifikace slovanských jazyků: evoluce vývojových modelů. In:
Studia etymologica Brunensia 3. Hrsg. von I. Janyšková und H. Karlíková. Praha 2006,
285–306. [eine frühere Version zugänglich unter
http://www.phil.muni.cz/linguistica/art/novbla/nob-001.pdf] [enthält Verweise auf weitere
Literatur]

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