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Sprachgeschichte Vorlesung-Mitschrift Einheit 1

1. Einleitung
Ein Grund dafür, warum man sich nun wieder intensiver der Sprachgeschichte widmet, ist,
dass man viele ältere Texte nicht versteht.

Bsp. Aus dem Nekrolog auf Johan Sebastian Bach: „Sein von Natur aus etwas blödes
Gesicht“
andere Bedeutungen als in der Gegenwart: „Gesicht“ = Abstraktum, bedeutet „das Sehen“,
„die Art zu schauen“ & „blöd“ = im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, ganz allgemein,
„(körperlich und geistig) schwach“ – also „blöder Arm“ = schwacher Arm“ oder „blödsinnig“ =
schwachsinnig. → Bach hatte also ein schwaches Sehen und aus heutiger Sicht würde man
sagen „Bach war kurzsichtig“. Und wenn man sich im Kontext des ganzen Satzes (F. 3)
anschaut, sieht man, dass dieser Ausdruck sich auf die Augenkrankheit bezieht.

Ein anderer Grund ist, dass die gegenwärtige Sprache, vor allem die Grammatik, in vielen
Fällen nur mit der Sprachgeschichte erklärt werden kann. Beispielsweise die starken und
schwachen Verben oder sprachliche Zweifelfälle, die auf die Sprachgeschichte
zurückgehen (Bsp. winkte/gewunken? oder „er sah den Bär bzw. den Bären?)

1. Was ist „die deutsche Sprache“?

Die deutsche Sprache ist genauso wenig homogen, wie alle anderen natürlichen Sprachen;
d.h. das Individuum ändert sich in seiner Sprache (zum Teil bewusst) und war nach
folgenden Kriterien:

- diatopisch = Ort; Sprache ist nach räumlich begrenzten Einheiten, wie Dialekte oder
Regiolekte u.Ä., different
- diastratisch = innerhalb der Gesellschaft zeigen unterschiedliche
Gesellschaftsschichten (Ober-, Mittel- und Unterschicht) verschiedenes
Sprachverhalten – also die gesellschaftliche Herkunft des Individuums ist auch
ausschlaggebend
- diaphasisch = in verschiedenen Situationen, Kontexten, Gelegenheiten wird ein
anderes Register verwendet: Familie/Freunde vs. Öffentlichkeit
- diachronisch = nicht nur die Sprache selbst verändert sich (im Sinne einer
historischen Sprachwissenschaft), sondern auch die Individuen in ihrem
Sprachverhalten ändern sich von der Jugend bis ins Alter: man kann Jugend- und
Alterssprachen nicht nur als Funktiolekte unterscheiden, sondern man ändert sich
auch selbst; am besten erkennt man das am Wortschatz – er ist ein Bereich, in dem
sich Änderungen sehr deutlich zeigen: früher wurden bestimmte Wörter verwendet,
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die heutzutage nicht mehr üblich sind und im Laufe der Zeit eignet man sich neue
Wörter, sprachliche Strukturen und Gewohnheiten an bzw. übernimmt diese
- diamesisch bzw. diamedial bezeichnet
das schriftliche/mündliche Verhalten
bzw. Ausdruck

1.1. Diatopisch

Schematische Darstellung (Karte F. 6) des


geschlossenen deutschen Sprachraums:
Deutschland, Österreich, Lichtenstein, Schweiz =
nationale Amtssprache bzw. nationale Varietäten,
heutzutage spricht man eher von „Arealen“.
Wichtig in diesem Bereich ist, dass die Sprache
kodiert ist, d.h. es gibt Wörterbücher für die
jeweilige Varietät.
Im Gegensatz dazu sind die regionalen Amtssprachen (Südtirol, Ostbelgien) nicht kodifiziert,
es gibt also (noch nicht) eigene Wörterbücher.

Man kann beobachten, dass im Laufe der Sprachgeschichte, von den Anfängen bis heute,
es eine Richtung gibt, die sich auf ein Ziel hin bewegt; nämlich der Schaffung einer den
ganzen deutschen Sprachraum überdachenden Sprachform. Bis in die 1970er Jahre hat
man geglaubt, dass es solch eine einheitliche Form gibt, die man als Standardsprache
(landläufig auch „Hochsprache“) bezeichnet (hat). Es war also das Ziel, diese Sprachform zu
lernen und in den Schulen zu lehren usw. – heute weiß man, dass so eine
„Einheitssprache“ nicht gibt, was man auch daran merkt, dass es keine entsprechende
Kodifizierung gibt. D.h. die Dudengrammatik ist nur ein Vorschlag neben vielen = die
deutsche Sprache ist nicht normiert (außer in der Rechtschreibung – und da auch nur im
amtlichen Bereich, im Privaten darf man nach wie vor schreiben wie man möchte). Die
Grammatik ist also nicht kodifiziert, dass der Duden als Standardgrammatik verwendet wird,
beruht auf einem stillschweigenden Abkommen – es muss nicht so sein. Außerdem ist der
Duden keine Anleitung für eine Standardsprache: es kommen immer wieder auch andere,
neue Möglichkeiten zur Sprache, es wird auf regionale Varianten hingewiesen, auch auf
veraltete Strukturen, es gibt ein eigenes Kapitel über die gesprochene Sprache

→ also dieser Traum von einer Einheitssprache ist heute ausgeträumt und man weiß heute,
dass es mehrere Standardsprachen im Deutschen gibt – eine genaue Zahl kann man nicht
nennen, denn das hängt von der jeweiligen Interpretation ab, aber Ulrich Ammon (u.a.) geht
in seinem Variantenwörterbuch von 11 Standardsprachen aus. (Karte F. 7)
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Deutschland ist in sechs gleichwertige


Standardsprachen aufgeteilt (Nordwest und
-ost, Mittelwest und -ost, Südwest und -ost)
und Österreich in vier (Ost, Mitte, Südost
und West) – wobei sich diese sprachlichen
Einteilungen nicht mit den Bundesländern
decken, und noch die deutschsprachige
Schweiz als eigene Standardsprache.
Zusätzlich gibt es auch Tendenzen, vor
allem in Österreich, noch eine zwölfte
dazuzuzählen, nämlich Vorarlberg mit
Alemannisch und das Übergangsgebiet.

Standardsprache bedeutet, dass sie im


öffentlichen Bereich verwendet wird und hier gibt es eben Sprachformen, die bestimmte
Merkmale aufweisen, z.B. Ostösterreich vs. Westösterreich, und trotzdem der
Standardsprache angehören.

Einteilung des deutschen Sprachraums um 1900 auf Grundlage des sogenannten Wenker-
Atlasses – der deutsche Sprachraum in seiner größten Ausdehnung. Nach dem 2.
Weltkrieg durch Gebietsveränderungen und der Vertreibung der deutschsprachigen
Bevölkerung hat sich das dann in vielen Bereich geändert – insofern ist diese Karte eine
historische Karte, aber sie zeigt
sehr deutlich die größte
Ausdehnung in einer dialektalen
Eingliederung, in denen sich
die 11 Standardsprachen
widerspiegeln.

Der Sprachraum ist gegliedert


durch verschiedene Isoglossen,
also sogenannte Linien, die
grammatische Formen
voneinander trennen. Die
wichtigste ist die Benrather
Linie, die nördlich von Köln,
südlich von Magdeburg entlangläuft und südlich von Berlin weiterläuft bis etwa nach
Frankfurt. Diese Benrather Linie, oder auch maken-machen Linie, trennt das Niederdeutsche
(Norden) vom Hochdeutschen (Süden). Wobei das Hochdeutsche wieder unterteilt in Ober-
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und Mitteldeutsch wird; die Grenze ist die sogenannte Appel-Apfel Linie, die südlich von
Saarbrücken beginnt, steil nach Nordosten verläuft und südwestlich von Erfurt dann nach
Osten abdriftet. Nördlich dieser Linie sind die west- und mitteldeutschen Gebiete und südlich
davon die oberdeutschen Dialekte.

1.2. Diastratisch

Hier gibt es verschiedene Modelle – der deutsche Sprachraum verhält sich nicht gleich.
Ein Modell, das im Oberdeutschen gilt und als Standarddialektkontinuum bezeichnet wird:
Die in der Öffentlichkeit am meisten
gebrauchte Varietät ist die
Standardvarietät. Endoglossisch bedeutet,
dass es sich um einheimische Varietäten
handelt. An der Basis befinden sich die
verschiedenen Grunddialekte, d.h. die
kleinräumigsten Dialektformen, die oft nur in
einem Ort, maximal drei, gelten. Und
zwischen diesen beiden Extremen befindet
sich ein Kontinuum, dessen Grenzen nicht
genau bestimmbar sind. Früher wurden sie Verkehrsdialekt und Umgangssprache genannt,
heute werden diese Bereiche als Regiolekte und Regionalstandards bezeichnet.
Regionalstandard wäre eine Standardform, der eine regionale Herkunft erkennbar ist; also,
wenn man z.B. einem Sprecher, der standardsprachlich sprechen möchte, noch anmerkt,
dass er aus Ostösterreich/Kärnten kommt u.Ä. Es gibt Gebiete im Deutschen, wo das nicht
gilt, das ist die sogenannte Diglossie-Situation: also Regionen, vor allem die Schweiz und
das Mitteldeutsche, in denen den Sprechern zwischen zwei Sprachformen hin und her
switchen können; also Deutsch im familiär-privaten und Deutsch im öffentlich-amtlichen
Bereich.

Zum Verhältnis Standard – Dialekt kann man viel sagen, hier nur ein Hinweis darauf, dass
es zwei Schemata gibt. Das erste Schema unterscheidet zwischen Standard und
Substandard; d.h. der Standard ist die übergreifende bzw. überdachende Form und alles
darunter (Regiolekte, Dialekte) sind der Substandard. Das heißt auch, dass der Standard
dominierend ist und der Substandard davon abhängt. Im Gegensatz dazu werden im
Schema 2 die verschiedenen Varietäten als gleichwertig betrachtet und d.h. wie in der
vorigen Darstellung hat man den Standard, dann die Regiolekte (auch Umgangssprache)
und die Dialekte. Das wichtige am Schema 2 ist, dass Standard hier nur eine Varietät neben
anderen ist, während es im Schema 1 das übergreifende ist und sich die anderen Varietäten
unter dem Standard befinden.
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Gegenwärtig sollte der Begriff „Hochsprache“, der landläufig als Synonym für
Standardsprache verwendet wird, gemieden werden. Die Problematik ist einerseits, dass es
eine hochstehende Sprache meint und damit auch einen wertenden Blick („Hochdeutsch =
schönes und gutes Deutsch“) vermittelt und andererseits in der heutigen Verwendung eine
räumlich/geographisch-historische Varietät bezeichnet; nämlich die Dialekte südlich der
Benrather Linie (= maken-machen Linie). Also man sollte heutzutage zwischen
Standardsprache und Regiolekt unterscheiden und nicht den Begriff „Hochsprache“
verwenden, wie im 17 Jhd., wo es eine andere Bedeutung/Zuschreibung/Kontext gab.

Ebenso ist auch der Begriff „Umgangssprache“ problematisch, denn man kann es nicht
genau definieren: es wurde in verschiedenen Bereichen verwendet, sodass es heute nicht
wirklich eindeutig ist. Deshalb verwendet man heutzutage eher den Begriff „Regiolekt“.

1.3. Diachron(isch)

= Veränderung in der Zeit und die Sprachgeschichte basiert auf den Sprachwandel.
Sprache ändert sich ständig und sehr oft ohne, dass man es merkt.

Am Ende des 18. Jhd. wurde systematisch entdeckt, dass sehr viele Wörter in Europa bzw.
in europäischen Sprachen und im Persischen, Indischen ähnlich sind – und zwar so viele
Wörter, dass es über reinen Zufall hinaus gehen muss. (Tabelle F. 11) z.B. drei (Deutsch),
trys (Litauisch), tres (Lateinischen), treis (Griechisch), trayas (Altindisch) usw. Vor allem der
Wortschatzbereich der Verwandtschaftsbezeichnungen gehören dazu, auch Zahlenwörter
sowie Pronomina und bestimmte andere Wörter. (Tabelle F. 12)

Diese Übereinstimmungen können nicht auf reinen Zufall beruhen (obwohl es das natürlich
auch gibt) und der erste, der diese systematisch erforscht hat, war der britische
Kolonialbeamte William Jones (in der Literatur heute auch als „Oriental Jones“ manchmal
bezeichnet). Jones war ein Sprachengenie, der nicht nur in der Schule Latein und Griechisch
perfekt gelernt hat, sondern später dann auch Sanskrit und Persisch usw. Er hat in einem
Vortrag von 1786 auf diese Gemeinsamkeiten bzw. auffallenden Einstimmungen
hingewiesen und das ist, wenn man die Linguistik auf einem Datum festlegen will, der
Anstoß. Jones selber hat noch selbst keine sprachlichen Untersuchungen oder Wörterbücher
veröffentlicht, aber das war sozusagen der Anstoß für die Herausbildung der linguistischen
Wissenschaften.

Man hat Ende des 18. Jhd./Beginn des 19. Jhd. Sprachen mit Lebewesen verglichen; also
die Vorstellung, die Sprache ist ein selbstständiger Organismus mit einem Eigenleben.
Man muss auch bedenken, dass es natürlich in dieser Zeit keine Massenmedien in unserem
Sinne gegeben hat, also noch nicht einmal Zeitungen hat es gegeben – heute weiß man,
dass Sprachveränderung sehr viel mit Publikation/Verbreitung im Sprachgebiet
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zusammenhängt. Das hat man damals nicht gesehen, sodass man hier nicht sagen konnte,
wodurch sich Sprache verändert, und hat sie deshalb als selbstständig bzw. eigener
Organismus gesehen. Das heißt auch, dass Sprachen entstehen, also geboren werden,
dass sie eine Blütezeit erleben und dass sie auch sterben können, wie etwa das klassische
Latein oder Altgriechisch. Tote Sprachen sind diejenigen, die keine Muttersprachler mehr
haben. Aus dieser Vorstellung von Lebewesen stammen noch viele solche Metaphern zur
Sprache, wie etwa „Stamm“ oder „Wurzel“ oder „starke und schwache“ Flexion, auch
„Sprachfamilie“ oder „Sprachzweig“ und vieles anderes.

Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft ist dann etwa zur Jahrhundertwende


entstanden, und zwar hat man begonnen nicht mehr aus der Fantasie Wörter miteinander zu
vergleichen, sondern möglichst alte Handschriften zu finden. Die Aufgabe der
Wissenschaftler jener Zeit war eben möglichst viele alte Handschriften zu finden und die
Wortformen miteinander zu vergleichen.

Die Vorstellung war auch so eine, dass es über oder vor den heutigen europäischen und
asiatischen Einzelsprachen eine Ursprache gegeben haben soll – ganz im Sinne eines
Stammbaumes, wie ein Mensch von einem Vater und Großvater kommen kann, hat man
sich also vorgestellt, dass diese Ursprache am Anfang steht und sich daraus über
verschiedene Zwischenstufen die heutigen Sprachen entwickelt haben. Diese Ursprache hat
man als „Indogermanisch“ bezeichnet. Heute wird diese Verwandtschaft nicht in diesem eng
genetischen Sinn aufgefasst – natürlich entsteht eine Sprache aus der anderen; auch das
Deutsche entsteht nicht aus dem Nichts, sondern hat Vorstufen, aber man fasst
Verwandtschaft eher strukturalistisch auf, d.h. je mehr gemeinsame Strukturen zwei
sprachen haben, desto „verwandter“ sind sie.

Am Anfang der Sprachwissenschaft stehen Jakob und Wilhelm Grimm sowie Wilhelm von
Humboldt. Vor allem Jakob Grimm gilt als Begründer der Sprachwissenschaft – er hat im
Jahr 1819 den ersten Band seiner „Deutschen Grammatik“ herausgebracht. Die deutsche
Grammatik von Grimm ist keine gegenwärtige Grammatik, sondern eine historisch-
vergleichende, wobei Grimm unter „Deutsch“ auch die Sprachen der verschiedenen
germanischen Stämme verstanden hat: also neben althochdeutsch und Altsächsisch, dann
noch Gotisch und Altenglisch usw. Es ist eben eine vergleichende Grammatik, die
verschiedene Sprachen miteinander vergleicht und dann daraus Schlüsse zieht – das
wichtige daran ist, dass diese Zusammenhänge bewiesen werden. Also die moderne
Wissenschaft beruht darauf, dass die Ergebnisse objektiv und beweisbar sind. Wilhelm
von Humboldt ist durch viele linguistische Schriften hervorgetan; einer seiner wichtigsten
Aussagen, die man heute überall findet, ist, dass Sprache nicht ein „Werk“ ist, sondern eine
„Kraft“. Also auch diese Vorstellung von selbstständiger Entwicklung einer Sprache, ohne
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äußere Einflüsse. Zu beachten ist, dass die Sprachauffassung jener Zeit eben die ist, dass
Sprache sich selbst entwickelt, im Sinne eines Organismus und dass sie nicht abhängig ist
von der Umwelt oder den Sprechern usw. Diese pragmatische Richtung wird etwa 150 Jahre
später modern.

Die Vorstellung von Sprache als Organismus/Lebewesen wurde dann weiterentwickelt und
etwa eineinhalb-zwei Generationen später ist August Schleicher mit wissenschaftlichen
Werken hervorgetreten. Auf Schleicher gehen die Stammbaumüberlegungen zurück, die
zwar in den Ansätzen schon vorhanden war, aber Schleicher hat dann wirklich in seinem
Kompendium der indogermanischen Sprachen diese Sprachen in einen Stammbaum
gebracht.

Links (F. 16) ist ein biologisch-physiologischer Stammbaum, der vom Geologen und
Paläontologen Heinrich Georg Bronn verfasst wurde – also ein naturwissenschaftlicher
Stammbaum. Man sieht Stamm, Äste, also die Weiterentwicklungen aus dem Stamm
heraus, die sich dann auch weiter verzweigen können und alles ist übersichtlich nummeriert.
Der Stammbaum rechts (F. 16) ist der Sprachenstammbaum von Schleicher, der zu dem von
Bronn verblüffend ähnlich ist; bis zu den Buchstabenbezeichnungen. Aus dieser
indogermanischen Ursprache hat sich eben das Deutsche, Litauische, Slawische, Keltische,
Italienische usw. herausentwickelt. Aufgrund dieser Darstellung ist zu sehen, dass das
Litauische und Slawische näher verwandt sind und die Verzweigung zeigt, dass Deutsch mit
Slawisch und Litauisch näher zusammengehört als etwa mit Albanisch oder Griechisch.
Schleicher hat im Laufe seines Lebens diesen Stammbaum verfeinert und hier (F. 17) ist
eine moderne Fassung:
Zu beachten ist, dass wieder die Aufspaltung vom Indogermanischen in gewisse Gruppen
erfolgt; Slawodeutsch usw. und die deutsche Grundsprache daraus zum Tragen kommt. Hier
der Begriff „Germanisch“ vermieden (das ist aus heutiger Sicht die Betrachtung) – man
kommt zu „Deutsch“ im engeren Sinne. Es spaltet sich noch das Gotische ab, das heute
ausgestorben ist. Dann ist noch der Zweig des Hochdeutschen verfasst: die Abzweigung
zum Niederdeutschen erfolgt relativ früh - also hier ist die Aufspaltung dann in die
hochdeutschen Dialekte und in die niederdeutschen Dialekte. Aber die Trennung zwischen
Niederdeutsch und Hochdeutsch ist relativ früh. D.h., dass das Hochdeutsche und das
Niederdeutsche in diesem Sinne nicht eng verwandt sind. Sie gehören zwar zum selben
Sprachzweig wie Friesisch, Angelsächsisch, Niederländisch, aber das Niederdeutsche ist mit
dem Friesischen, Angelsächsischen und Niederländischen näher verwandt als mit dem
Hochdeutschen. Es hätte im Laufe der deutschen Sprachgeschichte auch der Fall eintreten
können, dass sich ein eigener niederdeutscher Sprachraum und damit eine niederdeutsche
Sprache und eine eigene hochdeutsche Sprache herausbildet – warum das nicht geschehen
ist, wird später noch behandelt.
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Es gibt viele methodischen Zugänge, also wie man Sprache untersucht – es genügt nicht
das Sammeln von Daten, sondern diese Daten müssen interpretiert werden. Einer dieser
Zugänge ist die bereits erwähnte Stammbaumtheorie: Sprachen sind auseinander
hervorgegangen. Die Vorstellung im 19. Jhd. ist dabei die, dass dieses Volk der
Indogermanen relativ geschlossen war, immer mehr angewachsen ist und dann gab es quasi
zu viele, um von den Grundlagen ernährt werden zu können, sodass eine Gruppe sich dann
abgespalten hat, weitergewandert ist und etwa dann das Griechische begründet hat. Und
eine andere Gruppe ist nach Mittel-/Norddeutschland gezogen und hat das Germanische
begründet usw. Aus diesen Urformen Urgriechisch, Urgermanisch usw. sind dann wieder
durch Abspaltung andere Dialekte und dann Sprachen hervorgegangen.

Bemerkungen zum Begriff „indogermanisch“: der Ausdruck geht auf Julius Klaproth
zurückgeht, der hat ihn aber auch nicht erfunden, sondern in Europa verbreitet. Der
Ursprung kommt von einem Geografen und „indogermanisch“ bezeichnet die räumliche
Ausdehnung: d.h. Indisch ist der südlichste Sprachzweig, Germanisch der nördlichste und
alles was in seiner räumlichen Ausdehnung dazwischen ist, ist indogermanisch. Nach dem 2.
Weltkrieg hat man den Ausdruck eher vermieden, nicht nur aufgrund des Missbrauchs des
Germanenbegriffes durch den Nationalsozialismus. Heute wird eher „indoeuropäisch“
verwendet, vor allem im englischen Sprachraum ist „indoeuropian“ der einzige Ausdruck – im
Deutschen findet man auch noch „indogermanisch“.

Die Stammbaumtheorie hat mehrere Nachteile in der theoretischen Erklärung – einer ist der,
dass eben Sprachen auseinander hervorgehen, verschiedene Sprachzweige bilden etc.,
aber nach diesem Modell gibt es keine Beeinflussung von Sprachen gegenseitig. Heute
weiß man, dass in Österreich an der Grenze zum Tschechischen es bestimmte Fremdwörter
gibt oder an der Grenze zum Ungarischem: die Kontaktzonen von zwei Sprachen
beeinflussen die Sprache selbst; im Ungarischen gibt es Fremd-/Lehnwörter aus dem
Deutschen usw. – das kann die Stammbaumtheorie nicht erklären bzw. erfassen.

Und Johannes Schmidt hat eher beiläufig in einer seiner Schriften den Vergleich gebracht,
dass Sprachen so aufgefasst werden sollen, wie wenn man zwei Steine ins Wasser wirft und
die Wellen sich ausbreiten – dort, wo zwei Wellen aufeinandertreffen, kommt es zu
Interferenzerscheinungen durch die gegenseitige Aufhebung; so hat man die Bezeichnung
als „Wellentheorie“ für diesen methodischen Zugang.

Otto Höfler, ein Wiener Germanist, hat die sogenannte Entfaltungstheorie begründet, und
zwar hat er durch Untersuchungen festgestellt, dass das Langobardische, das ein
hochdeutscher Dialekt ist, aber in Oberitalien vom geschlossenen deutschen Sprachraum
abgesondert war, auch Ansätze der 2. Lautverschiebung zeigt. Er meinte darauf hinaus,
dass die 2. LV in den hochdeutschen Dialekten angelegt ist und irgendwann einmal zum
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Ausbruch kommt. Heute spricht man bei solchen Fällen eher von „struktureller
Disponiertheit“: d.h. dass sich ein System nur in gewisse Richtungen entwickeln kann, dass
nicht alles zu allem werden kann. Der Begriff „Entfaltungstheorie“ ist heute veraltet, aber die
Vorstellung der strukturellen Disponiertheit gibt es immer noch, vor allem noch in
strukturalistisch bestimmten Auffassungen.

Der Strukturalismus mit Ferdinand Saussure ist erst 1922 richtig rezipiert worden; 1916 ist
die Erstausgabe durch den 1. Weltkrieg nicht so verbreitet worden, aber ab 1922 kann man
Sprache strukturalistisch betrachten bzw. man kann also auch historisch Phonemsysteme
erstellen.

Wichtig ist noch zu betonen, dass der Sprachwandel auf allen historischen Ebenen
stattfindet. Also einerseits in der Systemgrammatik, also die Laut-, Wort-, Satz- und
Textebene, auch Phraseologismen ändern sich. Diese Ebenen entwickeln sich
unterschiedlich stark, also es sind nicht alle Ebenen gleich von Sprachwandel betroffen,
manche sind sehr stabil, wie die Syntaxebene, manche sind sehr veränderlich, wie die
Wortebene: Änderungen im Wortschatz bemerkt man sehr leicht und das merken
Sprachteilnehmer oft selbst – auch Änderungen auf der Lautebene/phonetisch-
phonologischen Ebene sind schwer auszumachen, weil sie sehr oft sehr lange dauern und
eine das Maß dieser Entwicklung einzelnen nicht bekannt ist. Es gibt natürlich aber auch
Wandlungen auf der semantischen Ebene; beim Begriff der historischen Semantik, in dem
Sinne, dass eben z.B. Wörter verschwinden/neu hinzukommen, dass sich die
Wortbedeutung ändert („blödes Gesicht“) usw. Und es gibt auch eine historische
Pragmatik. Pragmatik ist das Gebiet, in dem man die nicht-sprachlichen Einflüsse auf
Sprache untersucht, etwa die Kommunikation oder Situation, in der man etwas äußert, usw.
und ein markantes Feld der Pragmatik wären die Begrüßungsformeln, also dass die sich im
Laufe der Zeit auch geändert haben: früher hat man Personen mit Ihr/Euch angesprochen,
heute Du/Sie u.Ä.

1.4. Diamesisch

Trennung von mündlich und schriftlich – wobei „Trennung“ ist, nicht ganz richtig, weil sich
Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegenseitig beeinflussen. Vor allem die Frage, wie man
von den Schreibungen auf das Sprachsystem und die Aussprache kommt ist hier zentral.

Für die Rekonstruktion gesprochener Sprache aus (Hand)Schriften gibt es verschiedene


Prinzipien, also es ist nicht so, dass alles mit allem niedergeschrieben worden wäre, sondern
es gibt hier verschiedene Richtlinien/Orientierungsprinzipien.

Das erste ist, dass die Schreiber nicht willkürlich schreiben, sondern nach Gehörtem. Wenn
man also in althochdeutschen Texten ein <fater> und <bruoder> liest, dann kann man mit
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ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass dieses „t“ und „d“ unterschiedlich gesprochen
worden sind.

Das heißt zweitens; dass die ähnlich ausgesprochene Laute, die die Schreiber hören, auch
ähnlich notiert wurden: Also alles was wie ein „t“ geklungen hat, wurde mit dem Graphem t
verschriftlicht und alles was ähnlich wie „d“, also stimmhaft, ausgesprochen wurde, wurde mit
einem d verschriftlicht. (Zur Erinnerung; die Spitzklammern „<“ und „>“ drücken aus, dass es
sich hier um die Elemente der Schrift handelt, also dass hier etwas niedergeschrieben
wurde.)
Ähnlich kann man ganze Gruppen beobachten: die ahd./mhd. Wörter <mîn>, <dîn>, <sîn>,
sind immer mit einem i geschrieben wurden (dieser Zirkumflex muss nicht immer
darüberstehen, es geht auch manchmal ein doppel-i o.Ä., aber es sind i-Formen), während
im mhd./ahd. ei immer mit e i oder mit a i geschrieben worden ist (Bsp. <klein/klain>,
<bein/bain>, <stein/stain>). Die Form ai oder ay ist wiederum vor allem im Bayrischen üblich.
D.h. diese Gruppenbildung kann man schon im Sinne von Phonemen bzw. als phonemartig
betrachten, also das hier dieses Morphem lang i in der Schreibung ausgedrückt wird.

Der 3. Punkt ist der, dass das lateinische Alphabet nicht geeignet ist althochdeutsche oder
gar germanische Lautsysteme wiederzugeben. Also z.B. den Hartvokal [w] oder die
Affrikaten [ts], [pf] [kχ] gibt es nicht, vor allem das [kχ] hat also den Schreibern im
Althochdeutschen große Probleme bereitet, wie das verschriftet werden soll. Man hat es also
als <ck>, <ckh>, <ch>, <cch>, <kh>, <khh>, <kch> verschriftet. Im Laufe der Zeit hat sich
hier dann eine einheitliche Schreibung herausgebildet. Das ist wiederum auch ein Beispiel
dafür, dass die Schreiber das notieren, was sie hören. Die velare Komponente ist im
deutschen Sprachraum bis auf den Süden bzw. bis auf Teile von Kärnten und Tirol eher
verschwunden – das hat sich auch in der Schrift geäußert, d.h. diese Schriftformen sind das
Zeichen dafür, dass Velarfrikativen verloren gegangen sind und nur die <kch>-Schreibung
übriggeblieben ist.
An diesem Punkt ist es auch notwendig auf die Normalisierung einzugehen; die Herausgeber
alter Texte haben natürlich nicht diese Formen so wiedergegeben, wie sie hier stehen
(zumindest nicht bis etwa in die Mitte des 20. Jhd.) – man hat sie einheitlich als <ck> oder in
anderen Formen gesetzt. Diesen Vorgang bezeichnet man als „normalisieren“; damit eben
die Schriften miteinander vergleichbar sind. Das Normalisieren ist heute aus der Mode
gekommen, zumindest weitgehend, weil es eben einen Sprachzustand herstellt, der in den
Handschriften nicht gegeben ist, heute neigt man dazu eine gewisse Leithandschrift
wiederzugeben und Varianten zu anderen Handschriften extra zu notieren.

Ein 4. Punkt, der beachtet werden muss, ist, dass im Mittelalter gewisse Schreibtraditionen in
Kanzleien/Schreibstuben bestehen. Und Schreiber, die diesen Kanzleien angehören oder die
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neu dazukommen, mussten sich anpassen. D.h. wenn man weiß, dass gewisse Schriftstücke
aus derselben Kanzlei kommen, dann kann man hier also Vergleiche anstellen, wie Laute
geschrieben worden sind.

Ein wichtiger Punkt ist auch das Reimverhalten, das natürlich nur in gereimten Texten
beobachtbar ist. Auch hier muss man beachten, dass die Reime in der sogenannten
„mittelhochdeutschen Dichtersprache“, also dem klassischen Mittelhochdeutsch von 1180-
1230 zwingend Reim sein mussten. Also das heutige <mein> (mhd. mîn) und das heutige
<stein> (mhd. stein) sind niemals gereimt worden. Also ein mhd. langes i konnte nicht auf ein
ei gereimt werden. Das ist ungemein wertvoll, wenn man die vielen Verse und die langen
Epen hernimmt, die aus dem klassischen Mittelhochdeutsch überliefert sind, wie z.B. der
Parzival – dann ist das ein wertvolles Prinzip, aus dem man viel schließen kann.
Es kommen noch detailliertere Erkenntnisse hinzu: nämlich, dass Schreiber, insbesondere
wenn sie aus anderen Dialektlandschaften kommen oder in Ortsfreien in gewissen
Schreibstuben eintreten, sehr oft Begriffe/Wörter nicht kennen und diese dann so schreiben,
wie sie sie hören. Also es kann sein, dass die dann im 16./17. Jhd. <heute> in seiner
oberdeutsch entrundeten Form <heite>, so notiert haben. Daraus kann man natürlich
schließen, dass es diese Entrundung von eu zu ei schon gegeben haben muss.
Dann gibt es noch bestimmte Sonderarten, also etwa den „Augenreim“: dass sich also
beispielsweise <zol> und <sol> nur in der Schrift reimt, aber nicht in der Aussprache – weil
es eben „Zahl“ ausgesprochen wurde. Oder das Gegenteil, der sogenannte „Ohrenreim“: der
also nur in der Aussprache, aber nicht im Schriftbild enthalten ist. (Bsp. valschheit und
verhîrat) → das sind alles Feinheiten, die eben dazu führen, dass man die historische
Aussprache bzw. historische Dialekte rekonstruieren kann.

Ebenfalls sehr wichtig sind Rückschlüsse aus der Gegenwartssprache oder aus älteren
zugrundeliegenden sogenannten „rezenten Dialekten“. Also wenn man heute „mein“ sagt,
und man findet im 18. Jhd. ein <mein> geschrieben, dann liegt natürlich der Schluss auf der
Hand, dass das endlich auch so ausgesprochen worden ist.
Aber eben auch frühere Sprachstufen sind wichtig: die deutsche Sprachinsel
Pladen/Sappada in Oberitalien ist ein Bereich, in dem im Mittelalter deutschsprachige Siedler
aus dem Südbairischen angesiedelt worden sind und die hier dann in fremdsprachiger-
italienischer Umgebung gelebt haben. Der oft zitierte Mythos, dass sich Sprachinseldialekte
nicht weiterentwickelt haben, stimmt nicht – also es ist hier die Sprache nicht eingefroren
oder so, aber die Sprachinseldialekte haben sich anders entwickelt als die Sprache im
geschlossenen deutschen Sprachraum. Vor allem wurden wiederum Wörter / Fremdwörter /
italienische Wörter dann als Lehnwörter in den Pladener Dialekt aufgenommen. In diesem
Pladen und anderen Sprachinseln, kann man beobachten, dass der „Wolf“ heute noch als
„bolf“ ausgesprochen wird: also bilabial. Und das zusammengefügt mit anderen ähnlichen
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Erkenntnissen, führt eben dazu, dass das /w/ im Alt-/Mittelhochdeutschen bilabial war –
ähnlich wie das heutige [w] im Englischen. Erst im Neuhochdeutschen ändert sich die
Aussprache zu einem labiodentalen [v].

Der 7. Punkt sind Analogien; also man weiß, dass bis zum Frühneuhochdeutschen immer
die Längenverhältnisse gleichgeblieben sind, d.h. ein Langvokal oder ein Diphthong konnten
wiederum nur zu einem Langvokal oder Diphthong werden – die Länge hat sich erhalten und
genauso ein Kurzvokal konnte nur zu einem Kurzvokal werden: auch das erlaubt gewisse
Rückschlüsse.

Noch ein Punkt, der ebenfalls berücksichtig werden muss und der etwas schwieriger zu
beobachten ist, ist der, dass Sprache nicht logisch oder folgerichtig ist. Die Wörter „heilig“,
„Geist“, „Fleisch“ werden alle heute in den oberdeutschen Dialekten so ausgesprochen, wie
im Mittelhochdeutschen lang i, und nicht „hoalig“, „Goast“ oder „Floasch“ etc., wie es zu
erwarten wäre – analog zu boa, stoa, kloa (Bein, Stein, klein).
Kranzmayer hat darauf hingewiesen, dass das sogenannte „Kirchenwörter“ sind, also in der
Wandlung/Lithurige vorkommen und durch diesen „heiligen“ Rahmen hat man sich also hier
dann vor allem in der Neuzeit nicht getraut, das genauso auszusprechen wie andere Wörter
– sodass quasi hier wiederum der Einfluss der sogenannten „Hochsprache“ geltend war:
man hat also natürlich gewusst, dass „boa“, „stoa“ und „kloa“ Dialektausdrücke sind und hat
diese „heiligen Kirchenwörter“ aus „Respekt“ so artikuliert wie „mein“ und „dein“.
Leonard Bloomfield hat das im Englischen verdeutlicht; die logischen Annahme wäre, dass a
zu b sich genauso verhaltet wie x zu y (a:b = x:y). Also wäre zu erwarten, dass Bein zu mein
sich genauso verhaltet wie Geist zu dein (Bein:mein = Geist:dein). Aber man hat eben die
Änderung boa zu mei ist nicht gleich goast zu dei (boa:mein ≠ geist:dei) → also Sprache ist
nicht logisch, nicht folgerichtig und folgt keinen Symmetrien.
Dieses Beispiel zeigt sehr schön die pragmatische Komponente der Sprachgeschichte; dass
hier das System nicht zum Tragen kommt, sondern das sprachliche Formen an
außersprachlichen Fakten, Gepflogenheiten, Umständen orientiert – also sozial verankert –
sind und sich anders verhalten als vom System her zu erwarten wäre.

Ein weiterer Punkt ist, dass gewisse Laute oder Lautkombinationen sich kaum oder gar nicht
verändert haben. Das betrifft vor allem die Liquiden und die Nasale im Deutschen; also l, r,
m, n. Hier kommt es also zu so gut wie keine Veränderungen – vielleicht nur, dass eben das
n und m „abgeschliffen“ werden können. Wenn man etwa ein Wort wie „Stern“ hernimmt,
dann sieht man, dass das „st“ eben bis ins Althochdeutsche, Altenglische rekonstruiert
werden kann und sogar bis auf das Germanische und Indogermanische zurückgeht bzw. aus
dem Indogermanischen kommt. Also diese Lautkombination hat sich nicht verändert, außer
dass dann gegen Ende des 19. Jhd. man sich im Deutschen auf die konkrete Aussprache
Sprachgeschichte Vorlesung-Mitschrift Einheit 1

geeinigt hat. Ähnlich ist es bei „est“ (lateinisch), im nhd. „ist“ der Fall → also diese kleine
Lautung ist mindestens 5000 Jahre alt. Auch ein Beispiel für n: „Nase“ kann auch bis in das
Indogermanische zurückverfolgt werden, heißt ursprünglich „Nasenloch“.
Wie gesagt kann es bei den Nasalen zu leichten Anpassungen kommen: im ahd. existiert die
Form „ich bim“, das morphologisch dem lateinischen „sum“ entspricht – und das wurde dann
vermutlich als Sprechererleichterung zu „ich bin“ verändert.

Zum Abschluss ein Beispiel: eine Ratsurkunde aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv in
ihrem Original (F. 30). Die Phoneme sind von ein und demselben Schreiber, aber überhaupt
nicht einheitlich geschrieben: (F. 31) z.B. „zu“ vs. „nv“ oder „vnd“. – das kann man auch
erklären: vor allem bei „u“ ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass bei der Schrift das u mit dem
n verwechselt werden kann, deshalb wurde zur Deutlichkeit mit „v“ geschrieben. Bsp. „ay“
und „ai“; sogar in zwei Wörtern nebeneinander unterschiedliche Schreibweisen – warum das
so ist, ist auch klar: die Schreiber waren keine Etymologen oder Schreibhistoriker und haben
das vermutlich auch zum Teil aus Schreibtraditionen verschriftet. Bsp. das berüchtigte
Sprossvokal: „durich“ statt durch – diese Sprossvokale sind heute (vielleicht abgesehen von
ganz altertümlichen Dialekten) ausgestorben, aber es gibt noch Formen in Dialekten, die
noch diesen Sprossvokal enthalten. (andere Bsp. auf F. 31)
→ allein aus diesem kurzen Text kann man sehen, dass gewisse Schreibprinzipien und
damit Rückschlüsse auf die Aussprache möglich sind.

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